Predigt im Kontext 9783484971226, 9783484640160

The examination of the context of medieval sermons exercised in this volume focuses on the dominant influences, the use

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Predigt im Kontext
 9783484971226, 9783484640160

Table of contents :
VORWORT
Eckharts deutsches Predigtwerk: Mystische Erfahrung und philosophische Auseinandersetzung
I Predigt als literarisches Phänomen – Predigt im literarischen Kontext
Formen der Publikumsansprache bei Berthold von Regensburg und ihr literarischer Kontext
Von Schrift zu Schrift – Über eine Predigthandschrift in der Österreichischen Nationalbibliothek
Spirituelle Artes-Auslegung – Das Beispiel der ›Predigt vom heiligen Geist‹ (15. Jh.). Mit einem Textabdruck
Über Quellenverwendung und Sinnbildungsverfahren in den ›Narrenschiff‹-Predigten Geilers von Kaisersberg – Am Beispiel und mit dem lateinischen und dem deutschen Text der Predigt über die Buolnarren
II Predigt als cura animarum. Prediger – Verkündigung –Publikum
Predigten zum Fest der Epiphanie – Predigten auf die heiligen Engel –Theologie in der Volkssprache um 1200
Thirteenth-Century Marriage Preaching in Context
Predigt über Predigt – Meister Eckhart und Johannes Tauler
Nikolaus von Dinkelsbühl und sein Redaktor
Der Nürnberger Pfarrer und Prediger Albrecht Fleischmann
Die Vermittlung von Ergebnissen scholastischer und monastischer Theologie und mystischer Gotteserkenntnis an Laien in einem Sermo des Johannes von Paltz OESA (etwa 1445–1511)
Lebendige Stimme und tote Schrift – Erscheinungsform und Selbstverständnis von Luthers Predigt
Worte und Werke – Stationen und Funktionen eines Toposgeflechtes in der Predigtliteratur des Mittelalters
III Johannes Evangelista und Johannes Baptista als Leitbilder dominikanischer Frauenseelsorge und Frömmigkeit
Die Johannsen-Devotion im Dominikanerinnenkonvent St. Katharinental bei Dießenhofen – Ein Modellfall für Literaturrezeption und -produktion in oberrheinischen Frauenklöstern zu Beginn des 14. Jahrhunderts?
Johannes und Maria in den Johannes-Kompendien (Bamberg, Karlsruhe, Pommersfelden)
Das ›Exemplar‹ – eine Reformschrift der Dominikanerobservanz? – Untersuchungen zum Johannesmotiv im ›Horologium‹ und in der ›Vita‹ Heinrich Seuses
IV Predigt und Frömmigkeit im Umkreis der Devotio moderna
Alijt Bake (1415–1455) und die deutschen Prediger des 14. Jahrhunderts
Zwischen Predigt und Meditation – Die Kollationalia des Dirc van Herxen
Ein Prediger in zweifacher Ausführung – Die Kollationen des Claus von Euskirchen
V Prediger und Predigtpraxis
»Sie erleuchtete viele durch das Wort Gottes« – Verkündigende Frauen und das Lehrverbot der Kirche
Das Predigtwesen im Karmeliterorden – Predigten in Handschriften aus dem Karmeliterkloster Boppard
Die Predigten Konrads von Gelnhausen († 1390)
Der Prediger dr. theol. Heinrich Toke
Register (erstellt von REGINA D. SCHIEWER)
Register der Handschriften und Frühdrucke
Namen- und Werkregister
Sachregister
Abkürzungsverzeichnis

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Predigt im Kontext

Predigt im Kontext Herausgegeben von

Volker Mertens, Hans-Jochen Schiewer, Regina D. Schiewer, Wolfram Schneider-Lastin

De Gruyter

ISBN 978-3-484-64016-0 e-ISBN 978–3-484-97122-6 Library of Congress Cataloging-in- Publication Data A CIP catalogue record of this book is available from the Library of Congress Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

VORWORT

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

WALTER HAUG (†) Eckharts deutsches Predigtwerk: Mystische Erfahrung und philosophische Auseinandersetzung . . . . . . . . . . . . . . .

1

I Predigt als literarisches Phänomen – Predigt im literarischen Kontext ALMUT SUERBAUM Formen der Publikumsansprache bei Berthold von Regensburg und ihr literarischer Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

HELMUT PUFF Von Schrift zu Schrift – Über eine Predigthandschrift in der Österreichischen Nationalbibliothek . . . . . . . . . . . . . . .

35

MICHAEL STOLZ Spirituelle Artes-Auslegung – Das Beispiel der ›Predigt vom heiligen Geist‹ (15. Jh.). Mit einem Textabdruck . . . . . . . . . . . . .

53

RALF-HENNING STEINMETZ Über Quellenverwendung und Sinnbildungsverfahren in den ›Narrenschiff‹-Predigten Geilers von Kaisersberg – Am Beispiel und mit dem lateinischen und dem deutschen Text der Predigt über die Buolnarren

89

II

Predigt als cura animarum. Prediger – Verkündigung – Publikum

REGINA D. SCHIEWER Predigten zum Fest der Epiphanie – Predigten auf die heiligen Engel – Theologie in der Volkssprache um 1200 . . . . . . . . . . . . .

127

DAVID L. D’AVRAY Thirteenth-Century Marriage Preaching in Context . . . . . . . . .

147

VI

Inhalt

FREIMUT LÖSER Predigt über Predigt – Meister Eckhart und Johannes Tauler . . . . .

155

ULLA WILLIAMS Nikolaus von Dinkelsbühl und sein Redaktor . . . . . . . . . . .

181

ANKE WRIGGE/FALK EISERMANN Der Nürnberger Pfarrer und Prediger Albrecht Fleischmann . . . . .

193

CHRISTOPH BURGER Die Vermittlung von Ergebnissen scholastischer und monastischer Theologie und mystischer Gotteserkenntnis an Laien in einem Sermo des Johannes von Paltz OESA (etwa 1445–1511) . . . . . . . . . . .

233

VOLKER MERTENS Lebendige Stimme und tote Schrift – Erscheinungsform und Selbstverständnis von Luthers Predigt . . . . . . . . . . . . . .

257

CHRISTOPH FASBENDER Worte und Werke – Stationen und Funktionen eines Toposgeflechtes in der Predigtliteratur des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . .

281

III

Johannes Evangelista und Johannes Baptista als Leitbilder dominikanischer Frauenseelsorge und Frömmigkeit

JOCHEN CONZELMANN Die Johannsen-Devotion im Dominikanerinnenkonvent St. Katharinental bei Dießenhofen – Ein Modellfall für Literaturrezeption und -produktion in oberrheinischen Frauenklöstern zu Beginn des 14. Jahrhunderts? . .

299

ANNETTE VOLFING Johannes und Maria in den Johannes-Kompendien (Bamberg, Karlsruhe, Pommersfelden) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

333

MARTINA WEHRLI-JOHNS Das ›Exemplar‹ – eine Reformschrift der Dominikanerobservanz? – Untersuchungen zum Johannesmotiv im ›Horologium‹ und in der ›Vita‹ Heinrich Seuses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

347

IV

Predigt und Frömmigkeit im Umkreis der Devotio moderna

WYBREN SCHEEPSMA Alijt Bake (1415–1455) und die deutschen Prediger des 14. Jahrhunderts

379

THOMAS KOCK Zwischen Predigt und Meditation – Die Kollationalia des Dirc van Herxen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

399

Inhalt

VII

THOM MERTENS Ein Prediger in zweifacher Ausführung – Die Kollationen des Claus von Euskirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

421

V Prediger und Predigtpraxis BRITTA-JULIANE KRUSE »Sie erleuchtete viele durch das Wort Gottes« – Verkündigende Frauen und das Lehrverbot der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . .

435

EEF OVERGAAUW Das Predigtwesen im Karmeliterorden – Predigten in Handschriften aus dem Karmeliterkloster Boppard . . . . . . . . . . . . . . . .

437

DOROTHEA WALZ Die Predigten Konrads von Gelnhausen († 1390)

. . . . . . . . .

491

. . . . . . . . . . . . . .

523

HILDEGUND HÖLZEL-RUGGIU Der Prediger dr. theol. Heinrich Toke

Register (erstellt von REGINA D. SCHIEWER) Register der Handschriften und Frühdrucke Namen- und Werkregister . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

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. . . .

545 545 549 559

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

571

Vorwort

Allez, daz ie geschach vor tuˆsent jaˆren, der tac, der vor tuˆsent jaˆren was, der ist in eˆwicheit niht verrer dan disiu stunde, daˆ ich ze-〈disem〉male iezuo staˆn, oder der tac, der über tuˆsent jaˆr komen sol oder als vil duˆ gezeln maht, der enist in eˆwicheit niht verrer dan disiu stunde, daˆ ich iezuo inne staˆn. (Meister Eckhart: DW II, Pr. 26, S. 19–36, hier S. 24,4–8)1 »Alles, was je geschah vor tausend Jahren, der Tag, der vor tausend Jahren war, der ist in der Ewigkeit nicht entfernter als der Zeitpunkt, in dem ich jetzt eben diesmal stehe, oder 〈auch〉 der Tag, der nach tausend Jahren oder so weit, als du zählen kannst, kommen wird, der ist in der Ewigkeit nicht entfernter als dieser Zeitpunkt, in dem ich eben jetzt stehe.« (DW II, Übersetzung von Pr. 26, S. 642–644, hier S. 642)

Das Vorwort zu einem Tagungsband, der 17 Jahre nach der betreffenden Tagung erscheint, würde in eine Apologie münden, wollte man alle Gründe für die unangemessen lange Verzögerung seiner Veröffentlichung aufzählen und alle die Brüche in den Biographien von Menschen und Institutionen erklären. Festzuhalten ist, daß die Verantwortung für die Verzögerung in keiner Weise den Autoren der im vorliegenden Band enthaltenen Aufsätze anzulasten ist, sondern allein bei den Herausgebern liegt. Den Beiträgern sei an dieser Stelle gedankt, daß sie über alle die Jahre hinweg ihre Bereitschaft aufrecht erhalten haben, ihre Forschungsergebnisse in diesem Tagungsband zu veröffentlichen. Welch außergewöhnliche Mühe es jeden einzelnen von ihnen gekostet hat, nach so langer Zeit seinen Beitrag nochmals zu überprüfen und gegebenenfalls Ergänzungen – und sei es in Form von Hinweisen auf Veröffentlichungen zum aktuellen Forschungsstand – vorzunehmen, ist leicht vorstellbar, und die Herausgeber sind den Kolleginnen und Kollegen zu großem Dank verpflichtet. Trotz der geäußerten Bedenken mancher Kollegen, daß sie mit der gewachsenen Erfahrung und Kenntnis manches anders darstellen und ausdrücken würden als im vergangenen Jahrtausend, sind die im vorliegenden Band versammelten Aufsätze wichtige und durchaus aktuelle Beiträge zur Erforschung der Predigt des Mittelalters, und nicht wenige von ihnen wurden in den vergangenen Jahren immer wieder aus den von den Beiträgern überlassenenen Manuskripten von anderen Forschern zitiert.

1

Siehe auch WALTER HAUGs Beitrag im vorliegenden Band zu Eckharts Gedanken vom ›nuˆ der Ewigkeit‹, bes. S. 13f. und S. 18.

X

Vorwort

Zu danken ist neben den Beiträgern auch jenen, die sich schließlich für das Erscheinen des Bandes stark gemacht haben, allen voran Birgitta Zeller und Susanne Mang vom Niemeyer-Verlag sowie Jacob Klingner und Kevin Göthling vom Verlag De Gruyter. Sie haben die Überlieferung der einzelnen Beiträge (je nach Autor bis zu zwei Fassungen des Originalbeitrags und bis zu drei Fahnen) gesichtet, rekonstruiert und koordiniert und die Korrespondenz mit den Beiträgern geführt. Die Berliner Tagung »Predigt im Kontext«, die vom 5.–8. Dezember 1996 stattfand, war die zweite Tagung, die aus dem damaligen Forschungsschwerpunkt »Deutsche Gebrauchsprosa des Mittelalters« am Fachbereich Germanistik der Freien Universität (FU) Berlin hervorgegangen war. Der Tagungsband der ersten Tagung mit dem Titel »Die deutsche Predigt im Mittelalter« hatte programmatisch eine neue Phase der Beschäftigung mit der deutschsprachigen Predigt des Mittelalters angekündigt und die Absicht, diese Arbeit an der Freien Universität zu institutionalisieren. Auch wenn die Institutionalisierung nicht gelang und einige der geplanten Projekte aus diesem Grund nicht abgeschlossen werden konnten, so darf man doch sagen, daß der Berliner Forschungsschwerpunkt impulsgebend war für zahlreiche Projekte und Publikationen, in deren Zentrum die volkssprachliche Predigt des Mittelalters steht. Besonders deutlich wird dieser Bezug bereits in der Benennung des 2010 in die Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft aufgenommenen Eichstätter Projekts »Predigt im Kontext: Funktion und Funktionalitätswandel von Predigttexten im Spätmittelalter« (PiK), das unter der Leitung von RUDOLF KILIAN WEIGAND die handschriftliche Mitüberlieferung der Predigten Meister Eckharts, Johannes Taulers und Bertholds von Regensburg erschließt, um Aussagen über den Funktionswandel der Predigten und über die sich wandelnde Frömmigkeitshaltung ihrer Rezipienten im Laufe der Überlieferung zu treffen.2 Als weiteres Beispiel sei die an der Universität Genf im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunkts ›Mediality‹ entstehende Edition der ›Engelberger Predigten‹ genannt (Leitung: RENE´ WETZEL), die in Zusammenarbeit mit der Berlin-Freiburger Forschergruppe geplant wurde. Auch auf breiterer internationaler Ebene wurden Anstöße gegeben, die zu zahlreichen Publikationen führten. Hier sind vor allem die beiden großen Repertorien volkssprachlicher Predigt zu nennen: das Repertorium der mittelenglischen Prosapredigten3 und das Repertorium der mittelniederländischen Predigten4 .

2

Das für diese Analyse notwendige Datenmaterial in Form von umfassenden Beschreibungen der Handschriften wird in einer Datenbank gesammelt und öffentlich zugänglich gemacht (http://pik.ku-eichstaett.de). 3 VERONICA O’MARA und SUZANNE PAUL, A Repertorium of Middle English Prose Sermons. 3 Bde. (Sermo 1), Turnhout 2007. 4 MARIA SHERWOOD-SMITH und PATRICIA STOOP, Repertorium van Middelnederlandse preken in handschriften tot en met 1550. 3 Bde. (Miscellanea Neerlandica XXIX), Leuven 2003.

Vorwort

XI

Dadurch, daß die FU Berlin nicht zum institutionalisierten Ort der Predigtforschung wurde, ist allerdings das Erreichen eines weiteren Ziels der Forschergruppe in weite Ferne gerückt, nämlich die deutschsprachige Predigt als Quelle mentalitäts-, kirchen- und ordensgeschichtlicher sowie kulturwissenschaftlicher Erkenntnisse stärker ins Bewußtsein der deutschsprachigen Forschergemeinschaft verschiedener mediävistischer Disziplinen zu rücken und die Forschungsergebnisse innerhalb des europäischen Raums zu kontextualisieren. Dies war mit den beiden Tagungen 1989 und 1996 gelungen, an denen sich nicht nur Germanisten, sondern auch Theologen und Historiker aus mehreren europäischen Ländern beteiligten. Das 10. Symposion der International Medieval Sermon Studies Society 1998 zum Thema »Preachers and their Preaching Tools« in Erfurt sowie die Tagung »The Last Judgement in Medieval Preaching«, die im Jahr 2000 in Antwerpen und Brüssel stattfand,5 zeugen von der engen internationalen Kooperation, an der die Berlin-Freiburger Forschergruppe federführend beteiligt war. Einige der wichtigsten internationalen Kooperationspartner sind auch mit Beiträgen im vorliegenden Band vertreten: DAVID D’AVRAY (London), CHRISTOPH BURGER (Amsterdam) und THOM MERTENS (Antwerpen). Mit ihnen sind auch gleichzeitig die Disziplinen präsent, die für die Predigtforschung von besonderer Bedeutung sind, die Geschichte, die Theologie und die Philologie. Die durch die Berlin-Freiburger Forschergruppe angestoßene international-interdisziplinäre Kooperation hat in einer Publikationsreihe ihren Niederschlag gefunden, die 2006 ins Leben gerufen wurde: Es handelt sich um die Reihe ›Sermo. Studies on Patristic, Medieval, and Reformation Sermons and Preaching‹, die inzwischen elf Bände umfaßt.6 Mit der Publikation des vorliegenden Bandes verbindet sich die Hoffnung, die international-interdisziplinäre Kooperation zu beleben und gleichzeitig die Predigt als die quantitativ bedeutendste Textsorte der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters auch als Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Forschung wieder stärker ins Bewußtsein zu rücken. Die Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit einem breiten Spektrum von Predigt im europäischen Raum, wobei der klare Schwerpunkt auf den deutschen und niederländischen Predigten vom ausgehenden 12. Jahrhundert bis zur Reformation liegt. Der vorangestellte Aufsatz des 2008 verstorbenen Mystikkenners WALTER HAUG beschäftigt sich mit dem Predigtwerk des bekanntesten Predigers des Mittelalters im deutschsprachigen Raum, mit den Predigten Meister Eckharts.7 5

The Last Judgement in Medieval Preaching, hg. von THOM MERTENS, MARIA SHERWOOD-SMITH, MICHAEL MECKLENBURG und HANS-JOCHEN SCHIEWER (Sermo 3), Turnhout 2013. 6 Sermo: Studies on Patristic, Medieval, and Reformation Sermons and Preaching, Turnhout 2006ff., hg. von ROGER ANDERSSON (Stockholm) (seit 2006) und HANS-JOCHEN SCHIEWER (Freiburg i. Br.) (2006–2011), Redaktionsbeirat: JUSSI HANSKA (Tampere) (seit 2006), RICCARDO QUINTO (Padua) (seit 2006), VERONICA OMARA (Hull) (seit 2006), THOM MERTENS (Antwerpen) (seit 2007), REGINA D. SCHIEWER (Eichstätt/Freiburg i. Br.) (seit 2011). 7 Der hier publizierte Aufsatz ist der Fachwelt nicht neu: WALTER HAUG veröffentlichte ihn noch

XII

Vorwort

Gerade dieser Aufsatz zeigt, wie bedeutsam das interdisziplinäre Arbeiten im Bereich der Predigtforschung ist: Nur mit umfassenden philologischen, philosophischen, theologischen und historischen Kenntnissen ist es möglich, Aussagen über das komplexe Predigtwerk des großen Meisters der deutschen Dominikanermystik zu treffen. Die verschiedenen Aspekte der Predigterschließung und -interpretation finden sich in unterschiedlicher Gewichtung in jedem einzelnen Beitrag des Bandes wieder: Im ersten thematischen Block sind unter der Überschrift »Predigt als literarisches Phänomen – Predigt im literarischen Kontext« Aufsätze versammelt, die das literaturwissenschaftliche Interesse mit der Untersuchung von Quellenverwendung und von rhetorischen und stilistischen Eigenheiten und ihren Funktionen und Funktionsweisen in den Mittelpunkt stellen. Die inhaltlichen, pastoraltheologischen Aspekte der Predigt als Seelsorge dienen als Verständnisfolie für die Untersuchungsgegenstände des zweiten thematischen Blocks »Predigt als cura animarum. Prediger – Verkündigung – Publikum«. Einer sich sowohl in Predigten und Predigtkompilationen als auch in zahlreichen Offenbarungstexten niederschlagenden besonderen Form der Frömmigkeit südwestdeutscher Dominikaner und Dominikanerinnen widmen sich die drei Aufsätze des dritten Themenblocks mit dem Titel »Johannes Evangelista und Johannes Baptista als Leitbilder dominikanischer Frauenseelsorge und Frömmigkeit«. Der vierte Block greift über die Sprachgrenzen des Hochdeutschen hinaus und konzentriert sich unter der Überschrift »Predigt und Frömmigkeit im Umkreis der Devotio moderna« auf niederländische Texte und ihre Beziehungen zum deutschen Sprachraum. Im letzten Abschnitt »Prediger und Predigtpraxis« wird schließlich einerseits die Person des bzw. der Verkündigenden in den Blick genommen, andererseits lassen die hier behandelten lateinischen Predigten und Predigtsammlungen Rückschlüsse auf die Predigtpraxis in der Volkssprache zu. Von 26 Vorträgen, die im Dezember 1996 in Berlin gehalten wurden, sind 22 in diesem zweiten Berliner Predigttagungsband enthalten.8 Der zusätzlich aufselbst in seinem Sammelband ›Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit‹, Tübingen 2003, S. 521–537. Wegen seiner für den vorliegenden Band in methodischer Hinsicht programmatischen Bedeutung wurde der Aufsatz mit freundlicher Genehmigung des Niemeyer-Verlags hier ein zweites Mal abgedruckt. Die Einrichtung des Beitrags wurde den Richtlinien des Bandes angepaßt. Es erfolgte ein einziger inhaltlicher Eingriff in den Text: Auf S. 9 (S. 528) wurde der Beiname des byzanischen Kaisers Michael II. (820–829) von »Bekkos« zu »Psellos« korrigiert. 8 Von den vier nicht enthaltenen Vorträgen wurden zwei in den vergangenen Jahren publiziert: JEFFREY F. HAMBURGERs Vortrag mit dem Titel »Von Ihesus pettlein: Pictorial Piety and Monastic Reform« bildet die Grundlage eines eigenen Kapitels in seinem Band: The Visual and the Visionary. Art and Female Spirituality in Late Medieval Germany, Cambridge (Mass.)/London 1998, S. 383–426. Das Kapitel beinhaltet auch eine Edition des Traktats. Außerdem erschien VOLKER HONEMANNs Vortrag: Bemerkungen zur Kritik an Predigten und Predigern im Mittelalter, in: Medeltidens ma˚ngfald. Studier i samhällsliv, kultur och kommunikation tillägnade Olle Ferm pa˚ 60-a˚rsdagen den 8 mars 2007, hg. von GE´ IRAN DAHLBÄCK [u. a.] (Sällskapet Runica et Mediævalia), Stockholm 2008, S. 141–169. Nicht gedruckt wurden die Vorträge von ROSWITHA PEILICKE und HANS-JOCHEN SCHIEWER.

Vorwort

XIII

genommene Beitrag von EEF OVERGAAUW fand bereits zu einem früheren Zeitpunkt am Fachbereich Germanistik der FU Berlin Zuhörer. In einem Vorwort jeder einzelnen dieser Studien gerecht zu werden, ist nicht möglich. Nicht nur zwischen zwei Buchdeckeln vereint, sondern thematisch verbunden und oftmals auf einander Bezug nehmend, stellen die 23 Aufsätze dar, wie ertragreich eine Beschäftigung mit der Textsorte ›Predigt‹ sein kann. Freiburg, im September 2013

Regina D. Schiewer

Walter Haug (†)

Eckharts deutsches Predigtwerk: Mystische Erfahrung und philosophische Auseinandersetzung

Mit der Bulle ›In agro dominico‹, datiert vom 27. März 1329, hat Papst Johannes XXII. aus den Schriften Meister Eckharts 17 Sätze als häretisch und 11 als häresieverdächtig verurteilt.1 Das war das Ergebnis eines Inquisitionsverfahrens, das, in Köln angestoßen, nach einer Appellation Eckharts an höchster Stelle zuende gebracht wurde. Die Anklage lautete auf Ketzerei. Das war ungewöhnlich, denn es wurden selbstverständlich im Lehrstreit der Theologen häufig Thesen vorgebracht, die Diskussionen auslösten und möglicherweise offiziell verworfen wurden, aber nie zuvor hatte dies bei einem Theologen von Rang zu einem Ketzerprozeß geführt. Worin lag das Besondere dieses Falles? Die Präambel zur Bulle gibt die Antwort auf diese Frage, wenn sie hervorhebt, daß Eckhart seine falschen Lehrsätze in Predigten den ›Einfachen‹, ›Ungebildeten‹ – simplices sagt der Text – vorgetragen habe. Das war offensichtlich der springende Punkt. Denn bei den lateinisch-gelehrten Kontroversen der verschiedenen Theologenschulen blieb man sozusagen unter sich. Wenn jemand von der orthodoxen Lehre abwich, konnte das intern bereinigt werden, ohne daß es zu einer in die Breite wirkenden Gefahr für die Kirche geführt hätte. Das Provozierende im Fall Eckharts bestand darin, daß er die theologische Auseinandersetzung in der Vulgärsprache den Ungelehrten vortrug.2 Die juristische Seite des Verfahrens gegen Eckhart ist in letzter Zeit eingehend untersucht und in ihrem besonderen Charakter aufgehellt worden. Die Sachlage kann heute als geklärt gelten. KURT RUH hat sie im III. Band seiner ›Geschichte der abendländischen Mystik‹ noch einmal prägnant zusammengefaßt.3 Festzuhalten ist: Bei allen Intrigen und Verleumdungen, die dazu beitrugen, daß der Prozeß in Gang kam, muß man der päpstlichen Kommission bescheinigen, daß sie ernsthaft bemüht war, Eckhart Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das zeigt sich schon in der starken Reduktion der Zahl der inkriminierten 1

HENRICUS DENZINGER, ADOLFUS SCHÖNMETZER (Hg.), Enchiridion Symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, Freiburg 341967, Nr. 950–980. 2 So KURT RUH, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, München 1996, S. 248, S. 251. 3 Ebd., S. 243ff. Vgl. WINFRIED TRUSEN, Der Prozeß gegen Meister Eckhart. Vorgeschichte, Verlauf und Folgen (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Ges. NF 54), Paderborn, München usw. 1988; HEINRICH STIRNIMANN, RUEDI IMBACH (Hg.), Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus. Nachweise und Berichte zum Prozeß gegen Meister Eckhart (dokimion 11), Freiburg/Schweiz 1992; EW I, S. 722ff., und NIKLAS LARGIER, Meister Eckhart. Perspektiven der Forschung, 1980–1993, ZfdPh 114 (1995), S. 29–98, hier S. 33ff. Neuausgabe der Prozeßakten: LW V, S. 195ff.

2

Walter Haug

Sätze, die in den ersten Kölner Listen zusammengestellt worden waren, und dann im Bestreben, zwischen eindeutig häretischen und nur übel klingenden Formulierungen zu unterscheiden. Wenn der päpstlichen Kommission ein Vorwurf zu machen ist, dann der, nicht beachtet zu haben, daß die Sätze aus dem Zusammenhang gerissen worden sind, und zudem, daß es durch die Übersetzung ins Lateinische zu einer begrifflichen Festlegung gekommen ist, die so für die Volkssprache nicht gelten mochte. Abgesehen aber davon, ist das Verfahren formal korrekt und in keiner Weise böswillig durchgeführt worden. RUH bemerkt zu Recht, daß man es sich gegenüber dem mächtigen Dominikanerorden gar nicht hätte leisten können, anders als mit peinlichster Sorgfalt vorzugehen.4 Und wenn die Präambel nicht ohne Schärfe ist, so gilt sie dem entscheidenden wunden Punkt, von dem her man sie verstehen muß. All dies hat die Forschung der 80er/90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, wie gesagt, überzeugend herausgearbeitet. Es ist als Hintergrund bewußt zu halten, wenn ich in den nachstehenden Überlegungen das Interesse auf etwas anderes lenken möchte, nämlich auf die Frage, wie es überhaupt dazu kommen konnte, daß ein hochrangiger Geistlicher wie Eckhart sich veranlaßt sah, theologische Probleme von alles anderem als geringem denkerischen Anspruch vor einer ungelehrten Zuhörerschaft zu verhandeln, Probleme, bei denen er nicht umhin konnte, sich mit den größten Autoritäten der Philosophie- und Theologiegeschichte auseinanderzusetzen, mit Thomas, mit Albertus Magnus, mit Bernhard, Augustinus, Platon und den Neuplatonikern, mit den arabischen Philosophen usw., Probleme schließlich, bei deren Entscheidung denn auch das scholastische Differenzierungsvermögen einer gelehrten päpstlichen Kommission gefordert war. Machte es Sinn, die simplices, von denen in der Bulle die Rede ist, also Leute ohne eine entsprechende Vorbildung, damit zu befassen? Was konnte Eckhart dazu bewegt haben, dies zu tun? Man kann sagen, er selbst habe eine einleuchtende Antwort auf diese Frage gegeben, indem er erklärte, er wende sich deshalb an die Ungelehrten, weil diese es ja seien, die der Belehrung bedürften.5 Aber so plausibel das klingen mag, so wenig wird man sich damit zufrieden geben wollen. Denn es geht Eckhart ja in seinen Predigten nicht nur um Belehrung, d. h. um die Vermittlung von Glaubensinhalten, sondern um eine intensive Problemdiskussion, was nur sinnvoll war, wenn sie intellektuell nachvollzogen werden konnte. Es bieten sich zwei Erklärungen an. Zunächst: Die betreffenden simplices waren jedenfalls nicht durchwegs so ungebildet, wie die Bezeichnung es unterstellt. Eckhart hat in Straßburg und in Köln die Dominikanerinnen seelsorgerlich betreut. Es ist zwar kaum möglich, etwas Generelles über das geistige 4 5

RUH [Anm. 2], S. 248. DW V, S. 60,5ff.

Eckharts deutsches Predigtwerk

3

Niveau in diesen Frauenklöstern zu sagen, aber es kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß sich unter den Nonnen Frauen von nicht geringer Bildung befanden; man hat sogar ungescheut von einer »religiösen Elite«6 gesprochen. Und das meint zugleich, daß in diesen Klöstern die brennenden religiösen Fragen der Zeit, wie sie insbesondere im Beginentum zum Ausbruch kamen, nicht nur verhandelt wurden, vielmehr hatten deren Frömmigkeitspraktiken – Leben in evangelischer Armut, gesteigerte Askese, mehr oder weniger forcierte Erzeugung visionärer Zustände – in die regulären Konvente Eingang gefunden. Und zweifellos hat sich Eckhart im Rahmen der cura monialium mit solchen Fragen konfrontiert gesehen. Er hat die Beginenverfolgungen am Rhein miterlebt. Und es ist auch anzunehmen, daß er über den Prozeß gegen Marguerite Porete informiert worden ist, denn er war ein Jahr, nachdem man sie verbrannt hatte, in Paris und wohnte im selben Kloster wie ihr Inquisitor.7 So hat denn RUH die These vertreten, daß Eckharts Predigten in den Frauenklöstern als Antwort auf diese religiösen Strömungen verstanden werden müßten. Er habe die damit verbundenen Probleme im Rahmen der Verkündigung und Auslegung des Gotteswortes aufgegriffen, um das religiöse Potential, das in der neuen Bewegung sich manifestierte, in die Kirche hereinzuholen, zu verwandeln, es für sie fruchtbar zu machen. Eckhart sei dabei mit seiner mystischen Theologie, soweit wie nur denkbar, den Ansprüchen der neuen Religiosität entgegengekommen, und dies bis zu den Grenzen dessen, was orthodox verträglich war, ja möglicherweise auch etwas über diese Grenzen hinaus. Und zugleich habe er von seinem Denkansatz her alles Exzessiv-Äußerliche bestimmter Frömmigkeitspraktiken theologisch begründet zurückweisen können. Wo anders als in der Predigt wäre dies entsprechend wirkungsvoll möglich gewesen? Es ist im übrigen belegt, daß Eckhart zu klösterlichen Mystikerinnen Kontakt hatte, etwa, wie es das Schwesternbuch von Oetenbach festgehalten hat, mit Elsbeth von Oye,8 die, was eine forcierte Ekstasepraktik betrifft, als Extremfall gelten kann.9 Ruh hat damit die schon von HEINRICH DENIFLE und HERBERT GRUNDMANN10 vertretene Auffassung ausgebaut und konkretisiert, daß Eckharts Predigten eine seelsorgerliche Funktion im Zusammenhang der neuen Frauenmystik besaßen. Und zudem sei zu beachten, daß er nicht nur zu dieser Bewe6

OTTO LANGER, Meister Eckharts Lehre von der Gottesgeburt und vom Durchbruch in die Gottheit und seine Kritik mystischer Erfahrung, in: MARGOT SCHMIDT, DIETER BAUER (Hg.), „Eine Höhe, über die nichts geht“. Spezielle Glaubenserfahrung in der Frauenmystik? (Mystik in Geschichte und Gegenwart, Abt. 1, Bd. 4), Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, S. 135–161, hier S. 136. 7 KURT RUH, Meister Eckhart: Theologe, Prediger, Mystiker, München 21989, S. 104f. 8 LW V, Acta n. 42. 9 Siehe PETER OCHSENBEIN, Die Offenbarungen Elsbeths von Oye als Dokument leidensfixierter Mystik, in: KURT RUH (Hg.), Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984 (Germanistische Symposien – Berichtsbände VII), Stuttgart 1986, S. 423–442, hier S. 430ff.; vgl. auch meine Studie Innerlichkeit, Körperlichkeit und Sprache in der mittelalterlichen Frauenmystik, in demselben Bd., S. 480–492, hier S. 488ff. 10 Dazu: LANGER [Anm. 6], S. 136f.

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Walter Haug

gung Stellung genommen, sondern auch selbst durch sie Impulse für sein mystisches Denken empfangen habe.11 Wenn Eckharts Predigten im Sinne dieser Thesen auch ein religionspolitisches Ziel hatten, dann ist es bedauerlich, daß man dies auf amtlich-kirchlicher Seite nicht erkannte und lieber auf Verfolgung und Scheiterhaufen setzte als auf Verständnis, Verwandlung und Erneuerung. Jedenfalls darf man sagen: Insoweit hinter Eckharts Predigten das Bemühen stand, auf die gärenden Fragen im Zusammenhang der aktuellen neuen Frömmigkeitsformen eine Antwort zu geben, insoweit ist auch vorauszusetzen, daß man auf solche Fragen in den Frauenklöstern nicht nur vorbereitet war, sondern daß es dabei um brennendste eigene Anliegen ging. Das Problem ist nur, daß, wenn Eckhart mit seiner mystischen Theologie darauf antwortete, diese Antwort auffällig indirekt war und zudem auf philosophisch schwierigstem Niveau gegeben wurde. Und das beunruhigt, wenn man von der Gebrauchsfunktion seiner Predigten ausgeht. Ich will diese Funktion nicht in Frage stellen, aber doch zugespitzt zu überlegen geben, ob es wirklich als angemessen gelten kann, in der Tradition höchsten spekulativen Denkens eine mystische Metaphysik zu entwerfen, nur um allzu ekstatisch veranlagte Nonnen davon abzubringen, sich gottgefällig blutig zu geißeln. So mag man sich denn wohl berechtigt sehen, versuchsweise eine Gegenposition zu beziehen und zu behaupten, daß Eckhart quer zu dieser vermeintlichen Aktualität gedacht und gesprochen habe, oder anders gesagt, daß seine Philosophie vom Kirchenvolk, jedenfalls im allgemeinen, kaum verstanden worden sein dürfte, daß er vielmehr rücksichtslos über die Köpfe seiner Zuhörer, seiner Zuhörerinnen, hinweggepredigt habe. Sein metaphysisch-mystisches Konzept ist ja von einem so hohen Anspruch, daß selbst theologisch hochgebildete Leser Mühe haben, es zu begreifen. Jeder Blick in die Eckhart-Forschungsgeschichte macht dies evident. Die Mißverständnisse gehen übrigens bis in die jüngste Zeit.12 Und Eckhart war sich sehr wohl dessen bewußt, daß er seine Hörer überforderte. Es sei an sein berühmtes, berüchtigtes Wort erinnert: wer dise rede niht enverstaˆt, der enbekümber sıˆn herze niht daˆ mite. Wan als lange der mensche niht glıˆch enist dirre waˆrheit, als lange ensol er dise rede niht verstaˆn; wan diz ist ein unbedahtiu waˆrheit, diu daˆ komen ist uˆz dem herzen gotes ane mittel (Pr. 52, DW II, S. 506, 1–3): ›Wer, was ich sage, nicht versteht, der soll sich sein Herz davon nicht bedrücken lassen. Denn solange jemand nicht eins ist mit dieser Wahrheit [der Wahrheit, aus der heraus Eckhart predigt], solange wird er, was ich sage, nicht verstehen können, denn dies ist eine hüllenlose Wahrheit, die unvermittelt aus dem Herzen Gottes gekommen ist.‹ Das ist von ernüchternder Härte.13 Wie viele von Eckharts Hörern durften für sich in Anspruch nehmen, 11

KURT RUH, Meister Eckhart und die Spiritualität der Beginen, Perspektiven der Philosophie. Neues Jb. 8 (1982), S. 323–334. 12 Siehe LARGIER [Anm. 3], S. 52ff. 13 Und das Wort steht keineswegs isoliert. QUINT hat die Parallelen notiert: DW II, S. 516 Anm. 63. – Es handelt sich möglicherweise um ein traditionelles Motiv; es findet sich nämlich auch bei

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mit der göttlichen Wahrheit eins zu sein? Und hatte er allen übrigen nichts zu sagen? Ja, wozu sollte er jenen predigen, die eins waren mit der Wahrheit? Denn diese hatten doch schon alles, worauf es ankam. Wenn er also die, die nicht in der Wahrheit standen, nicht erreichen konnte und denen, die in ihr standen, nichts zu sagen brauchte, weshalb hat dann Eckhart überhaupt gepredigt? Dazu ist ein weiteres berühmtes Wort zu zitieren. Eckhart soll gesagt haben: weˆre hie nieman gewesen, ich müeste si [dise predie] disem stocke geprediet haˆn:14 ›wenn hier niemand gewesen wäre [um mir zuzuhören], so hätte ich diesem Opferstock predigen müssen‹. Das scheint zu heißen, daß es Eckhart nicht nur gleichgültig war, ob man ihn verstand oder nicht, sondern daß es für ihn nicht einmal eine Rolle spielte, ob er Zuhörer hatte oder nicht. Genügte also die Predigt sich selbst? Man kann darauf nur bejahend antworten, wenn man zugleich sagt, daß sie sich nicht selbst meint, sondern sich eingeschrieben weiß in das Wort Gottes. Sie steht damit jenseits von allem informativen Mitteilen von Wissen; man hat von einer Gegensprache gesprochen.15 Was also gilt? Wurde Eckhart in den Frauenklöstern, ja gar vom Kirchenvolk verstanden, oder hat er seine Zuhörer rücksichtslos überfordert? Die päpstliche Bulle geht davon aus, daß die üble Saat ›im Acker des Herrn‹ aufgehen könnte, sie setzt also ein Verständnis voraus. Eckhart selbst hingegen rechnet damit, daß nur ein Teil, wohl ein kleiner Teil, wirklich zu begreifen vermochte, worum es ihm ging.16 Die beiden Positionen brauchen sich meines Erachtens nicht unbedingt auszuschließen. Wenn Eckharts Lehre unter dem Aspekt ihrer Aktualität eine große Resonanz gefunden hat, so muß sich das Verständnis zumindest bei den Ordensfrauen, wo man eine gewisse Bildung voraussetzen kann, auf einem erstaunlichen Niveau vollzogen haben. Auf der andern Seite ging es nicht nur um ein intellektuelles Begreifen, sondern zugleich um einen Nachvollzug dessen, was er lehrte, einen Nachvollzug, der die menschliche Existenz insgesamt betraf; es ging darum, ›eins‹ zu sein ›mit der Wahrheit‹. Und hierbei stößt das, was verDionysius Areopagita: Er sagt, er könne sich nur denjenigen mitteilen, die die Unio selbst erfahren hätten; vgl. EKKEHARD MÜHLENBERG, Die Sprache der religiösen Erfahrung bei PseudoDionysius Areopagita, in: LIONEL R. WICKHAM, CAROLINE P. BAMMEL (Hg.), Christian Faith and Greek Philosophy in Late Antiquity. Essays in Tribute to George Christopher Stead, Leiden, New York, Köln 1993, S. 129–147, hier S. 144f. 14 Meister Eckhart, hg. v. FRANZ PFEIFFER, Leipzig 1857, Pr. 61, S. 181,19f. 15 ALOIS M. HAAS, Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik (dokimion 4), Freiburg/Schweiz 1979, S. 148; NIKOLAUS LARGIER, Repräsentation und Negativität. Meister Eckharts Kritik als Dekonstruktion, in: CLAUDIA BRINKER, URS HERZOG u. a. (Hg.), Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität, Bern, Berlin usw. 1995, S. 371–390, hier S. 385. 16 Anderseits hat Eckhart sich aber doch am 13. Februar 1327 öffentlich in der Kölner Dominikanerkirche gerechtfertigt, also das Kirchenvolk in die Diskussion um seine Rechtgläubigkeit einbezogen: JOSEF KOCH, Meister Eckharts Weiterwirken im deutsch-niederländischen Raum im 14. und 15. Jahrhundert, in: La mystique rhe´nane. Colloque de Strasbourg 16–19 mai 1961 (Travaux du centre d’e´tudes supe´rieures spe´cialise´ d’histoire des religions de Strasbourg), Paris 1963, S. 133–156, hier S. 153.

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mittelt werden kann, grundsätzlich an unüberschreitbare Grenzen. So ist denn auch das Unvermittelbare dessen, worauf es letztlich ankommt, ein zentrales Thema von Eckharts Lehre. Gewiß ist es denkbar, daß sein Charisma, an dem schwerlich zu zweifeln ist, über diese Kluft hinwegzutragen vermochte, aber hier versagt unser historischer Zugriff, und wir haben auch keinerlei Dokumente über eine kollektive Wirkung, die vermutlich von ihm ausgegangen ist. Was wir haben, ist lediglich die Reaktion der Neider und die Sorge der Amtskirche sowie das Zeugnis der Überlieferung: die Predigten sind in schriftlicher Form, trotz der Bulle, weitergereicht worden; das deutet auf eine Anhängerschaft, die sich nicht abschrecken ließ. LORIS STURLESE spricht geradezu von einer Gruppe von »Eckhartisten«, die sich um sein geistiges Erbe bemüht habe.17 Und schließlich: Es ist wohl trotz alledem damit zu rechnen, daß eine Rezeption auf unterschiedlichen Stufen möglich war, denn Eckhart gibt ja auch immer wieder ganz pragmatische Anweisungen zu dem, was nicht nur falsch, sondern auch von relativem Nutzen und damit als vorläufiges Tun doch tolerabel ist. Dazu gehört der ganze Bereich frommer Handlungen und guter Taten, die zwar am Wesentlichen vorbeigehen, aber nicht einfach verwerflich sind. – Aber all das sind, wie deutlich geworden sein dürfte, eher tastende Mutmaßungen als feste Einsichten. Will man in diesem Fragenzusammenhang weiterkommen, so wäre ein wichtiger Schritt getan, wenn sich nachweisen ließe, daß die Predigten, die Eckhart in der Spätzeit gehalten hat, wirklich einen spezifischen Charakter besitzen, einen Charakter, der von einer besonderen historisch-geistigen Situation zeugt, wie immer Eckhart diese verarbeitet haben mag. Und es besteht durchaus eine Chance, diesen Nachweis zu führen. Eckhart war ja schon in seiner Frühzeit, d. h. der Zeit, als er zum Erfurter Konvent gehörte, als Prediger tätig. Ein Vergleich der frühen Predigten mit jenen aus seinen letzten Jahren müßte also zeigen, ob und, wenn ja, inwiefern die Themen oder Schwerpunkte des Interesses sich – möglicherweise aufgrund der Erfahrungen bei der Betreuung der rheinischen Frauenklöster – verändert haben. Ein solcher Vergleich ist freilich nicht problemlos durchzuführen. Dies deshalb, weil die Verurteilung durch die Bulle von 1328 dazu geführt hat, daß Eckharts Schriften, auch wenn die »Eckhartisten« manches bewahrt haben mögen, doch im großen ganzen verstreut, zersplittert, anonym oder unter falschem Namen weitergegeben worden sind. Trotz intensiver Bemühungen der Forschung, das Eckhartsche Oeuvre aus den Trümmern wiederherzustellen, und trotz der bewunderungswürdigen Resultate, die inzwischen vorliegen, gibt es nach wie vor große Unsicherheiten beim Versuch, das Authentische vom nicht 17

LORIS STURLESE, Die Kölner Eckhartisten. Das Studium generale der deutschen Dominikaner und die Verurteilung der Thesen Meister Eckharts, in: ALBERT ZIMMERMANN (Hg.), Die Kölner Universität im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 20), Berlin, New York 1989, S. 192–211, und DERS., Meister Eckharts Weiterwirken, in: STIRNIMANN, IMBACH [Anm. 3], S. 169–183. Vgl. auch LARGIER [Anm. 3], S. 35f., 48f.

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Authentischen zu scheiden, wobei man auch mit bedingt Authentischem zu rechnen hat, und so ist es denn auch nur in Ansätzen gelungen, zu einer Werkchronologie zu kommen. Was die Frühzeit Eckharts betrifft, so ist uns aber immerhin eine geschlossene Predigtsammlung, ›Paradisus anime intelligentis‹ betitelt, aus dem 14. Jahrhundert überliefert,18 die möglicherweise in Erfurt zusammengestellt worden ist19 und die u. a. 32 Eckhartpredigten enthält.20 Die überwiegende Zahl dieser Predigten dürfte Eckhart vor den Brüdern des dortigen Konvents gehalten haben, und sie fielen damit in die Jahre 1303–1311, als er Provinzial der neugegründeten Provinz Saxonia war und in Erfurt seinen Amtssitz hatte. Dies läßt sich auch inhaltlich durch die thematische Nähe zu seinen ›Pariser Quaestionen‹ stützen, die in die Zeit des vorausgegangenen Magisteriums in Paris, 1302/03, gehören.21 Es ergeben sich jedoch Probleme dadurch, daß vermutlich nicht nur einzelne spätere Predigten mit in die Sammlung aufgenommen worden sind, sondern daß sie zudem unter bestimmten Perspektiven überarbeitet worden zu sein scheint. Offenbar bestand, wie schon der Titel deutlich macht, ein besonderes Interesse daran, die dominikanische Intellectus-Lehre, d. h. den Vorrang der Vernunft bei der Gotteserfahrung gegenüber der voluntativen Seite, die von den Franziskanern betont wurde, herauszustellen.22 Überdies fällt auf, daß – bis auf eine einzige Ausnahme – keine Eckhart-Predigt auftaucht, die eine der inkriminierten Stellen enthielte.23 STURLESE zählt den Redaktor der Sammlung zu den »Eckhartisten«,24 d. h., man hat mit einer Rechtfertigungstendenz zu rechnen. Es sind somit in mehrfacher Hinsicht Einschränkungen vorzunehmen, wenn man Predigten aus dieser Sammlung für den frühen Eckhart in Anspruch nehmen will. Solange nicht jede von ihnen genau untersucht worden ist, können verallgemeinernde Aussagen nur mit einem gewissen Vorbehalt gemacht werden. 18

Sie muß schon kurz nach der Veröffentlichung der päpstlichen Bulle zusammengestellt worden sein; siehe GEORG STEER, Geistliche Prosa, in: INGEBORG GLIER (Hg.), Die deutsche Literatur im späten Mittelalter (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, begründet von HELMUT DE BOOR und RICHARD NEWALD, III, 2), München 1987, S. 306–370, hier S. 330. – Wir sind z. T. noch auf die alte Ausgabe von PHILIPP STRAUCH angewiesen: Paradisus anime intelligentis (Paradis der fornuftigen sele) (DTM 30), Berlin 1919 [zit. ›Par.‹]. 19 RUH [Anm. 2], S. 273f. Auch eine Entstehung in Köln ist erwogen worden: STEER [Anm. 18], S. 329. 20 31 Predigten sind ihm namentlich zugeschrieben, eine weitere, anonyme ist ihm mit einiger Wahrscheinlichkeit zuzuweisen; siehe RUH [Anm. 2], S. 274; RUH [Anm. 7], S. 61: DW Pr. 7, 9, 19, 20B, 32, 33, 37, 38, 43, 56, 57, 60, 70, 72, 80, 82, 84, 85, 87, 88, 89, 90, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98; (noch) nicht aufgenommen sind die Predigten ›Par.‹ 56 (anonym) und 60. 21 RUH [Anm. 7], S. 63, und DERS., Meister Eckharts Pariser Quaestionen 1–3 und eine deutsche Predigtsammlung, Perspektiven der Philosophie. Neues Jb. 10 (1984), S. 307–324. 22 Vgl. LARGIER [Anm. 3], mit weiterführender Literatur. 23 Die Ausnahme ist Pr. 9 (DW I, S. 138ff.). Vgl. EW I, Anm. zu S. 108, 12–15. Ist dies ein Versehen oder eine dezidierte Stellungnahme gegen die Verurteilung? Letzteres erwägt STEER [Anm. 18], S. 331. 24 STURLESE, Meister Eckharts Weiterwirken [Anm. 17], S. 182.

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Der Erfurter Lebensabschnitt Eckharts kommt dadurch zum Ende, daß er für die Jahre 1311 bis 1313 zu einem zweiten Magisterium nach Paris geschickt wird. Anschließend ist er Generalvikar in Straßburg, 1323 oder 1324 erfolgt die Berufung auf den Kölner theologischen Lehrstuhl. Für die letzten Jahre bis zu seinem Tod 1328 läßt sich – aufgrund von Hinweisen auf Kirchenfeste und Predigtorte – mit einiger Sicherheit eine Gruppe von wohl etwa 18 Predigten herauslösen.25 Man pflegt sie der Kölner Zeit zuzuweisen; doch hat KURT RUH dieser Meinung neuerdings widersprochen.26 Wie immer dem sei, die Zusammengehörigkeit der in Frage stehenden Predigten und ein relativ später zeitlicher Ansatz bleiben davon unberührt. Das dürfte einen Vergleich auf eine einigermaßen solide Basis stellen, es also erlauben, etwas darüber auszusagen, ob es zwischen den mutmaßlich frühen Erfurter und den späten Predigten am Rhein zu einer Veränderung der thematischen Schwerpunkte in Verbindung mit einer Rücksichtnahme auf die andere Zuhörerschaft und deren spezifische Probleme gekommen ist. KURT RUH hat als erster einen solchen Vergleich unternommen.27 Er ist dabei von der Feststellung ausgegangen, daß die ›Paradisus‹-Predigten sehr deutlich den Einfluß der mystischen Philosophie des Dionysius Areopagita zeigen. Darauf weise schon die Zahl der namentlichen Nennungen in der Frühzeit hin: von den 14 Dionysius-Nennungen im gesamten Predigtwerk fallen 12 in die Erfurter Jahre.28 Und RUH demonstriert dann anhand von zwei Predigten, in welchem Maße Eckhart tatsächlich die Dionysische Philosophie rezipiert und »in seine eigene Spiritualität umgesetzt hat«.29 Es ist ein ansprechender Gedanke, daß dieser Einfluß mit dem Pariser Aufenthalt zusammenhängen könnte, denn unsere Haupthandschrift des Dionysischen Corpus, die heute als Cod. lat. 17341 in der Bibliothe`que Nationale liegt, stammt aus dem Besitz des Dominikanerkonvents Saint-Jacques im Quartier Latin, wo Eckhart untergebracht war.30 Das Schriftencorpus dieses Dionysius,31 der sich als jener Athener ausgab, den Paulus auf der zweiten Missionsreise durch seine berühmte Areopagrede 25

EW I, S. 739f. Es sind die Predigten 1, 10–15, 18, 19, 22, 25, 26, 37, 49, 51, 59, 79. Dazu kommt Pr. 63, die sich auf Pr. 26 rückbezieht; vgl. JOACHIM THEISEN, Predigt und Gottesdienst. Liturgische Strukturen in den Predigten Meister Eckharts, Frankfurt a. M., Bern usw. 1990, S. 178f. Zu den Unsicherheiten der chronologischen Fixierung: LARGIER, ebd., S. 740. 26 KURT RUH, Zu Meister Eckharts Kölner Predigten, ZfdA 128 (1999), S. 42–46. 27 DERS., Dionysius Areopagita im deutschen Predigtwerk Meister Eckharts, Perspektiven der Philosophie. Neues Jb. 13 (1987), S. 207–223. 28 Ebd., S. 209: 9 Nennungen stehen im ›Paradisus‹, 3 in der Jostes-Sammlung, die zum Umkreis des ›Paradisus‹ gehört: FRANZ JOSTES, Meister Eckhart und seine Jünger. Ungedruckte Texte zur Geschichte der deutschen Mystik (Collectanea Friburgensia IV), Freiburg/Schweiz 1895. 29 Die Predigtanalysen: RUH [Anm. 27], S. 210f. (Pr. 61) und S. 211ff. (Pr. 46), das Zitat S. 213. 30 Ebd., S. 214. 31 Es besteht aus vier Traktaten und einer Reihe von Briefen: PG 3. Synoptisch mit den lateinischen Übersetzungen: PHILIPPE CHEVALLIER (Hg.), Dionysiaca I/II, Brügge, Paris 1937/1951. Ich zitiere unter den üblichen Kürzeln: CH = De caelesti hierarchia; DN = De divinis nominibus; MTh = De mystica theologia. Die in vieler Hinsicht überaus verdienstvolle Neuedition von BEATE REGINA SUCHLA, Corpus Dionysiacum I (Patristische Texte und Studien 33), Berlin 1990, und GÜNTER HEIL, ADOLF MARTIN RITTER, Corpus Dionysiacum II (Patristische Texte und Studien 36), Berlin

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bekehrt hatte, in Wirklichkeit aber ein von Proklos abhängiger Neuplatoniker des späteren 5. Jahrhunderts war, stand dem Westen seit dem 9. Jahrhundert zur Verfügung. Der byzantinische Kaiser Michael II. Psellos hatte es als Geschenk an König Ludwig den Frommen gesandt, und zwar mit der Begründung, er habe gehört, daß man auch im Frankenreich den Dionysius verehre. Bei diesem Dionysius handelte es sich freilich um den Missionar Galliens, der im 3. Jahrhundert wirkte und dessen Gebeine im französischen Königskloster St. Denis lagen. Hilduin, der Abt von St. Denis und der erste Übersetzer des Corpus, hat diesen Gedanken aufgegriffen und propagiert, so daß nun der Neuplatoniker des 5. Jahrhunderts nicht nur für den Apostelschüler aus dem 1. gehalten, sondern auch noch mit dem Missionar Galliens aus dem 3. Jahrhundert in eins gesetzt wurde und damit zum Nationalheiligen Frankreichs avancierte. Die große theologisch-philosophische Wirkung aber setzte, auch wenn Johannes Scotus Eriugena eine zweite, verbesserte lateinische Version lieferte und eine eigene Philosophie auf Dionysius aufbaute, erst im 12. Jahrhundert ein. Neben zwei neuen Übersetzungen durch Johannes Sarrazenus und Robert Grosseteste entsteht nun eine Kommentarliteratur, die mit den größten Namen verbunden ist: Hugo von St. Viktor, Albertus Magnus, Thomas von Aquin.32 Die Bedeutung des Dionysius für die abendländische Geistesgeschichte kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Und die Wirkung seines philosophischen Konzepts ging und geht trotz des Streits, der durch die Zweifel an der Identität des Apostelschülers seit dem Humanismus aufgebrochen war und der sich erst 1895 mit dem Nachweis der Abhängigkeit von Proklos endgültig erledigte,33 direkt oder indirekt bis in die Gegenwart weiter. Worin bestand, abgesehen von den Klitterungen im Zusammenhang mit der Person des Autors, die Faszination des Dionysischen Corpus? Sie bestand darin, daß hier die plotinisch-proklische Form des Neuplatonismus in überaus kühner Weise verchristlicht worden ist.34 Dionysius hat das ÏΕν, ›das Eine‹, das die Spitze der platonistischen Seinspyramide bildet, mit dem christlichen Schöpfergott identifiziert. Die Schöpfung versteht sich dann entsprechend als ein Ausströmen des Einen in das Viele. Und diese Emanation des Seins ist zugleich ein Ausfließen des Lichts, das sich absteigend dem Geschaffenen mitteilt und dabei 1991, brachte kaum textliche Veränderungen von Gewicht; vgl. EKKEHARD MÜHLENBERG, Die kritische Edition der Schriften des Pseudo-Dionysius Areopagita, Jb. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen für das Jahr 1991, Göttingen 1992, S. 151–156. 32 Zur Nachwirkung grundlegend: KURT RUH, Die mystische Gotteslehre des Dionysius Areopagita, in: Sitzungsber. d. Bayerischen Akad. d. Wiss. Phil.-hist. Kl. 1987, H. 2, München 1987, S. 50ff., und KURT RUH, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1, München 22001, S. 71ff. 33 HUGO KOCH, Proklos als Quelle des Pseudo-Dionysius Areopagita in der Lehre vom Bösen, Philologus 54 (1895), S. 438–454; JOSEPH STIGLMAYR, Der Neuplatoniker Proclus als Vorlage des sogen. Dionysius Areopagita in der Lehre vom Übel, Historisches Jb. d. Görres-Ges. 16 (1895), S. 253–273, S. 721–748. Die Neuedition des Dionysischen Corpus [Anm. 31] erlaubt nun über den Nachweis der Zitate einen verbesserten Einblick in die Abhängigkeiten. 34 Die Beurteilung dieses Versuchs schwankt in der Forschung sehr stark; siehe BERNARD MCGINN, Die Mystik im Abendland, Bd. 1: Ursprünge, Freiburg, Basel, Wien 1994, S. 234f.

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auch im Menschen wirkt, ihn als Licht der Erkenntnis antreibt, den Weg nach oben zum Ursprung des Seins und des Lichts zurückzugehen (CH, Sp. 120B ff.). Prominent ist dabei die Funktion des Eros: Es ist die sich verströmende Liebe Gottes, die den Menschen bewegt, ihn wiederum mit seiner Liebe zu suchen – Dionysius hat den platonischen Eros explizit mit der christlichen Agape identifiziert (DN, Sp. 709B).35 Dieser Aufstieg des Menschen im Erkennen und Lieben über die Hierarchie des Seins stößt jedoch am höchsten Punkt an eine Grenze: der Eintritt in den Ursprung, die Einigung mit Gott ist ein Sprung, eine Ekstasis, die auf die entgegenkommende Gnade Gottes angewiesen ist. Damit ist festgehalten, daß Gott als der Radikal-Andere verstanden werden muß. Ontologisch gesagt: Gott ist zwar gewissermaßen, indem er sich ins Seiende ausströmt, in der Schöpfung präsent, dies aber nur über eine Ähnlichkeit, der gegenüber die Unähnlichkeit allemal größer ist. Diese unähnliche Ähnlichkeit, die das Verhältnis zwischen Gott und der Schöpfung, zwischen dem Ewigen und dem Endlichen kennzeichnet, hat zur Folge, daß auch unsere Erkenntnisweisen nur bedingt angemessen sind. Man kann Gott im Grunde nicht positiv denken, sich nicht positiv über ihn äußern. Man kann ihm zwar Sein zuschreiben, aber dieses Sein ist gegenüber dem Irdisch-Seienden so radikal anders, daß es besser ist, Gott das Sein abzusprechen und ihn als ›Nichts‹ zu bezeichnen. Oder: Wenn man Gott ›Licht‹ nennt, so ist er in seiner Lichthaftigkeit so wesentlich von allem Irdisch-Lichthaften unterschieden, daß man ihn besser als ›Finsternis‹ oder paradox als ›dunkles Licht‹ oder ›leuchtendes Dunkel‹ apostrophiert (insbes. ›De mystica theologia‹, Kap. 1). Diese verneinende Sprechweise oder negative Theologie – sie ist vor allem von Gregor von Nyssa inspiriert36 – spielt zusammen mit einer spezifischen Vorstellung von der mystischen Ekstasis: sie wird verstanden als ein Eintauchen in die göttliche Dunkelheit. Mit der Idee der radikalen Differenz im Sein und im Erkennen, die darin zum Ausdruck kommt, eine Differenz, die nur durch einen Sprung zu überwinden ist, wird die Möglichkeit eröffnet, der christlichen Gnade einen Ort und eine Funktion im platonistischen Konzept zuzuweisen.37 Wenn man diese Idee jedoch konsequent zuende denkt, muß sich ergeben, daß dieses Konzept damit im Grunde unterlaufen wird. Denn wozu taugt die Aufstiegsbewegung, wenn es letztlich doch auf den Sprung ankommt, der nicht machbar ist, sondern sich allein der göttlichen Gnade verdankt? Damit ist dem verchristlichten Neuplatonismus ein Problem eingeschrieben, das weitreichende Folgen haben sollte. 35

Zum Eros bei Dionysius und den Vorstufen des Konzepts: ebd., S. 245ff. Ebd., S. 209. Vgl. zur antik-philosophischen, jüdischen und christlichen Geschichte der negativen Theologie HELLA THEILL-WUNDER, Die archaische Verborgenheit. Die philosophischen Wurzeln der negativen Theologie (Humanistische Bibliothek. Abhandlungen und Texte, Reihe I, Bd. 8), München 1970; HENRI-CHARLES PUECH, La Te´ne`bre mystique chez le Pseudo-Denys l’Are´opagite et dans la tradition patristique, in: DERS., En queˆte de la Gnose, I. La Gnose et le temps et autres essais, Paris 1978, S. 119–141, insbes. S. 133ff. 37 Bezeichnenderweise entstammen die Beispiele für die Henosis in der göttlichen Dunkelheit der biblischen Überlieferung, nicht der neuplatonischen Tradition. Vgl. RUH [Anm. 32], S. 42f. 36

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Was nun Eckhart betrifft, so ist zu fragen: Wenn er sich, wie gesagt, im Frühwerk so nachdrücklich auf Dionysius beruft, inwiefern hat sich dessen Konzept und möglicherweise seine Problematik konkret in den ›Paradisus‹-Predigten niedergeschlagen? An Dionysischem Gedankengut läßt sich folgendes fassen:38 Eckhart übernimmt die Idee der Emanation. Gott strömt sich ins Seiende aus, und die Kreatur strebt in der Gegenbewegung zum Ursprung zurück. Damit verbunden ist das charakteristische verneinende Denk- und Darstellungsverfahren. Gott, so sagt Eckhart, ist ein wesen ob allen wesen (Pr. 82, DW III, S. 431,3): ›ein Sein über allem Sein‹, ein wesen weseloˆs (ebd. S. 431,3f.): ›ein seinsloses Sein‹, oder lichtmetaphorisch formuliert: er ist Finsternis jenseits des Lichts; er ist ein Licht, vor dem man erblindet, und nur der in diesem Licht blind Gewordene kann Gott schauen (Pr. 72, DW III, S. 250f.,7ff.). So faßt man denn Gott auch nicht in seiner Güte oder in seiner Wahrheit, denn dabei steht er immer noch als Objekt gegenüber – er ist als Güte das Objekt der menschlichen Liebe, als Wahrheit das Objekt des Erkennens. Es sind dies jedoch nur Einkleidungen, oder es wird dies, wie Eckhart auch sagt, Gott zuogeleget (Pr. 37, DW II, S. 216,4).39 Beide Ausdrücke, ›Einkleidung‹ wie ›Zulegung‹, stammen über das Lateinische aus dem Dionysischen Text: περικαλυ πτειν, περιτιε ναι (DN, Sp. 592B). Und Dionysius hatte noch eine weitere Bezeichnung dafür: ποιητικηÁ ιë εροπλαστι α (CH, Sp. 137B): ›heilige dichterische Erfindung‹,40 was letztlich jede Form der Darstellung des Göttlichen, selbst die biblischen Schriften, als ›Fiktionen‹ erscheinen läßt, die gewissermaßen wegzuräumen sind, bevor man zu dem kommt, was eigentlich gemeint ist. Man muß Gott, so sagt Eckhart, ohne Einkleidungen, man muß ihn bloˆz nehmen (Pr. 7, DW I, S. 122, 6), als ein luˆter wesen (ebd. und Pr. 37, DW II, S. 216,5 und 6; dazu QUINTs Anm. 4): als ›reines Sein‹. Das aber ist, da wir an Bilder und Begriffe gebunden sind, nur durch einen Akt der göttlichen Barmherzigkeit, nur gnadenhaft möglich: Minne nimet got under einem velle, under einem kleide (Pr. 7, DW I, S. 122f.,10f.): ›Die Liebe nimmt Gott in einer Haut, in einem Kleid‹. vernüfticheit ... enkan ... in niemer begrıˆfen in dem mer sıˆner gruntlosigkeit (ebd., S. 123,1ff.): ›Die Vernunft kann ihn niemals fassen im Meer seiner Unergründlichkeit‹. Ich spriche: über disiu beidiu, bekanntnisse und minne, ist barmherzicheit (ebd., S. 123,4f.): ›über beidem, über der Vernunft und der Liebe, steht die Barmherzigkeit‹, d. h. die entgegenkommende Gnade. Wenn sie einem aber gewährt wird, dann tritt die 38

Dionysisches ist freilich nicht immer ohne weiteres von neuplatonischen Einflüssen aus anderen Quellen abzugrenzen, es sei denn Eckhart nenne diese explizit, wie beim Zitat aus dem ›Liber XXIV philosophorum‹ in Pr. 9 oder jenem aus dem ›Liber de causis‹ in Pr. 80, um nur zwei Beispiele aus der Frühzeit zu nennen. Vgl. zu diesen Einflüssen: KURT RUH, Neuplatonische Quellen Meister Eckharts, in: BRINKER, HERZOG u. a. [Anm. 15], S. 317–352. 39 Vgl. auch DW I, S. 361,6f.; S. 361,8f. LANGER [Anm. 6], S. 142, diskutiert diese Stelle im Zusammenhang von Eckharts Unterscheidung zwischen Gottheit und Gott. Mit Gottheit bezeichnet Eckhart das Eine, das jenseits aller Bestimmungen ist. 40 BERNHARD TEUBER, Allegoria apophatica. Über negative Theologie und erotischen Exzeß bei Dionysius Areopagita, San Juan de la Cruz und Jose´ Lezama Lima, Studies in Spirituality 3 (1993), S. 213–247, hat darauf hingewiesen (S. 224).

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Seele aus sich selbst heraus: sie kumet von ir selber (Pr. 82, DW III, S. 430,4f.) – was ›Ekstasis‹ übersetzt – und verliert sich in Gott, ›wie wenn man einen Tropfen Wasser in eine Bütte voll Wein fallen läßt‹ (ebd., S. 430,5; vgl. DW V, S. 269,30f.). Das ist Bernhards berühmtes Bild für die mystische Unio.41 Ekstasis und Unio kommen also durchaus bei Eckhart zur Sprache. Das prononciert erotische Moment des Dionysischen Aufstiegs erscheint freilich nicht nur stark zurückgenommen, sondern die Liebe besitzt bei Eckhart eine völlig andere Position und Funktion. Es wird davon noch die Rede sein. Neben der Dionysischen Emanationsvorstellung und deren negativer Theologie steht nun bei Eckhart eine Seelenlehre, die über die Väter vermittelt ist, sich aber letztlich ebenfalls einem platonischen Ansatz verdankt, die Lehre nämlich, daß die Seele einen göttlichen Wesenskern besitzt, so daß es ihr möglich ist, den Weg zu ihrem Ursprung zurückzufinden. Eckhart spricht, indem er die traditionelle Terminologie aufnimmt und ins Deutsche übersetzt, von einem ›höchsten Teil‹ der Seele, einer ›obersten Kraft‹ in ihr, in der sie sich mit Gott berührt, oder, im Rahmen der Lichttheologie, von einem vünkelıˆn: einem ›Seelenfünklein‹, das mit dem Licht, das Gott ist, eins ist, d. h. in dem Gott sich in der Seele offenbart.42 Doch die platonische Vorstellung von einem göttlichen Kern in der Seele mußte sich wesentlich verändern, als die Väter sie mit der Paulinischen Idee vom Gestaltwerden Christi im Menschen (Gal 4,19) verbanden. Das Göttliche drängte nun nicht mehr zum Aufstieg, sondern es wurde zum Ort der Manifestation Gottes im Menschen: das patristische Bild dafür war die Gottesgeburt in der Seele.43 Die platonisch-dionysische Aufstiegsvorstellung geht nun in Eckharts ›Paradisus‹-Predigten mit dem Konzept der Gottesgeburt in der Seele eine eigentümlich widersprüchliche Verbindung ein. Die Seele berührt sich einerseits im Innersten mit Gott; er gebiert in ihr seinen Sohn. Zugleich aber heißt es, entsprechend der platonistischen Kosmologie, daß die Seele bei dieser Berührung zu Gott emporgehoben werde. So sagt Eckhart in Pr. 19: wenn man in seinem Geist Gott gleich sei, dann werde man allez glıˆch, ›in völliger Gleichheit‹, in die eˆwige eˆwicheit hinaufgetragen (DW I, S. 319,7). Eckhart beschreibt dies auch 41

Vgl. RUH, Geschichte I [Anm. 32], S. 233. Ergänzend zu der dort in Anm. 10 genannten Literatur: ROBERT E. LERNER, The Image of Mixed Liquids in Late Medieval Mystical Thought, Church History 40 (1971), S. 397–411. 42 Siehe zur Geschichte dieser Termini und Bilder: EW I, S. 765ff., Komm. zu 32,26–36,5, und die dort verzeichnete Literatur. 43 Die klassische Studie: HUGO RAHNER, Die Gottesgeburt. Die Lehre der Kirchenväter von der Geburt Christi aus dem Herzen der Kirche und der Gläubigen, in: DERS., Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter, Salzburg 1964, S. 11–87. Der letzte Abschnitt befaßt sich mit der Vermittlung an Eckhart. Kritische Bemerkungen bei RUH [Anm. 7], S. 142. Siehe ferner: SHIZUTERU UEDA, Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit. Die mystische Anthropologie Meister Eckharts und ihre Konfrontation mit der Mystik des Zen-Buddhismus (Studien zu Religion, Geschichte und Geisteswissenschaft 3), Gütersloh 1965, S. 27ff.; DIETMAR MIETH, Gottesschau und Gottesgeburt. Zwei Typen christlicher Gotteserfahrung in der Tradition, Freiburger Zs. f. Philosophie und Theologie 27 (1980), S. 204–223, hier S. 210ff.; Dict. Spir. XI, Sp. 24–28.

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als Rückkehr in den Ursprung: Die Seele soll sich reinigen, sich an Geistiges halten, und je reiner sie wird, desto höher wird sie emporgehoben (Pr. 60, DW III, S. 16,6–17,2) – hier hört man noch deutlich die Dionysische Stufung durch –; doch zugleich wird gesagt, daß die Seele in ihrer höchsten Kraft eins werde mit Gott (ebd., S. 22,5ff.). In dieser eigentümlichen Vermischung von an sich unverträglichen Vorstellungen bricht der alte, grundsätzliche Widerspruch auf zwischen dem neuplatonischen Kosmosdenken und der Paulinischen Idee der Verwandlung des Menschen in Christus. Denn seit man begonnen hat, die evangelische Botschaft als philosophisches Konzept darzustellen, was konkret hieß, sie in griechische Philosophie umzudenken, standen sich zwei prinzipiell verschiedene Vorstellungen vom Verhältnis des Menschen zu Gott, vom Verhältnis des Irdischen zum Ewigen gegenüber. Die eine ist platonisch-augustinisch und beruht auf dem Gedanken, daß es einen Stufenweg gibt, der von der Vernunfterkenntnis über die Erkenntnis im Glauben zur unvermittelten Anschauung Gottes führt.44 Das Gegenkonzept legt das Gewicht darauf, daß der letzte, entscheidende Schritt, die Unio mit Gott, nicht kontinuierlich aus dem Stufenweg abzuleiten ist, sondern auf dem besonderen Akt einer durch Gnade ermöglichten Ekstasis beruht. Der Seele ist bestenfalls eine Disposition eigen, die diesen transrationalen Exzeß trägt, wenn Gott ihn anstößt. Diese beiden Vorstellungen, der Aufstieg über hierarchisch geordnete Erkenntnisweisen und der Weg in das Innerste der Seele – wobei hier wie dort die Einwirkung der göttlichen Gnade unabdingbar ist –, verbinden sich in der Tradition auf die vielfältigste Weise, so daß es sich immer wieder eher um Akzentuierungen in diesem Widerspruch als um eindeutige Positionen handelt. Häufig spielt beides – wie in den ›Paradisus‹-Predigten Eckharts – irritierend unreflektiert ineinander. Stellt man nun Eckharts frühen Predigten diejenigen aus der Spätzeit gegenüber, so zeigt sich – wie kaum anders zu erwarten –, daß die Dionysische Kosmologie wie die negative Theologie und der Weg ins Innerste der Seele und damit der charakteristische Widerspruch vielfältig nachklingen. Zugleich aber ist nicht zu verkennen, daß ein Prozeß eingesetzt hat, in dem Eckhart versucht, diesen Widerspruch zu überwinden. Denn wenn auch immer wieder, gut dionysisch, vom Ausfließen Gottes, von seinem Ausblühen oder Ausschmelzen die Rede ist, so wird diese Vorstellung nun eingebunden in ein umfassendes trinitarisches Konzept. Gott entäußert sich zwar in der Schöpfung, er entläßt sie als Sohn aus sich und holt sie in der Liebe des Heiligen Geistes wieder zurück; aber das ist ein innergöttlicher Vorgang jenseits der Zeit, d. h., die zeitliche Seite ist nur eine 44

ENDRE VON IVANKA, Plato christianus. Übernahme und Umgestaltung des Platonismus durch die Väter, Einsiedeln 1964, S. 351. Was Augustinus betrifft, so sind Vorbehalte anzubringen; siehe meine Studie: Der Durchbruch durch die Zeit in der abendländischen Mystik, in: WALTER HAUG, Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 571–600, hier S. 583ff.

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Sichtweise von außen, man muß sich von ihr frei machen, durch sie ›durchbrechen‹,45 und dann offenbart sich, daß auch die Gottesgeburt in der Seele als trinitarisches Geschehen einbezogen ist in das universale trinitarische Konzept.46 Dieses Durchbrechen in jenen Grund, in dem Gott und die Seele eins sind, und dies in Ablösung von der Vorstellung des kosmischen Ausfließens und Zurückkehrens und der Unio an der höchsten Stelle des Stufenbaus, das ist die neue Idee, über die letztlich das Dionysische Konzept aus den Angeln gehoben wird. Man braucht nur einmal den Block der späten Predigten 10–15, 22 und 51 (DW I, S. 159–256, S. 371–389, II, S. 461–479) hintereinander zu lesen, dann springt in die Augen, wie zentral nun das Ineinander des trinitarischen Schöpfungskonzepts und der trinitarisch gesehenen Gottesgeburt in der Seele geworden ist. Die Dionysische Emanationsidee ist ganz im überzeitlichen Schöpfungsprozeß aufgegangen. Und was die Seele betrifft, so wird nun die Aufstiegsidee in der Verbindung mit dem Sich-Freimachen von allen Bildern ins Gegenteil verkehrt: die Bedingung für die Gottesgeburt ist die Erniedrigung, die Demut; das Höchste erfüllt sich im Tiefsten.47 Das soll nicht heißen, daß all das in den Erfurter Predigten gänzlich fehlen würde, und vor allem nicht, daß nicht im lateinischen Werk die Grundlagen dafür schon relativ früh gelegt worden wären. Doch man gewinnt den Eindruck, daß das, was zuvor und vor allem in den Predigten in disparaten Ansätzen eher unzusammenhängend, ja widersprüchlich auftaucht, sich erst in der Zeit nach dem zweiten Pariser Magisterium zu einem klaren, bis zur letzten Konsequenz durchgedachten Konzept zusammenschließt.48 KURT RUH spricht von einer »neuen Orientierung«, und er stellt sie in den Zusammenhang von Eckharts Auseinandersetzung mit der Spiritualität der Beginenbewegung, mit der er sich am Rhein konfrontiert sah.49 Und Eckhart war sich dieser »neuen Orientierung« durchaus bewußt. Er hat sie in einer Predigt, die in die Spätzeit gehört, aber völlig aus dem Rahmen fällt, geradezu programmatisch als Abwendung von Dionysius vor Augen gestellt.50 Es handelt sich um die Predigt 63 (DW III, S. 70ff.). Sie geht von I Io 4,16 aus: »Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe ist, der ist in Gott, und Gott ist in ihm.« Zunächst wird Liebe hier als Bewegung Gottes auf die Geschöpfe zu und als Gegenbewegung der Geschöpfe zu Gott hin verstanden – Eckhart gebraucht dafür die Metapher des Jagens: got iaget mit seiner mynn alle creaturen mit 45

Zur Vorstellung des ›Durchbruchs‹: ebd., S. 593ff., sowie UEDA [Anm. 43], S. 119ff., und EW I, S. 770f. 46 Die besondere Form der Eckhartschen Trinitätslehre in ihrer Verbindung mit der Gottesgeburt hat LANGER [Anm. 6], S. 138ff., herausgearbeitet. 47 Betont etwa in den späten Predigten 14 und 15. 48 Daß nicht etwa das Konzept sekundär durch den ›Paradisus‹-Redaktor zerschlagen worden ist, läßt sich durch die Parallelüberlieferung in einem hohen Maße sichern. 49 RUH [Anm. 2], S. 303. 50 Eine detaillierte Analyse dieser Predigt bietet meine Studie: Eckharts Predigt 63 ›got ist mynne‹, in: HAUG [Anm. 44], S. 505–520. Das Nachstehende ist eine knappe Zusammenfassung der betreffenden Interpretation.

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dem, das sy got begerent zemynnen (DW III, S. 75,1f.). Gott als Ursprung ist Liebe, d. h., sie ist eins mit ihm und in ihm, und doch strömt er sie aus und erfüllt damit die Geschöpfe mit dem Streben, liebend zum Ursprung zurückzukehren. Die Vorstellung impliziert also gut dionysisch einen kontinuierlichgegenläufigen Prozeß. Und daraus folgt, daß alles menschliche Tun getragen ist von Liebe, denn es richtet sich immer auf den Gewinn von etwas, was man für liebenswert hält. Aber die Liebe zu diesem oder jenem bleibt unbefriedigend; deshalb müsse man das Dies und Das, in dem das Liebenswerte erscheint, ›ablegen‹, und was dann bleibe, sei das Liebenswerte schlechthin: Gott. Das klingt zunächst wie ein platonischer Weg über die Erscheinungen zu dem, was als letzte Ursache hinter ihnen steht. Aber das täuscht, denn nun setzt Eckhart zu einer radikalen Wende an. Er sagt, und er beruft sich dabei pikanterweise gerade auf Dionysius, den er gleichzeitig entthront, daß Gott unserer Erkenntnis unzugänglich sei und daß wir deshalb mit unserem Lieben an den Geschöpfen hängenbleiben. Aber die Schöpfung in ihrer ganzen Herrlichkeit, die Engel in all ihrer erhabenen Würde eingeschlossen, führt nicht zu Gott: man fu´nd got nit dar mitte (DW III, S. 80,2), denn all das ist ihm gegenüber wertlos, ja ein Nichts: won es ist ain lauter poshait vnd ist minder denn poshait, won es ist ain luter nit (ebd., S. 80,3f.). Der Aufstieg über die Welt und die kosmischen Stufen wird dadurch blockiert, die Kontinuität des Ausfließens und Zurückfließens der Schöpfung in der Liebe ist radikal gebrochen, und damit ist das Dionysische Modell, das zu Beginn evoziert worden ist, zerstört. Es gibt keinen Weg der Liebe zu Gott, es bleibt allein die Weglosigkeit des Einsseins mit dem Ursprung, das quer steht zu jeder Form der Vermittlung. Es geschieht dies, und damit wendet sich die Predigt einer ganz andersartigen Liebeskonzeption zu, im trinitarischen Vollzug, innerhalb dessen Gott mich mit jener Liebe liebt, mit der er sich selbst liebt; und meine Liebe zu Gott kann sich nur in der Weise erfüllen, daß sie sich in diesen Vorgang mit eingeschrieben weiß. So wendet sich Eckhart also am Ende noch einmal zur kosmischen Philosophie des Dionysius zurück, aber er läßt sich nur darauf ein, um sie aus der neuen trinitarischen Position heraus zu diskreditieren. Er überwindet damit, wie gesagt, die widersprüchlichen Ansätze der Frühzeit, das schwer verträgliche Nebeneinander des Aufstiegsmodells auf der einen und des Weges ins Innerste der Seele auf der andern Seite. Zugleich belegt die 63. Predigt, daß Eckhart sich selbst über diese Entwicklung seines Denkens seit der Erfurter Zeit Rechenschaft abgelegt hat, ja, man darf wohl in dieser Predigt eine kaum verhüllte Abrechnung mit seinen dionysischen Anfängen und deren innerer Problematik sehen. Die Konsequenzen dieser trinitarischen Lösung der Widersprüche sind radikal, und sie sind es, an denen die päpstlichen Inquisitoren Anstoß genommen haben. Die trinitarische Bewegung ist als Liebe der drei göttlichen Personen eine Bewegung des Seins. Wenn Gott sein Sein verströmt, so verströmt er es unvermindert. Was Sein hat, besitzt dieses Sein in seiner ganzen göttlichen Fülle. Es gibt keine Abschwächung, keine Stufung, keine Partizipation mehr, es gibt nur

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auf der einen Seite eine Sicht von der Ewigkeit her – und hier ist alles Sein absolutes Sein – und auf der andern eine Sicht, die in die Zeitlichkeit gebunden ist, und in dieser Sicht erscheint das Seiende nicht mehr als eine schwächere Seinsform, sondern es kann nur ein Nichts sein. Aus der traditionellen Analogielehre, die das Verhältnis des Irdischen zum Ewigen als eine unähnliche Ähnlichkeit faßte, bei der die Ähnlichkeit festgehalten wurde, auch wenn die Differenz immer größer anzusetzen war als die Identität, ist der Perspektivengegensatz zwischen absolutem Sein und absolutem Nichts geworden.51 Damit ist zum erstenmal in der abendländischen Theologie der platonische Überwurf, in dem das Christentum durch die Jahrhunderte ging, – ohne eine Zuflucht zu Aristoteles – abgestreift. Der Preis dafür ist nun ein Widerspruch, der keiner sein soll, womit man sich aber noch schwerer tut als mit der Vermischung platonistischer und neutestamentlicher Vorstellungen: der Scheinwiderspruch zwischen der Vergöttlichung der Welt einerseits und der Vernichtung der Welt anderseits. Wer in der Wahrheit steht, der sieht die Schöpfung als vom Sein Gottes getragen; der Schöpfung fließt, insofern sie ist, das volle Sein Gottes zu. Wer nicht in der Wahrheit steht, sondern an den Erscheinungen hängt, der stößt beim Seienden auf Nichts. Zwischen den Erscheinungen und dem Sein gibt es keine Brücke. Man kann deshalb auch keinen Weg mehr aufzeigen, der über die Welt zu Gott führen würde, wie dies aufgrund des Analogiekonzepts – auch wenn die je größere Differenz dies letztlich blockieren mußte – denkbar war: Wege führen nur ins Nichts. Hier liegt auch der letzte Grund dafür, daß Eckhart so dezidiert sagt, sein Wort vermöge nicht zu vermitteln. Auch das Wort ist keine Brücke, man kann nur in ihm stehen und dadurch eins sein mit der Wahrheit, aus der es fließt, oder aber außerhalb bleiben und nichts verstehen. So hat denn Eckhart zwar einen Ausweg aus einem Dilemma gefunden, das die christliche Theologie von ihren Anfängen an begleitet hat, aber der Ausweg führt in die absolute Weglosigkeit. Doch was ist dann, da das Wort nicht vermitteln kann, der Sinn der Verkündigung, der Sinn der Predigt, wenn man nicht von innen, von der Fraglosigkeit des Einsseins mit dem Gotteswort her, sondern von außen her denkt? Der Sinn liegt darin, das Vermittelnde des Sprechens im Sprechen aufzuheben. Man spricht nie anders als in Einkleidungen, in ›Zutragungen‹, in poetischen Fiktionen; unter diesem Aspekt aber kann das Sprechen nurmehr den Zweck haben, diese Fiktionen aufzuheben. Das Sprechen aus der Wahrheit muß, von der menschlichen Sprache aus gesehen, kontinuierlich sich selbst unterlaufen. Die Wahrheit kann nicht anders, als in dieser Weise sprechen; sie kann sich nur negativ ihrer selbst vergewissern. Die negative Theologie, die einst den Weg nach oben freimachte, ist nun zur Funktion eines existentiellen Aktes geworden, 51

Zu Eckharts Analogielehre siehe meine Studie: Das Wort und die Sprache bei Meister Eckhart, in: WALTER HAUG, Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1996, S. 579–591; S. 579 die ältere Literatur zum Problem; RUH [Anm. 7], S. 82ff.; RUH [Anm. 2], S. 303ff.

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zu einem Mittel, das es dem, der im Sein steht, erlaubt, dieses Sein und damit das Sprechen aus diesem Sein zu fassen, indem er alles, was dabei als Objekt dieses Fassens in Erscheinung treten könnte, sogleich ›ausstreicht‹. Ich verwende bewußt diesen DERRIDA-Terminus der ›rature‹.52 JACQUES DERRIDA hat sich bekanntlich mehrfach mit Dionysius beschäftigt, nochmals intensiv in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, und dessen negative Theologie schließlich dezidiert in die Nähe seiner eigenen Philosophie gerückt.53 Sein schon früher entwickelter Begriff des Supplements erinnert an die ιë εροπλαστι α des Dionysius und an die ›Zulegung‹ Eckharts, nur mit dem Unterschied, daß das Supplement nicht heilig ist. DERRIDA schweigt über das, was die sich unterlaufenden Supplemente supplettieren, d. h., sie supplettieren nur einander. Das kann für Eckhart nicht gelten. Aber vom Sprachgestus, vom sich selbst durchstreichenden Sprechen her erscheint das Reden von einem Gegenstand, der unfaßbar ist – ob diese Unfaßbarkeit nun für eine absolute Fülle oder nur für sich selbst stehe – hier wie dort phänomenologisch identisch. So eröffnet sich über Eckhart ein Zugang zu einer aktuellen Sprachproblematik, einer Problematik, die, wenngleich unter völlig anderen historischen Prämissen, in der deutschen Mystik zu Beginn des 14. Jahrhunderts schon einmal aufgeworfen worden ist. Und so sind denn auch die Gründe, aus denen das Sich-selbst-Ausstreichen der Sprache hier und dort erfolgt, wesentlich andere, aber sie sind doch darin vergleichbar, daß sie nicht zu fassen sind. Eckhart hat für ein geschichtlich gewachsenes theologisches Dilemma, für die Unverträglichkeit zwischen dem platonischen Analogiedenken und dem im Neuen Testament gründenden Gedanken der Verwandlung des Menschen in Christus oder prägnant gesagt: der Gottesgeburt in der Seele – ein Dilemma, in dem er selbst in den frühen Predigten verfangen war – schließlich mit seinem kühnen mystischen Entwurf eine Lösung geboten. Insofern ist für ihn die Predigt eine Form philosophischer Auseinandersetzung gewesen, und insofern haben jene recht, die Eckhart in erster Linie als Metaphysiker in scholastischer Tradition verstehen. Zugleich müßte aber deutlich geworden sein, daß seine Predigt mehr war als das, und dieses Mehr erschöpft sich nicht in ihrer üblichen Gebrauchsfunktion, im Gegenteil: diese Gebrauchsfunktion wird gerade in Frage gestellt. Denn quer zur philosophischen Theorie wie zum Gebrauch steht bei Eckhart der Vollzug. Und Vollzug heißt, wie gesagt, Eintreten in die Verkündigung einer Wahrheit, die nicht vermittelbar ist. Die traditionelle Theologie opferte der positiven Aussage die Negativität des Vollzugs: man baute auf die Ähnlichkeit und erlaubte sich relativ bejahende Bestimmungen. Die neuen religiösen Bewegungen dagegen opferten dem positiven Vollzug die Negativität des Aussagens: man ›hatte‹ den Weg, man lebte die Wahrheit als irdisch-göttliche Vollkommenheit, millenarisch oder ekstatisch. Eckhart zielte auf den Kern der Konfrontation zwi52

Den Anstoß zu den folgenden Überlegungen verdanke ich den beiden Studien: TEUBER [Anm. 40], S. 215ff., und LARGIER [Anm. 15], insbes. S. 382ff. 53 TEUBER [Anm. 40], S. 216.

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schen der Orthodoxie und den neuen Frömmigkeitsbewegungen. Es konnte sich für ihn nicht einfach darum handeln, praktische Anweisungen zu geben – etwa überzogene Askese zu verbieten – und im übrigen theologisch auf der amtlichen Lehrmeinung zu beharren. Denn diese Lehrmeinung war ja gerade durch das theologiegeschichtliche Dilemma gekennzeichnet, dem gegenüber er sich gezwungen sah, seine Philosophie als Lösung zu entwickeln. Doch wenn er diese Lösung in ihrer Unvermittelbarkeit sprachlich fassen wollte, so blieb ihm nichts, als in eine Verkündigung des Gotteswortes einzutreten, die allein in der Negativität ihres sprachlichen Vollzugs der Wahrheit gerecht werden konnte. Das Wort kann das, was es meint, nicht repräsentieren, es kann nur die ihm inhärente Repräsentativität immer neu ausstreichen und dabei diesen Akt als eine Grenzerfahrung begreifen, in der das, was jenseits der Grenze ist, da ist, indem es nicht da ist. Unter diesen Bedingungen hat Eckhart gepredigt, zwar gewiß nicht ohne Bezug zu den brennend-aktuellen religiösen Fragen der Zeit, aber eben nicht pragmatisch, sondern aus der geistigen Situation und ihrer philosophischtheologischen Problematik heraus, die sein Denken angetrieben hat. Ob man das Ergebnis des Eckhartschen Versuchs in seiner letzten Konsequenz als häretisch ansehen mag oder nicht, er ist zweifellos in sich schlüssig – schlüssig bis zur Rücksichtslosigkeit. Ich wüßte niemanden zu nennen, der nach ihm noch einmal das Wort Gottes dermaßen radikal vom Sein Gottes und vom Sein in Gott her verkündigt hätte. Seine Schüler schon schrecken davor zurück. Tauler und Seuse lassen wieder einen positiven Weg zu, jedenfalls ansatzweise.54 An die Stelle des Durchbruchs in jedem neuen Augenblick, der im überzeitlichen nuˆ aufgeht, tritt die Krise auf dem Weg der Gotteserfahrung. Krise heißt Zusammenbruch des Weges als Verzweifeln an der Möglichkeit der Vermittlung mit dem Ziel einer radikalen Neuorientierung aus dem Versagen heraus. Charakteristisch für diese Ausfaltung ist die Unio-Erfahrung als Umbruchspunkt auf dem Lebensweg; die entsprechende literarische Form ist die mystische Biographie. Dem menschlichen Wollen und der Welt als Vermittlung zum Göttlichen unter dem Aspekt der Ähnlichkeit ist damit zumindest wieder ein gewisser Spielraum gegeben, auch wenn dies nur ein Spielraum für das Scheitern ist. Aber Scheitern ist menschlicher und damit erträglicher als Eckharts radikaler Anspruch, dem gegenüber man keinerlei Mittel in Händen hat: sein Trostwort, man solle sich nicht davon bedrücken lassen, wenn man ihn nicht verstehe und somit außerhalb der Wahrheit bleibe, läßt einen eher trostlos zurück.

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Siehe zu den Positionen der Schüler meine Studien: Grundformen religiöser Erfahrung als epochale Positionen: Vom frühmittelalterlichen Analogiemodell zum hoch- und spätmittelalterlichen Differenzmodell, in: HAUG [Anm. 51], S. 501–530, hier S. 523–530, und: Johannes Taulers Via negationis, ebd., S. 592–605.

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Predigt als literarisches Phänomen – Predigt im literarischen Kontext

Almut Suerbaum

Formen der Publikumsansprache bei Berthold von Regensburg und ihr literarischer Kontext

Wenn im Titel von Berthold von Regensburg die Rede ist, so müßte dieser Name eigentlich in Anführungszeichen verwendet werden, denn er wird hier als Kurzformel benutzt, um die unter diesem Namen überlieferten deutschen Predigten der Sammlung XI zu bezeichnen.1 Daß für diese schriftlich abgefaßten Predigten in der Volkssprache die Person Bertholds von Regensburg nicht als Autor in Anspruch genommen werden kann, wurde schon von ANTON EMANUEL SCHÖNBACH erkannt und ist in den Untersuchungen von DIETER RICHTER im Detail nachgewiesen worden.2 Die Predigtsammlung XI ist nach RICHTER wohl um 1264, also möglicherweise noch zu Lebzeiten Bertholds, im Augsburger Minoritenkloster entstanden, wo neben ›Augsburger Klarissenregel‹, ›Augsburger Drittordensregel‹, einer Redaktion des ›Geistlichen Baumgartens‹, David von Augsburg zugeschriebenen deutschen Traktaten und den sogenannten ›Klosterpredigten‹ Bertholds auch ›Deutschenspiegel‹ und ›Schwabenspiegel‹ ihren Ursprung haben.3 Es handelt 1

Berthold von Regensburg. Vollständige Ausgabe seiner Predigten mit Anmerkungen und Wörterbuch, Bd. 1, hg. von FRANZ PFEIFFER, Wien 1862, Bd. 2, hg. von JOSEPH STROBL, Wien 1880; Neudruck mit Vorwort und Anhang von KURT RUH, Berlin 1965. Im folgenden zitiert als PS. 2 DIETER RICHTER, Die deutsche Überlieferung der Predigten Bertholds von Regensburg (MTU 21), München 1969, S. 69–78. Vgl. auch RÜDIGER SCHNELL, Bertholds Ehepredigten zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, in: Mittellateinisches Jahrbuch 32 (1997), S. 93–108. 3 Zur Datierung s. FRANK G. BANTA, Berthold von Regensburg, 2VL I, Sp. 817–823, hier Sp. 820, der die deutschen Predigten ca. 1275 ansetzt. RICHTER [Anm. 2], S. 73–76, argumentiert nach den Hinweisen in X6 (PS I 91,35–92,3) und X25 (PS I 400,38–401,7) für eine Datierung der Sammlung XI auf das Jahr 1264, wohl aber mit Interpolationen aus der Zeit um 1280. KURT RUH, Deutsche Predigtbücher des Mittelalters, in: Beiträge zur Geschichte der Predigt, hg. von HEIMO REINITZER, Hamburg 1981, S. 11–30, hier S. 15, Neuabruck in KURT RUH, Kleine Schriften, Bd. 2, Scholastik und Mystik im Spätmittelalter, hg. von VOLKER MERTENS, Berlin/New York 1984, S. 296–317, hier S. 301f., geht dagegen von einer Abfassung der deutschen Bearbeitungen erst nach Bertholds Tod aus. Die Bedeutung Augsburgs im Kontext volkssprachiger franziskanischer Literatur des 13. Jahrhunderts diskutiert zuerst KURT RUH, David von Augsburg und die Entstehung eines franziskanischen Schrifttums in deutscher Sprache, in: Augusta 955–1955. Forschungen und Studien zur Kultur- und Wirtschaftsgeschichte Augsburgs, hg. von HERMANN RINN, München 1955, S. 71–82, Neuabdruck in KURT RUH, Kleine Schriften, Bd. 2, S. 46–67. Während RUH zwar den Augsburger Ursprung von ›Deutschenspiegel‹ und ›Schwabenspiegel‹ als wahrscheinlich annimmt, sie aber innerhalb der Überlieferungsgemeinschaft franziskanischmystischer Texte als Sonderfall wertet, hebt JOACHIM HEINZLE, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. 2/2: Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert, 2., durchges. Auflage, Tübingen 1994, S. 66–78, bes. S. 69–73, die Rechtstexten wie Predigten gemeinsame und für franziskanische Spiritualität bezeichnende Hinwendung zu Problemen der sozialen Gerechtigkeit hervor; vgl. auch JOACHIM HEINZLE, Der gerechte Ritter.

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sich um ein geschlossenes Korpus, das zur Leserezeption bestimmt und eingerichtet ist, wie sich aus den zahlreichen Querverweisen auf Predigten innerhalb der Sammlung ersehen läßt.4 Überliefert ist diese Sammlung ausschließlich in Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts, wobei die Haupthandschriften A und Ha für adlige Auftraggeber geschrieben wurden.5 Neben der textgeschichtlichen Geschlossenheit der Sammlung XI ist immer wieder hervorgehoben worden, daß sie sich von den übrigen Predigten der *XGruppe, aber auch von denen der Y- und Z-Überlieferung auch in stilistischer Hinsicht unterscheidet; vor allem darin, daß nur in den Predigten dieser Gruppe die Selbstapostrophierung des Predigers als »Bruder Berthold« vorkommt, von der RICHTER annimmt, daß sie »diese Sermone als Reden Bertholds ausweisen will und möglicherweise auf Bertholds Predigtpraxis zurückgeht.«6 Auch eine zweite Eigenart, die Häufigkeit, mit der der Prediger sein Publikum in oft ungewöhnlichem Wortschatz anruft und zurechtweist, wird gelegentlich als Merkmal für die Autornähe der Augsburger Redaktion und als Relikt ›echt‹ Bertholdscher Diktion gewertet. KURT RUH weist zwar energisch die früheren Versuche zurück, dies als »gesprochene Predigtsprache« zu werten, und verweist auf die grundlegende Unterscheidung zwischen dem mündlichen Kanzelwort und der Lesepredigt, wie sie uns in den volkssprachigen Handschriften überliefert ist, hält aber das Beharren darauf, daß hier Elemente von Bertholds wirklicher Predigtsprache überliefert seien, für durchaus legitim.7 Zur historischen Analyse mittelalterlicher Literatur, in: Modernes Mittelalter, hg. von JOACHIM HEINZLE, Frankfurt a. M./Leipzig 1994, S. 266–294. 4 So etwa der Verweis in X29 (PS I 462,2) auf die Predigt X26: Rechte sol man diu wort hie sprechen und alle die widerrede, diu hie vor gesprochen ist von den mertelæren unde wie sie von den stricken der jagenden tiuvel sint erloˆst und enbunden in dem vierden sermoˆne vor disem. RICHTER [Anm. 2], S. 69f. und 216f., weist nach, daß diese Verweise nicht über die Sammlung XI hinausgehen: »All dies berechtigt zu der Annahme, daß XI eine ursprünglich selbständige Sammlung von Predigten Bertholds war und Predigten eines Verfassers (›Bearbeiters‹) enthält« (S. 69f.). GEORG STEER, Bettelorden-Predigt als ›Massenmedium‹, in: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, hg. von JOACHIM HEINZLE, Stuttgart 1993, S. 314– 336, hier S. 325f., verweist darauf, daß Berthold gerade zur mutmaßlichen Abfassungszeit der Sammlung XI eine große Predigtreise durch Österreich, Böhmen, Mähren und Thüringen unternommen habe, und hebt im Übrigen die großen stilistischen Unterschiede zwischen den von Berthold verfaßten lateinischen Sermones für lateinkundige Prediger und der Sammlung XI hervor. Vgl. DAVID D’AVRAY, The Preaching of the Friars. Sermons diffused from Paris before 1300, Oxford 1985, S. 91–94. 5 RICHTER [Anm. 2], S. 6: A, f. 259va: Die edele frauwe Elizabeth von Namen pfalntzgrevinne bij Rin vnd hertzoginne in beigern hat gezuoget diz buoch daz do vollebraht wart in dem Jar da man o o zalte von cristi geburte. M.ccc.lxx. iar an dem dunrestage zu prime vor sant lucien tag der heiligen iungfrauwen [12.12.1370]; S. 19 zu Ha, RD: Daz buch ist dez closters zu kyrchen zü brüch Fraw madalenen von ottingen und f. 404v: Finitus et scriptus est liber iste feria secunda post misericordias domini per me albertum künlin tunc temporis grenator In hohemburg Anno domini m o lx to [11. 4. 1460]. 6 RICHTER [Anm. 2], S. 69f. Zur Überlieferung von Y s. ebd., S. 177f. Die Teilsammlungen YIII und YIV sind ediert von FRANK G. BANTA, Predigten und Stücke aus dem Kreise Bertholds von Regensburg (GAG 621), Göppingen 1995. Für eine Edition der Sammlung Z s. Berthold von Regensburg, Deutsche Predigten (Überlieferungsgruppe *Z), hg. von DIETER RICHTER (Kleinere deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 5), München 1968.

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Wenn hier versucht werden soll, die Publikumsanrede als ein literarisches Charakteristikum dieser Sammlung darzustellen, dann geht es dabei nicht darum, einen Beitrag zur Authentizitätsdebatte zu liefern. Es soll vielmehr untersucht werden, auf welche Weise mit Hilfe der Publikumsanrede sowohl innerhalb der Predigtsammlung wie auch in einer einzelnen Predigt mit literarischen Mitteln Sprecher- und Hörerrollen konzipiert werden. Es geht also darum, die Verwendung rhetorischer Mittel nicht allein als ein Charakterisitkum der Individualrhetorik zu sehen, welche mit der Figur Bertholds von Regensburg in Verbindung gebracht werden könnte, sondern vielmehr darum, einmal genauer die Strategien zu beleuchten, mit deren Hilfe in Lesepredigten die Fiktion einer Mündlichkeit erzeugt wird, und diese Strategien wenigstens ansatzweise in einen literarischen Kontext zu stellen. Als Ausgangsbasis dient dabei eine Gruppe von vier Predigten aus XI, die den Psalmspruch Anima nostra sicut passer erepta est de laqueo venantium (Ps 123,7) als Thema benutzen.8 In wechselndem Zusammenhang wird in allen vier Predigten der Kontrast zwischen den Märtyrern der christlichen Vorzeit, welche den Versuchungen der Teufel erfolgreich widerstanden und nun an der himmlischen Freude Anteil haben, und den Hörern der Gegenwart hergestellt, die vor den Schlingen der Teufel gewarnt werden sollen. In der Predigt X3 ›Von drin laˆgen‹ (PS I, 29–47) ist dieser Kontrast bereits in der Eröffnung der Predigt sichtbar. Die Auslegung des Themas verankert es mit der Angabe des liturgischen Ortes bereits fest in der Gegenwart der Hörer – Alsoˆ liset man hiute in der heiligen messe von den heiligen mertelaeren (PS I 29,3f.) – und bezieht auch den Freudengesang der erlösten Märtyrer auf diese Gegenwart mit dem Signal nuˆ: Unde haˆt ir martel nuˆ ein ende, aber ir freude gewinnet nimmer meˆr kein ende, unde daˆ von singent sie nuˆ mit freuden: ›unser seˆle sint enbunden von dem stricke der jagenden als der spar uˆz dem netze.‹ (PS I 29,6–9).9 Im Kontext von XI allerdings ist dieser Gegenwartsbezug als Setzung 7

KURT RUH [Anm. 3], S. 300–302. Vgl. HANS-JOCHEN SCHIEWER, Spuren von Mündlichkeit in der mittelalterlichen Predigtüberlieferung. Ein Plädoyer für exemplarisches und beschreibendinterpretierendes Edieren, editio 6 (1992), S. 64–79, hier S. 65, zur Funktion rhetorischer Kunstgriffe als »Stilmittel, die nur dazu dienen, die Fiktion von Mündlichkeit herzustellen«. 8 X3, X26, X29, X30. Zum textgeschichtlichen Zusammenhang zwischen X26 und X30 s. DAGMAR NEUENDORFF, Überlegungen zur Rezeptionsgeschichte Berthold von Regensburg zugeschriebener deutscher Predigten vor dem Hintergrund seiner lateinischen Sermones, in: Kontroversen, alte und neue: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985, Bd. 7, Bildungsexklusivität und volkssprachliche Literatur, hg. von ALBRECHT SCHÖNE, Tübingen 1986, S. 69–73. Eine Version des lateinischen Sermo ›De tribus laqueis diaboli‹ ist abgedruckt bei ANTON E. SCHÖNBACH, Studien zur Geschichte der altdeutschen Predigt II, Wien 1905, S. 104–109. Zum Vergleich herangezogen wurde ferner die handschriftliche Fassung der Sermones de Sanctis zum Fest der Unschuldigen Kinder in der Handschrift Oxford, Bodleian Library, Ms. Laud. misc. 317, fol. 78rb–80vb. Zum Verhältnis der deutschen Predigten zur lateinischen Überlieferung insgesamt s. DAGMAR NEUENDORFF, Predigt als Gebrauchstext. Überlegungen zu einer deutschen Berthold von Regensburg zugeschriebenen Predigt, in: Die deutsche Predigt im Mittelalter. Internationales Symposium am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin vom 3.–6. Oktober 1989, hg. von VOLKER MERTENS u. HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 1992, S. 1–17.

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eher denn als Realität erkennbar, denn die Sammlung ist, wie viele Kompilationen von Lesepredigten, nicht nach dem liturgischen Kalender orientiert und unterscheidet sich dadurch von homiletischen Handbüchern, wie sie etwa die lateinischen Sammlungen der Bertholdpredigten im ›Rusticanus de Sanctis‹ und ›Rusticanus de Communis‹ darstellen.10 In einem ersten Auslegungsschritt wird nach dieser Zeitsetzung das Wirken der Teufel, mit denen die Jäger des Psalmverses identifiziert werden, zunächst historisch auf die Lebenszeit der Märtyrer bezogen – die wıˆle doˆ sie in dirre werlte waˆren –, doch die Perspektive wechselt innerhalb dieser Beschreibung, da mit martel jetzt nicht mehr das endliche Leiden der Märtyrer in der Welt, sondern die ewige Höllenqual der von Gott abgefallenen Teufel bezeichnet wird, die sie auch allen Menschen zufügen wollen. Damit ist der Bezug zur kollektiven Gegenwart gesetzt; an die Stelle der dritten Person Plural des historischen Berichtes tritt das kollektive wir (PS I 29,17f.). Es folgt die dispositio, welche die drei Schlingen der Teufel als Gliederungsmittel benutzt: Die eˆrste laˆge legent sie uns soˆ wir in die werlt varn. Die anderu soˆ wir durch die werlt varn. Die driten laˆge soˆ wir uˆz der werlte varn. (PS I 30,27–29). Im Rahmen der folgenden Ermahnung angesichts der dreifachen Gefahr werden zunächst einzelne Hörergruppen angesprochen: Männer und Frauen sollen als Eltern Sorge dafür tragen, daß neugeborene Kinder nicht ungetauft sterben und damit die ewige Seligkeit verwirken, etwa weil die Mutter beim Tanz oder im Gedränge des Marktplatzes gestoßen werde und so eine Frühgeburt erleide oder weil man sich nicht auf die Zahl der Paten einigen könne und so die Taufe unnötig verschiebe. Den Erwachsenen droht Gefahr durch die verschiedenartigen Verlockungen des Teufels, und im Alter gilt es, in der Todesstunde den rechten Glauben trotz aller Anfechtungen zu bewahren. Innerhalb der Ermahnung wechselt die Anredeform wiederholt zwischen kollektivem Appell an ganze Gruppen (ir frauwen, ir herren und ir frauwen) und einer direkten Ermahnung an einen Einzelnen: Ez wellent etelıˆche zwelf gevatern haben zuo einem kinde, etelıˆche niune, etelıˆche sibene, etelıˆche fünfe. An eime haˆstuˆ gar gnuoc, an zwein gar vil, an drıˆn gar unde gar ze vil. (PS I 32,14–17). Die Anreden in der zweiten Person, in denen der Prediger sich seinen Hörern gegenüberstellt, lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Einerseits vermitteln die Anredeformen ein Spektrum der sozialen und beruflichen Gruppen, an die sich der Prediger wendet. Allerdings sollte man aus solchen Anredeformen nicht automatisch auf reales Publikum schließen, wie dies in der soziologisch orientierten Forschung gelegentlich getan wird.11 Zwar werden verschiedene soziale 9

Bei Formulierungen wie alsoˆ man liset ist zu unterscheiden zwischen einem Verweis auf den liturgischen Ort, d.h. die lectiones (vgl. dazu in diesem Band REGINA D. SCHIEWER, S. 142), und den sehr viel selteneren textinternen Indizien auf Lektüre; dazu STEER [Anm. 4], S. 326. 10 Siehe VOLKER MERTENS, »Der implizierte Sünder«. Prediger, Hörer und Leser in Predigten des 14. Jahrhunderts. Mit einer Textpublikation aus den ›Berliner Predigten‹, in: Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Dubliner Colloquium 1981, hg. von WALTER HAUG, TIMOTHY JACKSON u. JOHANNES JANOTA, Heidelberg 1983, S. 76–114, hier S. 78f. 11 Extrem verkürzend etwa AARON GUREVICH, The ›Sociology‹ and ›Anthropology‹ of Berthold

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Stände – Herren, Richter, Geistliche, Handwerker, Frauen – angesprochen, doch muß dies nicht unbedingt auf das real anwesende Publikum zielen.12 VOLKER MERTENS hat mit seinen Untersuchungen zum »implizierten Sünder« bereits darauf hingewiesen, daß Berthold von der im 13. Jahrhundert üblich gewordenen Ständepredigt abweicht, indem er Klerikerkritik gerade in den sicher nicht an geistliches Publikum gewendeten Volkspredigten übt, wobei es zu beträchtlichen Spannungen zwischen dem Appell an das möglicherweise intendierte Publikum und den »implizierten« Sünderrollen kommt. In vielen Fällen deuten diese Widersprüche bereits darauf hin, daß nicht jeder einzelne Appell das gesamte Publikum bezeichnen kann – so etwa in der Predigt X21 ›Von der eˆ‹, die sich nacheinander an junge Leute, Verheiratete und Verwitwete richtet, geistliche Zuhörer degegen ausdrücklich auffordert, vor den interessanten Teilen zur Ehe heimzugehen.13 Auch in den Predigten X26 und X30 wird offensichtlich, daß sie sich an ein Publikum von Laien wenden, deren sozialer Stand jedoch nicht näher spezifizierbar ist. Beide Predigten sind strukturiert durch die Bezugnahme auf vier Laster, mit denen die Teufel das Seelenheil der Menschen bedrohen, und die ihnen entgegenwirkenden Tugenden: unkiusche,14 hoˆhvart bzw ˆıtel eˆre,15 gıˆtekeit16 und uˆfschiube der buoze.17 Mit Bezug auf die Jagdmetaphorik des Psalmthemas wird jedoch festgehalten, daß jedes dieser Laster nur eine bestimmte Gruppe von Menschen und ausschließlich sie bedrohe: Während Warnungen vor unkiusche sich an die jungen Leute wenden, bedrohe hoˆhvart die Frauen und gıˆtekeit die Alten – allein die Warnung vor dem Hinausschieben der notwendigen Buße richtet sich an alle Menschen. Diese gruppenspezifische Warnung wird nicht nur in der Disposition vorgeführt, sondern schlägt sich auch im Hauptteil der Predigt nieder, in dem diese Gruppen wiederholt direkt angeredet werden: Nuˆ seht, ir jungen liute, welch ein schedelıˆcher strik daz ist unde wie schedelıˆche sie iu disen strik legent, daz man ir niemer gewar mac werden! (PS I 412,33). von Regensburg, Journal of Historical Sociology 4 (1991), S. 112–120. Grundsätzliches zum gesellschaftlichen Hintergrund der Bertholdpredigten in Berthold von Regensburg, Vier Predigten, übers. u. hg. von WERNER RÖCKE, Stuttgart 1983. 12 Zur Problematik solcher Ständepredigten und ihrer lateinischen Muster s. D’AVRAY [Anm. 4], S. 64f. u. 127. 13 Vgl. PS I 318,29–36: Ir geistlıˆchen liute alle samt, ir frouwen und ir man, ir sult alle samt hein geˆn, die kiuscheclıˆche gelebet haˆnt: ich wil über ein niht, daz dehein geistlicher hie sıˆ, daz sie niht hœren daz ich mit disen eˆliuten ze reden haˆn, wan ez geˆt rehte niemen an, wan eˆliute unde die ze der eˆ willen haˆn. Ich wil iu den selben antlaˆz geben. In nomine patris et filii et spritus (!) sancti. Amen. Unde swer des niht tuot, dem gibe ich aller gnaˆden eine niht. Geˆt hein in gotes namen! Vgl. RÜDIGER SCHNELL, Konstanz und Metamorphosen eines Textes. Eine überlieferungsund geschlechtergeschichtliche Studie zur volkssprachlichen Rezeption von Jacobus’ de Voragine Ehepredigten, Frühmittelalterliche Studien 33 (1999), S. 319–395, bes. S. 355, mit dem Beispiel der ›Predigt der Hochzeit zu Kana‹ (belegt ab 1400), einer kompilierenden Umstrukturierung dreier lateinischer Predigten des Jacobus de Voragine, in der nacheinander Lehren für Heiratswillige, Veheiratete und Witwen angeboten werden. 14 PS I 411,26; 476,11; SCHÖNBACH [Anm. 8], S. 153,105. 15 PS I 414,2; 476,20. 16 PS I 416,32; 476,36. 17 PS I 420,11; 477,18.

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Die Verwendung der direkten Anrede in sehr viel allgemeinerer Funktion zeigt der darauf folgende Teil der Predigt, welcher den glücklich den Gefahren der Kindheit entronnenen Erwachsenen gewidmet ist. Charakteristisch für den inklusiven Charakter dieser Ermahnungen ist es, wenn innerhalb eines Satzes die Warnung von der an das gesamte Publikum gerichteten Pluralform unvermittelt in den direkt und den zur Umkehr augeforderten Einzelnen umschlägt: Nuˆ hoeret, ir heˆrschaft alle samt, wie maniger leie verdampnisse an dıˆner sünde lıˆt. (PS I 41,16f.) Auch die Predigt X26 ist in ihrer Polemik gegen die Eitelkeit weniger spezifisch, als es zunächst den Eindruck haben mag. Zwar richtet sich der Appell, wohl dem angemahnten Laster gemäß, zunächst allein an die Frauen und warnt ausführlich vor den Gefahren der Eitelkeit und Putzsucht, doch nimmt der Prediger auch Einwände bezüglich der Motivation entgegen. Die Ausrede, aufwendige Kleidung sei lediglich ein Mittel, den Ehemann vor den zu großen Attraktionen anderer Frauen und damit lasterhaften Abwegen zu bewahren (PS I 414,28f.), wird allerdings zurückgewiesen: Ist aber er ein nascher, soˆ hilfetez niht allez dıˆn krenzelkrispen und allez dıˆn krespelkrispen niht und allez dıˆn gilwen niht, daz duˆ iemer maht getuon, unde hilfet dich ze nihte wan zuo der eˆwigen helle: daˆ bringet ez dich hin, nuˆ des eˆrsten an der seˆle und an dem jungesten suntage an lıˆbe und an seˆle. (PS I 414,34–39) Angedeutet ist damit aber, daß solches Fehlverhalten durchaus nicht nur den weiblichen Teil des Publikums angeht. Wegen der Schwäche der Frauen richtet sich die Mahnung zu Umkehr und Buße denn indirekt auch an die Ehemänner, denen die Sorge um das Seelenheil ihrer Ehefrauen angetragen wird: Ir man möhtet ez eht wol understeˆn unde möhtet ez in wol frümeclıˆche wern, des eˆrsten mit guoter rede; wolten sie ez dar umbe niht laˆn, soˆ soltet irz in frumeclıˆchen wern. (PS I 415,33– 36).18 Der Vergleich mit der lateinischen Fassung demonstriert, wie weit die unterschiedlichen Gebrauchsfunktionen hier den Umgang mit der sprachlichen Form prägen. In den als Handbuch für Prediger intendierten lateinischen Predigtdipositionen findet sich zwar gelegentlich ein Hinweis darauf, daß das Publikum direkt angesprochen werden könne: O bone mulieres, cogitate, quanta bona domina nostra, mater Domini, gloriosa virgo Maria, per humilitatem nobis acquisivit, et estote humiles, quia mulier humilis in domo sua est ornamentum quasi sol in celo et quasi gemma in auro. et uia diabolus raro aliter quam per superbiam vos mulieres decipere potest, ideo per eam, per quam et ipse precipitatus est, vos precipitare conatur.19 In der Mehrzahl der Fälle jedoch ist die Anrede an den Prediger gerichtet, dem Hinweise für die Gestaltung seiner Predigt gegeben werden: Applica ad propositum.20 18

Vgl. SCHNELL [Anm. 13], S. 352, zur verstärkten Disziplinierung der Frau in den volkssprachigen Bearbeitungen. 19 SCHÖNBACH [Anm. 8], S. 108,6–14. 20 Ebd., S. 109,2f. Diesen Anregungen zu extemporierender Bezugnahme entsprechen in XI die Verweise, bei denen auf Parallelstellen oder hinzuzuziehende Argumentationen in anderen Pre-

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Wenn man dagegen die Einrichtung der deutschen Fassungen für eine Leserezeption berücksichtigt, so kann die Funktion der direkten Anrede demnach nicht nur in einem deiktischen Bezug auf die reale Hörerschaft liegen, sondern sie muß vielmehr als eine Strategie der dramatischen Inszenierung gesehen werden, mithilfe derer bestimmte Laster angeprangert werden, die potentiell alle Mitglieder des Publikums bedrohen. Daß diese Strategie gerade auch aus der Diversität der Appelle ihre Wirksamkeit beziehen kann, dürfte ein Blick auf die Ständekritik der geistlichen Spiele illustrieren. Im ›Innsbrucker Osterspiel‹ etwa, das erstmals Ständedidaxe mit dem Höllendescensus verbindet, werden bestimmte identifizierbare Stände und Berufsgruppen scharf angeprangert, ohne daß doch notwendigerweise davon auszugehen ist, daß gerade diese Berufsgruppen auch das Publikum bildeten.21 Für die satirischen Spielpassagen dürfte es vielmehr naheliegen, daß sie gerade zur Unterhaltung der Gruppen beitragen, die nicht direkt angesprochen werden. Doch hinter der unterhaltenden Funktion solcher Passagen dürfte auch ein didaktisches Interesse stehen, da sie es gerade dem nicht unmittelbar betroffenen Publikum ermöglichen, die didaktische Spitze der Kritik in ihrer allgemeinen Gültigkeit wahrzunehmen, ohne sie speziell auf die eigene soziale Position beziehen zu müssen.22 Aus einer solchen Parallele läßt sich vielleicht auch erklärbar machen, welche Funktion die oft so scharfe und verbal so innovative Geißelung einzelner Laster in den bertholdschen Predigten hat, die gegen das zu verstoßen scheinen, was die ›Artes praedicandi‹ einem Prediger empfehlen. Ausgehend von der aristotelischen Definition, ein guter Redner müsse, um zu überreden, nicht nur logisch argumentieren können, sondern auch Verständnis für den menschlichen Charakter und für die Emotionen aufbringen,23 raten sie dem Prediger dazu, die Gunst digten des Korpus hingewiesen wird; z. B. X30: Und hie naˆch sol man sprechen alle die rede, die man in den vier stricken sprichet uˆf die gıˆtikeit unde danne von uˆfschiebunge der buoze, wie den stric die tiuvele vor allen stricken oben über die andern alle samt legent; unde der selbe stric uˆfschiebunge der buoze der ist in dem vordern sermoˆne der vierde; soˆ sol er hie der fünfte sıˆn, unde daˆ mite sol er ende nemen, alse jener ende nimt (PS I 487,6–12). Im Gegensatz zu der auf Mündlichkeit gerichteten lateinischen Anweisung ist in XI allerdings der Kontext einer Leserezeption trotz der Verwendung von sprechen deutlich. SCHNELL [Anm. 13], S. 353f., weist auf das Paradox hin, daß bei zwei verschiedenen volkssprachlichen Bearbeitungen lateinischer Predigten des Jacobus de Voragine gerade »der Lesetext Merkmale aufweist, die wir eher in einer mündlichen Kommunikation erwarten, also eine mündliche Kommunikationssituation simuliert, daß hingegen die für den Kanzelvortrag konzipierte Predigt 1 die Lehren in einer sehr unpersönlichen Form vermittelt und damit den lateinischen Predigtskizzen nahesteht.« 21 Innsbrucker Osterspiel, hg. von RUDOLF MAIER (RUB 8660/61), Stuttgart 1962. Zur Datierung und Situierung s. BERND NEUMANN, Innsbrucker Osterspiel, 2VL IV, Sp. 400–403. Die theologische Problematik der Höllenszenen untersucht GERHARD WOLF, Zur Hölle mit dem Teufel! Die Höllenfahrt Christi in den Passions- und Osterspielen des Mittelalters, in: Die Vermittlung geistlicher Inhalte im Mittelalter, hg. von TIMOTHY R. JACKSON, NIGEL F. PALMER u. ALMUT SUERBAUM, Tübingen 1996, S. 271–288. 22 Die Funktion der Komik im deutschen Osterspiel ist bisher nicht umfassend untersucht; zu Komik und Satire in französischen Spielen s. D. D. R. OWEN, The Vision of Hell. Infernal Journeys in Medieval French Literature, Edinburgh/London 1970, bes. S. 224–252 u. 241–243. 23 Aristot., Rhet. A 1–3,1355–1358.

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des Publikums nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen.24 Alanus ab Insulis vergleicht zwar die Rolle des Predigers mit der eines Arztes, der je nach Situation die nötigen Korrektiva anwenden müsse,25 doch Zeitgenossen Bertholds wie etwa Humbertus de Romanis26 oder Thomas de Cobham27 empfehlen, bei solcher Kritik Mäßigung zu üben, um nicht die Sympathie des Publikums vorzeitig einzubüßen und so die Predigt ihrer Wirksamkeit zu berauben. Indem Berthold den Ratschlag des Thomas de Cobham28 auf den Kopf stellt und einzelne Mitglieder des Publikums scheinbar aussondert und als duˆ eˆbrecher unde duˆ nescher unde duˆ nescherin (PS I 41,4f.) attackiert, erreicht er dennoch das von den ›Artes praedicandi‹ angestrebte Ziel, zu Buße und Umkehr aufzurufen. Erst wenn diese Angriffe als dramatisch überspitzte Rollen gesehen werden, können sie für ein breiteres Publikum wirksam werden, da sie sozusagen aus sicherer Distanz den Blick auf die in diesen Extremen angeprangerten menschlichen Verfehlungen lenken. Letztlich erhöht die sprachliche Fulminanz der Attacke dabei natürlich auch die Autorität des Sprechers, der seine Wortgewalt zum Zweck der Überzeugung einsetzt. Mit der direkten Anrede des Publikums in der zweiten Person wird darüberhinaus eine weitere Facette der so konzipierten Sprecherrolle erkennbar, denn im Gegensatz zwischen inklusivem wir und allgemeinem ir gewinnt gerade die Figur des Predigers schärferes Profil. Am gesamten Korpus von XI läßt sich nachweisen, daß der Prediger im Prothema seinen Sprechanlaß immer aus der repräsentativen Position des wir gewinnt, das allerdings seinerseits oft antithetisch und exklusivierend gefüllt wird: wir kristenliute bezeichnet eine Gruppe, die sich aus dem Gegensatz zu den Heiden, Juden oder Ketzern definiert.29 Der 24

Z. B. Gregor der Große, Cura Pastoralis II 7; vgl. JAMES J. MURPHY, Rhetoric in the Middle Ages. A History of Rhetorical Theory from Saint Augustine to the Renaissance, Berkeley [usw.] 1974, S. 293. SCHNELL [Anm. 13] S. 352f., verweist darauf, daß unter den Predigern des 13. Jahrhundert z. B. Jacques de Vitry (gest.1240), Ranulphe de la Houblonnie`re (ca.1225–1288) und Peregrinus (ca.1300) speziell vor überzogener Frauenkritik warnen, und auch Berthold mahne im ›Rusticanus de Sanctis‹ 17 (S. Cecilia) zur Vorsicht (caute loqui) im Umgang mit zu scharfer Frauenschelte. Auch hier unterscheidet sich die Ausführung der deutschen Predigten also drastisch von den an Kleriker gerichteten Regieanweisungen der lateinischen Entwürfe. 25 Alanus ab Insulis, Summa de arte preadicatoria, c.39, PL 210, S. 184D: Pertinet ad praedicatorem gerere statum materialis physici, vel medici. Sicut enim medicus pro diversitate morborum variat genera remediorum; sic praedicator debet adhibere remedia admonitionum. 26 Humbertus de Romanis, Liber de eruditione praedicationis, cap. XVII, hg. von P. J. J. BERTHIER, Traite´ de l’instruction des pre´dicateurs, Rom 1910. Englische Übersetzung von WALTER M. CONLON, London 1955, hier S. 72. 27 Thomas de Cobham, Summa de arte praedicandi, hg. von FRANCO MORENZONI (CCM 82) Brepols 1988, hier cap. III, S. 71: Precipue debet etiam predicator attendere in predicatione sua ne sit in ea nimis mordax. 28 Thomas de Cobham [Anm. 27], S. 71: Sicut igitur non debent palpare uel mitigare uel palliare uitia, ita non debent singulariter denudare personas, sed consolari eas et blande allicere ad penitentiam. Nec enim aliqua genera personarum debent enormiter reprehendere dicendo: clerici cupidi sunt, lasciui sunt; milites crudeles sunt, raptores sunt; monachi luxoriosi sunt, gulosi sunt. Sic enim possent inter malos, predicatores etiam incurrere odium bonorum. 29 PS I 38,35–40,28. Vgl. zu den Stellungnahmen gegen Ketzer ANTON E. SCHÖNBACH, Das Wirken Bertholds von Regensburg gegen die Ketzer, in: Studien zur Geschichte der altdeutschen Predigt

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Sprecher präsentiert sich damit im Predigteingang selbst als Mitglied einer Gruppe. Er erteilt Ratschläge aus der Haltung desjenigen heraus, der sich in die Position des Zuhörers hineinversetzt oder doch hineinversetzen könnte; von dieser Strategie gibt es in XI nur eine Ausnahme – die schon oben erwähnte Predigt X21 zur Ehe.30 Aus dieser Repräsentativität gewinnt der Sprecher die Autorität, mit der er seinem Publikum bestimmte Verhaltensweisen nahelegt. Zu dieser kollektiven Haltung findet auch der Predigtschluß zurück. Im letzten Abschnitt der Predigt X3, der die Bedrohung angesichts des nahenden Todes thematisiert, spricht der Prediger anfangs aus der kollektiven Haltung. Sterben geht alle an, auch den Prediger, der sich hier mit einschließt: Des eˆrsten legent sie allen an ir flıˆz dar an, daz sie uns den rehten gelouben an gewinnen. Daˆ vor beschirme uns der almehtige got. (PS I 43,1–3) Die folgende Ermahnung wird durch eine Beschreibung dessen, was in Klöstern üblich sei, begründet: einziger Schutz vor dem Abfall vom Glauben im Augenblick des Sterbens ist das Glaubensbekenntnis, das in allen Klöstern gesprochen wird, wenn jemand im Sterben liegt.31 Die Implikation dieser narrativen Abwendung von der Welt der Laienzuhörer ist deutlich: Wan und wære ez alle sıˆne tage ein kloˆsener gewesen, unde mügent ez die tiuvel an dem ende von dem gelouben bringen, soˆ füerent sie ez dannoch in der laˆge hin. (PS I 43,10–12). Wenn selbst ein Klosterleben nicht vor der Versuchung im Augenblick des Todes schützt, wie viel mehr – so die Implikation – muß dies für die Laien gelten, die nicht auf die Unterstützung des für sie betenden Konventskollektivs vertrauen können. Was der Prediger seinen Laienzuhörern nahelegt, ist daher ein Gesang, der im Inhalt wie in der Sprechhaltung genau dieses kollektive Gebet ersetzt: Nuˆ biten wir den heiligen geist umb den rehten glouben aller meist, daz er uns behüete an unserm ende, soˆ wir heim suln varn uˆz disem ellende kyrieleis. (PS I 43,15–19)

Hier wie am Predigtschluß mündet die Ermahnung an die Zuhörer in eine Einbindung in kollektives Gebet vor Gott. Sprecher und Publikum sind letztlich III (Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, phil.-hist. Kl. Bd. 147), Wien 1904. Der Beitrag von PETER SEGL, Berthold von Regensburg und die Ketzer seiner Zeit, in: Studien und Quellen zur Geschichte Regensburgs, Bd. 4, Regensburg 1987, S. 115–129, geht dagegen trotz programmatischer Ankündigungen nicht über das bei SCHÖNBACH Vorgefundene hinaus. 30 PAUL MICHEL, Alieniloquium. Elemente einer Grammatik der Bildrede, Frankfurt a. M. [usw.] 1987, S. 107. 31 So die lateinische Fassung in der Handschrift Oxford, Bodleian Library, Ms. Laud misc. 317, fol. 80rb/va: Vnde consulo omnibus ut simbolum wlgariter discant et in mane et in sero dicant et infirmitate ultimo et in morte appropinquante cum dicere non possunt aliquis eis vel aperte vel occulte dicat. Hinc est quod in quibusdam religionibus statim ut auditur signum morituri omnes fratres in claustro accurentes simbolum dicere incipiunt ut dyabolum per hoc restringant ne nimis temptetur de fide. Hinc etiam est quod ecclesia instruit laicis ad licet cantionem quam omni devotione canere debetis ut in fide defendamini. Videlicet Nu bitte wir den heiligen geist etc.

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vereint in der Bitte um Gottes Gnade, doch macht es erst die deutlich lenkende Autorität des Predigers möglich, daß auch das Publikum zu dieser Einsicht gelangt und sie schließlich im reuigen Gebet artikulieren kann, womit der Zweck der Predigt erfüllt scheint. Neben einer solchen direkten Bezugnahme auf die Hörerschaft mittels direkter Anrede und der übergreifenden Einvernahme im kollektiven wir gibt es aber auch Anredeformen, die sich ganz offensichtlich vom Publikum abwenden, und zwar nicht nur in der für X1 charakteristischen Selbstapostrophe der Predigers als »Bruder Berthold«, in der die Sprecherrolle eine – wie immer fingierte – Autorität und Authentizität erhält. Wenn etwa in der 26. Predigt die Teufel mit dramatischer Geste direkt angesprochen werden,32 so bezieht diese Strategie ihren besonderen Effekt daraus, daß sie die rhetorischen Möglichkeiten der Apostrophe, d. h. der bewußten Abwendung vom eigentlichen Publikum, geschickt ausnutzt. Innerhalb der rhetorischen Theorie gilt die Apostrophe dabei als durchaus umstrittenes Stilmittel. Nicht erst LAUSBERG sieht sie als »pathetischen Verzweiflungsschritt des Redners«33, sondern schon Quintilian rät zu sparsamem Gebrauch: Innerhalb des Proömiums habe sie zwar durchaus ihre Funktion, dürfe aber nicht wahllos angewendet werden.34 Dagegen schätzt der Auctor ad Herennium die Apostrophe als eines der Mittel, mit denen ein Redner bei seinen Hörern Emotionen erregen könne.35 Aus diesen Positionen wird deutlich, was bis in die Neuzeit hinein – z. B. in der Analyse romantischer Lyrik – das Unbehagen der Literaturkritiker an der Apostrophe schürt: sie dient als Tropus der Erzeugung von Emotion und Pathos, gilt aber gleichzeitig als zu offensichtlich und augenscheinlich, um als künstlerisches Mittel zu taugen. Der englische Semiotiker JONATHAN CULLER dagegen versucht eine Ehrenrettung der Apostrophe, die in ihrer Differenziertheit vielleicht auch zum Verständnis der Predigtpassage beitragen kann.36 Wenn in der zitierten Predigt die Teufel direkt angeredet werden, so geschieht dies als Teil einer komplexen Appellstruktur, die letztlich dazu dient, das Predigtpublikum von einem theologischen Sachverhalt zu überzeugen. Ausgangspunkt der vorhergehenden Auslegung des Psalmzitats war es, die überall lauernde Gefahr aufzuzeigen, von der sowohl die Märtyer in der Vergangenheit als auch die Hörer der Gegenwart bedroht sind, da ihnen die Teufel überall und immerfort Schlingen legen: Der stricke ist soˆ vil daz es nieman ze ende komen kan, wan die tiuvel haˆnt niht soˆ vil ze schaffen, wan daz sie ir alle tage ie meˆr 32

Ir tiuvel, ir hœret mich vil wol hie predigen (PS I 410, 10f.). Vgl. PS I 414,6–8; 417,17–19. HEINRICH LAUSBERG, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 3. Aufl. 1990, Paragr. 848ff. 34 Quintilian, Institutio oratoria IV 1,63–70. Vgl. UTE DANK, Rhetorische Elemente in den Predigten Bertholds von Regensburg (Deutsche Hochschuledition 36), Neuried 1995, S. 68–72. 35 Ad Herennium, IV,15,22: ad quam volemus indignationem animum auditoris adducemus. 36 JONATHAN CULLER, The Pursuit of Signs. Semiotics, Literature, Deconstruction, London/Henley 1981, S. 135–154. 33

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unde meˆr machent. Und alsoˆ soˆ haˆnt sie ir von anegenge der werlt alse vil gemachet daz sich nieman druˆz verrihten kan. (PS I 409,33–37). Allerdings sei es nicht ausreichend, allein vor der Existenz der Teufel und ihrer Schlingen zu warnen, da ihre besondere Gefährlichkeit darin bestehe, daß sie unsichtbar seien und sich daher der Wachsamkeit der Menschen entzögen. Genau an dieser Stelle setzt die Apostrophe ein, da sie in dramatischer Weise die theologische Behauptung für die Hörer erfahrbar macht: Der Prediger wendet sich von seinem Publikum ab und adressiert statt dessen die Teufel direkt: Ir tiuvel, ir hœret mich vil wol hie predigen: ir naemet niht allez daz under dem himel ist, aˆne menschen seˆle, daz ir niwan eines iuwer einen liezet sehen: wan so hülfen iuch für baz alle iuwer liste niht unde stricke. (PS I 410,10–13). Anders als in der lyrischen Naturapostrophe macht der Sprecher hier nicht nur seinen Einfluß geltend, indem er unbelebte Gegenstände zum Handeln auffordert, sondern bezieht gleichzeitig das vorhersehbare Ausbleiben der Reaktion in die eigene Strategie ein. Mithilfe der rhetorischen Wendung an die Teufel, die natürlich nicht reagieren, wird dem Publikum das wesentliche Charakteristikum des Bösen wenn nicht sicht- so doch erfahrbar gemacht; es ist damit aufgerufen, die Fehler eines Herodes und Absalom zu vermeiden und aus der Erfahrung zu lernen. In X29 bildet die Apostrophierung der Teufel gar das Gliederungsschema der gesamten Predigt, denn sie ist mit Ausnahme des Schlußsatzes ausschließlich an die Teufel gerichtet. Aus dieser totalen Abwendung vom Publikum erfolgt die Wende erst im allerletzten Abschnitt, der das Pronomen ir erstmals auf die Hörer bezieht: Oweˆ des! Nein durch den almehtigen got, nuˆ keˆret alle wider ze gote von den leidigen tiuveln! Gedenket an die manicvalten tugent unsers herren und an sıˆne reine muoter, mıˆne frouwen sant Marıˆen, die eˆwigen maget, unde keˆret iuch von den sünden der zehen stricke, daz ir werdet gescheiden zuo den zwei geslehten, diu der almehtige got den leidigen tiuveln niht laˆzen wil. (PS I 472,37–473,4) Indem er die Teufel apostrophiert, bezeugt der Sprecher hier allerdings nicht nur ihre theologische Existenz, sondern konstituiert wesentliche Züge seiner eigenen Rolle in quasi-dramatischer Form: Er ist es, der sprechend den Teufeln ihre Rolle, aber auch ihre Begrenzung zuschreibt, und erst aus dieser Autoritätshaltung heraus erwächst dem an die Hörer gerichteten Schlußappell seine besondere Überzeugungskraft. Eine Steigerung erfährt der Gebrauch der Apostrophe dort, wo die Abwendung von der eigentlichen Hörerschaft dadurch geschieht, daß der Prediger sich selbst in einer fingierten Publikumseinsprache anredet. Diese Selbstapostrophen, in denen der Prediger als »Bruder Berthold« angerufen wird, sind charakteristisch für die vom Prediger verfolgte Appellstrategie. Indem sie scheinbar einen Dialog herstellen, benutzen sie ein Gliederungsmittel, das in der didaktischen Literatur weit verbreitet ist.37 Wie in den didaktischen Lehrgesprächen ist das 37

Zur Gattung des Lehrgesprächs und der dort verwendeten Gesprächsstrategien s. HANNES KÄSTNER, Mittelalterliche Lehrgespräche: textlinguistische Analysen, Studien zur poetischen Funktion und pädagogischen Intention (Phil. Stud. u. Qu. 94), Berlin 1978.

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Almut Suerbaum

Autoritätsgefälle zwischen Fragesteller und Antwortendem sofort offensichtlich, denn inhaltlich liefert der Fragende in vielen Fällen nur das Stichwort, um einen neuen Aspekt des behandelten Dispositionspunktes einzuleiten. Er wird denn auch in den Antwortpassagen, die sich meist an ein du wenden, regelmäßig widerlegt und zurechtgewiesen. In der Terminologie von JOHN SEARLE38 könnte man daher behaupten, daß die Predigt damit liefert, was von einem Diskurs im engeren Sinne verlangt wird: über den primären Sprechakt des Empfehlens hin hinaus, – nach PAUL MICHEL der »moralischen Ebene«,39 die im Prothema abgehandelt wird – bietet die Predigt in ihrem Hauptteil eine Argumentation, in der sie die Prämissen der so ausgesprochenen Empfehlung aufdeckt (»ethische Ebene«). In einem letzten Schritt (»meta-ethische Ebene«) schließlich werden diese Prämissen in Frage gestellt und kritisch beleuchtet. Im Rahmen eines solchen Schemas erfüllt die Selbstapostrophe genau diese Funktion, denn sie erlaubt es, Einwände gegen die dargestellten Handlungsanweisungen und Prämissen in Frage zu stellen. Die Tatsache, daß es sich dabei um vom Prediger selbst antizipierte und formulierte Einwände handelt, erlaubt es, die Akzeptanz der angeratenen Handlungsweise zu erhöhen, indem selektiv jeder scheinbare Einwand zu einer Bestärkung der eigentlichen Empfehlung führt. Auf diese Weise dient die fiktive Vorwegnahme von Einwänden der Stützung der Argumentation – und dies besonders in einer Predigtgruppe, die sich letztlich nicht an einzelne Stände richtet, sondern innerhalb durchaus komplex angelegter Hörerrollen ein breites Publikum anzusprechen sucht und damit, wie die Überlieferung zeigt, offenbar auch über den intendierten ersten Leserkreis hinaus erfolgreich ist.40 Darüber hinaus hat die Tatsache, daß die Predigt als eigentlich monologisches Sprechen so zum fiktiven Dialog erweitert wird, auch Konsequenzen für die Konzeption der Sprecherrolle. Wenn die Apostrophe zur Konstituierung von Sprecheridentität dient, so gilt dies in besonderem Maße dort, wo die Rolle des Predigers als die eines Antwortgebenden dargestellt wird, denn genau wie in der lyrischen Apostrophe der Romantik gilt, daß diese Präsenz nur innerhalb eines sprachlichen Aktes erzeugt wird. An dieser Stelle ist der Vergleich mit der höfischen Dichtung um 1200 naheliegend, denn dort erfreut sich die Selbstapostrophe des Erzählers ähnlicher Beliebtheit. Wenn Hartmann von Aue im ›Erec‹ einen fiktiven Zuhörer Einwände gegen die gelieferte Beschreibung machen läßt, so signalisiert er damit den Status seines Werkes als Fiktion.41 JO38

JOHN SEARLE, Speech Acts, London 1969; s. MICHEL [Anm. 30], S. 112. MICHEL [Anm. 30], S. 107. 40 MERTENS [Anm. 10], S. 90. 41 Erec, 7462–7525. Zur Frage der Hörerfiktion in der höfischen Epik zuerst EBERHARD NELLMANN, Wolframs Erzähltechnik. Untersuchungen zur Funktion des Erzählers, Wiesbaden 1973. MANFRED GÜNTER SCHOLZ, Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im 12. und 13. Jahrhundert, Wiesbaden 1980, plädiert für weitgehende Fiktionalisierung in solchen Passagen; kritisch dazu vor allem DENNIS H. GREEN, Medieval Listening and Reading. The Primary Reception of German Literature 800–1300, Cambridge 1994. 39

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CULLER formuliert für die Dichtung der Romantik folgendermaßen: »To read apostrophe as a sign of fiction which knows its own fictive nature is to stress its optative character, its impossible imperatives: commands which in their explicit impossibility figure events in and of fiction.« In der Predigt gilt dies für die Selbstapostrophe so nur mit Einschränkungen, denn wenn der Sprecher auch wie im Artusroman die Gelegenheit schafft, seine Autorität gegen die der imaginierten Hörer zu behaupten, so tut er das jedoch gerade nicht durch einen Akt fiktionalen Erzählens, sondern mithilfe der direkten Lehre. Die Fortsetzung solcher oft über mehrere Fragen und Antworten ausgesponnenen Dialoge erfolgt daher auch ohne Ausnahme nicht mit der Wiederaufnahme objektiver Berichterstattung wie in der höfischen Epik, sondern in direktem Appell, oft an den einzelnen Hörer gerichtet. Der Gegensatz zwischen erzählender Dichtung und Predigt ist im Fall der Teufelsapostrophe noch deutlicher. Hier dürfen wir zwar für den Sprecher ein Bewußtsein dafür postulieren, daß direkte Anwort unmöglich ist, doch dies dient gerade nicht dazu, auch dem Publikum solches Fiktionalitätsbewußtsein zu vermitteln – ganz im Gegenteil: der seelsorgerische Eifer des Predigenden muß gerade darauf setzen, daß das Böse als Bedrohung real existiert. Dennoch ist es vielleicht die in den Mitteln der Apostrophe und Selbsapostrophe entwickelte Dramatik, die zum bleibenden Interesse an diesen Predigten beigetragen hat und einen Vergleich mit anderen literarischen Gattungen der Zeit erlaubt. Ich möchte daher in der Selbstapostrophe nicht so sehr ein Relikt der an den Predigernamen gebundenen authentischen Sprechweise sehen, sondern sie vielmehr als Teil einer über Höreranrede und Apostrophe entfalteten Strategie auffassen, literarisch eine Sprecheridentität zu konzipieren. Nicht dialogisches Bemühen, dem Publikum theologische Sachverhalte einleuchtend zu machen oder Hörer und Leser in dialektischen Prozeß zu reflektierter Einsicht zu bringen, stehen dabei im Vordergrund, sondern ein gleichsam monologisches Sprechen, das zwar auf die Hörer gerichtet wird, letztlich aber dazu dient, das Profil der Sprecherrolle zu erhöhen. Die Faszination dieser Predigtsammlung besteht dabei – neben ihrem unleugbaren moraldidaktischen Impetus42 – in dieser Inszenierung der Predigerrolle. Unter Rückgriff auf literarische Strategien vermittelter oder auch fiktiver Mündlichkeit erhält die Sprecherrolle des Predigers eine Authentizität, die ihre Wirksamkeit nicht allein einer in Relikten noch greifbaren realen Predigttätigkeit verdankt, sondern vielmehr der geschickten Ausnutzung zeitgenössischer literarischer Muster.

NATHAN

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Besonders das in Ha vorangestellte Register weist auf eine solche Benutzung als moraldidaktisches Kompendium, s. RICHTER [Anm. 2], S. 19.

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Von Schrift zu Schrift Über eine Predigthandschrift des 15. Jahrhunderts in der Österreichischen Nationalbibliothek

In einer der brillantesten Wissenschaftssatiren der Weltliteratur, den ›Pickwick Papers‹ von Charles Dickens (1837/1838), wird ein Grundmythos historistischen Denkens aufs Korn genommen, der Mythos von der letztendlich undurchdringlichen Rätselhaftigkeit all dessen, was vergangene Epochen schriftlich hinterlassen haben. In einer der Romanepisoden stößt der höchst ehrenwerte Vorsitzende der Pickwickier, Samuel Pickwick, Esquire, nämlich auf ein rätselhaftes Monument, eine »unsterbliche Entdeckung, die«, so Dickens, »der Stolz und Ruhm seiner Freunde geworden ist und die jeden Altertumskenner in diesem und in jedem anderen Lande mit Neid erfüllte«.1 Mr. Pickwicks Blick war bei einem Spaziergang auf einen verwitterten Stein mit einer einmaligen, seines Erachtens unermeßlich kostbaren Inschrift gefallen, die – ob ihres fraglos hingenommenen Alters – großes Entzücken in der gelehrten Welt auslöste und zu einer Serie nicht abreißen wollender wissenschaftlicher Gespräche führte: + BILST UM PSSEI NGREN Z. S. T E I N2 Mr. Pickwick, der glückliche Entdecker, wurde »von siebzehn einheimischen und ausländischen Gesellschaften zum Ehrenmitglied ernannt«; »keine der siebzehn Gesellschaften« wußte zwar »mit der Inschrift etwas anzufangen, [...] aber alle siebzehn« stimmten darin überein, »sie müsse etwas ganz Außerordentliches bedeuten«.3 Es wird sogar berichtet, »daß ein Individuum sich aus Verzweiflung 1

Charles Dickens, Die Pickwickier. Aus dem Englischen übertragen von JOSEF THANNER, München 1956, S. 187; Charles Dickens, The Pickwick Papers, hg. von JAMES KINSLEY, Oxford 1986, S. 156: »that immortal discovery, which has been the pride and boast of his friends, and the envy of every antiquarian in this or any other country.« – Für vielerlei Unterstützung geht mein aufrichtiger Dank an Regina D. Schiewer, Hans-Jochen Schiewer, Detlef Roth, Wolfram Schneider-Lastin und das Tagungsteam. 2 Die Pickwickier, S. 188; The Pickwick Papers, S. 157:«+BILSTUMPSHIS.M.ARK.« 3 Die Pickwickier, S. 201f.; The Pickwick Papers: »That Mr. Pickwick was elected an honorary member of seventeen native and foreign societies, for making the discovery; that none of the seventeen could make anything of it, but that all the seventeen agreed it was very extraordinary.«

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– er konnte nämlich die Inschrift nicht entziffern – [...] selbst entleibte«.4 Bis zum heutigen Tag aber bleibt besagter Stein ein zwar lesbares, aber nicht entziffertes Monument, zum Besten der Wissenschaften, versteht sich. Der verwitterte Stein, der hier präsentiert werden soll, kann sich an Bedeutung sicher nicht mit »Bill Stumps Grenzstein« messen, um Mr. Boltons simple Lesung aufzunehmen – Mr. Bolton wurde daraufhin aus der Society ausgeschlossen –, wohl aber in seinem durchaus ungewöhnlichen Charakter. Während es Grenzsteine doch in hinreichender Anzahl gibt, so sind Predigtsammlungen wie diejenige, die hier ausgegraben werden soll, einigermaßen selten. Der Befund gibt Fragen und Rätsel auf, die im Zusammenhang dieses Beitrags nur thematisiert, nicht aber abschließend beantwortet werden können.

I Es handelt sich bei dem vorzustellenden Monument um die heute in der Österreichischen Nationalbibliothek befindliche Papierhandschrift mit der Signatur Series nova 3616 (Abb. 1). Auf 208 Folioblättern enthält dieser Codex einen Zyklus von 15 Predigten zu einem wahrhaft ungewöhnlichen Thema: der üblen Nachrede, lateinisch detractio.5 Genau so, als Nachrede, wird das Sündendelikt dort auch bezeichnet, ein Terminus, wie er auch in der ›Rechtssumme‹ Bruder Bertholds zu finden ist.6 Der Codex dieses Inhalts, in gotischer Buchkursive geschrieben, gehört zu einer Gruppe von 30 Handschriften, die aus der oberösterreichischen Benediktinerabtei Lambach stammen und 1953 an die Österreichische Nationalbibliothek gelangt sind.7 Weitere Besitzer sind nicht bekannt. Der Text weist ein Explicit mit der Jahreszahl 1479 auf – ein Datum, das durch die Analyse der Wasserzeichen gestützt wird.8 Trotz des schwankenden Schreibduktus muß, sieht 4

Die Pickwickier, S. 201; The Pickwick Papers, S. 167f.: »one enthusiastic individual cut himself off prematurely, in despair at being unable to fathom its meaning.« 5 Nicht erwähnt bei HANS RUPPRICH, Das Wiener Schrifttum des ausgehenden Mittelalters (Österr. Akademie der Wiss. Phil.-hist. Kl. SB 228, Abh. 5), Wien 1954, S. 172–176 (Predigtliteratur). 6 Die ›Rechtssumme‹ Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der ›Summa Confessorum‹ des Johannes von Freiburg, Bd. 3, hg. von GEORG STEER (TTG 13), Tübingen 1987, S. 1696–1699 (N1: Nachrede). Beachte den weiteren Kontext: Lügen (L 20), Loben (L 21), Leumund (L 22–27) (S. 1572–1595). Zu Neid (N2) vgl. unten. Vgl. Bd. 7 (TTG 17) der Edition (Quellenkommentar), hg. von MARLIES HAMM u. HELGARD ULMSCHNEIDER, Tübingen 1991, S. 554: Utrum detractio sit peccatum mortale (Johannes von Freiburg, ›Summa confessorum‹ mit Quellenverweis auf Thomas von Aquin, ›Summa Theologica‹, II-II q. 73 art. 2). Vgl. ebd., S. 513–516 (detractio, detractor). Die Termini diffamatio, detractio und calumnia werden in Series nova 3616 in Übereinstimmung mit der kanonistischen Diskussion im allgemeinen nicht streng voneinander geschieden. 7 HERMANN MENHARDT, Althochdeutsche Grammatik-Glossen aus Lambach, in: Festschrift für Dietrich Kralik. Dargebracht von Freunden, Kollegen und Schülern [ohne Hg.], Horn 1954, S. 64. Auf einigen Pergamentresten im Einbanddeckel befand sich eine Gruppe von althochdeutschen Glossen zu Grammatiktexten, die MENHARDT in diesem Beitrag publiziert hat. 8 MENHARDT [Anm. 7], S. 64; HERMANN MENHARDT, Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek, Bd. 3, Berlin 1961, S. 1497.

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man einmal von den Rubrizierungen der Predigteinsätze ab, nur ein einziger Schreiber für die Handschrift angenommen werden, wobei ein Autograph mit ziemlicher Sicherheit auszuschließen sein dürfte. Der nicht genannte Prediger-Autor dieses Codex nimmt sich mit dem Ehrabschneiden, Beschimpfen und Schelten einer sozialen Praxis an, die in der frühneuzeitlichen Gesellschaft beträchtliche Ausmaße angenommen und ein überaus reiches Lexikon hervorgebracht hat – davon zeugen zahlreiche Gerichtsfälle wie Pamphlete.9 Das Diskursphänomen der Diffamierung und Verunglimpfung, in den Predigtworten des Textes gefaßt als diese jtzu´ndt lay¨der gar [...] gemaine iündt (6v),10 ist bisher erst in Ansätzen beschrieben worden, obwohl es soziale, politische und nicht zuletzt Geschlechterkonflikte vielerorts geradezu strukturierte, von Nachbarschaftskonflikten bis zu den großen ideologischen Auseinandersetzungen um den Supremat von Papst oder Kaiser.11 Dabei werden politische und soziale Konflikte, spätestens seit dem Investiturstreit oder dem Propagandakrieg um Bonifaz VIII., in einer Fülle von Schelt-Medien ausgetragen, wovon unser Autor folgendes einleitend und gleichsam mit didaktisch erhobenem Zeigefinger zu sagen weiß: Wo dj lewt zue iam chomen Als bej hofelen vnd bej wirtichaftenn So iit Jr maiite red das ains dem anderenn mindert iein ere vnd ieinen guten lew˙mt (6v). Aber nicht nur bei Klatsch und Tratsch an den Stätten der Geselligkeit, nicht nur beim Flüstern hinter vorgehaltener Hand oder der öffentlichen Schelte, kurzum in ›face-to-face‹-Kommunikation, werde diese Sünde begangen, sondern ebenso in der schriftlichen Form sogenannter ichendtbrief: die Menschen ichlachens halts an dj kirch thu´r Oder werffens den lewten Jn dj hew˙ier / Oder sie werffens auf der gassen vonn Jnn daru´mb das iie funden vnd geleienn werdenn vnd den menichenn zue ichaden chomen (7r).12 Selbst von 9

Die folgenden Ausführungen sind verpflichtet DAVID L. D’AVRAY, Method in the Study of Medieval Sermons, in: NICOLE BE´ RIOU/D. L. D’AVRAY, Modern Questions about Medieval Sermons. Essays on Marriage, Death, History, and Sanctity, Spoleto 1994, S. 3–29. 10 Soweit nicht anders vermerkt, handelt es sich bei den Folio-Angaben um den Codex Wien, ÖNB, Series nova 3616. Vgl. 32r, 83r. Die Transkription folgt in Orthographie und Interpunktion der Handschrift. Abkürzungen wurden stillschweigend aufgelöst. 11 Vgl. CARLA CASAGRANDE/SILVANA VECCHIO, I peccati della lingua. Disciplina ed etica della parola nella cultura medievale, Rom 1987; T. ORTOLAN, Diffamation, Dictionnaire de the`ologie catholique, Paris 1909–195 [im folgenden: DTC], Bd. 4, T. 1, Sp. 1300–1307; E. DUBLANCHY, Calomnie, DTC 2/2, Sp. 1369–1376; A. THOUVENIN, Me´disance, DTC 10/1, Sp. 487–494; ROLF LIEBERWIRTH, Beleidigung, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Lfg., Sp. 357f.; HEINZ HOLZHAUER, Beleidigung, LexMA I, Sp. 1837f.; PETER WEIMAR, Calumnia, LexMA II, Sp. 1403; GHERARDO ORTALLI, ...pingatur in Palatio... La pittura infamante nei secoli XIII-XVI, Rom 1979; JIM A. SHARPE, Defamation and Sexual Slander in Early Modern England. The Church Courts at York (Borthwick Papers 58), York 1980; RICHARD C. TREXLER, Correre la Terra. Collective Insults in the Late Middle Ages, in: Me´langes de l’e´cole franc¸aise de Rome 96 (1984), S. 845–902; PETER BURKE, L’art de l’insulte en Italie aux XVIe et XVIIe sie`cles, in: Injures et blasphe`mes, hg. von JEAN DELUMEAU, Paris 1989, S. 49–62. Im Zusammenhang von literarischen Disputen: HELEN SOLTERER, The Master and Minerva. Disputing Women in French Medieval Culture, Berkeley 1995. 12 Ein Beispiel für solche Diffamierungsbriefe bei BERND-ULRICH HERGEMÖLLER, Die ›unsprechliche stumme Sünde‹, in: Kölner Akten des ausgehenden Mittelalters, Geschichte in Köln 22 (1987), S. 5–43; vgl. auch Rechtssumme, Bd. 3 [Anm. 6], S. 1586f.

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musikalischer Schelte weiß der Prediger zu berichten, nämlich daß die Lieder, von denen dj da machent vnd tichtenn lyedle / vnd dj iingen dar Jnn der menich geichent wirt vnd dar Jnn des menichen guter lewmt geichennt vnd gemindert wirt [...], Jnn vil landen vnd Jnn vil stetenn getragen werden (8r). Schließlich werden aber auch nonverbale Ausdrucksmedien und die körperliche Kommunikation in dieses Organon der üblen Nachrede einbezogen: Fingerzeigen, Augenzwinkern und – last but not least – bedeutungsschweres Schweigen. In anderen Worten, mit den didaktischen Mitteln dieses Texts sollen sämtliche Kommunikationskanäle – gestische, mündliche wie schriftliche – auf ein christliches Verhalten der Nächstenliebe anstelle der Nachrede bzw. des Nach-Schweigens verpflichtet werden. Wer in diesem Band allerdings Einblicke in den Abgrund spätmittelalterlicher Gerüchteküchen, in soziale Praktiken der Diffamierung, mithin eine malediktologische Fundgrube erwarten würde, wäre falsch ›gewickelt‹. Das Thema der Verunglimpfung wird in durchaus scholastischer Manier abgehandelt, und das heißt in abstrakter Kasuistik, ohne Rekurs auf verbale Konkretion. Die in den Predigten erwähnten Diffamierungen gehen nicht über relativ vage und klischeehaft eingesetzte Beispiele nach dem Muster ›Räuber, Ehebrecher, Unkeuscher‹ hinaus.13 Letzteres ließe sich, wenn man die Lexik der Bambergischen Halsgerichtsordnung von 1507 anlegt, immerhin als der in der Tat weit verbreitete Sodomievorwurf interpretieren.14 Der Band ist dabei als eine Serie von Predigten konzipiert, die mit der Exegese von Matthäus 20,1–16 einsetzen, dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg und der Perikope für den Sonntag Septuagesimae, den neunten Sonntag vor Ostern.15 Im Ablauf des Kirchenjahrs soll der Zyklus also mit der Fastenzeit einsetzen. Der Wandel in der Liturgie – das trawrich geianck das man Jetoundt iingt vncs auf oiteren / Vnd bej dem gewant das man Jtzundt braücht oue der meis Jnn denn xl tagen (1v) – verweist, so der Prediger, auf die großen Einschnitte in der Geschichte der Menschheit, den Sündenfall und die babylonische Gefangenschaft: ioliche dingk iolt man Jtoundt bedenckenn vnd betrachtenn Warumb es dj müter der chriitennhait Also hat geordennt vnd auf geiätot (1v).16 In der Auslegung des Weinberg-Gleichnisses gehören die Priester als Repräsentanten der Weisen des Neuen und Alten Testaments zu den Arbeitern Gottes, der allegorisch mit dem hawiwirt gleichgesetzt wird (2r). Im Weingarten 13

Vgl. 30r, 33r, 39r, 43v, 45v. Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. Constitutio Criminalis Carolina, hg. von JOSEF KOHLER und WILLY SCHEEL, Halle a. S. 1900, § 116. 15 b 1 : hewt geleien Jit wordenn; 1v: vonn Su´ntag nach ordenung der heiligenn chriitenhait vonn dem Jr hin nach horen werdt Vnd das man das frolich geianck alleluia vnd anders frolichs geianck als ny¨der hat gelegt vnnd vor Osternn nit mer geiungenn wirt nach ordnung der muter der heiligenn chriitennhait. Vgl. HERMANN GROTEFEND, Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, Bd. 1, Hannover 1891, S. 5. 16 Vgl. 35v mit mehrfachen Hinweisen auf die Fastenzeit und besonderem Nachdruck auf Verhaltensänderung und Beichte. 14

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Gottes wirken aber nicht nur gute, sondern auch böse Arbeiter, zu denen die Nachredner gehören, womit das dann im folgenden stringent durchgehaltene Thema erreicht wäre. Der liturgische Ort der Predigtreihe bleibt jedoch vage, da nicht alle Predigten im Ablauf des Kirchenjahres festgelegt werden: Predigten 7–10 stellen immerhin einen Bezug her zu den letzten Sonntagen im Juni.17 Dabei sind die Predigten selbst nicht durchnumeriert – sie werden wiederholt eingeleitet mit einem formelhaften Ein andre predig von der nach red [...] (167v).18 Rubrizierungen und inhaltliche Gliederungssignale indizieren jedoch jeweils den Neueinsatz. Es liegt somit ein thematisch und nicht ein liturgisch motivierter Zyklus vor. Dessen Besonderheit bestünde darin, daß hier nicht je eine Predigt einem Thema, sondern viele Predigten einem einzigen Thema aus dem Sündenkatalog gewidmet sind. Der Traktatcharakter des ganzen Zyklus wird noch dadurch betont, daß nur die erste, vom Umfang her längste Predigt eine Schriftauslegung enthält. Eine Predigthandschrift zu persönlichem Gebrauch bei unterschiedlichen Anlässen ist also gerade wegen dieses Traktatcharakters unwahrscheinlich. Die Ausführlichkeit des Stils scheint vielmehr den Lesemodus als primäre Rezeptionsform nahezulegen. Gemessen an Umfang und Verbreitung der mittelalterlichen Diskussion, angeregt nicht zuletzt durch die Rezeption des römischen Rechts, erscheint die ›Sprachsünde‹ der detractio indes alles andere als marginal.19 CARLA CASAGRANDE und SILVANA VECCHIO weisen der üblen Nachrede geradezu eine Sonder- und Spitzenstellung unter den Verbaldelikten zu.20 So konnten mehr als 400 Seiten mit einem Thema gefüllt werden, das in Sündenkatalogen in der Regel allenfalls summarisch benannt wird, etwa bei der Besprechung des zweiten oder des achten Gebots. Der Autor verwendet die erste Predigt, um die Bedeutung des Themas zu etablieren und die Nachrede zu definieren,21 schreitet dann fort, die Konsequenzen der Diffamierung auszumalen, die verschiedenen Motivationen auszubreiten – vor allem die Frage, welche Konsequenzen die unabsichtliche Verunglimpfung habe –,22 um sodann die Bestrafung und mögliche Bußleistungen ausgiebig zu diskutieren. Schuldig machen sich dabei nicht nur die eigentlichen Nachredner, sondern auch diejenigen, die der übelwollenden, un17

Dabei bediene ich mich der Gliederung, wie sie OTTO MAZAL u. FRANZ UNTERKIRCHNER eingeführt haben (Katalog der abendländischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek »Series nova« [Neuerwerbungen], Wien 1967, S. 171–174). 95r: dy predig des eriten Suntag nach der heyligen Driualtigkait tag (Sonntag nach Pfingsten); 106v: dy predig an iand Joannes tag _we den Sunibenten (Johannes Baptista, 24. Juni); 125v: dy predig an iand Peter vnd an iand pauls tag (29. Juni). 18 Vgl. 137r, 184v, 197v. 19 Vgl. ARRIGO D. MANFREDINI, La diffamazione verbale nel diritto romano, Mailand 1979. 20 CASAGRANDE/VECCHIO [Anm. 11], S. 331 u. 342. 21 v 9 : Nach red iit / das ein menich mit ieiner red entoeucht oder mindert dem anderen menichenn ieinen guten lewmt Als vil es an Jm ist / das dj menichen dj es horent wenent oder gelawbenn pois oder iunt vonn dem menichenn vonn dem er redt. 22 Vgl. hierzu Thomas von Aquin in der ›Summa‹, zitiert in Rechtssumme [Anm. 6], S. 554: Contingit tamen quandoque quod aliquis dicit aliqua verba per que diminuitur fama alicuius, non hoc intendens, sed aliquid aliud. Hoc autem non est detrahere [...].

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berechtigten Nachrede nicht widersprechen.23 Stilistisch breit und höchst repetitiv entsteht vor den Sinnen des Rezipienten allmählich eine Ahnung von Ausmaß und Gewicht dieser sonst wohl kaum in solcher Ausführlichkeit, jedenfalls nicht in der Volkssprache und in Predigtform, behandelten Sünde. Didaktisch wirkungsvoll wird dabei die Macht der Worte mit der Macht der Waffen gleichgesetzt. So zieht sich der Vergleich des bösen Wortes mit den Pfeilen der Armbrust leitmotivisch durch den mäandernden Text.24 Der Tod durch den Pfeil kommt demnach dem Ehrentod durch falsche Verdächtigung gleich. Die geschickt inszenierte Materialisierung des scheinbar ephemeren Wortes geht aber noch einen Schritt weiter. Der Leumund und die Ehre werden als gleichsam juristisches Gut hingestellt, dessen teilweiser oder ganzer Verlust für den Entehrten materielle Konsequenzen nach sich ziehe; für diesen Verlust trage der Nachredner ebenso Verantwortung, wie für Schäden bei den Angehörigen der Entehrten, was das Gewicht dieser Sünde noch einmal erhöht: Wann das oeitleich gu˙t mag dem menichen etwan wider chert werden Aber der gut lew˙nt des menichen wirt hart wider geben oder wider pracht / oder gar selten. (64r)25 Selbst wenn die Zerstörung einer sozialen Existenz unabsichtlich erfolgte, so sei der Nachredner doch für die Folgen verantwortlich, sowohl auf Erden wie vor Gott.26 Irdisches Verhalten steht durchaus im Zentrum des Interesses, auch wenn die genauen Umrisse dieser sozialen Gemeinschaft in der Abstraktion verbleiben.27 Wird die juristische Ausrichtung des Texts mittels der ausgewählten Exzerpte bereits deutlich, so verankert der häufige Rekurs auf die Obrigkeiten noch einmal das Thema in der Sozialverfassung.28 Der Tagelohn für die Arbeiter im Weingarten Gottes steht nicht allein allegorisch für das ewige Leben (als Belohnung für eine irdische Existenz ohne Nachrede), dieser als Lohn ausgezahlte Pfennig trägt das Bildnis eines Herrschers (ohne daß hier ein bestimmter ge23

6r: UOn Erit wil Jch iagenn was nach red sey˙ / Vnd wann ein nach red schwerr Sündt iey¨ dann dj ander / Vnd wil darnach iagenn wie iich dj menichenn dar Jnn veriu´ntenn todlich oder leilich mit dem nach redenn / Vnd nicht allain iundent dj menichenn dj da nach redenn. Es Sünden auch dj menschenn dj nach red auihorent Vnd dem nicht wideritendt / Oder dar _u Sweigent Vnd nicht wider redent / Vnd wil auch iagen wann Vnd wie man nach reden wider redenn ichol / Vnd wie man denn menichen ichol genüg thüenn vmb seinen lew¨mt dem man mit nachred geichadt hat / Vnd wil auch iagenn auch wie die menichenn mit nachred vermailigent den gu˙tenn lewnt Jrs nagiten / Vnd wil auch iagenn wann nach red todt sundt sey˙ / Vnd wil darnach iagenn was hilf vnd ertoney˙ gut sey˙ für nachred [...]. 24 Zum Beispiel 14r. Auf 107r, etwa in der Mitte des Codex, ist selbsteinsichtig die Rede von der materij des nachredens vonn der Ich Nü lange oeit geiagt hab [...]. Zur Waffen- und anderer Metaphorik im Umkreis der detractio vgl. CASAGRANDE/VECCHIO [Anm. 11], S. 339, 342. 25 Vgl. auch den vielfachen Nutzen des guten Leumunds in der Vorsehung 55v–59v. 26 Vgl. 55v mit einem Kaufmann als Beispiel. 27 Vgl. auch 7r: Vnd iolich ichendt wrief iein vorpotenn Jn chaiierlichenn rechtenn Vnd auch Jn gaiitlichen rechten. 28 Vgl. auch die auf 52r genannten Berufe: Schuster, Schneider, Arzt, logicus, grammaticus; 53r: Arzt, Pfarrer; auf 56v ist von einer Frau die Rede, die ihrer Ehre als Jungfrau verlustig gegangen ist und in der Folge ins ›Frauenhaus‹ (Bordell) absinkt.

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nannt würde).29 Wo immer allerdings von der Obrigkeit die Rede ist, sind die Prälaten und Fürsten friedlich im Dienst Gottes vereint.30 Aus der Perspektive dieses Zyklus ziehen die weltlichen und geistlichen Instanzen am gleichen Regulierungsstrang und ergänzen sich widerspruchslos im Versuch, eine gottgewollte Ständeordnung ohne Sozialneid herbeizuführen. Überhaupt fehlen in diesen Predigten polemische Töne. So hätte man eigentlich erwartet, daß Frauen, denen die unkontrollierte Rede oder garrulitas andernorts vielfach nachgesagt wird, beim Thema der üblen Nachrede besonders bedacht würden. Weit gefehlt. Der soziale Friede durchdringt die didaktische Vision dieses Textes und läßt keinen Raum für misogyne Töne; die Exempla sprechen wohlbalanciert verschiedene Sozialgruppen an. Dieser harmonisierenden Publikumskonzeption zufolge sind alle sozialen Gruppen vereinbar unter dem Zeichen des vielfach zitierten gemeinen Nutzens31 und göttlichen Willens; jedenfalls, wenn der einzelne, ob Mann oder Frau, Kleriker oder Person von Stand32 den christlichen Autoritäten folgen wolle: wir all iein arbaitter gots [des] herren Vnd iein tag wericher wann er vns alle gedingt hat Jnn ieinen weingartenn (3v).33 Dagegen ist aus der Sicht des Prediger-Autors die Obrigkeit selbst Opfer übler und selbstverständlich unberechtigter Verdächtigungen, besonders von Seiten der Unterschichten.34 Diese Kritikaster, die hinter jeder obrigkeitlichen Maßnahme schlechte Absichten wähnten, übersähen dabei, daß die Obrigkeiten aus bestem Wissen handelten – gleichsam per definitionem. Der Prediger konzediert zwar, daß die Obrigkeiten etwann ielber pöis iind vnd nicht aigent tügent habent, aber So ichol man iy dannoch eren vnd iy fürchtenn [...] (47v).35

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3v–4r: Vnd der tagleich pfennig als Jch vorgeiprochenn hab bedewt nicht anders dann das ewig lebenn vnd dj ewig saligchait [...] auf ainem Ieglichen pfennig albeg ist gedrugt das marich ader pildnüis des chaisers ader des chunigs oder des furstenn. 30 Zum Beispiel 47r. 31 18v: io es geichicht von güter iach wegenn / Vnd dürch aines gemaines nüto wegenn [...]; 20r u. ö. 32 r 6 : Vnd darümb das nach redenn iit ain als groiie Swerr iünd vnd als _art erchant wirt / Vnd doch gemain ist vnder gaiitlichenn Vnd weltlichenn menichenn / So wil Jch Jtzu´ndt vnd hinfu´r da uon iagenn [...]; 23v. 33 Als Quelle wird Chrysostomus angegeben. 34 Vgl. 28v–29r: Auch alio geschichit aüch io ein oberiite perion itraft Ir vnderthann io reden iie Ir nach Jnn Jrm abweienn vnd legents Ir _u dem poiiiten auis / Vnd iprechent / Sj habens thann aüis ney¨d / vnd auis hais / oder auis zörn / oder iie habens vnrechtlich geitraft iy¨ haben iein nicht verichult / Vnd alio magis aüch geichehenn vonn dem diennitvolch / als vonn dienner vnd von dienerin / io iy geitraft werdenn vonn Irr herichaft das iie dann Iren herrenn vnd Iren fraw˙enn nach redent Jn Irm abweienn / vnd legens Jnn oü dem pöiiitenn auis [...]; weitere Beispiele: ichüllern und lerchinder io iie gestraft oder geichlagen werden vonn Irn ichulmaistern oder ichulmaisterin (29r); die pösen Juden, die Christus kreuzigten (29r); vgl. 50r/v: als dj weltleichen menschen mügen alio nach reden Irem chünig / oder Irem furiten Irm richter / oder Irm purgermaiiter vnd Irer weltleichen herichaft / vnd alio mügen auch nach reden dj gaiitleichen perionn Irn oberiitenn in der erberchait Irer ampt oder itendt vnd iagen vil grois iündt vnd groiie ding von In [...]. Zu dieser Argumentationsfigur vgl. CASAGRANDE/VECCHIO [Anm. 11], S. 343. 35 Vgl. auch 48r.

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Der Prediger-Autor läßt indes zugleich verlauten, daß ein wahrer Sünder, also ein wahrer Dieb, Ehebrecher oder Unkeuscher, den Obrigkeiten angezeigt werden müsse.36 Wenn beispielsweise ein Mensch eine Stadt anzuzünden plane, und man wisse davon, so gehe in jedem Fall der gemain nutz vor und ein eventueller Schaden am eigenen Leumund sei in Kauf zu nehmen. Sünde sei eine Anzeige in diesem Fall nur dann, wenn sie sich nicht an die richtige Instanz, das heißt die Organe der Obrigkeit, richte: Wann es Jst vil peiier Jm werd iein güter lew¨nt genomen allain oder gemy˙ndert dann das ain gemainerer ichadenn darauis chem ainem gantoenn landt Vnd das villeicht ma´nig taw¨ient menichen verdürben an leib vnd an güt [...]. (20v–21r) Anders gesagt, Prävention rechtfertigt eine ›öffentliche‹ Anzeige. Umgekehrt darf ein wahrer Christ seine Mitmenschen selbst unter Folter – in einem Gerichtsverfahren etwa – nicht grundlos in Verruf bringen. Im Kontext dieser Predigten geht es also vor allem um die rechte intentio bei jedem Redeverhalten.37 Wie die zahlreichen Exempla zeigen, besteht die Schwierigkeit jedoch gerade darin, daß solche Absichten am menschlichen Äußeren nicht abzulesen sind.38 In Form vieler fingierter Frageeinwürfe nimmt ein höchst faszinierendes intellektuelles Problem Gestalt an, die Frage, wie denn zwischen wahren und falschen Anklagen zu unterscheiden sei. Die umfängliche Einzelfall-Kasuistik verweist somit auf Bruchstellen an der Grenze zwischen Heimlichkeit und Offenlegung,39 Wahrheit und Lüge, der unterstellten Idealität der Obrigkeit und der Realität ihrer von der Gemeinschaft thematisierten Ungenügsamkeit.40 Das Vorbild für die strikte Sprechkontrolle41 und die Disziplinierung von Kommunikationsverhalten stellt einmal mehr das Kloster dar,42 dessen reguliertes Leben und Sprachverhalten den Laien als Verhaltensmodell angeboten wird: Alio iit aüch das gar ain gute gewanhait In den chloiteren / als herren chloiter vnd frawen chloiter das man den gaiitlichen perion dj ganto oeitt eiien _üe tiich liit ichone nütoe güte hailiame ding oüe ieder eiien zeitt / des morgens vnd des abents / Wan durch das leien züe dem tiich wirt dem menichenn benomen vil 36

Zum Problem der Wahrheit in diesem Zusammenhang vgl. CASAGRANDE/VECCHIO [Anm. 11], S. 334. 37 CASAGRANDE/VECCHIO [Anm. 11], S. 333f., weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Intentionalität des Handelns nicht erst in der Scholastik mit ihrer Gesinnungsethik in die Debatte um die detractio eingeführt wurde. 38 Vgl. 28v. 39 Vgl. 20r. 40 Vgl. dazu GEORG SIMMEL, Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft, in: DERS., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (Gesamtausgabe 11), Frankfurt a. M. 1992, S. 383–455. 41 Zum Beispiel 30v: Man ichol nicht albeg alle ding iagenn dj man waiis obs halt ichön war iit noch ichol mans nicht albeg iagenn was man wais von den nagsten. 42 Vgl. DILWYN KNOX, Disciplina. The Monastic and Clerical Origins of European Civility, in: Renaissance Society and Culture. Essays in Honor of Eugene F. Rice, Jr., hg. von JOHN MONFASANI u. RONALD G. MUSTO, New York 1991, S. 107–135.

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pöier vnnütoerer gedenck (172v)43 – und Gelegenheit zu übler Nachrede. Die geistliche Gemeinschaft mit ihrem Ideal allseits disziplinierten Verhaltens bildet somit ein Gegenbild zu den eingangs zitierten Wirtshäusern mit ihren brodelnden Gerüchteküchen. Der Prediger entwirft punktuell eine universale, Laien wie Geistliche umfassende, christliche Lebensordnung für alle Stände.44 Leicht wäre es daher möglich, diesen Text in den Prozeß der Zivilisation einzuschreiben und auf die spätmittelalterlichen, geistlichen Wurzeln von säkularen Disziplinierungsschüben aufmerksam zu machen, die GERHARD OESTREICH und seine Schüler meist erst in der Reformation und im 16. Jahrhundert ansetzen.45 Diese chronologische Korrektur, die schon andere vor mir vorgenommen haben,46 ginge jedoch genau an der Brüchigkeit eines solchen Dokuments der Zivilisationsgeschichte vorbei, zu der dieser Predigtzyklus zweifelsohne gehört. Und genau diese Brüchigkeit auf der inhaltlichen wie der medialen Ebene macht die hier behandelten Predigten meines Erachtens zu einem lohnenswerten Objekt der Analyse. Inhaltlich, weil das Prediger-Ich in diesem Text Widerstände gegen die Disziplinierung im allgemeinen und die Disziplinierung des Redeverhaltens insbesondere thematisiert; medial, weil dieser Zyklus von Predigten in der überlieferten Form ein Fragment eines größeren Ganzen darstellt. Denn: Die Wiener Handschrift ist Teil eines größeren, noch nicht identifizierten Zyklus von Predigten, der den Todsünden gewidmet gewesen sein muß. Die üble Nachrede wird als zweite Tochter des Neids bezeichnet. Das Prediger-Ich referiert auf frühere Predigten, die die erste Tochter, den Haß, behandelten; der Neid selbst sei die Tochter der Hoffart.47 Mit dieser Programmstruktur einer summa de vitiis wird das Untypische dieser Handschrift noch einmal akzentuiert; andere Textzeugen eines solchen, hypothetisch behaupteten und vielleicht nur geplanten, nicht ausgeführten Zyklus sind bisher meines Wissens nicht bekannt geworden. 43

Vgl. 54v, 117v, 139v u. ö. Vgl. jedoch 17v: Wer es aber ein perionn dj _u´e prieiter icholt werdenn So wer Jm wol ein anders zu sagen. 45 GERHARD OESTREICH, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55 (1968), S. 329–347; wieder in DERS., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 179–197; DERS., Strukturprobleme der frühen Neuzeit, Berlin 1980; R. PO-CHIA HSIA, Social Discipline in the Reformation. Central Europe 1550–1750, London 1989. 46 Vgl. NORBERT ELIAS, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bern 1969; WERNER BUCHHOLZ, Anfänge der Sozialdisziplinierung im Mittelalter, Zeitschrift für Historische Forschung 18 (1991), S. 129–147. 47 v 5 : Nach dem als Jch vor geiagt hab darnach geiagt vonn dem Ney˙d der da iit ain tochter der hochfart / Vnd hab darnach geiagt vonn der eritenn tochter des Neydts Das iit der hais Nu´e wil Jch furpais iagenn Vonn denn andern tachteren des neidts Vnd haiit nach red / dj daig tochter iit gar ein pöie tochter [...]. Dabei handelt es sich laut RICHARD NEWHAUSER um die am weitesten verbreitete Einteilung der Sünden (superbia, ira, invidia etc.), die er auf Hugo von St. Viktor zurückführt. Vgl. RICHARD NEWHAUSER, The Treatise on Vices and Virtues in Latin and the Vernacular (Typologie des sources du moyen aˆge 68), Turnhout 1993, S. 190f. und passim. 44

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II In Band 3 von HERMANN MEHNHARDTs ›Verzeichnis der Handschriften‹ in Wien wird der hier vorgestellte Codex als eine Predigtbearbeitung der Dekalog-Auslegung Ulrichs von Pottenstein (um 1400) annonciert.48 MENHARDT, ein guter Kenner der verkürzt mit dem Terminus ›Wiener Schule‹ bezeichneten Gruppe von schreibaktiven Theologen im Niederösterreich des 15. Jahrhunderts, gibt sogar die genaue Parallelstelle an, die Behandlung des achten Gebots: »Du sollst kein falsch’ Zeugnis ablegen.« In der Tat, eine solche Bearbeitung hätte einiges für sich. Ulrich von Pottenstein war selbst Prediger und hat wiederholt Predigten in seine volkssprachliche Katechismus-Summe eingepaßt.49 Der in der Forschung zum Thema immer wieder mit Erstaunen konstatierte Riesenzuschnitt des Werks hätte umgekehrt eine segmentierende Bearbeitung in Predigtform gut vertragen. GABRIELE BAPTIST-HLAWATSCH hat jedoch schon 1980 darauf hingewiesen, daß MENHARDT sich bei der Zuschreibung geirrt hat.50 Die Sprechsünden werden bei Ulrich nämlich schon anläßlich des zweiten Gebots behandelt.51 1954, in seiner Publikation der althochdeutschen Glossen aus dem Einband der Handschrift, hatte MENHARDT denn auch die textliche Abhängigkeit noch mit einem qualifizierenden »vermutlich« versehen,52 eine Formulierung, die dann im Handschriftenkatalog entfallen ist, durch die einigermaßen ungenaue Angabe einer Parallelstelle in der Dekalog-Auslegung ersetzt und von OTTO MAZAL und FRANZ UNTERKIRCHER weiter ausgeschrieben worden ist.53 Zwei Annahmen MEHNHARDTs sind jedoch meiner Auffassung nach wie vor bedenkenswert und bisher nicht weiter überprüft worden: erstens, die Zuordnung des Zyklus zum weiten Kreis des Wiener Schrifttums; zweitens, die Annahme, daß es sich um die Predigt-Bearbeitung eines umfangreicheren Schrifttexts handelt, der selbst nicht in Predigtform gehalten war. 48

MENHARDT [Anm. 8], S. 1497. GABRIELE BAPTIST-HLAWATSCH/ULRIKE BODEMANN, Ulrich von Pottenstein, 2VL X, Sp. 9–17; GABRIELE BAPTIST-HLAWATSCH, Das katechetische Werk Ulrichs von Pottenstein. Sprachliche und rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen (TTG 4), Tübingen 1980, S. 17. Vgl. die Aussagen in der Vorrede, die Ulrichs Katechismus in Verbindung mit Predigten bringen, ebd., S. 145,73–78; 146,93–95. 50 BAPTIST-HLAWATSCH [Anm. 49], S. 68. 51 Kalocsa, Fösze´kesegyha´zi Könyvta´r, Ms. 629 (Ms. 26), 84rb–109vb: Schwören, Gelübde (mit besonderem Akzent auf Ehegelübden), Schelten (differenziert nach Gottesschelte, also Blasphemie, und Spiel – dabei würden viel Sprechsünden begangen), Lästern (nicht identisch mit detractio, weil dort die Beschädigung der Ehre dazukommt, während Beschuldigungen des Typs du plinter, du auimerkchiger ichelm [101va] offenkundig unrichtig sein können), correctio (eine juristische Strafe, die mit persönlicher Motivation ausgeführt wird), und schließlich detractio: Uon eren abineyden ist nu zu iagen vnd iint die die der andern leben vnd güt iiten mainen verruckchen vnd mynneren (107va). Dabei wird dann noch einmal zwischen leitrer und eren entoieher differenziert, der eine treibe es v¨nder augen, der andere haimleich (107va–109va), sowie adulator oder leibchosear (109va). Im Unterschied zu Wien, ÖNB, Series nova 3616 wird ein völlig anderes sprachliches Register eingesetzt; dazu kommt ein polemischer Ton, der in der hier besprochenen Handschrift fehlt. 52 MENHARDT [Anm. 7], S. 64. 53 MAZAL/UNTERKIRCHER [Anm. 17], S. 172. 49

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Schon bei der Mikroanalyse des Textes finden sich zahlreiche Hinweise auf die ›Textmaschinerie‹ im Umkreis des Wiener Literaturzentrums. Dazu gehören: – Der s p r a c h l i c h - g r a p h e m a t i s c h e B e f u n d verweist eindeutig in den österreichischen Raum, wie eine eingehendere Untersuchung der Graphematik und Lexik zeigen könnte.54 – Bestimmte wiederkehrende s t i l i s t i s c h e F l o s k e l n gliedern die Textmasse und erleichtern die Orientierung.55 – Z i t i e r w e i s e : Augustinus, Gregorius, Bernhard von Clairvaux, Thomas von Aquin, Alexander von Hales, Wilhelm von Paris, Nikolaus von Lyra werden oft in wissenschaftlicher Manier mit (lateinischer) Stellenangabe zitiert, wie das etwa auch bei Ulrich von Pottenstein der Fall ist.56 – Ein lateinisch-theologischer Q u e l l e n h o r i z o n t ist typisch, bei dem den oben genannten Theologen eine kleinere Anzahl klassisch-philosophischer Autoren beigemengt werden; zugleich der Rückzug aus der Kontroverstheologie.57 – Bei den E x e m p l a tritt das Erzählerische hinter der Didaxe zurück.58 – Eine S p i r i t u a l i t ä t ist bemerkbar, der mystisch-meditative Töne ganz abgehen. Unterweisung steht im Zentrum. So verdeutlichen regelmäßige recapitulationes nicht nur die Disposition, sondern bieten mnemonische Stützen.59 – Im Text wird ein P u b l i k u m konstruiert, das ausdrücklich Kleriker wie Laien umfaßt.60 – Eine s c h o l a s t i s c h e H e r a n g e h e n s w e i s e bleibt erhalten, das heißt eine 54

Mhd. ei erscheint selbstverständlich als ai, mhd. ˆı als ei; das mhd. Suffix –lıˆch in der Regel als –leich, konkurriert jedoch mit –lich (z. B. frolich [1v], aber tagleich [3v]). Die Schreibung einzelner Wörter ist dabei weitgehend konsistent. Mhd. iu erscheint als ew bzw. ew ¨ , z. B. bedew¨t und bedewt (1v). Regionalismen im Wortgebrauch sind dagegen selten, vgl. jedoch daig, daige (z. B. 5v u. ö.). Eine eingehendere Graphemuntersuchung würde grosse Ähnlichkeit aufweisen mit Wien, ÖNB, Hs. 3050, vgl. BAPTIST-HLAWATSCH [Anm. 50], S. 82–138. 55 Furpais Iit vns allenn nuto vnd gut das der menich wiis vnd erchenn was nachred iey¨ [...] (9v); Furpas Jst mer oemerchenn [...] (13r); Furbais ipricht ain lerer [...] (17r); Nun des etliche Exempel [...] (11v); das mag geichehenn in fünferlay˙ weiis [...] (19r); Aber da iit zemerchen [...] (22r); Dj ander vnderschaid des nach redens iit [...] (26r); Als allexander de halis ipricht [...] (26v); Nu frag was iit [...] (31v); Du-Anreden (18v u. ö.). Im Unterschied zu Ulrich von Pottenstein etwa ist das Prediger-Ich stärker präsent, z. B.: Das Capitel des ewangelij iit gar langck an Jm selber wann es geet als aüf das Exempel Darümb wil Ichs nicht als sagenn sünder / nür als vil mir _ue der matherij dient. (26r). 56 Zum Beispiel 15r, 24r, 36r: Als Salomon prouerbiorum vj geichriben stet; 37v: Actum iij o capitulo; 39v: Iob [...] quadragesimo tercio. Die Stellenangaben mit den in der lateinischen Literatur üblichen Abkürzungen werden dabei, wie in Wien, ÖNB, Hs. 3050, meist unterstrichen. 57 Vgl. Aristoteles-Zitate auf 46v, 152r. 58 11v, 14r, 24v, 25r, 26r, 28r u. ö. 59 17v, 23v–24r, 42v u. ö. 60 Zahlreiche, zum Teil oben zitierte Beispiele umfassen weltliche wie geistliche Stände. Vgl. auch Ulrich von Pottenstein, Dekalog-Auslegung. Das erste Gebot. Texte und Quellen, hg. von GABRIELE BAPTIST-HLAWATSCH (TTG 43), Tübingen 1995, S. 36*; HELMUT PUFF, Allen menschen nuczlichen. Publikum, Gebrauchsfunktion und Aussagen zur Ehe bei Ulrich von Pottenstein, in: Text und Geschlecht. Mann und Frau in Eheschriften der frühen Neuzeit, hg. von RÜDIGER SCHNELL, Frankfurt a. M. 1997, S.176–196.

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deutlich gegliederte, breite Anlage, die definitorisches und kasuistisches Material mit Publikumsanreden oder fingierten Frageeinwürfen belebt.61 In ÖNB Series nova 3616 konkurrieren darüber hinaus aber literale Mündlichkeitssignale, ungleich gestreut, mit Gliederungssignalen einer anderen Kategorie und eines anderen Genres, das in der lateinisch-theologischen Literatur zu verorten ist, ohne daß diese Gliederung ganz durchgehalten würde (articulus).62 Die inhaltliche Struktur einer noch nicht identifzierten lateinischen Quelle ist in besagtem Text jedenfalls deutlich erkennbar. Das genaue Abhängigkeitsverhältnis der auf uns gekommenen Predigtserie von dieser Vorlage ist dabei noch zu ermitteln.63 Verwandtschaft weist die Anordnung der Laster allerdings mit Lasterkatalogen auf,64 wie sie etwa in einer Kremsmünsterer Handschrift des ›Speculum humanae salvationis‹ (1. Hälfte des 14. Jahrhunderts) als Lasterbaum überliefert sind. Die invidia als zweite Hauptsünde zweigt dort vom Stamm ab, der von der Wurzel aller Laster, der superbia oder Hoffart, getragen wird. Die detractio oder Nachrede geht nach susurratio (Einflüsterung)65 und amaritudo (Bitterkeit) als drittes kreisförmiges Blatt vom Zweig der invidia ab.66 Die reichhaltige, vielfach verflochtene lateinische Literatur zur detractio wird das Auffinden einer Vorlage allerdings erschweren.67 CARLA CASAGRANDE und SILVANA VECCHIO sprechen treffend von der »dimensione ossessiva della detractio«,68 wenn sie die vielschichtige Debatte um die üble Nachrede charakterisieren: »numerose classificazione, spesso identiche o comunque concordi nella sostanza se non nella forma, ricorrono sia nei testi dei teologi che in quelli dei moralisti piu` direttamente coinvolti nella pratica pastorale.«69 Deshalb bietet 61

Vgl. MONIKA HANSEN, Der Aufbau der mittelalterlichen Predigt unter besonderer Berücksichtigung der Mystiker Eckhart und Tauler, Hamburg [Diss] 1972 zu Nikolaus von Lindau; kritisch zur Verwendung des Begriffs im Kontext des 13. Jahrhunderts DAVID L. D’AVRAY, The Preachings of the Friars, Oxford 1985, S. 163–180. Zu mnemonischen Strukturen in der Predigtliteratur siehe jetzt SABINE HEIMANN-SEELBACH, Ars und scientia. Genese, Überlieferung und Funktionen der mnemotechnischen Traktatliteratur im 15. Jahrhundert, Tübingen 2000, passim (s. Register: ›Predigt‹). 62 54v, 148v, 167v u. ö. 63 Bei dem zugrundeliegenden Text handelt es sich nicht, wie man naheliegenderweise vermuten könnte, um die ›Summa de vitiis et virtutibus‹ (vor 1249) des Guillaume Peyraut oder Guilelmus Peraldus, die bei einigen Vertretern des Wiener Kreises als Quelle für volkssprachliche Texte herangezogen wurde, bei Heinrich von Langenstein ebenso wie bei Ulrich von Pottenstein. Siehe Heinrich von Langenstein, Erchantnuzz der sund. Nach österreichischen Handschriften, hg. von P. RAINER RUDOLF SDS (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 22), Berlin 1969; BAPTIST-HLAWATSCH [Anm. 60], S. 28*–36* u. S. 425–662; PUFF [Anm. 60]. 64 Zu den summae de vitiis et virtutibus vgl. NEWHAUSER [Anm. 47]. 65 Zu deren Definitionen vgl. CASAGRANDE/VECCHIO [Anm. 11], S. 337. 66 Speculum humanae salvationis. Vollständige Faksimile-Ausgabe des Cod. Cremifanensis 243, hg. von WILLIBRORD NEUMÜLLER, Graz 1972, 2r, 3r mit Kommentarbd., S. 25. Für diesen Hinweis danke ich Detlef Roth. Zu Filiationsverhältnissen dieser Sünde CASAGRANDE/VECCHIO [Anm. 11], S. 348, Anm. 36. Die Definition der detractio ist verwandt mit De fructibus, zitiert ebd., S. 344, Anm. 2. 67 Für einen Literaturüberblick vgl. NEWHAUSER [Anm. 47]. 68 CASAGRANDE/VECCHIO [Anm. 11], S. 342.

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ÖNB Series nova 3616 auch nur bedingt einen Widerhall sozialer Scheltpraxis. Die Predigten transportieren vielmehr die vielschichtige theologische Diskussion zum Thema weiter und transponieren diese, zu einem noch nicht genau bestimmten Zeitpunkt, wahrscheinlich aber um die Mitte des 15. Jahrhunderts, in die Volkssprache. In diesem Sinn gehören Erstens und Zweitens – die hier vorgeschlagene Zugehörigkeit der Handschrift zum Wiener Schrifttum einerseits und die Abhängigkeit von einem lateinischen Wissenskompendium andererseits – auch zusammen. Die Produktion summenhafter Textkonvolute in der Volkssprache nach dem Vorbild lateinischer Enzyklopädien und Kompendien zählt ja zu den Spezifika der ›Wiener Schule‹. Drei Hauptmerkmale jedenfalls hat das hier rekonstruierte Projekt mit anderen Produkten aus dem Wiener Theologenkreis des späten 14. und frühen 15. Jahrhunderts gemeinsam: die Verwendung einer bairisch-österreichischen Schreib- und Ausgleichssprache mit verhältnismäßig wenigen Regionalismen; eine Großanlage, die in dem möglicherweise einzig erhaltenen Fragment erkennbar ist und – kausal mit dem letzten Punkt verbunden – die Nähe zu bewährten Textenzyklopädien der Theologie. Gerade die volkssprachlichen Monumentalprojekte – die Durandus-Übersetzung,70 Simons von Ruckersberg Übersetzung der ›Moralia in Iob‹ Gregors des Großen71 oder Ulrichs Katechismus –, sind, soweit bisher erforscht, durch eine eindrückliche Texttreue gegenüber ihren lateinisch-theologischen Vorbildern ausgewiesen, wenn sich diese Abhängigkeiten auch in jedem einzelnen Fall auf unterschiedliche Weise gestalten.72 Die Autoren des Wiener Kreises hatten sich ja nicht zuletzt gegen kritische Stimmen zur Verbeitung gelehrten Wissens in deutscher Sprache zu wappnen. Man denke etwa an Ulrichs von Pottenstein Caveat, die Paraphrase oder vmbred als Übersetzungskonzept dürfe den Sinn des Ausgangstexts nicht verfälschen,73 69

Ebd., S. 334. Vgl. MORTON W. BLOOMFIELD/BERTRAND-GEORGES GUYOT/DONALD R. HOWARD, Incipits of Latin Works on the Virtues and Vices, 1100–1500 A.D. Including a Section of Incipits of Works on the Pater Noster, Cambridge 1979; SIEGFRIED WENZEL, The Continuing Life of William Peraldus’s Summa vitiorum, in: Ad litteram. Authoritative Texts and Their Medieval Readers, hg. von MARK D. JORDAN/KENT EMERY, JR. (Notre Dame Conferences in Medieval Studies 3), London 1992, S. 135–163. 70 Durandus’ Rationale in spätmittelhochdeutscher Übersetzung. Die Bücher I-VIII nach der Hs. CVP 2765, hg. von GERHARD H. BUIJSSEN (Studia Theodisca 6, 13, 15, 16), Assen 1966–1983. 71 VOLKER HONEMANN, Simon Ruckersberg. Lebensumstände, lateinische Schriften und Übersetzungen für Reinprecht II. von Walsee, in: Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark, hg. von ALFRED EBENBAUER u. a. (Jahrbuch für internationale Germanistik, Reihe A, Bd. 23), Bern 1988, S. 143–164. 72 Vgl. THOMAS HOHMANN, Heinrich von Langenstein ›Unterscheidung der Geister‹ lateinisch und deutsch (MTU 63), Zürich 1977, S. 257–267; DERS., »Die recht gelerten maister.« Bemerkungen zur Übersetzungsliteratur der Wiener Schule des Spätmittelalters, in: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050–1750), Teil 1, hg. von HERBERT ZEMAN, Graz 1986, S. 352–363. Siehe auch Ulrich von Pottenstein, DekalogAuslegung [Anm. 60] u. PUFF [Anm. 60], passim. 73 BAPTIST-HLAWATSCH [Anm. 49], S. 148,95–102: Darcou mag iich an allen steten aigne dewtich nach der latein als die lawtet vnd nach dem text liget weder geschikchen noch gefügen, wann

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oder Johannes Bischoffs Bemerkung im Vorwort seines Predigtwerks: Sar viel törhaffter priester geistleich vnd weltleich sind, die darczü mürmeln vnd vbel reden, daz man den frummen layen pücher ze dewtsch pringt,74 eine Art Legitimationsstrategie gegen eine bestimmte Form der üblen Nachrede in Sachen Laienunterweisung. Einzelstudien zu den Interferenzen zwischen lateinischen und deutschen Texten im Kontext der ›Wiener Schule‹ stehen indes noch weitgehend aus. Im Kontext der frühen Erbauungsliteratur gehört diese Predigthandschrift oder Schriftpredigt nicht einer eigenen Textsorte oder Gattung an. Vielmehr trägt der Zyklus von der üblen Nachrede die textlichen Markierungen zweier verschiedener literarischer Bezugssysteme, einer autoritativen Vorlage und einer im Medium der Schrift abrufbaren mündlichen Vortragssituation.75 Dabei besitzt das lateinische Textparadigma meines Erachtens Priorität vor dem intertextuellen Austausch in der Volkssprache. Von einem einheitlichen Predigtstil im Wiener Schrifttum des 15. Jahrhunderts zwischen Ulrich von Pottenstein, Johannes Bischoff, Nikolaus von Dinkelsbühl und Thomas Ebendorfer kann denn auch keine Rede sein.76 Es ist daher nicht gänzlich auszuschließen, daß der hier vorgeschlagene literarhistorische Horizont für ÖNB Series nova 3616 mehr auf Ähnlichkeiten im Charakter spätmittelalterlicher Erbauungsliteratur denn auf einem nachweisbaren personellen oder theologisch-inhaltlichen Zusammenhang beruht. Die Grenzstellung des Zyklus zwischen Predigt und Traktat gibt indes zu weiteren Spekulationen Anlaß. Mit dem aus germanistischer Sicht zu konstatierenden ›Mangel‹ an gattungsmäßiger Eindeutigkeit ließen sich, wenn man diesen ›Mangel‹ auf den Kopf stellt, Werke der Erbauungsliteratur gerade kennzeichnen. Die Schriftpredigt im weitesten Sinn des Worts war geeignet, zwischen einer von allen Christen erfahrenen Situation mündlicher Unterweisung in Predigtform zur weniger allgemein verbreiteten Form der Schriftunterweisung zu vermitteln. Die in Ulrichs Credo-Auslegung integrierte Predigt beispielsweise vmbred bringen an maniger itat in der ichrifft mer nucoes vor dem gemainen volkch denn aygnew dewtich als dao die gelerten wiiien, yedoch also das die warhait des iinnes mit vmbred icht verrucket werde. 74 JAMES M. CLARK, Johann Bischoff’s Prologue, The English Historical Review 47 (1932) S. 454– 461, hier S. 456. Vgl. auch Simons von Ruckersberg Vorrede zu seiner Übertragung der ›Moralia in Iob‹, zitiert nach HOHMANN, Bemerkungen [Anm. 72], S. 359. 75 NEWHAUSER [Anm. 47], S. 78–80, weist darauf hin, daß die Grenzen zwischen den Textsorten Predigt und summa de vitiis et virtutibus generell fließend waren. An dieser Stelle geht es jedoch um textinterne Merkmale von Series nova 3616. 76 Diese Aussage beruht auf Stichproben an Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek. Es sei hier mit Nachdruck darauf verwiesen, daß die zahlreichen Predigtautographen aus dem Umkreis der ›Wiener Schule‹ einen ungehobenen Schatz darstellen für die Symbiose lateinischdeutscher Literatur im 15. Jahrhundert. Zu der Frage, ob man sinnvollerweise von einem Schulzusammenhang oder einem Literaturzentrum sprechen kann, vgl. RUPPRICH [Anm. 5], S. 349– 365; HOHMANN, Bemerkungen [Anm. 72], S. 349–352; BERNHARD SCHNELL, Thomas Peuntner ›Büchlein von der Liebhabung Gottes‹. Edition und Untersuchung (MTU 81), München 1984, S. 1 u. 19–21.

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ließe sich als solche kaum stilistisch von den umgebenden Partien abgrenzen, würde sie nicht als Predigt in Text und Marginalie eingeführt oder enthielte sie nicht die Jahreszahl 1390, die aus inhaltlichen Gründen nicht ausgeschieden werden konnte.77 Allein einige Anreden des Musters ir liebsten78 scheinen im Rest des Werks selten. Nicht umsonst stellt Ulrich von Pottenstein in der Vorrede seiner katechetischen Summe fest: ich habe auch dao [...] oesammen gechlaubt aus der heiligen lerer vnd auch der andern lere vnd maister iprüchen, in iölicher maiie als ich des menigern tail etowenn cou wienn vnd anderswa mv¨ndleich gepredigt hab.79 Johannes Bischoff sieht die Funktion seines Predigtwerks sowohl darin, daß die lew¨t [...] offt nicht prediger gehaben mügen nach irs herczen lust – also in einer Leserezeption durch Laien – aber auch in der Schriftunterweisung von ungebildeten Klerikern, die das Medium der Schriftunterweisung als Hilfe für die Abfassung eigener Predigten nutzen konnten.80 Dieser Typ homiletischer Erbauungsliteratur erschuf mithin einen multifunktionalen literarischen Raum, von dem her verschiedene Benutzerinteressen und, zumindest potentiell, verschiedene Gebrauchssituationen bedient werden konnten und sollten, sowohl die Laien als auch die Kleriker, sowohl die Schriftunterweisung als auch Modelle für mündliche Predigten.81 Man kann bei dieser Multifunktionalität eine höhere Toleranzgrenze der Benutzer für textliche Residuen der einen oder anderen Art – des Traktats oder der literalen Vortragssimulation – annehmen. Es gilt jedenfalls, die literarische Uneindeutigkeit dieses Codex nicht als Begrenzung, sondern als Herausforderung anzunehmen.

III Die in den letzten Jahren aufgefundenen Textzeugen des Wiener Schrifttums könnten zudem Anlaß geben, den Wirkungskreis dieses Literaturzentrums noch einmal zu überdenken und möglicherweise auszuweiten.82 So ist es mir beispielsweise gelungen, im Wiener Schottenkloster einen bisher unbekannten Faszikel einer Credo-Auslegung Ulrichs ausfindig zu machen, eng verwandt, was 77

Wien, ÖNB, Hs. 3050, 152rb–156va. Der Zahlenallegorese zufolge konnte 1390 als y¨ wiedergegeben werden, was als Zeichen wiederum die Kirchenspaltung und das Schisma beinhaltet. 78 Ebd., 152va, 156rb. 79 BAPTIST-HLAWATSCH [Anm. 49], S. 145,73–78. 80 CLARK [Anm. 74], S. 455. Vgl. JÜRGEN PETERSOHN, Johannes Bischoff, 2VL I, Sp. 877. Zum Publikum eines Predigtzyklus aus dem 13. Jahrhundert HANS-JOCHEN SCHIEWER, ›Die Schwarzwälder Predigten‹. Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der Sonntags- und Heiligenpredigten (MTU 105), Tübingen 1996, S. 8f. u. 323–327. 81 Dazu D’AVRAY [Anm. 61], S. 104–128. Für die barocke Predigt und Predigtsammlung vgl. FRANZ M. EYBL, Gebrauchsfunktionen barocker Predigtliteratur. Studien zur katholischen Predigtsammlung am Beispiel lateinischer und deutscher Übersetzungen des Pierre de Besse, Wien 1982. 82 Vgl. ANDRA´ S VIZKELETY, Zur Überlieferung der Werke Ulrichs von Pottenstein, in: Armarium. Studia ex historia scripturae, librorum et ephemeridum. Studien aus der Geschichte der Schrift, der Bücher und der Periodica, hg. von PIROSKA DEZSE´ NYI SZEMZÖ u. LA´ SZLO´ MEZEY, Budapest 1976, S. 41–44.

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die Anordnung der sogenannten Tafelbuchstaben zeigt, mit dem wichtigsten Textzeugen der Handschrift mit der Signaturennummer 3050 aus der Österreichischen Nationalbibliothek.83 Weitere Textfunde sind zu erwarten. Im Erzbischöflichen Archiv Wien ist mir bei der Durchsicht eines in zweifacher Ausfertigung überlieferten Inventars des Domkapitels aufgefallen, daß dort ein düx Albertus, wegen der Datierung auf 1407 wohl Albrecht V. (geb. 1397), als Ausleiher einer Psalterhandschrift (psalterium argenteum) vermerkt ist (zu Erziehungszwecken?),84 was das Laieninteresse an der Rezeption religiösen Schrifttums nicht nur im literarischen Anspruch der überlieferten Werke, sondern mittels eines historischen Zeugnisses erneut zu beleuchten vermag. Unsere Kenntnis der Textzeugen aus der ›Wiener Schule‹ ließe sich wohl ebenso merklich erweitern wie die Rezeptionszeugnisse im Umfeld des österreichischen Adels vermehren. Die regionale Konzentration dieses Schrifttums garantiert außerdem eine erhöhte Durchschlagskraft in dieser Experimentierphase deutschsprachiger Erbauungsliteratur. Sollte sich die hier vorgeschlagene Zuordnung erhärten lassen, so können mit Series nova 3616 aus der Österreichischen Nationalbibliothek Wirksamkeit und Vorbildhaftigkeit dieses Schrifttums noch einmal auf andere Weise demonstriert werden und zeitlich auf die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts ausgedehnt werden.85 Einmal noch scheint die Handschrift, die nur wenige Lesespuren aufweist, benutzt worden zu sein. Ende des 16. Jahrhunderts hat ein Schreib- und Re83

Wien, Schottenkloster, Cod. 97 (olim 301). 12 ungezählte Blätter. Zustand: vor allem an den Rändern der ersten Seiten beschädigt. Es handelt sich um einen Teil aus Kapitel 21 des Gesamtwerks, dem ersten Kapitel der Credo-Auslegung Ulrichs. Dieser Faszikel ist in eine Handschrift von Johannes Bischoffs Predigtzyklus eingelegt. Der Text setzt ein mit vnd laittet ou der lieb der (wohl in unmittelbarer Fortsetzung eines nicht erhaltenen Faszikels?) und bricht ab mit Aber als pald er das vrlaub hab so erlöz er sy¨ vnd des selbigen wartten sy von Jm recht als ains Chünigs sün wie wol der nu geporn ist /. Die Einrichtung (Zweispaltigkeit; Unterstreichungen der Autoritäten; Marginalien; Tafelbuchstaben) entspricht weitgehend anderen autornahen Manuskripten. Lebende Kolumnentitel, Folioangaben und die Ausfüllung der Initialen fehlen jedoch. ALBERT HÜBL (Catalogus codicum manusciptorum qui in Bibliotheca Monasterii B.M.V. ad Scotos seruantur, Wien/Leipzig 1899, Nachdr.: Wiesbaden 1970, S. 326) bezeichnet diesen Teil der Handschrift als »Aliqua de 12 articulis fidei in wulgari«. Siehe dort (S. 326f.) für den Überlieferungszusammenhang dieses Codex. Herrn Magister Schlass sei herzlich gedankt für die Möglichkeit der Einsichtnahme und die Übersendung von Kopien. Dieser Fund wird an anderem Ort gesondert vorgestellt werden. 84 Diözesanarchiv Wien, Bestand Domkapitel, Inventar der Reliquienschatzkammer No. 1 (Abschrift No. 2), 14r. Zu Albrecht vgl. GERD KOLLER, Princeps in Ecclesia. Untersuchungen zur Kirchenpolitik Herzog Albrechts V. von Österreich (Archiv für österreichische Geschichte 124), Wien 1964. Auf S. 68 schreibt KOLLER: »Der Herzog war wohl in jungen Jahren zu schwierigen Aufgaben gegenübergestellt worden, als daß er sich viel mit Büchern hätte beschäftigen können; dennoch bleibt die Frage offen, ob der Einfluß auf seine Herrschertätigkeit nicht auch in der Literatur zu suchen sei.« 85 Hier ist an ein Rezeptionszeugnis gedacht, da die Entstehung des Zyklus nicht datiert werden kann. Zwar existieren andere Rezeptionszeugnisse des Wiener Schrifttums aus dieser Zeit, aber im Verlauf der Rezeption scheint eine Selektion stattzufinden, welche die kleineren volkssprachlichen Werke eines Nikolaus von Dinkelsbühl oder Thomas Peuntner vor den Monumentalprojekten eines Ulrich von Pottenstein, Johannes Bischoff oder des Durandus-Übersetzers privilegiert. Vgl. SCHNELL [Anm. 76], S. 233–271.

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chenkundiger das Jahr 1584 über die Zahl 1479 gesetzt und die beiden Jahreszahlen voneinander subtrahiert, um damit den zeitlichen Abstand mathematisch genau zu vermessen: so alt dz bu˘ch 105 Jar (208r).86 418 Jahre später ist die Beantwortung der Frage nach dem Kontext dieser Handschrift allerdings nicht leichter geworden. Mr. (und Mrs.) Bolton aus den ›Pickwick Papers‹ sind gefragt, um diesem verwitterten Stein an der Grenze zwischen Oralität und Literalität, zwischen Gelehrtheit und Popularisierungsversuch, zwischen Traktat und Predigt eine überzeugende Lesung abzugewinnen.

86

MENHARDT [Anm. 8], S. 1497, zufolge stammt ein weiterer handschriftlicher Eintrag aus dem 18. Jahrhundert: »/:1439:/ verbessert zu 1479 (18. Jh.)«.

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Abb. 1 Wien, ÖNB, Cod. Ser. nova 3616, Bl. 6r.

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Spirituelle Artes-Auslegung Das Beispiel der ›Predigt vom heiligen Geist‹ (15. Jh.). Mit einer Textedition.

Die deutsche Predigt des Spätmittelalters betreibt nicht nur seelsorgerische Unterweisung, sondern fungiert immer wieder auch als Instrument gelehrter Wissensvermittlung. Im Predigtwerk Meister Eckharts findet der Rekurs auf philosophische und wissenschaftliche Inhalte einen in der Volkssprache selten erreichten Höhepunkt.1 Doch gibt es in der homiletischen Praxis weitere, wenn auch weniger spektakuläre Beispiele der Applikation und Transformation von Wissen. Diese Zeugnisse verdienen nicht zuletzt deshalb Beachtung, weil sich hier in Blickrichtung auf die deutsche Predigt Umwandlungsprozesse beobachten lassen, wie etwa der Eingang gelehrter Schriftlichkeit in eine mündlichen Gebrauchskontexten verpflichtete Gattung oder die Einwirkung lateinischer Diskursstrategien auf einen volkssprachlichen Artikulationsbereich. Ein illustratives Beispiel liefert ein anonymer, bislang unveröffentlichter Text des 15. Jahrhunderts, der in den Handschriften als ›Predigt vom heiligen Geist‹ betitelt wird. Es handelt sich hierbei um eine geistliche Auslegung der Artes liberales, der sprachlichen und mathematischen Studienfächer des mittelalterlichen Unterrichtswesens. Die sieben freien Künste werden gemäß einem sensus spiritualis interpretiert und liefern mit ihren fachlichen Inhalten den Ausgangspunkt für moralisierende Anweisungen. Das Verfahren einer solchen Adaptation von Wissen ist dem Mittelalter durchaus vertraut. Die Geschichte der spirituellen Ausdeutung von Artes-Wissen kann an dieser Stelle nicht im einzelnen nachgezeichnet werden, doch sei wenigstens auf einige herausragende Beispiele verwiesen. Eine geistlich-moralische Interpretation der freien Künste findet sich etwa im Umkreis der sogenannten ›Schule von Chartres‹. Sie erscheint in einem Traktat aus dem 12. Jahrhundert, der fälschlicherweise Johannes von Salisbury zugeschrieben wurde und den Titel ›De septem septenis‹ trägt.2 Möglicherweise hat diese Schrift ›von der Siebenzahl‹ auf den friulischen Kleriker Thomasins von Zerklære gewirkt, der in seinem um 1215 entstandenen ›Welschen Gast‹ ebenfalls eine Moralisierung der Artes vornimmt.3 Im Spätmittelalter häufen sich dann Abhandlungen mit 1

Vgl. dazu die Beiträge von WALTER HAUG und FREIMUT LÖSER im vorliegenden Band. Abdruck in PL 199, Sp. 945–964. 3 Vgl. Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria, hg. von HEINRICH RÜCKERT, mit einer Einleitung und einem Register von FRIEDRICH NEUMANN (Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des Mittelalters = Nachdruck der Ausgabe Quedlinburg/Leipzig 1852 [Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 30]), Berlin 1965, Buch VII, vv. 8915–9062, S. 243–247. Zum mög2

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spiritueller Artes-Auslegung. Das Textmaterial ruht zum Großteil noch unerschlossen in den Bibliotheken. Ein wichtiges Beispiel liefert das sogenannte ›Magisterium Christi‹ des Prager Gelehrten Heinrich Honover aus dem späten 14. Jahrhundert.4 In diesem lateinischen Schriftstück tritt Christus als vorbildlicher Lehrmeister auf, erscheint als verus gramaticus, verus rhetoricus usw., der die Inhalte der einzelnen Künste geistlich ausdeutet und vorlebt. Für den deutschsprachigen Bereich sei schließlich der Dominikaner Johannes Nider genannt, der dem geistigen Milieu der sogenannten ›Wiener Schule‹ zugeordnet wird.5 Um das Jahr 1428 verfaßt Nider eine Traktatsammlung mit dem Titel ›Die vierundzwanzig goldenen Harfen‹. Dieses Werk bietet die Anleitung zu einem vollkommenen religiös-asketischen Leben; es orientiert sich am Vorbild der ›Collationes‹ des frühchristlichen Eremiten Johannes Cassianus und verrät den Einfluß Heinrich Seuses. Niders vierzehntes Kapitel (Die xiiii. harpfen) handelt von der schul der ewigen weisheit und bezieht die einzelnen Fächer des mittelalterlichen Wissenschaftssystems auf eine christliche Lebensführung.6 Die ›Predigt vom heiligen Geist‹ ist in manchem mit Niders Abhandlung vergleichbar, auch wenn es sich um jeweils unterschiedliche Textsorten handelt und die Artes-Auslegung inhaltlich jeweils anders ausgeprägt ist. In beiden Fällen wird hier ein volkssprachlich-illiterates Zielpublikum anvisiert, in beiden Fällen lassen sich Merkmale klösterlicher Seelsorge und Reformbestrebungen sowie generell ein mystisch-asketisches Umfeld erkennen. Beide Male bewegt sich der Schwerpunkt der Überlieferung im oberdeutschen Sprachgebiet. lichen Einfluß des Traktats ›De septem septenis‹ vgl. ANTON E. SCHÖNBACH, Die Anfänge des deutschen Minnesangs. Eine Studie, Graz 1898, S. 46, und DANIEL ROCHER, Thomasin von Zerklaere: Der Wälsche Gast (1215–1216), 2 Bde., The`se Paris IV 1976, Lille/Paris 1977, S. 893f., 900f. 4 Bekannte Handschriften: Praha, Knihovna prasˇke´ kapituly, Cod. 0. XXXVIII, fol. 1r–52v; Praha, Na´rodnı´ knihovna, Cod. IX. A. 4, fol. 196r (Fragment); Wrocław, Biblioteka uniwersytecka, Cod. I. F. 530, fol. 213r–242v; Warszawa, Biblioteka narodowa, Cod. lat. chart. Q.I. 168 (1944 vero brannt). Vgl. JOSEF TRˇ ISˇKA, Litera´rnı´ cˇinnost prˇedhusitske´ university (Sbı´rka pramenu a prˇ´ırucˇek k deˇjina´m university Karlovy 5), Praha 1967, S. 28f.; KARL-AUGUST WIRTH, Die kolorierten Federzeichnungen im Cod. 2975 der Österreichischen Nationalbibliothek. Ein Beitrag zur Ikonographie der Artes Liberales im 15. Jahrhundert, Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1979, S. 67–110, hier S. 90, 107f. (Anm. 154), 109 (Anm. 186); JÜRGEN STOHLMANN, Honover, Heinrich, 2VL IV, Sp. 132–137, hier Sp. 134f. 5 Vgl. EUGEN HILLENBRAND, Nider, Johannes OP, 2VL VI, Sp. 971–977; MARGIT BRAND, Studien zu Johannes Niders deutschen Schriften (Dissertationes historicae, Institutum Historicum Fratrum Praedicatorum Romae 23), Rom 1998; zur ›Wiener Schule‹ den Überblick von THOMAS HOHMANN, Die recht gelerten maister. Bemerkungen zur Übersetzungsliteratur der Wiener Schule des Spätmittelalters, in: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050–1750), hg. von FRITZ PETER KNAPP u. HERBERT ZEMAN, Graz 1986, S. 349–365. 6 Vgl. ULLA WILLIAMS, Schul der weisheit. Spirituelle artes-Auslegung bei Johannes Nider. Mit Edition der ›14. Harfe‹, in: Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Kurt Ruh zum 75. Geburtstag, hg. von KONRAD KUNZE [u. a.] (TTG 31), Tübingen 1989, S. 391–424; JOHANNES NIDER, ›Die vierundzwanzig goldenen Harfen‹. Edition und Kommentar, hg. von STEFAN ABEL (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 60), Tübingen 2011.

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Von der ›Predigt vom heiligen Geist‹ (PvhG) sind bislang sechs Überlieferungsträger, allesamt Papierhandschriften, bekannt7 (im folgenden nur die wichtigsten Angaben, ausführlichere Beschreibungen jeweils in der verzeichneten Literatur): A = München, BSB, Cgm 830, fol. 187v–200v I + 247 Bl. (143 x 100 mm) – ca. Mitte des 15. Jhs. – Provenienz: Augsburg, St. Ulrich und Afra – Schrift wohl von einer Hand (Bl. 1r–222r): Bastarda, einspaltig – Mundart: ostschwäbisch – Sammlung geistlicher Texte u. a. von Heinrich von Friemar (›De IV instinctibus‹, dt. Bearb.), Johannes von Indersdorf, Seuse, David von Augsburg.8

B

= Berlin, SBB-PK, mgq 1134, fol. 1r–11v 213 Bl. (207 x 150 mm) – datiert auf 1490 (fol. 201v) – Provenienz: Augsburg, Dominikanerinnen, St. Katharina, ›auf dem Gries‹ – Schrift der PvhG und des ›Eucharistie-Traktats‹ (s. u.) von derselben Hand: Bastarda, einspaltig – Mundart: bairisch – enthält u. a. ›Taulers Bekehrung‹ und Marquards von Lindau ›Eucharistie-Traktat‹.9

G = Graz, UB, Ms. 1035, fol. 335r – 344v 468 Bl. (210 x 150 mm) – 2. Hälfte des 15. Jhs. – Provenienz: unbekannt – Schrift der PvhG: Bastarda, einspaltig – Mundart: bairisch – enthält u. a. ›Der Altväter und Einsiedler Rede und Lehre‹, ›Sprüche und Lehren der Bibel und der Heiligen‹, Heinrichs von Friemar ›De IV instinctibus‹ (dt. Bearb.)10 7

Einen ersten Hinweis auf die Predigt erhielt ich während der Vorbereitung meines Habilitationsprojekts zu Artes-liberales-Zyklen in lateinischen und deutschen Handschriften des Mittelalters durch Konsultation des Sachregisters in: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 691–867, neu beschr. von KARIN SCHNEIDER (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis. Tomus V, Editio altera, Pars 5), Wiesbaden 1984, hier S. 750b, 755a. Aus der in diesem Katalog enthaltenen Beschreibung von zweien der Münchener Handschriften und dem dortigen Hinweis auf THOMAS HOHMANN, Discretio spirituum. Text und Untersuchung zur ›Unterscheidung der Geister‹ bei Heinrich von Langenstein, Diss. Würzburg 1972, Würzburg 1975, konnten die übrigen vier Überlieferungsträger erschlossen werden. Vgl. die Stellenangaben in den folgenden Anmerkungen. Weitere Handschriften zur PvhG ließen sich trotz Bemühens bislang nicht ausfindig machen. Die erwähnte Habilitationsschrift ist erschienen unter dem Titel: Artes-liberales-Zyklen. Formationen des Wissens im Mittelalter (Bibliotheca Germanica 47), 2 Bde., Tübingen/Basel 2004. 8 Vgl. HOHMANN, Discretio spirituum [Anm. 7], Anlage (Verweis); Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 691–867 [Anm. 7], S. 515–522; zur Handschrift mit weiterer Literatur auch: http://www.handschriftencensus.de/6296 (Zugriff am 23.2.2012). 9 Vgl. Kurzes Verzeichnis der germanischen Handschriften der Preußischen Staatsbibliothek, von HERMANN DEGERING, Bd. 2: Die Handschriften in Quartformat (Mitteilungen aus der Preußischen Staatsbibliothek 8), Leipzig 1926, S. 196f.; ANNELIES JULIA HOFMANN, Der EucharistieTraktat Marquards von Lindau (Hermaea NF 7), Tübingen 1960, S. 45–47; HOHMANN, Discretio spirituum [Anm. 7], S. 30 (Verweis); SIGRID KRÄMER, Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters, Teil 1: Aachen-Kochel (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Ergänzungsbd. 1), München 1989, S. 44 (zur Provenienz); MARKUS BAUMANN, Das ›Meisterbuch‹ des Rulman Merswin. Textgeschichte und Teiledition, Diss. Eichstätt 1992, S. 91f.; SABINE JANSEN, Die Texte des Kirchberg-Corpus’. Überlieferung und Textgeschichte vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, Diss. Köln 2002, Köln 2005, S. 56; zur Handschrift mit weiterer Literatur auch: http://www.handschriftencensus.de/11948 (Zugriff am 23.2.2012). 10 Vgl. Die Handschriften der Universitätsbibliothek Graz, bearb. von ANTON KERN, Bd. 2 (Handschriftenverzeichnisse Österreichischer Bibliotheken. Steiermark), Wien 1956, S. 199f.; HOH-

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M

= München, BSB, Cgm 784, fol. 146r–153r, 154r/v (Vertauschung von fol. 154/153) I + 290 Bl. (212–215 x 152 mm) – datiert auf 1458 (fol. 157v) – Provenienz: Kloster Scheyern – Schrift (Bl. 9r–277v): Bastarda, einspaltig (Schreiber: Stee e phan Huczguet, Laienbruder in Scheyern, vgl. fol. 157v) – Mundart: mittelbairisch – Sammlung geistlicher Traktate und Kurztexte (Exzerpte) u. a. von Meister Eckhart, Marquard von Lindau, Heinrich von Friemar (›De IV instinctibus‹, dt. Bearb.), Seuse.11

N

= München, BSB, Cgm 248, fol. 195ra – 198rb II + 196 Bl. (308 x 220 mm) – 2. Hälfte des 15. Jhs. – Provenienz: Kloster Tegernsee – Schrift der PvhG (Nachtrag von 2. Hand): Bastarda, zweispaltig – Mundart: bairisch-österreichisch – enthält sonst, von einer Haupthand, ausschließlich deutsche Predigten des sog. Nikolaus-von-Dinkelsbühl-Redaktors.12

S

= Salzburg, St. Peter, Cod. b V 40, fol. 342v–359r 467 Bl. (216 x 147 mm) – datiert auf 1471 (Bl. 467r) – Herkunft: Salzburg, Frauenkonvent St. Peter – Schrift: Bastarda, einspaltig (Schreiberin: Anna Ammanin, vgl. Bl. 467r) – Mundart: bairisch-österreichisch – enthält Predigten und geistliche Texte u. a. von Tauler, Meister Eckhart, Seuse, Johannes von Indersdorf.13

MANN,

Discretio spirituum [Anm. 7], Anlage (Verweis); Der Traktat Heinrichs von Friemar über die Unterscheidung der Geister. Lateinisch-mittelhochdeutsche Textausgabe mit Untersuchungen (Cassiciacum 32), hg. von ROBERT G. WARNOCK u. ADOLAR ZUMKELLER, Würzburg 1977, S. 42 (Nr. 13a) und 94–96; zur Handschrift mit weiterer Literatur auch: http://www.handschriftencensus.de/4834 (Zugriff am 23.2.2012). 11 Vgl. HOHMANN, Discretio spirituum [Anm. 7], S. 25–34, und Anlage; GEORG STEER, Hugo Ripelin von Straßburg. Zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des ›Compendium theologicae veritatis‹ im deutschen Spätmittelalter (TTG 2), Tübingen 1981, S. 351f.; Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 691–867 [Anm. 7], S. 333–341; WERNER WILLIAMS-KRAPP, Die süddeutschen Übersetzungen der ›Imitatio Christi‹. Zur Rezeption der ›Devotio moderna‹ im oberlant, in: Aus dem Winkel in die Welt. Die Bücher des Thomas von Kempen und ihre Schicksale, hg. von ULRIKE BODEMANN u. NIKOLAUS STAUBACH (Tradition – Reform – Innovation 11), Frankfurt a. M. 2006, S. 65–79, hier S. 76 (Nr. 14); BETTINA WAGNER, piechlein mit vil stycklein. Die Eckhart-Handschriften in der Bayerischen Staatsbibliothek München, in: Meister Eckhart in Augsburg. Deutsche Mystik des Mittelalters in Kloster, Stadt und Schule. Katalog zur Handschriftenausstellung in der Schatzkammer der Universitätsbibliothek Augsburg (18. Mai bis 29. Juli 2011), hg. von FREIMUT LÖSER, ROBERT STEINKE u. GÜNTER HÄGELE, Augsburg 2011, S. 34–48, hier S. 44 (Nr. 33); zur Handschrift mit weiterer Literatur auch: http://www.handschriftencensus.de/6282 (Zugriff am 23.2.2012). 12 Vgl. HERMANN MENHARDT, Nikolaus von Dinkelsbühls deutsche Predigt vom Eigentum im Kloster, ZfdPh 73 (1954), S. 1–39, 268–291, hier S. 32; HOHMANN, Discretio spirituum [Anm. 7], S. 30 (Verweis); Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 201–350, neu beschr. von KARIN SCHNEIDER (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis. Tomus V, Editio altera, Pars 2), Wiesbaden 1970, S. 132–134; Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 691–867 [Anm. 7], S. 338, 521 (Verweise); CHRISTIAN BAUER, Geistliche Prosa im Kloster Tegernsee. Untersuchungen zu Gebrauch und Überlieferung deutschsprachiger Literatur im 15. Jahrhundert (MTU 107), Tübingen 1996, S. 80, 183. Zum sog. Nikolaus-von-Dinkelsbühl-Redaktor unten, S. 62 mit Anm. 23; zur Handschrift auch: http://www.handschriftencensus.de/9444 (Zugriff am 23.2.2012). 13 Vgl. Die deutschen Handschriften des Mittelalters der Erzabtei St. Peter zu Salzburg, bearb. von GEROLD HAYER (Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Denkschriften,

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Die Handschriften stammen allesamt aus der Mitte bzw. zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Bei den ursprünglichen Herkunftsorten handelt es sich – soweit sich diese identifizieren lassen – vorwiegend um Benediktinerklöster, die der Melker Reform unterstehen: St. Ulrich und Afra in Augsburg, Scheyern, Tegernsee, Frauenkonvent St. Peter in Salzburg. Die Schreibermundart ist in Cgm 830 ostschwäbisch, sonst bairisch. Überlieferungskontexte der in einigen Fällen inhaltlich eng verwandten Handschriften14 verweisen auf oberdeutsche Mystik und Erbauungsliteratur. Es finden sich Namen wie David von Augsburg, Tauler, Seuse, Marquard von Lindau und Nikolaus von Dinkelsbühl, ferner Texte der Altväterliteratur. Die nachstehenden Ausführungen folgen der Handschrift aus St. Ulrich und Afra in Augsburg (Cgm 830), dem ältesten Textzeugen, der die ›Predigt vom heiligen Geist‹ am sorgfältigsten und zuverlässigsten überliefert.15 Im Hinblick auf Einteilungsschemata der mittelalterlichen Ars praedicandi16 läßt sich die inhaltliche Gliederung der Predigt wie folgt beschreiben: Den einleitenden Textspruch (Z. 2) liefert ein Satz aus dem Johannes-Evangelium: Wann nun kompt der gay¨st der warhay¨t, so wirtt er eüch lernen alle warhay¨t (Io 16,13). Dieser Satz gehört zu einer Schriftlesung – Io 16,5–14 –, die im liturgischen Jahr ihren festen Platz hat. In den Perikopen des römischen und monastischen Ritus17 erscheint sie am vierten Sonntag nach Ostern, also zur Bd. 154; Veröffentlichungen der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters, Reihe III, Bd. 1), Wien 1982, S. 286–296; Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 691–867 [Anm. 7], S. 338 (Verweis); JOHANNES GOTTFRIED MAYER, Die ›Vulgata‹-Fassung der Predigten Johannes Taulers. Von der handschriftlichen Überlieferung des 14. Jahrhunderts bis zu den ersten Drucken (Texte und Wissen 1), Würzburg 1999, S. 266f.; Pseudo-Engelhart von Ebrach. Das Buch der Vollkommenheit (Deutsche Texte des Mittelalters 86), hg. von KARIN SCHNEIDER, Berlin 2006, S. XIX; zur Handschrift mit weiterer Literatur auch: http://www.handschriftencensus.de/8426 (Zugriff am 23.2.2012). 14 Vgl. bes. den engen Zusammenhang von A, G, M. Dazu WERNER HÖVER, Theologia Mystica in altbairischer Übertragung. Bernhard von Clairvaux, Bonaventura, Hugo von Balma, Jean Gerson, Bernhard von Waging und andere (MTU 36), München 1971, S. 189f., 236; synoptische Übersicht bei HOHMANN, Discretio spirituum [Anm. 7], Anlage; DERS., Heinrichs von Langenstein ›Unterscheidung der Geister‹, lateinisch und deutsch. Texte und Untersuchungen zu Übersetzungsliteratur aus der Wiener Schule (MTU 63), Zürich/München 1977, S. 9. 15 Dieses Urteil gründet sich auf die gewissenhafte Einrichtung der Handschrift (Rubrizierung, Randnotizen), ferner auf die Tatsache, daß Cgm 830 den Text vergleichsweise am vollständigsten wiedergibt. In den übrigen Handschriften finden sich wiederholt Auslassungen, etwa derart, daß bei zwei aufeinanderfolgenden Autoritätenzitaten (Es spricht X: [Zitat x]. Es spricht Y: [Zitat y]) das Zitat x und die darauffolgende inquit-Formel von Y entfallen, wodurch das Zitat y fälschlich unter der inquit-Formel von X läuft, ein Versehen, das sich durch Quellennachweis als Fehler bestimmen läßt. – Die Textwiedergabe entspricht dem nachfolgenden Textabdruck. 16 Vgl. TH[OMAS]-M[ARIE] CHARLAND, Artes Praedicandi. Contribution a` l’histoire de la rhe´torique au Moyen Age (Publications de l’Institut d’E´tudes Me´die´vales d’Ottawa 7), Paris/Ottawa 1936; JAMES J. MURPHY, Rhetoric in the Middle Ages. A History of Rhetorical Theory from Saint Augustine to the Renaissance, Berkeley [usw.] 1974, S. 269–355; ALBERT LANG, Die Katharinenpredigt Heinrichs von Langenstein. Eine programmatische Rede des Gründers der Wiener Universität über den Aufbau der Glaubensbegründung und die Organistation der Wissenschaften. II. Charakter und Aufbau der Katharinenpredigt, Divus Thomas (Freiburg/Schweiz) 26 (1948), S. 233–250, bes. S. 239–245. 17 Vgl. z. B. zum römischen Ritus: Liber missalis secundum breviarium chori ecclesie Ratisponen-

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Vorbereitungszeit des Pfingstfestes. In der ›Predigt vom heiligen Geist‹ wird der Satz mit Berufung auf Autoritäten wie Dionysius Areopagita und Augustinus dahingehend gedeutet, daß der Wille des Menschen dem Willen Gottes entsprechen solle (Z. 4–18). Dies in dreierlei Hinsicht: gemäß dem physischen Vermögen (vermüglichay¨t) des Menschen sowie gemäß seinen intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten (erkanttlichait – begirlichait). Solchermaßen den Willen Gottes zu erfüllen, lehre der heilige Geist, von dem Johannes im 16. Kapitel sage: ›er wird euch lehren alle Wahrheit‹ (Z. 19–36). Mit dem Stichwort ›lehren‹ ist nun das Thema der Predigt benannt: Laut dem o heiligen Augustinus sei ware gay¨stlichay¨t ... ain schul aller tugend und zucht (Z. 37f.). In dieser Schule wirke der heilige Geist als Erzieher und lehre die sy¨ben frey¨en künst gay¨stlich zuo verstan (Z. 50f.). Es schließt sich eine Deutung der einzelnen Artes an. Sie erfolgt im Rahmen einer gliedernden Übersicht des Themas (divisio, Z. 51–58): Dann zuo dem ersten so lert er uns durch die Gramatick leben in rainikay¨t der gewissen. Zuom andern durch Loy¨cam lert er uns die welt verschmächen und fliechen. Zuom dritten lert er uns durch Rethorick under gott in gemüt und dem gay¨st gediemütiget werden. Zuom vierden durch Musick lert er uns diemütiklich betten. Zuom fünfften durch Arismetricam lert er uns zelen die guottät gotz und darumb danckpar sein. Zuom sechsten durch Geometry¨ lert er uns messen y¨rdische ding und hy¨mlische. Zuom sy¨benden durch Astronomy¨ lert er uns nachvolgen dem leben der hay¨ligen vätter.

Diese Interpretation der freien Künste wirkt einigermaßen willkürlich, doch ist sie im einzelnen sorgfältiger gestrickt, als dies im Überblick der divisio zunächst den Anschein hat. Die anschließende Durchführung (prosecutio) macht dies deutlich. Dort heißt es beispielsweise von der Grammatik (Z. 60–63): Zuo dem ersten lert uns der hay¨lig gaist Gramatick, die da ist ain grundfest aller kunst, dann sy¨ lert lesen verstan und ordenlich reden. Also auch der hay¨lig gay¨st lert uns zuom ersten rainikay¨t der gewissen, die da ist ain anfang und zierd aller tugend.

Die Grammatik wird gemäß der spätantik-mittelalterlichen Lehrtradition als grundfest aller kunst18 verstanden. Damit ist das tertium comparationis für die sis, Johannes Sensenschmidt & Johannes Bekenhaub, Regensburg 1485, S. CXXv/CXXIr; Missale secundum ritum Augustensis ecclesie, Erhard Ratdolt, Augsburg 1510, S. LXXXr; ferner PAUL PIETSCH, Ewangely und Epistel Teutsch. Die gedruckten hochdeutschen Perikopenbücher (Plenarien) 1473 – 1523. Ein Beitrag zur Kenntnis der Wiegendrucke, zur Geschichte des deutschen Schrifttums und der deutschen Sprache, insbesondere der Bibelverdeutschung und der Bibelsprache, Göttingen 1927, S. 68. Zum monastischen Ritus bei den Benediktinern: Missale sacerrimi ordinis beati Benedicti, Johannes Sensenschmidt, Bamberg 1481, S. XCIIIr; in den Bettelorden: MAURA O’ CARROLL, The Lectionary for the Proper of the Year in the Dominican and Franciscan Rites of the Thirteenth Century, Archivum Fratrum Praedicatorum 49 (1979), S. 79– 103, hier S. 94. 18 Fundamentum liberalium litterarum – so schon Cassiodor (Cassiodori Senatoris Institutiones, hg. von R[OGER] A[UBREY] B[ASKERVILLE] MYNORS, Oxford 1937, 21963, Lib. II,4, S. 91, Z. 5) und

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Auslegung gewonnen: Wie die Grammatik die Basis aller übrigen Studienfächer liefert, so gilt ein reines Gewissen als anfang und zierd aller tugend. Die Deutung der Rhetorik lautet folgendermaßen (Z. 154–159): o o Zu dem dritten so lert der hay¨lig gaist Rethorick. Die selbig kunst lert kluglich reden latein und brieff schreiben, dar inn sich ainer gegen dem andern nidert und diemütiget. Also der hay¨lig gaist, wann er uns macht gott rainiklichen dienen und den leib, welt und den bösen gaist verschmechen, so macht er dann, das wir uns in ainem verlaugen aigens willes gott diemütiklich underwerffen [...].

Der Absatz beruft sich auf die mittelalterliche Brieflehre (Ars dictaminis): Rhetorik lehre nicht nur, auf Lateinisch verständig zu reden, sondern unterrichte außerdem in der Kunst des Briefeschreibens, dar inn sich ainer gegen dem andern nidert und diemütiget. Hier bildet die Stilistik von Demutsformeln, wie sie die Brieflehre enthält, das tertium comparationis für die Auslegung der Rhetorik auf demütige Gottesfurcht. Durch Arithmetik, die Rechenkunst, leite der heilige Geist dazu an, die göttlichen Heilstaten zu zählen, und folglich dafür dankbar zu sein (Z. 192–195): Zuom fünfften so lert uns der hay¨lig gaist Arismetrick. Dann er lert uns zelen alle guottät gotz uns geschechen, alz die schöpffung und widerschöpffung, erlösung, gebung der sacrament und verhayssung seins reichs. Wann wir nun das wöl gezellen, so gehört darzuo ain sagen der danckpärkay¨t.

Und Astronomie schließlich beobachte den Lauf der Planeten, entsprechend mahne der heilige Geist, dem Vorbild der Altväter – gleich Leitpunkten am Himmel – zu folgen (Z. 223–225): Zuo dem sybenden lert uns der hay¨lig gaist Astronomy¨. Das ist schawen den lauff der planeten und sterrn. Das ist, er lert uns mercken das leben der hay¨ligen vätter.

Die Artes-Deutungen werden jeweils ausführlich durch Zitate der Bibel und Kirchenlehrer abgestützt. Zur Illustration sind vereinzelt auch Exempla eingestreut. Die Anlage zweier Abschnitte soll in einem nächsten Analyseschritt exemplarisch untersucht werden, doch ist zuvor der Aufbau der Predigt und ihre argumentative Stoßrichtung weiter zu verfolgen. Der Artes-Auslegung schließt sich ein Abschnitt an, in dem drei Bücher vorgestellt werden, durch die der heilige Geist seine Lehre vermittelt (Z. 245–329). Die Bücher richten sich an je verschiedene Zielgruppen, die in ihrer religiösen Entwicklung unterschiedlich weit fortgeschritten sind. Den Hintergrund des Abschnitts liefert die im geistlichen Schrifttum des Mittelalters verbreitete AuffasIsidor von Sevilla (Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum Libri XX, hg. von W[ALLACE] M[ARTIN] LINDSAY, Oxford 1911, 61985, Lib. I,V,1). Vgl. zur grundlegenden Funktion der Grammatik innerhalb des Artes-Studiums auch R[UDOLF] WITTKOWER, Grammatica: From Martianus Capella to Hogarth, Journal of the Warburg Institute 2 (1938/39), S. 82–84, hier S. 83; JEFFREY F. HUNTSMAN, Grammar, in: The Seven Liberal Arts in the Middle Ages, hg. von DAVID L. WAGNER, Bloomington (Indiana) 1983, S. 58–95, hier S. 59–61; STOLZ, Artes-liberales-Zyklen [Anm. 7], S. 58f.

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sung von der Welt als Buch. So wird den anfachenden menschen das Buch vom Erdreich zum Studium vorgelegt, den würckenden jenes des Firmaments, den volkommen menschen jenes des Feuerhimmels (Z. 246–248).19 Mit diesem Aufstieg vom Erdboden zu den Höhen des Coelum empyreum findet die Predigt im übrigen einen eleganten Anschluß zur Disziplin der Astronomie, die unmittelbar zuvor beschrieben wird. Die allegorische Deutung der drei Bücher bzw. der durch sie repräsentierten Räume gestaltet sich folgendermaßen: Die Erde als schwächstes der Elemente verweist die Anfangenden auf ihre moralische Unzulänglichkeit (Z. 249–269). In diesem Zusammenhang erfolgen Anweisungen zum rechten Verhalten in der Klostergemeinschaft. Das Firmament, der täglich die Welt umkreisende Sternenhimmel, mahnt sodann die in ihrem religiösen Streben bereits weiter Fortgeschrittenen, Tag für Tag ihren christlichen Pflichten nachzukommen und so ihren lauff zu vollbringen (Z. 270–318).20 Der Feuerhimmel schließlich veranlaßt die Vollkommenen, sich in göttlicher caritas zu entzünden und ihren Nächsten als Vorbild zu leuchten (Z. 319–329). An dieser Stelle bricht die Predigt mit einer kurzen Gebetsformel (verleich uns der allmächtig gott. Amen) ab. Ein ausführliches Schlußwort fehlt, doch ist dieses Fehlen in Theorie und Praxis der mittelalterlichen Predigt durchaus verbreitet.21 Insgesamt gesehen bekundet die ›Predigt vom heiligen Geist‹ einen stark moralisierenden Impetus. Bestände mittelalterlichen Wissens – die Artes, Erdund Himmelskunde – werden hier dazu genutzt, ein offensichtlich klösterliches Publikum zu religiösem Verhalten anzuleiten. Deutlich lassen sich Bezüge zum Programm der ›Vierundzwanzig goldenen Harfen‹ des Johannes Nider erkennen. Hier wie dort wird der Aufstieg zu christlicher Vollkommenheit beschrieben, hier wie dort fungiert die Askese der frühchristlichen Wüstenväter als leitendes Vorbild. 19

Vgl. zur Vorstellung der Welt als Buch HANS BLUMENBERG, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 21983, S. 47–67; HUBERT HERKOMMER, Buch der Schrift und Buch der Natur. Zur Spiritualität der Welterfahrung im Mittelalter, mit einem Ausblick auf ihren Wandel in der Neuzeit, in: Nobile claret opus. Festgabe für Frau Prof. Dr. Ellen Judith Beer zu 60. Geburtstag (= Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 43, H. 1, 1986), S. 167–178 (mit weiterer Literatur). Zum verbreiteten Modell des Dreistufenwegs vom anfangenden über den fortschreitenden (würckenden) zum vollkommenen Menschen, das sich u. a. in Bonaventuras ›De triplici via‹ (Kap. 25,3) greifen läßt, KURT RUH, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 2: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit, München 1993, S. 428–431. 20 Eingefügt ist hier ein Exempel aus dem leben der vätter (Z. 280–318): Ein Engel führt einen o o gutten bruder an fünf Orte, die in ihrer Eigenart bzw. mit ihren Bewohnern Verfehlungen geistlichen Lebens bezeichnen. Zuletzt zeigt der Engel dem Bruder ein Haus mit Kristallfeuer als Sinnbild geistlicher Läuterung. Es ist mir bislang, auch nach der Befragung von Spezialisten, nicht gelungen, eine Quelle zu eruieren. In den gängigen Fassungen der ›Vitas patrum‹ scheint die Erzählung nicht nachweisbar zu sein. 21 Vgl. CHARLAND [Anm. 16], S. 217f.; MURPHY [Anm. 16], S. 325, 331f., 333; LANG [Anm. 16], S. 244.

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Diese moralisierende Ausrichtung dürfte in Verbindung mit monastischen Reformbewegungen des 15. Jahrhunderts stehen. Für Johannes Nider ist ein solcher Bezug im Zusammenhang mit der dominikanischen Observanzbewegung und der Reform des Nürnberger Katharinenklosters erwiesen. Für die anonyme ›Predigt vom heiligen Geist‹ ist an die Melker Reform22 zu erinnern, die sich, gefördert von Angehörigen und Absolventen der Wiener Universität, in österreichischen und bayerischen Benediktinerklöstern abspielt – so u. a. in Überlieferungszentren der Predigt wie St. Ulrich und Afra in Augsburg, Scheyern, Tegernsee und St. Peter in Salzburg. Die Tegernseer Handschrift (N = Cgm 248) liefert sogar einen besonders deutlichen Hinweis auf die Melker Reform. Neben der am Schluß von zweiter Hand angefügten ›Predigt vom heiligen Geist‹ finden sich dort ausschließlich deutsche Predigten nach Nikolaus von Dinkelsbühl, dem bedeutenden Wiener Universitätslehrer und führenden Initiator der Melker Reformbewegung.23 Die in der ›Predigt vom heiligen Geist‹ wohl vor diesem Hintergrund vorgenommene Moralisierung von Artes-Wissen soll im folgenden näher untersucht werden. Dazu sind zwei besonders aussagekräftige Abschnitte heranzuziehen, jener zur Logik (Z. 104–153) und jener zur Musik (Z. 173–191). Die moralisierende Deutung der Logik gründet sich auf die Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen (Z. 104f.), einem klassischen Bestandteil des dialektisch-logischen Lehrprogramms.24 Außerdem heißt es, daß die Logik das straffen lehre (Z. 105). Damit ist ein Hinweis auf die Rechtspraxis gegeben, 22

Vgl. VIRGIL REDLICH, Tegernsee und die deutsche Geistesgeschichte im 15. Jahrhundert (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 9), München 1931; GERDA KOLLER, Princeps in ecclesia. Untersuchungen zur Kirchenpolitik Herzog Albrechts V. von Österreich (Archiv für österreichische Geschichte 124), Wien 1964, S. 78–111; JOACHIM ANGERER, Die liturgisch-musikalische Erneuerung der Melker Reform. Studien zur Erforschung der Musikpraxis in den Benediktinerklöstern des 15. Jahrhunderts (SB der österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Bd. 287, Abh. 5; Veröffentlichungen der Kommission für Musikforschung 15), Wien 1974, S. 29–75; META NIEDERKORN-BRUCK, Die Melker Reform im Spiegel der Visitationen (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsbd. 30), Wien/München 1994; BAUER [Anm. 12], bes. S. 7–9; ULRIKE TREUSCH, Bernhard von Waging (†1472), ein Theologe der Melker Reformbewegung. Monastische Theologie im 15. Jahrhundert? (Beiträge zur historischen Theologie 158), Tübingen 2011. 23 Vgl. oben, S. 58. Zu Nikolaus von Dinkelsbühl: ALOIS MADRE, Nikolaus von Dinkelsbühl. Leben und Schriften. Ein Beitrag zur theologischen Literaturgeschichte (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 40,4), Münster 1965; DERS., Nikolaus von Dinkelsbühl, 2VL VI, Sp. 1048–1059; zu seiner Rolle bei der Melker Reform HOHMANN, Heinrichs von Langenstein ›Unterscheidung der Geister‹ [Anm. 14], S. 273f., DERS., Die recht gelerten maister [Anm. 5], S. 351. Die unter Nikolaus’ Namen laufenden deutschen Predigten sind wohl alle das Werk eines Redaktors; dazu MENHARDT [Anm. 12], und bes. HOHMANN, Die recht gelerten maister [Anm. 5], S. 360f., DERS., Nikolaus-von-Dinkelsbühl-Redaktor, 2VL VI, Sp. 1059–1062. 24 Vgl. PIERRE MICHAUD-QUANTIN, L’Emploi des termes logica et dialectica au Moyen Age, in: Arts libe´raux et philosophie au Moyen Age. Actes du quatrie`me congre`s international de philosophie me´die´vale. Universite´ de Montre´al, Montre´al, Canada, 27 aouˆt – 2 septembre 1967, Montre´al/Paris 1969, S. 855–862; JAN PINBORG, Logik und Semantik im Mittelalter. Ein Überblick. Mit einem Nachw. von HELMUT KOHLENBERGER (Problemata 10), Stuttgart-Bad Cannstatt 1972, S. 65–69; STOLZ, Artes-liberales-Zyklen [Anm. 7], S. 59–61.

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einen der Anwendungsbereiche logischer Techniken im Mittelalter.25 In der Auslegung werden die benannten Lehrgegenstände dahingehend interpretiert, daß der heilige Geist den Menschen ermahne, Wahres vom Falschen zu sondern und zu streitten wider das flay¨sch, wider die welt und den bösen gaist (Z. 107f.). Das straffen als Applikation logischen Bemühens wird hier also bezogen auf die Abwehr von Anfechtungen wie Fleischeslust, weltlichem Genuß und übler Gesinnung. Die anschließende Durchführung folgt streng dieser Anordnung. Nacheinander treten Personifikationen des Leibes, der Welt und des bösen gaists auf, um ihre Standpunkte vorzutragen. Stets jedoch werden die Argumente durch den heiligen Geist entkräftet, der die Einwände seinem Schüler vorgibt. Das Verfahren ähnelt jenem einer logischen Disputation, wo sich zunächst gegensätzliche Meinungen im Pro und Contra kreuzen, um anschließend einer Conclusio zugeführt zu werden.26 Im Hintergrund könnten auch Textsammlungen wie Abaelards ›Sic et non‹ stehen, die einander widersprechende Bibel- und Autoritätenzitate gegenüberstellen. So führt im ersten Teilabschnitt (Z. 109–117) der personifizierte Leib eine Stelle aus dem alttestamentlichen Buch Ecclesiastes an (nicht Ecclesiasticus, wie alle sechs Handschriften an dieser Stelle glauben machen): Ich han gelobt die fröd der menschen. Was ist bessers under dem hy¨mel dann essen und trincken, wol leben und wollust haben (Z. 110f., nach Ecl 8,15). Unverzüglich erfolgt die Replik mit einem Wort aus Paulus’ Galaterbrief: Aber der hay¨lig gay¨st lertt sein o schuler anttwurtten, das da spricht der zwölffpott: Die in lust des leibs send, mügent Cristo nit wol gefallen. Der leib begert wider den gaist und der gaist wider den leib (Z. 111–114, nach Gal 5,16f.). Eine zweite Replik beruft sich auf den Philosophen Aristoteles: Es spricht auch Aristotiles: Wollust ist wider wollust, alz ob er spräch: wollust des leibs ist wider wollust des gaists (Z. 114f.).27 Zusammen mit dem Galaterbrief wird hier also ein dem antiken Philosophen zugeschriebener Satz gegen das alttestamentliche Ecclesiastes-Zitat ausgespielt. Die im Rekurs auf Aristoteles gewonnene Unterscheidung zweier Arten von Wollust, jener des Leibes und jener des Geistes, dient auch als Grundlage der abschließenden Conclusio. Diese spricht sich zu Lasten leiblicher Annehmlichkeiten für ein Leben im Geiste aus: Wann nun der gaist ist ainer hy¨mlischen natur und der leib ainer y¨rdischen, darumb so sol man dem gaist leben (Z. 115– 117). 25

Vgl. ANNETTE VOLFING, Heinrich von Mügeln. ›Der meide kranz‹. A Commentary (MTU 111), Tübingen 1997, S. 76. 26 Vgl. L[UDWIG] HÖDL u. a., Disputatio(n), LexMa III, Sp. 1116–1120; JÜRGEN MIETHKE, Die mittelalterlichen Universitäten und das gesprochene Wort (Schriften des historischen Kollegs. Vorträge 23), München 1990; OLGA WEIJERS, Queritur utrum. Recherches sur la disputatio dans les universite´s me´die´vales (Studia artistarum 20), Turnhout 2009; ANITA TRANINGER, Disputatio. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus (Text und Kontext), Stuttgart 2012. 27 Zur Unterscheidung von delectatio corporalis und delectatio spiritualis vgl. beispielsweise Thomas von Aquin: In quattuor libros sententiarum, hg. von R. BUSA [u. a.] (S. Thomae Aquinatis Opera omnia 1), Stuttgart-Bad Cannstatt 1980, IV, ds 49, qu 3, ar 4a, rc 2, S. 693.

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Die beiden nächsten Teilabschnitte lassen dasselbe argumentative Grundmuster erkennen, obschon dort die Schlußfolgerung jeweils spezifische Ausformungen annimmt. Zu Beginn des zweiten Absatzes legitimiert sich die personifizierte Welt durch ein Psalmenzitat Gott hatt dem herren geben den himel, aber das ertrich hatt er geben den sünen der menschen (Z. 119f., nach Ps 113,24). Der heilige Geist kontert mit einem Vers aus dem ersten Johannesbrief: Ir send nit lieb haben die welt noch die ding, die in der welt sind (Z. 122, nach I Io 2,15). Ein zweiter Einwand argumentiert mit Sprüchen des Weisen aus jenem Buch Ecclesiastes, das eingangs der personifizierte Leib gegen den heiligen Geist ins Feld geführt hat: Ich han gesechen alle ding, die under der sunnen send und gehandelt werdent, und die send nichtzit anderst dann ain üppikay¨t der üppikay¨t und ain peinigung des gaistz (Z. 123–126, nach Ecl 1,14). Anstelle einer eigentlichen Conclusio folgt nunmehr ein illustratives Exempel, das zusätzlich durch Autoritätenzitate abgestützt wird (Z. 127–144). Es handelt sich um den Topos der Frau Welt, der in spätmittelalterlichen Text- und Bildzeugnissen mannigfach ausgeprägt ist. Zu erinnern wäre an Exempelsammlungen, Predigten und Verserzählungen wie z. B. Konrads von Würzburg ›Der Welt Lohn‹, ferner an ikonographische Darstellungen, etwa die Skulptur am Südportal des Doms zu Worms.28 Wie Konrad von Würzburg so schildert auch die ›Predigt vom heiligen Geist‹ die Begegnung eines Ritters mit einer bezaubernden Dame. Doch enthüllt ein Blick auf den Rücken der Frau Welt deren wahres Wesen. In der ›Predigt vom heiligen Geist‹ gestaltet sich die Entdeckung des Ritters wie folgt: Da sach er ain ofen prinnen mit schwebel und bech und über all maß übel schmecken. Da sprach der ritter: O wie ain groß wunder ist das, daz du fornan die aller schönest bist under den weiben und hinden ain prinnender ofen. Was bist du? Die fraw anttwurt: Ich bin die welt, die iren liebhabern gar lieblich und ir spiegel ist, aber das end ist der tod (Z. 131–135). Die im Für und Wider der Argumente bereits dialogisch angelegte Disputation wird auf diese Weise durch ein zusätzliches Zwiegespräch – jenes zwischen Ritter und Welt – bereichert. Im Rahmen des eingestreuten Exempels dient es dazu, die moralisierende Lehre der Logik zu veranschaulichen und deren Deutung auf Weltverachtung zu verlebendigen. Mit Sentenzen zum trügerischen Schein des mundus immundus bekräftigen Bernhard von Clairvaux und Gregor der Große die Aussage: Alz das dann wol betrachtet Sant Bernhart da er sprach: O du unraine welt, warumb haltest du die menschen also, und du doch zergenklich und in tod fürend bist, was tätest, 28

Vgl. die Angaben bei FREDERIC C. TUBACH, Index exemplorum. A Handbook of Medieval Religious Tales (FFC 204), Helsinki 1969, Nr. 5390, S. 407f.; Erläuterungen bei WOLFGANG STAMMLER, Frau Welt. Eine mittelalterliche Allegorie (Freiburger Universitätsreden NF 23), Freiburg/Schweiz 1959, S. 46f., 104f. (Anm. 141f.), u. HUBERT HERKOMMER, Frau Welt und Fortuna, Kreis und Quadrat. Weltbilder des europäischen Mittelalters, in: Weltbilder, hg. von MAJA SVILAR u. STEFAN KUNZE (Kulturhistorische Vorlesungen 1991/92), Bern [usw.] 1993, S. 177–228, hier S. 177–188.

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soltest du ewenklich stan? Es spricht Gregorius: Die welt gronet in vil menschen herczen, wie wol sy¨ doch in ir selbs dorret (Z. 135–139).29 Damit entfällt eine reguläre Conclusio, doch dürfte sie sich angesichts der Drastik des Exempels erübrigen. Im dritten Teilabschnitt tritt – nach der Leibes- und Weltlust – nunmehr üble Gesinnung in der Personifikation eines bösen gaists auf (Z. 145–147). Dieser plädiert dafür, äußere Vorzüge wie Vornehmheit, Jugend, Reichtum und Schönheit ungehemmt zu genießen, da im Alter noch genug Zeit zur Reue bleibe.30 Die Erwiderung, die der heilige Geist seinem Schüler empfiehlt, fällt recht heftig aus. Sie ergießt sich in einer Fülle von biblischen Zitaten und ächtet dabei vor allem den Genuß von Jugend und Wohlstand. Aufgeboten werden das Vade retro me Satana (Mc 8,33), ferner Paulus’ Warnung vor einem jähen Tod (I Th 5,3), schließlich Schmähungen des Reichtums aus dem Alten Testament (Iob 27,19; Ps 48,17f. u. 48,11). Auch hier fehlt eine eigentliche Conclusio. An ihre Stelle tritt – Z. 151–153 – eine den gesamten Abschnitt zur Logik beschließende Mahnung, für Gottes Gaben, seien sie materiell oder geistig, dankbar zu sein. Diese Wendung erfolgt recht unvermittelt, doch fungiert sie offensichtlich als Vorausverweis auf einen der nachfolgenden Abschnitte, jenen Passus, der die Arithmetik auf Dankbarkeit für Gottes Heilstaten deutet. Dieser Gestus steht nicht singulär, sondern liegt der Predigt als generelle Formtendenz zugrunde. Wiederholt werden einzelne Abschnitte durch solche Querverweise miteinander verfugt. So betont etwa der Absatz zur Logik eingangs, daß der heilige Geist den Menschen zuo lautterkay¨t der gewissen anleite (Z. 106). Auf Reinheit des Gewissens aber zielt die Auslegung der Grammatik im unmittelbar vorausgehenden Abschnitt. Ähnlich bezieht sich die Interpretation der Rhetorik auf die beiden im Trivium vorangehenden Künste Grammatik und Logik (vgl. oben, S. 60). Zu Beginn fallen dort nochmals die deutenden Stichwörter zur Grammatik – gott rainiklichen dienen (Z. 156f.) – sowie zur Logik – leib, welt und den bösen gaist verschmechen (Z. 157) –, ehe die Auslegung der Rhetorik auf die Demut erfolgt. Die Komposition der Predigt weist damit eine sorgfältige Planung auf. Das zweite hier näher zu betrachtende Textbeispiel betrifft die Fächergruppe des Quadriviums. Es handelt sich um die Moralisierung der Musik, welche für die auf die Logik folgenden Artes-Deutungen ein recht typisches Beispiel abgibt. In ihrer Anlage sind diese Absätze weniger aufwendig gebaut, auch ist ihre Darstellungsweise weniger lebendig gehalten. Selbst hinsichtlich des Umfangs 29

Vgl zu O du unraine welt ... ewenklich stan?: Opera Quodvultdeo Carthaginensi episcopo tributa, hg. von R[ENE´ ] BRAUN (CC 60), Turnhout 1976, Sermo de symbolo III, I,20, S. 350: O munde immunde, teneris periens; quid faceres si maneres?; zu Die welt ... dorret: Gregor der Große, Homiliae in Evangelia, Homilia XXVIII,3, PL 76, Sp. 1212 D: et tamen cum in seipso floreret, jam in eorum cordibus mundus aruerat. 30 Mit diesem Argument setzen sich auch Predigten auseinander, die unter dem Namen des heiligen Augustinus überliefert sind; vgl. z. B. Sermo CCXCIII,4, PL 39, Sp. 2302.

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läßt sich eine Verminderung beobachten: gegenüber der Grammatik und Logik sind die Passagen um etwa die Hälfte reduziert. Diese Schmälerung könnte damit zusammenhängen, daß der anonyme Verfasser die nachlassende Aufnahmefähigkeit des Publikums beim Vortrag mit einberechnet hat. Damit liegt vermutlich das Indiz für eine orale Vermittlung der Predigt vor. Es scheint sich abzuzeichnen, daß die Predigt tatsächlich auf mündliche Rezitation hin angelegt war, auch wenn sie in der Manuskript-Überlieferung ausschließlich als schriftliche Aufzeichnung vorliegt und mit typischen Merkmalen der Schriftlichkeit wie Rubrizierung oder Randnotizen versehen ist. Greifbar wird das Substrat eines oralen Gebrauchszusammenhangs. Mündliche Artikulationsweisen werden im übrigen auch innerhalb der einzelnen Abschnitte thematisiert. Den deutlichsten Beleg liefert der Passus zur Logik, wo ein Rekurs auf die mündliche Praxis der Disputation erfolgt. Doch verweist auch der Absatz zur Musik (Z. 173–191) auf mündliche Darbietungsformen, dies im Zusammenhang mit der Mehrstimmigkeit des liturgischen Gesangs. o Der Abschnitt beginnt mit einer spirituellen Interpretation der Disziplin: Zum vierden so lert der haylig gaist Musick. Das ist wol singen in gay¨stlicher fröd (Z. 173f.). Ein Augustinus zugeschriebener Leitspruch bekräftigt die Deutung: Wie die natürliche Stimme nicht ohne den leiplichen gaist, den Geist im menschlichen Körper, sein könne, so könne die geistliche Stimme nicht ohne den heiligen Geist sein (Z. 174f.).31 Ergänzend ist ein Psalmenvers angeführt, der hier als Prophetenspruch läuft: Singent dem herren ain nü gesang, dan er hatt wunderbere ding getan (Ps 97,1; Z. 176f.). Was mit der ›geistlichen Stimme‹ gemeint ist, wird anschließend durch eine Allegorie erläutert (Z. 177–184). Sie nimmt Bezug auf die Dreistimmigkeit in der zeitgenössischen Choralkunst; im Hintergrund der Ausführungen dürfte die Anlage polyphoner Kompositionen wie der Motette32 stehen. Die ›Predigt vom heiligen Geist‹ stellt fest, das in ainem y¨eglichen maisterlichen gesang drey¨ stimm send, die under, die mittel und die höchst (Z. 177f.). Die Ausdeutung dieser drei Stimmlagen lautet: Also sol auch in dem gaistlichen gesang sein drey¨ stimm, das ist die stimm des herczen, des munds und des wercks (Z. 178–180). Auf den Mund wird die unterste Stimme bezogen, der sogenannte tenor in der polyphonen Liedkunst des Mittelalters (Z. 180). Die Mittelstimme, der medius 31

Nach Augustinus, Enarrationes in Psalmos, Bd. 1, hg. von D. ELIGIUS DEKKERS u. JOHANNES FRAIPONT (Aurelii Augustini Opera 10,1; CC 38), Turnhout 1956, Ps 5, § 2, Z. 5f., S. 19f.: quandoquidem uox corporalis auditur, spiritalis autem intellegitur. 32 Vgl. LUDWIG FINSCHER, Motette, MGG IX, Sp. 637–669. Zur Entwicklung im 15. Jahrhundert: LUDWIG FINSCHER/ANNEGRIT LAUBENTHAL, Cantiones quae vulgo motectae vocantur. Arten der Motette im 15. und 16. Jahrhundert, in: Die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts. Teil 2, hg. von LUDWIG FINSCHER (Neues Handbuch der Musikwissenschaft 3,2), Laaber 1990, S. 277–370; LAURENZ LÜTTEKEN, Motette. B.IV: 15. und 16. Jahrhundert, 2MGG Sachteil VI, Sp. 513–528. Daß die Melker Reform eine Verdrängung der in den Benediktinerklöstern gepflegten Mehrstimmigkeit vorsah, zeigt ANGERER [Anm. 22], S. 95–115, 123f.; doch stellt sich die Frage, inwieweit diese Normvorschriften in der Praxis tatsächlich durchgesetzt wurden, vgl. ebd., S. 164f.

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cantus oder motetus im engeren Sinne, bezeichnet die Werke; die Oberstimme schließlich, der tertius cantus oder das triplum, steht für eine andächtige Gesinnung des Herzens (Z. 182f.).33 Im Rückverweis auf die mittelalterliche Choralkunst wird hier also das harmonische Zusammenwirken dreier devotionaler Praktiken empfohlen: das mündliche Gotteslob im Gebet, das Tätigsein in guten Werken und andächtige Herzensgesinnung sollen sich gegenseitig ergänzen. Dabei ist eine klare hierarchische Stufung erkennbar, die beim Gebet ansetzt, über die Tätigkeit guter Werke führt und in andächtiger Haltung gipfelt. Bloßes Lippenbekenntnis reicht nicht aus, wie der Verfasser im Anschluß an Isaias betont (Z. 181f., nach Is 29,13). Denn, so das Fazit: wär andacht des herczen nit da bey¨, so wer das gebet des munds und würcken des leibs wenig nücz (Z. 183f.). Der im Einklang von Mund, Werk und Herz vorgeführte gaistliche gesang wird schließlich in seiner erlösenden Wirkung veranschaulicht. Der Prediger erinnert dabei an eine Episode im alttestamentlichen Buch der Könige, genauer: im ersten Buch Samuel (I Sm 16,15/23): Als König Saul von einem bösen Geist besessen war, erfuhr er durch Davids Harfenspiel Linderung in seiner depressiven Stimmung (Z. 185–188).34 Angesichts ihrer Plastizität kommt diese biblische Szene der Anschaulichkeit eines Exempels recht nahe. In der ›Predigt vom heiligen Geist‹ dient die therapeutische Erquickung von Davids Harfenspiel dazu, die erlösende Kraft des durch Herz, Mund und Werke vollzogenen Gotteslobs zu verdeutlichen. Die Folgerung lautet: wann wir gott loben, so mach wir auch den bösen gaist flüchtig von uns (Z. 188f.). Ein Vers aus dem Jakobusbrief (Iac 4,7) bestätigt zuletzt die Wirkmächtigkeit andächtigen Gebets gegenüber den Anfechtungen von Schwermut und schlechter Gesinnung. Im Anschluß an die Betrachtung der beiden Textabschnitte gilt es, die Funktionsweise der Artes-Auslegung zu hinterfragen: Was haben die Artes-Deutungen der Logik und Musik gemeinsam? – Einige strukturelle Parallelen sind doch recht auffällig. Beide Disziplinen werden in ihren je spezifischen Artikulationsformen vorgeführt – Artikulationsformen, die alsbald in den Dienst einer moralisierenden Auslegung treten. Die Disputation als typische Sprechweise der Ars logica lehrt Weltverachtung, lehrt den Verzicht auf Fleischeslust, Weltgenuß und schlechte Gesinnung. Die Dreistimmigkeit der mittelalterlichen Motettenkunst als Ausdrucksform der Ars musica zielt auf devotionale Praxis, hält an zu 33

Terminologie: tenor – motetus – triplum (Johannes de Grocheo, um 1300); tenor – medius cantus – tertius cantus (Walter Odington, frühes 14. Jh.). Vgl. FINSCHER, Motette [Anm. 32], Sp. 638; FINSCHER/LAUBENTHAL, Cantiones [Anm. 32], S. 285. 34 Vgl. GÜNTER BANDMANN, Melancholie und Musik. Ikonographische Studien (Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 12), Köln/Opladen 1960, S. 11–21; WALTER SALMEN, König David – eine Symbolfigur in der Musik (Wolfgang Stammler Gastprofessur für Germanische Philologie. Vorträge 4), Freiburg/Schweiz 1995, S. 14f.; DAGMAR HOFFMANN-AXTHELM, David als ’Musiktherapeut’. Über die musikalischen Heilmittel Klang – Dynamik – Rhythmus – Form, in: König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, hg. von WALTER DIETRICH u. HUBERT HERKOMMER, Freiburg/ Schweiz, Stuttgart 2003, S. 565–588, bes. S. 568f.

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Gebet, guten Werken und Andacht. Beide Male unterstützen Exempla den moralischen Impetus der Artes-Deutung: Frau Welt warnt vor dem trügerischen Schein diesseitiger Freude; Davids Harfenspiel gemahnt an die erbauende Kraft des Gotteslobs. Auf diese Weise generiert sich aus spezifischen Diskursarten der Artes-Fächer jeweils eine zweite Diskursformation, jene der moralischen Auslegung. Wie aber läßt sich dieser Übergang von gelehrten, dem mittelalterlichen Wissenschaftssystem verpflichteten Artikulationsweisen in einen moraliserendhomiletischen Aussagemodus näher beschreiben? Der Rückgriff auf die Terminologie allegorischer Sinnschichtung35 scheint hier nicht ausreichend. Zwar läßt sich das Verhältnis der Artes zu ihrer jeweiligen Auslegung mit der Polarität von buchstäblichem Erstsinn und geistigem Zweitsinn fassen: Künste wie die Logik und Musik stehen im sensus litteralis, ihre Deutung auf Weltverachtung und Devotionalität bildet den sensus spiritualis oder, wenn man spezifizieren möchte, den sensus moralis. Doch ist damit die sich innerhalb des moralisierenden Aussagegestus entwickelnde Eigendynamik der Artes-Interpretation nur unzulänglich erklärt. Gerade diese Eigendynamik aber, die sich ihrer fachwissenschaftlichen Grundlage entledigt, gilt es zu beschreiben. Zu berücksichtigen ist ferner die allenthalben greifbare, auf moralisches Handeln der Zuhörer gerichtete Wirkungsintention der Predigt. Die Einflußnahme auf die Lebenspraxis der Rezipienten zeichnet sich als fundamentales Anliegen der ›Predigt vom heiligen Geist‹ ab. Beide Aspekte – die Eigendynamik des Aussagegestus und die moralisierende Wirkungsabsicht – lassen sich im behutsamen Rückgriff auf diskursanalytisch-linguistische Beschreibungsverfahren angehen. Es bietet sich in diesem Zusammenhang an, mit Elementen eines DiskursBegriffs zu arbeiten, wie ihn MICHEL FOUCAULT in seiner ›Archäologie des Wissens‹ entwickelt hat.36 Unter diskursiven Formationen versteht FOUCAULT Wissenszweige wie die Grammatik oder die Medizin, welche in unterschiedlichen historischen Epochen jeweils unterschiedliche Aussagen über wissenschaftliche Gegenstände – wie etwa die Sprache, die Krankheit – anstellen. Die Thematik eines wissenschaftlichen Gegenstands ist auf diese Weise »constitue´e par l’ensemble de ce qui a e´te´ dit dans le groupe de tous les e´nonce´s qui la nommaient, la de´coupaient, la de´crivaient, l’expliquaient, racontaient ses de´veloppements, indiquaient ses diverses corre´lations, la jugeaient, et e´ventuellement lui preˆtaient la parole en articulant, en son nom, des discours qui devaient passer 35

Dazu grundlegend FRIEDRICH OHLY, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, ZfdA 89 (1958), S. 1–23, wieder abgedruckt in: DERS., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 21983, S. 1–31; BLUMENBERG, Die Lesbarkeit der Welt [Anm. 19]. 36 MICHEL FOUCAULT, L’arche´ologie du savoir (Bibliothe`que des sciences humaines), Paris 1969. Deutsche Übersetzung: MICHEL FOUCAULT, Archäologie des Wissens, übers. von ULRICH KÖPPEN (stw 356), Frankfurt 51992. Vgl. auch MANFRED FRANK, Zum Diskursbegriff bei Foucault, in: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, hg. von JÜRGEN FOHRMANN u. HARRO MÜLLER (stm 2091), Frankfurt 1988, S. 25–44.

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pour eˆtre les siens«.37 FOUCAULT drängt mit dieser Auffassung auf eine Entkoppelung der diskursiven Formation von ihrem Objekt, ihrem wissenschaftlichen Gegenstand. Er betont, daß Diskurse gerade nicht ein »entrecroisement de choses et de mots«38 darstellten. Im Gegenteil seien Diskurse zu behandeln »comme des pratiques qui forment syste´matiquement les objets dont ils parlent«.39 Es sind nach dieser Auffassung also nicht die Gegenstände, welche die Anlage diskursiver Formationen bedingen. Vielmehr sei davon auszugehen, daß jeder Diskurs seinen Gegenstand erst schaffe – »qu’a` son tour chacun de ces discours a constitue´ son objet et l’a travaille´ jusqu’a` le transformer entie`rement«.40 Vor diesem Hintergrund wird die Eigendynamik beschreibbar, in welcher sich die ›Predigt vom heiligen Geist‹ das Lehrsystem der freien Künste aneignet und unterwirft. Artes-spezifische Gegenstände und Praktiken wie die logische Disputation oder die Polyphonie der Motette werden innerhalb des moralisierenden Aussagegestus der Predigt so abgewandelt, daß sich ihr fachlicher Wert reduziert, ja nahezu disqualifiziert. Im Gegenzug verselbständigt sich die Diskursivität der moralischen Auslegung gegenüber den wissenschaftlichen Zusammenhängen. In der spirituellen Deutung bildet die ›Predigt vom heiligen Geist‹ eine Sprechweise aus, die mit jener, die von den Artes als wissenschaftliche Gegenstände handelt, nicht mehr viel gemein hat. Welche Funktion aber nehmen dann die sieben freien Künste innerhalb des Textes ein? Zur Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, sich der Wirkungsabsicht der Predigt zu stellen. Es bietet sich dabei an, auf Kommunikationsmodelle zurückzugreifen, die in der Erforschung der Predigten Meister Eckharts entwickelt wurden. BURKHARD HASEBRINK und FRIEDRICH IOHN haben hier wichtige Analysestrategien aufgezeigt.41 Beide weisen nachdrücklich darauf hin, daß es nicht genügt, nur den inhaltlichen Aspekt einer Predigt, in linguistischer Terminologie: deren propositionalen Gehalt, zu erfassen. Vielmehr komme es wesentlich darauf an, die Predigt als einen Vollzug sprachlichen Handelns zu 37

FOUCAULT [Anm. 36], S. 45; dt. Übers. [Anm. 36], S. 49: »durch die Gesamtheit dessen konstituiert worden, was in der Gruppe all der Aussagen gesagt worden ist, die sie benannten, sie zerlegten, sie beschrieben, sie explizierten, ihre Entwicklung erzählten, ihre verschiedenen Korrelationen anzeigten, sie beurteilten und ihr eventuell die Sprache verliehen, indem sie in ihrem Namen Diskurse artikulierten, die als die ihren gelten sollten«. 38 FOUCAULT [Anm. 36], S. 66; dt. Übers. [Anm. 36], S. 74: »Verschränkung der Dinge und der Wörter«. 39 FOUCAULT [Anm. 36], S. 67; dt. Übers. [Anm. 36], S. 74: »als Praktiken [...], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen«. 40 FOUCAULT [Anm. 36], S. 46; dt. Übers. [Anm. 36], S. 50: »daß seinerseits jeder dieser Diskurse seinen Gegenstand konstituiert und soweit bearbeitet hat, daß er ihn völlig transformierte«. 41 Vgl. BURKHARD HASEBRINK, Das Predigtverfahren Meister Eckharts. Beobachtungen zur thematischen und pragmatischen Kohärenz der Predigt Q 12, in: Die deutsche Predigt im Mittelalter. Internationales Symposium am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin vom 3.– 6. Oktober 1989, hg. von VOLKER MERTENS u. HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 1992, S. 150– 168; DERS., Formen inzitativer Rede bei Meister Eckhart. Untersuchungen zur literarischen Konzeption der deutschen Predigt (TTG 32), Tübingen 1992; FRIEDRICH IOHN, Die Predigt Meister Eckharts. Seelsorge und Häresie (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), Heidelberg 1993.

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verstehen. Es gelte folglich, die gegenüber dem Zielpublikum intendierten Effekte zu berücksichtigen, d. h. in linguistischer Terminologie: die pragmatische Dimension der Predigt, deren illokutive Funktion, zu erschließen.42 Man hat also mit einem bipolaren Schema zu arbeiten, das sowohl dem propositionalen Lehrgehalt der Predigt wie auch deren illokutiver Funktion gerecht wird. Nach BURKHARD HASEBRINK wird die Predigt unter dieser Voraussetzung zum »Modell eines kommunikativen Handelns, das Elemente informativer, appellativer, persuasiver und verheißender Rede zum Zwecke integriert, der Heilserwartung des Rezipienten ein Orientierungs- und Deutungsangebot zur Verfügung zu stellen«.43 Das sprachliche Handeln des Predigers verfolgt mithin das Ziel, seinerseits auf das Handeln des Publikums einzuwirken. Diese Auffassung läßt sich im übrigen auch in Äußerungen der mittelalterlichen Ars praedicandi greifen, wo Predigt definiert wird als eine auf die Handlungsweise einer Zuhörerschaft ausgerichtete Unterweisung (pluribus facta persuasio ad merendum).44 Im Falle der ›Predigt vom heiligen Geist‹ deckt sich der propositionale Gehalt weitgehend mit jenem Aussagemodus, den FOUCAULT ›diskursive Formation‹ nennt: Vorgeführt werden die Artes liberales nicht in ihrem wissenschaftlichen Status, sondern in einer spirituellen Interpretation. Die illokutive Funktion besteht dabei darin, die einzelnen Künste als Anweisung zum moralischen, heilsgarantierenden Handeln zu instrumentalisieren. Diese in der ›Predigt vom heiligen Geist‹ faßbare Wirkungsabsicht läßt Rückschlüsse auf das vom Verfasser anvisierte Zielpublikum zu. Die Rezipientenschaft dürfte wohl kaum im schriftkundigen Milieu einer höheren Schule oder Universität zu suchen sein. Vor einem gebildeten Universitätspublikum würde die zu Lasten fachlicher Inhalte vorgenommene Spiritualisierung der Artes wenig Beifall finden. Wie man in einem gelehrten Umfeld über die Wissenschaften predigt, bezeugt eine am 25. November 1396 zum Festtag der heiligen Katharina (Patronin der Artistenfakultät) vorgetragene Rede des Heinrich von Langenstein, der als Neuorganisator und Rektor der Universität Wien tätig war.45 Die in lateinischer Sprache abgefaßte Predigt behandelt Ursprung, gegenseitige Ver42

Vgl. HASEBRINK, Predigtverfahren [Anm. 41], S. 152f.; DERS., Formen inzitativer Rede [Anm. 41], S. 36–43; IOHN [Anm. 41], S. 48–59. 43 HASEBRINK, Formen inzitativer Rede [Anm. 41], S. 265. 44 Robertus de Basevorn, ›Forma praedicandi‹, Cap. I, zit. nach CHARLAND [Anm. 16], S. 238. Vgl. auch HASEBRINK, Formen inzitativer Rede [Anm. 41], S. 36; FRIEDRICH IOHN, Rez. zu: Die deutsche Predigt, hg. von MERTENS/SCHIEWER [Anm. 41], ZfdA 123 (1994), S. 243–248, hier S. 247. 45 Vgl. THOMAS HOHMANN/GEORG KREUZER, Heinrich von Langenstein, 2VL III, Sp. 763–773. Zur Predigt ›De sancta Catharina‹ kurz ebd., Sp. 766. Ausführlicher: ALBERT LANG, Die Katharinenpredigt Heinrichs von Langenstein. Eine programmatische Rede des Gründers der Wiener Universität über den Aufbau der Glaubensbegründung und die Organisation der Wissenschaften. I. Text, Divus Thomas (Freiburg/Schweiz) 26 (1948), S. 123–159; DERS., Die Katharinenpredigt ... II. Charakter und Aufbau [Anm. 16]; DERS., Die ersten Ansätze zu systematischer Glaubensbegründung, Divus Thomas (Freiburg/Schweiz) 26 (1948), S. 361–394; DERS., Die Universität als geistiger Organismus nach Heinrich von Langenstein, Divus Thomas (Freiburg/Schweiz) 27 (1949), S. 41–86; WILLIAMS [Anm. 6], S. 397f.

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flechtung und Hierarchie der Wissenschaften. Aus der Ordnung der Disziplinen wird die Gliederung der Universitäten abgeleitet. Den Anfang machen die Artes, es folgen Medizin und Jurisprudenz, an der Spitze steht die Theologie. Die ›Predigt vom heiligen Geist‹ trennen Welten von derartigen Überlegungen zur Wissenschaftstheorie und zur Organisation des Studiums. Gleichwohl unterstellt die Predigt eine rudimentäre Vertrautheit mit den Artes. Sie setzt Kenntnisse zur Anordnung von Trivium und Quadrivium voraus und rechnet mit einem fachlichen Kernwissen, das sich auf dem schlichten Niveau von Merkversen bewegt. Lateinische Merkverse zu den Artes liberales lassen sich in Handschriften seit dem frühen Mittelalter belegen.46 Sie sind auch noch im 15. Jahrhundert weit verbreitet47 und begegnen zu dieser Zeit außerdem in volkssprachlichen Fassungen. Ein deutscher Merkvers zur Logik lautet etwa: Mit arguiern vnd disputy¨rn kan ich waur vnd falsch erky¨rn. Und von der Musik heißt es: Jch ler singen vnd noty¨rn vnd dar zuo kunschtlich discanty¨rn.48 Minimalwissen dieser Art verweist auf ein halbgebildetes, halbalphabetisches Publikum. Faßbar wird eine Rezipientenschaft, die sich innerhalb der Volkssprache und allenfalls am Rande gelehrter Latinität bewegt, eine Rezipientenschaft mithin, die im Grenzbereich schriftlicher und mündlicher Wissensvermittlung angesiedelt ist und schriftkundiger Vermittlerpersönlichkeiten bedarf.49 Man wird an ein klösterliches Mischpublikum zu denken haben, das bestenfalls über einfache Grundkenntnisse mittelalterlicher Gelehrsamkeit verfügt. Eine solche Zielgruppe aber dürfte gerade in den benediktinischen Reformklöstern an46

Vgl. die Zusammenstellung bei STOLZ, Artes-liberales-Zyklen [Anm. 7], Anhänge 1–3, S. 676– 682. 47 Vgl. zum Beispiel die Hinweise bei MICHAEL STOLZ, Körper und Schrift. Wissensvermittlung im ›Psalterium glossatum‹ von Wilhelm Müncher (1418), in: Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter. Internationales Symposium Roscrea 1994, hg. von TIMOTHY R. JACKSON, NIGEL F. PALMER u. ALMUT SUERBAUM, Tübingen 1996, S. 97–117, hier S. 107f. 48 München, BSB, Clm 3941 (2. Drittel d. 15. Jh., Sigismund Gossembrot, Augsburg), fol. 18v (Logik), fol. 17r (Musik). Vgl. zur Handschrift: KARL-AUGUST WIRTH, Neue Schriftquellen zur deutschen Kunst des 15. Jahrhunderts. Einträge in einer Sammelhandschrift des Sigmund Gossembrot (Cod. lat. mon. 3941), Städel-Jahrbuch NF 6 (1977), S. 319–408; Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters, begr. von HELLA FRÜHMORGEN-VOSS, fortgef. von NORBERT H. OTT [u. a.] (Veröffentlichungen der Kommission für deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften), Bd. 1, München 1991, Nr. 9.2.4., S. 301f.; STOLZ, Artes-liberales-Zyklen [Anm. 7], S. 331, 334–339, 578–622, und Anhänge 7, 8, S. 733–751. – Ähnlich Cambridge (Mass.), Harvard University, The Houghton Library, Ms. Ger. 74 (ca. 1460/70, schwäbisch-alemannisch), fol. 21v: Mit arguieren vnd diso putieren kan ich war vnd falsch erkieren. – Jch leren singen vnd notieren vnd darzu künstlich discantieren. Zit. nach ECKEHARD SIMON, Priamel, short verse poems, and proverbs from the Houghton Codex Ms. Ger. 74 (ca. 1460/70). Variants and unpublished texts, Michigan Germanic Studies 2 (1976), S. 21–34, hier S. 27f. Zur Handschrift DERS., Eine neuaufgefundene Sammelhandschrift mit Rosenplüt-Dichtungen aus dem 15. Jahrhundert, ZfdA 102 (1973), S. 115–133; STOLZ, Artes-liberales-Zyklen [Anm. 7], S. 614f. und Anhang 8, S. 749–751. 49 Zur Funktionsweise solcher aus Analphabeten und Schriftkundigen zusammengesetzten Textgemeinschaften vgl. BRIAN STOCK, Medieval Literacy, Linguistic Theory, and Social Organization, New Literary History 16 (1984), S. 13–29; DENNIS H. GREEN, Medieval Listening and Reading. The primary reception of German literature 800–1300, Cambridge [usw.] 1994, S. 285f.

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zutreffen sein: Als mögliche Adressaten geraten hier neben Klerikern vor allem Laienbrüder und -schwestern (Konversen) mit divergierenden Bildungsvoraussetzungen in den Blick.50 Die freien Künste werden in diesem Milieu nicht systematisch behandelt. So beschränkt sich denn in der ›Predigt vom heiligen Geist‹ die Abfolge der Artes darauf, lediglich ein Gerüst für die Vermittlung heterogener, den Artes primär nicht zugehöriger Inhalte zu liefern. Die freien Künste fungieren als Subsystem, auf dem sich die Übermittlung moralischer Anweisungen aufbaut. Ihnen kommt damit wenig mehr zu als die Rolle von einprägsam strukturierten Memorialzeichen, mittels derer sich die Anleitungen zu religiöser Vervollkommnung speichern lassen.51 Die Artes-Reihe erweist sich als memorierbares Gliederungsprinzip, das den Predigtvortrag kommunikationstechnisch unterstützt: Sie erleichtert dem Prediger die Vermittlung der moralischen Anweisungen und hilft den Adressaten bei deren Befolgung. In dieser memorativen Zeichenfunktion aber wären die Künste einigermaßen beliebig austauschbar und könnten ersetzt werden durch Ordnungsmuster, die eine vergleichbar markante Konventionalität aufweisen. Eine anschauliche Alternative hält die ›Predigt vom heiligen Geist‹ selbst bereit: Jener Schlußteil, der den anfangenden Menschen das Buch des Erdreichs zum Studium unterbreitet, liefert eine Ausdeutung der vier Evangelistensymbole im Anschluß an die Vision von Ezechiel52 (Z. 259–269): Wie aber der gaystlich leben söll, lert der hay¨lig gaist in der gesicht die ezechiel sach. Der selbig sach die antlüt der vier evangelisten, des ainen in gestalt ains menschen, des andern in gestalt ains leo, des dritten in gestalt ains ochsen, des vierden in gestalt ains adlers. Alz ob der hay¨lig gaist spräch: Wölcher in gott zuo nemen will, der sol haben ain antlüt des menschen in der gemain, also das er miltsamlich diemütiklich und fridsamlich wandel mit allen menschen. Im dormiter sol er haben ain antlüt des leon also das er keck sey¨ im widerstan den begirlichay¨tten und versuochungen. Im refecter sol er haben das antlütt des ochsen, also das er kostlicher und zartter speis nit achte. 50

Vgl. BARBARA FRANK, Konversen und Laien in benediktinischen Reformklöstern des 15. Jahrhunderts, in: Ordensstudien I: Beiträge zur Geschichte der Konversen im Mittelalter, hg. von KASPAR ELM (Berliner Historische Studien 2), Berlin 1980, S. 49–66; KLAUS SCHREINER, Gebildete Analphabeten? Spätmittelalterliche Laienbrüder als Leser und Schreiber wissensvermittelnder und frömmigkeitsbildender Literatur, in: Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache, hg. von HORST BRUNNER u. NORBERT RICHARD WOLF (Wissensliteratur im Mittelalter 13), Wiesbaden 1993, S. 296–327; NIEDERKORNBRUCK [Anm. 22], S. 69, 110–116; BAUER [Anm. 12], S. 9–28. 51 Vgl. zur Rolle gedächtnisunterstützender Praktiken in der mittelalterlichen Predigt FRANCES A. YATES, The Art of Memory, London 1966, S. 84–86, 96–98; MARY CARRUTHERS, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge [usw.] 1990, S. 103–106, 206– 211. 52 Vgl. Ez 1,10 und 10,14 sowie die exegetische Tradition, etwa Hieronymus, Prolog des MtKommentars ›Plures fuisse‹ (S. Hieronymi Presbyteri Commentariorum in Matheum libri IV, hg. von D. HURST/M. ADRIAEN, in: S. Hieronymi Presbyteri Opera I,7 (CC 77), Turnhout 1969, S. 1–6, hier S. 3f.). Zum weiteren Traditionshorizont U[RSULA] NILGEN, Evangelisten und Evangelistensymbole, LCI I, Sp. 696–713, bes. Sp. 696; DIES., Evangelistensymbole, RDK VI, Sp. 517–572, bes. Sp. 517–519.

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Im kor oder kirchen sol er haben ain antlüt des adlers, also das er in seinem gemüt und andacht erhöcht werd in gott.

Die vier von Ezechiel geschauten Wesen vermitteln hier Verhaltensregeln für das Leben im Kloster und werden bestimmten räumlichen Sphären zugewiesen: Die Gestalt des Menschen steht für korrektes Verhalten in der Gemeinschaft, der Löwe für den Widerstand gegen sinnliche Begierde im Schlafsaal, der Stier warnt vor übermäßigem Appetit im Refektorium, der Adler schließlich repräsentiert die geistige Erhebung in der Kirche. Illustrative Ordnungsmuster wie die Vierzahl der Evangelistensymbole oder die Siebenzahl der freien Künste kommen den Zuhörern dabei zugute, die moralischen Anweisungen zu verinnerlichen und sie im täglichen Verhalten zu beherzigen. Im Rückblick auf die angestellten Betrachtungen läßt sich folgendes Fazit ziehen: Die ›Predigt vom heiligen Geist‹ bietet eine Moralisierung der Künste im Sinne religiöser Vervollkommnung. Es handelt sich dabei um mehr als eine bloß spirituelle Auslegung der Artes. Die Deutung der sieben freien Künste bildet eine eigene Diskursivität aus, die sich des wissenschaftlichen Artikulationssystems zwar bedient, dieses aber zugleich hinter sich läßt. Die Sprechweise der Predigt ist als sprachliches Handeln aufzufassen, mit dem der Prediger seinerseits auf das Handeln seiner Zuhörerschaft einzuwirken versucht. Die Artes fungieren dabei in ihrer konventionellen Ordnungsstruktur als Memorialzeichen, die den Rezipienten eine Befolgung der moralisierenden Deutung erleichtern. Einzelheiten, wie eine inhaltliche Gliederung, die der Aufnahmekapazität des Publikums Rechnung trägt, oder die auf Minimalwissen reduzierten Inhalte der Künste verdienen nähere Beachtung und weiteres Nachdenken. Sie deuten hin auf eine Vermittlung der Predigt in mündlichen Gebrauchszusammenhängen oder jedenfalls am Rande der Schriftlichkeit. Fragt man nach dem historischen Ort der Predigt, ihrem Sitz im Leben, so zeichnet sich ein klösterliches Milieu ab, in dem sich Kleriker und Laien begegnen – dies etwa im Gegensatz zu einem universitären Bildungszentrum. Die Anleitung zu religiöser Vervollkommnung im klösterlichen Rahmen sowie die handschriftliche Überlieferung liefern Indizien dafür, daß die ›Predigt vom heiligen Geist‹ als seelsorgerisches Instrument der Melker Reform gedient haben könnte.

Text ›Predigt vom heiligen Geist‹ Der Textabdruck folgt Handschrift A (München, BSB, Cgm 830, fol. 187v– 200v).53 Abbreviaturen sind stillschweigend aufgelöst, Supraskripta werden bei53

Vgl. zur Überlieferung und zu den verwendeten Siglen oben, S. 57f.

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behalten. Schaft-i in der Handschrift wird normalisiert zu s, v zu u, Diphthong a zu au, j vor Konsonant zu i. Um die Lesbarkeit zu erleichtern, werden Großschreibung (bei Satzanfängen, Eigennamen) und Interpunktion nach modernen Gesichtspunkten eingerichtet; Absatzgliederung wird nach Sinnabschnitten eingeführt. Doch gehen diese editorischen Maßnahmen oft mit dem Gebrauch der Handschrift (Majuskeln, Gliederungsmittel wie Virgeln, Litterae notabiliores, Absatzzeichen, Randnotizen) konform. Seitenwechsel im Manuskript wird durch entsprechende Blattangaben in Kursivdruck angezeigt. Kursivdruck innerhalb des edierten Textes verweist auf Emendationen, Erläuterungen finden sich im Apparat. Der Apparat selbst ist zweiteilig angelegt: 1. Der kritische Apparat verzeichnet die Randnotizen in A und sonstige Schreiberzusätze in den Handschriften (unberücksichtigt bleiben einige Randeinträge des 16. Jhs. in M). Der kritische Apparat enthält ferner die Überlieferungsvarianten mit der Angabe von Handschriftensiglen; die Schreibweise der Textzeugen wird weitgehend beibehalten (einige wenige nicht darstellbare Sonderzeichen werden in Kursive aufgelöst). Verzeichnet werden morphologische, lexematische und syntaktische Abweichungen, nicht jedoch Lautvarianten wie gand – gend, reichtum – reichtung. Grenzfälle werden jeweils mit aufgenomo men; so beispielsweise die Varianten rüwen – rüen – ruen (nach mhd. riuwen oder ruowen), die Varianten zu letz(i)gen (Lehnwort nach lat. lectio), die Varianten leren – lernen (beide in der Regel für ›docere‹ gebraucht). Klammersetzung wie (B) zeigt an, daß die Handschrift mit dem angegebenen Text in Wortwahl und Syntax, nicht jedoch im Wortbild (Schreibung, Abkürzungen, Lautvarianten) übereinstimmt. Angaben vor der eckigen Klammer (]) verweisen auf den edierten Text (in der Regel nach A, dann jeweils ohne Siglevermerk; eigens vermerkt werden jedoch die mit A übereinstimmenden Handschriften); Angaben hinter der eckigen Klammer enthalten die Überlieferungsvarianten. Bei Emendationen (Kursive im edierten Text) stehen die gegen A befolgten Handschriften vor der Klammer, die Fassung von A und ggf. weitere Überlieferungsvarianten dahinter. 2. Der Quellenapparat verzeichnet identifizierte Vorlagen und Parallelbelege, deren Text jeweils in Anführungszeichen gesetzt wird. Ein umfassender Kommentar kann im Rahmen dieses Tagungsbands nicht geleistet werden und bleibt einem späteren Forschungsstand vorbehalten. Zur Quellensuche wurde auf Computer-Datenbanken (Patrologia Latina Database, CETEDOC) und konventionelle Hilfsmittel wie Indices, Konkordanzen zurückgegriffen. Für Hinweise – auch zum Ausschluß bestimmter Quellenbereiche – danke ich Klaus Klein (Marburg), Nigel F. Palmer (Oxford), Regina D. und Hans-Jochen Schiewer (Freiburg i. Br.), Ulla Williams (Augsburg).

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[fol. 187 v] Ain guo tte predig von dem hayligen gaist

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Wann nun kompt der gay¨st der warhay¨t, so wirtt er eüch lernen alle warhay¨t, Johannis xvi. Es spricht Dy¨onisius also: Wann ich ganczes wesen der geschöpfft mit scherpff meins gemütz an sich, so vind ich das ain y¨edlich sach so vil volkommer ist, alz vil sy¨ irem anfang nächer und geleucher ist. Dann volkommenhay¨t der geschöpfft ist ettwas geleichnuß des anfangs, von dem sy sind. Alz wir sechen, wann y¨e nächer ain planet der sunnen ist, y¨e scheinender er ist. Und y¨e nächer die bäch des brunnen send dem ursprung, ye clarer wasser. Und nun gott ist ain anfang, mittel und end aller sach, alz da spricht der zwöllffbott: Auß im sey¨en wir, durch in leben wir, in in alz in unser lestes end sey¨en wir geordnet, darumb y¨e nächer ain mensch gott ist mit gemüt und dem [fol. 188 r] gaist, y¨e volkommer er ist. Dann es sprich Sant Augustin: Gott will dich nit haben alz du bist, sunder alz du sein solt. Sprichest aber wie sol ich sein, ich sprich: ain cristan von Cristo und ainer mit gott. Also was gott wöll, dz du das auch wöllest, und das dein will o zu gemessen sey¨ dem willen gotz nach deiner vermüglichay¨t und nach deiner erkanttlichait und nach deiner begirlichait. Zuo dem ersten nach deiner vermüglichay¨t. Dann alles das, das Cristus umb o unsers hay¨ls willen hatt mügen tun, hatt er getan. Also sol auch unser will sein, o das wir tüwen, das wir tun mügen. Bernhardus spricht: Wann der mensch tuo t das 1 Dieselbe Überschrift auch in BGM, Ay¨n köstlichi predig N, Überschrift fehlt in S. 2 Wann BG(N)S] Banen M. gay¨st (BGMN)] geyst verbessert aus trostrs S. lernen BG(S)] leren MN. 3 Randnotiz A: Johannis. Johannis xvi (GN)] fehlt B, ¯ı crist9 iesus M, Johnis Am xvj S. 4 Randnotiz A: Dyonisius. ganczes (B)GM] gancz N, das gantz S. 4f. mit scherpff meins gemütz an sich (BGM)] an sich mit scherpf meins gemütes NS. 8 ist BGMN] ist stett S. 9 send dem ursprung (BGMN)] dem vrspru¯g sind S. clarer wasser (GM)] clärer vnnd geschmacher wasser B(NS). Und nun (BG)M] Seid nun N(S). 10 Randnotiz A: Apostolus. alz da (BGM)] dan¯ es N(S). 11 in in B(G)M(N)] Jn jm S. 12 mit gemüt und dem gaist (GM)] mit dem gemütt vnnd o 14 Randnotiz A: Augustinus. dem gaist B, mit mut vn¯ de¯ gaist N, mit dem gemüt vnd gaist S. o o vermüglichay¨t 16 wöll BGM(N)] will S. 17 zu gemessen sey¨ B(NS)] sey¨ zu gemessen G(M). und (BGM)] vsmüglichait N(S). 20 tuo n, hatt (BGM)] tuo n dz hat N, gethuo n das hat S. o 21 Randnotiz A: Bernhardus. 21f. das er mag (G)M(N)] was er mag B, das er thun mag S. 2 Wann nun ... warhay¨t Io 16,13. 4–6 Wann ich ... geleucher ist Vgl. Ps.-Dionysius Areopagita, Dionysiaca, I, Brügge 1937, De divinis nominibus (Übers. Joh. Sarracenus), V,3, S. 331: »Et est sicut arbitror hoc verum quod magis uno et infiniti doni Deo participantia, magis ipsi sunt propinqua et diviniora derelictis«. 9f. gott ist ... aller sach Vgl. ebd., V,8, S. 354: »omnium substantificator et principium et medietas et finis«; ferner Ps.-Meister Eckhart, Deutsche Mystiker d. 14. Jhs., hg. von F. Pfeiffer, Bd. 2, Leipzig 1857, S. 531, Z. 2f.: »Her über sprichet Dionysius: got ist ein anevanc und ein mitel und ein ende aller dinge«. 10f. Auß im sey¨en wir I Io 4,6 u. 5,19. 11 durch in leben wir Vgl. I Io 4,9. in in ... geordnet Vgl. I Io 4,15f. (?). 14f. Gott will ... solt Vgl. Augustinus, Enarrationes in Psalmos, CC 39, Ps. 99, § 5, S. 1395, Z. 50f.: »Es iniquus, esse debes iustus«; Augustinus, Sermo ›De duobus temporibus‹, Revue Be´ne´dictine 79 (1969), S. 64, Z. 21: »Prius tibi displiceat quod es, ut possis esse quod non es«; Augustinus, Sermones de sanctis, Sermo 315, Cap. VI,9, PL 38, Sp. 1430: »melius hoc dico quod te esse volo, quam quod es«.

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er mag, so wirt er entschuldiget in dem das er nit mag. Und darumb so süllen wir tuo n, dz wir mügen, und dz ander behalten dem verdienen Cristi, dem da müglich ist das, dz y¨ederman unmüglich [fol. 188 v] ist. Zuo m andern süllen wir unsern willen dem willen gotz geleich machen nach unser erkanttlichay¨t. Dann Cristus hatt alles das getan, das er erkantt nücz sein unserm hay¨l. Also sol auch unser will sein schnell zuo allem dem, das er erkennt guo tt sein. Und was gott wöll, das wir das auch wöllen, und was er nit wöll, das wir das auch nit wöllen. Zuo dem dritten nach unser begirlichay¨t. Dann Cristus hatt begirlich begert o unser hay¨l, das darumb bluttiger schway¨ß auß ganczem seinem leib geflossen ist. Also auch sol unser will begern die gerechtikay¨t gotz verbracht werden. Also ob der mensch hundert jar lepte, das er allweg durstig und hungerig wär zuo der o gerechtikay¨t gotz und nümer spräch, es ist genug. o o Und dz ze tun und den willen gotz zu erfüllen, lert uns der hay¨lig gay¨st, als dann sprechend die fürgenommen wort: Wann nun kompt etc. Sant Augustin spricht: [fol. 189 r] Ware gay¨stlichay¨t ist ain schuo l aller tugend o und zucht, in der die gutten gay¨stlichen leüt sich übend als lang, bis das sy¨ o o volkomenhay¨t begrey¨ffend. In derselben schul der hay¨lig gay¨st schulmaister ist. o Als nun in den schulen ettlich wol lernend, ettlich wenig, ettlich gar nichtzt, also in der gay¨stlichay¨t übend sich ettlich wol in gott, ettlich ain wenig, ettlich gar nichtzt, sunder gand sy¨ mer hinder sich, als die die wol angefangen hand und das o angefangen gut verland. Es spricht Sant Augustin: Als ich nit gesechen han bessre menschen dann in der gay¨stlichait, also han ich auch nit bösre gefunden. Und darumb: alz die studenten die nichtz lernend, schämend sich vor iren frainden, also werdent die, die in gay¨stlichem schein lebend und nichtzt in gott lernend, geschäntt am jungsten gericht. Wann sy¨ wer[fol. 189 v]dent sechen, das o sy¨ so kostpärlich erlöst sind worden mit dem plut Cristi und da undanckpär gefunden send. 22 Und darumb so süllen (B)GM(N)] Dar vmb süllen S. 23 dz wir (BGMS)] was wir N. dem da BG(M)] de¯ N(S). 24 das, dz (BGMN)] das S. 25 dem willen gotz geleich machen (GMN)] den willen gotz geleich machen B, geleich mache¯ dem wille¯ gotz S. 27 sein schnell B(G)M(N)] snell o o sein S. 27f. zu allem ... gutt sein (BGM)] zw alle¯ dem dz er erkent sein N, fehlt S. 28 nit wöll BGM(N)] nit will S. 30 begirlich BGM] so begirlich NS. 32 sol BGMS] so N. begern (BGM)] begere¯ daz N(S). verbracht (GMN)] vorbracht A, volpracht BS. 33 lepte (BGN)] lebet MS. o o v 34 ist genug (GM)N(S)] wär genug B. 33 wär zu (BGM)] werd nach N, wär nach S. 37 Randnotiz A: Augustinus. 39 volkomenhay¨t begrey¨ffend (BGM)] volko¯me¯ werdn¯t N(S). o o 40 lernend (GNS)] lerent B, lere¯nt M. 41 ettlich wol BG(M)N] schul (BG)M(S)] schul da N. wol S. 42 gand sy¨ B(G)M(N)] sy gendt S. die die BGMN] die S. 43 Randnotiz A: Augustinus. 44 gefunden BGM] fundn¯ N(S). 48 da BGMS] darvm ¯¯ N. 49 gefunden GM(NS)] v funden B. o

37f. schul aller tugend ... übend Vgl. Alardus Gazaeus, Kommentar zu den Collationes des Johannes Cassianus, PL 49, Sp. 967 C: »cujusmodi (sc.: taciturni) sunt viri religiosi, qui in schola virtutum continue se exercent«. 43f. Als ich ... gefunden Augustinus, Epistula 78,9, CSEL 34, Bd. 2, S. 344, Z. 16 – S. 345, Z. 1: »quo modo difficile sum expertus meliores, quam qui in monasteriis profecerunt, ita non sum expertus peiores, quam qui in monasteriis ceciderunt«.

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Das wir nun in gott lernen und zunemen, so lert uns der hay¨lig gay¨st die sy¨ben frey¨en künst gay¨stlich zuo verstan. Dann zuo dem ersten so lert er uns durch die o Gramatick leben in rainikay¨t der gewissen. Zum andern durch Loy¨cam lert er o uns die welt verschmächen und fliechen. Zum dritten lert er uns durch Rethorick o under gott in gemüt und dem gay¨st gediemütiget werden. Zum vierden durch Musick lert er uns diemütiklich betten. Zuo m fünfften durch Arismetricam lert er uns zelen die guo ttät gotz und darumb danckpar sein. Zuo m sechsten durch Geoo metry¨ lert er uns messen y¨rdische ding und hy¨mlische. Zum sy¨benden durch Astronomy¨ lert er uns nachvolgen dem leben der hay¨ligen vätter. Und in den dingen [fol. 190 r] stät gancze volkommenhay¨t cristenlicher gaystlichay¨t. Zuo dem ersten lert uns der hay¨lig gaist Gramatick, die da ist ain grundfest aller kunst, dann sy¨ lert lesen verstan und ordenlich reden. Also auch der hay¨lig o gay¨st lert uns zum ersten rainikay¨t der gewissen, die da ist ain anfang und zierd aller tugend. Dann es spricht der zwölffbott: Gott hatt uns ausserwelt vor schaffung der welt, das wir vor seiner gegenwirtikait hay¨lig und unvermäligt wären. Sant o Bernhart spricht: Vil suchent kunst, aber wenig die lauttern gewissen, wie wol doch die gewissen ist die best kunst. Sant Augustin spricht: Unsälig ist der mensch, der vil kan und gott nit waist durch unrainikait seiner gewissen. Es spricht aber Sant Augustin: Es ist nit kostpärlicher noch edler schacz, dann ain raine gewissen, in der [fol. 190 v] sey¨demal gott wonet, so ist nichtzt das den menschen betrüben müg.

50 lert B] lernt GMN(S). 51 zuo verstan (BGM)] vständn¯ N(S). Dann zuo dem (BGM)] Dan¯ zw ¯¯ N, Zum S. lert BGS] lernt MN. 52 Randnotiz A: Gramatick. Randnotiz A: Loy¨ck. lert BGS] lernt MN. 53 Randnotiz A: Rethorick. lert BGMS] lernt N. durch Rethorick (MN)] durch Rethoricam BG, rethorick S. 54 und dem (B)GM] vn¯ N(S). 54f. durch Musick lert er uns (M)] durch Musicam lert er vnns B(G), lernt er vns durch musick N, lernet er vns musick S. o o 55 Randnotiz A: music. Randnotiz A: arismetrick. Zum fünfften (BNS)] Zum funffte¯ mal G(M). durch Arismetricam BG(NS)] durch arismetrica M. lert BGMS] lernt N. 56 uns (B)GMNS] und A. 56f. Randnotiz A: Geometry¨. durch Geometry¨ (GM)] durch Geometriam B, durch geometrey N, geometrey S. 57 lert BGMS] lernt N. y¨rdische ding (BGM)] yrdische N(S). und hy¨mlische (B)] fehlt AGM, vn¯ himlische ding N(S). 57f. durch Astronomy¨ (M)] durch Astronomia B, durch Astronomey G(NS). Randnotiz A: Astronomi. 58 lert BGMS] lernt N. 60 Randnotiz A: de o lert BGMS] lernt N. Gramatick G(MNS)] Grammagramatica. Zu dem (BGM)] Zum NS. tica B. 61 aller kunst M(NS)] aller künst (B)G. lert BG] lernt MN(S). hay¨lig (BGNS)] gaistlich M. 62 lert BGMS] lernt N. 64 Randnotiz A: Apostolus. vor schaffung BGM(N)] vor der beschaffung S. 65 das wir vor seiner gegenwirtikait hay¨lig und unvermäligt wären (BGM)] 66 Randnotiz A: Bernhardus. daz wärn vor seines gegenwurtichait häilig vn¯ vnusmailigt N(S). wie wol BGM] wie NS. 67 Randnotiz A: Augustinus. 68 durch BGNS] dusch durch (bei Zeilenwechsel) M. 69 Randnotiz A: Augustinus. nit BGMN] nichtz S. edler BGMN(S)] edlel A. 70 sey¨demal B(GMN)] fehlt S. 71 müg (BG)M] mag NS. o

64f. hatt uns ... wären Eph 1,4. 66 Vil suchent ... gewissen Ps.-Bernhard v. Clairvaux, Tractatus de interiori domo seu de conscientia aedificanda, Cap. X,17, PL 184, Sp. 516 B: »Multi quaerunt scientiam; pauci vero conscientiam«. 67f. Unsälig ... nit waist Augustinus, Confessiones, CC 27, V, Cap. IV,7, S. 60, Z. 68: »Infelix enim homo, qui scit illa omnia, te autem nescit«.

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Zu ainer behaltung der rainikait gehört, das der mensch fliech ursach aller sünd und besunder die unlautterkay¨t. Dann es spricht der zwölffbott: Ir send fliechen die unlütterkay¨t. Es spricht Sant Augustin: Allen sünden mag man in gegenwürtikay¨t widerstan aun allain der unlautterkay¨t von der man fliechen o muß. Dann ich han gesechen das die, die ich nit schäczt my¨nder hay¨lig dann Sant Ambrosi was, fielen. Die doch, ob sy¨ geflochen hetten, bestanden waren. Sag mir, bist du icht hay¨liger dann Dauid, wey¨ser dann Salomon, stercker dann Sampson oder schöner dann Absolon. Die all send gefallen und wären bestanden, werend sy¨ geflochen. Und darumb so ist nichtzt bessers dann fliechen. Des hatt man ain exempel in dem leben Sant Bernhartz. Dann man list, das Sant Bernhart vil junger hett, [fol. 191 r] under den ainer für die andern all sich fliß, gott in allen dingen wolgefallen und beleiben in seiner rainikay¨t. Und wann all ander junger urlaub hettend, außzespacieren, so gieng er allweg ainig oder belib da haim. Die andern brüdern verklagten in und sprachend: Hay¨liger vatter Bernharde, der sündert sich auss und macht sich nit gemain unser gesellschaft. Da sprach Sant Bernhart zuo im: Warumb flüchst du die gesellen? Der anttwurt: o Mein vatter, ich flüch sy¨, wann ich han anderst ze tund. Da sprach Sant Berno o hart: Was ist, dz du zetund hast? Der antwurt: Ich muß zämen ain wildes tier und behalten ain schon junckfrawen und zieren ain altar und ansechen ain totten. Mit den dingen bin ich bekümertt, das ich mit den gesellen nicht wandlen mag. Da sprach Sant Bernhart: Was ist das, dz du sagst? Der junger anttwurt: Das uno uernünfftig tier, das ich zämen muß, ist mein [fol. 191 v] vichischer leichnam. o o Hett ich den nit in gutter hut und zucht, so übet er sein vichische natur. Die junckfraw, die ich ze behütten han, ist mein sel, mir eingegossen von gott. Darumb, das sy¨ nit vermälget werd mit dehainer sünd des leibs oder gaysts. Der altar, den ich ze zieren han, ist mein hercz, auff dem ich mich opffer dem 73 Randnotiz A: apostolus. sünd BGMN] su´nden S. besunder die unlautterkay¨t (GMNS)] besunder der vnlautterkait B. 74 Randnotiz A: Augustinus. 75 aun (BGMS)] dan¯ N. o o 76 nit schäczt my¨nder (BGMN)] schätzt nicht 75f. fliechen muß (BGM)] muß fliehn¯ N(S). 77 Randnotiz A: Ambrosius. Ambrosi GM(NS)] Ambrosium verbessert aus myndrs S. Ambrosius B. geflochen hetten, bestanden waren (BGM)] geflochn¯ werdn¯ wären bestandn¯ N, geflohen wärn¯ bestande¯ wärn¯ S. 80 werend sy¨ geflochen] wären sy¨ geflochen B(GN), werden sy¨ geflocÐh M, ob sy wären geflohe¯ S. Und darumb (BG)M] Darvm ¯¯ N, Dar und Randergänzung: vm S. 81 Randnotiz A: exempel. leben G] lesen ABMNS. Bernhartz (BN)S] bernhart GM. Dann BG(MN)] fehlt S. 82 all BGMN] alle¯ S. 83 gott in allen dingen (BGMN)] jn allen dingen got S. o beleiben (BG)M(N)] zu beleibe¯ S. 85 belib B] pelayb G(M), belib abs N, belaibs S. Die andern 85f. vatter Bernharde brüdern verklagten in (BGM)] Darvm ¯¯ vsclagtn¯ jn die andern brüder N(S). (BGM)] vatts N(S). 86 auss (BGMN)] auß vns S. macht sich BMNS] ma¯ch sy G. unser (BGM)] vnß N, vnsrs S. 89 dz (BGMN)] das das S. 91 bin (BG)M(S)] bin verbessert aus gen N. o 92 das, dz (B)] das GM(N)S. 93 leichnam (BG)M] leib NS. 94 hut (B)G(MS)] hutt verbessert aus gutt N. natur BG] natu (?) M. 95 eingegossen B(GM)] ein gozzn¯ N(S). 96 gaysts (BNS)] gayst A(MG). 96f. Der altar (BMN)S] Den altar G. 97 ze zieren han (BG)M] ziern sol N(S). opffer (B)GMN] opffern S. o 73f. Ir send ... unlütterkay¨t I Cor 6,18. 74–76 Allen sünden ... fliechen muß Ps.-Augustinus, Sermones supposititii, Sermo 293,1, PL 39, Sp. 2301: »contra reliqua vitia, Deo auxiliante, debemus in praesenti resistere; libidinem vero fugiendo superare«. 78f. Sag mir ... Absolon Vgl. ebd., Sermo 293,2 u. 3, PL 39, Sp. 2302 (David, Salomon).

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lebendigen gott und Jhesu Cristo, der sich selbs umb meinen willen geoppffert hatt gott dem vatter auff dem altar des crücz. Der todt, den ich an sechen muo ß, ist mein töttlichs leben. Wann ich waiß nit, wenn, wa und wie ich sterben wird. Da sprach Sant Bernhart: Mein sun, tuo hin für alz du bis her getan hast, so wirst o du sälig. Auß dem erscheint, dz der, der begert rainlich zeleben, fliechen muß ursach der sünden. Zuo dem andern lert uns der hay¨lig gaist Loicam. Die selbig kunst lert erkennen das war von dem [fol. 192 r] falschen und straffen. Also der hay¨lig gay¨st, wann er den menschen pringt zuo lautterkay¨t der gewissen, so lertt er in erkennen das war von dem falschen und streitten wider das flay¨sch, wider die welt und den bösen gaist. Dann zuo m ersten hept der leib für ley¨plich wollust und spricht, dz gesprochen ist Ecclesiastici: Ich han gelobt die fröd der menschen. Was ist bessers under dem hy¨mel dann essen und trincken, wol leben und wollust haben. Aber der o hay¨lig gay¨st lertt sein schuler anttwurtten, das da spricht der zwölffpott: Die in lust des leibs send, mügent Cristo nit wol gefallen. Der leib begert wider den gaist und der gaist wider den leib. Es spricht auch Aristotiles: Wollust ist wider wollust, alz ob er spräch: wollust des leibs ist wider wollust des gaists. Wann nun der gaist ist ainer hy¨mlischen natur und der leib ainer y¨rdischen, darumb so sol man dem gaist leben. Zuo dem andern, so hebt die welt [fol. 192 v] für reichtung und er der welt und spricht: Gott hatt dem herren geben den himel, aber das ertrich hatt er geben den sünen der menschen. Sälig ist der, der genuo g da haim hatt, der aber nichtz hatt, ist nichtz wert. Wider das so lert der hay¨lig gay¨st anttwurtten, das geschriben ist Johannis: Ir send nit lieb haben die welt noch die ding, die in der welt sind. Der weis hett gold silber und küncklich ere und allen wollust und sprach doch: Ich 98 Jhesu Cristo B(GNS)] iesus xpm M. 99 Der todt B(MNS)] Den tod G. 100 wenn, wa und wie (BGMN)] wenn · wie odrs wa S. wird BGM] muo ß N(S). 101 hin für (B)GMN] für an S. getan hast (BG)M(S)] hast getan N. 102 der, der (BGMN)] der der da S. rainlich BM(S)] o o Raynnicklich G(N). muß N] müß (B)GM, sol vnd muß S. 104 Randnotiz A: de loica. andern (BG)M] andern mal N(S). lert uns (BGM)] so lernt vns N, so lert vns S. kunst lert (BG)M] kunst lernt N(S). 105 Also BMNS] also das G. 106 lerrt (BGMS)] lernt N. 107 flay¨sch (BGNS)] falsch M. 107f. und den (BGM)] vn¯ wider N(S). 109 Dann (B)G(MN)] fehlt S. hept (BGM)] so hept N(S). gesprochen BGM] geschribn¯ N(S). 110 Randnotiz A: ecclesiastici. 110f. bessers under dem hy¨mel (BG)M] pössers N(S). 112 lertt (BGM)] lernt N(S). da spricht der zwölffpott (BGMN)] der zwelfpot spricht S. 113 Cristo BG(MN)] got S. 114 Randnotiz A: Aristotiles. 121 Wider das so lert der hay¨lig gay¨st (BGM)] Abes der hailig gaist lernt N, Abrs der heilig geist lert S. 122 Randnotiz A: Johannis. in der welt (B)NS] yn dy¨ser welt G(M). 123 Randnotiz A: Salomon. hett B(G)M(N)] hat S. 110f. Ich han ... wollust haben Ecl (Ecclesiastes!) 8,15. 112f. Die in lust ... wol gefallen Vgl. Gal 5,16. 113f. Der leib ... wider den leib Gal 5,17. 114f. Wollust ... wollust des gaists Vgl. Augustinus, Sermo 284,4, PL 38, Sp. 1291: »Erat delectatio contra delectationem«; zum Gegensatz ›delectatio corporalis‹ vs. ›delectatio spiritualis‹ vgl. z. B. Aelred v. Rievaulx, Sermones, CCM 2A, Sermo 37 (In natali Sancti Benedicti), S. 300–305, Thomas v. Aquin, In quattuor libros Sententiarum, hg. von R. Busa, Stuttgart-Bad Cannstatt 1980, IV, ds 49, qu 3, ar 4a, rc 2, u. ar 5a, ag 3, S. 693. 119f. hatt dem ... der menschen Ps (LXX) 113,24. 122 Ir send ... welt sind I Io 2,15. 123–126 Ich han ... gaistz Ecl 1,14.

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han gesechen alle ding, die under der sunnen send und gehandelt werdent, und die send nichtzit anderst dann ain üppikay¨t der üppikay¨t und ain peinigung des gaistz. Man list, das ain ritter sach ain aller schönste frawen, ab der schön er wundert, und y¨e lenger er sy¨ ansach, y¨e schöner sy¨ in gedaucht. Die fraw sprach: Wie gefall ich dir? Er anttwurt: O du allerschönste der frawen, ich han dein geleich nie gesechen. Die fraw keret sich von im und sprach: Sich mich hinden, wie [fol. 193 r] ich dir gefall. Da sach er ain ofen prinnen mit schwebel und bech und über all maß übel schmecken. Da sprach der ritter: O wie ain groß wunder ist das, daz du fornan die aller schönest bist under den weiben und hinden ain prinnender ofen. Was bist du? Die fraw anttwurt: Ich bin die welt, die iren liebhabern gar lieblich und ir spiegel ist, aber das end ist der tod. Alz das dann wol betrachtet Sant Bernhart da er sprach: O du unraine welt, warumb haltest du die menschen also, und du doch zergenklich und in tod fürend bist, was tätest, soltest du ewenklich stan? Es spricht Gregorius: Die welt gronet in vil menschen herczen, wie wol sy¨ doch in ir selbs dorret. O liebhaber der welt, veind des crücz Cristi, wie bald hand ir gelassen, das ir spat an gefangen hand. Spat hand ir gebeichtiget und y¨ecz bald send ir vermailgot worden mit sünden. Jhesum hand ir fräuenlich aussge[fol. 193 v]triben, den ir mit grosser forcht in ewer herberg o genommen hand. Darumb in der engstlichesten not wirt zu eüch gesprochen: Furwar sag ich eüch, ich waiß euch nit. o Zu dem dritten hept der böß gaist für die gab, die der mensch enpfangen hatt, und spricht: Du bist edel, jung, reich und schön, im alter so machst du wol rüen und gott leben. Aber der hay¨lig gaist lert sein schuo ler anttwurtten: Gang hinder

124 send und gehandelt (BGM)] gehandelt N, gesehen S. 124f. und die send (BGM)] vn¯ sind N(S). 125 peinigung (BGS)] peiniung M, peinu¯g N. 127 Randnotiz A: exempel. frawen (BGMN)] fehlt S. 127f. schön er wundert (BG)MS] schein erwu¯dert er sich N. 128 sy¨ ansach B(G)M(S)] sich an sach N. gedaucht BGM(N)] daucht S. 130 hinden (BG)M(N)] hinde¯ an S. 131 und bech (BGM)] vn¯ mit pech N(S). 133 ist das B(G)M] daz ist N(S). 136 Randnotiz A: Bernhart. betrachtet B(G)MN] betracht S. haltest du (BG)MN] behaltest S. 137 fürend G(M)] füren BNS. 138 ewenklich] ewigclich B(MN), ewigklichen G(S). Randnotiz A: Gregorius. 141 gebeichtiget (BG)M] 140 gelassen BGM] gelassen verbessert aus gelesen N, vslassen S. gebeicht N(S). 143 engstlichesten B(G)M] ängstlichn¯ N(S). 144 waiß euch (B)G(MN)] waiß o ewr S. 145 Randnotiz A: 3. 146 rüen MS] rüwen (BG), ruen N. 147 leben GM(N)] loben B, dienen S. lert sein BGM] lernt dy N, lernt sein S. 127–135 Man list ... der tod Vgl. F. C. Tubach, Index exemplorum, Helsinki 1969, Nr. 5390; W. STAMMLER, Frau Welt, Freiburg/Schweiz 1959, S. 46f. mit Anm. 141f. 136–138 O du ... ewenklich stan? Vgl. Augustinus, Sermones de scripturis, Sermo CV (a), Cap. VI, PL 38, Sp. 622: »Quid strepis, o munde immunde? [...] Tenere vis periens: quid faceres si maneres?«; Quodvultdeus, Opera tributa, CC 60, Sermo de symbolo III, I,20, S. 350, Z. 65f.: »O munde immunde, teneris periens; quid faceres si maneres?«. 138f. Die welt ... dorret Gregor d. Gr., Homiliae in Evangelia, Homilia 28,3, PL 76, Sp. 1212 D: »et tamen cum in seipso floreret, jam in eorum cordibus mundus aruerat«. 144 Furwar ... euch nit Mt 25,12. 146f. Du bist ... gott leben Vgl. Ps.-Augustinus, Sermones supposititii, Sermo 293,4, PL 39, Sp. 2302. 147f. Gang ... gotz sind Mc 8,33.

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sich, tüffel, du verstast nit die ding, die gotz sind. Von der jugent spricht der zwelffbot: Wann sy¨ sprechend frid und sicherhait, so kompt gächlingen der tod. Von der reichtung spricht der prophet: Wann der reich entschlaufft, so nimpt er nit alle ding mit im. Auch spricht der propheet: Sy länd den frömden ir reichtum. ¨ e grösser nun send die gauben gotz, sy¨ sey¨end natürlich oder gay¨stlich, y¨e Y grösser gehört darumb übung der danckpärkay¨t. Zuo dem dritten so lert der hay¨lig gaist Rethorick. Die selbig kunst lert kluo glich reden latein [fol. 194 r] und brieff schreiben, dar inn sich ainer gegen dem andern nidert und diemütiget. Also der hay¨lig gaist, wann er uns macht gott rainiklichen dienen und den leib, welt und den bösen gaist verschmechen, so macht er dann, das wir uns in ainem verlaugen aigens willes gott diemütiklich underwerffen und sprechen mit dem propheten: Die ains diemütigen gaistz wirt o gott behalten tun, den diemütigen geit gott genad, die diemütigen erhöcht gott. Und darumb so lernent von Cristo diemütikait. Dann ir mügent so vast nicht gediemütiget werden, Cristus sey¨ noch diemütiger gewesen. Spricht Jeronimus: Es ist beser ein gan in den himel mit dem diemütigen Cristo, dann gan in die hell mit dem hoffertigen tüffel. Es spricht auch Sant Benedict in seiner regel: Wilt du gediemütiget werden, so solt du dich in deinem herczen, an deinem [fol. 194 v] leichnam und an deinen wercken diemütigen erzaigen. Wilt du diemütig werden, so solt du vernünfftiklich wenig reden und schweigen, bis man dich frag. Wilt du diemütig sein, so solt du dich in allen dingen berait und gehorsam erzaigen und beweisen und dich allweg ain unnü148 nit die ding BGM(N)] die ding nit S. jugent (B)GM(S)] jungk N. 149 Randnotiz A: Apostolus. gächlingen (GM)N] gächlinger B, gähling S. 150 Randnotiz A: propheta. der reich BGMS] der der reich N (bei Seitenwechsel). 151 Randnotiz A: propheta. frömden G(MN)S] frainden B. 152 gauben (BGMN)] gab S. 153 gehört darumb übung der danckpärkay¨t (BGMN)] v¨bung der danckperkeit gehört darvmb S. 154 Randnotiz A: 3. Randnotiz A: o so lert BGMS] so (nachgetragen) lernt N. gaist Rethoricam. Zu dem (BGMN)] Züm S. (BG)MN(S)] fehlt A. Rethorick G(MNS)] Rethoricam B. kunst lert (B)GMS] chunst lernt N. 156 gott (BGMN)] fehlt S. 157 rainiklichen dienen (BG)M] rainlich lebn¯ N(S). welt (B)GN] die welt MS. den bösen B(G)M(S)] pösen N. 158 verlaugen (G)M] verlaugnen B(S), verlängen N. 159 Randnotiz A: propheta. gaistz (G)M] gaistes sind B, gemütes sind N, gemutes S. o den BGM] de¯ N, dem S. 163 Randnotiz A: Jeronimus. 160 behalten tun (BGM)] behaltn¯ NS. 163f. ein gan in den Spricht Jeronimus B(G)] Es spricht jeronim9 M(N), .S.. Jeroni 9 spricht S. himel mit dem diemütigen Cristo (B)] ein ge¯n jn den hymel mit den ... G, eingang in den himel mit 164 gan dem ... M, ein gen jn himel mit de¯ ... N, ein gen mit de¯ diemüttige¯ xpo in den himel S. B(G)N(S)] fehlt M. 165 Randnotiz A: Benedictus. 166 leichnam (B)GM] leib NS. und an deinen wercken diemütigen (BGM)] vn¯ jn deine¯ werckn¯ diemüticlich N, Jn deine¯ wercke¯ diemüttigklich S. 169 dich BGMN] auch S. 149 Wann sy¨ ... der tod Vgl. I Th 5,3. 150f. Wann der ... mit im Ps (LXX) 48,17f., Iob 27,19. o 151 Sy länd ... reichtum Ps (LXX) 48,11. 159f. Die ains ... behalten tun Ps (LXX) 33,19. 160 den diemütigen ... genad Iac 4,6, I Pt 5,5. die diemütigen erhöcht gott Ez 21,26, Lc 1,52. 163f. Es ist beser ... hoffertigen tüffel Vgl. Augustinus, Expositiones, CSEL 84, Expositio ad Galatas, 24,6, S. 86, Z. 23 – S. 87, Z. 1: »Restat ergo, ut qui mediatore superbo diabolo superbiam persuadente deiectus est, mediatore humili Christo humilitatem persuadente erigatur«. 165– 167 Wilt du ... erzaigen Vgl. Benedicti Regula, CSEL 75, VII,62f., S. 50f. 167f. Wilt du ... dich frag Vgl. Benedicti Regula, CSEL 75, VII,56, S. 50. 168f. Wilt du ... und beweisen Vgl. ebd., VII,34, S. 45f. 169f. dich allweg ... scheczen Vgl. ebd., VII,49, S. 48.

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czen diener scheczen. Wilt du diemütig sein, so solt du nit lieb haben dein aigen willen und in allen widerwärtigen dingen gedultig sein. Dann wa diemütikait ist, da ist gedultikay¨t. Und wa gedult, da ist die lieb. Dann die lieb ist gedultig. Zuo m vierden so lert der haylig gaist Musick. Das ist wol singen in gay¨stlicher fröd. Es spricht Sant Augustin: Alz die natürlich stimm nit ist on leiplichen gaist, also ist auch die gaistlich stimm nit on den hay¨ligen gaist. Und darumb spricht der prophet: Singent dem herren ain nü gesang, dan er hatt wunderbere ding getan. Nun sechen wir das in ainem y¨eglichen maisterlichen [fol. 195 r] gesang drey¨ stimm send, die under, die mittel und die höchst. Also sol auch in dem gaistlichen gesang sein drey¨ stimm, das ist die stimm des herczen, des munds und des wercks. Der mund halt die under stimm. Dann vil menschen ¨ say¨as: Das volk eret lobend gott mit dem mund on das hercz. Es spricht da von Y mich mit den leffsen, ir hercz ist aber verr von mir. Die werck haltend die mittel stimm, das hercz die aller höchsten. Dann wär andacht des herczen nit da bey¨, so wer das gebet des munds und würcken des leibs wenig nücz. Aber das gesang des herczen, munds und wercks macht dem herren lust und o verjächt den bösen gaist, als geschriben ist am ersten buch der künig am xiii capittel: Wann der bös gaist Saul den künig peiniget, so sang Dauid auff der härpffen, und dann so verließ der bös gaist künig Saul. Also, wann wir gott loben, so mach wir auch den bösen gaist [fol. 195 v] flüchtig von uns. Dann es spricht Sant Jacob: Widerständ mit andächtigem gebet dem bösen gaist, so wirt er von euch fliechen.

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171 gedultig sein BGM] dultig sein N, gedultig S. 172 wa gedult] wa gedulltikait ist B(NS), wo gedult ist GM. da ist die lieb BNS] da ist lieb GM. gedultig (B)GM(S)] dultig N. 173 Randnotiz A: 4. Randnotiz A: Musick. lert BGMS] lernt N. Musick (MNS)] Musicam B, müsick G. 174 Randnotiz A: Augustinus. fröd (BG)M(N)] fehlt S. on B(GM)] an ain N(S). 175 hay¨ligen (BGN)] gaistlichen M, heilige¯ heilign¯ (bei Zeilenwechsel) S. 176 Randnotiz A: Dauid. prophet (BGN)] pprohet M, heilig prophet S. 177 in (BG)M] nachgetragen N, fehlt S. 178 und (BGMN)] fehlt S. sol (B)GMN] fehlt S. 179 gesang GMN(S)] fehlt B. sein BGMN] sind S. 180 mund (BG)MN] fehlt S. under (GS)] vnndern B(N), ander M. 181 Randnotiz A: ysayas. da von BGM] fehlt NS. 182 mit den leffsen (BGM)] mit de¯ mu¯d N(S). 182 ir hercz ist 184 würcken des aber (BG)M(S)] abs daz ir hercz ist N. mittel (G)M(N)] mittlen B, myttrsn S. leibs (BGM)] des wescks N(S). 185 munds und wercks (B)G(M)] dez mu¯des vn¯ des werckes N(S). herren BG(M)] hsn N, hören S. 186 Randnotiz A: Regum. verjächt (BGMN)] vstreibt S. am BGM] an de¯ N, an den S. xiii GMN] drey¨tzechenden B, xiiij S. 187 Saul den künig B(GMN)] den kunig saul S. 188 und dann so (GM)] vnnd dann B, so NS. 189 mach GMNS] machen B. wir auch BGM] wir NS. Dann B(GMN)] wann S. 190 Randnotiz A: Jacobus. Widerständ andächtigem BGM(S)] andächtigen N. (BGMN)] widrs stee S. 170f. Wilt du ... gedultig sein Vgl. ebd., VII,35, 38 u. 42, S. 46f. 174f. Alz die ... hay¨ligen gaist Vgl. Augustinus, Enarrationes in Psalmos, CC 38, Ps. 5, § 2, Z. 5f., S. 19f.: »quandoquidem uox corporalis auditur, spiritalis autem intellegitur«. 176f. Singent ... getan Ps (LXX) 97,1. 181f. Das volk ... von mir Is 29,13. 187f. Wann der ... künig Saul I Sm 16,15 u. 23. 190f. Widerständ ... fliechen Iac 4,7.

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Zum fünfften so lert uns der hay¨lig gaist Arismetrick. Dann er lert uns zelen alle guo ttät gotz uns geschechen, alz die schöpffung und widerschöpffung, erlösung, gebung der sacrament und verhayssung seins reichs. Wann wir nun das wöl gezellen, so gehört darzuo ain sagen der danckpärkay¨t. Es spricht Sant Augustin: Wie wol gott allmächtig ist, so hatt er doch uns nit me mügen tuo n dann er getan hatt. Wie wol er ist die ewig weisshait, so hatt er doch nit me gewist und ze tuo n. Wie wol er ist der aller reichest, so hatt er doch nit me o o gehept ze tun. Darumb, es sey¨ dann, das wir umb die enpfangen gut tüen übung o der danckperkait, so werdent uns alle ding, uns gegeben zum hay¨l, verkert zuo m tod. Dann es spricht Sant Bernhart: Undanckparkait hatt gehasset mein sel, dann sy drücknet den brunnen göttlicher milltikait. Zuo m sechsten [fol. 196 r] lert uns der hay¨lig gaist Geometry¨. Das ist, er lert uns messen das land der lebendigen und nit der totten. Dann es spricht Sant Augustin: Wann du messen wirst das land der sterbenden, so wirst du von dem ertrich gemessen. Dann am end so wirst du von dem ganczen ertrich nichtzit haben dann im grab die lengin sy¨ben schuo ch. Und darumb sprach ain natürlich maister von dem grossen Allexander: Der was gester nit genügig der ganczen o welt, hew ¨ t last er sich genügen im ertrich der weit sy¨ben schuch. Und darumb so süll wir messen das ertrich der lebendigen, das all lerer der welt nit wissend ze messen.

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192 Randnotiz A: 5. Randnotiz A: Arismetrick. Zum GM(S)] Zu dem B(N). fünfften (BGM)] fünftn¯ mal NS. so lert uns (GM)] lert vnns B, so lernt N, so lert S. Arismetrick (G)M(NS)] o o uns Ary¨smetricam B. er lert BGMS] er lernt N. 193 guttät B(S)] gutthay¨t A(GMN). geschechen (BNS)] vnnd geschehen G(M). widerschöpffung (B)G(MN)] widrsschöpffen S. 194 der sacrament und (BM)] dez Sacramecz vnd G, der sac˜me¯t N(S). 195 nun das (BG)M(N)] das nu¯ S. sagen der danckpärkay¨t (GM)] der danckperkait B, danckperkait sagen N(S). 196 Randnotiz A: Augustinus. doch uns (B)M] vns doch GNS. 197 getan hatt (B)M(NS)] vns o v gethan hat G. 198 gewist und ze tun (G)] gewy¨ßt ze thun B, gehebt ze tun M, gewist vns ze tun o N(S). reichest (BG)NS] rechtest M. hatt (BGMS)] fehlt N. 199 ze tun (BGM)] vns ze tun N(S). o o gut (BGM)N] guttat S. 200 uns gegeben M (in A Vorsilbe ge nachgetragen)] gegeben BG(N), gebe¯ S. 201 Randnotiz A: Bernhardus. dann BG(M)] wan¯ N(S). 202 göttlicher milltikait (BGMN)] 203 Randnotiz A: 6. Randnotiz A: Geometry¨. der parmhertzigkeit vnd gotlichrs myltigkeit S. o Zum (B)GM] Zw de¯ N(S). lert BGMS] lernt N. Geometry¨ (M)] Geometriam B, Geometrey G(NS). 203f. er lert uns (BGM)] fehlt NS. 204 Dann BG(MN)] Wann S. 205 Randnotiz A: Augustinus. 206 am end so] am ennd do B, ayn end so G(M), an end so N, on endt so S. 207 lengin BM] leng yn G, lenge N, leng S. darumb B(MNS)] darumb so G. 207f. Randnotiz A: phy¨losophus. o o so BGM] 209 im ertrich der weit sy¨ben schuch (BGM)] ds lenge siben schuch jm ertrich N(S). fehlt NS. 210 messen GMNS] fehlt B. 201 Undanckparkait ... mein sel Ps.(?)-Bernhard v. Clairvaux, Sermo II pro dominica VI post Pentecosten: De septem misericordiis, 1, PL 183, Sp. 339 C: »sed ingratitudinem prorsus odit anima o mea«. 208f. Der was ... sy¨ben schuch Vgl. Gesta Romanorum, hg. von H. Oesterley, Berlin 1872, Nr. 31, S. 329, Z. 25f.: »Heri non sufficiebat Alexandro totus mundus, hodie sufficiunt ei tres vel quatuor ulne panni«; ähnlich Gesta Romanorum, hg. von W. Dick, Erlangen/Leipzig 1890, Nr. 66, S. 44.

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Und das süllen wir tun mit den drey¨en massen, mit den alles das gemessen wirt, das da ist in himel und in ertrich, das ist mit der gesicht, gehörd und ¨ saias: Das aug hatt nit gesechen noch gedencken des herczen. Dann es spricht Y das or gehört, noch in des menschen herczen ist nie kommen die ding die gott [fol. 196 v] berait hatt dienen, die in lieb hand. Es spricht der zwölffbott: Von des wegen so büg ich meine knie gegen dem vatter meins herrn Jhesu Cristi, das ir mügent begreiffen mit allen hay¨ligen, was sey¨ die höche götlicher maiestät, die dieffin der ungeschöpfften und ewigen weishait, die weittin seiner einwonung und die lengin der ewikay¨t. Und wann o o die ding wol gemerckt werden, so spricht der schuler: Ich gelaub zesechen gutte ding in dem ertrich der lebendigen. Zuo dem sybenden lert uns der hay¨lig gaist Astronomy¨. Das ist schawen den lauff der planeten und sterrn. Das ist, er lert uns mercken das leben der hay¨ligen vätter. Es ist geschriben in dem buo ch der geschöpfft: Sich den himel und zel die sterrn ob du mügest, als ob er spräch: merck die himlischen menschen und die hay¨ligen vätter, in welcher weis und wie sy¨ gott gedient hand, und folg dem nach. Es spricht Judith: Send ingedenck wie behalten send worden unser vätter. Und alz du vindest das ain sterrn von dem andern underschaid hatt in der klarhait, also hatt das leben der [fol. 197 r] hay¨ligen underschaid von unserm o o arbatsäligen leben. Es spricht Jeronimus: Wir sollen suchen exempel der gutten o darumb, das wir in tugenden zu nemen. 212 das süllen wir B(G)M] süllen daz N(S). mit den alles BGM] mit de¯ alles N, mit dem alles S. 213 mit der gesicht GM(N)S] mit gesicht B. 214 Randnotiz A: y¨saias. hatt B(GMN)] het S. 216 berait hatt dienen (BM)] peraitt hat dienen den G, diene¯ berait hat N, berayt hat den S. 217 Randnotiz A: Apostolus. Von des wegen (G)MS] Vmb des wegen B, vo¯ des wegs N. meine (BG)MS] mein N. gegen BGM] gege¯ got NS. 218 Jhesu BG(NS)] ies9 M. 219 höche (G)M] höchin B, höch N, hoch S. götlicher (B)M(NS)] götliche G. 220 lengin (B)] legin GM, lenge N(S). wann BG(M)] wen N, wenn S. 223 Randnotiz A: 7. Randnotiz A: Ast°nomy¨. sybenden (BGMN)] sibe¯ten mal S. lert BGMS] lernt N. Astronomy¨ M] Astronomy¨am B, Astronomey¨ G(NS). 224 lert BGMS] lernt N. 225 Randnotiz A: Genesis. den himel (BG)MN] die himel S. 227 dem BGM] de¯ N, den S. 228 Randnotiz A: Judith. 229 von dem andern underschaid hatt (B)M(N)] vnterschaid hat von dem andersn G, vntrsschaidt vo¯ dem andrsn hat S. 230 hay¨ligen (BGMS)] häiligen vätter N. 231 Randnotiz A: Jeronimus. Jeronimus arbatsäligen (BGMS)] arbent sälgn¯ N. BGM(N)] .S.. Jeroni9 S. 214–216 Das aug ... lieb hand Is 64,4 (mit Add. in C ΣΛ): »oculus non vidit Deus absque te (nec auris audiuit nec in cor hominis ascendit) quae praeparasti expectantibus te«. 217f. Von des wegen ... Cristi Eph 3,14. 218–220 das ir ... lengin der ewikay¨t Vgl. Eph 3,18; ferner z. B.: Adam Skotus, Sermo 26,IX, PL 198, Sp. 250 D: »Discent sancti, qui bene comprehendent, quae sit latitudo, longitudo, sublimitas, et profundum (Ephes. III,18). Sublimitas potentiae, profundum sapientiae, latitudo charitatis, longitudo aeternitatis«; ders., Sermo 38,VI, PL 198, Sp. 345 C/D: »comprehendens longitudinem aeternitatis ... latitudinem charitatis ... sublimitatem majestatis ... profundum sapientiae«; vgl. ferner Helinand v. Froidmont, Sermo 8, PL 212, Sp. 547 C: »Sic enim comprehenditur quae sit latitudo dilectionis divinae, longitudo aeternitatis, sublimitas potestatis, profundum sapientiae«; ders., Sermo 10, PL 212, Sp. 569 C: »Propter has quatuor dimensiones signum crucis factum est, attingens a fine usque ad finem fortiter, per longitudinem aeternitatis ... per latitudinem charitatis ... per sublimitatem potentiae ... per profunditatem sapientiae«. 221f. Ich gelaub ... lebendigen Ps (LXX) 26,13. 225f. Sich ... mügest Gn 15,5. 228 Send ingedenck ... vätter Vgl. o Idt 8,21 (?). 231f. Wir sollen ... zu nemen Gregor d. Gr., Homiliae in Hiezechihelem, CC 142, II, Homilia 5,21, S. 291, Z. 531f: »exempla bonorum saepe quaerimus, ut in moribus proficiamus«.

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Man list, das ain künig hort sagen von ainem aller clugsten maler. Zu dem schickt er dz er zuo im käm. Alz er nun kam, sprach der künig zuo im: Mach mir das aller schönst bild, das in der welt sey¨, dann du wirst gehay¨ssen der aller cluo gest maister des malens. Der maler anttwurt: Herr ain grosse sach begerst, o dann es ist kain maister so gut man vind sein geleich. Doch so berieff für mich alle junckfrawen und jüngling deins reichs. Da das nun geschach, da marckt der maler antlüt, augen, hend, füss und alle gelider aller der, die für in berüfft waren. Und welcher das schöner antlüt, augen, hend, füss hett, nach dem malet er und machet also dz aller schönest bild. Also welcher mensch begert geleich werden o Cristo, der sech an die bildung der hay¨ligen und gutten menschen und merck an aim rainikait, an dem andern diemüti[fol. 197 v]kay¨t, an dem dry¨tten gedultikay¨t. Und wann er also sicht die exempel der guo tten, so wirt er auch gebessert. Das wir nun also vom hay¨ligen gaist lernen, so legt er uns für drw ¨ grosse bücher. Dann den anfachenden menschen legt er für zuo ainem buo ch das gancz ertrich, den würckenden das firmament, den volkommen menschen den fürin himel. o Zu dem ersten so legt er den anfachenden für das ertrich, das sy¨ lernend am ersten erkennen ir aigen gebrechen. Dan als das ertrich schwecher ist allen andern elementen, also sol der anfachend mensch mercken sein schwachay¨t, o böse werck, die er verpracht hatt, und gutte ding, die er underwegen gelassen hatt, und sich des schämen. Es spricht der zwölffbott: Was nucz hand ir gehept o in den dingen, der ir eüch yeczund schämend? Und also in dem buch des ertrichs lernend sy¨ erkennen ir aigen gebrechen und darnach gediemütiget werden. Dann den anfachenden list der hay¨lig gaist [fol. 198 r] die letzigen: Mensch du o solt gedencken, wann du bist äsch und wirst wider kommen zu äschen. Darumb o so leb also auff ertrich das du begerest zu sterben. 233 Randnotiz A: Exempel. 234 sprach (B)G] da sprach M(NS). mir BMNS] mich G. 236 ain grosse sach begerst B(MNS)] ir pegert eyner grosse¯ sach G. 237 dann (GMNS)] Wann B. o o es ist kain maister so gut (BGM)] er ward chain maists nı¨e so gut N, es ward chain maistrs nye so gut e e S. vind B(G)M(S)] fund N. 239 füss (BGM)] vn¯ fuß N(S). 240 füss (BGM)] vn¯ fuß N, vnd füß vnd allew gelider Aller der die für jn gerüft warn¯ vnd welchrs das schönrs antlutz Augen hendt vnd füß (Wiederholung) S. malet BG(N)S] maltet M. 241 also dz aller schönest bild (BMN)] o 244 wann also daz aller schonst antzlitz vnd pild G, fehlt S. 242 gutten (BGM)] guttes N(S). BG(M)S] so N. gebessert (BGMN)] pessert S. 245 Das wir B(N)S] Da wir G, dar wir M. vom hay¨ligen (BN)] vo¯ heyligem G, von hailigem M, von de¯ heilige¯ S. 246 Randnotiz A: incipientipus. Dann B(GMN)] fehlt S. menschen (BNS)] fehlt GM. 247 Randnotiz A: proficientibus. Randnotiz A: perfectis. 249 Randnotiz A: 1. den anfachenden für BGM] für den anfachende¯ N(S). 250 gebrechen (BGMN)] preche¯ S. 250f. allen andern (BM)N(S)] andern allen G. 252 verpracht B(G)M(S)] volpracht N. 252f. gelassen hatt (BGM)] hat gelassen (ge nachgetragen) N, lassen hat S. 253 Randnotiz A: Apostolus. 254 yeczund (BG)M] yecz N(S). 256 der hay¨lig gaist (BGM)] er NS. 255 gebrechen und (BGM)] gebrechn¯ N, preche¯ S. letzigen] letzgn¯ B, letzen G(S), leczigen M, leczn¯ N. 257 wann BGM] daz N(S). äsch B(GM)] achen N, asche¯ S. wider BM(NS)] fehlt G. kommen B(GM)] fehlt NS. 233–241 Man list ... schönest bild Vgl. Gesta Romanorum, hg. von H. Oesterley, Berlin 1872, Nr. 62, S. 370f.; Gesta Romanorum, hg. von W. Dick, Erlangen/Leipzig 1890, Nr. 155, S. 126f.; weitere Nachweise bei F. C. Tubach, Index exemplorum, Helsinki 1969, Nr. 3864. 253f. Was nucz ... schämend Rm 6,21. 256f. Mensch ... äschen Aschermittwochs-Benediktion nach Gn 3,19, vgl. A. Franz, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Freiburg i. Br. 1909, Bd. 1, S. 464, Anm. 2.

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Wie aber der gaystlich leben söll, lert der hay¨lig gaist in der gesicht die ezechiel sach. Der selbig sach die antlüt der vier evangelisten, des ainen in gestalt ains menschen, des andern in gestalt ains leo, des dritten in gestalt ains ochsen, des vierden in gestalt ains adlers. Alz ob der hay¨lig gaist spräch: Wölo cher in gott zu nemen will, der sol haben ain antlüt des menschen in der gemain, also das er miltsamlich diemütiklich und fridsamlich wandel mit allen menschen. Im dormiter sol er haben ain antlüt des leon also das er keck sey¨ im o widerstan den begirlichay¨tten und versuchungen. Im refecter sol er haben das antlütt des ochsen, also das er kostlicher und zartter speis nit achte. Im kor oder kirchen sol er haben ain antlüt des adlers, [fol. 198 v] also das er in seinem gemüt und andacht erhöcht werd in gott. Zuo dem andern, so legt der hay¨lig gaist den würckenden für zuo ainem buo ch das firmament, das ist den gestirneten himel, das sy dar an lernen in got. Dann alz das fürmament umb gat die ganczen welt und täglich seinen lauff verbringt, also sol der würckend mensch täglich verpringen seinen lauff. Den selben list der hay¨lig gaist die letzgen des zwölffbotten, der da spricht: o o Gutz tund süllen wir nit abnemen. Dann Gregorius spricht: Das gegenwirtig o leben ist nit anderst dann ain weg durch den wir faren zum vatterland. Nun wirt der weg ny¨mmer verpracht man begreiff dann das end: Und darumb so mag ain o gutter würcker am end sprechen: Den lauff han ich verpracht, den gelauben han ich behalten. Aber laider vil gaistlicher menschen nemant mer ab dann zuo . o o Wann man list im leben der vätter das ain gutter bruder gott batt das er im r zaigte das leben der gaistlichen. Dem [fol. 199 ] erschain der engel und sprach: Stand auff und komm mit mir. Der engel fürt in auff ain hochen berg, auff dem

259 leben BGM(N)] sterben S. gaist (G)MN(S)] fehlt B. 260 Randnotiz A: ezechiel. 262 ochsen, des vierden in gestalt ains (BGNS)] fehlt M. 264 miltsamlich BGM] miltsämlich sey wandel (B)] wandeln G, wandlen M, fehlt NS. 265 Im dormiter (GM)] N, myttssamlich sey S. Jnn dem Dormitor B, jn dormitory N, ym slaffhaus S. des leon BGM] ains leo N, ains leben S. also (B)G(M)N(S)] also / also A. 265f. im widerstan B(G)] im wider stant M, ze widssten N(S). 266 den begirlichay¨tten und versuo chungen (BGM)] des begirliche¯ vssüchu¯g N(S). refecter] Reuetter B, Refector G(M), refeter N, reffenter S. 267 kostlicher und zartter (BGM)] zarter vn¯ kor MN] Chor B(S), kör G. 267f. oder kirchen B(G)M] fehlt NS. 268 ain chöstlichs N(S). antlüt (BGM)] an antlüt A, daz antlicz N(S). in seinem (BGM)] jn (nachgetragen) seine¯ N, sein S. 270 Randnotiz A: 2. der hay¨lig gaist (BGM)] er NS. 272 umb gat (BGNS)] vnd gat M. verbringt (BGM)] volpringt NS. verpringen (BGMN)] volpringe¯ S. 274 Randnotiz A: Apostolus. o o letzgen] leczgen BM, letzen GS, leczn¯ N. 275 Randnotiz A: Gregorius. Gutz tund ... Gregorius spricht (BGM)] fehlt NS. 278 Randnotiz A: Apostolus. 279 behalten (G)M(NS)] fehlt B. 280 Randnotiz A: Exempel. im (BG)M(N)] in dem S. batt (GMNS)] bätt B. 280f. im zaigte (GMNS)] zaigte B. 282 Randnotiz A: 1. 259f. gesicht die ezechiel sach Vgl. Ez 1,10 u. 10,14 sowie die exegetische Tradition (z. B. Hieronymus, Mt-Kommentar, CC 77, Prolog ›Plures fuisse‹, S. 3f.; zum weiteren Traditionshorizont vgl. o LCI I, Sp. 696; RDK VI, Sp. 517–519). 275 Gutz ... abnemen Gal 6,9. 275f. Das gegenwirtig ... vatterland Gregor d. Gr., Homiliae in Evangelia, Homilia 11,1, PL 76, Sp. 1115 A: »In praesenti etenim vita quasi in via sumus, qua ad patriam pergimus«. 278f. Den lauff ... behalten II Tim 4,7. 280ff. Wann man list im leben der vätter ... In den gängigen ›Vitas patrum‹-Fassungen nicht nachweisbar.

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Michael Stolz

sach er ain holen baum, in dem bran ain fürr, und vogel sassend auff den esten des baums. Zuo den selben vogel sprach ain stimm von hy¨mel: Wachent das ir nit o o fallend in den tod. Da sprach der bruder zum engel: Was ist das? Anttwurt der engel: Der baum betütt die gaistlichen, die da hand den namen und gewand, aber nit das leben. Dann in in brint das fürr der begirlichait und nit das fürr des hay¨ligen gaistz. Darumb wirt zuo in gesprochen: Wachent, wann ir wissend nit, wann der herr komen wirt. o o o Zum andern furt er in auff ain veld lustlich von blumen, feicht von taw und regen. Da sach er menschen siczen in grünendem hain, wollust haben, die weder o das taw noch regen berürt. Da fragt der bruder: Wer send die? Antwurt der engel: Sy send die, die wedar durch predig noch durch einsprechen [fol. 199 v] noch durch exempel ander menschen nit fücht send worden durch die andacht, die da hand ain drucken dürr sel. Die sprechend mit dem psalmisten: Mein sel ist dürr, geleich als das ertrich on wasser. o Zu dem dritten fürt er in auff ain veld, da sach er menschen, die warend an ainer sey¨tten warm und an der andern kalt. Da sprach der engel: Das send die gaistlichen, die gehorsam send in dem, das in wolgefelt, und nit in dem, das in missfelt. Es spricht Sant Bernhart: Ain warer gehorsamer der bew ¨ t sein oren der gehörd, sein zungen der sty¨mm, sein hend dem werck, sein füss dem gang und verlengert es nit. Zuo dem vierden fuo rt er in auff ain veld, da sach er menschen beklaitt mit schwarczen kappen, blaich under anttlüt als das wachs. Da sprach der engel: Die send murmler, erabschneider, die in allen dingen ain mißfallen hand, die gott hessig send. Dann in dem das sy¨ ander menschen urtailend, so verdampnend si sich [fol. 200 r] selbs. Zuo m fünfften zaigt er im ain hochen türen, auff dem sassend weiß tauben, von den fielen die feder. Alz sy¨ nun blutt wurden, da fielen sy¨ und warden verzert o

283 bran (BGM)] päm N, paum S. 284 baums (BGMN)] fehlt S. 285 zum (BGM)] zw de¯ N(S). 288 Darumb BG(M)] das vm ¯¯ so N(S). 290 Randnotiz A: 2. Zuo m (BGMS)] Zw N. lustlich von (B)] lüstlich mit G(MS), lusticlich mit N. 291 grünendem GM] grönenden B, grönendn¯ N, grönete¯ S. hain (?)] kain A(B)GM, dehain N, chain S. die BGM] vn¯ N(S). 292 das taw noch regen Antwurt berürt (BGM)] regen noch taw berüeret sy N(S). fragt BGM] vosschat N, vorschet S. B(G)M] da antwurt N(S). 293 einsprechen BG] ein sprechen M(N), ein spreche¯ des heilige¯ geistes S. 294 durch exempel B(G)M] exempl¯ N(S). nit BM] nie GN(S). 295 Randnotiz A: dauid. die da BGM] die NS. 296 als das B(G)M] dem NS. 297 Randnotiz A: 3. 298 Randnotiz A: nota. 299 wolgefelt (BGM)] gefelt N(S). 300 Randnotiz A: Bernhardus. spricht (BGMS)] sprich N. 300f. der gehörd BM(S)] dem gehord G, de¯ höru¯g N. 301 gang BGMN] gen S. o ¯¯ N(S). 304 under anttlüt 302 nit BN(S)] ist GM. 303 Randnotiz A: 4. Zu dem (BGM)] Zw (GMN)] vnnderm antlütz B, vntrs de¯ antlutz S. wachs BGMN] war S. 305 murmler (BGM)N] mürbler S. ain B(G)NS] fehlt M. 309 nun blutt wurden (G)M(N)] noch (verbessert aus nun?) blutt wirden (verbessert aus warden?) A, noch plu¯tt wären B, nu ploß wurden S. 288f. Wachent ... komen wirt Mt 24,42 (Mc 13,35). 295f. Mein sel ... wasser Ps (LXX) 142,6. 300f. Ain warer ... dem gang Bernhard v. Clairvaux, Sermones, III, hg. von J. Leclercq/H. Rochais, Rom 1970, De diversis, Sermo 41: De via oboedientiae, 7, S. 249, Z. 8–10: »Fidelis oboediens ... parat oculos visui, aures auditui, linguam voci, manus operi, itineri pedes«.

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Spirituelle Artes-Auslegung

von wurmen. Da sprach der engel: Das send die, die im gaist an fachend und im flaisch endent. Wider die spricht der zwölffbot: Ir send sechen, das ir das, das ir im gaist anfachend, nit im flaisch erendent. Zuo m sechsten zaigt der engel im ain hauss, darinn was cristall, der hett in im o brinnendes fürr. Da hort der bruder ain stimm: Das ist ain einwonung der hay¨ligen dry¨ualtikay¨t. Da sprach der engel: Das send die guo tten gaistlichen, lautter in ir gewissen dann der cristall. In den print das fürr des hay¨ligen gaistz, das ist die liebin, und in in ist die wonung der hay¨ligen driualtikay¨t, die da allweg zuo nemend und nümer abnement. o Zum dritten so legt der hay¨lig gaist den volkommen menschen für das dritt buo ch, das ist den fürrin himel. [fol. 200 v] Darinn er sy¨ zway¨ ding lert, das ist die liebin und das schawen. Dann der himel brint also in der liebe so vast, das kain engel den andern lay¨diget. Also sol der volkommen mensch so vast enzündt sein in der lieb, das er kain menschen laidigen sol weder mit wortten noch mit wercken, und sol geleichmütiklichen dulden widerwärtige ding aller seiner veind. Auch ist der fürre himel liecht und hatt gott in im verschlossen. Also sol der volkomen mensch haben ain liechten wandel gegen seinen nachsten, nach dem und dann im ewangely¨ ist geschriben: Eüwer liecht sol also leüchten vor den menschen, das sy¨ sechen ew ¨ re guo tte werck und erwirdigent ewern vatter, der ist in himeln, verleich uns der allmächtig gott. Amen.

310–315 Da sprach der engel ... dry¨ualtikait (BGNS)] fehlt M. 310 die, die (BGN)] die S. 311 Randnotiz A: Apostolus. endent (B)G] erendend N, vsendten S. send (BGS)] sind N. ir das, das (BGN)] fehlt S. 312 nit BGN] vnd nit S. erendent BG(N)] endtet S. 313 der engel (B)G] o er NS. 314 einwonung (BG)] einwanu¯g N, wonu¯g S. 315 gutten B(GMS)] gügn¯ N. 315f. lautter in ir gewissen (BG)M(S)] jn ir gewissen leutter N. 316 cristall. In den (B)G(NS)] cristallin den A, cristall in dem M. 317 liebin (B)GMN] lieb S. 318 abnement (BG)] ab nimpt o der hay¨lig M, ab NS. 319 Zum dritten so (BGM)] Zw de¯ dritten mal so N, Zum tritten mal S. gaist (BGM)] er NS. menschen (BG)M(S)] fehlt N. 320 sy¨ (BG)M] fehlt NS. lert (B)G(M)] lernt N(S). 321 liebin BGMN] lieb S. schawen BG(MN)] beschawen S. Dann BG(MN)] Wann S. liebe GM(NS)] liebin B. 322 enzündt (B)] erzündt (G)M(NS). 327 dann im ewangely¨ (G)] dann jnn dem Ewangelio B, Dan¯ in ewangely¨ M, jm ewa¯gely N, jm Ewa˜° S. ist geschriben (BGM)] geschribn¯ ist ist N, geschriben stet S. sol also BGM] sol N, das soll S. 328f. das sy¨ ... in himeln (BGM)] fehlt NS. 329 verleich ... gott (BGM)] Das vsleich vns got N(S). Schreibernotizen: Amentellin B, Bitt gott für mich albege¯ N. 311f. Ir send ... erendent Gal 3,3.

327–329 Eüwer liecht ... in himeln Mt 5,16.

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Ralf-Henning Steinmetz

Über Quellenverwendung und Sinnbildungsverfahren in den ›Narrenschiff‹-Predigten Geilers von Kaysersberg Am Beispiel und mit dem lateinischen und dem deutschen Text der Predigt über die Buolnarren Das Bild, das die Literar- und Predigthistoriker von Geiler von Kaysersberg zeichneten, war recht zwielichtig, solange man glaubte, den Wert eines Autors – auch den eines Verfassers mittelalterlicher Predigten – nach seiner Originalität bemessen zu müssen. So mochte CRUEL Geiler zwar »humanistische Bildung« und »mystische Contemplation« zugestehen, bemängelte aber sogleich, daß »kein schöpferischer Genius sie einer höheren Einheit dienstbar macht«. Ihm fehle eben »die Gabe speculativen Denkens wie die Kraft dichterischer Phantasie«. Zu Geilers ›entschiedenen Vorzügen‹ rechnet CRUEL daher die »kluge Weise, womit er in richtiger Erkenntniß des eignen Mangels an Productivität die Werke anderer auf die mannichfaltigste Art benutzte, um daraus Anregung und Material zu schöpfen und sie oft zu längeren Predigtreihen zu verarbeiten«.1 Gewöhnlich bearbeitet Geiler seine Quellen, indem er einzelne Wörter, Fügungen, Sätze, bisweilen auch ganze Abschnitte durch Variation, Illustration und Erklärung erweitert, ein Verfahren, das an die wissenschaftlichen Kommentare der Scholastiker erinnert. Das gilt vor allem für diejenigen Predigten Geilers, die wesentlich auf einzelnen Werken anderer beruhen. Für einige Predigten und Predigtreihen ist dieses Verfahren detailliert untersucht worden. Ich erinnere an die Arbeiten von VONLANTHEN, BREITENSTEIN, DIETER MERTENS, KRAUME, FILLINGER und HERBERT SCHMIDT.2 In den bisher analysierten Predigten verarbeitet Geiler in solcher Weise vor allem Texte, die in den Bereich der geistlichen Literatur gehören: Traktate und Predigten von (Pseudo-)Albertus Magnus, Johannes Nider, Johannes Gerson, Jakob von Paradies, Antoninus Florentinus, Bernhardin von Siena oder den gereimten Beichtspiegel von Hans Folz. In diesen Fällen spielt sich das Verfahren der Quellenverwendung innerhalb eines verhältnismäßig konventionellen Rahmens ab. 1 2

RUDOLF CRUEL, Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, Detmold 1879, S. 540. ADOLF VOLANTHEN, Geilers ›Seelenparadies‹ im Verhältnis zur Vorlage, AfEK 6 (1931), S. 229– 324; EUGEN BREITENSTEIN, Die Quellen der Geiler von Kaysersberg zugeschriebenen Emeis, AfEK 13 (1938), S. 149–202; DIETER MERTENS, Iacobus Carthusiensis. Untersuchungen zur Rezeption der Werke des Kartäusers Jakob von Paradies (1381–1465) (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 50), Göttingen 1976, S. 254–269; HERBERT KRAUME, Die Gerson-Übersetzungen Geilers von Kaysersberg. Studien zur deutschsprachigen Gerson-Rezeption (MTU 71), München 1980; ROLAND FILLINGER, Johannes Geiler von Kaysersberg. Die Predigten ›Von den neün früchten oder nützen aines rechten kloster lebens‹ und ihre Quellen, Mannheim [Diss.] 1991; HERBERT SCHMIDT, ›Seelenparadies‹ und ›Paradisus animae‹. Studien zu einem Predigtwerk Johann Geilers von Kaysersberg und seiner lateinischen Vorlage, Mannheim [Diss.] 1994.

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Ralf-Henning Steinmetz

I. Navicula sive speculum fatuorum Was aber geschieht, wenn als Grundlage der Predigt statt eines geistlichen ein weltlicher Text gewählt wird? Geilers Predigten über Sebastian Brants ›Narrenschiff‹ werden in jeder Literaturgeschichte erwähnt. Ihnen wandten sich die Literarhistoriker früher zu als den eben erwähnten Predigtreihen,3 und auch in den letzten Jahren erschienen mehrere kleine Beiträge zu ihrer Erforschung.4 Mit dem Verhältnis zwischen Geilers Predigten und Brants Gedicht hat sich jedoch nur THEODOR MAUS eindringlicher beschäftigt.5 Er kam in seiner 1913 bei FRIEDRICH VOGT angefertigten Straßburger Dissertation über »Brant, Geiler und Murner« zu dem Schluß, daß Geiler seiner Vorlage zwar in der Reihenfolge der Themen der einzelnen Predigten folgt, in ihrer inhaltlichen Gestaltung aber meist eigene Wege geht. So benutzt Geiler »keineswegs alle Verse Brants, sondern verfährt in ihrer Auswahl frei nach seinem Gutdünken; Geiler übergeht vieles, was ihm das NS bietet, er greift hier und da einen Vers oder ein Beispiel heraus, um selbständig seine Ausführungen daran anzuknüpfen. Gewöhnlich verwertet er nur kleinere Stücke des betreffenden Kapitels, manchmal besteht auch nur eine ganz lose Verbindung«.6 3

KARL FISCHER, Das Verhältnis zweier lateinischer Texte Geilers von Kaisersberg zu ihren deutschen Bearbeitungen, der »Navicula fatuorum« zu Paulis »Narrenschiff« und des »Peregrinus« zu Otthers »Christenlich bilgerschafft« nebst einer Würdigung der lateinischen Texte Geilers, Metz 1908; THEODOR MAUS, Brant, Geiler und Murner. Studien zum Narrenschiff, zur Navicula und zur Narrenbeschwörung, Marburg [Diss.] 1914 [Teildruck]; LUZIAN PFLEGER, Der Franziskaner Johannes Pauli und seine Ausgaben Geilerscher Predigten, AfEK 3 (1928), S. 47–96. 4 GÜNTER HESS, Deutsch-lateinische Narrenzunft. Studien zum Verhältnis von Volkssprache und Latinität in der satirischen Literatur des 16. Jahrhunderts (MTU 41), München 1971, S. 99–109; ADALBERT ELSCHENBROICH, Purgare, illuminare, perficere. Johann Geiler von Kaysersberg als Fabelerzähler und Fabelinterpret in seinen Predigtzyklen, DVjs 61 (1987), S. 639–664; SUSANNE MALZER, Schiff der Narren, Schiff der Weisen. Das Augustinische Zweistaatenmodell in Johann Geilers von Kaysersberg Predigtzyklen, Literatur in Bayern 30 (1992), S. 22–26; DIETZ-RÜDIGER MOSER, Geiler von Kaysersberg und die Narrenliteratur am Oberrhein, in: Das Elsaß und Tirol an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, hg. von EUGEN THURNHER (Schlern-Schriften 295), Innsbruck 1994, S. 75–87; GERHARD BAUER, Wandel und Bestand um 1500: Die Predigten des Johannes Geiler von Kaysersberg über Sebastian Brants »Narrenschiff«, in: Wandel und Bestand. Denkanstöße zum 21. Jahrhundert. Fs. Bernd Jaspert z. 50. Geb., hg. von HELMUT GEHRKE, MAKARIOS HEBLER u. HANS-WALTER STORK, Paderborn/Frankfurt a. M. 1995; HELGA SCHÜPPERT, Geiler von Kaysersberg. Ein Beitrag zur Imagologie der Predigt, in: Albertus Magnus und der Albertismus. Deutsche philosophische Kultur des Mittelalters, hg. von MAARTEN J. F. M. HOENEN u. ALAIN DE LIBERA (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 48), Leiden/New York/Köln 1995, S. 333–352; GERHARD BAUER, Die Predigten Johannes Geilers von Kaysersberg über Sebastian Brants Narrenschiff und ihre Überlieferung durch Jakob Otthers Navicula Fatuorum (1510) und Johannes Paulis Narrenschiff (1520), in: Sebabstian Brant, seine Zeit und das »Narrenschiff«. Actes du colloque international Strasbourg 10–11 Mars 1994, hg. von GONTHIER-LOUIS FINK (Collection Recherches Germaniques 5), Straßburg 1995, S. 93–113. TIM LORENTZEN, Johannes Bugenhagen als Reformator der öffentlichen Fürsorge (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 44), Tübingen 2008, S. 101–114. 5 BAUERs einschlägiger Aufsatz in der Festschrift Jaspert [Anm. 4] stellt eine hervorragende Einführung in den Stand der Forschung dar, bietet aber selbst keine neuen Ergebnisse. Vgl. jetzt auch RALF-HENNING STEINMETZ, Die Rezeption antiker und humanistischer Literatur in den Predigten Geilers von Kaysersberg, in: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. XVIII. Anglo-German Colloquium Hofgeismar 2003, hg. von NICOLA MCLELLAND, HANS-JOCHEN SCHIEWER u. STEFANIE SCHMITT, Tübingen 2008, S. 123–136.

Quellenverwendung und Sinnbildungsverfahren in den ›Narrenschiff‹-Predigten

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Wenn Brants ›Narrenschiff‹ in Geilers Predigten darüber eine so bescheidene Rolle spielt, stellt sich die Frage, woher denn sonst Geiler sein Material bezogen hat. Schon eine oberflächliche Lektüre der Predigten zeigt rasch, daß Geilers Quellen zwar anderer, aber ebenso disparater Herkunft sind wie die von Sebastian Brant verwendeten. Die Verse des ›Narrenschiffs‹ »werden gleichsam umrahmt von dem reichen Wissen des gelehrten Theologen und Volkspredigers. In diesem Rahmen erweitert sich das NS, das Sammelwerk des belesenen Dichters, zu einer Art Encyklopädie, die ein buntes Gemisch darbietet: Allegorien, Gleichnisse, Erzählungen, Beispiele aus der Bibel und der Geschichte, Fabeln, Legenden, Predigtmärlein, dazu viele Sprichwörter und volkstümliche Wendungen«.7

Wie geht Geiler mit seinem Material um? Lassen sich regelhafte Zusammenhänge zwischen der Wahl bestimmter Quellen und ihrer Verwendung erkennen? Diesen Fragen werde ich am Beispiel der Predigt über die Buolnarren nachgehen. Zuvor einige Bemerkungen zur Textgrundlage. Über das ›Narrenschiff‹ predigt Geiler von Quinquagesima (25. Februar) 1498 bis Jubilate (21. April) 1499, in der Fastenzeit täglich, sonst an Sonn- und Feiertagen, unterbrochen nur vom 1. Advent bis Neujahr. Alle 136 Predigten – ihr deutscher Text würde einen Band von über 800 Seiten im Format der BAUERschen Geiler-Ausgabe füllen – stehen unter dem Generalthema Stultorum infinitus est numerus: Der narren zal ist on end (Ecl 1,15), das vor jeder einzelnen Predigt wiederholt wird. Geiler spricht fast immer von der Kanzel, die für ihn im Straßburger Münster errichtet wurde und unter der man ihn auf seinen Wunsch hin begraben hat. Er predigt in deutscher Sprache, veröffentlicht aber werden nur die lateinischen Predigtentwürfe, die Jacob Otther, lange Jahre ein Hausgenosse Geilers, kurz vor seinem Tode, 1510, unter dem Titel ›Nauicula siue speculum fatuorum‹ drucken läßt. Weitere lateinische Drucke folgten 1511 und 1513. Der von mir benutzte Druck von 1511 ist mit einem ausführlichen achtseitigen Inhaltsverzeichnis versehen. Diesem Summarium siue breuiarium Speculi stultorum folgt ein sehr umfangreicher alphabetisch geordneter Materiarum Jndex mit rund 1500 Einträgen auf 33 Seiten. Otthers Text gilt als Grundlage der Übersetzung von Johannes Pauli,8 die 1520 unter dem Titel Des hochwirdigen doctor Keiserspergs narrenschiff in Straßburg erschien. Paulis Übersetzung stellt eine wichtige Ergänzung zur lateinischen Fassung dar. Wenn überhaupt, dann können wir in i h r die Sprache der im Münster gehaltenen Predigten fassen. Die Intentio auctoris hingegen dürfte in den lateinischen Konzepten besser bewahrt sein. Das Problem der mangelnden Authentizität ist immer wieder diskutiert worden. Heute schätzen wir Paulis Zuverlässigkeit, die Peter Wickgram – Geilers Neffe und Paulis Konkurrent als Herausgeber von Geilers Werken – öffentlich in Zweifel gezogen 6

MAUS [Anm. 3], S. 52. MAUS [Anm. 3], S. 53. 8 Im Anschluß an diese Untersuchung findet sich auf den Seiten 108 bis 121 eine Edition des lateinischen und des deutschen Texts der Predigt über die Buolnarren. 7

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Ralf-Henning Steinmetz

hatte, deutlich höher ein, als es im 19. Jahrhundert geschah. So wird man für eine gründliche Untersuchung der ›Narrenschiff‹-Predigten beide Fassungen heranziehen müssen, Otthers und Paulis, in dem Bewußtsein, weder hier noch dort die mündliche Predigt Geilers wiederzufinden.9 Als Vorlage diente Geiler bisweilen Lochers 1497 gedruckte lateinische Übersetzung des ›Narrenschiffs‹, meist jedoch, besonders in der ersten Hälfte der Predigtreihe, die bereits 1494 in Straßburg erschienene interpolierte Ausgabe.10 In Brants ›Narrenschiff‹ geißelt jedes Kapitel ein bestimmtes närrisches Laster. Brants Themenfolge im großen und ganzen beibehaltend nimmt sich Geiler gewöhnlich für jede Predigt ein Kapitel vor, um die entsprechende Narrenschar vorzustellen. Ihre Untergruppen, ihre speziellen Laster oder die Merkmale, an denen man sie erkennen kann, teilt er in Narrenschellen ein.

II. Turma luxuriosorum procorum Als Untersuchungsobjekt wähle ich die bekannteste und größte Narrenschar überhaupt. Die unauflösliche Verbindung von Liebe, Lust und Narretei ist ein ewiges Thema der Literaten und Moralisten,11 und so haben Brant wie Geiler den Minnenarren als den Narren schlechthin selbstverständlich ein eigenes Kapitel gewidmet, das dreizehnte: Von buolschafft. In der interpolierten Version stehen acht einleitende Reimpaarverse vor dem Dürer zugeschriebenen Holzschnitt, ihm folgen 145 Verse. Inhaltlich lassen sie sich in drei gleichlange Abschnitte teilen: In den ersten 50 Versen preist Frow Venus ihre Macht und beschreibt ihr Wirken mit Hilfe ihrer Kinder Cupido und Amor. Dabei orientiert sie sich an den Details des vorangestellten Holzschnitts und an der antiken Mythologie. Es folgen in 45 Versen beinahe ebensoviele Minnenarren beiderlei Geschlechts, auf deren Schicksale nur angespielt wird – einige waren den Lesern 9

Vgl. FISCHER [Anm. 3], S. 20–43; PFLEGER [Anm. 3], S. 48–51, 60–63; BAUER, Überlieferung [Anm. 4], S. 108f. Es ist auffällig, daß die lateinischen Sätze und Wendungen, die Paulis Übersetzung durchziehen (meist in Klammern hinter der deutschen Entsprechung, bisweilen auch als nicht übersetzter Text), selten wörtlich mit der lateinischen Druckfassung übereinstimmen. Ob Pauli wirklich einen Druck der ›Navicula‹ benutzt hat und nicht etwa über eine abweichende handschriftliche Vorlage verfügte, bedarf noch der Untersuchung. 10 Vgl. MAUS [Anm. 3], S. 2–6. ZARNCKEs Ausgabe enthält im Apparat auch die Varianten dieser Version, leider nicht der lateinischen Übersetzung (Sebastian Brants Narrenschiff, hg. von FRIEDRICH ZARNCKE, Leipzig 1854). 11 NORBERT H. OTT, Minne oder amor carnalis? Zur Funktion der Minnesklaven-Darstellungen in mittelalterlicher Kunst, in: Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters, St. Andrews-Colloquium 1985, hg. von JEFFREY ASHCROFT, DIETRICH HUSCHENBETT u. WILLIAM HENRY JACKSON, Tübingen 1987, S. 107–125, hier S. 114. Vgl. auch FRIEDRICH MAURER, Zum Topos von den ›Minnesklaven‹. Zur Geschichte einer thematischen Gemeinschaft zwischen bildender Kunst und Dichtung im Mittelalter, DVjs 27 (1953), S. 182–206; RÜDIGER SCHNELL, Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur (Bibliotheca Germanica 27), Bern 1985, S. 476–490; CORNELIA HERRMANN, Der »Gerittene Aristoteles«. Das Bildmotiv des »Gerittenen Aristoteles« und seine Bedeutung für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung vom Beginn des 13. Jahrhunderts bis um 1500 (Kunstgeschichte 2), Pfaffenweiler 1991.

Quellenverwendung und Sinnbildungsverfahren in den ›Narrenschiff‹-Predigten

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aus der Bibel und aus der mittelalterlichen Literatur, die weitaus meisten aber aus der antiken Dichtung und Mythologie bekannt. Der letzte Abschnitt behandelt 50 Verse lang in gnomischen Sentenzen den Gegensatz zwischen buolschafft und Weisheit.12 o Über diese Schar der luxuriosorum procorum (VI K),13 der Bulnarren, predigt Geiler am 15. März 1498, dem Donnerstag nach Reminiscere. Wie Brants Gedicht gliedert sich sein Vortrag in drei klar unterschiedene Abschnitte. Es zeigt sich rasch, daß Geiler kaum auf Brant, dafür intensiv auf andere Quellen zurückgreift. Bevor er mit der Behandlung des Themas beginnt, stellt er in einer Art Exordium die Beziehung zwischen dem Generalthema der Predigtreihe und dem speziellen Thema dieser Predigt her, sind die Buolnarren doch die wahren Narren: hoc eorum nomen proprium preter alios stultos. Nam omnis homo tales cuiuscumque sint conditionis stultos appellat. et quidem recte: sunt etenim. Et cum stultitia ex omnibus vitijs nascatur: precipue tamen ex illa luxuria nasci dicitur a beato Thoma: qui et rationem assignat quam transeo. Si quis sit inuidia: auaritia: ira aut alio quouis vitio affectus: non appellatur tamen stultus. sed si hoc vitio luxurie fuerit captus: dicitur stultus. (VI K)14 o

für alle narren so ist das der eigen nam der buler das man sie narren heisset wan alle o menschen heissen die buler naren / sie seient was geschlechts / was stantz / was alters e sie wollen / vnd billich heisset man sie narren / vnd wiewol es ist das narheit vß allen lastern wechset so gebirt doch in ein sunderen weg vnküsche narheit / spricht sant Thomas rationem obmitto. Es sei einer Geitig / Neidig / Hoffertig / Treg / so heisset man in kein narren / wan er aber buolet so schilt man in ein narren. (Bl. 43ra)

Thomas von Aquin verdankt Geiler auch die Aufstellung der genera stultorum: quidam sodomite: quidam sacrilegi: adulteri: stupratores virginum: alij simplices fornicarij (VI L).15 Die Einteilung entspricht den sechs species luxuriae in der ›Secunda Secundae‹.16 In anderen ›Narrenschiff‹-Predigten wäre damit die Divisio für den Hauptteil der Predigt gegeben,17 doch es gibt, wie der nun folgende erste Abschnitt der Tractatio zeigt, noch zahlreiche andere Narrenschellen. 12

Vgl. Brant [Anm. 10], S. 15f. Zum Verweissystem vgl. die Einleitung zur Edition des Predigttextes im Anschluß an die vorliegende Untersuchung. 14 Vgl. Thomas von Aquin, ›Summa theologiae‹, IIa IIae, qu. 46, art. 3: stultitia quae est peccatum, maxime nascitur ex luxuria. 15 Der Setzer weiß mit den ›Sodamitern‹ nichts anzufangen und druckt: so da mit er weibrucher / iunckfrawen / geschender etc. (Bl. 43ra). 16 Thomas von Aquin, Sum. theol., IIa IIae, qu. 154. Nur der Inzest wird beiseite gelassen. 17 Zum formalen Aufbau der mittelalterlichen Predigt vgl. DOROTHEA ROTH, Die mittelalterliche Predigttheorie und das Manuale Curatorum des Johann Ulrich Surgant (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 58), Basel 1956; MONIKA HANSEN, Der Aufbau der mittelalterlichen Predigt unter besonderer Berücksichtigung der Mystiker Eckhart und Tauler, Hamburg [Diss.] 1972, S. 24–30; GERRIT CORNELIS ZIELEMAN, Das Studium der deutschen und niederländischen Predigten des Mittelalters, in: So predigent etelıˆche. Beiträge zur deutschen und niederländischen Predigt im Mittelalter, hg. von KURT OTTO SEIDEL (GAG 378), Göppingen 1982, S. 5–48. 13

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III. Filiae luxuriae Prima igitur nola est cecitas mentis: Blintheit des gemüts. Secunda est precipitatio: verwegenheit. Tertia est inconsideratio: vnwarnemlicheit. Quarta nola est inconstantia: vnstetikeit. Quinta est amor sui [sich selbs lieb haben].18 Sexta odium dei [got hassen]. Septima affectus presentis seculi [begirt der welt]. Octaua desperatio futuri o seculi [verzweiflen an der zukünfftigen welt]. (VI L)

Hinter den acht Schellen verbergen sich die acht Töchter der Wollust, von denen Gregor in den ›Moralia in Iob‹ handelt.19 Geiler hat sie aus der ›Secunda secundae‹ (qu. 153, art. 5) bezogen. Überhaupt ergibt sich bei genauerem Hinsehen, daß der ganze erste Abschnitt der Predigt beinahe komplett als Block von Thomas entlehnt wurde.20 Mit übernommen werden seine Zitate, je zwei aus dem ›Eunuchus‹ des Terenz,21 aus Gregors ›Moralia‹ und aus dem ›Buch Daniel‹ (Kap. 13: Susanna im Bade). Mit diesem geschlossenen Textstück aus einem Hauptwerk der mittelalterlichen Theologie erhält der Hörer der Predigt eine theologisch und psychologisch fundierte Einführung in das Wesen der luxuria und ihrer Folgelaster. Er erfährt, warum die in den ersten acht Schellen vorgestellten Torheiten wesentlich auf die Sünde der Wollust zurückzuführen sind. Die Erklärung, die Geiler seinen Hörern bietet, beruht auf der für die scholastische Psychologie grundlegenden, wissenschaftlich bis ins 19. Jahrhundert vertretenen Vorstellung vom Gegeneinanderwirken der unteren und der oberen Begehrungsvermögen.22 Wenn sich die unteren Kräfte mit aller Gewalt auf die Objekte ihrer Lust richten, werden die oberen Kräfte in ihrem Wirken behindert. Facit enim vehementia delectationis quam querit et cui inheret: quod totus absorbetur ad talia. et per consequens sua ratio et voluntas deordinatur et impeditur: vt eis debite [!] vti non possit. QUANDO enim INFERIORES POTENTIE VEHEMENTER AFFICIUNTUR AD SUA OBIECTA: CONSEQUENS EST QUOD SUPERIORES VIRES IMPEDIANTUR ET DEORDINENTUR IN SUIS ACTIBUS. (VI L)23 o

wan der vnordenlich lust den er sucht vnd dem er anhangt / so würt sein vernünfft vnd sein wil vngeordnet vnd gehindert das er sie nitt mag bruchen als billich wer / wan o wen die vnderen potencio machten begeren zu erlüstigen in disen gegenwürffen so gat 18

Wo Geiler keinen deutschen Begriff anfügt, folgen in Klammern die Übersetzungen Paulis. Vgl. Gregorius, Moralia in Iob, l. 31, XLV, 88 (CC 143b, S. 1610). 20 Habes nolas octo: et vbi emisti? A mercatore vno qui appellatur sanctus Gregorius: preciosus vtique mercator. et in qua officina? in libro .xxxi. moralium. et eas limauit sanctus Thomas in .ij.ij. (VI M) – Ja sprichstu wa hastu die acht schellen kaufft in welchem krom / sant Gregorius e der kostlich kromer hat sy feil in dem krom 31. liber moralium / vnd sant Thomas hatt sie e gegerwet vnnd gefeilet das sie glitzen in .2.2. wiltu die andern schellen horen (Bl. 43va). 21 Eunuchus I 1, v. 12f.: Que res inquit in se neque consilium neque modum vllum habet: eam consilio regere non potes (VI L) – welches ding kein maß noch rat hat das magstu mit rat nit regieren (Bl. 43rb); v. 67f.: Hec verba vna falsa lachrymula restinguet: quam vix vi expressit etc. (VI L/M) – da er von seiner metzen gon wolt da behielt in ein troepflin trehen das sie mit gewalt herauß trottet (Bl. 43rb). 22 Vgl. J. ARNTZ, Begehrungsvermögen, Historisches Wörterbuch der Philosophie I, Sp. 780. 23 Abweichend vom Druck werden wörtliche Quellenzitate hier und im folgenden durch Kapitälchen gekennzeichnet. 19

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das nahe das die obern machten vnd krefften gehindert werden vnd geunordenet in iren wercken. (Bl. 43rb)

Die verschiedenen Weisen, in denen Wille und Verstand, die beiden oberen Vermögen, verwirrt werden können, werden nun anhand der entsprechenden Symptome der stultitia abgehandelt, eben der anfangs genannten acht filiae luxuriae. Auf den theoretischen Abschnitt läßt Geiler zwanzig weitere Narrenschellen folgen. Als neunte bis zwölfte Schelle hängt er die abweichende Darstellung der filiae luxuriae Isidors von Sevilla an. Er bezieht sie im Wortlaut ebenfalls von Thomas, der in seiner Widerlegung ad tertium auf Isidor eingeht. Genau genommen handelt es sich um ›Sünden des Munds‹: turpiloquia [Pauli: vnnütze red vngeschaffne red], scurrilia [Pauli: vnnütze wort], ludicra (guot schwenck) und schließlich stultiloquia [Pauli: nersche red]. Mit zwei Terenzzitaten schließen die Anleihen bei Thomas ab. Die letzten dreizehn Schellen stammen aus dem in Reimpaarverse gesetzten ›Beichtspiegel‹ von Hans Folz (vv. 164–174),24 über den Geiler 1497 gepredigt hat und den er im selben Jahr zusammen mit dem o ›ABC wie man sich schicken sol / zu einem kostlichen seligen tod‹ bei Furter in Basel drucken ließ.25

IV. Figura veneris Ganz anders der zweite Abschnitt. An die Stelle der diskursiv vorgetragenen theologischen Gelehrsamkeit tritt nun die moralistische Allegorese antiker Mythologie, ohne jeden ausdrücklichen Bezug auf Religion und Christentum. Im Mittelpunkt steht die figura Veneris − aber gerade nicht das Bild der Venus auf dem Holzschnitt, der später aus Brants Ausgabe in den Geiler-Druck übernommen wurde. Geiler bedient sich der figura Veneris: qua eam veteres descripserunt ... vt mores et miserias procorum venereorum significarent (VI O),26 einer 24

Et vnde nole he? ex officina nostri barbitonsoris: cuius dictamen vobis anno superiori produxi: et apud vos manet: quem legite. (VI N) – Dise schellen hab ich genummen auß vnsers krom vnd gedicht das ich euch for einem iar geprediget hab das lesen (Bl. 43vb). Vgl. Hans Folz: Die Reimpaarsprüche, hg. von HANNS FISCHER (MTU 1), München 1961, S. 195f. Keine Quelle gefunden habe ich für die vierundzwanzigste Schelle: Vicesimaquarta hoffieren: proponunt feminis cibos et pregustant. 25 Vgl. Geilers von Kaysersberg »Ars moriendi« aus dem Jahr 1497. Nebst einem Beichtgedicht von Hans Foltz von Nürnberg, hg. u. erörtert von ALEXANDER HOCH (Strassburger Theologische Studien 4/2), Freiburg i. Br. 1901, S. 64–72; Geiler von Kaysersberg: Ein A.B.C. wie man sich schicken soll zu einem köstlichen seligen tod (1497), Facsimile-Wiedergabe, mit einem kurzen Geleitwort von LUZIAN PFLEGER (Veröffentlichungen des Museums in Hagenau i. Els.), Hagenau 1930, Bl. A 8v. Vgl. MERTENS [Anm. 2], S. 255; KRAUME [Anm. 2], S. 102. Auf die Predigten des Vorjahres über Folz bezieht sich Geiler bereits im Introductorium in speculum fatuorum. ZARNCKE, der zuerst den Zusammenhang der Stellen erkannte, vermutete noch, daß Geiler hier auf den ›Ackermann aus Böhmen‹ des Johannes von Tepl anspiele (ZARNCKE [Anm. 10], S. 262); vgl. MAUS [Anm. 3], S. 14. o 26 Von der figur veneris der bulschafft wie die alten gemalet haben (Bl. 43vb) – damit wolten sie zeugen was ellenden vnglückhafftigen arbeitseligen folgel ein buoler wer (Bl. 44ra).

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gängigen Allegorie der Liebe, die sich durch die mythologische Literatur von der Spätantike bis ins 18. Jahrhundert zieht, von Fulgentius27 (Ende 5. Jh.) über Albericus28 (Anfang 13. Jh.) und Boccaccio29 bis zu Hederich30. Wieder übernimmt Geiler fast alles aus einer einzigen Quelle, Boccaccios ›Genealogia deorum gentilium‹, der hier seinerseits auf Fulgentius’ ›Mythologiae‹ zurückgreift.31 Wörtliche Zitate, vor allem aus dem 23. Kapitel, machen die Hälfte der Erklärungen aus. Reperio quia eam hoc modo figurauerunt. Feminam nudam in mare natantem: et in manu sua dextera concham marinam gestantem: que rosis erat ornata: a columbis circumuolantibus comitata: Vulcano deo ignis rustico turpissimo in coniugium assignata. Ante quam tres astabant iuuencule nude: que tres gratie vocabantur. quarum duarum facies ad ipsam conuerse erant: vna vero in contrarium vertebatur. Cui Cupido filius suus alatus et cecus assistebat: qui sagitta et arcu Apollinem sagittabat: propter quod ad matris gremium turbatur puer et timidius fugiebat. (VI O) SJe malten ein nackende frawen die schwam in dem meer / dy het in der rechten hand ein krum iacobs müschlin da mit man pfeiffet. Jtem sie was geziert mit eim rossen o schappel / item ein küt tuben vil tauben flugen ir nach / item die was eim wüsten bauren in der ee vermahelt der hieß vulcanus / was ein got des füers. Jtem vor ir o e e stunden drei nackende dochtern die hiessen drei gnaden / zwo dochter hetten ir angeo sicht zu ir gekert / sohen sie an die drit sahe von ir / Jtem ir sun der hieß Cupido der o stunt neben ir het fettigen als wolt er fliegen vnd was blind der het ein armbrust oder ein bogen gespannen ein boltz darauff vnd schoß in seinen got appolinem / darumb erschrack der sun / vnd floch zuo seiner muoter vnd was betrübt. (Bl. 44ra)

Das Bild der Venus ist als Allegorie e n t w o r f e n worden. Es handelt sich also um den Typus der illustrierenden oder expressiven anthropomorphen Personifikationsallegorie.32 Mehr oder minder abstrakte Vorstellungen von den Eigenheiten und Wirkungen der buolschafft – ich gebrauche das alte Wort, da sich sein Bedeutungsumfang weder mit dem von ›Liebe‹ noch mit dem von ›Wollust‹ deckt – sind konkretisiert oder materialisiert worden, um sie im Bild darstellen zu können. Die Aufgabe des Betrachters und Auslegers besteht darin, die kon27

Fulgentius, Mitologiarum libri tres II 1, De Uenere, in: Fabii Planciadis Fulgentii Opera, hg. von RUDOLF HELM, Leipzig 1898, S. 39f. Zur handschriftlichen Verbreitung des Fulgentius im Spätmittelalter vgl. HERMANN OESTERLEY, Gesta Romanorum, Berlin 1872, S. 252f. 28 Albericus Philosophus, De diis gentium et illorum allegoriis, in: Scriptores rerum mythicarum latini tres Romae nuper reperti, hg. von GEORG HEINRICH BODE, Celle 1834, S. 152–256, hier S. 228f. Zum Autor vgl. BODEs Vorrede, S. IX−XII. 29 Giovanni Boccaccio, Genealogie deorum gentilium libri, hg. von VINCENZO ROMANO, Bd. 1 (Scrittori d’Italia 200; G. B.: Opere 10), Bari 1951, S. 117–152. 30 Benjamin Hederichs gründliches mythologisches Lexicon, sorgfältigst durchges., ansehnlich verm. u. verb. von JOHANN JOACHIM SCHWABEN, Leipzig 1770, Sp. 2441. 31 Vgl. ROMANO [Anm. 29], Bd. 2, S. 874. 32 Will man die Personifikation von der Personifikationsallegorie unterscheiden, so müßte man hier eher von bloßer Personifikation sprechen. Vgl. PAUL MICHEL, Alieniloquium. Elemente einer Grammatik der Bildrede (Zürcher germanistische Studien 3), Bern 1987, § 486. Zur Entstehung dieser terminologischen Differenzierung und ihrer Problematik vgl. CHRISTEL MEIER, Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorieforschung. Mit besonderer Berücksichtigung der Mischformen, FMSt 10 (1976), S. 1–69, hier S. 58–64.

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kreten Züge des Bildes wieder auf die ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen zurückzuführen.33 Will er dabei nicht beliebig verfahren, so muß er sich auf möglichst dominante und allgemein bekannte – oder durch Tradition dominant und bekannt gewordene – Eigenschaften der einzelnen Attribute beziehen. Als Attribute der Venus bezeichne ich im folgenden zusammenfassend alle auf der Bildebene zur Sprache kommenden Züge; es kann sich dabei um DingAllegorien handeln, aber auch um Vorgangsallegorien wie das Schwimmen im Meer oder Eigenschaften der Personifikation wie die Geschlechtszugehörigkeit. Auf der Bedeutungsebene entsprechen den konkreten Attributen ohnehin fast immer abstrakte Begriffe. Um Geilers Auslegungsverfahren zu demonstrieren, betrachte ich von den vierzehn Attributen der Venus34 die ersten sechs: ihre geschlechtliche Zugehörigkeit (1), ihre Nacktheit (2), das Meer, in dem sie schwimmt (3), die Muschel in ihrer Hand (4), die Rosen, die sie zum Kranz gewunden auf dem Kopf trägt (5), die Tauben, die sie umfliegen (6). Anders als die folgenden Attribute beziehen sie sich auf die Venus, nicht auf ihre Begleitfiguren Vulkan, Cupido und die drei Grazien. 1. Ihr Geschlecht. Daß die Liebe als Frau dargestellt wird, deutet auf ihre Unbeständigkeit, denn wie die Frauen hat der Buhler ein unbeständiges Herz: Primo Venus figurabatur femina quia (Bulhertz) habet femineum cor instabile et o semper mutabile vt femina quemadmodum in .iiij. nola. (VI O) – Zu dem ersten o ist ein fraw wan bulhertzen haben ein weibisch hertz vnbestentlich / alwegen beweglich wie ein fraw. (Bl. 44ra) Hier verweist eine als natürlich und angeboren aufgefaßte Eigenheit der Venus auf das Wesen der Buhler. Nur diesen ersten Zug gestaltet Geiler unabhängig von Boccaccio. 2. Die Nacktheit der Venus. Sie deutet auf die öffentliche Bloßstellung des Buhlers: Secundo nuda depingitur: et nudos qui illam imitantur persepe facit: et quia luxurie crimen et si in longum perseueret occultum: tandem dum minus arbitrantur obsceni procedit in publicum: omni palliatione remota: vt ait Bocacius. (VI O)35 o

o

Zu dem andern so was sie nacket / wan bulschafft oder frawen men[s]chen nacket o machen / vnd bulschafft bleibet nit lang heimlich, sie würt offenbar / das iederman das maul mit weschet. (Bl. 44ra)

Dazu stimmt auch ein Sprichwort, quia amor talis occultari vltra quartale vnius anni non possit (VI O) – das selten ein buolschafft vber ein fiertel iar verschwigen bliebet (Bl. 44ra). Das Tertium comparationis zwischen Venus und Buhlern ist das öffentliche Auftreten. Die Nacktheit läßt sich als negatives At33

Zum Vorrang der Tropologese (moralisatio) vor der heilsgeschichtlichen Allegorese in der mittelalterlichen Mythenallegorese vgl. FRIEDRICH OHLY, Typologische Figuren aus Natur und Mythus, in: Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978, hg. von WALTER HAUG (Germanistische Symposien-Berichtsbände 3), Stuttgart 1979, S. 126–166, hier S. 140. 34 MAUS [Anm. 3] stellt S. 36f. zwei Parallelen zwischen der Deutung der übrigen Attribute und den entsprechenden Formulierungen in Brants ›Narrenschiff‹ her. 35 Entspricht Boccaccio [Anm. 29], S. 151,16–20.

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tribut auffassen. Die Venus trägt eben keine Kleider. In übertragenem Sinne kommt dieses Attribut auch dem Buhler zu, der sein Verbrechen, die luxuria, nicht lange verbergen kann. So verweist hier das ontisch negative Attribut der Bedeutungsebene auf den moralischen Defekt der Bildebene. 3. Das Schwimmen im Meer. Es versinnbildlicht die Gefahren, denen die unglücklich Liebenden ausgesetzt sind wie die Seefahrer den Stürmen: Tertio in mari natantem: profecto vt infelicium amantium amaritudinibus immixtam vitam procellis agitatam varijs. et eorum naufragia crebra demonstrent. Vis audire in mari natantem: audi Plautum in cistellaria talem procum describentem. (VI O)36 In voller Länge übernimmt Geiler von Boccaccio das angeschlossene ausführliche Zitat aus Plautus’ ›Cistellaria‹ (II 1), in dem Alcesimarchus, vi amoris totus miser, wortreich die cruciabilitates animi beklagt (ebd.).37 Pauli verzichtet auf das Plautus-Zitat und verweist auf Boccaccio, den er bis dahin als Quelle verschwiegen hat: Zuo dem dritten so schwimmet sie in dem meer / vnd ein buoler o schwimmet wol in dem meer vnzelligen zufel sorglicheit die in dem meer seint o also in der bulschafft auch / liß boccacium der erzelt ir vil / lat sich nit tütschen. (Bl. 44ra) Die Übereinstimmung zwischen Bild und Bedeutung erscheint hier ungenauer als bei den ersten beiden Attributen. Es ist schwer, die Gemeinsamkeit von Meer o und bulschafft genau zu bestimmen. Sieht man beides als das Element an, als die Umgebung, in der sich die Venus bzw. die Buhler bewegen, dann könnte man sagen: Die Gefahren der Umgebung, in der sich die Venus bewegt, deuten auf die Gefahren der Umgebung, in der sich die Buhler bewegen. 4. Die Muschel. Nach Boccaccio deutet sie auf den völlig entblößten, zur sexuellen Vereinigung bereiten Körper: Marinam concam manibus gestat, ut per eam Veneris ostendatur illecebra. toto enim adaperto corpore – refert Juba – conca miscetur in coitu.38 Hier klingt die auch bei Plautus belegte39 Übertragung von ›Muschel‹ auf das weibliche Geschlechtsglied an, ohne daß die Aussage recht verständlich würde. Klarheit schafft erst der Rückgang auf Boccaccios Quelle, die sich eindeutig auf eine similitudo in der Tierwelt bezieht: Conca etiam marina portari pingitur, quod huius generis animal toto corpore simul aperto in coitu misceatur, sicut Iuba in fisiologis refert.40 Selbst Geiler mochte 36

Entspricht Boccaccio [Anm. 29], S. 151,21–24. Entspricht Boccaccio [Anm. 29], S. 151,25–152,1. 38 Boccaccio [Anm. 29], S. 152,9–11. »In den Händen trägt sie eine Meermuschel, damit der Reiz der Venus sichtbar werde. Bei völlig entblößtem Leib nämlich – sagt Iuba – vermischt (sie) sich (durch) die Muschel im Geschlechtsakt.« Die Interpunktion des Herausgebers erschwert das Verständnis des lateinischen Textes; ich habe sie daher geändert. ROMANO hat in coitum, das aus dem in coitu der Vorlage (siehe folgendes Zitat) durch einen falschen Nasalstrich entstanden sein dürfte, ein nicht seltener Überlieferungsfehler, wie das Zitat im ›Hortus sanitatis‹ zeigt (siehe unten Anm. 40). 39 Vgl. Plautus, Rudens III 3, vv. 703f.: Der Sklave Trachalio zu Venus, auf deren Altar sich zwei verfolgte junge Frauen setzen sollen: Te ex concha natam esse autumant: caue tu harum conchas spernas (T. Macci Plauti Comoediae, hg. von GEORG GOETZ u. FRIEDRICH SCHOELL, Fasc. VI, Leipzig 1896, S. 123). 37

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die sexuelle Konnotation für die Hörer im Straßburger Münster zu weit gehen. Er übernimmt diese Deutung nicht. Er greift stattdessen auf eine andere übertragene Bedeutung des Wortes concha zurück, das auch – wie bei Plinius und Ovid – das Schnecken- oder Tritonshorn bezeichnen kann:41 Quarto gestat in manu dextra concham marinam (expositionem Bocacij dimitto) cum qua canitur (Ein krum Jacobs muschel als ein horen) Siquidem vult superesse in choreis: in cantibus et letitijs: et ad se alios vt itidem faciant vocat: excitat choreas conuiuia quatenus conueniant filij Veneris. (VI P) Zuo dem fierden hat sie ein pfeiffhorn in irer hand / wann ein buoler wil alwegen tantzen / pfeiffen / springen / vnd ladet ander auch darzuo damit das die buoleren zuosammen kummen. (Bl. 44r)

Geiler versteht also die Muschel als eine Art Horn, das für die Instrumente steht, mit denen die Venuskinder zusammengerufen werden. Mit dieser Deutung gehen die Entsprechungen, die bei Boccaccio Bild- und Bedeutungsebene verbinden, weitgehend verloren. Um seines instrumentellen Charakters willen identifiziert Geiler hier einfach ein konkretes Attribut der Bildebene mit einem konkreten Attribut der Buhlnarren. So ragt ein reales Objekt der Bedeutungsebene in die Bildebene hinein, während die Deutung der Nacktheit und der Rosen eine Übertragung von der Bild- auf die Bedeutungsebene erfordern.42 5. Die Rosen. Bei Boccaccio und dann Geiler entfalten sie ihre bekannte emblematische Kraft.43 Wie die Venus rote Rosen trägt, die kurze Zeit erfreuen, dann aber nur ihre Stacheln zurücklassen, so führt die Wollust zu schamvollem Erröten, kurzer Freude und langer Reue: Quinto rosis ornata: ei rosas (vt ait Bocatius) dicunt esse in tutelam datas congrue quidem: eo quod rubeant atque pungant: quod quidem libidinis proprium esse videtur. Nam turpitudine sceleris erubescimus et conscientie peccati vexamur aculeo. Et sicut per tempusculum rosa delectat: paruoque temporis lapsu marcet: sic et libido parue breuisque delectationis: et longe penitentie causa est: cum in breui decidat quod delectat: et quod officit vexet in longum (Ein kurtz fastnacht ein lange fast). (VI P)44

In Paulis Übersetzung wird die Bedeutung der roten Farbe nicht recht deutlich, die im lateinischen Text auf das Erröten des Verbrechers angesichts seiner Schandtaten bezogen wird: 40

»Sie [die Venus] wird auch gemalt, wie sie eine Meermuschel trägt, weil dieses Lebewesen den ganzen Körper zugleich öffnet, wenn es sich im Geschlechtsakt vermischt, wie Iuba in seiner ›Physiologie‹ berichtet.« (Fulgentius [Anm. 27], S. 40) Dieser Satz kehrt über die mythologischen wieder in die naturkundlichen Darstellungen zurück: Fulgencius. in li.mitilogiarum. Concha marina toto corpore simul aperto miscetur in coitum sicut iuba refert in phisiologis ([H]Ortus Sanitatis [maior], Mainz: Jakob von Meydenbach, 1491, Tractatus de piscibus, cap. 22). 41 Vgl. KARL ERNST GEORGES, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Bd. 1, Hannover/Leipzig 81913, Sp. 1386. 42 Vgl. MICHEL [Anm. 32], § 487. 43 Vgl. Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Taschenausg., hg. von ARTHUR HENKEL u. ALBRECHT SCHÖNE, Stuttgart/Weimar 1996, Sp. 295–300. 44 Entspricht Boccaccio [Anm. 29], S. 152,3–9.

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Zuo dem fünfften so ist mit rosen geziert / rosen haben dorn / dorn seint den rosen geben sie zuo beschirmen / als boccacius sagt / vnd koeren dorn den rosen recht den buolern zuo / dorn die stechen / vnküscheit eigenschafft ist peinigen wan man sich schampt des vnreinen lasterliches wercks natürlich vnd der dorn des nagens der consciens dich sticht vnd nagt / vnd wy die roß ein clein zeit ein menschen erlüstiget / vnd darnach bald dürret vnd welck würt. Also der lust ist kurtz aber gibt dir vrsach langer penitents vnd reuwes also das da ist ein kurtze fastnacht vnd ein lang fasten. (Bl. 44rb)

Insgesamt läßt sich eine verhältnismäßig weitgehende Übereinstimmung zwischen Bild und Bedeutung erkennen: Die natürlichen Eigenschaften der Rose und ihre Wirkungen deuten auf die Eigenschaften und Wirkungen der buolschafft. Bis hier greift Geiler bei Boccaccio auf Kapitel III 23 (De secunda Venere Celi VII a filia et matre cupidinis) zurück. 6. Die Tauben. Für ihre Deutung benutzt Geiler das unmittelbar vorhergehende Kapitel III 22, das sich auf eine genealogisch andere Venus bezieht (De Venere magna VI a Celi filia). Die fruchtbaren Tauben stehen dort für die sexuelle Begierde: Sexto a columbis circumuolantibus comitata (Ein kut tuben) sunt enim columbe (ait Bocacius) in tutelam date que sunt multi coitus: et fere fetationis continue: et libidinosi sub tutela sunt luxuriosorum: plane sequuntur ille columbe gregatim luxuriosum. (VI P)45 o Zu dem sechßten so hat sie vil tauben vmb sie fliegen / ein kut tauben / sein vnküsche thier / sie haben stetz iungen vnd eier. Also die boeße gelüstigen volgen vnd lauffen den huoren nach. (Bl. 44rb)

Der Vergleich ist nicht leicht nachvollziehbar. Besonders die Unterscheidung von libidinosi und luxuriosi in dem Satz libidinosi sub tutela sunt luxuriosorum bleibt unklar und wurde auch von Pauli nicht verstanden. Vermutlich sind die Lüstlinge im Schutz der Wollüstigen, wie sich die sexuell sehr aktiven Tauben in den Schutz der Venus begeben haben. Man muß sich wohl auf die Betonung der sexuellen Aktivität zurückziehen, die Tauben und Buhler verbindet. Jedenfalls soll hier wohl wie schon bei den Attributen (1) und (5) eine natürliche Eigenschaft des Venus-Attributs auf ein wesentliches Charakteristikum der luxuria deuten. Die insgesamt überzeugende Wirkung des zweiten Abschnitts dürfte auf vier Punkten beruhen. Erstens benutzt Geiler mit der auf Fulgentius zurückgehenden Personifikation der Liebe ein auch in seinen Details bekanntes Bild. Zweitens werden die einzelnen Attribute in einer leicht nachvollziehbaren Reihenfolge 45

Entspricht Boccaccio [Anm. 29], S. 147,12–17. Dem folgt noch ein Verweis auf Geilers Predigten über Gersons ›Ars moriendi‹, wo die Tauben bereits ausführlich abgehandelt wurden (vgl. HOCH [Anm. 25], S. 11f.): De his columbis sermo specialis in tractatu de morte factus est (wiltu haben dein huß suber: so hüt dich vor pfaffen: münchen vnd duben. D. diener. V. vetteren. B. blotzbrüder. E. ertzet. N. neger schnyder). (VI P) Pauli läßt den Verweis beiseite und wiederholt nur den deutschen Klammerinhalt (Bl. 44rb). Das Sprichwort hielt drei Jahre zuvor im Predigtzyklus ›Das Buch Arbore humana oder von dem menschlichen Baum‹ (1495/96) als Thema für eine ganze Predigt her (Bl. 91); vgl. CRUEL [Anm. 1], S. 554.

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ausgelegt. Drittens sind auch die Deutungen populär gewordene Glieder einer langen Traditionskette. Viertens besteht zwischen Attribut und Bedeutung eine nachvollziehbare Beziehung, da das Bild bereits als illustrierende Allegorie entworfen wurde. Darin unterscheidet sich die Allegorese wesentlich von dem willkürlichen Vorgehen, das Geiler zum Beispiel in der ›Passion, geteilt in stückes weiß eines süßen Lebkuo chen‹ oder im ›Has im Pfeffer‹46 befolgt. Auch die Memorierbarkeit dürfte durch die genannten Punkte erhöht worden sein.

V. Remedia amoris Wo der dritte Abschnitt beginnt, ist nicht eindeutig erkennbar. Pauli bezeichnet ihn ausdrücklich mit der Überschrift: Von der artznei der vnküscheit / der dritteil der predig (Bl. 44rb). In der lateinischen Ausgabe ist diese Stelle nicht weiter markiert. Das einzige Alineazeichen nach Beginn des zweiten Abschnitts steht schon einige Sätze früher, unmittelbar nach der Deutung des Venusbildes, die Geiler ausdrücklich abschließt, um zu den praktischen Konsequenzen überzuleiten: Habetis iam fratres mei quemadmodum veteres mores et miserias procorum et horum stultorum descripserunt. Vnde et merito nos concitari debemus vt custodiamus nos ab hac magna stultitia: nos inquam omnes. (VI R)47 Diese Sätze fehlen bei Pauli völlig. Es folgt, unter Beiziehung von Hieronymus und Jesaja, eine eindrucksvolle, wortgewaltige Warnung vor der luxuria und ihrer Wirkung. Diese dehortatio, die bei Pauli den zweiten Abschnitt beendet, provoziert die fingierte Frage eines Hörers nach den remedia amoris für diejenigen, die dem Laster der Wollust bereits verfallen sind: Et quid agam inquis vt absoluar? ferueo: vulneratus sum sagitta hac de qua dixisti: incensus sum et ardeo amore: feruet olla: continere non possum. quid faciam ne ebulliat et effluat? (VI R) DU sprichst was muoß ich thuon das ich ledig werd / ich bren / ich bin verwunt mit den pfeilen von denen du sagst / ich bin entzünt in der liebe / der haffen südet / ich mag nit küsch sein / der haffen brodlet vnd laufft vber. (Bl. 44vb)

In diesem verzweifelten Hilferuf stehen eigentliche Ausdrucksformen neben bildlichen. Die einzelnen Elemente der Bildebene bezieht der Fragende aus drei unterschiedlichen Bereichen, die nur durch die gemeinsame Bedeutungsebene verbunden sind: Cupidos verwundende Pfeile, das brennende Feuer, der überkochende Topf. Den letzten, in der fingierten Frage des Hörers dominierenden Bildbereich greift der antwortende Prediger auf. Die metaphora continua, die im lateinischen Text noch deutlicher ist (feruet olla: ... quid faciam ne ebulliat et 46

Vgl. PAUL RAMATSCHI, Geilers von Kaysersberg ›Has im Pfeffer‹. Ein Beispiel emblematischer Predigtweise, in: Theologie und Glaube 26 (1934), S. 176–191. 47 »Nun wißt ihr, meine Brüder, wie die Alten die Sitten und Plagen der Buhler und dieser Narren beschrieben haben. Daher haben wir auch allen Grund, uns anzutreiben, daß wir uns vor dieser großen Dummheit hüten – wir alle, sage ich.«

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effluat), gestaltet er zu einem Gleichnis aus, das es ihm erlaubt, das zugrundeliegende Problem genauer zu fassen.48 Anders als im zweiten Abschnitt, wo Geiler die Liebe als Personifikation darstellt, die er aus der literarischen Tradition bezieht, gestaltet er das psychische Phänomen jetzt als Gleichnis, das seine Überzeugungskraft der Herkunft aus dem täglichen Leben und der Beschränkung auf ganz wenige Bildelemente verdankt: Damit genügt es vollauf den Anforderungen Quintilians an den Gebrauch von similitudines: quo in genere id est praecipue custodiendum, ne id, quod similitudinis gratia adscivimus, aut obscurum sit aut ignotum: debet enim, quod inlustrandae alterius rei gratia adsumitur, ipsum esse clarius eo, quod inluminat.49 In einem Topf wird Wasser durch Feuer zum Kochen gebracht. Die Relationen zwischen den Bildelementen sind so eindeutig, daß sie von Geiler nicht eigens gedeutet werden. Der Leib des Wollüstigen wird durch den Topf bezeichnet; dem Wasser darin entsprechen die Gefühlskräfte; das Feuer meint alles, was zur Sinnenlust reizt; der Vorgang des Kochens dann steht für die Gefühlserregung. Entsprechend einfach ist auf der Bildebene auch die Problemlösung: Hoc fac quod cocus facere solet in tali casu: aut enim aquam olle infundit: aut de lignis subtrahit: aut ollam ab igne elongat. Jta et tu facito. (VI R) Du solt thuon als die koech thuont / wan ein haffen vberlaufft so schütten sie kalt wasser darein / oder sie rucken den haffen von dem feuer / oder das feuer von dem haffen. Also thuo du auch lauf zuo dem wasser. (Bl. 44vb)

Damit das Wasser nicht überkocht, kann der Koch an jedem der drei Bildelemente eingreifen: Er kann das heiße Wasser mit kaltem mischen, er kann den Topf vom Feuer nehmen und er kann das Feuer entfernen. Indem er auf charakteristische Vorgänge des bildspendenden Bereichs zurückgreift, entwickelt Geiler im folgenden aus den einzelnen Bildelementen der Gleichnisfassung des Problems drei neue, voneinander unabhängige und unmittelbar verständliche Gleichnisse möglicher Problemlösungen. Es entstehen bildliche Ausdrücke, die an Elemente von Sprichwortweisheiten erinnern, sich jedenfalls leicht in sprichwortähnliche Formen übertragen ließen wie z. B. ›Soll der Topf nicht überkochen, muß man ihn rechtzeitig vom Feuer nehmen.‹ Dabei gewährleisten die auf der Bild- und der Bedeutungsebene gleichermaßen gültigen Naturgesetzlichkeiten die Übertragbarkeit der Problemlösung vom Bildbereich auf den Deutungsbereich, von der Küche auf die Lebenswelt dessen, der der luxuria zu verfallen droht. 48

Vgl. HEINRICH LAUSBERG, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 31990, § 897; MICHEL [Anm. 32], §§ 233–237. LAUSBERGs ›Einzelbestandteile‹ von Gleichnis und Allegorie bezeichne ich hier und im folgenden als ›Bildelemente‹. 49 Quintilian, Institutio oratoria, VIII 3,73. »Bei dieser Art von Gleichnissen muß man sich vor allem davor hüten, daß das, was wir um der Ähnlichkeit willen herangezogen haben, nicht unklar sei oder unbekannt; denn es muß, was zur Erklärung einer anderen Erscheinung dienen soll, selbst klarer sein als das, was es erhellt« (Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners, hg. u. übers. von HELMUT RAHN, Bd. 2 [Texte zur Forschung 3], Darmstadt 21988, S. 181).

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Die drei Entsprechungen Wasser ≈ Gefühl, Topf ≈ Leib und Feuer ≈ Sinnenreize bezeichnen die drei Stellen, an denen der Koch bzw. der Verstand das Problem lösen kann. Sie strukturieren daher die nun folgende Reihe der remedia amoris. Die erste Folge (Wasser ≈ Gefühl) zeigt, wie die Anfechtung durch entgegengesetzte Gefühle – Kälte, Trauer, Scham, Schmerz – neutralisiert werden kann. Die zweite Folge (Topf ≈ Leib) zielt über diätetische Maßnahmen darauf, den Leib zur Liebe unlustig zu machen. Die dritte Folge (Feuer ≈ Sinnenreize) rät, alle Versuchung zur Unkeuschheit zu fliehen. Welche Relationen bestehen zwischen der jeweiligen Lösung im Gleichnis und Geilers Rezepten wider die Anfechtung? Ich demonstriere das an drei Beispielen der ersten Folge. Leitwort der folgenden Vorschläge zur Manipulation der Gefühle ist das Wasser. Die Heilkraft des kalten Wassers läßt sich wörtlich verstehen: Der in Versuchung Geratene soll es sich über den Kopf gießen, wie es auch ein Heiliger getan habe: Recurre primo ad aquam frigidam: quam super te proijce. ad liteo ram: quod quendam sanctorum fecisse legimus. (VI S) – Zu dem ersten beschüt dich mit kaltem wasser / daz lessen wir von einem heiligen. (Bl. 44vb) Nur kurz angesprochen wird das metaphorisch entstandene wasser deiner trehen (aqua lachrymarum). Wirkungsvoller noch dürfte das wasser der betriebnis (aqua tribulationum) sein, das auf die Ursachen der Tränen verweist, die es hervorzurufen gilt.50 Mit dem Hoheliedvers Aque multe non potuerunt extinguere charitatem (Ct 8,7) verirrt sich Geiler kurz in ein anderes Bildfeld (möglicherweise hat Pauli diesen Satz aus diesem Grund nicht übertragen, sondern lateinisch übernommen und in Klammern gesetzt), um mit einem deutschen Nachsatz wieder in die Nähe des alten Feldes zurückzukehren: Das wasser got über die körb (VI S). Mit diesem Bild wird eine unmittelbar drohende Gefahr beschworen, die den Liebesnarren zwingt, sich zusammenzunehmen, Disziplin zu üben und sich, zu Vermehrung gegenwärtiger Betrübnis, die Bart- und Kopfhaare auszureißen. Wer den aktuellen Schmerz scheut, soll sich wenigstens die Strafen ins Gedächtnis rufen, die er für das Laster der luxuria erdulden wird, oder an den Tod denken und den Zustand, in dem sein Fleisch sich nach dem Tode befinden wird. Anschließend soll er wie die Gelehrten seine Zuflucht zum wasser der weißheit die ob vnß ist (ad aquam sapientie salutaris ... plane que sursum est sapientia) nehmen. Das belegt Geiler mit einem längeren Zitat aus der ›Secunda Secundae‹ (qu. 188, art. 5), wo Thomas seinerseits Hieronymus (›Ad Rusticum‹) und Jesus Sirach (Sir 31,1) für die Behauptung heranzieht, daß die Mühsal des Studiums von wollüstigen Gedanken abwende und das Fleisch schwäche. Die Verbindung zwischen dem Wasser, dem ersten Bildelement des Gleichnisses, und den daraus deutend abgeleiteten Maßnahmen gegen die Versuchung wird also auf zwei Ebenen gezogen: Auf der Wortebene wird sie eher herbei50

Vgl. die ausführliche Auslegung in der Moralizacio zu Kap. 120 der ›Gesta Romanorum‹ [Anm. 27], S. 469f.

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gezwungen: das aqua tribulationis erscheint genauso als zweckbedingte Adhoc-Bildung wie das aqua sapientie salutaris. Auf der Sachebene ist die Beziehung eng: Das Hineingießen des kalten Wassers in das überkochende heiße meint die Dämpfung der Gefühlsregungen durch andere Gefühle, durch Übertäubung oder Ablenkung. Nachdem er auch die oben bereits genannten Bildelemente Topf ≈ Leib und Feuer ≈ Sinnenreize auf die darin verborgenen Heilmittel hin ausgedeutet hat, kehrt Geiler von der Remedur zur Prävention zurück. Denn er beschließt die Predigt mit praktischen Hinweisen auf die probateste Methode der Prävention, die er mit einem Vergleich aus dem Kriegshandwerk erläutert: Quod si vis preuenire: ne te sagittis suis ignitis cupido percutiat: fac quod prudentes facere solent: dum timent contra se mittendas sagittas aut speras bombardarum. illi non manent in eodem loco stantes: sed oblique incedunt de vno loco in alium: non directe incedunt: neque manent stantes: alias cito percuterentur. (VI T/V) Wilt du aber daruon sein / das du nit geschoßsen werdest mit dem pfeil der vnkeuschheit / so thuo als die fürsichtigen reißleut thuont / wan sie foerchten das man sie schiesen werd mitt den büchsen oder mit denn armbrasten / so bleiben sie nit ston an einem ort / sie lauffen aber krum herumb von einem ort an das ander. (Bl. 45rb)

Hier werden zwei Bildbereiche vermischt: Dem pfeileschießenden Cupido werden die Soldaten entgegengestellt, die in vorbildlicher Weise geübt sind, feindlichen Geschossen zu entgehen. Indem sie unablässig den Ort wechseln, bieten sie dem Feind keine Gelegenheit. Übertragen auf die Bedeutungsebene heißt das: Et tu honesta occupatione semper sis intentus: quia OCIA SI TOLLAS: PERIERE CUPIDINIS ARCUS. QUERITUR EGISTUS QUARE SIT FACTUS ADULTER. RATIO IN PROMPTU EST: DESIDIOSUS ERAT. Semper aliquid boni facito (ait beatus Hieronymus) vt te diabolus occupatum inueniat. (VI V) o Also hab du alwegen etwas erbers zu schaffen / wann wen man fraget warumb ist Egistus worden ein ebrecher / so ist gleich die vrsach da er gieng müssig. Sanctus o o Jheronimus spricht du solt alwegen etwas guts thun / das der teuffel dich nit müssig rb gon find. (Bl. 45 )

Während das Hieronymus-Zitat passend an die Lehre, die Geiler aus dem Vergleich mit den Soldaten gezogen hat, anschließt, ist es merkwürdig, daß Geiler auf Ägist als Exempel für die ehebrecherischen Folgen des Müßiggangs nur anspielt. Die wenigsten Hörer werden erkannt haben, daß damit im lateinischen Text Ovids ›Remedia amoris‹ zitiert werden, die klassische literarische Gestaltung des im dritten Abschnitt behandelten Themas: Otia si tollas periere cupidinis arcus (v. 139) und Queritur Aegistus, quare sit factus adulter? Ratio in promptu est: desidiosus erat (vv. 161f.). Dürfen wir bei Geiler mit Anspielungen für Gebildete rechnen? Sollte es sich bei dem lateinischen Text nicht um ein Predigtkonzept, sondern um eine eigenhändige Nachschrift handeln, so wäre auch zu erwägen, ob Geiler nicht einfach gegen Schluß der Predigt gekürzt hat, denn es wird berichtet, daß er nie länger

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als eine Stunde gepredigt und notfalls einfach abgebrochen habe.51 Möglicherweise konnte Geiler auch voraussetzen, daß sein Publikum Ägist als Exempel für den Müßiggang und seine Folgen kannte. Ein Reflex davon scheint noch in Hederichs Artikel über Ägist anzuklingen: »Als hernachmals alle tapfere Griechen mit vor Troja giengen, so blieb er zu Hause auf der Bärenhaut liegen. Weil er nun also sonst nichts zu thun hatte, so besuchete er indessen der abwesenden Heerführer zurück gelassene Weiber«.52

VI. Zusammenfassung Betrachtet man die Buolnarren-Predigt im ganzen, dann zeigt sich ein klarer, konsequenter Aufbau. Der erste Abschnitt begründet den für die Predigtreihe konstitutiven Zusammenhang zwischen Laster und Narrentum, indem unter Rückgriff auf Thomas mit den filiae luxuriae die psychologischen Folgen und die theologischen Implikationen dieser Todsünde in diskursiver Form dargelegt werden. Im zweiten Abschnitt legt Geiler die figura Veneris allegorisch aus, dabei mit Boccaccio antiker und humanistischer Traditon folgend, und ergänzt so den theologischen Blick auf die Liebe durch den moralistischen. Der Vernünftige muß also die luxuria unter allen Umständen fliehen. Doch was tun, wenn es zur Flucht zu spät ist? Die remedia amoris lehrt der dritte Abschnitt im Gleichnis vom überkochenden Topf. Den verschiedenen inhaltlichen Zielen der drei Abschnitte entsprechen unterschiedliche Verfahren der Darstellung. Geiler setzt mit den filiae luxuriae diskursiv-didaktisch ein, scholastische Lehre reproduzierend, fährt dann mit der figura Veneris allegoretisch-didaktisch fort, nun humanistisch-antikes Wissen anschaulich vermittelnd, und endet mit den remedia amoris allegoretisch-adhortativ, zu konkreten Handlungen und Verhaltensweisen auffordernd, Ziele und Wege benennend. So steht der zweite Abschnitt auch methodisch zwischen den beiden anderen: Denn er übernimmt das diskursive Verfahren des ersten Abschnitts, setzt dafür aber bereits die bildauslegende Methode des dritten ein. Dieser Aufbau ist genau auf die Konzentrationsfähigkeit der Hörer abgestimmt: Je länger die Predigt währt, um so bildlicher und bewegender wird sie. Mit seiner Beschreibung hatte CRUEL wohl recht: Geiler zeigt sich hier gewiß nicht als spekulativer Kopf. Doch originell ist sein Verfahren durchaus. Er verfällt nicht nur unabhängig von Predigttheorie und Vorbildern auf den ›Narrenschiff‹-Zyklus, sondern gestaltet auch die einzelne Predigt in ganz eigener Weise. Seine Leistung liegt in der Komposition, in der geschickten Auswahl der einzelnen Vorlagen aus der ihm so vielfältig verfügbaren Tradition und ihrer Vereinigung zu einem überzeugenden Ganzen. Daß diese Vorlagen blockhaft übernommen und nicht als buntes Sammelsurium zusammengestellt werden, ist 51 52

Vgl. MAUS [Anm. 3], S. 52. Hederich [Anm. 30], Sp. 88.

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dabei durchaus von Vorteil. Die Predigt über die Bulnarren ist methodisch konsequent aus drei Abschnitten aufgebaut, die thematisch geschlossen sind und die Qualität ihrer großen Vorlagen spiegeln. Selbst für thematisch ähnliche Predigten lassen sich die hier gewonnenen Erkenntnisse nicht ohne weiteres verallgemeinern. Für ein anderes Publikum hat Geiler die remedia amoris im ›Seelenparadies‹ zusammengestellt, wo die verschiedenen Tugenden im Mittelpunkt der einzelnen Predigten stehen. Doch vor den Reuerinnen von St. Magdalena bleibt er beim gewohnten paränetischen Kanon, verzichtet ebenso auf Ausflüge in die heidnische Mythologie wie in die christliche Scholastik. Wie verhält es sich bei den anderen ›Narrenschiff‹-Predigten? Am nächsten liegt der Vergleich mit den Predigten über die übrigen Todsünden. Ein so differenziertes Verfahren wie bei der luxuria findet sich hier o nicht. Ob es sich bei der Bulnarren-Predigt um ein methodisches und thematisches Unikum handelt, wird sich erst nach detaillierten Analysen weiterer Predigten sagen lassen. Am Anfang muß die Identifizierung und Überprüfung der von Geiler benutzten und zitierten Quellen stehen. Einige verschweigt Geiler ganz. Wenn er Angaben macht, so bleiben die Grenzen der Textausschnitte meist unklar. Verwirrend sind sekundäre Zitate, die bereits in Geilers Quellen als Zitate angeführt und von ihm übernommen werden. Primäre und sekundäre Zitate lassen sich in Geilers Text nicht unterscheiden. Da Angaben zur Quelle gewöhnlich am Ende eines Zitats erfolgen, stehen die Verweise auf die von Geiler zitierte Quelle erst hinter den aus dieser Quelle übernommenen Verweisen auf sekundäre Zitate. So führt die Quellensuche oft auf Holzwege. Die Eigenart der sekundären Zitate wird erst erkennbar, wenn man den Wortlaut der primären Zitate überprüft hat.

Geilers Predigt über die Buolnarren Lateinischer Text und Paulis deutsche Übersetzung Der lateinische Text folgt dem zweiten Druck Straßburg 1511 (Abb. 2 u. 3): Nauicula siue speculum fatuorum. Prestantissimi sacrarum literarum doctoris Joannis Geyler Keysersbergij: concionatoris Argentinensis in sermones iuxta turmarum seriem diuisa: suis figuris iam insignita: atque a Jacobo Othero diligenter collecta. Angehängt ist die Compendiosa vite eiusdem descriptio / per Beatum Rhenanum Selestatinum. Ich benutze das Exemplar der SUB Göttingen (8o Patr. Lat. 2446/5). Der Druck ist nicht paginiert oder foliiert, Signaturen stehen wie üblich nur auf der Vorderseite der ersten vier Blätter einer Lage. Statt dessen finden sich am Rand des Satzspiegels im Abstand einer Drittelseite

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durchlaufende Majuskelalphabete, die im Kolumnentitel der Vorderseiten mit römischen Zahlen numeriert sind. Diese Einteilung, auf die sich auch das Register bezieht, erscheint in der Edition in eckigen Klammern. Seitenwechsel wird daher nicht gekennzeichnet. Die Abbreviaturen sind aufgelöst. In den Text eingegriffen habe ich nur bei eindeutigen Druckfehlern, diese Stellen sind durch Kursive markiert. Die Gliederung des Drucks oberhalb der Satzebene wird durch Absätze wiedergegeben. Absätze mit eingezogener Anfangszeile dokumentieren stets Einschnitte in der Vorlage (Einzüge, Alinea-Zeichen, Spatien, Majuskeln). Wo ich gegen den Druck Absätze einfüge, um den Gleichlauf von lateinischem und deutschem Text zu bewahren, habe ich auf Einzüge verzichtet. Die Interpunktion des Drucks durch Majuskeln, Punkte und Doppelpunkte ist so differenziert und in sich konsequent, daß sie keiner Änderung bedarf. Zitate sind im Druck nicht gekennzeichnet. Wo biblische Zitate identifiziert wurden, werden sie in Kapitälchen mit Anfangsversalien gedruckt. Wörtliche Zitate stehen sonst in doppelten, ungenaue Zitate in einfachen Anführungszeichen. Von Paulis Übersetzung erschien nur ein zeitgenössischer Druck (Abb. 1): o Des hochwirdigen doctor Keiserspergs narrenschiff so er gepredigt hat zu straßburg in der hohen stifft daselbst Predictant der zeit .1498. dis geprediget. Vnd vß o latin in tütsch bracht / darin vil weißheit ist zu lernen / vnd leert auch die o narrenschel hinweck werffen. ist nütz vnd gut alen menschen. Cum priuilegio. o Folgende Seite: Vnd ist also diß buch von dem latin getütschet von dem wirdigen vatter Johannis Pauli leßmeister zuo Tann in dem iar .1.5.1.9. Schlußcolophon: Getruckt zu Straßburg von Johanne Grieninger / vnd seliglich geendet / vf sant Bartholomeus abent Jn dem iar der geburt Christi Tusent .CCCCC.xx. Dem folgenden Abdruck liegt das Göttinger Exemplar zugrunde (4o Patr. Lat. 2446/15). Der deutsche Druck wurde von Pauli offensichtlich nicht Korrektur gelesen. Der Setzer hat vieles nicht verstanden (man vgl. nur die meist verstümmelten lateinischen Zitate, z. B. die Wiedergabe des Themas in der Überschrift). Da der lateinische Text das Verständnis sichert, scheint mir die Demonstration, wie dunkel der deutsche Text für den zeitgenössischen Leser an vielen Stellen gewesen sein muß, wichtiger zu sein als die Herstellung eines glatt lesbaren deutschen Textes, sei es durch Besserungen offensichtlicher inhaltlicher Versehen, sei es durch eine genauere Interpunktion. So werden nur die Abbreviaturen aufgelöst und die Fehler korrigiert, die nicht auf die Unkenntnis, sondern eindeutig auf die Flüchtigkeit des Setzers zurückgehen (z. B. menchen für menschen).

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Feria quinta post Reminiscere xv. Martij. STULTORUM INFINITUS EST NUMERUS. Ecclesiastes .i. Euangelium

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An dem dunrstag nach Reminiscere hat der wirdig doctor Keiserßberg geprediget. Stultorum infuntus est innumerus. Der narren zal ist on end. Von buo lnarren.

DEcimatertia turma stultorum est luxuriosorum procorum: Buolnarren. hoc eorum nomen proprium preter alios stultos. Nam omnis homo tales cuiuscumque sint conditionis stultos appellat. et quidem recte: sunt etenim. Et cum stultitia ex omnibus vitijs nascatur: precipue tamen ex illa luxuria nasci dicitur a beato Thoma: qui et rationem assignat quam transeo.1 Si quis sit inuidia: auaritia: ira aut alio quouis vitio affectus: non appellatur tamen stultus. sed si hoc vitio luxurie fuerit captus: dicitur stultus. Neque solum vulgus luxuriosos stultos appellat: sed etiam in scriptura sacra hoc vitium stultitia appellatur. Nam cum Amon [VI L] stuprare nititur sororem suam Thamar: ipsa ait: NOLI FACERE STULTITIAM HANC .ij. Regum .xiij.2 Ceterum quomodo multa sint genera stultorum: quidam sodomite: quidam sacrilegi: adulteri: stupratores virginum: alij simplices fornicarij.3 ab omnibus scitum est: neque opus resumere que superioribus praeter me frequenter dicta sunt. Et quamuis satis

1

[43ra] DJe .xiii. schar der narren ist (procorum luxuriosorum) Buo lnarren für alle narren so ist das der eigen nam der buo ler das man sie narren heisset o wan alle menschen heissen die buler naren / sie seient was geschlechts / was stantz / was alters sie woe llen / vnd billich heisset man sie narren / vnd wiewol es ist das narheit vß allen lastern wechset so gebirt doch in ein sunderen weg vnküsche narheit / spricht sant Thomas rationem obmitto. Es sei einer Geitig / Neidig / Hoffertig / Treg / so heisset man in kein narren / wan er aber buo let so schilt man in ein narren / vnd nit allein ist das vnder den menschen / es hat auch ein grund in der geschrifft (.reg.13.) da amon mit seiner schwester thamar wolt zuo schaffen haben vnd sy o schenden wolt / da sagt sy bruder die o narheit soltu nit thun. Nun disser narren seint villerley / das weiß yederman wol / so da mit er weibrucher / iunckfrawen / geschender. etc. so seint vil schellen / dabei man die narren erkennen mag die wil ich kürtzlich erzelen nach meiner gewonheit.

Vgl. Thomas von Aquin, Sum. Theol., II a II ae, qu. 46, art. 3. II Sm 13,12. 3 Vgl. Thomas von Aquin, Sum. Theol., II a II ae, qu. 154: De luxuriae partibus, bes. art. 1 über die sex species luxuriae, scilicet »fornicatio simplex, adulterium, incestus, stuprum, raptus et vitium contra naturam«. 2

Quellenverwendung und Sinnbildungsverfahren in den ›Narrenschiff‹-Predigten

noti sint: vt non opus esset eis nolas appendere quibus noscerentur: tamen vt seruem ordinem hactenus obseruatum: et similes alijs stultis fiant: quesiui et inueni nolas non paucas: quas enumerare cursim tamen statui. ¶ Prima igitur nola est cecitas mentis: Blintheit des gemüts. Secunda est precipitatio: verwegenheit. Tertia est inconsideratio: vnwarnemlicheit. Quarta nola est inconstantia: vnstetikeit. Quinta est amor sui. Sexta odium dei. Septima affectus presentis seculi. Octaua desperatio futuri seculi.4

Non est mirum: quod in hec octo mala miser ille stultus cadit. Et quomodo? ›Facit enim vehementia delectationis quam querit et cui inheret: quod totus absorbetur ad talia. et per consequens sua ratio et voluntas deordinatur et impeditur:‹ vt eis debite vti non possit. »quando enim inferiores potentie vehementer afficiuntur ad sua obiecta: consequens est quod superiores vires impediantur et deordinentur in suis actibus.«5

4 5

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Die erst schel ist cecitas mentis blindtheit des gemüts. Die ander schel ist / precipitatio / verwegenheit. Die drit schel ist / inconsideracio / vnwarnemlikeit. Die .iiii. schel ist / constancia / vnstetikeit. Die fünfft schel ist sich selbs lieb haben amor seu [!]. Die .vi. schel ist / odium dei / got hassen. Die .vii. schel ist / affectus presenti seculi / begirt der welt. Die .viii. schel ist / desperacio futuri seculi / verzweiflen an der zuo kü[n]fftigen welt. [43rb] Es ist kein wunder das der arm o nar der buler felt in disse .viii. ellent / wan der vnordenlich lust den er suo cht vnd dem er anhangt / so würt sein vernünfft vnd sein wil vngeordnet vnd gehindert das er sie nitt mag bruchen als billich wer / wan wen die vnderen potencio machten begeren zuo erlüstigen in disen gegenwürffen so gat das nahe das die oberen machten vnd krefften gehindert werden vnd geunordenet in iren wercken.

Vgl. Thomas von Aquin, Sum. Theol., II a II ae, qu. 153, art. 5,1. Die ersten acht Schellen folgen genau der Responsio in der II a II ae, qu. 153, art. 5; Thomas greift seinerseits auf Gregors ›Moralia in Iob‹, Buch 31, Kap. 17 zurück.

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›Jmpeditur igitur primo in intellectu: in simplici intelligentia: vt nesciat apprehendere finem bonum: et sic prodit nola prima: cecitas mentis. Sic Dan˜ .xiij. SPECIES DECEPIT TE.‹6

›Secundo impeditur ratio eius in consiliando de his que sunt propter finem: et sic prodit secunda nola precipitatio. Mouit nolam hanc Parmeno apud Terentium: domino suo querenti consilium: ›Que res‹ inquit ›in se neque consilium neque modum vllum habet: eam consilio regere non potes.‹7 ›Tertio impeditur ratio sua in iudicando de agendis: sicut de senibus luxuriosis dicitur: AUERTERUNT SENSUM SUUM: VT NON RECORDARENTUR IUDICIORUM SUORUM.

8

Et prodit nola tertia in-

consideratio.‹ ›Quarto impeditur ratio:‹ »ne exequatur id quod decreuit esse faciendum.« et prodit nola inconstantie: ›quam quatiebat qui prius dicens volenti recedere ab amica:‹ »Hec verba vna falsa lachrymula restinguet: [M] quam vix vi expressit« etc.9 ›Quinto impeditur et sua voluntas: vt non appetat debitum finem: sed indebitum scilicet »delectationem quam inordinate appetit«. et prodit nola quarta [!] amor sui.‹

6

o

Zu dem ersten so würt dy verstentnis gehindert in einfeltigem verstant / das o sy nit wüß ergreiffen ein gut end da gat die erst schel herfür die da heisset (cecitas mentis) blinde des gemüts dauon stot dauielis [!] (.13. species decepit te) die gestalt hat dich betrogen. o Zu dem andern so würt die vernunfft gehindert in irem ratschlag / von den e dingen die da gehoren vnd geschehen vmb des ends willen. Also gat die ander schel herfür die da heisset precipitacio / o verwegenheit. Disse schel rurt einer in terencio da er sprach: welches ding kein maß noch rat hat das magstu mit rat nit regieren. o Zu dem dritten so würt die vernunfft gehindert in irem vrteil was man sol thuo n. Also sagt daniel von den vnküschen alten sie hetten ire sin abkert das sie nit gedencken der vrteil gottes / vnd gat her dy drit schel / inconsideracio / vnwarnemlikeit. Zuo dem fierden so ist die vernunfft o gehindert das sie nicht thut das sie an o o hatt geschlagen zu thun. Also gat herfür die fierd schel / inconstancie / die clinglet der obgemelt lerer parmeno da er von seiner metzen gon wolt da behielt e in ein tropflin trehen das sie mit gewalt herauß trottet. o [43va] Zu dem .v. so ist der wil gehindert daz er nit begert das recht end / aber leibs lust den er vnordenlich begert da kumpt har die .v. schel (amor seu [!]) sich selber liebhaben

Dn 13,56. Terenz, ›Eunuchus‹ I 1, v. 12f. 8 Dn 13,9. 9 Terenz, ›Eunuchus‹ I 1, v. 67f. Thomas zitiert Terenz nur bis restinguet. 7

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›Sequitur hanc mox nola quinta [!] Zu dem .vi. volget gleich die .vi. odium dei:‹ »in quantum scilicet pro- schel / deren nach odium dei got hassen hibet delectationem concupitam«. in den vnordenlichen lüst verbüt. ›Appetit media pro consecutione finis Zuo dem .vii. so begert er dy mittel e sui indebiti: et prodit nola septima: durch die er semlichen lust mog vberaffectus presentis seculi: in quo scili- kommen so kumpt gleich daher die .vii. cet vult frui voluptate.‹ schel begeret disser gegenwürtigen welt in deren er sich wil erlüsten. Zuo dem .viii. so folgt hernach die ›Sequitur mox octaua nola desperatio futuri seculi:‹ »quia dum mens deti- .viii. schel (desperacio futuri seculi.) netur carnalibus delectationibus non verzeihung sich verwegen der zuo künfftcurat peruenire ad spiritales: sed fas- tigen welt / wan wen daz gemüt gefantidit.« gen ist in fleißlichen lüsten so acht er nit zuo komen zuo den geistlichen lüsten / sunder sie sein im widerig. Habes nolas octo: et vbi emisti? A Ja sprichstu wa hastu die acht schelmercatore vno qui appellatur sanctus len kaufft in welchem krom / sant Gree Gregorius: preciosus vtique mercator. gorius der kostlich kromer hat sy feil in et in qua officina? in libro .xxxi. mo- dem krom 31. liber moralium / vnd sant ralium. et eas limauit sanctus Thomas Thomas hatt sie gegerwet vnnd gefeilet das sie glitzen in .2.2. wiltu die anderen in .ij.ij. Vis audire et alias nolas? e schellen horen. Von der .ix. schellen. ¶ Nona nola ›turpiloquia. Plane EX AB10 UNDANTIA CORDIS OS LOQUITUR. Matth. .xij. Jnde est quod‹ »luxuriosi quorum cor est turpibus delectationibus plenum et concupiscentijs: de facili ad turpia verba prorumpunt.«11

[4zeilige Schelle] Die .ix. schel ist (turpilo quia) vnnütze red vngeschaffne red (math. 12.) wes das hertz vol ist des laufet der mund vber / wan nun das o hertz eines vnküschen / ist voller wust was kan der mund reden dan wüste ding.

¶ Decima est ›verba scurrilia: facit luxuria procum (bulhertz) inconsideratum et precipitem: sic prorumpit‹ »in verba leuiter et inconsiderate dicta: que dicuntur scurrilia.«

Die .x. schel ist scurrilia vana /

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vnnütze wort / vnküscheit machet die buo lhertzen / vnd warnemlich vnd schnel / darumb so reden sie vnbedacht wort.

Mt 12,34. Die Schellen 9–12 folgen genau der II a II ae, qu. 153, art. 5, ad 4.; Thomas greift seinerseits auf Isidors von Sevilla ›Commentarius in Deuteronomium‹, Kap. 16 zurück.

112 ¶ Vndecima nola: verba ludicra: guot schwenck. ›Querit luxuriosus delectationem: et‹ »verba sua ad delectationem ordinat: et sic prorumpit in verba ludicra [.]« [N] ¶ Duodecima nola est ›stultiloquia: preferendo verbis suis delectationes quas appetit quibuscumque alijs rebus. Facit hoc in eo cecitas mentis: vt peruersas sententias preferat verbis suis.‹ Et vnde he quattuor nole? ex Jsidoro: quas tamen beatus Thomas splendidas suis expositionibus quemadmodum audisti effecit. ¶ Vis adhuc alias? Tredecima nola suspitio. Decimaquarta zelus: non potest habere riualem. Decimaquinta contemtio: rursum pariter vt ait Terentius.

Ralf-Henning Steinmetz

Die .xi. schel ist verba ludicra guo t schwenck wan ein vnküscher suo cht lust / darumb so ordnet er seine wort dem lust / also ret er verbena ludicra. [43vb] Die .xii. schel ist stulti loquia nersche red / dise fier schellen hab ich genummen vß sancto Jsidero die auch sanctus Thomas glitzen macht / wiltu noch mer schellen haben so nim die auch.

Die .xiii. schel ist suspicio argwon haben. Die .xiiii. schel ist zelus eiffren er mag kein gemeiner haben corriualem. Die .xv. schel ist contencio zancken vnd gleich widerumb frid mitt einanderhon / als Terentius sagt. o Decimasexta secreta querere. winckel Die .xvi. schel ist / winckel suchen 12 suochen. nequam querit angulum. vnd finsterniß. Decimaseptima adulari: schmeychlen. Die .xvii schel ist / adularie schmeichlen. Decimaoctaua promittere: pollicitis Die .xviii. schel verheissung vnd wer quilibet esse diues potest. ich reich. Die .xix. schel ist heimlich reuwen inDecimanona insusurrare: heymmlich rumen. susurare. Vicesima irridere: lieblechlen. Die .xx. schel ist lieblächen. Vicesimaprima manus scalpere: hend Die .xxi. schel ist hütkratzen. kratzen. Vicesimasecunda pedibus calcare: Die .xxii. fuo ßtretten das ist aber vnsifüßtretten. sed cautum non est: quippe cher wan man trifft etwan des mans o cum te putaueris calcare pedes femi- fuß. ne: pedes calcas mariti. Die .xxiii. schel ist frawen also tragen Vicesimatertia colores vestium mutare[:] Precipe ei (inquiunt) vt colorem also hoßen tragen die fütery muo ß herhunc perferat. Hi sunt qui etiam va- durch scheinen.

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Die letzten zwölf Schellen gehen auf den gereimten ›Beichtspiegel‹ (vv. 164–174) des Hans Folz zurück, über den Geiler 1497 gepredigt hatte.

Quellenverwendung und Sinnbildungsverfahren in den ›Narrenschiff‹-Predigten

rias vestes deferunt: nullum ex eis vides cui calige non tegant oras tibiarum circa calceos · quicumque habet patulas tibias circa oras calceorum procus non est. Vicesimaquarta hoffieren: proponunt feminis cibos et pregustant. Vicesimaquinta inuerecundia: vnschemig. Vicesimasexta frech. Vicesimaseptima carmina de venereis et nulla alia cantant. Vicesimaoctaua irrisiu sunt: spöttig. Et vnde nole he? ex officina nostri barbitonsoris: cuius dictamen vobis anno superiori produxi: et apud vos manet: quem legite. Quod si plures habere volueris. intra officinam propriam: et teipsum considerato: et multo plures reperies. Et tantum de primo. [O] ¶ Circa secundum de figura Veneris: qua eam veteres descripserunt: in quibus significare voluerunt mores et miserias procorum. Reperio quia eam hoc modo figurauerunt. Feminam nudam in mare natantem: et in manu sua dextera concham marinam gestantem: que rosis erat ornata: a columbis circumuolantibus comitata: Vulcano deo ignis rustico turpissimo in coniugium assignata. Ante quam tres astabant iuuencule nude: que tres gratie vocabantur. quarum duarum facies ad ipsam conuerse erant: vna vero in contrarium vertebatur. Cui Cupido filius suus alatus et cecus assistebat: qui sagitta et arcu Apollinem sagittabat: propter quod ad matris gremium turbatur puer et timidus fugiebat. Et cur ita figurabant? Plane vt mores et miserias procorum venereorum significarent. Vultis audire qualiter?

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Die .xxiiii. schel ist hoffieren / ob dem tisch fürlegen / voruersuo chen. Die .xxv. schel ist vnschemmig. Die .xxvi. schel ist frech. Die .xxvii. schel ist singen von der buo lschafft. e Die .xxviii. schel ist / sie seint spottig / Dise schellen hab ich genummen auß vnsers krom vnd gedicht das ich euch for einem iar geprediget hab das lesen / wiltu aber mer schellen haben so gang in dein eignen krom / in dein hertz / so findestu noch vil mer. o

Von der figur veneris der bulschafft wie die alten gemalet haben. [44ra] SJe malten ein nackende frawen die schwam in dem meer / dy het in der rechten hand ein krum iacobs müschlin da mit man pfeiffet. Jtem sie was geziert mit eim rossen schappel / o item ein küt tuben vil tauben flugen ir nach / item die was eim wüsten bauren in der ee vermahelt der hieß vulcanus / was ein got des füers. Jtem vor ir stuo ne den drei nackende dochtern die hiessen e drei gnaden / zwo dochter hetten ir angesicht zuo ir gekert / sohen sie an die drit sahe von ir / Jtem ir sun der hieß Cupido der stuo nt neben ir het fettigen als wolt er fliegen vnd was blind der het ein armbrust oder ein bogen gespannen ein boltz darauff vnd schoß in seinen got appolinem / darumb erschrack der sun / vnd floch zuo seiner muo ter vnd was

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Ralf-Henning Steinmetz o

Primo Venus figurabatur femina quia (Bulhertz) habet femineum cor13 instabile et semper mutabile vt femina quemadmodum in .iiij. nola. Secundo nuda depingitur: et nudos qui illam imitantur persepe facit: et quia luxurie crimen et si in longum perseueret occultum: tandem dum minus arbitrantur obsceni procedit in publicum: omni palliatione remota: vt ait Bocacius. Est (si non erro) prouerbium quia amor talis occultari vltra quartale vnius anni non possit.14 Tertio in mari natantem: profecto vt infelicium amantium amaritudinibus immixtam vitam procellis agitatam varijs. et eorum naufragia crebra demonstrent. Vis audire in mari natantem: audi Plautum in cistellaria talem procum describentem. ›Credo ego‹ ait: ›amorem primum apud homines carnificinam commentum: hanc ego de me coniecturam domi facio: ne foras queram qui omnes homines supero atque anneo cruciabilitatibus animi: iactor: crutior: agitor: vexor: vi amoris totus miser exanimor: feror: differor: distrabor: diripior: ita nullam mentem animi habeo: vbi sum: ibi non sum: vbi non sum ibi est animus. ita mihi omnia ingenia sunt: quid lubet non lubet: iam id continuo: iam amor lassum animi ludificat: fugat: agit: appetit: raptat: retinet: iactat: lar13 14

betrübt also maletten die alten bulschafft / damit wolten sie zeugen was ellenden vnglückhafftigen arbeitseligen folgel ein buo ler wer wiltu aber wissen wie / so nim war. Zuo dem ersten ist ein fraw wan buo lhertzen haben ein weibisch hertz vnbestentlich / alwegen beweglich wie ein fraw. o Zu dem andern so was sie nacket / wan buo lschafft oder frawen men[s]chen nacket machen / vnd buo lschafft bleibet nit lang heimlich sie würt offenbar / das iederman das maul mit weschet / es ist o ein sprichwort das selten ein bulschafft vber ein fiertel iar verschwigen bliebet. Zuo dem dritten so schwimmet sie in o dem meer / vnd ein buler schwimmet wol in dem meer vnzelligen zuo fel sorglicheit die in dem meer seint also in der buo lschafft auch / liß boccacium der erzelt ir vil / lat sich nit tütschen.

Der Druck hat statt r das Kürzel für -rum. In den Punkten 2 und 3 folgt Geiler wörtlich Boccaccios ›Genealogia deorum gentilium‹ III 23, ed. Romano, S. 151, Z. 16–36.

Quellenverwendung und Sinnbildungsverfahren in den ›Narrenschiff‹-Predigten

gitur: quid dat non dat: deludit modo: quid suasit: disuadet: quid dissuasit id affectat: maritimis modis mecum experi[P]tur: ita meum frangit amantem animum.‹15 hec Bocatius. Quarto gestat in manu dextra concham marinam (expositionem Bocacij dimitto) cum qua canitur (Ein krum Jacobs muschel als ein horen) Siquidem vult superesse in choreis: in cantibus et letitijs: et ad se alios vt itidem faciant vocat: excitat choreas conuiuia quatenus conueniant filij Veneris. Quinto rosis ornata: ei rosas (vt ait Bocatius) dicunt esse in tutelam datas congrue quidem: eo quod rubeant atque pungant: quod quidem libidinis proprium esse videtur. Nam turpitudine sceleris erubescimus et conscientie peccati vexamur aculeo. Et sicut per tempusculum rosa delectat: paruoque temporis lapsu marcet: sic et libido parue breuisque delectationis: et longe penitentie causa est: cum in breui decidat quod delectat: et quod officit vexet in longum16 (Ein kurtz fastnacht ein lange fast).

Sexto a columbis circumuolantibus comitata (Ein kut tuben) sunt enim columbe (ait Bocacius) in tutelam date que sunt multi coitus: et fere fetationis continue: et libidinosi sub tutela sunt luxuriosorum: plane sequuntur ille columbe gregatim luxuriosum. De his columbis sermo specialis in

15 16

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Zuo dem fierden hat sie ein pfeiffhorn o in irer hand / wann ein buler wil alwegen tantzen / pfeiffen / springen / vnd o ladet ander auch darzu damit das die o o rb buleren zu[44 ]sammen kummen.

o

Zu dem fünfften so ist mit rosen geziert / rosen haben dorn / dorn seint den rosen geben sie zuo beschirmen / als e boccacius sagt / vnd koren dorn den roo sen recht den bulern zuo / dorn die stechen / vnküscheit eigenschafft ist peinigen wan man sich schampt des vnreinen lasterliches wercks natürlich vnd der dorn des nagens der consciens dich sticht vnd nagt / vnd wy die roß ein clein zeit ein menschen erlüstiget / vnd darnach bald dürret vnd welck würt. Also der lust ist kurtz aber gibt dir vrsach langer penitents vnd reuwes also das da ist ein kurtze fastnacht vnd ein lang fasten. o Zu dem sechßten so hat sie vil tauben vmb sie fliegen / ein kut tauben / sein vnküsche thier / sie haben stetz iungen e vnd eier. Also die boße gelüstigen volgen vnd lauffen den huo ren nach / hüt dich vor tauben / man spricht wiltu haben dein hauß suber so hüt dich vor pfaffen münch vnd tauben.

Auch das lange Plautus-Zitat aus der ›Cistellaria‹ II 1 bezieht Geiler von Boccaccio. Boccaccio, ›Genealogia‹ III 22, ed. Romano, S. 147, Z. 12–14, 17f.

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Ralf-Henning Steinmetz

tractatu de morte factus est17 (wiltu haben dein huß suber: so hüt dich vor pfaffen: münchen vnd duben. D. diener. V. vetteren. B. blotzbrüder. E. ertzet. N. neger schnyder.) Septimo vulcano turpi coniuncta: aliquando turpissimi homines admittuntur a feminis: quippe quod alios quos cuperent promptos non habent: et non incendio [Q] consumitur domus si enim aqua deerit cum fimo extingui nititur. Octauo tres habet assistentes iuuenculas etc. ipse sunt tria vitia: auaritia voluptas et infidelitas. Due sunt ad eam conuerse: auaritia et voluptas: nimirum quamdiu loculi fuerint referti: et persona delitijs apta: tam diu erit accepta. Porro his deficientibus faciem ab ea auertimus: vtique manifestum est quod persone luxuriose carnalitas nos diliget ratione voluptatis: auaritia ratione lucri et cupiditatis. et iste sunt: quarum facies ad nos sunt conuerse. Jnfidelitas vero nos eijcit: et faciem a nobis vertit: ratione paupertatis vel predilecte alterius formositatis. Tunc dicimus: TRADITUS SUM OBLIUIONI TANQUAM MORTUUS A CORDE:

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D Diener. V Vettern. B Blotzbrüdern. E Ertzet. N Neier schneider. Zuo dem sibenden so ist sie einem wüsten bauren fer eignet / das bedüt das wehe stoltze weiber / vnfleter stalknecht / kücheknecht zuo in lassen wan e die sie gern hetten die mogen innen nicht werden / wan wen es brent hat man nit wasser so lecht man etwan mit mist. Zuo dem achten so stond drei doe chtern bei ir / das seint drei laster / Geitikeit / Gelust / vnd Vntrüw / zwo sehen sie an / Geitikeit vnd gelust / wan so lang der seckel vol gelts ist vnd die person zuo dem lust geschickt ist / so lang ist e man liebe / wan dy ding auff horen so kert mann das angesicht dar vonn. Disse ding ligen [44va] alle an dem tag wan du gibst so hat sie dich lieb so lang du lust von ir hast / vnd sie hübsch ist / so lang lauffstu ir nach so bald disse ding vff hoe ren / so kert iegliches das antlit von dem andern vnd würt war das wort mein ist vergessen von hertzen als eines toten (.et auertisti faciem tuam ame et factus sum contribatus [!]).

ET AUERTISTI FACIEM TUAM A ME: 19

ET FACTUS SUM CONTURBATUS.

Nono habet filium Cupidinem: et luZuo dem .ix. Hat sie ein sun der heisset xuria concupiscentiam producit. Pro- Cupido begirt / wan die vnküschen in fecto proci in iugi sunt concupiscen- steter begirt seint / inen vergat der lust tia. als den alten koe chen das trincken. 17

Vgl. Geilers von Kaysersberg »Ars moriendi« aus dem Jahr 1497. Nebst einem Beichtgedicht von Hans Foltz von Nürnberg, hg. u. erörtert von ALEXANDER HOCH, Freiburg i. Br. 1901 (Strassburger Theologische Studien 4/2), S. 74–72; Geiler von Kaysersberg: Ein A.B.C. wie man sich schicken soll zu einem köstlichen seligen tod (1497), Facsimile-Wiedergabe, mit einem kurzen Geleitwort von LUZIAN PFLEGER (Veröffentlichungen des Museums in Hagenau i. Els.), Hagenau 1930, Bl. A 8 v. 18 Ps 30,13. 19 Ps 29,8.

Quellenverwendung und Sinnbildungsverfahren in den ›Narrenschiff‹-Predigten

Decimo filius eius puer est: non vir. Siquidem luxuriosi semper puerilium sunt morum: nihil virilis nihil magnifici ex eis auditur. Vndecimo alatus depingitur. Amor enim talis volare et subito se transferre videtur. Constat enim quod homo subito et sine deliberatione amore alicuius persone solet inflammari: sed non diu permanet hic amor. Duodecimo cecus est. Et quam cecus sit procus: dictum est in prima nola. Nescit etiam quid agat procus: et vbi se ingerat amor aduertere non videtur quia solet se ponere in pauperem sicut in diuitem: in turpem sicut in pulchrum: in religiosum sicut in laicum. Porro per amorem solent homines excecari. Amor [R] malus rectum iudicium nescit: ait Seneca. Tredecimo sagittas habet aureas et vncatas in vna pharetra: et in alia obtusas: et plumbatas in alia pharetra: et amor quosdam vulnerat.21 Quartodecimo Apollinem sagittat Et amor ille viros aliquando iustos sagitta tentationum quandoque vulnerat et transfigit. Fitque vt iuxta poetam: Hereant in pectore vultus. ¶ Habetis iam fratres mei quemadmodum veteres mores et miserias procorum et horum stultorum descripserunt. Vnde et merito nos concitari debemus vt custodiamus nos ab hac magna stultitia: nos inquam omnes. Quippe quod nemini parcat vt dictum est: eque sub purpura et pannis reperitur: vt ait beatus Hieronymus.

20 21

liele. Vergil, ›Aeneise‹ IV, 4.

o

117 o

Zu dem .x. So ist er ein kind also buler gond stetz mit kindlichen sachen vmb nichts manlichs nichts dapffers thuo nt sie mit iren wercken / sagen narrenwerck. Zuo dem .xi. So hat er federn als wolt er fliegen / dy vnordenliche lieb flügt ein vnküscher fert dar von on betrachtung des schades. Zuo dem .xii. Er ist blind der sun ein buler ist blind (omnis amans cecus.) liebe blendet ein er sicht nit was er thuo t vnd die liebe20 ist blind sie sicht niemans an / sie kumpt in ein armen / in ein reichen / in ein vngestalten / in ein ordes man / in ein leyen. Seneca (.amor malus nescit iudicium.) o

o

Zu dem .xiii. Hat phil mit kocher vnd bulschafft vil menschenen verwundet. o

Zuo dem .xiiii. So schüsset er den abgot vnd vnküscheit mit ir anfechtung schüset etwan die gerechten man verwundet vnd gat durch sie / als der poet spricht (.hereant in pectore vultus.)

118 NEC EST QUI SE ABSCONDAT A CALORE 22 EIUS: ergo omnibus ab ea cauendum. Fugiamus fratres mei stultitiam hanc: que est animi humani turbatiua. qui tales enim sunt nunquam purum habent gaudium. Noli te frater subdere tante seruituti: vt ad nulla opera efficiaris ammodo aptus. qui eiusmodi est neque dei neque sui est: quia cor suum non habet. FORNICATIO ET EBRIE23 TAS AUFERUNT HOMINI COR: ait propheta. Vt quid honori tuo non parcis? Non est vitium quod ita vt fornicatio hominem infamet: vitia carnis sunt maxime infamie. Si captus non es: age gratias deo: et caue. quia nisi caueris vix cappam depones: si ea induaris. Si cappatus es: roga deum et nitere vt exuaris.

Ralf-Henning Steinmetz o

also hastu das die buben teding niemans vbersicht niemans ist der sich vor ir hitz hüte / als dauit spricht / darumb lassent vnß fliehen die narheit / o bruo der nit mach dich vnderwürflich diser dienstbarkeit / wan sie machet dich vngeschickt zuo allen guo ten dingen / wann du o kein hertz nicht hast weder zu den dino gen gottes noch zu deinen sachen / wan es spricht der wyß vnküscheit vnd trunckenheit nemmen dem menschen sein hertz / warum [44vb] sichstu nit dein eer an. Es ist kein laster das den menschen also verlumbde als vnküscheit / bistu nit gefangen so danck got vnd hüt dich das du nit gefangen werdest wan wen du die narren kappen anlegest / so kanso tu sie gar kum abziehen / du must fast got anrüffen ee sie dir ab dem hals kumt Von der artznei der vnküscheit / der dritteil der predig.

Et quid agam inquis vt absoluar? ferueo: vulneratus sum sagitta hac de qua dixisti: incensus sum et ardeo amore: feruet olla: continere non possum. quid faciam ne ebulliat et effluat? Hoc fac quod cocus facere solet in tali casu: aut enim aquam olle infundit: aut de lignis subtrahit: aut ollam ab igne elongat. Jta et tu facito. Primo si ferues igne luxu[S]24rie: aquam infundito.

22

Ps 18,7. Os 4,11. 24 Majuskel fehlt am Rand. 23

DU sprichst was muo ß ich thuo n das ich ledig werd / ich bren / ich bin verwunt mit den pfeilen von denen du sagst / ich bin entzünt in der liebe / der haffen südet / ich mag nit küsch sein / der haffen brodlet vnd laufft vber. Du solt thuo n als die koe ch thuo nt / wan ein haffen vberlaufft so schütten sie kalt wasser darein / oder sie rucken den haffen von dem feuer / oder das feuer von o o dem haffen. Also thu du auch lauf zu dem wasser.

Quellenverwendung und Sinnbildungsverfahren in den ›Narrenschiff‹-Predigten

Recurre primo ad aquam frigidam: quam super te proijce. ad literam: quod quendam sanctorum fecisse legimus. Vel secundo ad aquam lachrymarum. Vel tertio ad aquam tribulationum. AQUE MULTE NON POTUERUNT 25 EXTINGUERE CHARITATEM (Das wasser got über die körb). Recipe disciplinam vel pungere fortiter: vel trahe tibi pilos barbe vel capitis. Vel quarto ad memoriam tribulationum: si non vis adhibere tribulationis presentiam: saltem adhibeas eius memoriam: vt cogites de penis que debentur peccato luxurie: siue etiam cogites mortem: statum in quo caro post mortem erit futura. Vel quinto aquam sapientie salutaris: ad hanc currant docti: plane que sursum est sapientia. Primum quidem pudica est id est pudicum reddens. ›Ama sacras literas (ait Hieronymus) et carnis vitia non amabis.‹ Ratio est secundum beatum Thomam .ij.ij. q. clxxxviij. ar. v. quia »auertit animum a cogitatione lasciuie: et carnem macerat propter studij laborem. secundum illud Eccli .xxxi. VIGILIA 26 HONESTATIS TABEFACIET CARNES.« Sic sic fac: et extinguetur. Secundo subtrahe ligna de igne: subtrahe tibi de cibo et potu. secundum enim ligna silue exardescit ignis: precipue de illis generibus ciborum et potuum que inflammant ad luxuriam: vt sunt fortia vina et acuti saporis Sunt nimirum hec non qualiacumque ligna ad nutrimentum luxurie: sed sunt quasi facule ardentes ad eam incendendam. 25 26

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o

Zu dem ersten beschüt dich mit kaltem wasser / daz lessen wir von einem heio o ligen. Zu dem andern lauff zu dem waso ser deiner trehen oder Zu dem dritten zuo dem wasser der betriebnis (.Aque multe non potuerunt extinguere charitatem.) Das wasser gat vber die koe rb nim ein disciplin / züch dir selber den bart vß oder das gauch har vß dem kopff /

gedenck an die pein vnd straff die du o leiden must für die sünd / oder gedenck an dein tod / vnd wie dein fleisch nach o dem tod wirt oder thu als die weisen / o lauff zu dem wasser der weißheit die ob vnß ist / wan sie macht dich schamhafftig / spricht sant Jheronimus (ama sacras) hab die heiligen geschrifft lieb so würstu laster nit lieb haben

o

Zu dem andern so züch das holtz von dem feuer / entzüch dir speiß vnd tranck / besunder speiß vnnd tranck / die hitziger natur seint die dich flamo men zu vnküscheit / als da seint starck wein / galrei / pfeffer lutertranck etc.

Ct 8,7. Thomas von Aquin, Sum. Theol., II a II ae, qu. 178, art. 5, Responsio, 3 o; von dort auch das Zitat aus Hieronymus (›ad Rusticum‹) und Sir 31,1.

120 Tertio ollam ab igne remoue Elonga te ab igne luxurie. Sic fieri iubet sanctus Paulus .i. Corinth. vi. FUGITE FOR27 NICATIONEM. Et quidem consulte: cum alijs enim vitijs (vt ait beatus Ambrosius) potest expectari conflictus. Hanc fugite ne approximetis: quia [T] non potest aliter melius vinci. Sic sic igitur vince ignem. Sed ais: non est ignis hic vt alter ignis infernalis est: et extingui non potest vt alius ignis: est ignis sancti Anthonij. Fac ergo quod hi qui igne tali incensi sunt facere solent: inuoca deum per deuotissimam orationem. Qui enim patitur morbum illum qui ignis infernalis dicitur: alicubi facit se deferri ad ecclesiam beate virginis Parisiis: alicubi ad sanctum Anthonium. nec inde recedit donec curatus sit. Et tu itidem facito: cum te senseris percussum telo cupidinis inflammato: conuertaris toto corde ad deum et ad sanctorum suffragium: neque clamare cesses quousque sanitatem receperis. qua adepta redde quotidie pro gratiarum actione aliquem censum vel seruitium in signum liberationis: quia scriptum est. ERUAM TE ET 28 HONORIFICABIS ME. Lauendum tamen est in hac parte a temerarijs votis. Specialiter autem beatissimam virginem inuoca: que sicut est amatrix munditie in se: sic et in alijs. et ei seruias specialiter. Proculdubio

27 28

I Cor 6,18. Ps 49,15.

Ralf-Henning Steinmetz o

[45ra] Zu dem dritten / so ruck den haffen von dem füer / flühe von dem o füer der vnkeuscheit / das rat dir zu o thun sant Paulus .i. corin. vi. fugite fornicacionem) fliehen vnküscheit. Es spricht sant Ambrosius mit andern lastern mag er fechten / aber diß laster o fliehen / nit nehen euch darzu. Ja sprichest du / es ist nit mitt dem füer / als mit vnserm füer. Es ist das helisch füer das kan man nit loe schen / als das ander füer sant Anthony / so thuo das / das die thun die das selbig füer hond / wer da die blag hat des helischen füers sancti Anthony / die lassent sich etwan in ein kirchen tragen / als in vnser frawen kirchen zuo paryß / oder zuo sant anthonius / vnd geent da nit danen sie seint dan genesen / also thuo du auch wen du entpfindest den pfeil der anfechtung des flammen der boe sen begird / so ker dich mit gantzem hertzen o e zu got / vnd hilff der heiligen / vnnd hor o o nit vff zu schreien vnd zu betten / biß das du gesuntheit entpfindest / wan du dan gesunt bist worden so gib got dem herren ein zinß ein dienst / alle tag zuo einer danckbarkeit / wan es ist geschriben (ernante ethono) ich wil dich erloe sen / so solt du mich eeren / doch so hüt vor freuelen gelüpten. Vnnd in sunderheit so rieff Mariam die muo ter Jesu an wan wie sie ist ein liebhaberin der reinikeit in ir selber / also auch in andern vnd dien ir inn sunderheit. Es ist keiner on zweiffel der angefochten wer mit dem helischen füer der vnkeuscheit.

Quellenverwendung und Sinnbildungsverfahren in den ›Narrenschiff‹-Predigten

si quis tanto ardore quereret curationem ab isto igne infernali: quanto querit curationem ab illo: vix esset quin impetraret. Hunc modum extinguendi ignem docuit nos Sapiens Sapientie .viij. quo et ipse vsus est: VT SCIUI (inquit) QUONIAM ALITER NON POS-

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Jtem wan also mit solicher begird einer gesuntheit sucht / als er gesuntheit sucht wan er sant Anthonius füer het / er würde gesunt werden / er erwürb von got dem herren genad vnd hilff. Dise artzney gibt der weiß man. sapiencie viii. Er hat sie auch gebrucht (ciui quem SUM ESSE CONTINENS: NISI DEUS DET: ET alteri). Jch hab wol gewisset daz ich nit e HOC IPSUM ERAT SAPIENTIA: SCIRE CUIUS keuisch mocht sein / du gebest mir dann rb ESSET HOC DONUM. ADIJ DOMINUM: ET das / das was auch ein weiß[45 ]heit 29 das er wüßt das keusch sein wer ein gab DEPRECATUS SUM ILLUM. Gottes / darumb sprach er ich bin zuo dem herren gangen vnd hab in darumb gebetten etc. o Et tu igitur instar illius recurre ad doAlso thu du auch in deiner anfechtung o minum in tuis tentationibus: et suos laüff zu Gott dem herren vnnd zuo seisanctos: eos inuocando diligenter et nen lieben30 heiligen / vnd rieff sie an deuote: et ab incendio hoc liberaberis: mit gantzem fleiß deines hertzen / so quod et telo cupidinis quo percussus würst du von dem pfeil der anfechtung e fuisti passus es. Quod si vis preueni- erlosset. Wilt du aber daruon sein / das re: ne te sagittis tuis ignitis cupido du nit geschoßsen werdest mit dem o percutiat: fac quod prudentes facere pfeil der vnkeuschheit / so thu als die o solent: dum timent contra se mitten- fürsichtigen reißleut thunt / wan sie das sagittas aut speras bombardarum. foe rchten das man sie schiesen werd mitt illi non manent in eodem loco stantes: den büchsen oder mit denn armbrasten / sed oblique incedunt de vno loco in so bleiben sie nit ston an einem ort / sie alium: non [V] directe incedunt: ne- lauffen aber krum herumb von einem que manent stantes: alias cito percu- ort an das ander. terentur. o Et tu honesta occupatione semper sis Also hab du alwegen etwas erbers zu intentus: quia »Ocia si tollas: periere schaffen / wann wen man fraget warcupidinis arcus.«31 »Queritur Egistus umb ist Egistus worden ein ebrecher / quare sit factus adulter. Ratio in so ist gleich die vrsach da er gieng müspromptu est: desidiosus erat.«32 Sem- sig. Sanctus Jheronimus spricht du solt per aliquid boni facito (ait beatus Hie- alwegen etwas guo ts thuo n / das der teufronymus) vt te diabolus occuptatum fel dich nit müssig gon find / lassent inueniat. Rogemus dominum. vnß got bitten vmb genad.

29

Sap 8,21. leiben. 31 Ovid, ›Remedia amoris‹, v. 139. Geiler hat perire. 32 Ebd., v. 161f. 30

122

Ralf-Henning Steinmetz

Abb. 1: Anfang der deutschen Buhlnarrenpredigt Geilers von Kaysersberg (Straßburg: Hans Grüninger, 1520).

Quellenverwendung und Sinnbildungsverfahren in den ›Narrenschiff‹-Predigten

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Abb. 2: Anfang der lateinischen Buhlnarrenpredigt Geilers von Kaysersberg (Straßburg: Jacob Otther, 1511).

124

Ralf-Henning Steinmetz

Abb. 3: Titelblatt der lateinischen ›Narrenschiff‹–Predigten Geilers von Kaysersberg (Straßburg: Jacob Otther, 1511).

II

Predigt als cura animarum. Prediger – Verkündigung – Publikum

Regina D. Schiewer

Predigten zum Fest der Epiphanie – Predigten auf die heiligen Engel Theologie in der Volkssprache um 1200

Wan ir der bvoche niht kvnnet, an den vogelen ivlt ir iehen, waz iv ze tvonne ii.1 Auf diese Weise leitet ein Prediger des ausgehenden 12. Jahrhunderts seine Auslegung zu den beiden Opfertauben bei Jesu Darstellung im Tempel ein. Wan ir der bvoche niht kvnnet – dieser Halbsatz gibt einen wichtigen Aufschluß über das Zielpublikum der ca. 850 Musterpredigten, die uns aus der frühen Phase deutschsprachiger Predigt zwischen 1170 und 1230 erhalten sind. Die, die der Prediger anredet, sind somit illitterati. Direkte Anreden, die sich in frühen deutschen Predigten finden, lassen darauf schließen, daß ein Teil von ihnen – wie einige Teilsammlungen der ›Leipziger Sammlung‹ – für die Laien im Kloster gedacht waren, ein anderer Teil richtet sich an Adelige,2 wieder andere scheinen sich an einfache Leute zu richten. Ob die Predigt im Gottesdienstgeschehen ihren Platz hatte oder ob nach der Meßfeier gepredigt wurde, läßt sich den normativen Quellen nicht entnehmen. Unsere Predigten selbst geben jedoch einen Hinweise darauf, der sich besonders an hohen Festtagen immer wieder findet: Der Prediger verspricht, sich kurz zu fassen, da das Amt, also die Liturgie, heute so lang sei. Die Frage, ob es sich beim Ort des Gottesdienstes um eine Kloster- oder Parochialkirche handelte, läßt sich nicht einheitlich klären. Doch ganz gleich wo die Predigt örtlich und zeitlich ihren Platz hatte und ob es sich bei den Zuhörern um Laienbrüder oder -schwestern, um Adelige oder Parochialgemeinde handelte: Es wurde zu Laien gepredigt. Die Inhalte dieser Predigten wurden bisher in wissenschaftlichen Untersuchungen weitgehend vernachlässigt: Stereotype, Grundlagen des christlichen Glaubens, monotone Wiederholungen sind die Schlagwörter, die im Zusammenhang mit der Frühen deutschen Predigt immer wieder verwendet werden.3 Neues theologisches Gedan1

GERT MELLBOURN, Speculum Ecclesiae (Lunder Germanistische Forschungen 12), Diss. Lund 1944, S. 35,22f. (T 9). Zur besseren Orientierung gebe ich bei den einzelnen Predigtsammlungen die von KARIN MORVAY und DAGMAR GRUBE in ihrer Predigtbibliographie eingeführten T-Nummern an: KARIN MORVAY und DAGMAR GRUBE, Bibliographie der deutschen Predigt des Mittelalters. Veröffentlichte Predigten (MTU 47), München 1974. 2 So heißt es beispielsweise in den ›Bruchstücken des 12. Jahrhunderts aus Wilhelm Wackernagels Altdeutschen Predigten‹ (T 36: WILHELM WACKERNAGEL, Altdeutsche Predigten und Gebete, Basel 1876) in Predigt Nr. XXV, S. 41: »Ir wizzet wol mine herren. da man ain chastel erzivgen sol. da muret man umbe ain uil ueste mure.« Im ›Speculum ecclesiae‹ werden in Predigt Nr. 21 wirt und husfrowe aufgefordert, den armen Angehörigen ihres Haushaltes am Gründonnerstag die Füße zu waschen. 3 Vgl. z. B. ALBERT HASS, Das Stereotype in den altdeutschen Predigten. Mit einem Anhange: Das Predigtmäßige in Otfrids Evangelienbuch, Greifswald, Phil. Diss. 1903.

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kengut wurde freilich lateinisch verfaßt. Doch die aktuelle theologische Debatte der Gelehrten war auch nicht zur Rezeption für Laien gedacht. Die frühen Musterpredigten bieten aber die einmalige Möglichkeit, ein recht vollständiges Bild dessen zu zeichnen, was man um 1200 meinte, Laien vermitteln zu können. Das plötzliche, geballte Auftreten volkssprachlicher Predigten von 1170 an und ihre Konzentration im Südosten des deutschen Sprachraums legen die Vermutung nahe, daß mit der neueinsetzenden deutschen Predigt eine Programmatik verfolgt wurde. Diese Vermutung wird gestützt durch inhaltliche Entdeckungen, die bei der Untersuchung der theologischen Aussagen dieser Predigten zutage treten. Beispielhaft soll dies im folgenden an einer Untersuchung der frühen deutschen Predigten zum Fest der Epiphanie und auf die heiligen Engel illustriert werden.

Das theologische Baukastensystem: Das Fest der Epiphanie Zum Fest der Epiphanie finden sich insgesamt dreizehn frühe deutsche Predigten (Abb. 2).4 Bei den Themenkomplexen, die in diesen dreizehn Predigten thematisiert werden, handelt es sich um ein eingeschränktes Corpus (vgl. Abb. 1). Bestimmte Themenbereiche werden von den einzelnen Predigern immer wieder aufgegriffen. Diejenigen, die am häufigsten vertreten sind, nenne ich ›Grundsteine‹ der Epiphaniaspredigten. Jede Predigt weist zumindest einen dieser Grundsteine auf, neun der Predigten benutzen sogar alle drei dieser Grundsteine. Die anderen Bausteine sind jeweils mindestens zweimal in Epiphaniaspredigten enthalten. Keine einzige Predigt weist mit einem Sonderthema thematische Originalität auf. Es stellt sich die Frage, wieso es zu einer solchen Übereinstimmung in der Themenwahl kommt. Für die Zeit um 1200 liegen uns kaum Richtlinien zur Predigt für Laien vor,5 noch gab es artes praedicandi, die dem Prediger allgemeingültige Hilfestellungen bei der Wahl der Themen gegeben hätten.6 Direkte lateinische Vorlagen haben sich trotz der zahlreichen Quellenangaben SCHÖNBACHS7 nur für wenige Predigten feststellen lassen. Wo wir eine direkte Vorlage kennen, wie etwa bei der im Rahmen dieses Vortrages ebenfalls berücksichtigten 4

Eine Liste der Predigten und ihrer Editionen befindet sich am Schluß des Beitrags. Vgl. MICHAEL MENZEL, Predigt und Predigtorganisation im Mittelalter, Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 1991, Heft 2, S. 337–384. 6 Die ersten artes praedicandi, die mehr als nur allgemeine Hilfestellungen bieten, entstanden in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, weswegen die von ZIELEMANN aufgestellte Forderung, Predigten zukünftig vor allem unter Heranziehung der mittelalterlichen artes praedicandi zu analysieren, für den uns interessierenden Zeitraum nicht durchführbar ist (GERRIT CORNELIUS ZIELEMANN, Das Studium der deutschen und niederländischen Predigten des Mittelalters, in: Soˆ predigent etelıˆche. Beiträge zur deutschen und niederländischen Predigt im Mittelalter (GAG 378), hg. von KURT OTTO SEIDEL, Göppingen 1982, S. 5–48. 7 Vgl. Altdeutsche Predigten. 3 Bde., hg. von ANTON E. SCHÖNBACH, unveränd. reprograph. Nachdr. d. Ausg. Graz 1886–1891: Darmstadt 1964. Ders., Studien zur Geschichte der altdeutschen Predigt, reprogr. Nachdr. d. Ausg. Wien 1896–1907: Hildesheim 1968. 5

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Epiphaniaspredigt des ›Speculum ecclesiae‹, wo eine Predigt des Honorius Augustoduniensis zusammen mit anderen Quellen bearbeitet wurde, oder der Kirchweihpredigt Nr. 56 derselben Sammlung, die offensichtlich aus dem ›Bairischen Homiliar‹ schöpft,8 bleibt die Frage bestehen, wieso es gerade zu dieser Auswahl von Themen bei der Bearbeitung kam. Die Antwort auf diese Frage gibt der Einfluß der Liturgie auf die theologischen Inhalte einer Predigt. Die Liturgie beinhaltet bereits die wichtigsten Aussagen, die zu einem Festtag gemacht werden sollen. Abb. 1 listet liturgische Bezüge für die Epiphaniaspredigten auf. Ich werde dies im folgenden bei einer kurzen Vorstellung der Themenblöcke und ihrer Variationen in den einzelnen Predigten systematisieren. Die von mir herangezogenen liturgischen Stücke entstammen ausnahmslos einem Brevier des Benediktinerklosters Admont aus der Zeit um 1230.9 Völlige Sicherheit darüber, ob exakt dieselben liturgischen Stücke auch in anderen Brevieren anderer Diözesen einige Jahrzehnte früher zu finden sind, kann es nicht geben. Für eine weitgehende Übereinstimmung sprechen die Verwendung der meisten liturgischen Texte im heutigen Breviarum Romanum und – selbstverständlich – ihre Verwendung in den hier untersuchten Predigten, die an verschiedenen Orten und vermutlich auch in verschiedenen Orden entstanden. Beim ersten, dem orangefarbenen Grundstein handelt es sich um die Paraphrase des Tagesevangeliums von den Weisen aus dem Morgenland (Mt 2,1–11). Elf der dreizehn Predigten verwenden es. Auch das Bruchstück aus Wackernagels ›Altdeutschen Predigten‹ wird vermutlich eine Evangeliumsparaphrase aufgewiesen haben, da es die Geschenke der Könige symbolisch interpretiert. Generell läßt sich für die Frühe deutsche Predigt feststellen, daß das Tagesevangelium 8

HANS-ULRICH SCHMID, Althochdeutsche und frühmittelhochdeutsche Bearbeitungen lateinischer Predigten des ›Bairischen Homiliars‹ (Althochdeutsche Predigtsammlungen B, Nr. 2, 3 und 4 und C, Nr. 1, 2 und 3, Speculum Ecclesiae, Nr. 51, 52, 53 und 56). Teil I: Untersuchungen zu Textgeschichte, Syntax und Bearbeitungstechnik. Teil II: Die deutschen und lateinischen Texte in synoptischer Darbietung mit einem textbegleitenden Kommentar (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B/Untersuchungen 29), Frankfurt/M. 1986, hier Teil II, S. 56–61. Bei den von SCHMID untersuchten Predigten des ›Speculum Ecclesiae‹ lassen sich zwar zweifelsfrei direkte Abhängigkeiten vom ›Bairischen Homiliar‹ belegen, doch zeigt seine Parallelführung des lateinischen und des deutschen Textes auch, daß es sich um selektive Übernahme handelt, die in Einzelfällen auch um Material ergänzt wird, welches sich nicht im lateinischen Vorlagentext findet. Ähnlich verhält es sich bei NIGEL F. PALMERs Untersuchung der ›Klosterneuburger Bußpredigten‹ (T 8), in deren Rahmen PALMER zwei Predigten Geoffroi Babions als Vorlagen nachweisen kann: NIGEL F. PALMER, Die ›Klosterneuburger Bußpredigten‹. Untersuchung und Edition, in: Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Kurt Ruh zum 75. Geburtstag, hg. von KONRAD KUNZE [u. a.], Tübingen 1989, S. 210–244. 9 Klagenfurt, Kärntner Landesarchiv, GV 6/7. Es handelt sich um eine Handschrift, die aus der Bibliothek des Benediktinerklosters Millstatt stammt, vermutlich jedoch in Admont angefertigt wurde. Für die Zuweisung dieser Handschrift in das Kloster Millstatt vgl. HERMANN MENHARDT, Die Millstätter Handschriften, Zentralblatt für Bibliothekswesen 40 (1923)129–142, hier: S. 139, und PETER WIND, Zur Lokalisierung und Datierung des ›Millstätter Psalters‹. Cod. 2682 der Österreichischen Nationalbibliothek, Codices manuscripti 8 (1982) 115–134, hier S. 117.

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noch einen weit größeren Stellenwert hat als in späteren Phasen der deutschsprachigen Predigtgeschichte. Dies gilt jedoch vorrangig für einfache Sonntagspredigten. Festtagspredigten schneiden die Thematik des Evangeliums häufig nur kurz an und konzentrieren sich stattdessen auf das Festtagsgeschehen und eine Erklärung desselben. Bei Epiphanias entsprechen sich jedoch Tagesevangelium und Festtagsgeschehen, so daß sie nicht in Konkurrenz zueinander treten. Die einzige Predigt, in der keine Nacherzählung der Geschichte von den drei Weisen erfolgt, ist Predigt Nr. 171 der ›Leipziger Sammlung‹. Sie weist dementsprechend keine Deutung der Gaben der Könige auf. Meist sprechen die Predigten von magi oder kunige. Die Bezeichnung magi, der sich auch zahlreiche liturgische Texte bedienen, stammt aus dem Evangeliumstext, andere liturgische Texte sprechen von reges.10 Dieser Bezeichnungen bedienen sich alle frühen Epiphaniaspredigten bis auf zwei Ausnahmen: In Wackernagels Bruchstück wird stern warte verwendet, und Predigt Nr. 23 der ›Leipziger Sammlung‹ fügt den beiden Bezeichnungen noch drie wise man hinzu, was wohl beides als Übersetzung für magi zu verstehen ist. Eine zusätzliche Konkretisierung der drei Weisen erfolgt in Predigt Nr. 76 derselben Sammlung durch die Erwähnung der Namen Caspar, Melchyor, Balthasar (S. 153,19f.). Mehrmals wird die Herkunft der Weisen mit Chaldäa (›Leipziger Sammlung‹, Nr. 23, S. 56,10; ›Oberaltaicher Sammlung‹, S. 30,17; ›St. Pauler Predigten‹, Nr. 18, S. 80,17) oder Orient (›St. Pauler Predigten‹, Nr. 3, S. 7,7) bzw. osterland (›Leipziger Sammlung‹, Nr. 36, S. 89,30; ›Leipziger Sammlung‹, Nr. 76, S. 153,30) angegeben, einmal zusätzlich mit Saba und Arabien (›Leipziger Sammlung‹, Nr. 23, S. 57,14). Die Herkunftsbezeichnis ›Chaldäa‹ steht in Zusammenhang mit dem Buch Daniel, da Daniel in dem für seine Astronomie bekannten Chaldäa zum Sterndeuter ausgebildet wurde. Saba und Arabien beziehen sich auf ein Responsorium: Reges arabum et saba dona adducent (Admonter Brevier, Bl. 112r). Es wird stets bemerkt, es habe sich um d r e i Männer gehandelt. Die traditionelle Dreizahl entspricht der Anzahl der Gaben und findet sich auch in einer Oratio des Tages: Deus illuminator omnium gentium da populis tuis perpetua pace gaudere! et illut lumen splendidum infunde cordibus nostris quot trium magorum mentibus aspiriasti (Admonter Brevier, Bl. 45r–v). Kommen wir zum zweiten Grundstein, in den Abbildungen blau markiert. Es handelt sich hier um die symbolische Interpretation der Gaben. Auch diese findet sich bereits in der Liturgie des Tages. In einer heute nicht mehr gebräuchlichen Antiphon heißt es: Ab oriente uenerunt magi in betlehem adorare dominum et apertis thesauris suis preciosa munera obtulerunt aurum sicut regi magno thus sicut deo uero mirram sepulture eius (Admonter Brevier, Bl. 112v). Diese symbolische Deutung der Gaben ist unverzichtbarer Bestandteil der Aus10

Admonter Brevier: Reges tharsis et insule munera offerent reges arabum et saba dona adducent. (Responsorium, Bl. 112r; Breviarum Romanum I, Regensburg 1961, Versus und Responsorium zum 6.1., S. 140)

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legung des Tagesevangeliums. Dort, wo sich der Predigttext findet, fehlt auch die symbolische Deutung der Gaben nicht. Lediglich bei Haupts Predigtbruchstück läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob diese Predigt ursprünglich eine symbolische Deutung der Gaben aufgewiesen hat, da die moralische Deutung hier unabhängig von der symbolischen erfolgt. Ansonsten wird recht gleichförmig verfahren. Man folgt derselben Lehrmeinung, die nie in Frage gestellt, sondern höchstens ergänzt oder erläutert wird. Einige dieser Auffälligkeiten will ich hier vorstellen: Die Millstätter Predigt interpretiert die Gaben folgendermaßen: Das Gold zeigt, daß Jesus deus deorum, rex regium und dominus dominantium ist, der Weihrauch weist auf Jesus als summus pontifex et verus sacerdos. Die Myrrhe zeigt, daß Christus sterblich wurde, um die Menschheit vom Tod zu befreien. Einen Hinweis auf die Interpretation von Jesus als Bischof findet sich in einer Oratio des Tages: Considerate fratres apostolum et pontificem conffessionis nostre ihesum! qui fidelis est ei qui fecit illum sicut et moyses in omni domo illius. (Admonter Brevier, Bl. 13v) Nr. 76 der ›Leipziger Sammlung‹ schließt in die symbolische Interpretation der einzelnen Gaben bereits eine moralische ein. Hier fordert das Gold die Gottes- und Nächstenliebe und den Glauben daran, daß Jesus König aller Könige ist; der Weihrauch steht für den Glauben an Jesus als wahren Gott, Schöpfer und Erlöser, die Myrrhe für den Glauben, daß Jesus als Sohn Mariens wahrer Mensch war und für die Menschen gestorben ist (S. 154, Z. 19–36). In der Epiphaniaspredigt des ›Priesters Konrad‹ wollen die Könige mit dem Gold erst herausfinden, ob Jesus König ob allen kiunigen wære, mit dem Weihrauch, ob er von warer natur ein ewiger got wære, und mit der Myrrhe, ob er von wahrer menschlicher Natur sei und sich der Welt zum Heil angenommen hätte. Hier ist dann folgerichtig auch von den d r e i Naturen Jesu die Rede (S. 22, Z. 3–9). Der dritte, der grüne Grundstein entsteht durch die Verwendung der Antiphon Tribus miraculis ornatum diem sanctum colimus hodie stella magos duxit ad praesepium, hodie vinum ex aqua factum est ad nuptias, hodie a iohanne cristus baptizari voluit, ut salvaret nos (Admonter Brevier, Bl. 230r). Eine Reihe von Predigten verwendet sie bereits als Initium. Daß der Tag der Epiphanie auch Tag der Taufe Jesu und der Hochzeit zu Kana sei, wird in einigen Predigten nur kurz erwähnt, andere jedoch beziehen diese beiden Ereignisse fest in das Geschehen der Erscheinung ein, erzählen die beiden Geschichten nach und deuten sie. Diese Thematik wird jedoch nicht nur in dieser einen Antiphon thematisiert, sondern die Antiphonen zum Magnificat und dem Benedictus geben die Taufe Jesu sogar fast vollständig wieder (Admonter Brevier, Bl. 112v–113r).11 Aus dieser 11

a [=Antiphon] Iohannes quidem clamabat dicens ego non sum dignus babtizare dominum. respondit ihesus et dixit: sine modo sic enim decet nos adimplere omnem iusticiam. aevia. a [= Antiphon] Uox de celis sonuit et uox patris audita est. hic est filius meus in quo michi conplacui.

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Aneinanderreihung und Umwandlung biblischer Zitate verschiedener Evangelien entsteht der Text, nach dem die deutschen Nacherzählungen der Taufe in einigen Predigten gearbeitet sind. Dies erklärt, warum sie den Eindruck erwecken, als böten sie eine Evangelienharmonie. In Haupts Fragment werden beide Geschichten nacherzählt. Gedeutet wird jedoch nur die Erzählung von der Hochzeit zu Kana. Das Fest wird als die Hochzeit des Evangelisten Johannes angesehen. Die bruchstückhaft erhaltene Auslegung läßt erschließen, daß der Prediger das Weinwunder typologisch interpretierte: Das Wasser steht für die Menschen, die im Alten Bund lebten, der Wein für die Gläubigen des Neuen Bundes. Im ›Speculum ecclesiae‹ wie auch in der Millstätter Predigt und Predigt Nr. 3 der ›St. Pauler Predigten‹ werden die beiden Geschichten nur kurz berührt. Das ›Speculum‹ stellt ihnen jedoch noch zusätzlich die Auferweckung des Lazarus an die Seite (S. 33, Z. 10–14). Predigt Nr. 76 der ›Leipziger Sammlung‹ nimmt gleich am Anfang auf die drei Zeichen Bezug, zählt sie auf, und der Prediger erläutert: von den drin zeichen solde ich uch vil sagin, ob ich kuonde und ob iz uch niht verdruzze. idoch wil uch sagin ein teil dar abe, daz ir alsuo huote ane bezeichenisse von hinnen niht enscheidet (S. 153, Z. 25–28). Trotz dieser Ankündigung geht der Prediger bei Nacherzählung und Auslegung der drei Geschichten sehr ausführlich vor: Auf die Geschichte der drei Weisen folgt eine besonders intensive Beschäftigung mit der Hochzeit zu Kana, bei der Johannes Evangelista als Bräutigam gesehen wird. Im Verhältnis zu dieser Auslegung ist die der Taufe Jesu, die sich anschließt, eher knapp gehalten. Durch das Zusammenwirken der Trinität wird die Taufe zur Reinigung aller Gläubigen geheiligt. Dies kommt auch in den beiden in Abb. 1 abgedruckten Antiphonen zum Ausdruck (Admonter Brevier, Bl. 113r). Die Predigt der ›Hoffmannschen Sammlung‹ nimmt in der Einleitung keinen Bezug auf das Initium Tribus miraculis. Vielmehr erfolgt erst nach der Erzählung und der Auslegung des Evangeliums die Erwähnung der drei Wunder, die – entgegen der Aussage des Initiums – mit Taufe, Weinwunder und Erweckung des Lazarus die Dreizahl erreichen. Jesus bedurfte der Taufe nicht, die für die Menschen heilsnötig ist, doch weihte und ehrte er sie dadurch, daß er sich taufen ließ. Dies weist wiederum auf die erwähnten Antiphonen zur Taufe hin. Die Hochzeit zu Kana ist auch hier die Hochzeit des Evangelisten Johannes. So wie ipsem audite. (113r) Celi aperti sunt super eum et uox patris audita est hic est filius meus dilectur in qui mihi conplacui. a [= Antiphon] Pater de celis filium clariificat spiritus sancti presencia aduenit unum edocens qui baptizatur cristus. a [= Antiphon] Babtizatur cristus et sanctificatur omnis mundus et tribuit nobis remissionem peccatorum aqua et spiritu omnes purificans. Baptizat miles regem servus dominum suum iohannes saluatorem aqua iordanis stupuit columba protestatur paterna uox audita est hic est filius meus a [= Antiphon] Super ripam iordanis stabat beatus iohannes indutus est splendore baptizans saluatorem baptiza me iohannes baptiza benedico te et tu iordanis congaudens suscipe me. a [= Antiphon] Aqua conburit peccatum hodie apparens liberator ut roret omnem mundum diuinitatis opere.

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Jesus Lazarus leiblich erweckte, wird er die Gläubigen geistlich erwecken, wenn sie sich um seine Gnade bemühen (S. 85, Z. 6–27). Auch Predigt Nr. 171 der ›Leipziger Sammlung‹ wird eingeleitet mit dem Hinweis auf die drei großen Zeichen, die sich an diesem Festtag ereignet haben. Statt der Geschichte von den drei Weisen wird jedoch die Geschichte von Bileams Prophezeiung des Sternes erzählt (Nm 24,17), und typologisch ausgedeutet. Dieser Hinweis erfolgt ebenfalls in der Predigt der ›Oberaltaicher Sammlung‹ und in Nrr. 23 und 36 der ›Leipziger Sammlung‹. Hier hat er jedoch lediglich die Funktion zu erklären, woher die Könige die Prophezeiung des Sternes kannten. Auf die relativ lange Wiedergabe der Bileamsgeschichte folgen in Predigt Nr. 171 in kurzen Worten Erzählung und Deutung der Taufe und der Hochzeit zu Kana. Dadurch, daß Jesus sich taufen ließ, wurde die Taufe der Gläubigen bestätigt. Er ließ sich mit dreißig Jahren taufen, weil der mensche wirt niht gewaschen von den suonden e danne er wirt gesterkit in den tuginden. In der zweiten St. Pauler Epiphaniaspredigt (Nr. 18) wird die Erzählung von der Taufe Jesu auf interessante Weise ausgeschmückt: Do chom ein liehtez wolchen vnd sprah -daz ist der gweltige vater in der hohe-: ›ditze ist min chint, min lieber svn vnd herre! des gebot svln alle di horen, di mit samt mir bowen wellent in der himelischen porte. In einem bin ich gehvldet, in einem han ich vergezen alles des zor«-»nes, den adam, der erste man vmb mich hete verdienet.‹ So wie damals sich der Himmel öffnete, so steht er auch jetzt noch allen offen, die sich taufen lassen. Jeder dieser drei Grundsteine findet sich elfmal in unseren dreizehn Predigten. Alle drei sind eng mit der Tagesliturgie verbunden, und die Behandlung von wenigstens einem der drei scheint für eine Predigt auf Epiphanias obligatorisch zu sein. Ich wende mich nun den anderen thematischen Bausteinen, die einen eher fakultativen Charakter haben, zu. Weniger obligatorisch und doktrinär als etwa die typologische ist die moralische Deutung, in den Abbildungen mit dem schwarzen Baustein gekennzeichnet. Acht der dreizehn Epiphaniaspredigten verfügen über sie. Sie steht oft im Zusammenhang einer längeren Paränese. Eine einheitliche Richtung in der Interpretation läßt sich trotz einzelner Abweichungen feststellen. Das Gold steht für das Lob Gottes, der Weihrauch für Dienst und Bekenntnis, die Myrrhe für Selbstkasteiung. Liturgische Bezüge gibt es nur andeutungsweise. So lautet ein Vers des Capitulums Omnes de saba uenient! aurum et thus deferentes et laudem domino annunciantes (Is 60,6; Admonter Brevier, Bl. 13v). Abweichungen gibt es im ›Speculum ecclesiae‹ und in der ›Hoffmanschen Sammlung‹, wo die Gaben nicht einzeln gedeutet werden, sondern dazu aufgefordert wird, Glauben, Zuversicht, wahre Liebe, Gedult, Demut, Keuschheit und andere gute Werke Gott zu opfern. In einigen Predigten wird mit der Aufforderung zum geistlichen Opfer der Hinweis auf die Bibelstelle ne appareas in conspectu domini dei tui vacuus (Sir 35,6 u. ö.) verbunden.

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Besonders ausführlich ist die Ausdeutung der ›Oberaltaicher Sammlung‹: Sie beginnt mit der Myrrhe, die als Mittel zum Einbalsamieren der Toten gegen Würmer bezeichnet wird. So wie die Würmer von der Bitternis der Myrrhe sterben, so sterben die Würmer der Sünde, wenn sich der Christ an die heilige Christenheit hält. Wenn dies geschehen ist, bedarf er des Gebetes, um Vergebung seiner Sünden zu erlangen. So wie der (Weih-)Rauch zum Himmel steigt, also get daz gebet daz rein auf fuer den almæchtigen got. Danach soll man das Gold opfern, womit die hilige minne gemeint ist. Denn so wie das Gold anderes Geschmeide übertrifft, so übertrifft die Liebe alle anderen Tugenden (S. 32, Z. 4–17). Noch weniger einheitlich wird die Lichtmetapher, der weiße Baustein, thematisiert. Dafür finden sich jedoch zahlreiche Lichtmetaphern in der Liturgie. Vier Sammlungen gehen vom Initium, das gleichzeitig erster Vers des Capitulums sowie Antiphon ist, Surge, illuminare, Ierusalem, quia venit lumen tuum, et gloria Domini super te orta est (Is 60,1) aus.12 Beim ›Speculum ecclesiae‹ wird Jerusalem als die Gemeinschaft aller Menschen der heiligen Christenheit verstanden. Da die Menschen in die Finsternis der Sünde gefallen sind, sollen sie nun dem wahren Licht Jesus entgegen aufstehen, da er das ewige Leben bringt (S. 32, Z. 10–17). Bei der St. Pauler Predigt Nr. 18 entwickelt der Prediger mit dem Text desselben Initiums ein regelrechtes Zwiegespräch in der Art des Hohenliedes. Die Seelen werden aufgefordert, von den Sünden aufzustehen und sich mit dem rechten Glauben erleuchten zu lassen. Man soll dem Teufel widerstehen, weil der göttliche Schein, der Trost der Sünder aufgegangen ist (S. 79, Z. 4 – S. 80, Z. 10). In dem von Haupt edierten Bruchstück wird Jesus als die Sonne der Gerechtigkeit bezeichnet, die dem leuchtet, der sich vom Teufel ab und der Gnade Gottes zuwendet, so wie der Stern den drei Königen erschien, als sie Herodes verließen (S. 348, Z. 10–20). In der Epiphaniaspredigt der ›Hoffmannschen Sammlung‹ erscheint das Motiv des Lichtes bei der Interpretation des Sternes, der heller als andere Sterne ist und die Geburt des Schöpfers verkündet (S. 84, Z. 11–14). Dieses Motiv findet sich auch in der ›Oberaltaicher Sammlung‹. Dort heißt es, daß Gott seine Geburt mit einem neuen Stern offenbar machen wollte (S. 30, Z. 15f.). Der Stern ist das Licht des ewigen Lebens. Die Heidenschaft soll mit dem Licht des Glaubens erleuchtet werden (S. 31, Z. 21–26). Diese fast schon überflüssige Erklärung, der Stern verkündige die Geburt des Erlösers, findet sich in der Liturgie des Tages immer wieder: Ich führe hier stellvertretend eine Antiphon an: Stella nobis uisa est rex celorum natus est uenite adoremus (Admonter Brevier, Bl. 112r). 12

Admonter Brevier: (230r) Illuminare illuminare ierusalem uenit lux tua et gloria domini super te orta est (112r); Surge illuminare ierusalem Quia uenit lumen tuum.

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Immer wieder wird in den Epiphaniaspredigten betont, durch die heiligen drei Könige werde darauf hingedeutet, daß Gott die Heiden zu seiner Kirche berief, nachdem die Juden durch ihren Unglauben ihre Berufung verspielt hatten. Dies betrifft den rosafarbenen Stein. So heißt es in der ›Millstätter Sammlung‹: Daz ist diu heriu hochzit. die wir hiute begen. Unde begen vocationem gentium. die ladunge dir diete dir heiden. daz wir birn. wan wir sin niht des judeschen geslehtes. Unser vordern waren alle heiden. Von diu wolte er die drie kunige laden ze siner wiegen. daz er da mite bediute. daz er die heidenschaft. Affricam. Europam. Asiam. ze im bekeren wolte (Bl. 7r, Z. 5–11). Der Hinweis auf die Berufung der Heiden, deren Nachkommen die Zuhörer seien, erfolgt auch in Nr. 23 der Leipziger Sammlung, der ›Oberaltaicher Sammlung‹, der ›Hoffmannschen Sammlung‹ und in Wackernagels Predigtfragment. Zahlreiche Bezüge hierzu gibt es in der Liturgie, z. B.: Domine dominus noster et refugium meum in die malorum! ad te gentes uenient ab extremis terre (Admonter Brevier, Bl. 13v). Daneben lautet es in einer Oratio: Deus illuminator omnium gentium da populis tuis perpetua pace gaudere (Admonter Brevier, Bl. 46r). Durch den gelben Baustein wird Bileams Prophezeiung des Sterns gekennzeichnet. Ihre Behandlung wird vermutlich durch die Bezugnahme des Evangeliums auf sie angeregt. Weitere liturgische Bezüge ließen sich nicht ausmachen. Mit einem kurzen Zitat dieser Vision erklären die Prediger dreier Sammlungen, wieso die drei Könige von dem Stern wußten (›Leipziger Sammlung‹, Nr. 36; ›Leipziger Sammlung‹, Nr. 23; ›Oberaltaicher Sammlung‹, Nr. 12). Nur Nr. 171 der ›Leipziger Predigten‹ nutzt die Gelegenheit, um ausführlicher einen alttestamentarischen Text vorzustellen und setzt die Prophezeiung in den größeren Zusammenhang der Geschichte um Bileam und seine Eselin. Daß schließlich der Tag der Epiphanie auch mit der Auferweckung des Lazarus (violetter Baustein) in Verbindung gebracht wird, wurde bereits bei der Behandlung des dreifachen Wunders an Epiphanias erwähnt. Die Erweckung des Lazarus als drittes Wunder zu bezeichnen, läuft der Aussage der dort herangezogenen Antiphon Tribus miraculis entgegen (Erscheinen des Sterns, Weinwunder und Taufe Jesu), wird aber trotzdem übereinstimmend von den Predigten des ›Speculum ecclesiae‹ und der ›Hoffmannschen Sammlung‹ vertreten. Diese Zusammenstellung der thematischen Elemente der frühen Epiphaniaspredigten zeigt, daß die Bezüge zur Liturgie besonders häufig bei den Themen auftreten, die übereinstimmend in den meisten Predigten verwendet werden. Keine Belege in der Liturgie konnte ich für die weniger häufig auftretenden Themen wie etwa die Verbindung des Tages der Epiphanie mit der Auferweckung des Lazarus finden. Dies zeigt deutlich, daß in der frühen deutschsprachigen Predigt versucht wurde, die wichtigen Teile der lateinischen Liturgie in die Verkündigung mit einzubeziehen. Dies hat zwei Gründe:

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Erstens konnten die, denen auf Deutsch gepredigt wurde, die lateinische Liturgie nicht nachvollziehen und sollten so mit ihren Inhalten vertraut gemacht werden; und zweitens finden sich in der durch die Tradition der Kirche gefestigten Liturgie die wichtigsten theologischen Inhalte eines kirchlichen Festes. Mit einem Rückgriff auf die Liturgie konnte der Prediger sich sicher sein, daß er sich innerhalb der Lehrmeinung der Kirche befindet und auf die wichtigsten theologischen Gesichtspunkte des Festes Bezug nimmt. Hierbei dürfte es von zentraler Bedeutung sein, daß diese Predigten als ›Muster‹ für andere, vielleicht weniger gebildete oder zum Predigen befähigte Priester gedacht waren. Für solche Predigten empfiehlt es sich, sich auf die wichtigsten theologischen Inhalte zu beschränken. Wählt man ein abgelegeneres Thema, besteht die Gefahr, daß der Benutzer der Sammlung es versäumt, die Gemeinde mit den theologischen Grundlinien vertraut zu machen, da er sie selbst nicht in Worte zu fassen vermag. Gleichzeitig können unsere Musterpredigten die zu Anfang geäußerte und durch die Bemerkungen der Prediger hinsichtlich der Länge der Predigt gestützte Vermutung, daß der Ort der Predigt der Gottesdienst selbst war, bekräftigen: Das Selbstverständnis der Predigten als Teil der feiertäglichen Liturgie zeigt sich gerade in ihren vielfältigen Bezügen zu dieser.

Die Probe auf das Exempel: Anlässe ohne Liturgie Weitere Argumente dafür, daß der liturgische Bezug für die Inhalte der frühen Predigt tatsächlich von einer immensen Wichtigkeit ist, wird ein Negativbeispiel, nämlich die Predigten auf die heiligen Engel aufzeigen. Im Gegensatz zu den Epiphaniaspredigten weisen sie sehr große Differenzen in ihren Aussagen auf. Predigten auf die Engel sind in der Frühen deutschen Predigt selten. Insgesamt gibt es nur drei Predigten zum 29. 9., die sich nicht mit dem Erzengel Michael, sondern mit den heiligen Engeln beschäftigen, nämlich in der ›Millstätter Sammlung‹, bei ›Priester Konrad‹ und in den ›Züricher Predigten‹. Die Liturgie des Tages konzentriert sich auf Michael. Über das Wesen der Engel treffen die Predigten der verschiedenen Sammlungen recht unterschiedliche Aussagen. In der Predigt der ›Millstätter Sammlung‹ wird von den Engeln ausgesagt, daß sie nicht aus Fleisch und Blut sind. Sie nehmen weder Nahrung zu sich, noch tragen sie Kleidung. Sie werden von der unablässigen Schauung Gottes gespeist und gekleidet (Bl. 71r, Z. 17–21). Der Gottesschau werden sie nicht müde, sondern je häufiger sie Gott sehen, um so lieber sehen sie ihn (Bl. 71r, Z. 18–20). In den beiden anderen Predigten auf die Engel wird ihre Natur ausführlicher beschrieben. Bei ›Priester Konrad‹ heißt es, Gott habe Engel und Menschen geschaffen und ihnen die Kraft und die Tugend gegeben, an ihn zu glauben, ihn

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zu loben und ihm zu dienen, damit sie auch mit ihm ewig leben sollten (S. 231, Z. 8–13). Gott schuf sowohl die Engel als auch die Menschen gut, doch zur ganzen Gnade und Ehre sollten sie erst durch Dienst und Gehorsam kommen (S. 232, Z. 4–7). Gott ehrte die Engel, indem er ihnen ein wie der Tag oder wie die Sonne strahlendes Äußeres gab (S. 231, Z. 26–28). Wie er die Menschen ins Paradies führte und wieder daraus verstieß, so wurden die Engel in den Himmel geführt und zu einem Teil wieder aus ihm verstoßen (S. 231, Z. 20–24). Die Engel sind die grozen fursten unde die edeln dienstman des himelisken chuniges, wan die hat er sumeliche also gert, daz die niemer choment von siner nachwendechait, also mit rehte die grozen fursten von ir herren unde von ir chunige (S. 232, Z. 17–20). In der Züricher Predigt wird die Intention Gottes bei der Erschaffung der Engel angegeben: Er schuf geistliche Geschöpfe, weil er erkannt, gelobt und geliebt werden wollte. Diese geistlichen Geschöpfe können nicht mit Händen berührt werden. Sie sind aber von so starker und beständiger Natur, daß sie nicht vergehen können. Sie sind so klug, daß sie Gott bereits in dem Augenblick, da sie ihn zum ersten Mal sahen, als Gott erkannten. Gott gab ihnen – wie den Menschen – die freie Wahl, ihm gehorsam oder ungehorsam zu sein (S. 3, Z. 2– 11). Die Engel werden in der ›Millstätter Sammlung‹ aufgeteilt in die, die unablässig bei Gott sind und ihn loben, indem sie das ›Sanctus‹ singen, und in die Schutzengel. Zusätzlich werden noch die Erzengel erwähnt. Welcher Gruppe der Engel sie zugeordnet werden oder ob sie eine eigene Gruppe bilden, ist allerdings nicht ersichtlich. Wiederum sind die anderen beiden Engelspredigten ausführlicher: Bei ›Priester Konrad‹ sind einige der Engel im Dienst Gottes zum Wohl der Menschen unterwegs zu Trost und Hilfe der Christenheit (S. 232, Z. 21–24). Diese Boten werden interessanterweise durch die für sie gewählte bildnerische Darstellung unterschieden: Manche malt man mit zwei, andere mit vier oder sechs Flügeln. Die Engel, die man mit einem Flügelpaar malt, deuten auf die große Liebe hin, die die Engel für Gott und für die Christenheit empfinden. Die mit den zwei Flügelpaaren deuten auf die zwei Naturen Jesu. Die Fittiche der Engel mit den sechs Flügeln haben ermahnende Bedeutungen: Die Flügel, die an die Füße des Engels reichen, weisen darauf, daß man nicht darüber nachdenken soll, was vor Anbeginn der Welt war; das Flügelpaar, das über das Haupt geht, steht für die Mahnung, nicht darüber nachzudenken, was nach dem Jüngsten Gericht sein wird; und die Flügel zu den Seiten des Engels werden interpretiert als Hinweis, daß man nur das wissen soll, was Gott von Anfang der Welt an getan hat. wan die selben engel mit den sehs vetchen, die sint ouch gemalt uf ain rat; daz rat daz ist diu heilige scrift, daz bezeichent daz, daz wir anders niht wizen suln, niwan also uns diu scrift underwıˆst (S. 232, Z. 24 – S. 233, Z. 12).

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Diese Bildkatechese führt zurück zum Ausgangspunkt der Überlegungen: Wan ir der bvoche niht kvnnet ... (s. o.). Bilder aber kennen auch die illitterati, die sich jedoch nicht zu viel Gedanken über Dinge machen sollen, die sie nicht verstehen. Die Bildkatechese über die Flügel der Engel bestätigt noch einmal deutlich die Laien als Zielgruppe der Frühen deutschen Predigt.13 Die Einteilung der Züricher Engelspredigt wiederum ist gänzlich anders. Hier werden die neun Engelschöre aufgezählt (S. 4, Z. 43–45). Mit den Menschen sollte der zehnte Chor aufgefüllt werden, der durch den Teufel verloren ging. Der Mensch aber fiel in die Hand des Teufels und wurde nur durch Gottes eigenes Blut gerettet (S. 4, Z. 38–42). Ganz allgemein gesehen, sind Engel Geister und werden nur dann ›Engel‹ genannt, wenn sie als Boten auf die Erde kommen. Im Himmel braucht man keine Namen, da man die vollkommene Erkenntnis hat. Auf der Erde jedoch wird jeder nach seinem Amt benannt und so auch die Engel, die das Botenamt (›angelus‹) übernehmen. Dieser Sachverhalt wird mit einem Beispiel erläutert: Ez geschihit vndir stundin daz en chunic ein biscgos sendit. die wile denne der bisgos in der botesephte schinit. so heizit er ein bote. Swenne er abir sine boteschatf irwirbit. vnde er heim chvmit. so hezzit er abir ein bisgos (S. 5, Z. 68–91). Die Engel, die besonders wichtige Botschaften übermitteln, sind die Erzengel (S. 5, Z. 83f.). Über diese bemerkt die Millstätter Predigt, daß nur drei Engelsnamen bekannt seien, nämlich Michael, Gabriel und Raphael. Ihre Namen werden ausgedeutet: Michael bedeutet quis ut deus; Wer ist also got, da er diese Frage stellte, als Lucifer Gott gleich sein wollte. Gabriel bedeutet Angelus fortis und deutet auf Christus hin, dessen Erlösungswerk mit den Worten dominus fortis et potens (Ps 23,8) prophezeit worden war. Der Name Raphael bedeutet Medicina dei, da der Engel Raphael Tobias in seiner Not half. Michael wird als brobest des Paradieses bezeichnet (Bl. 71v, Z. 21 – 72r, Z. 7). Eine ähnliche Ausdeutung weist ein Hymnus des Admonter Breviers auf die heiligen Engel auf, in dem Michael als angelus pacis, Gabriel als angelus fortis und Raphael als Medizin des Heils bezeichnet werden.14 Die Predigt in der Sammlung ›Priester Konrads‹ beschäftigt sich nicht mit den Erzengeln, während die Züricher Engelspredigt zumindest von Michael und Gabriel spricht. Der Name Michael wird auch hier so ausgedeutet wie in der Millstätter Predigt. Michael hatte dieselbe freie Wahl, sich für oder gegen Gott 13

Gregor der Große: »Idcirco enim pictura in ecclesiis adhibetur, ut hi, qui litteras nesciunt, saltem in parietibus videndo legant, quae legere in codicibus non valent«. (Ep. 105; PL 77, Sp. 1027f.) 14 Admonter Brevier: (209r) Criste est sanctorum decus angelorum rector humani generis et auctor nobis eternum tribue benignus scandere regnum. Angelum pacis Michahel ad istam celitus(!) mitte rogitamus aulam nobis ut crebro ueniente crescant prospera cuncta. Angelus fortis Gabriel ut hostem pellat antiqum(!) uolitet ab alto sepius templum ueniat ad istud uisere nostrum. Angelum nobis medicum salutis mitte de celis Raphahel ut omnes sanet egrotos pariterque nostros dirigat actus. hinc dei nostri genitrix Maria totus et (209v) nobis chorus angelorum semper assistat simul et beata concio tota. Prestet hoc nobis deitas beata patris ac nati pariterque sancti spiritus cuius reboatur omnis gloria mundo. amen.

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zu entscheiden wie Lucifer. Michael ist der Anführer der Engel, die den Kampf gegen den Teufel führen (S. 6, Z. 103–110). Gabriel wird durch sein Amt charakterisiert. Er ist der Übermittler wichtiger Botschaften, wie z. B. bei der Verkündigung von Jesu Geburt (S. 5, Z. 59). Die Antipode zu dem Erzengel Michael, der gefallene Engel Lucifer, wird in allen drei Predigten thematisiert. In der Millstätter Predigt wird er nur in Verbindung mit Michael genannt: Lucifer war der schönste Engel, den es je gab. Er wurde von Michael gestürzt, weil er sich gegen Gott wandte und sinen stul neben im setzen wollte. So wie Lucifer zuvor der schönste Engel gewesen war, wurde er nach dem Sturz zum häßlichsten aller Teufel (Bl. 71v, Z. 23 – 72r, Z. 2). Auch ›Priester Konrad‹ erwähnt, daß einer der obersten Engel sich so schön dünkte, daß er meinte, Gott ebenbürtig zu sein. Dieses war der Teufel. Er wurde von Gott zurück in die Finsternis gestoßen, aus der er gekommen war, und da auch sein leuchtendes Wesen wieder von ihm genommen wurde, erlosch er wie eine Sternschnuppe. Er wurde dazu verdammt, vinster unde naht zu heißen (Bezug auf Gn 1,5) und nichts Gutes mehr tun zu können, noch zu wollen (S. 231, Z. 28–40). Im Gegensatz zu den kurzen Passagen dieser beiden ersten Predigten beschäftigt sich die Predigt der ›Züricher Sammlung‹ sehr eingehend mit Lucifer: Lucifer wird unter Bezug auf Ez 28,12f. als das Abbild Gottes dargestellt, voll Weisheit und vollkommener Schönheit. Er war über die neun Engelschöre gesetzt. Aus tiefen Gedanken heraus kam Lucifer zu Neid und Hochmut, daß er so sehr sündigte, daß ihm niemals verziehen werden wird. Er sprach in seinen Gedanken, daß er sein eigener Schöpfer sei und Gott gleich sein wolle. So fiel Lucifer schon im Augenblick seiner Erschaffung; denn wäre er länger bei Gott geblieben und hätte er Gott vollständig erkannt, so hätte er nicht fallen können. Lucifer wußte also wohl, daß Gott ihn geschaffen hatte, neidete ihm aber seine Herrschaft und wollte ihm nicht untertan sein (S. 3, Z. 14 – S. 4, Z. 31). Als Michael die bösen Gedanken Lucifers bemerkte und so beider Gedanken einander widerstrebten, entstand eine tiefe halbstündige Stille. In dieser Stille begann der Kampf zwischen Lucifer und denen, die ihm folgten, und Michael und seiner Gefolgschaft, der nun bis zum Jüngsten Tag währt. Nach der Stille erhob sich ein Lärm durch die Lobrufe der Tausende von Engeln, die bei Gott blieben. Seit dieser Zeit heißt Lucifer »Satanas« (S. 5, Z. 95 – S. 6, Z. 115). Das Motiv der Stille stammt aus dem Vers Apc 12,7, der auch als Antiphon verwendet wir: Factum est silencium in celo dum draco committeret bellum. (Admonter Brevier, Bl. 148v) Die Inhalte der Engelspredigten scheinen nur darin übereinzustimmen, daß Engel ganz besondere Wesen sind, die sich nicht mit den Menschen vergleichen lassen. Die Namen der Erzengel werden zwar in zwei Predigten übereinstimmend zum Hymnus gedeutet, eine einheitliche Lehrmeinung darüber, wer und wie Engel eigentlich sind, liegt jedoch offensichtlich nicht zugrunde. Daß dies

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tatsächlich so war, bestätigt sich, wenn man einen Blick auf die Dogmengeschichte der Engelslehre wirft. Um 1200 liegen die letzten Konzilien, die sich mit den Engeln beschäftigten, bereits 450 Jahre zurück: 745 wurde auf einem Konzil unter Papst Zacharias das Gebet zu anderen Engeln als den in der Bibel genannten (Michael, Gabriel und Raphael) untersagt, 789 wurden auf der Synode zu Aachen diejenigen exkommuniziert, die andere Engel als diese drei biblischen anriefen.15 Das nächste Konzil, das sich mit den Engeln beschäftigte, war das Laterankonzil von 1215, das lediglich feststellte, daß Gott am Anfang der Zeit Menschen und Engel schuf.16 Unsere De sanctis Angelis-Predigten weisen jedoch einige Aspekte auf, die sich auch in theologischen Überlegungen vor 1215 finden. Zwar gibt keine der Predigten ausschließlich die Lehre eines einzelnen Kirchenvaters oder Theologen wieder, der Bezug aber auf verschiedene Traditionen der Lehre von den Engeln ist stets vorhanden. So geht die Vorstellung von den neun Engelschören auf Dionysius Areopagita zurück und findet sich sogar mit namentlicher Aufzählung der Chöre in der Züricher Engelspredigt wieder. Durch Gregor den Großen erfuhr diese Lehre eine weite Verbreitung.17 Ebenfalls durch Gregor gelangte ein Lehrsatz Augustins in die mittelalterliche theologische Reflexion über Engel: »Angelus enim officii nomen est, non naturae« (Sermo 7,3).18 Auch diese Aussage findet sich – anschaulich gemacht durch das Beispiel vom Bischof als Boten – in der Züricher Predigt. In ihr und in der Millstätter Predigt tritt die Auffassung vom leibfreien Wesen der Engel deutlich zutage, während sich ›Priester Konrad‹ hierzu nicht äußert. Diese Vorstellung setzte sich erst spät durch – noch Bernhard von Clairvaux nimmt einen ätherischen Engelsleib an. Andere Aspekte wie die Willensfreiheit der Engel, der Engelsturz, der Stolz als Lucifers Sünde gehen zwar auf Augustinus zurück, wurden jedoch im Mittelalter bald zum Allgemeingut,19 das sich bei vielen Kirchenlehrern sowie eben auch in unseren Predigten wiederfindet. Auch die Vorstellung, daß Engel an der Liturgie der Messe, besonders bei der Eucharistie und der Taufe, beteiligt seien, findet sich bereits in der patristischen Theologie.20 Von den hier untersuchten drei Engelspredigten nimmt die der ›Millstätter Sammlung‹ auf diesen Aspekt Bezug, indem sie von den Sanctus singenden Engeln spricht. Auf Chrysostomus geht der Glaube zurück, der sich zwar auch in unseren Predigten auf die Engel, jedoch besonders in Kirchweihpredigten findet,

15

GEORGES TAVARD, ›Engel V‹. Kirchengeschichtlich, in: TRE IX, S. 599–609, hier: S. 604. ALEXANDER GANOCZY, ›Engel‹, in: Lexikon der katholischen Dogmatik, hg. von WOLFGANG BEINERT, 2. Aufl., Freiburg i. Br. 1988, S. 117–119, hier: S. 118. Die Lehrmeinung des Laterankonzils wurde von dem 1. Vaticanum bestätigt. 17 K. HOFMANN, ›Engel‹, in: LThK III, Sp. 863–875, hier: Sp. 868f. 18 Zitiert nach: GANOCZY (Anm. 16), S. 118. 19 GEORGES TAVARD, ›Engel‹: B. Lateinisches Mittelalter, in: LexMA III, Sp. 1906–1910, hier: Sp. 1906. 20 Ebenda. 16

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daß die Engel die Gebete der Menschen vor Gott tragen.21 Eine andere Vorstellung, nämlich die der Schutzengel, stammt zwar aus sehr früher Zeit – sie geht auf Clemens und Origines zurück22 – doch wurde sie eher durch die Volksfrömmigkeit als durch kirchliche Lehre zur verbreitetsten Engelvorstellung des Spätmittelalters.23 Bei diesen vielfältigen Möglichkeiten, auf die unterschiedlichsten Traditionen und Lehrsätze zurückzugreifen, gibt es genügend Raum für die gestalterischen Fähigkeiten der Prediger (oder der Schreiber ihrer lateinischen Vorlagen). Die größte inhaltliche Verwandtschaft in den Engelspredigten liegt bei der Beschäftigung mit Lucifer vor. Über dessen Schönheit und über die Gründe für seinen Sturz decken sich die Aussagen der drei Predigten, auch wenn sie sich verschieden ausführlich mit Lucifer beschäftigen. Dies stimmt mit der oben gemachten Feststellung überein, daß die auf Augustin zurückgehenden Reflexionen über Lucifers Sünde und Sturz und über die damit gegebene Entstehung des Bösen im Mittelalter zum Allgemeingut des Wissens über Engel gehörten. Daß alle drei frühen deutschen Predigten über die Engel so unterschiedliche Ausprägungen haben, belegt, daß es bei diesen Predigten keine vorgezeichneten Bahnen für die Vermittlung von theologischen Überlegungen über die Engel gegeben hat. Die Liturgie des Tages gibt für die Beschäftigung mit den Engeln insgesamt keine Hilfestellung. Sie beschäftigt sich fast ausschließlich mit dem Erzengel Michael. Es liegen – wie die Dogmengeschichte bestätigt – keine verbindlichen theologischen Aussagen über andere Engel als die Erzengel – und hier besonders Michael vor. Dies spiegelt sich in der Liturgie. Deswegen zogen es Prediger in allen Zeitabschnitten des Mittelalters vor, allein über den Erzengel Michael zu sprechen, da sie so auf biblische und liturgische Texte zurückgreifen konnten. Ich fasse die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung der frühen Epiphaniasund Engelspredigten noch einmal zusammen: Wo irgend möglich zieht die volkssprachliche Predigt liturgische Texte und Inhalte zur Vermittlung von Glaubensinhalten heran. Grund hierfür sind einerseits die Notwendigkeit, der lateinunkundigen Gemeinde die lateinische Liturgie zu erklären und ihr andererseits die wichtigsten theologischen Grundgedanken zu einem bestimmten Sonn- oder Feiertag, die meist bereits in der Liturgie enthalten sind, zu vermitteln. Dies ist die Ursache für die überraschend weitgehende inhaltliche Übereinstimmung früher deutscher Predigten, die es ermöglicht, einen Katalog dessen anzulegen, welche theologischen Gedankengänge um 1200 an Laien weitergegeben wurden. Themen, wie die heiligen Engel, für die sich kaum liturgische Texte finden und über deren Inhalte theologisch gestritten wurde, wurden weitgehend vermieden. 21

TAVARD (Anm. 15), S. 603. A. a. O, S. 600. 23 TAVARD (Anm. 19), Sp. 1909f. 22

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Am Rande dieser Untersuchung ließ sich noch eine wichtige Feststellung zum Ort der Predigt in der frühen Zeit machen: Die thematische Eingebundenheit der Predigt in die Liturgie des Festgottesdienstes legt den Schluß nahe, daß während des Gottesdienstes gepredigt wurde. Hierfür sprechen auch immer wiederkehrende Wendungen wie als wir hiute singen unde lesen, die eine Gleichzeitigkeit implizieren, sowie die sich in manchen Predigten am Schluß befindliche Aufforderung, einen ›Ruf‹, also einen liturgischen Gesang zu erheben, oder die Aufforderung zur Absage an den Teufel oder zum Schuld- oder Glaubensbekenntnis. Besonders das Abschwören des Teufels, Schuld- und Glaubensbekenntnis sind als direkte Vorbereitung zur Eucharistiefeier zu sehen und bestärken somit die Auffassung von der Meßfeier als Ort der Predigt. Letztes Argument hierfür ist die Einschränkung mancher Prediger zu Beginn ihrer Rede, sie wollten sich kurz fassen, da das Amt heute so viel Zeit in Anspruch nehme.

Epiphaniaspredigten ›Haupts Predigtbruchstücke‹ (T 8): JOSEF HAUPT, Bruchstücke von Predigten, ZfdA 23 (1879) 345–353, hier S. 348–350. ›Speculum ecclesiae‹ (T 9): GERT MELLBOURN, Speculum Ecclesiae (Lunder Germanistische Forschungen 12), Diss. Lund 1944, Nr. 14, S. 32–33. ›Leipziger Sammlung‹ (Slg. I), Nr. 23 (T 17): Deutsche Predigten des 13. und 14. Jahrhunderts, hg. von HERMANN LEYSER (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 1 1/2), unveränd. reprogr. Nachdr. d. Ausg. Quedlinburg, Leipzig 1838: Darmstadt 1970, Nr. 6, S. 54–60. ›Leipziger Sammlung‹ (Slg. III), Nr. 36 (T 17): ANTON E. SCHÖNBACH, Altdeutsche Predigten. Bd. 1, unveränd. reprogr. Nachdr. d. Ausg. Graz 1886: Darmstadt 1964, Nr. 36, S. 89–91. ›Leipziger Sammlung‹ (Slg. IV), Nr. 76 (T 17): a. a. O., Nr. 76, S. 153–158. ›Leipziger Sammlung‹ (Slg. VII), Nr. 171 (T 17): a. a. O., Nr. 171 (= Nr. 29), S. 267–270. ›Oberaltaicher Sammlung‹: DERS., Altdeutsche Predigten. Bd. 2, unveränd. reprogr. Nachdr. d. Ausg. Graz 1888: Darmstadt 1964, Nr. 12, S. 30–33. ›Priester Konrad‹ (T 25): DERS., Altdeutsche Predigten. Bd. 3, unveränd. reprogr. Nachdr. d. Ausg. Graz 1891: Darmstadt 1964, Nr. 8, S. 22. ›Hoffmannsche Sammlung‹ (T 30): HEINRICH HOFFMANN, Predigten aus dem 13. Jh., Fundgruben 1 (1830) 70–126, hier: Nr. 8 (S. 84–86). ›Millstätter Sammlung‹ (vormals ›Kuppitschsche Sammlung‹: T 34/T 35): Krakau, Biblioteka Jagiellon´ska, Berol. Ms. germ. quart. 484, Bl. 6r–7v. ›Bruchstücke aus Wackernagels Altdeutschen Predigten‹ (T 36): Altdeutsche Predigten und Gebete aus Handschriften, hg. von WILHELM WACKERNAGEL, Basel 1876, Nr. XV, S. 33. ›St. Pauler Predigten‹, Nr. 3 (T 39): The ›St. Pauler Predigten‹ (St. Paul MS. 27.5.26). An Edition, University of North Carolina at Chapel Hill, Ph. D.

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1978 (University Microfilms International), hg. von NORMAN EVERETT WHISNANT, Nr. 3, S. 7–10. ›St. Pauler Predigten‹, Nr. 18 (T 39): a. a. O., Nr. 18, S. 79–84.

Predigten auf die heiligen Engel ›Priester Konrad‹ (T 25): ANTON E. SCHÖNBACH, Altdeutsche Predigten. Bd. 3 (s. o.), Nr. 101, S. 231–233. ›Züricher Predigten‹ (T 32): Altdeutsche Predigten und Gebete aus Handschriften, hg. von WILHELM WACKERNAGEL, Basel 1876, Nr. I, S. 3–6. ›Millstätter Sammlung‹ (T 34 / T 35): Krakau, Biblioteka Jagiellon´ska, Berol. Ms. germ. quart. 484, Bl. 71r–72v.

Der hier veröffentlichte Vortrag stellte eine erste Vorstudie zu meiner Dissertation über die ›Millstätter Predigtsammlung‹ und ihre Verortung innnerhalb der Frühen deutschen Predigt dar. Die Dissertation wurde 2003 abgeschlossen und 2008 als ›Handbuch der deutschen Predigt um 1200‹ veröffentlicht. Kurz vor dem Erscheinen steht die Edition der ›Millstätter Predigten‹, die in der Reihe ›Deutsche Texte des Mittelalters‹ publiziert wird. Seither habe ich mich in zahlreichen Veröffentlichungen und Überblicksdarstellungen mit den Inhalten, der Überlieferung, den Rezipienten und dem Gebrauch der Frühen deutschen Predigt beschäftigt. – Die Entdeckung der mittelniederdeutschen Predigt: Überlieferung, Form, Inhalte, Oxford German Studies 26 (1997), S. 24–72. – Wolfenbütteler Predigtbruchstücke II, in: 2VL X, Sp. 1339–1340. – Predigtforschung im Aufwind, Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 12 (2000), S. 291–309. – Die ›Millstätter Predigtsammlung‹ und die Frühe deutsche Predigt. Katechese in der Volkssprache um 1200, Phil. Diss. Berlin 2003, 756 S. – Predigtsammlungen, frühe, anonyme, in: 2VL XI, Sp. 1261–1267. – Riskante Theologie? Neutrale Engel, Eucharistie und Minnegrotte: Eine rezeptionsgeschichtliche Untersuchung, in: exemplar. Festschrift für Kurt Otto Seidel (Lateres 5), Frankfurt a. M. 2008, hg. von RÜDIGER BRANDT und DIETER LAU, S. 243–262; Teilabdruck in: Deutsches Seminar der Universität Basel. Einblicke in die Forschung, hg. von ALEXANDER HONOLD, Basel 2006, S. 55–60. – Die deutsche Predigt um 1200. Ein Handbuch, Berlin 2008. – Neue Predigtfragmente des 12. und 13. Jahrhunderts. Ergänzungen zu Morvay/Grubes Predigtbibliographie, ZfdA 137 (2008), S. 158–176.

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– Priester Konrad, in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Neuausgabe hg. von WILHELM KÜHLMANN, Bd. 6, Berlin 2009, S. 170f. – St. Georgener Predigten, in: Dass., Bd. 4, Berlin 2009, S. 621f. – Predigt im Spätmittelalter, in: Textsorten und Textallianzen um 1500, hg. v. MECHTHILD HABERMANN [u. a.]. Handbuch Teil 1. Literarische und religiöse Textsorten und Textallianzen um 1500 (Berliner Sprachwissenschaftliche Studien), hg. von ALEXANDER SCHWARZ [u. a.], Berlin 2009, S. 727–771 (zus. mit HANS-JOCHEN SCHIEWER). – darumbe ist och daz gemælde gemachot, daz der mensche sin herce vinde. Die Bildkatechese in der deutschen Predigt des Mittelalters, in: Die Predigt im Mittelalter zwischen Mündlichkeit, Bildlichkeit und Schriftlichkeit (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 13), hg. von RENE´ WETZEL und FABRICE FLÜCKIGER, Zürich 2010, S. 85–107. – Das geistliche Schrifttum von den Anfängen bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts. Einleitung zu: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter. Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Bd. 1: Das geistliche Schrifttum von den Anfängen bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts, hg. von WOLFGANG ACHNITZ, Berlin, New York 2011, S. X–XXIII. – ›Trauer‹ im Spannungsfeld von öffentlich und privat: Mittelalterliche Predigten, in: Sprache der Trauer. Konzeptualisierungen einer Emotion im Spannungsfeld von kognitiver und historischer Semantik (Sprache, Literatur und Geschichte: Studien zur Linguistik/Germanistik), hg. von SERAINA PLOTKE und ALEXANDER ZIEM (im Druck). – ›Predigt‹, in: De Gruyter Lexikon Literarische Gattungen, hg. von RALF KLAUSNITZER [u. a.], Berlin (im Druck).

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Thirteenth-Century Marriage Preaching in Context

Tertie sunt nuptie sacramentales 1 Christi et ecclesie, que significantur Hester 1, ubi legitur quod Assuerus, 2 repudiata Vasti superba, adamauit Hester super omnes mulieres, et posuit dyadema regni in capite eius, fecitque eam regnare in loco Vasti, et iussit conuiuium preparari permagnificum cunctis primatibus et seruis suis pro coniunctione et nuptiis Hester. Nota expositionem, nam Vasti synagoga, Hester ecclesia, Assuerus Christus, coniunctio fides que per dilectionem operatur, conuiuium uero nuptiarum eucharistia. Nuptiarum autem istarum, matrimonium scilicet Christi et ecclesie, fuit initiatum in 3 filii dei promissione facta sanctis patribus, fuit ratificatum in incarnatione, fuit uero consumatum in passione, cum dixit idem: Consumatum est. Unde dicit Augustinus quod nubit sponsa dum sponsus moritur. Huius matrimonii conuiuium celebratur cotidie in conuiuio eucharistie. Sed ille nuptie non solum habent conuiuium in presenti, sed etiam in futuro. Ita enim sollempnes sunt quod nec in presenti nec in futuro deficiunt, sed in presenti habent quasi prandium matutinum, in futuro quasi cenam uespertinam, et ille sunt nuptie eternales. Sicut enim Christus in presenti ecclesia copulatur per gratiam et fidem, ita in futuro copulatur per gloriam et speciem. De quibus nuptiis Apoc. xix (9): Beati qui ad cenam nuptiarum agni uocati sunt. Initiantur autem ille nuptie in presenti per spem de futuris bonis in iustis; ratificantur 4 per adoptionem prime stole in 5 animabus bonis; consumantur 6 autem post iudicium in adoptione stole anime et corporis. (MS Venice, Biblioteca Nazionale Marciana Fondo Antico, lat 92 [collocazione 1987, Valentinelli VI 36], 26rb)

This extract from the thirteenth century Franciscan preacher Petrus de Sancto Benedicto is typical of the kind of material found in sermons on John 2:l, which constitute probably the best and largest source for the history of medieval marriage preaching. Sermons like this would have been used over and over again as models for ›live‹ sermons on the second Sunday after Epiphany, whereas ad status sermons about marriage, of which there are in any case relatively few, are not likely to have been used nearly so often. While Germanists have given ›Brautmystik‹ its due, what historians tend to look for first in model marriage sermons transmitted in Latin – to be preached in vernacular – is the medieval idea of marriage in the literal sense; at least, I know that I myself studied the genre for about a decade without paying much attention 1

sacramentales] sacramentalis ms.? Assuerus] assuetus ms.? 3 in] et ms. 4 ratificantur] ratificatur ms. 5 in] et ms. 6 consumantur] consumatur ms. 2

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to the symbolic sections, as opposed to the material on ›real‹ marriage between men and women. There is indeed plenty of the latter in this genre of sermons: topoi listing the reasons why marriage is good, advocating love in marriage, etc.7 This evidence is important because it shows that the Church presented a positive view of marriage to the laity in the thirteenth and fourteenth centuries. It is also in itself an important general fact about the genre that marriage in the literal sense is not crowded out by symbolic meanings to the same extent as in the earlier Middle Ages: indeed, a certain balance or equilibrium between the literal and symbolic levels is common in the genre. Nevertheless the symbolic sense of marriage is prominent and perhaps even predominant in these sermons. The marriage of Christ and the Church and of God and the soul, in particular, are themes that constantly recur. If the eyes of historians have tended to glaze over at passages like the one at the head of this paper, it may be because they have not been sufficiently aware of the intellectual and social context of marriage symbolism in sermons. Metaphorical use of marriage – ›Brautmystik‹ of one sort or another – is so much a commonplace within the Christian tradition that it is easy to underestimate the theological force of the metaphor in the thirteenth century. If one looks outside the sermons themselves to their context, it becomes apparent that the metaphor of marriage was powerful in unexpected ways, not just rhetorically but dogmatically, legally, and socially. A remarkable passage, which further investigation will probably prove to be typical enough in its time, should remind us that it was altogether more than just a literary image. It is an argument that the marriage of Mary and Joseph was in a certain sense imperfect, since it was not consummated, and therefore less perfectly reflected the marriage of Christ and the Church. The thirteenth-century Franciscan theologian Ricardus de Mediavilla argues as follows in his commentary on the ›Sentences‹ of Peter Lombard: Secundo queritur utrum inter Mariam et Joseph fuerit perfectum matrimonium [...] Respondeo quod perfectio rei duplex est: quedam in esse primo, quedam in esse secundo. Prima in hoc consistit quod res habet omnia que pertinent ad eius essentiam. Secunda consistit in quibusdam perfectionibus non pertinentibus ad essentiam. Primo modo fuit perfectum inter Mariam et Ioseph, non secundo, quia non ita perfecte 8 significauit indiuissibilem unionem Christi et ecclesie et humane nature cum diuina persona sicut matrimonium consummatum. Unde dicit Magister huius di(stinctionis) capitulo tertio quod fuit perfectum non in significatione, quia ut infra dicitur e(odem) capitulo, matrimonium consumatum perfectius unionem Christi et ecclesie figurat.9

7

Cf. DAVID L. D’AVRAY, The Gospel of the Marriage Feast of Chana and Marriage Preaching in France, in: NICOLE BE´ RIOU/DAVID L. D’AVRAY, Modern Questions about Medieval Sermons. Essays on Marriage, Death, History and Sanctity (Biblioteca di Medioevo Latino 11), Spoleto, 1994, pp. 135–153, especially pp. 137–145. 8 perfecte] perfecta edn. 9 Distinctio xxx, art. secundus; Venice, 1489 edn., British Library call mark IB.23583, not paginated. Cf. MS Bodleian Oxford, Bodl. 744, fo. 148va. (I am grateful to Martin Kauffman for checking this reference for me.)

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Often one can ›second-guess‹ the conclusion of a scholastic quaestio. Here the conclusion takes one by surprise. Usually symbolism is subordinate in scholastic quaestiones. Here the logic of symbolism is crucial. The curious case of medieval ›bigamy‹ doctrine also shows that marriage symbolism was no ordinary metaphor. ›Bigamy‹ had a technical sense as well as the one we are familiar with. It could be used of a man who had been married twice and widowed at least once.10 At the Second Council of Lyons under Gregory X it was decided that ›bigamous‹ men were not entitled to the legal privileges of a cleric. The council also forbade ›bigamous‹ men to wear a tonsure or clerical habit. These rulings were then incorporated into the Corpus of Canon Law via the ›Sext‹ of Boniface VIII.11 They were an extension of an ancient rule that a man who had been married twice and widowed twice could not become a priest.12 In an age of high mortality more men might find themselves in this position than we might think. It was possible to get a dispensation, for the ›bigamy‹ rules were clearly not regarded as absolute moral principles; but why were they maintained at all? A passage from the ›Supplementum‹ to the ›Summa Theologica‹ of Thomas Aquinas suggests that the logic of marriage symbolism is once again the answer. When someone is going to administer the sacraments to others, there should be no defect in the sacraments he has himself 10

›married twice and widowed at least once‹: I use this cautious formula, rather than ›widowed twice‹, to avoid the tricky question of whether clerics not in major orders could retain their status even if married. (One did not even have to take minor orders to be counted as a cleric: tonsure was enough.) In the ›Extravagantes‹ of Gregory IX (X.3.3.7; ed. FRIEDBERG, II [note 11], col. 459) we read that a married cleric, if unbeneficed, should not be ›compelled‹ to wear the clerical tonsure; but one can read the text to imply that he might wear the tonsure if he so wished, and would be obliged to do so if he received an ecclesiastical benefice. Another decretal (X.3.3.9; ed. FRIEDBERG, ibid.) seems to show that some literati who had been tonsured but then abandoned the tonsure and got married, resumed it to avoid consuetis iustitiis et debitis obsequiis. The pope says that there is no reason why they should be exempted from such liabilities of the secular world, but he seems to stop short of declaring that marriage cannot coexist with the clerical status conferred by tonsure. The Council of Pont-Audemer in 1279 actually ruled that married clerics were ›obliged‹ to wear the tonsure and clerical garb, and to abstain from saecularibus negotiis: if they did not obey, the Church would aequanimiter tolerabit, quod ab ipsis justitias debitas domini saeculares, velut ab aliis uxoratis, exigant, atque servitia consueta – i. e. no more clerical immunity for them (Johannes Dominicus Mansi, Sacrorum Conciliorum nova et amplissima collectio, vol. 24 [Orbis litterarum], Graz, 1961 reprint, cols. 224–5). Finally, I would like to thank Sally Dixon-Smith for the following ›fiche‹- about the English royal servant Edward of Westminster: »The time had not yet come when a clerical career in the royal service led sooner or later to a bishopric. Besides, Edward was a married man with children, and therefore ineligible for high ecclesiastical office. But as a clerk he was presumably in minor orders, and he certainly enjoyed the revenues of more than one living.« (ed. HOWARD M. COLVIN, The History of the Kings Works I [The Middle Ages], London 1963, p. 103.) The provisional conclusion from all this is that a man could remain a cleric even while his first wife was alive. 11 Altercationis antiquae dubium praesentis declarationis oraculo decidentes, bigamos omni privilegio clericali declaramus esse nudatos: & coercitioni fori secularis addictos: consuetudine contraria non obstante. Ipsis quoque sub anathemate prohibemus deferre tonsuram, vel habitum clericalem. (Corpus Iuris Canonici, ed. E. FRIEDBERG, vol. II, Leipzig 1879, reprinted Graz, 1955, VI.1.12.1, col. 977.) 12 This rule is ancient and may have been inspired by the Pauline dictum (1 Timothy 3:2) that a bishop should be a husband of one wife.

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received; but it is a defect if he has received a sacrament lacking in its complete signification. Since matrimony signifies the marriage of Christ and the Church, which is of one to one, two successive wives diminish the signification of the sacrament: aliquis per sacramentum ordinis minister sacramentorum constituitur: et ille qui aliis sacramenta ministrare debet, nullum defectum in sacramentis pati debet. Defectus autem in sacramento est quando sacramenti significatio integra non invenitur. Sacramentum autem matrimonii significat coniunctionem Christi ad Ecclesiam, quae est unius ad unam.13

Here marriage symbolism becomes involved with the practical legal and social realities. This is important less in itself than as a symptom. It is an indication of an attitude underlying the whole institution of marriage, at least on the part of churchmen. Interestingly, if one of the marriages had not been consummated (according to the ›Supplementum‹), there was no obstacle to becoming a priest, even though both marriages were valid (i. e., no question of impotence).14 It was not so much two marriages, as two consummated marriages, which made the signification of the sacrament defective. Here the reasoning is analogous to the reasoning about the marriage of Mary and Joseph which was discussed above. Consummation seems to have been central in the symbolism. The speculative theology of marriage symbolism has already taken us into the socio-legal domain. We have noted in particular the significance of consummation. Next we must analyse the socio-legal context of a formula which plays a large part in the passage which serves as a pericope to this paper: the distinction between initiation, ratification, and consummation. There we read that the marriage of Christ and the Church was initiated in the promise made to the holy fathers (of the Old Testament, presumably); ratified in the incarnation; and consummated in the passion. When the preacher moves on to the eschatological dimension of this marriage, he says that it is initiated in the present through hope, it is ratified in holy souls after death, and consummated after the last judgement, when the soul and body are united.15 The ›initiation-ratificationconsummation‹ formula is a topos of marriage preaching.16 13

Supplementum Q. 66 art. 1, in: Sancti Thomae Aquinatis Doctoris Angelici Opera Omnia iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita, XII, Rome 1906, p. 136. (On the compiler of the ›Summa‹ see ibid. pp. XVI-XX). Note that pagination starts afresh for the ›Supplementum‹ in this volume. 14 ›Supplementum‹, Q. 66 art. 1, ad 3: ut dictum est, bigamia causat irregularitatem inquantum tollit perfectam significationem matrimonii, quae quidem consistit et in coniunctione animorum, quae fit per consensum, et in coniunctione corporum. Et ideo ratione utriusque simul oportet esse bigamiam quae irregularitatem faciat. Unde per decretalem Innocentii III derogatur ei quod Magister in littera dicit, scilicet quod solus consensus per verba de praesenti sufficit ad irregularitatem inducendam. (Opera Omnia XII, p. 136). 15 The phrases per adoptionem prime stole and in adoptione sole anime et corporis are probably an allusion to a remark, at Luke 15:22, in the prodigal son story: »And the father said to his servants: Bring forth quickly the first robe and put it on him; and put a ring on his hand and shoes on his feet.« 16 For Johannes de Rupella, see DAVID L. D’AVRAY, Method in the Study of Medieval Sermons, in:

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The formula had resonances in the thirteenth century which we can easily miss. The distinction between initiation and ratification is obvious enough, it is true: it corresponds more or less to our destinction between engagement and marriage, though betrothal could be a more official affair in the thirteenth century and marriage much less official. Those issues, however, need not concern us for the moment. The thirteenth-century social and legal fact which we could easily miss is that the distinction between ratification and consummation also had real legal force. Ratification was consent in words of the present tense. As is now quite well known, the twelfth-century pope Alexander III made it clear that an exchange of consent in the present tense established a genuine marriage, in no way to be confused with a betrothal. The same pope determined, however, that until a marriage had been consummated it was not absolutely indissoluble, for if one partner entered a religious order, even without the other’s consent, the latter was allowed to marry again.17 Incidentally, this decision gave rise to theological reflection reminiscent of the ideas about the marriage of Mary and Joseph which were discussed above. The authors of the ›Supplementum‹ argued that before consummation marriage symbolized only the union of Christ with the Soul through grace. This could be dissolved through sin (perhaps rather an unhappy analogy with the dissolution of a real marriage by one partner’s entry into a religious order). However, after consummation marriage symbolized Christ’s union with the Church as regards his assumption of human nature in the unity of the person, which is altogether indivisible – like a consummated marriage. The main point to make here, however, is that the initiation-ratification-consummation sequence used for symbolism in marriage sermons corresponded with clearly and legally marked stages in the social process of getting married. It might be objected that in practice consummation would nearly always follow quickly on consent, so that the distinction between the two would be purely academic. In fact, however, two pieces of English evidence, an entry in a midthirteenth century government legal roll and a private charter of 1291, suggest that consummation might be delayed while financial arrangements were sorted out.18 Further investigation would doubtless uncover more evidence of the same D’AVRAY/BE´ RIOU [note 7] pp. 3–29, at pp.–28–9; again, in Guillelmus Peraldus: triplex est matrimonium: et matrimonium quasi medium inter filium dei et humanam naturam [...] Hoc matrimonium initiatum fuit in patriarchis et in prophetis, ratificatum in angeli salutatione, consumatum in carnis assumptione (MS. B.L. Arundel 365, fo. 24va). For other instances, from Jacobus de Voragine and Nicolaus de Aquavilla, see DAVID L. D’AVRAY, Marriage Sermons in the C Collection: Degrees and Forms of Symbolism, in MONICA HEDLUND, ed., A Catalogue and Its Users. A Symposium on the Uppsala C Collection of Medieval Manuscripts (Acta Universitatis Upsaliensis 34) Uppsala 1995, pp. 81–89, at p. 84, and note 11. 17 D’AVRAY [note 16], p. 85 and note 13 for references. 18 Et Alexander venit et deffendit vim et injuriam quando, etc., et dicit quod nulla catalla predicti Stephani ei detinet immo dicit quod revera predictus Stephanus disponsavit filiam predicti Walteri, et quia idem Stephanus noluit predictam uxorem suam postquam ipsam desponsauerat ad

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kind. Thus the ratification-consummation distinction could have had a basis in practice. Thus the scenario of a time lag between the two stages, during which one partner might decide to enter an order, is not implausible in terms of thirteenth century social practice. Chivalric culture, like canon law though in its own way, seems to have attached great significance to the distinction between marriage and consummation, to judge by Chre´tien de Troyes poem ›Clige`s‹. Here it is crucial for the married heroine, who loves Clige`s rather than her husband, that she should avoid consummating her marriage with the latter. Were she to do so, that would make her relationship with her lover Clige`s truly illicit, like that of Tristan and Isolde. By magical means her husband is given the illusion of consummating the marriage. This seems to have been a matter of the heroine’s internal self-respect, since she knows that people were bound to assume that she had indeed slept with her husband.19 Thus the initiation-ratification-consummation topos, so important for marriage symbolism in preaching, was firmly grounded in social and legal reality, and has a secular counterpart in chivalric attitudes to marriage. One needs to be aware of these contexts to appreciate the reception of passages like the one at the head of this paper. So far the following points about the context of marriage symbolism in preaching have been made: the image of marriage of Christ and the Church was much more than an image, in that it could lead to the conclusion that the marriage of Mary and Joseph was in one sense imperfect; it could also lead to ideas about ›bigamy‹, defined as marrying twice (and being widowed at least once), that seem bizarre to us until we appreciate the power of the symbolic logic of marriage; finally, it has been argued that the symbolism of consummation needs to be understood against the background of certain quite precise social, legal, and cultural facts, which it mirrored. It will have been noted that the consummation of marriage has been near the centre of the symbolism in each case, and that in each case it has positive connotations. We may conclude with one final and more general observation. In the thirteenth century marriage symbolism and social reality converged. For the first time, this traditional metaphor was made widely and explicitly available to the laity, precisely through sermons on John 2:1–2. Never before in the medieval period had the marriage symbolism been transmitted by a medium which was oral at the point of delivery to a mass audience. This was perhaps lucky, because in any earlier period social realities would have subverted the symbol. hospicium suum ducere donec predictus Walterus redderet ei xx solidos quod ei debuit (The Role and Writ File of the Berkshire Eyre of 1248, MICHAEL T. CLANCHY, ed. [Selden Society, vol. 90], London, 1973, p. 195); E la dite Maud demorra en la garde le dit mons’ Barthe’ a ses custages un an apres le iour du mariage (British Library Harley Charter 45.11, lines 22–3). 19 De vostre oncle qui crerroit dons / Que je si li fusse an pardons / Pucele estorse et eschapee? (Chre´tien de Troyes, Clige´s, S. GREGORY and C. LUTTRELL, eds., Cambridge, 1993, p. 191, lines 5299–5301)

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Unbreakable union was at the core of symbol. In earlier periods, despite the aspirations of Churchmen, marriage had been anything but indissoluble. In the pre-Carolingian period, in practice husbands could have more than one woman (and more than one wife in some cases), and it was easy for a man to divorce his wife.20 In the Carolingian period, reforming churchmen tried hard to get indissolubility taken seriously,21 but the impact on practice may not have been very great.22 In the tenth and eleventh century many husbands apparently continued to feel that they could change wives when they wanted to. If the husband was a king, he might run into trouble with the pope, but the aristocratic model of marriage was apparently, if DUBY is right, not so far from successive polygamy.23 The Gregorian Reform made it much harder simply to ignore the indissolubility principle or to get an ecclesiastical rubber-stamp for a change of wife. In the twelfth century the growth of papal government and ecclesiastical courts, coupled with the timely appearance of ›Gratian’s Decretum‹, finally left the Church in charge of this expanding judicial territory. The ›ecclesiastical model of marriage‹ could no longer be ignored. Twelfth century kings and nobles found a way of working the system, however, and of using the Church’s own rules to get what they wanted. The consanguinity prohibition was wide. One was not supposed to marry anyone with whom one had a great-great-great-great-greatgrandparent in common. The rule could be used to get out of a marriage. If a man wanted to change his wife, there was a good chance of finding that she was related to him within the forbidden degrees. Failing that, one could invent a genealogy. In 1215, however at the Fourth Lateran Council, the loophole was drastically narrowed by a reduction in the number of forbidden degrees, coupled with the system of bans, designed to bring impediments to notice before the marriage took place.24 ›Quicky annulments‹ on grounds of consanguinity could no longer so easily undermine the indissolubility principle, and for the one country which has been properly studied there is not much evidence for this way escaping from a marriage.25 No doubt there were still annulments on grounds of consanguinity, affinity, or spiritual relationship at least occasionally, but the glaring contradic20

SUZANNE F. WEMPLE, Women in Frankish Society. Marriage and the Cloister 500–900, Philadelphia 1981, pp. 38–43. 21 JEAN GAUDEMET, Le Mariage en Occident. Les moeurs et le droit, Paris 1987, p. 119; JEAN CHELINI, L’aube du moyen age. Naissance de la chre´tiente´ occidentale. La vie re´ligieuse des laı¨cs dans l’europe carolingienne (750–900), Paris 1991, pp. 229–30; WEMPLE [note 20], pp. 77, 88. 22 WEMPLE [note 20], p. 77 (divorce in formularies), and also p. 86 for the case of Count Eberhard of Alsace, who »was reported to have repudiated his wife (...) and married a nun whom he had abducted«; see too GAUDEMET [note 21], p. 129. 23 GEORGE DUBY, Le chevalier, la femme et le preˆtre. Le mariage dans la France fe´odale, Paris 1981, p. 97. 24 JOHN W. BALDWIN, Masters, Princes, and Merchants. The Social Views of Peter the Chanter and his Circle, 2 vols., Princeton 1970, I, pp. 335–7; RICHARD H. HELMHOLZ, Marriage Litigation in Medieval England, Cambridge 1974, pp. 81–2. 25 Ibid., pp. 77–87.

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tion between the practical working of the consanguinity rules, on the one hand, and the principle of indissolubility, on the other, had been decisively removed. Dispensations to marry within the forbidden degrees become common in the course of the thirteenth century and after, but that is an entirely different matter. They left the principle of indissolubility unaffected. Probably the best way to fool the system and escape from a marriage was to get witnesses to swear that one had contracted a prior clandestine marriage with the person for whom one wished to leave one’s actual spouse. If the perjury was believed, the ›second‹ marriage was declared null. However, this very process was a public endorsement of the indissolubility principle which made the putative first marriage override any subsequent ceremony, even if the first marriage was contracted quite informally and the second in a cathedral. In short, the indissolubility of marriage became a social reality in just the period when the symbolism based on it began to reach a mass public through preaching. The two developments may have been largely independent. There is however one link between them, admittedly a loose one. Innocent III’s support for the incipient mendicant orders opened the way for the great expansion of orthodox preaching in the thirteenth centuries. As we have seen, he also took effective measures to defend the indissolubility principle. To that extent the convergence to which this paper draws attention was another outcome, unnoticed hitherto, of his energetic pontificate.

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Predigt über Predigt

Freimut Löser

Predigt über Predigt Meister Eckhart und Johannes Tauler

Waˆ mite die liute umbegaˆnt, daˆ von redent sie gerne. Die mit antwerken umbegaˆnt, die redent gerne von den antwerken; die mit den predigen umbegaˆnt, die redent gerne von den predigen.1

Forscher, die mit Predigten umgehen, reden von Predigten. Prediger reden von Predigten. Merkwürdigerweise hat bisher kaum ein Forscher hingehört, was eigentlich die Prediger in ihren Predigten über das Predigen sagen. Ich greife zwei Prediger heraus und vergleiche die Äußerungen Meister Eckharts2 mit denjenigen Johannes Taulers. Dabei werde ich mich strikt an explizite Aussagen halten und um Vollständigkeit bemühen. Das heißt, ich nehme das Tagungsthema ›Predigt im Kontext‹ wörtlich, gehe von allen Wortbelegen zu ›Predigt‹, ›predigen‹, ›Prediger‹ und ›Sermo‹ bei Eckhart und Tauler aus und betrachte diese dann in ihrem Kontext.*

I In der eingangs zitierten Aussage Eckharts werden die Prediger mit Handwerkern verglichen. Die Berufung wird als Beruf dargestellt. Der Dominikanerorden, dem Eckhart wie Tauler angehören, ist der Predigerorden: * Dabei ist zu beachten, dass zur Zeit der hier dokumentierten, lange zurückliegenden Tagung die Forschung weder über automatisierbare Register noch über DW IV verfügte. Die systematische Quellensuche erfolgte auf der Basis von QUINTs Registern und vollständiger Lektüre. Die Quellenzitate wurden an den Stand der kritischen Edition angepasst. 1 DW I, Pr. 13, S. 219f.; die kritische Ausgabe der deutschen und lateinischen Werke Meister Eckharts wird zitiert nach: Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft: Die deutschen Werke. Bd. I-III, Stuttgart 1958, 1971, 1975, Bd. V, Stuttgart 1963 (zit.: DW I-III und V), hg. von JOSEF QUINT; Bd. IV,1 hg. unter Mitarbeit von WOLFGANG KLIMANEK u. FREIMUT LÖSER v. GEORG STEER; Die lateinischen Werke. Bd. I-V, Stuttgart 1956ff. (zit. LW I–V), hg. von ERNST BENZ/KARL CHRIST/BRUNO DECKER/HERIBERT FISCHER/JOSEF KOCH/LORIS STURLESE/KONRAD WEISS/ALBERT ZIMMERMANN. Zusätzlich zur kritischen Edition sind folgende frühere Ausgaben herangezogen: FRANZ PFEIFFER, Meister Eckhart (Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts Bd. II), Leipzig 1857 (Neudruck Aalen 1962); Paradisus anime intelligentis (Paradis der fornnunftigen sele). Aus der Oxforder Handschrift Cod. Laud. Misc. 479 nach E. SIEVERS’ Abschrift hg. von PHILIPP STRAUCH (DTM 30), Berlin 1919. Die Predigten Taulers werden zitiert nach: Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hg. von FERDINAND VETTER (DTM 11), Berlin 1910 (zit.: V). 2 Vgl. FREIMUT LÖSER, Preaching about Preaching. Meister Eckhart. Vortrag beim Tenth Medieval Sermon Studies Symposium, Linacre College, Oxford, 20. 7. 1996.

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Der herre sante uˆz sıˆne knehte. Sant Greˆgoˆrius sprichet, dise knehte sıˆn d e r p r e d i g e r o r d e n .3

Wie MAURICE WALSHE gezeigt hat, werden Eckharts Hörerinnen und Hörer hier – anachronistischer Weise – an die Dominikaner gedacht haben.4 Eckhart selbst aber nimmt den Anlaß nicht wahr, über den eigenen Orden zu sprechen; stattdessen geht er sofort zu einem anderen Thema über: Noch sprechen wir von einem knehte, von dem ich meˆ gesprochen haˆn, daz ist vernünfticheit.5 Eckhart rekurriert sofort auf eines seiner Hauptthemen (das vünkelıˆn der vernünfticheit). Wichtig ist ihm der Inhalt seiner Predigt, nicht Ausführungen über das Predigen oder den Predigerorden. Ähnlich liegt der Fall in den lateinischen ›Sermones et Lectiones super Ecclesiastici c. 24,23–31‹, die er während eines Provinzialkapitels hielt. Gleich zu Beginn des ersten Sermo hätte er die Gelegenheit, vor den versammelten Predigerbrüdern über das Predigen zu sprechen; aber er nutzt sie nur ansatzweise: Apostolus enim, › p r a e d i c a t o r veritatis‹, notans p r a e d i c a t i o n i s a c t u m , p r a e d i c a n t i s o f f i c i u m , concludit quid sit p r a e d i c a t o r i necessarium, dicens: ’Christi bonus odor sumus’. Et sunt tria: vitae puritas, intentionis sinceritas, opinionis aut famae odoriferae suavitas. Intentionis sinceritas: ut Christum intendat, nihil extra ipsum, secundum illud Cor. 1: ›nos p r a e d i c a m u s Christum crucufixum‹. Opinionis suavitas: ›bonus odor‹. Bernardus in Epistula: splendor est operis odor opinionis. Vitae puritas: ›sumus‹.6

Das Textwort, aus dem sich eine ganze Predigt hätte entwickeln lassen, ist nur die Grundlage eines kurzen Einwurfes. Eckhart erwähnt gerade drei Qualitäten, die ein Prediger besitzen müsse (vitae puritas, intentionis sinceritas, opinionis aut famae suavitas); aber weder über den Akt des Predigens (praedicationis actum) noch über das Predigeramt (praedicantis officium) trifft er genauere Aussagen. Eckhart ist weder ein Meister der Artes praedicandi noch sind seine Predigten als Modelle für Novizen und Prediger verfaßt. Dazu macht sie kurz nach seinem Tod erst der Zisterzienser Nikolaus von Landau,7 der sie in seine eigenen sermones novi einbaut; deren Zweck ist es, qua iuvenes informantur, ut patet in sermonibus, quos necessitate sepius predicandi me ad hoc ex una parte movente exaravi, et ex alia parte ad eruditionem iuvenum simplicium et imperitorum.8 Was Eckhart über die Predigt zu sagen hat, findet sich – anders als bei Nikolaus – nicht in einem programmatischen Vorwort oder in lateinischen Reflexionen, die sich an die Prediger wenden, es findet sich verstreut und eher bei3

DW I, Pr. 20b, S. 347,9. Hier und im Folgenden wird Sperrung zur Hervorhebung verwendet. Meister Eckhart. Sermons and Treatises, hg. von MAURICE O’CONELL WALSHE, Bd. 1, Longmead 1979, S. 246. 5 DW I, S. 347f. Vgl. das ähnliche Vorgehen Eckharts in Predigt 20a (DW I, S. 332,1 und 338,9). 6 LW II, S. 231f. 7 Zu ihm: KURT RUH, Nikolaus von Landau, 2VL VI, Sp. 1113–1116. 8 HANS ZUCHHOLD, Des Nikolaus von Landau Sermone als Quelle für die Predigten Meister Eckharts und seines Kreises, Halle/Saale 1905, S. 7. 4

Predigt über Predigt

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läufig in seinen deutschen Predigten. Aus der Sichtung aller Belege ergibt sich das folgende: 1. Die Stellen, an denen Eckhart die dispositio seiner Predigt offenlegt, sind selten: – Driu stücke nemen wir uˆz dem eˆwangelioˆ; von den wil ich iu p r e d i g e n . – Von disen drin wörtelıˆn, diu ich gesprochen haˆn, wære ein ieglich genuoc ze einer predige. – Von disem worte sol sıˆn disiu b r e d i e . Driu dinc sol man hie merken. – Daz ander teil dirre p r e d i g e ist, wie sich der mensche zo disem werke su´le halten. – Daz dritte stücke von dirre p r e d i g e daz ist, daz unser herre sprach: [...]

Drei Stücke, drei Worte, drei Predigtteile – die Struktur liegt klar auf der Hand. Allerdings ist sie so nicht von Eckhart. Ich habe sie arrangiert. Die Sätze stammen nicht aus einer Predigt, sondern aus mehreren.9 Im Gegensatz beispielsweise zu Marquard von Lindau, dessen Lesepredigten immer drei Teile mit jeweils sechs Stücken aufweisen,10 ist Eckhart kein Systematiker des zahlenoder abschnittsweisen Aufbaus. Manchmal verweist er darauf, daß eine Predigt drei Teile haben wird und kündigt den zweiten Teil an; das muß aber nicht notwendigerweise beim dritten auch so sein. Marquard orientiert sich an der Form, Eckhart am Inhalt. Marquard hat einen Lesetext schriftlich zum Abschluß gebracht, Eckhart predigt. Bei Marquard generiert die Struktur die Aussage, bei Eckhart schafft sich die Aussage die Struktur. Bei Marquard ist die Form geschlossen, bei Eckhart ist sie offen. Wichtiger als strukturelle Feinabstimmung oder eine zahlenmäßig exakte Gliederung einzelner Predigtteile ist Eckhart immer das Aussage-Zentrum, in dem alles gebündelt ist: in dem haˆt ir die p r e d i g e alzemaˆle.11 2. Eckhart zitiert sich häufig selbst. Die Funktionen dieser Selbstzitate sind vielfältig. Ich hebe drei hervor: a. Er verbindet sein Werk, die Sprachgrenze zwischen Latein und Deutsch überschreitend, zu einer Einheit. Die Einzelpredigt ist bewußt Bestandteil eines Gesamtwerkes: Doˆ ich nuˆ p r e d i g e t e an der drıˆvalticheit tage, doˆ sprach ich ein wörtelıˆn in der latıˆne, daz der vater sıˆnem eingebornen sun gæbe allez, daz er geleisten mac, alle sıˆne gotheit, alle sıˆne sælicheit, und enbehielte im selber niht. Doˆ was ein vraˆge: gap er im ouch sıˆne eigenschaft? Und ich sprach: jaˆ! wan diu eigenschaft des vaters, daz er gebirt, daz enist niht anders wan got; wan ich haˆn gesprochen, daz er im selber niht behalten enhaˆt. Jaˆ, ich spriche: die wurzel der gotheit die sprichet er alzemaˆle in sıˆnen sun.12 9

DW II, Pr. 49, S. 432,11; DW I, Pr. 12, S. 192,6f.; DW IV,1 Pr. 101, S. 338,4; ebd., S. 340,4; DW II, Pr. 49, S. 447,6. 10 Zu Marquards volkssprachiger Predigt: NIGEL F. PALMER, Marquard von Lindau, 2VL Bd. 6, Sp. 81–126, hier Sp. 103–105; RÜDIGER BLUMRICH, Marquard von Lindau: Deutsche Predigten. Untersuchungen und Edition (TTG 34), Tübingen 1994; vgl. dazu meine Rezension in PBB 118 (1996), 493–499. 11 DW III, Pr. 69, S. 176,4. 12 DW II, Pr. 27, S. 51f.

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Mit der Formulierung vom wörtelıˆn in der latıˆne nimmt Eckhart in der Regel zu Beginn einer Predigt Bezug auf den Evangeliums- oder Episteltext, der stets zunächst lateinisch vorgetragen wurde.13 Hier ist dies anders. Die vorliegende Stelle steht nicht am Beginn einer Predigt, und sie bezieht sich nicht auf den Bibeltext; sie greift vielmehr im Rahmen eines Rückverweises die inhaltliche Aussage einer lateinischen Predigt auf14 und transponiert sie ins Deutsche. Dabei wiederholt Eckhart den Gedanken nicht nur, sondern steigert seine Aussagen (und ich sprach – Jaˆ, ich spriche). Eckhart kehrt nicht einfach zu einem früheren Gedanken zurück, er treibt ihn voran. Auch in der deutschen Predigt Nr. 10 kommt er auf seine lateinische Dreifaltigkeitspredigt zurück: Ich p r e d i g e t e e i n e s t in latıˆne, und daz was an dem tage der drıˆvalticheit, doˆ sprach ich: der underscheit kumet von der einicheit, der underscheit in der drıˆvalticheit.15

Eckhart betont also den Konnex zwischen lateinischen und deutschen Predigten; er greift Fragen des Publikums auf und behandelt sie neu. Hervorgehoben wird die Einheit der Gedankenführung, gleichgültig ob lateinisch oder deutsch vorgetragen, gleichgültig auch, ob am selben oder an einem anderen Ort, ob vor kurzer (Doˆ ich nuˆ predigete) oder vor langer Zeit (ich predigete einest). Daraus kann geschlossen werden, daß Eckhart entweder in beiden Sprachen vor ein und demselben Publikum predigte (daß er auch vor seinen Mitbrüdern – z. B. vor einem Kreis im Erfurter Kloster, in dem auch Novizen waren, wie in den ›Reden der underscheidunge‹ – die Volkssprache ebenso verwendete wie das Lateinische); oder, daß er auch das Publikum seiner deutschsprachigen Predigten bewußt in die Gedankenwelt seiner lateinischen Sermones einführt. Wie immer man diese Frage entscheiden wird – sicher ist, daß Eckhart selbst die Brücke zwischen Latein und Volkssprache schlägt, daß er als Prediger die Einheit einer ›Medaille mit zwei Seiten‹ in den Vordergrund stellt.16 13

Vgl. DW I, Pr. 2, S. 24: Intravit iesus in quoddam castellum et mulier quaedam, Martha nomine, excepit illum in domum suam. Lucae II – Ich haˆn ein wörtelıˆn gesprochen des eˆrsten in dem latıˆne, daz staˆt geschriben in dem eˆwangelioˆ und sprichet aloˆ ze diutsche: [...]; weitere Stellen, in denen Eckhart mit dem wörtelıˆn in latıˆne zu Beginn einer Predigt den Bibeltext meint: DW I, S. 161,2; 192,2; 230,2; 263,2; 281,2; 357,2; 375,2; DW II, S. 6,2; 40,2; 58,2; 73,2; 464,2; DW III, S. 159,2; 199,2; 211,2; 363,2. In zwei weiteren Stellen, versucht Eckhart den Sinn des lateinischen Wortlautes in einer volkssprachigen Predigt zu erläutern: diz wörtelıˆn ’et’ bediutet in latıˆne eine einunge und ein zuobinden und ein ˆınsliezen (DW II, S. 337,6f.); Disen sin haˆn ich etwenne gesprochen gemeinlıˆche; aber hıˆnaht laˆze ich in, und liget eigenlıˆche in latıˆne. (DW II, S. 558,3f.) Vgl. dazu inzwischen: FREIMUT LÖSER, Lateinische Bibel und volkssprachliche Predigt. Meister Eckhart als Übersetzer von Bibelstellen, in: Metamorphosen der Bibel, hg. v. RALF PLATE u. a. (Vestigia Bibliae 24/25), Bern u. a. 2004, S. 209–228. 14 QUINT (DW II, S. 51, Anm. 3) weist den Bezugspunkt im lateinischen Sermo II nach und druckt die lateinische Parallele ab. 15 DW I, S. 173,1–3. Zu dem Text, den Eckhart damit im Auge hat: ebd., S. 173, Anm. 1. 16 Diese Interpretation der Selbstaussagen Eckharts berührt sich mit den Ergebnissen, zu denen auch GEORG STEER und BURKHARD HASEBRINK mit anderen Methoden gelangen. Vgl. G. STEER, Zur Authentizität der deutschen Predigten Meister Eckharts, in: Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus. Nachweise und Berichte zum Prozeß gegen Meister Eckhart (Dokimion 11), hg. von

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b. Eckhart verbindet Texte verschiedener Lebensabschnitte und Lebensaufgaben miteinander: Soˆ ich ze Parıˆs p r e d i g e , soˆ spriche ich – und ich getar ez wol sprechen –: alle die von Parıˆs enmügent niht begrıˆfen mit allen irn künsten, waz got sıˆ in der minsten creˆatuˆre, nochdenne in einer mücken. Aber ich spriche nuˆ: alliu disiu werlt enmac ez niht begrıˆfen.17

Damit spielt Eckhart auf seine Bedeutung als Pariser ›Lehrstuhlinhaber‹ an, er holt die Vergangenheit des zweimaligen Pariser Magisteriums in die deutsche Gegenwart, er distanziert sich aber von dieser Vergangenheit und von der universitären Gelehrsamkeit, für die sie steht. Zugleich unterliegt auch diese Stelle dem Gesetz der Steigerung: Was in Paris vor einem gelehrten Publikum (und gegen dieses Publikum) vorgetragen wurde, wird hier – in der volkssprachigen Predigt und vor einem ›künstelosen und ungelehrten‹ Publikum – noch weiter zugespitzt. Im Augenblick der Predigt (ich spriche nuˆ) sind Eckhart »alle die von Paris mit allen ihren Künsten« noch fremder geworden. Das volkssprachige Publikum hingegen wird ins Vertrauen gezogen und mit einer ›radikalisierten‹ Aussage konfrontiert. c. Die enge Beziehung zwischen Eckhart und diesem Publikum belegt auch die folgende berühmte Stelle: Ich haˆn gesprochen in einer predigt, daz ich welle leˆren den menschen, der guotiu werk hete getan, die wıˆle er in toˆtsünden ws, wie daz diu lebende möhten wider uˆfstaˆn mit der zıˆt, in der sie wurden getaˆn. Und daz wil ich bewıˆsen, als es in der waˆrhet ist, wan ich bin gebeten, daz ich den sin verrihte. Und daz wil ich tuon, und doch ist ez wider alle die meister, die nuˆ lebent. [...] Sie sprechent aber: diu werk, diu der mensche tete, die wıˆle er in toˆtsünden was, diu sint verlorn: werk und zıˆt mit einander eˆwiclıˆche. Und daz widerspriche ich, meister Eckart, alzemaˆle und spriche alsoˆ: alliu diu guoten werk, diu der mensche tuot, die wıˆle er in toˆtsünden ist, der enist alzemaˆle keinez verlorn [...].18

Zunächst springt Eckharts Selbstsicherheit ins Auge (ich, meister Eckehart ... wider alle die meister, die nuˆ lebent). Und es ist exakt dieses Selbstbewußtsein, das man ihm auch angekreidet hat. So zielt etwa die harsche Kritik, die Eckhart durch Jan van Leeuwen erfuhr, gerade auf seine ›Überheblichkeit‹ allen anderen Meistern gegenüber.19 Man erkennt aber auch die Bindung zwischen einem HEINRICH STIRNIMANN OP/RUEDI IMBACH, Freiburg/Schweiz 1992, S. 127–168, hier bes. S. 140– 145; B. HASEBRINK, Grenzverschiebung. Zu Kongruenz und Differenz von Latein und Deutsch bei Meister Eckhart, ZfdA 121 (1992), S. 368–398. Zum Verhältnis zwischen Latein und Deutsch bei Eckhart auch: SUSANNE KÖBELE, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache (Bibliotheca Germanica 30), Tübingen/ Basel 1993, und meine Rezension dazu: ZfdA 123 (1994), S. 363– 372. 17 DW IV,1 Pr. 100, S. 277,51–54. 18 DW IV,1, S. 633,1–634,10 + 636,31–638,38, B-Fassung. 19 soe hielt hi hem met groter stiver opdraghender hoverdicheit ieghen alle meesters die doe leefden [...] dat hi inder waerheit een opdraghende hoverdich man van binnen in syn herte was (Th. B. W. KOK, Jan van Leeuwen en zijn werkje tegen Eckhart, OGE 47 [1973], S. 129–172, hier S. 156). Zu der Stelle und der ihr eigenen Problematik: FREIMUT LÖSER, Werkverständnis und

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selbstbewußten Prediger und dem ihm vertrauten Publikum. Die ›kühne‹, aber knappe Aussage einer Predigt (eher eine Ankündigung) führt zu Fragen, Eckhart wird gebeten, den sin zu verrihten. Er greift den Gedanken in einer zweiten Predigt ausführlich auf und steigert seine Aussagen soweit, daß er sich jetzt gegen alle Meister, die nuˆ lebent, ausspricht. Eckharts Predigten in ihrer Abfolge sind (gleichgültig, ob real oder fingiert) als Dialoge mit dem Publikum angelegt. Er spricht vor vertrautem Publikum (wie könnte er sonst derart ›gewagte‹ Formulierungen finden?) und er läßt dieses Publikum bewußt an seinen ›Höhenflügen‹ teilhaben. Nichts wird ihm vorenthalten. Zwischensumme: Wenn Eckhart in den deutschen Predigten das Wort ›Predigt‹ oder ›predigen‹ benutzt, dann tut er dies primär, um andere eigene Texte wieder aufzurufen, um sie aus der Vergangenheit in die Gegenwart, aus dem Lateinischen ins Deutsche zu transponieren, oder um offene Fragen noch einmal aufzugreifen. In der Regel ist damit eine weitere Steigerung der Aussage verbunden. Eine andere Funktion besitzen dagegen die Selbstreferenzen der lateinischen Sermones: – Quid sit sanctitas, habes in s e r m o n e ›Dilectus deo et hominibus‹. Item nota: qui vult aedificari spiritu sancto, debet esse pauper spiritu proprio. De quo in S e r m o n e ›Vigilate‹. – Pauci vero electi, quia electio non in multo, sed in pauco, quod multo opponitur. De li ›vero‹ vide S e r m o n e m ›Nunc vero liberati‹, Dominica VII. – Vide in S e r m o n e ›Quae paratae erant‹ super ›intraverunt‹; item in S e r m o n e ›Quod enim in ea natum est‹. – De hoc habes in S e r m o n e ›Beatus es, Simon Bar Iona‹ et in S e r m o n e ›Servus tuus, vir meus‹.20

Der Unterschied liegt auf der Hand. Im lateinischen Werk spricht die SelbstZitation den Prediger an: Eckhart selbst, oder ein anderer Prediger, der mit Hilfe der Eckhartschen sermones die eigenen vorbereitet, kann so mehr Material für die Schriftauslegung finden. Die Rückbezüge in den deutschen Predigten hingegen wenden sich an das Publikum der Predigt. 3. Den Publikumsbezug der Texte erhellen weitere Stellen, an denen Eckhart von seiner Predigt spricht: Ich wil n uˆ z e m aˆ l e niht p r e d i g e n dan von guoten liuten. Nochdenne wil ich z e d i s e m m aˆ l e bewıˆsen, welhez die koufliute daˆ waˆren u n d n o c h s i n t , die alsoˆ kouften und verkouften u n d n o c h t u o n t .21

Individualität bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse, Vortrag auf der Jahrestagung 2012 der Meister-Eckhart-Gesellschaft in München, erscheint in: Religiöse Individualisierung und Mystik: Eckhard, Seuse, Tauler, hg. von FREIMUT LÖSER u. DIETMAR MIETH (MEJb 8), Stuttgart (in Vorbereitung). 20 LW IV, S. 4, 373, 447, 451. 21 DW I, Pr. 1, S. 6.

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Mit der Wendung ze disem maˆle setzt Eckhart ein Publikum voraus, das ihn auch schon ze anderm maˆle gehört hat. Mit nuˆ zemaˆle wird die unmittelbare Gegenwart ins Wort gebracht. Für Eckhart besteht Predigt auch im aktuellen Vollzug. Nach den Richtigstellungen der letzten 30 Jahre, die vor allem durch KURT RUH erfolgten,22 muß die frühere opinio communis, daß Eckharts deutsche Predigten durch unkontrollierte Nachschriften von Klosterfrauen und reportationes ab ore überliefert wurden, als endgültig widerlegt gelten. Man hat mit RUH davon auszugehen, daß Eckhart seine deutschen »Predigten in irgendeiner Form, sei es durch Diktat oder Redaktion, autorisierte«: »Die Masse von Eckharts Predigten sind entweder von ihm diktierte Lesepredigten oder allenfalls von ihm autorisierte Nachschriften«.23 Demnach handelt es sich um ›verschriftlichte Mündlichkeit‹. Umgekehrt wird schriftlich Fixiertes immer wider neu aktualisiert: Die Forschungen der letzten Jahre haben den Nachweis erbracht, daß Eckhart bei der Vorbereitung seiner Predigten auch über schriftliche Fassungen vieler vorausgegangener Predigten verfügte. Man sieht das etwa daran, daß Parallelfassungen einer Predigt aus Eckharts Feder existieren, deren eine Fassung die andere voraussetzt, daran, wie genau er in manchen Predigten längere Passagen früherer Texte zitiert, oder daran, daß er selbst davon spricht, er habe bestimmte Aussagen »in sein Buch niedergeschrieben«. Predigen heißt für Eckhart also auch Schreiben.24 Andererseits ist beobachtet worden, »daß noch die Schriftlichkeit der volkssprachlichen Predigt mehr Mündlichkeit transportiert (oder fingiert?) und eine größere Dynamik des Redevollzugs spiegelt als die lateinische Schriftsprache.«25 Eckharts lateinische Predigten wurden in der Regel für den Prediger konzipiert, die deutschen müssen auch unter dem Aspekt der Oralität und ›Performance‹ vor einem volkssprachigen Publikum betrachtet werden. Wichtiger aber als die mögliche Differenz zwischen lateinischen und deutschen Predigttexten (manche lateinischen Sermones wären auf den Oralitätscharakter hin erst noch zu untersuchen)26 scheint mir der Hinweis darauf, daß Eckharts volkssprachige Predigt besonders die Situation des Vortragenden und seines Publikums spiegelt: In Predigt 49 beispielsweise, die wahrscheinlich in einem Kölner 22

KURT RUH, Meister Eckhart, 2VL II, Sp. 327–348, hier Sp. 331f.; DERS., Deutsche Predigtbücher des Mittelalters, in: Beiträge zur Geschichte der Predigt, hg. von HEIMO REINITZER (Vestigia bibliae 3), Hamburg 1981, S. 11–30, hier S. 12f.; DERS., Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, S. 224f.; vgl. PAUL-GERHARD VÖLKER, Die Überlieferungsformen mittelalterlicher deutscher Predigten, ZfdA 92 (1963), S. 212–227, hier S. 221f. 23 KURT RUH, Meister Eckhart [Anm. 22], Sp. 332; DERS., Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 21989, S. 174. 24 Vgl. schon FREIMUT LÖSER, Als ich meˆ gesprochen haˆn. Bekannte und bisher unbekannte Predigten Meister Eckharts im Lichte eines Handschriftenfundes, ZfdA 97 (1986), S. 206–227, hier S. 217, u. STEER, Zur Authentizität [Anm. 16], S. 144–150. 25 KÖBELE, Bilder [Anm. 16], S. 125. 26 Die oben zitierten Beispiele, der Entwurfcharakter mancher lateinischer Texte, und die häufige Beschränkung auf Hinweise wie Expone! machen es wahrscheinlich, daß der Prediger hier nicht zu einem Publikum, sondern gewissermaßen zu sich selbst spricht. Andererseits gibt es auch lateinische Texte ohne Entwurfcharakter.

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Frauenkloster gehalten wurde, beendet Eckhart eine lange Einleitung mit dem Hinweis: Dise vorrede haˆn ich iu dar uˆf gesaget, daz ir die wıˆle gesament würdet. Vergebet mir ez, daz ich iuch alsoˆ daˆ mite uˆfgehalten habe. Ich haˆn nuˆ willen ze p r e d i g e n n e .27

Eckharts deutsche Predigt ist ein im Vollzug befindlicher Prozeß. Daß dies so ist, ist einer der Gründe seiner Aktualität. 4. Ebenso wichtig wie der Moment der Predigt, das ›Nun‹, in dem Eckhart stets spricht, ist der Ort: soˆ ist ein kraft in der seˆle – von der sprach ich, doˆ ich n uˆ h i e p r e d i g e t e .28

Es gibt mehrere solcher Fälle, in denen Eckhart sich an einem bestimmten Ort auf früher dort schon gehaltene Predigten bezieht. Für die Eckhart-Philologie sind derartige Selbstreferenzen Glücksfälle, denn sie ermöglichen es, konkrete Beziehungen zwischen Einzelpredigten auszumachen. Auf diese Weise (und unter Berücksichtigung der liturgischen Bezüge der Predigten) war es z. B. möglich, eine ganze Reihe von Predigten zu eruieren, die Eckhart in Kölner Frauenklöstern (bei den Benediktinerinnen des Klosters SS. Machabaeorum und bei den Zisterzienserinnen von Mariengarten) gehalten hat. Die Tatsache, daß Eckhart zwischen verschiedenen Klöstern unterwegs war, wirft auch ein neues Licht auf das eingangs verwendete Zitat: Die mit den predigen umbegaˆnt meint auch Prediger, die mit Predigten im wahrsten Sinne des Wortes »umher gehen«. 5. Die Tatsache, daß Eckhart bestimmte Predigten in Nonnenklöstern hielt, läßt auch seine Vermittlertätigkeit hervortreten: Waz eigenlıˆche ein bilde sıˆ, daz sult ir merken [...] Diz enist niht gesprochen von den dingen, diu man sol reden in der schuole; sunder man mac sie wol gesprechen uˆf dem stuole ze einer leˆre.29

Diese Predigt entstammt der Reihe von Predigten, die Eckhart in Kölner Nonnenklöstern hielt. Die Theorie der bilde, sagt er, ist eine subtile Angelegenheit, die deshalb primär an der Universität behandelt wird. Das heißt aber nicht, daß sie nicht auch während der volkssprachigen Predigt vom Predigtstuhl aus erläutert werden kann (und muß). Was Eckhart am studium generale unterrichtet, das erläutert er, manchmal schon am folgenden Tag, auch in der deutschen Sprache vor Nonnen. In einer Predigt berichtet er z. B. den Zisterzienserinnen von Mariengarten: Ein vraˆge was gester in der schuole under groˆzen pfaffen.30

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DW II, S. 432,8–10. WALSHE meint dazu, Eckhart sei »deliberately and humorously ambiguous: He is possibly waiting for latecomers to settle down, but his main intention is to get his hearers to concentrate their minds«. (WALSHE [Anm. 4], Bd. 2, S. 296, Anm. 3). 28 DW II, Pr. 27, S. 52,12. 29 DW I, Pr. 16b, S. 270,1 + 6–8. 30 DW I, Pr. 22, S. 381,3.

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6. Eckharts Kölner Predigten sind nicht nur nacheinander gehalten, sie sind z. T. schon als Reihe konzipiert. Was in einer Predigt erklärt wurde, wird in der folgenden vorausgesetzt; was nur kurz angedeutet wurde, wird in der Folge erklärt. Das Ganze ähnelt einem Seminar, in dessen Verlauf (einige Wochen der Fastenzeit der Jahre 1323–1326) Eckhart alle seinen zentralen Themen behandelt.31 Die Offenheit der Form gilt nicht nur für den Einzeltext, sie gilt für das Gesamtwerk. Eckharts deutsche Predigten sind ein ›vernetztes System‹, dessen Einzelteile sich vielfältig aufeinander beziehen. 7. Im Zentrum von Eckharts Aussagen über die eigene Predigt steht immer wieder der Hinweis auf die Bedeutung des Inhalts: Doˆ ich hiute her gienc, doˆ gedaˆhte ich, wie ich iu alsoˆ vernünfticlıˆche g e p r e d i g e t e , daz ir mich wol verstüendet. Doˆ gedaˆhte ich ein glıˆchnisse, und kündet ir daz wol verstaˆn, soˆ verstüendet ir mıˆnen sin und den grunt aller mıˆner meinunge, den ich ie g e p r e d i g e t e .32

Während des Weges zu dem Konvent, in dem er predigen soll, denkt Eckhart über die Predigt nach, die er halten will; er konzipiert eine Analogie, die es ihm ermöglichen soll, so vernünfticlıˆche zu predigen, daß er verstanden wird. Den Überlegungen liegt ein Kommunikationsmodell zugrunde, das die Vermittlung einer Botschaft für möglich hält. Voraussetzung ist, daß der Prediger sich klar ausdrückt. Das Publikum kann ihn verstehen, wenn der gemeinsame Code (das glıˆchnisse) entschlüsselbar ist. Entschlüsselbar ist, was verstanden wurde. Das ist nur scheinbar ein Zirkelschluß. Dem Kommunikationsmodell liegt ein Verstehensmodell zugrunde: Wer Eckhart einmal verstanden hat, wird ihn immer verstehen. Strukturalistisch formuliert: Eckharts Predigten entfalten sich immer aus derselben Tiefenstruktur (grunt), die Aussage aller meinunge fällt in eins zusammen. Dementsprechend wird immer wieder betont, daß die Botschaft letztlich stets auf den Kern zielt: Diz lieht pflige ich alwege ze rüerenne in mıˆnen p r e d i g e n .33 Oder: Diz ist, daz ich in allen mıˆnen p r e d i g e n meine.34 Berühmt ist die Stelle der Predigt 53, in der Eckhart seine Themen zusammengefaßt hat. JOSEF KOCH hat sie verwendet, um Eckharts Theologie zu entfalten, ALOIS HAAS hat sie als »Meister Eckharts geistliches Predigtprogramm« bezeichnet.35 31

Vgl. JOACHIM THEISEN, Predigt und Gottesdienst. Liturgische Strukturen in den Predigten Meister Eckharts (Europäische Hochschulschriften, Reihe I, 1169), Frankfurt a. M. u. a. 1990, S. 81–122; FREIMUT LÖSER, Predigt 19; Sta in porta domus domini, in: Lectura Eckhardi I, hg. von GEORG STEER u. LORIS STURLESE, Stuttgart 1997, S. 97–116. 32 DW II, Pr. 48, S. 416,1–4. 33 Ebd., S. 418,2. 34 DW I, Pr. 9, S. 154,8f. 35 JOSEF KOCH, Meister Eckhart. Versuch eines Gesamtbildes, in: DERS., Kleine Schriften, Bd. 1 (Storia e letteratura. Racolta di studi e testi 127), Rom 1973, S. 201–238, hier S. 226–238; ALOIS M. HAAS, Meister Eckharts geistliches Predigtprogramm, in: DERS., Geistliches Mittelalter, Freiburg/Schweiz 1984, S. 317–337.

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S w e n n e i c h p r e d i g e , s oˆ p f l i g e i c h ze sprechenne von abegescheidenheit und daz der mensche ledic werde sıˆn selbes und aller dinge. Ze dem andern maˆle, daz man wider ˆıngebildet werde in daz einvaltige guot, daz got ist. Ze dem dritten maˆle, daz man gedenke der groˆzen edelkeit, die got an die seˆle haˆt geleget, daz der mensche daˆ mite kome in ein wunder ze gote. Ze dem vierden maˆle von götlıˆcher natuˆre luˆterkeit – waz klaˆrheit an götlıˆcher natuˆre sıˆ, daz ist unsprechelich. Got ist ein wort, ein ungesprochen wort.36

Das ›Predigtprogramm‹ ist ein Programm von Predigtthemen: Abgeschiedenheit, Befreiung vom Selbst und vom Kreatürlichen, Einfaltigkeit Gottes und Rückkehr zum Einen, Adel der Seele, Lauterkeit göttlicher Natur, Ungenügen der menschlichen Sprache, Gott als Wort, Unaussprechbarkeit Gottes. Dem Publikum wird – fast in einer Art ›Schlagwortkatalog‹ – der grunt aller meinunge aufgeschlossen. Künftige Analysen sollten allerdings bedenken, dass Eckhart hier keineswegs ein Gesamtprogramm aller seiner Predigten vorlegen will, sondern den Themenkatalog, in dem d i e s e Predigt (53) zu verorten ist. 8. Eckhart faßt an einer Stelle die Predigerbrüder zu einem »Wir« zusammen: p r a e d i c a t o r e s , qui prius debemus audire sive discere quam loquamur.37 Das innere Hören des Predigers geht also dem Sprechen notwendig voraus. An einer zweiten Stelle sagt er: daz inwendic geborn und doch verborgen wort, daz daˆ lıˆt bedecket in der seˆle: daz heizet er in uˆ z p r e d i g e n .38 Damit stellt sich die Frage, wie das inwendic Wort verkündet werden kann, die Frage also nach dem Verhältnis von inventio und actio. Eine Antwort gibt Eckhart in einer Predigtpassage, in der er vielleicht mehr über sein Predigt-Verständnis sagt als an allen anderen Stellen. Die Aussage stammt aus einer Predigt der Sammlung ›Paradisus anime intelligentis‹, in der besonders Predigten zusammengestellt wurden, die den Rang der vernünfticheit betonen. Dieser Rang wird aber nicht nur in den Predigtinhalten greifbar, sondern von Eckhart auch auf die Art und Weise des Predigens bezogen: Er will vernünfticlıˆche predigen.39 Welchen Grund dies hat, wird aus einer Stelle der ›Paradisus‹-Predigt Nr. 46 ersichtlich, in der Eckhart zunächst über die innicheit des Priesters bei der Messe handelt: man mac inneclicher messe horin dan messe sprechin. wolde ein pristir zu vile innekeit suchin in der messe, he mochte tun daz schedelich were. der beste rait ist daz man fore und noch innekeit suche, und wan man ein [werk] tu, daz man daz redeliche tu.40

Den Platz der innicheit des Priesters sieht Eckhart also bei der Vorbereitung und der Sammlung nach der Messe; während der Zelebration selbst rät er dagegen zu 36

DW II, Pr. 53, S. 528,5–529,2. LW IV, Sermo 27, S. 254f. 38 DW IV,1, Pr. 104, 187–189 (zitiert: A-Fassung). 39 Vgl. die erste oben unter Punkt 7 zitierte Stelle. QUINT übersetzt vernünfticlıˆche mit »verständlich« und erzeugt so eher eine Tautologie: »wie ich euch so verständlich predigen könnte, daß ihr mich gut verstündet.« Eckharts Verwendung der Termini vernünfticheit, vernünfticlıˆche etc. und ihre Diskussion im Rahmen seiner Intellekttheorie wäre ein umfangreiches eigenes Kapitel, das hier nicht ausgeführt werden kann. 40 Paradisus [Anm. 1], Pr. 46, S. 104,26–29; werk ergänzt aus Lo4. 37

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redelicheit. Eckhart bewertet die Rolle des Predigers während der Predigt ebenso, was aber aus dem Text der beiden bisher bekannten Handschriften nicht ersichtlich wurde, weil sie den folgenden Teil überspringen. Eine erst seit einiger Zeit bekannte Handschrift41 bietet die Stelle dagegen in vollständiger Version. Dort fährt der Text unmittelbar fort: Wolde ein p r e d i g e r innikeit suchen an der p r e d i g a t e , er mochte sine rede nicht wol gethün. Mir genüget wol, das ich halb als vel ynnikeit hette in der p r e d i g a t e also ich haben mag, also ich sy bedenke.42

Das heißt nicht, daß Eckhart innicheit ablehnen, oder gar von sich sagen würde, er selbst habe keine innicheit. Seine Ansicht über die innicheit eines Predigers hat vielmehr mit der Gattung Predigt und der jeweiligen Situation des Predigers zu tun. Der Platz der innicheit ist in der Phase der inventio, nicht während des Predigtaktes. Innicheit ist das richtige für Prediger, die noch auf das innewendige wort hören, gut für Prediger, die mit den predigen umbe gaˆnt. Im Blick auf die Vermittlungsfähigkeit (daz ir mich wol verstüendet) und im Moment der rede ist dagegen ein redelıˆcher Zugriff gefragt. Das Wortspiel ist kein Zufall: Rede und redelıˆch meinen auch bei Eckhart häufig Vernunft, wie überhaupt das mhd. rede für ratio stehen kann.43 9. Auf der anderen Seite hat die Predigt eine existentielle Funktion, und zwar für den Prediger ebenso wie für das Publikum: Swer dise p r e d i g e haˆt verstanden, dem gan ich ir wol. Enwære hie nieman gewesen, ich müeste sie disem stocke g e p r e d i g e t haˆn. Ez sint etlıˆche arme liute, die keˆrent wider heim und sprechent: Ich wil sitzen uˆf ein stat und ezzen mıˆn broˆt und dienen gote. Ich spriche bıˆ der eˆwigen waˆrheit, daz die liute müezen verirret sıˆn und blıˆben wan sie enmügen niemer ervolgen noch erkriegen, daz die ervolgent oder erkriegent, die gote naˆch volgent in armuot und in ellendichkeit.44 41

London, Victoria and Albert Museum, cod. L 1810–1955 (Sigle in der Eckhartforschung: Lo4); vgl. LÖSER, Als ich meˆ [Anm. 24]. 42 Lo4, f. 167rb. Eine Sichtung aller Belege zeigt, daß Eckhart den Terminus innicheit nahezu ausnahmslos in kritischer Absicht verwendet. Er bringt die Gefahr ins Wort, daß innicheit zum Selbstzweck werden kann. Eckhart steht dem Begriff distanziert gegenüber, weil man nicht an innicheit Genüge finden soll: Daz schıˆnet seˆre als innicheit und andaˆht und jubilieren und enist alwege daz beste niht [...] Der mensche sol sich in allen gaˆben lernen selber uˆz im tragen und niht eigens behalten noch nihtes ensuochen, weder nutz noch lust noch innicheit noch süezicheit (DW V, S. 219f. und 281); mit ganz ähnlicher Bewertung: DW I, S. 100,5; 272,6; DW III, S. 58,4; 59,3; 134,12; DW V, S. 262,9; in eher neutraler Verwendung: DW V, S. 222,6; positiv als Mittel des Aufstiegs: DW II, S. 430,1; zum Verhältnis zwischen innicheit und würklicheit und deren möglicher ›Versöhnung‹: DW V, S. 291,5f. 43 Zu Eckharts Wortgebrauch für rede = »Vernunft«: DW II, S. 437,3; redelich = »vernunftbegabt«: DW II, S. 249,4f. und Anm. 2; redelich = »erkennend«: DW II, S. 153,2; vgl. die Register DW II, S. 874; DW III, S. 665; DW V, S. 594. Zu redelıˆch = »geistig« im Gegensatz zu sinnelıˆch: VOLKER LEPPIN, Die Komposition von Meister Eckharts Maria-Martha-Predigt, Zeitschrift für Theologie u. Kirche 94 (1997), S. 69–83, hier S. 81. Zum allgemeinen ratio = rede vgl.: Die Vokabulare von Fritsche Closener und Jakob Twinger von Königshofen. Überlieferungsgeschichtliche Ausgabe, hg. von KLAUS KIRCHERT u. DOROTHEA KLEIN, Bd. 2 (TTG 41), Tübingen 1995, S. 1227. 44 DW IV,2 Pr. 109, S. 774,69–74.

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Man hat aus dieser und vergleichbaren Stellen mit gutem Grund geschlossen, daß Eckharts Konzept »einen geschlossenen Zuhörerkreis« voraussetzt, »der schon in jener Wahrheit steht, aus der heraus er spricht. Die Predigt in diesem Kreis ist Selbstvergewisserung der Wahrheit.«45 Man hat allerdings aus der Stelle auch abgeleitet, daß Eckhart aus »innerem Drang die Wahrheit« verkünde, und daß es für ihn »unerheblich« sei, wenn diese Wahrheit »nicht vermittelbar« ist.46 Das reduziert Eckharts Aussage auf einen Gesichtspunkt und schränkt diesen zudem auf die Frage der ›Vermittelbarkeit‹ und Kommunikation ein. Mit Blick auf den Prediger läßt sich der Akzent anders setzen: ›A preacher is a preacher is a preacher‹. Predigt ist existentiell für den Prediger, ist – anders als das Zitat vom Eingang nahelegt – nicht Beruf, sondern Berufung. Der Prediger Eckhart verkündet die von ihm erkannte Wahrheit (und muß dies tun), ohne die mögliche Reaktion des Publikums zu seinem einzigen Kriterium zu machen. Dazu kommen zwei weitere Aspekte, die ich ebenfalls für beachtenswert halte. Erstens: Eckhart sagt nicht, er könne genausogut zu einem Opferstock sprechen wie zu seiner Zuhörerschaft allgemein. Er sagt, er könne genausogut zu einem Opferstock sprechen wie zu denjenigen Zuhörern (etlıˆche arme liute), die ebensowenig veränderbar sind wie ein Opferstock, die ›verstockt‹ ihr Leben weiter leben, ohne sich im Innern berühren zu lassen. Dem werden bewußt andere gegenübergestellt, die gote naˆch volgent; und aus dieser Kontrastierung läßt sich gerade wieder eine inzitative Funktion der Stelle erkennen: Eckhart appelliert an sein Publikum, nicht ›verstockt‹ zu sein wie etlıˆche liute, sondern Gott zu folgen wie andere.47 Zweitens: Predigt besitzt eine kathartische Funktion. Sie will den Zuhöreren helfen, zum Umkehrpunkt zu finden (keˆr). Sie will sie existentiell erschüttern und ändern. Predigt hat eine transzendierende Funktion: Sie führt die Zuhörer, »die Ohren haben zu hören«, zu innerer Armut und Leere. Was Eckhart verlangt, ist nicht der intellektuale, sondern der seinsmäßige Nachvollzug. Er weiß, daß das nicht leicht ist, aber: dat daer ontfaet, dat es dat daer ontfangen wert, want en ontfaet niet dan he¯ seluen. Dit es subtijl. die dit verstaet, he¯ es gnoech g h e p r e d e c h t .48

Auf dieser Ebene spricht Eckhart zu einem Publikum, das seine Lehre verstanden hat. Dahinter steht nicht der Gedanke, seine Lehre sei nur ein paar Erwählten vorbehalten. Mystischer Elitarismus ist Eckhart fremd. Was er sagt, ist offen für alle und nicht an ihn und seine Predigt gebunden: 45

WALTER HAUG, Das Wort und die Sprache bei Meister Eckhart, in: Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Dubliner Colloquium 1981, hg. von WALTHER HAUG, TIMOTHY L. JACKSON u. JOHANNES JANOTA, Heidelberg 1983, S. 25–44, hier bes. 35–37; vgl. auch HAUGs Interpretation der Opferstockstelle in diesem Band, S. 5. 46 So jedenfalls faßt FRIEDRICH IOHN die Ansichten QUINTs zusammen (IOHN, Die Predigt Meister Eckharts. Seelsorge und Häresie, Heidelberg 1993, S. 45–47). 47 Zum appellhaften Charakter der Passage schon IOHN, ebd., S. 46. 48 DW I, Pr. 16a, S. 258,6–10.

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Sehet, diz mac der gröbeste und der minste von iu allen enpfaˆhen von gote, eˆ er taˆlanc uˆz dirre kirchen kome, jaˆ, eˆ daz ich taˆlanc g e p r e d i g e .49

Die gottgegebene unmittelbare Erfahrung ist der sprachlichen Vermittlung von Einsichten durch einen Prediger überlegen. WALTER HAUG gelangt anhand der Betrachtung von Eckharts Sprache zu einer prononciert formulierten Ansicht: Es ergebe sich »in klarer Konsequenz des Eckhartschen Ansatzes, daß auch die Predigt nicht vermittelt.«50 Vermittelnde Funktion kommt der Predigt – nach Eckharts expliziten Äußerungen – tatsächlich nur auf einer gewissen Stufe zu. Aber Eckhart geht eben noch weiter: Die transzendierende Funktion der Predigt verschiebt sich auf die Predigt selbst, sie wird nun ihrerseits überstiegen: Nuˆ möhtest duˆ sprechen: [...] Soˆ der mensche alsoˆ staˆt in eime luˆtern nihte, enist denne niht bezzer, er tuo etwaz, daz im daz dunsternisse und daz ellende vertrıˆbe, alsoˆ daz der mensche bete oder lese oder p r e d i g e hœre oder ander werk, diu doch tugende sint, daz man sich daˆ mite behelfe? Nein! Daz wizzest in der waˆrheit: aller stillest staˆn und aller lengest ist daˆ dıˆn aller bestez.51

Für den, der dergestalt das angestrebte luˆter nihte erreicht hat, ist es nicht nötig, Predigten zu hören: Der niht dan die creˆatuˆren bekante, der endörfte niemer gedenken uˆf keine p r e d i g e , wan ein ieglıˆchiu creˆatuˆre ist vol gotes und ist ein buoch.52

Eckhart ist nicht der erste unter den Predigern des Mittelalters, der die Lehre von der Natur als Buch formuliert, aber er ist derjenige, der betont, daß jeder, der dieses Buch zu lesen gelernt hat, sei er Prediger oder Hörer, keiner Predigt mehr bedarf. Am Ende der Zusammenstellung aller Eckhartschen Aussagen zur Predigt steht deren Dekonstruktion: Wahrheit, Erkenntnis, existentielle Umkehr können letztlich nicht von einem prae d i c a t o r erreicht werden, der sein Publikum mit sprachlichen Mitteln darüber belehrt. Sie müssen erfahren werden. Und deshalb hebt sich die Notwendigkeit der Predigt auf dieser Ebene auf: in swelcher seˆle ›gotes rıˆche‹ erschıˆnet, diu ›gotes rıˆche‹ ir naˆhe bekennet, der endarf nieman p r e d i g e n noch leˆren.53

Noch prononcierter formuliert dies Eckhart in einer lange übersehenen, noch nicht edierten Predigt: Das hawbt der sel ist dy obrist chrafft. [...] Wan das ist ein gwisse warhait: Wer recht in das hawbt chaem, der taet nymer chain sünt. Jm wurd auch dy ewig frewd so erchannt vnd wurd als gelert, das er c h a i n e r p r e d i g p e d a r f f .54 49

DW III, Pr. 66, S. 119,2–4; vgl. ebd., S. 113,8–11. HAUG, Das Wort und die Sprache [Anm. 45], S. 37. 51 DW IV,1 Pr. 103, S. 483,76–84; vgl. ebd. Pr. 104, S. 602f. 52 DW I, Pr. 9, S. 156,7–9 53 DW III, Pr. 68, S. 143,4f. 54 Textabdruck bei: FREIMUT LÖSER, Nachlese. Unbekannte Texte Meister Eckharts in bekannten Handschriften, in: Die deutsche Predigt im Mittelalter. Internationales Symposium am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin vom 3.–6. Oktober 1989, hg. von VOLKER MERTENS u. HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 1992, S. 125–149, hier 148f. 50

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II Johannes Tauler nennt Eckhart einmal namentlich. Er stellt ihn dabei in die Reihe der großen Gelehrten seines Ordens: Von disem inwendigen adel der in dem grunde lit verborgen, hant vil meister gesprochen beide alte unde nu´we: bischof Albrecht, meister Dietrich, meister Eghart.55

Für Tauler steht Eckhart neben Albertus Magnus und Dietrich von Freiberg. Aber er versucht auch, seinem Publikum Eckharts Lehre zurechtzurücken: Usser diseme lert u´ch und seit u´ch ein minnenclich meister, und des enverstont ir nu´t; er sprach uss der ewikeit, und ir vernement es noch der zit. Lieben kint, [...]. Ein hoch meister der sprach von diseme sinne sunder wise und sunder wege, das begeisten vil lu´te mit dem ussern sinne und werdent vergiftige menschen, und herumbe ist es hundert werbe besser daz man mit wisen und mit wegen darzuo kumme.56

Die Stelle läßt bereits deutliche Unterschiede erkennen: Erstens: Tauler wendet sich direkter als Eckhart seinem Publikum zu. Das ir des Gegenübers ist in den Text integriert, es nimmt in der Anrede Liben kint konkrete Gestalt an. Die Klosterfrauen, Drittordensschwestern und Beginen, an die sich Tauler wendet, sind in den zahllosen Anredeformeln seiner Predigten immer präsent. Der Leserin bleibt keine Leerstelle, die sie füllen müßte. Sie findet sich selbst als Text im Text. »Tauler versucht,« so LOUISE GNÄDINGER, »durch seine Anrede eine Art Raum der gegenseitigen Verbindlichkeit im geistlichen Bereich herzustellen.«57 Ich sehe eher eine hierarchische Struktur zwischen der väterlichen Predigerfigur und den zuhörenden »geistlichen Töchtern« oder Beichtkindern. Taulers Text kommt belehrend »von oben«, Eckharts Verhältnis zum Publikum ist dagegen als »gleichberechtigt« zu kennzeichnen: diz mac der gröbeste und der minste von iu allen enpfaˆhen [...] eˆ daz ich taˆlanc gepredige. Zweitens: Daß Tauler Eckhart, dem er vielleicht persönlich nahestand,58 als minnenclich meister bezeichnet, schließt Distanz nicht aus. Eckharts Sprechen »aus der Ewigkeit, ohne Weise und ohne Wege« trägt – in Taulers Sicht – erhebliche Gefahren in sich. Demgemäß steht zu erwarten, daß Tauler mehr »in der Zeit, mit Weisen und mit Wegen« sprechen wird. Die Sichtung der Belege ergibt folgendes: 1. In der VETTERschen Edition der Taulerpredigten kommt das Wort ›Predigt‹ sehr viel häufiger vor als in der QUINTschen Eckhart-Ausgabe. Das liegt daran, 55

V 64, S. 347,9–11. V 15, S. 69,26–28+29–33, daß Tauler hier Eckhart meint, hat KURT RUH mehrfach dargetan; vgl. zuletzt: RUH, Geschichte [Anm. 22], S. 497f. 57 LOUISE GNÄDINGER, Johannes Tauler, Lebenswelt und mystische Lehre, München 1993, S. 107. Zur Bedeutung der Anredeformeln: ADOLF KORN, Tauler als Redner (Forschungen und Funde 21), Münster 1928, S. 72–75. Aus KORNs Werk erschien ein Teil (S. 1–40) auch als: DERS., Das rhetorische Element in den Predigten Taulers, Münster 1927. 58 RUH, Geschichte [Anm. 22], S. 479. 56

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daß den meisten Taulerpredigten jeweils eine kurze Einleitung folgenden Typs vorangestellt ist: e Die b r e d i e usser sancte Matheus ewangelio, des zwolften obendes, von Josephes vorhte und von Archelaus tot, leret uns fu´rsihtekliche warnemmen des endes in dem anefange eines iegclichen werckes, und warnet uns vor drien, vienden die unser sele suochent. – Die b r e d i g e usser sant Johans ewangelio des samestdages vor dem palme obende leret uns kummen in unsern ursprung und womitte wir des gehindert werdent, und seit ouch underscheit der geworen Gottes fru´nde und der valschen, das notdurftig zuo wissende ist.59

Im Vergleich mit Eckhart tritt in zwei Aspekten eine andere Funktion der Predigt hervor: – Inhaltlich wird in der Tat »mit Weise und mit Weg« gepredigt. Aufgabe der Predigt ist die Lehre, die Warnung, die Unterscheidung von »wahren« und »falschen« Wegen. Was zu wissen nötig ist, entscheidet der Prediger. Anstelle von Eckharts umfassendem Anspruch, die Ungelehrten zu lehren, steht hier die Auswahl. – Formal liegen Lesepredigten vor. Ein Vorspann faßt den Inhalt zusammen und bringt für den Leser/die Leserin auf den Punkt, was in der folgenden Predigt zu finden sein wird. Darauf weist die Einleitung zum Gesamtkorpus der Predigten ausdrücklich hin: Es handle sich bei diesen Kommentaren um tofeln in der die meinunge und der sin einer iegelichen bredien ku´rtzlich alle vor genennet sint.60 Das Publikum wird gelenkt, schon bevor der eigentliche Predigttext beginnt. Allerdings fällt auf, daß sich diese Kurzkommentare nur in denjenigen Predigten der Ausgabe finden, die VETTER nicht nach dem Engelberger oder Freiburger Codex ediert hat. Ob es sich demnach bei den Einleitungen um Taulers Eigenleistung oder das Werk eines Redaktors handelt, ließe sich nur durch text- und überlieferungskritische Studien entscheiden.61 Dafür, daß Tauler selbst bereits seine Predigten grundsätzlich als Lesetexte konzipierte oder redigierte, spricht allerdings einiges.62 Aber selbst wenn sich zeigen ließe, daß die leserlenkenden Einleitungen von einem Redaktor stammen, so hieße das, daß dieser Redaktor Taulers eigener Intention (s. u.) in geradezu idealer Weise entsprach und sie nur konsequent fortführte.

59

V 2, S. 12,17–20 und V 10, S. 47,2–5. Vgl. die Einleitungen der Nrn. 1, 3–9, 11–36 (immer dann, wenn mehrere Texte zum selben Anlaß aufeinander folgen, werden sie nicht als predige, sondern als ander uzlegunge bezeichnet), 72–80. 60 V, S. 7,3f. 61 Ich habe – mit Blick auf die Eckhart-Überlieferung – bereits mehrfach für Untersuchungen der Textredaktionen, Predigtfassungen und Handschriften votiert und diese Fragen hier bewußt ausgeklammert. Sicher ist, daß es gerade auch im Fall Taulers gründlicher Überlieferungsstudien bedarf. Zur Grundsatzkritik an der Ausgabe VETTERs: DICK HELANDER, Johann Tauler als Prediger, Lund [Diss.] 1923, S. 85; zur Notwendigkeit text- und überlieferungskritischer Studien und einer neuen Taulerausgabe: RUH, Geschichte [Anm. 22], S. 515. Man verlgeiche jetzt insbesondere die einschlägigen, seit der Berliner Tagung erschienenen Beiträge RUDOLF WEIGANDs. 62 Vgl. das deutliche Votum RUHs, Geschichte [Anm. 22], S. 487 u. 490.

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2. Die Einleitungen bieten eine Zusammenfassung von Taulers Predigten; ihr Inhalt aber ist vielfältiger Natur, was schon die additive Form der Einleitungen zum Ausdruck bringt (leret uns kummen in unsern ursprung u n d womitte wir des gehindert werdent, u n d s e i t o u c h [...]). Hinweise wie bei Eckhart, es gebe einen gemeinsamen Grund alles Gesagten, Hinweise auch auf den ›Kern‹ einer Predigt sind in dieser Form bei Tauler nicht zu finden. Zwar findet sich einmal der Hinweis: Uf dis wort gat die b r e d i g e ;63 gemeint ist aber damit schlicht das vorangestellte Bibelwort, nicht der Zentralgedanke oder der allgemeine Grund aller Aussagen einer Predigt. Tauler zielt auf die Vermittlung der einzelnen Weisen: Und alle dise ding die in allem disem s e r m o n e sint gesprochen, die gehoerent einem edeln menschen an, daz er die alle sammet vor habe in eime iegelichen ougenblicke in worten und in wercken, in wisen.64

Wo Eckhart sagt Diz ist, daz ich in allen mıˆnen predigen meine, seine Predigten also auf einen Zentralgedanken hinführt, will Tauler Vieles: alle dise ding, alle sammet. Dem entspricht der Umgang mit der Ordnung der Predigt. Was die dispositio betrifft, so findet sich bei Tauler nur eine Stelle, die den Predigtbegriff mit Zahlenmustern kombiniert: o Nu stent hie die sechs ding die wir rurten vor an der b r e d i e , der ist uns hie war ze nemende. Der sint dru´ in den nidersten und dru´ in den obersten.65

Bei Eckhart waren solche Strukturmuster selten, bei Tauler kommen sie zwar (nicht in Verbindung mit dem Wort ›Predigt‹) häufiger vor. Aber generell kommt die Forschung einhellig zu dem Ergebnis, daß Tauler »eine Einteilung des Vortrages in philosophisch oder theologisch gerechtfertigte Distinktionspunkte zumeist vermeidet oder, wenn er sie vorbringt, sich nicht strikt an sie hält«.66 ADOLF KORN kommt zu dem Schluß, daß Tauler »systemschaffende Elemente« zwar »zahlreich einführt [...], sie gleichwohl aber ständig der freien Gedankenkoordination und -assoziation unterordnet«.67 Tauler, so RUH, »neigte zu Improvisationen und spontanen Einschüben, die eine stringente Argumentation und konsequente Durchführung vorgegebener Dispositionspunkte in den meisten Fällen unterlaufen.«68 KORN macht für diese »Abschweifungen, freie[n] Assoziationen, Widersprüche und Planmangel« den »Stegreifcharakter« der mündlichen Predigt verantwortlich.69 Ich werde darauf zurückkommen. 63

V 36, S. 131,18. V 23, S. 96,16–19. 65 V 55, S. 256,7–9. 66 GNÄDINGER, Johannes Tauler. Lebenswelt [Anm. 57], S. 105. 67 KORN [Anm. 57], S. 5; vgl. S. 13 und 16. GNÄDINGER erkennt, positiv formuliert, eine »auffällige Dynamik im Denken und Reden des Predigers. Sie läßt den Prediger gewöhnlich auf die strenge Einhaltung rhetorischer Regeln verzichten«. (GNÄDINGER, Lebenswelt [Anm. 57], S. 108); vgl. ebd., S. 104–107 und DIES./JOHANNES MAYER, Tauler, Johannes, 2VL IX, Sp. 631–657, hier Sp. 642. HELANDER formuliert kritischer: »Tauler lässt seine Gedanken hin und her schweifen und scheint mehr intuitiv zu sein«; seine Predigt beruht »unzweifelhaft auf Ideenassociation« (HELANDER [Anm. 61], S. 256, 273, 305). 68 RUH, Geschichte [Anm. 22], S. 490. 64

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3. Für die Predigten Eckharts war festgestellt worden, daß es sich um ein vom Prediger vielfach verbundenes Gesamtwerk handelt. Das gilt scheinbar ähnlich auch für die Predigten Taulers: Kinder, ich seit u´ch in der nechsten b r e d i e von disen worten die die ewige wisheit sprach.70

Tauler verbindet Predigten, die auch im Kirchenjahr unmittelbar zueinander gehören, miteinander.71 Ich seit u´ch in der nechsten bredie meint die unmittelbar vorausgehende Predigt.72 Überhaupt greift Tauler gerne eine Predigt des vorherigen Tages erneut auf. Das hat mitunter seinen Grund darin, daß er etwas, das nicht richtig verstanden wurde, präzisiert: Nu sprach ich gestern ein wort in dem s e r m o n das ir nu´t alle enverstundent.73

Tauler hat mit Eckhart also gemein, daß er Fragen des Publikums aufgreift, Unpräzises in der Folge präzisiert, die Predigten miteinander verbindet. Aber während Eckhart sein lateinisches und sein deutsches Werk auf diese Weise zusammenschließt, Lehren der Hohen Schule und der volkssprachigen Predigt zusammenbringt und große Zeiträume überschaut, ist die Einheit Taulers kleiner; er verbindet das ›Heute‹ mit dem ›Gestern‹: – Also ich gestern sprach das ich ettewas wolte sagen also von der wu´rdekeit – Kinder, von disem sinne sprach ich gester. – Von disem zeichen sprach ich gestern.74

Stellen, in denen der Prediger eine größere Zeitspanne überschaut, sind sehr selten.75 Und wenn er es scheinbar tut, erweist sich die Predigt, auf die ver69

KORN [Anm. 57], S. 10, 12, 14. V 52, S. 234,28f. 71 Die zitierte Stelle aus V 52 bezieht sich auf die Predigt V 50 (S. 225,9f.), die ihrerseits auf V 49 (S. 222,24f.) zurückverweist. V 51 vom Fest der Erhöhung des Kreuzes (14. September) wurde – entgegen dem ursprünglichen Entstehungs- und Überlieferungszusammenhang vom Editor VETTER dazwischengeschaltet (vgl. HELANDER [Anm. 61], S. 84). Dazu und zu den Rückverweisen Taulers allgemein: LEOPOLD NAUMANN, Untersuchungen zu Johann Taulers deutschen Predigten, Halle/Saale [Diss.] 1911, S. 36–48. 72 Daß dies nicht unbedingt eine Predigt meinen muß, die am Tag zuvor mündlich g e h a l t e n wurde, sondern auch eine Predigt meinen kann, die in der schriftlichen Version vorausgeht, zeigt der nächste, umgekehrte, Fall: Von den andern stu´cke die hie blibent, sol man fu´rbas sagen in dem nehsten s e r m o n (V 23, S. 96,25f.). Hier handelt es sich nicht um einen Rückverweis; der Prediger (oder der Redaktor?) hat vielmehr eine schriftliche Fassung zweier Predigten vor sich und verweist voraus auf die unmittelbar folgende Predigt V 24 (vgl. NAUMANN [Anm. 71], S. 40). Dort wird der Vorverweis auch aufgegriffen: also gestern hie gesprochen wart (V 24, S. 97,9). 73 V 74, S. 398,16f. 74 V 33, S. 125,6f., V 38, S. 147,26, V 60e, S. 308,1f.; vgl. auch V 40, S. 162f., V 69, S. 377,3f., V 74, S. 398,6; V 75, S. 403,22. 75 Das waz, also wir dise tage gesprochen hant, ein stat des rechten friden [...] daz seite ich diser tage mer (V 22, S. 89,7–11); Und als ich dicke und me gesprochen han: die bichter enhant enkeinen gewalt u´ber die gebresten (V 58, S. 274,29f.); als ich me han gesprochen (V 60, S. 276,25f.); V 55, S. 257,2f.: Wan als ich seite von Job: dem manne ist der weg verborgen verweist auf V 47, S. 211,25–28. 70

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wiesen wird, schließlich in der Regel doch wieder als die des vorherigen Tages.76 Die Einheiten, die Tauler mit seinen Predigten bildet, sind kleiner und auf geringere Zeitspannen begrenzt als bei Eckhart. Auch das könnte an Taulers momentgebundener Predigtweise liegen. Sicher ist, daß Eckhart sein Gesamtwerk besser und weiter überschaut, und daß er die Einheit dieses Werkes stärker im Bewußtsein hat als Tauler. 4. Bereits aus dem Gesagten ergibt sich, daß auch die Predigtweise Johannes Taulers immer im gegenwärtigen Nun angesiedelt ist. Anders als bei Eckhart, der den Gedanken der e i n e n Botschaft betont, findet sich bei Tauler allerdings der Gedanke der Variation im Gleichen. Bei Eckhart meint Predigt den stets aktuellen Vollzug der immer gleichen Wahrheit, bei Tauler meint sie daneben auch das unablässige Ringen um Verständnis, den immer wieder nötigen Neuansatz: Ach waz man b r e d i g e t , hu´te ein worheit und morne die selbe, und also dicke eine b r e d i g e , und allewegent sol man daz selbe hoeren mit minnen und mit flisse, wanne allewegent ist ein nuwe worheit verborgen die allewegent zuo vindende ist und niemer alzuomole verstanden enwurt.77

Bildhaft gesprochen: Wenn man die Texte beider Prediger als Kreisbewegung beschreibt, so zielt Eckhart auf den Mittelpunkt, Tauler auf den Umfang; Eckharts Predigt ist von zentripetalen, die Taulers von zentrifugalen Kräften bestimmt. 5. Taulers Publikumsbezug wurde schon erwähnt. Auch bei ihm findet sich die Erwähnung eines klösterlichen Horizontes: Liebes kint, blib iemer in disem covente diser vorgesprochener tugende.78 Tauler spricht seine Zuhörerinnen stets mit kint an. Anders als Eckhart geht er auch konkret auf Fragen der Klosterdisziplin ein.79 Daß er sich in zahlreichen Predigten an ein weibliches Klosterpublikum wandte, steht außer Zweifel.80 Man weiß, daß Tauler in Köln,81 Straßburg und Basel tätig war. Auch ein konkreter Ort der Predigten hat sich – ähnlich wie bei den Kölner Klöstern, die für Eckharts Predigt eruiert werden konnten – dingfest machen lassen: der Kölner Dominikanerinnenkonvent St. Gertrud, wo 76

So wenn Tauler in Predigt 27 sagt, er habe in disen pfingesttagen gesprochen [...], wie der heilige geist dez menschen hertze reisset (V 27, S. 111,7f.+6) und damit die unmittelbar vorhergehende Predigt meint. Vgl. V 26, S. 104,16–19. Ganz ähnlich ist der Fall in V 60f., S. 310,13f. und in V 60d, S. 301,14f., die sich auf V 60b, S. 291 bezieht. Grundsätzlich ist aus philologischer Warte kritisch anzumerken, daß diese Einheiten durch die Edition VETTERs oft zerrissen wurden (vgl. schon HELANDER [Anm. 61], S. 84). 77 V 73, S. 394,22–26. 78 S. u. S. 178. 79 Vgl. besonders V 57, S. 272f. 80 Vgl. HELANDER [Anm. 61], S. 74; zu Taulers Zuhörerschaft: GNÄDINGER, Johannes Tauler. Lebenswelt [Anm. 57], S. 117–121 und KORN [Anm. 57], S. 63. 81 Zu den Datierungs- und Lokalisierungsversuchen PREGERs: NAUMANN [Anm. 71], S. 35 und 43, sowie KORN [Anm. 57], S. 167f.

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er 1339 und 1346 gepredigt hat. Sicher umschloß sein Publikum auch Beginen und Laien, zum Großteil wohl solche, die der Gottesfreundbewegung nahestanden.82 6. Aber anders als Eckhart, der seinen Zuhörerinnen von den Diskussionen an der Hohen Schule berichtet und sie an seinem Wissen teilhaben läßt, hat Tauler keinen Anteil an diesen Diskussionen. Mehr noch, er steht der Bildungswelt mit unverhohlener Skepsis gegenüber; diese ist stärker ausgeprägt als Eckharts Selbstironie: Die grossen meister von Paris die lesent die grossen buecher und kerent die bletter umb [...] und aller ku´nsten richen meistere zuo Paris mit alle ire behendikeit erku´nnen nu´t her bi komen, und wolten si hin abe sprechen, si muesten zuo male verstummen.83 nu´t underwindent u´ch zuo hoher wisheit, also sant Paulus sprach, und lant die hohen e pfaffen darnoch studieren und disputieren, und in der unkunst mussent su´ vol mit 84 urlou´be stammelen.

Wie ALOIS HAAS gezeigt hat, wendet sich Tauler an einer dieser Stellen sogar eindeutig gegen Meister Eckhart: und enfrage nu´t nach hohen ku´nsten, denne gang in dinen eigenen grunt und ler dich selber kennen, und nu´t enfrage von der verborgenheit Gotz, von dem usflusse und influsse und von dem ihte in dem nihte und von dem funcken der selen.85

Taulers Skepsis gegen die zu hohe wisheit entspricht seiner Kritik an Eckhart, dieser habe »ohne Weisen und Wege« gepredigt und die Gefahr in Kauf genommen, Teile seiner Gemeinde zu vergiftigen menschen zu machen. Das heißt andererseits nicht, daß WOLFGANG STAMMLERs Diktum, Tauler sei »kein spekulativer Denker«,86 vorbehaltlos zuzustimmen wäre. LORIS STURLESE und KURT RUH haben dieses Bild zurechtgerückt und die spekulativen Ansätze Taulers im Anschluß an seine Quellen aufgezeigt (z. B. Proklos, vermittelt über Berthold von Moosburg). Aber: »Taulers neuplatonische Äußerungen sind ein Zuwachs, keine Korrektur, was schon aus dem Umstand hervorgeht, daß sie sich auf wenige Predigten beschränken.« Sie »sind nicht dazu angetan Tauler zu einem Philosophen zu erheben«.87 82

»Zu einem nicht geringen Teil waren seine Predigten auch Kanzelreden, lassen sich aber als solche im schriftlich fixierten Predigtwerk nicht feststellen. Indes erklärt sich der ungewöhnliche Ruhm Taulers als Volksprediger nur aufgrund seiner öffentlichen Predigttätigkeit«. (RUH, Geschichte [Anm. 22], S. 479; zu Tauler in Köln: Ebd., S. 489, Anm. 27). 83 Belege und Besprechung von Taulers kritischer Auffassung: GNÄDINGER, Johannes Tauler. Lebenswelt [Anm. 57], S. 74f.; vgl. ebd., S. 57f. 84 Dazu und zu Taulers Wendung gegen eine Überbetonung der Vernunft: HELANDER [Anm. 61], S. 241f. 85 ALOIS M. HAAS, Nim din selbes war. Studien zur Lehre von der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse (Dokimion 3), Freiburg/Schweiz, S. 108. 86 WOLFGANG STAMMLER, Mittelalterliche Prosa in deutscher Sprache, in: DERS., Deutsche Philologie im Aufriß, Bd. 2, Berlin 21960, Sp. 948. 87 RUH, Geschichte [Anm. 22], S. 485f. und 503–507. LORIS STURLESE, Tauler im Kontext. Die philosophischen Voraussetzungen des ›Seelengrundes‹ in der Lehre des deutschen Neuplatonikers Berthold von Moosburg, PBB 109 (1987), S. 390–426.

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Hauptziel von Taulers Predigt ist die Vermittlung und Erklärung der Heiligen Schrift. Predigen meint die stete Suche nach der unendlichen und immer neuen Wahrheit, die in der Schrift verborgen liegt und die der Prediger seinem Publikum freilegen will: Das man die heilige wunnekliche geschrift in dem heiligen ewangelio tusent werbe u´berlese und p r e d i g e t e und u´berdehte, so vindet man ie me ein nuwe worheit die nie funden wart von dem menschen.88

Taulers Predigt will die Heilige Schrift erschließen. Dementsprechend wird Jesus als Vorbild des Predigers gesehen; aber auch bei diesem Vorbild weist die Funktion der Predigt eindeutig wieder einen moralisch-didaktischen Impetus auf. Auch Jesu Predigt hat eine scheltende, strafende und Fehler aufdeckende Funktion: do er drissig jor alt waz worden, do kam er tegelich zuo Jherusalem in und schalt do und stroffete do und seite do den juden iren bresten und die worheit vil herlich, und p r e d i g e t e do und lerte do.89

7. Von dieser Vorbildrolle Christi her greift Tauler den Gedanken des Predigens auf und setzt ihn als Bild ein: Predigen ist das Wirken jedes Christenmenschen, insofern jedes wahrhaft christliche Handeln Verkündigung ist. Predigen in diesem Sinn ist wesenhaftes Sein. Der Mensch, der so in Gott lebt, ist Prediger, Verkünder Christi: Do die juden disen fragetent wer in gesunt gemaht hette, do enwuste er es nu´t; also er aber wieder in den tempel kam, do sprach ime Jhesus zuo, und do bekante er in und p r e d i g e t e do allem dem volke. Also sol dis minnenkliche mensche tuon; wan er dis unkentnisse in ime gewar wurt, so sol er alle ding lossen und gon snelleklichen in den tempel, das ist daz er in einer samenungen aller siner krefte in sinem indewendigen tempel in sinen tieffen grunt kumt; so er wol darin kummet, on allen zwifel so vint er do werlichen Got, und do wurt er in erkenende. [...] Und dan p r e d i g e t alles des menschen wu´rcken und wissen und leben dan Got in der worheit. Und wanne also der mensche alsus von goettelicheme waren bevindende in dem lutern bekentnisse in dem innewendigen tempel in sime grunde Got funden het und ouch vil wol von eigem schaden getriben ist und dan von Gotte gewarnet wurt, o so ist des menschen b r e d i g e n sin got und ku´ndet in.90

Abgesehen von diesem »allgemeinen Predigeramt« gibt es das ganz konkrete, das der Dominikaner Johannes Tauler innehat, und von dem er durchdrungen ist. Während Eckhart die Gelegenheit, über den eigenen Orden zu sprechen, im passenden Moment ungenutzt läßt, spricht Tauler an einer unerwarteten Stelle – sie handelt vom Stehlen – von seiner Ordenszugehörigkeit: o

Das ist steln was der mensche an sich zu´het, es si liplich oder geistlich, das im nu´t zu e e o o engehort. Das gehort sere an geistliche menschen die sich dicke ziehent zu eren, zu 88

V 2, S. 12,21–23. V 2, S. 15,33–16,2. 90 V 8, S. 39,27–40,1+40,3–8. 89

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vorteil und zuo maniger wise, der im Got nu´t enmeint und ir nu´t engebruchet [...] In manigem jore engetorst ich nie gedenken das ich unsers vatters S. Dominicus sun were, und mich einen b r e d i e r geachten, wan ich es mich unwirdig bekenne.91

Die Bescheidenheit ist echt. Tauler mag tatsächlich manchmal im Zweifel gewesen sein, ob er der Zugehörigkeit zum Orden des Heiligen Dominikus ›würdig‹ sei. Gleichzeitig inhärent ist der Stelle die Betonung der hohen Würde des Ordensgründers wie des Ordens, und der Stolz, ›dazuzugehören‹. Tauler i s t bredier; alles andere würde bedeuten, sich ›davonzustehlen‹ in eine Rolle, der im Got nu´t enmeint. Und wenn er sich manchmal unwirdig bekennt, dann zeigt das nur, wie sehr das Ordenskleid zu seinem Wesen geworden ist. Tauler wendet sich an dominikanische Mitschwestern und vermittelt ihnen in seiner Predigt den Stolz auf den eigenen Orden,92 dem zuzugehören freilich nicht per se den rechten Weg bedeutet. Das macht seine Predigt immer wieder klar.93 Stolz auf die eigene Ordenszugehörigkeit, Bescheidenheit, Gelassenheit und die rechte Definition des ordensspezifischen Weges in der Predigt gehen eine enge Verbindung ein: Ich han enphangen von Gotz gnaden minen orden und von der heiligen kilchen, und dise kappe und dise kleider und min priesterschaft und ein lerer ze sinde und bichte ze hoerende. Kemes nu also das mir dis der babest nemen wolte und die heilige kilche von der ich es han, ich solte es in alles lossen mit einander und ensolte nu´t frogen war umbe si mir es nemen [...] und ich ensolte nu´mme in minem kloster bi den bruoderen sin, so gieng ich dar us, noch nu´mme priester sin noch bichte ze hoeren noch b r e d i e n , alles in Gotz namen, so si nit me, wan si hant es mir gegeben und mu´gent mirs och nemen.94

Der Gedanke der Berufung, der bei Eckhart nur implizit in der Opferstockpredigt zu greifen ist, wird hier prononciert ins Wort gebracht. Eckharts Selbstbewußtsein (»dem widerspreche ich, Meister Eckhart, gegen alle Meister, die nun leben«) entspricht bei Tauler ein Bewußtsein des Amtes, zu dem er aus Gnade Gottes, aber von der Kirche berufen wurde. Dieses Amt hat äußere Zeichen (kappen, kleider) und Funktionen (pristerschaft, lerer, bichte). Es hat seinen o Rückhalt in der Gemeinschaft (im kloster bi den bruderen). Seine zentralen e Definitionen erhält es aus den Aufgaben (priesterschaft, lerer, bichte horen, bredien). Die Reihenfolge ist die der Steigerung. Tauler nennt die Aufgabe, die 91

V 56, S. 261,11–15+18–20. Aber entru´wen, kint, der heilig orden do wir inne sin, ir mit mir und ich mit u´ch, das ist ein gar hoch wirdig ding, des wir al ze dankneme su´llen sin, das uns der herre dar in geladen und e geruffet hat von diser sorgklicher welte, das wir alleine su´llen sin warten und im allein leben (V 57, S, 269,17–20). 93 nein, entru´wen: der orden enmacht u´ch nu´t heilig; min cappe noch min blatte noch min kloster o noch mine heilige geselschaft enmacht alles nu´t heilig. Es mus ein heilig lidig rein unbesessen grunt sin, sol ich heilig werden (V 49, S. 221, 28–31); vgl. V 72, S. 393,1–6; zu Taulers Ansichten über den Orden, Ordensdisziplin etc. sind besonders zu vergleichen: V 12, S. 56–59; V 36, S. 137f.; V 51, S. 232f.; V 65, S. 354f.; V 71, S. 386f. Bei V 59, S. 276,5–11 ist die Echtheitsfrage zu bedenken (HELANDER [Anm. 61], S. 130). 94 V 55, S. 255,11–16+17–20. 92

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ihm am wichtigsten ist, zuletzt. Das Amt ist zu seinem Wesen geworden. Er gibt hier anderen ein Beispiel rechter Gelassenheit.95 Um zu zeigen, daß er alles lassen würde, nennt er das, was ihm das Wichtigste ist: sein Predigeramt. Recht verstanden ist es in sich selbst ein Weg zu Gott. In einer Predigt am Allerheiligentag beschreibt Tauler den Zug der Heiligen und wie ein jegeliche schar der heiligen gotte gevolget habe. Die vierte Schar in diesem Zug ist die der heiligen bihtere. Entsprechend dem Gedanken der Berufung, daß der Mensch sich Gott nicht »stehlen« darf, sondern zu der Weise finden soll, die Gott für ihn »meint«, schildert Tauler mehrere Realisierungsmöglichkeiten gottgefälligen Lebens in aufsteigender Reihenfolge: die hant irme rouffe in maniger wise gevolget; die einen hant gotte alleine gelebet in abegescheidenheit [...] und so´liche geflu´hen in die welde, in die hule; die anderen in die heiligen o´rdene [...] so´lich hant in der heiligen cristenheit gelebet mit b r e d i g e n d e und mit schribende und mit bihte hörende, und lerende und stroffende.96

Predigen und Schreiben sind eng miteinander verknüpft. Das könnte ein Hinweis darauf sein, daß Tauler Predigen auch als das Niederschreiben von Lesepredigten verstand. Tauler mißt ferner dem Hören der Beichte, oft in einem Atemzug mit dem Predigen, stets eine große Bedeutung zu.97 Die Funktionen des Predigers und Beichtvaters sind miteinander eng verbunden. Demnach ist Predigen auch hier zuvorderst wieder lerende und stroffende: Erziehung der Zuhörer-/Leserschaft zum rechten Verhalten mittels eindringlicher Warnung. 8. Was das Verhältnis zwischen contemplatio und actio betrifft, steht Tauler Eckhart in der Bewertung von innicheit und würklicheit98 nahe. Für ihn ist die Wendung nach außen, zum Zuhörer oder Leser hin, von entscheidender Bedeutung: Nu als dis mensche in disem inwendigen werke were, gebe im denne Got das er das hoch edele ding liesse und solte einem siechen gon dienen, im lichte ein suffe machen, das solt der mensche mit grossem friden tuon. Und ob ich der menschen einer were und solte das denne lossen und solte her us keren ze b r e d i e n d e oder des gelich tuon, es moechte wol geschehen das mir Got gegenwu´rtiger were und me guotz tete in dem usserlichem werke denne lichte in vil grosser schouwelicheit.99

Predigen ist für Tauler bewußtes uskeren von der schouwelicheit, Hinwendung zum Gegenüber. Aber wo Eckhart sagt, ihm genüge, daß er halb als vel ynnikeit hette in der predigate also ich haben mag, also ich sy bedenke, kommt Tauler zu anderen Formulierungen. Anstelle des Eckhartschen ›Bedenkens‹ steht bei ihm der ›Blitz‹: 95

Der Absatz beginnt: was ich spriche von mir, do mit meine ich alle menschen. (V 55, S. 255,10). HELANDER [Anm. 61], Nr. 73, S. 351 und 353 (nicht bei VETTER). 97 Vgl. ebd., S. 172f. 98 Vgl. oben S. 165 und Anm. 42. 99 V 56, S. 264,9–15. Vgl. Eckharts Aussage in den ›Reden der underscheidunge‹: wære der mensche alsoˆ in einem ˆınzucke, als sant Paulus was, und weste einen siechen menschen, der eines suppelıˆns von im bedörfte, ich ahtete verre bezzer, daz duˆ liezest von minne von dem und dientest dem dürftigen in meˆrer minne (DW V, S. 221,5–8). 96

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Denne blicket Got so dicke bliklichen in den grunt das alles liden wirt dem menschen ze klein. Und in dem bliklichen in komende Gottes in den grunt so kumet dem menschen in einem blike in was er tuon sol oder do er fu´r bitten sol, oder er lichte b r e d i e n sol.100

Das Verhältnis zwischen Subjekt, Text und Objekt ist bei Tauler ein anderes. Eckhart als Prediger ist Subjekt seines Textes und im vollen Sinne Autor ( e r bedenkt den Text seiner Predigt). Tauler versteht sich selbst als Objekt: Gott als Subjekt offenbart sich augenblicklich und blitzartig, und dem Prediger wird eingegeben, was er predigen soll. Das Schlüsselwort der Passage ist das mhd. blic (›Blitz‹ und ›Augenblick‹). Was KORN als »improvisierte Rede«, »zufällig und durch den Augenblick bedingt« erscheint,101 hat seinen Grund nicht im »Stegreifcharakter der Predigten«,102 sondern in der Art, wie Tauler Predigtvorbereitung versteht und erlebt: als plötzliche, blitzhafte Eingebung. Der zitierte Passus faßt Taulers Predigtweise in ein passendes Bild. Eckhart bedenkt mit innicheit, bei Tauler blicket Got bliklichen in den grunt und der Prediger erkennt in einem blike, was er predigen wird. Hier also – nicht in der Form der Mündlichkeit – liegt der Grund für die »wenig systematische und sprunghafte Predigtweise Taulers.«103 9. Wo Eckhart die Predigt selbst transzendiert, sieht Tauler eine Funktion der Wissensvermittlung, wenn er von manchen Zuhörern sagt: sie haben vil gesehen und die grossen b r e d i e r gehoert und wissen wol.104 Dieses wissen ist aber etwas anderes als Eckharts Anspruch, die Ungelehrten zu lehren. Taulers Aussagen in den Predigten entsprechen denen der vorgeschalteten kurzen Kommentare. Predigen ist ihm Mahnen, Warnen, Lehren: Dise lu´te kumment zuo leste in rehten ruwen und das su´ weinent umb ire itele ungeordent leben [...] Und dis ist ein unmessige grosse gnode von der guetekeit Gottes; dem Got des gan, der ist vil selig das er gemanet und gewarnet wurt, es si innewendig oder ussewendig; wanne es stot leider an daz dem dinge anders wil werden; man muos schiere nu´t leren, nu´t b r e d i g e n , nu´t warnen, und ist das in vil landen; do von sage ich u´ch vor, die wile ir noch dis Gotz wort hant, wanne es ist soerglich wie lange, und machent es u´ch vil nu´tze.105

Die Predigt ist in dieser Auffassung Vermittlung des Gotteswortes, Mahnung des Menschen zur Reue und Umkehr, die selig machen können, Warnung vor falschen Wegen. Tauler verteidigt diese Funktionen und er entwirft das ›Schreckensbild‹ einer Gesellschaft, die in vil landen schon existiere, in der die Prediger diese Funktion nicht mehr innehaben oder nicht wahrnehmen. Nachdem so Taulers immer wieder hervorbrechende Grundanschauung von der Predigt als 100

V 54, S. 253,19–22. KORN [Anm. 57], S. 8f. 102 Ebd., S. 10. 103 RUH, Geschichte [Anm. 22], S. 487; vgl. ebd., S. 512. 104 V 56, S. 265,19f. 105 V 72, S. 394,8f.+10–16. 101

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Mahnung, Warnung und Belehrung freigelegt ist, wird der exhortative Ton seiner Predigt verständlich.106 Die Umkehr zur Reue, die Tauler fordert, meint den ganzen Menschen, meint innerliche Betroffenheit. Mit Werkgerechtigkeit ist nichts zu erreichen, und hier berühren sich Eckharts und Taulers Auffassungen: Liebes kint, blib iemer in disem covente diser vorgesprochener tugende und huet dich vor der stiefswester, der annemlicheit und vor eigener minne: der muos man recht das hovbt ab slahen; wan die wil iemer etwas haben: si gat zuo der s e r m o n e , zuo dem sacrament, iemer das si u´t habe.107

Die Stelle erinnert an Eckharts berühmte ›Kaufleute‹, die alles was sie tun, nur darum tun, daß sie damit etwas erwerben.108 In der Kritik ist die Zielrichtung die gleiche. Aber wo Eckhart sagt, wer die Dinge verstanden habe, dem sei genug gepredigt, wo er die Predigt selbst, nicht nur das zweckgebundene und selbstverliebte Zur-Predigt-Gehen der Zuhörerinnen in Frage stellt, dort folgt ihm Tauler nicht. Zwar kritisiert Tauler die ›Stiefschwester‹ Selbstverliebtheit, aber er stellt dem nicht eine weiselose Leere entgegen, wie Eckhart, sondern Werke, einen ›Konvent der Tugenden‹. Im Bild dieses Tugendkonventes werden für den realen Konvent der Klosterfrauen unmittelbar zuvor die notwendigen Tugenden konkret beschrieben: o lis ein vigilie nach guter ordenunge [...], swig und blib [...] und losse mir ieklichen o fluchen und schelten.109

Eckharts Aufhebung der Predigt nähert sich Tauler nur an einer Stelle: Ich han ovch gesehen den heiligesten menschen den ich ie gesach innewendig und ussewendig, der nie denne fu´nf b r e d i g e n allen sinen lebetagen gehoert hette: do er wuste und sach was der mere was, do gedohte er es were gnuog, und starp dem er sterben solte, und lebete dem er leben sollte. Lasse das gemeine volk louffen und hoeren, daz su´ nu´t verzwifelent noch in ungelovben envallent, aber alle die Gottes innewendig und ussewendig wellent sin, die kerent sich zuo in selber und in sich selber, und wellent ir iemer tu´re werden, so muessent ir uwer usssuochen begeben und u´ch in keren; und mit worten gewinnent ir es niemer, hoerent wie vil ir wellent, dane alleine minnent und meinent Got von grunde uwers hertzen und uwer nehsten also u´ch selber.110

Eckhart war mystischer Elitarismus fremd, auch Tauler soll er nicht unterstellt werden; aber Tauler macht hier einen Unterschied: Da sind einmal diejenigen, die sich in sich selbst gekehrt haben und dort Gott, aber auch den Nächsten, finden. Tauler nennt solche Menschen – es sind so wenige, daß er im Singular 106

»Ermahnung und Ermunterung, häufig verbunden mit Tadel und Kritik (exhortatio), sollen der vorgebrachten mystischen Lebenslehre Nachdruck verleihen und zur Wirksamkeit verhelfen. Tauler fühlt sich offensichtlich von der Sorge bedrängt, seine Predigtgemeinde könnte den Heilsweg [...] verfehlen« (GNÄDINGER, Lebenswelt [Anm. 57], S. 108). Vgl. KORN [Anm. 57], S. 37. 107 V 67, S. 371,7–10. 108 DW I, Pr. 1. 109 V 67, S. 370,19,32 + S. 371,2. 110 V 73, S. 396,23–33.

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spricht – den heiligesten menschen den ich ie gesach. Solchen Menschen ist es genug, im Leben fünf Predigten gehört zu haben, denn die Wahrheit – das sieht Tauler ähnlich wie Eckhart – liegt nicht im Hören vieler Predigtworte. Aber auf der anderen Seite bleibt bei Tauler die Funktion der Predigt für das gemeine volk bestehen: Verhinderung von Glaubenszweifeln und Unglauben. Das macht in Taulers Augen den entscheidenden Unterschied zu Eckhart: Wenn man, wie dieser, ›ohne Weisen und ohne Wege‹ predige, bestehe die Gefahr, daß die Zuhörer vergiftige menschen werden.

III Von der Motivation und der Persönlichkeit des Predigers her gesehen ergeben sich grundsätzliche Unterschiede: Tauler ist von dem Amt erfüllt, das ihm die Kirche verliehen hat, Eckhart steht mit der Autorität seiner Persönlichkeit für seine ›kühnen‹ Äußerungen ein. Tauler zielt auf das Viele und Einzelne, das er dem Publikum vermitteln will, Eckhart will immer auf den gemeinsamen Grund aller Aussagen hinaus. Eckhart argumentiert jenseits von konkreten Weisen und Wegen, Tauler sucht konkrete Wege. Das hat Folgen für die Relation zwischen Prediger und Publikum. Wo Eckhart sagt, daß der Mensch, »in dessen Seele Gottes Königreich erscheine«, keiner Predigt mehr bedürfe, dort rüttelt Taulers Predigt das Publikum erst noch wach. Eckharts Publikum ist ständig herausgefordert (auch provoziert), dasjenige Taulers wird belehrt. Bei Eckhart erkennt man eine ›Gleichberechtigung‹ des Publikums, bei Tauler die stetige Anleitung. Eckharts Predigt, so gesehen, ist als Dialog angelegt, die Taulers – trotz der ständigen Einbeziehung des Publikums – als Monolog. Unter anderem Gesichtswinkel kehrt sich dieses Verhältnis freilich um: Tauler wendet sich dem Publikum zu, Eckhart kann sich auch von ihm abwenden, um gewissermaßen zu sich selbst zu sprechen (ich müeste sie disem stocke geprediget haˆn). In Eckharts Predigten gibt es zahlreiche Leerstellen, die nur informierte Rezipienten füllen können; Eckhart spricht für Eingeweihte. Tauler ist bemüht, möglichst alle Leerstellen selbst zu schließen. Bei Eckhart kann sich die Schwierigkeit ergeben, daß die Leerstellen zu groß sind, das heißt, daß dem Publikum zuviel (zuviel Vorwissen, zu starke Abstraktionsfähigkeiten) abverlangt wird. Besonders kritisch wird Eckharts Verfahren dort, wo die Predigt als Ganzes zur Leerstelle wird: Eckharts ›kühne Thesen‹ haben nach Auffassung der Kirche sicher manchen ›Mißgeleiteten‹ zu einem vergiftigen menschen werden lassen, weil er die Aussage wörtlich nahm, das er chainer predig pedarff. Die Schwierigkeiten beim Lesen Taulers dagegen ergeben sich daraus, daß er auf der einen Seite sein Publikum ständig führen will. Dagegen steht auf der anderen Seite seine sprunghafte Predigtweise, so daß das Ergebnis widersprüchlich gerät. Bildlich gesprochen: Tauler führt seine Zuhörerinnen an der Hand, aber er wechselt mitunter sprunghaft die Richtung. Eckhart geht in eine Rich-

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tung, dabei aber mitunter sehr weit und manchmal ohne darauf zu achten, ob ihm sein Publikum noch folgt. Im Zentrum von Taulers Ansichten über die Predigt steht deren konstruktiver Charakter: Sie ist konstruktiv und verbindlich, konkrete Anweisung für die Unsicheren. Im Zentrum von Eckharts Überlegungen steht letztlich die Dekonstruktion: Dekonstruktion einer fremden, von außen kommenden Anweisung, die als sprachliches Konstrukt entlarvt wird, weil sie vom Publikum zwar erfaßt, wesensmäßig aber überwunden werden muß. Natürlich sind alle diese Beobachtungen auch ein Konstrukt: Eckhart und Tauler predigen nicht über die Predigt. Ich habe alle Stellen zusammengetragen und in ein System eingebaut. Auch dieses ist zu dekonstruieren. Am Ende kehrt ein Prediger normalerweise zum Beginn zurück: Waˆ mite die liute umbegaˆnt, sagt Eckhart, daˆ von redent sie gerne. Die mit antwerken umbegaˆnt, die redent gerne von den antwerken; die mit den predigen umbegaˆnt, die redent gerne von den predigen. Redent, redent, redent – die gehäufte Verwendung des Wortes signalisiert ironische Distanz, und im nächsten Satz folgt schon die Wendung: Ein guot mensche enredet niht gerne wan von gote.111 Predigten sind nicht wichtig für den Prediger; er sollte nicht vom Predigen predigen, sondern von Gott. Aber auch damit ist Eckhart noch nicht am Ende, denn ez ist vil meˆ: swıˆgen von gote dan sprechen.112 Letztlich hebt sich damit die Predigt und das Amt des Predigers auf, oder: die mit den predigen umbegaˆnt, die swıˆgent von den predigen.

111 112

DW I, Pr. 13, S. 220,2f. DW II, Pr. 36b, S. 204,5.

Ulla Williams

Nikolaus von Dinkelsbühl und sein Redaktor1

Der ander nucz ist das di schuel hie (gemeint ist die Universität Wien) geit den lewten recht ze erchennen got den herrn vnd sein volchömenchait an das man got nicht lieb chan haben, wann so die recht gelerten maister vnd di gotleichen mann zu schuel lesent oder dem volkch predigent, so sagent sy den lewten grüntleich di heilig gescrifft vnd chünnen sy auslegen aigenleich vnd di trewleich lernen, aus we man got erchennen schol vnd wie man in sol liebhaben vnd was ze tün vnd ze lassen sey, des wir ainuoltig priester nicht chünnen noch sletleich in den püchern soliche ding chünnen suechen vnd noch mynner versten chunnen.2 In diesem Zitat aus der Predigt zum 1. Sonntag nach Weihnachten der Jahrespredigtsammlung des sog. Nikolaus von Dinkelsbühl-Redaktors3 wird über das Medium Predigt geradezu programmatisch der Bildungsauftrag der Universität Wien sowohl als Ausbildungsstätte neuer Lehrergenerationen als auch als Institution der Volksbildung formuliert. Die hier wohl doch topisch in starkem Gegensatz zueinander dargestellten ungleichen Partner, die gelerten maister und wir ainuoltig priester, hatten sich in Wien indes, wie wir seit der Arbeit BERNHARD SCHNELLs zu Thomas Peuntner als Vermittler von Schriften des Nikolaus von Dinkelsbühl4 wissen, als erfolgreiche Verbündete zusammengetan, um das an der Universität verhandelte Wissen neben der Kanzelansprache auch in schriftlicher Kurzform dem volkssprachigen Publikum zugänglich zu machen. Eine ähnliche Arbeitsgemeinschaft dürfte zwischen Nikolaus von Dinkelsbühl und dem anonymen Verdeutscher seiner Predigtsammlungen, dem sogenannten Nikolaus-Redaktor, bestanden haben, deren gewaltige gemeinsame Leistung für die Illiteratenbildung des 15. Jahrhunderts hier kurz vorgestellt werden soll. Die große Bedeutung des Nikolaus von Dinkelsbühl für die Theologie des 15. Jahrhunderts dürfte inzwischen feststehen. Der universitäts-, kirchen-, und lan1

Der Beitrag stellt eine erste Bestandsaufnahme des Anfang 1995 an der Universität Augsburg in Angriff genommenen Projekts ›Schrifttum der Wiener Schule‹, Teilprojekt ›Überlieferungs-, Textund Wirkungsgeschichte der ins Deutsche adaptierten Predigtzyklen des Nikolaus von Dinkelsbühl‹, dar. 2 Zitiert nach Stockholm, Kungliga bibl., Cod. A 190 (= Sh1), 43rb/va. 3 Einen ersten Zugang zu diesem Autor bietet THOMAS HOHMANN, Nikolaus-von-DinkelsbühlRedaktor, 2VL VI, Sp. 1059–1062; dort weitere Literatur. 4 BERNHARD SCHNELL, Thomas Peuntner. ›Büchlein von der Liebhabung Gottes‹. Edition und Untersuchungen (MTU 81), München 1984; DERS., Peuntner, Thomas, 2VL VII, Sp. 537–544.

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Ulla Williams

despolitisch stark engagierte, wohl seinerzeit prominenteste Gelehrte der Wiener Universität, widmete sich, von der Frömmigkeitstheologie Gersons und seines eigenen Lehrers Heinrich von Langenstein inspiriert, in seinen fünfzehn letzten Lebensjahren (1418–33) so gut wie ausschließlich der causa reformationis, der religiösen Erneuerung von Klerus und Volk. Aus dieser Zeit stammt auch der Großteil seines umfangreichen Œuvres; seine ausschließlich auf Latein verfaßten Schriften umfassen Zeugnisse der akademischen Lehrtätigkeit, der Reform und der Kanzelpredigt. Das heutige Urteil über die Schriften des von den nachfolgenden Generationen als »Lux Sueviae« und »zweiten Gründer der Universität« gefeierten Gelehrten und Reformers fällt nüchterner aus: Nach einhelliger Forschungsmeinung liegt die große Leistung des Nikolaus im pragmatisch orientierten, pastoral-aszetischen Reformschrifttum, jedoch n i c h t im originellen, schöpferischen oder spekulativen Bereich.5 Der neben Thomas Peuntner bedeutendste Vermittler der Werke dieses prominenten Gelehrten ist der anonym gebliebene Nikolaus-Redaktor, von dem wir nur wissen, daß er fast das gesamte Predigtwerk des Nikolaus ins Deutsche übertrug und bearbeitete. Das Ergebnis dieser schon quantitativ ungeheuren Leistung waren zwei Predigtsammlungen, im folgenden mit den in der Forschung eingebürgerten Titeln ›Tractatus octo‹ und ›Jahrespredigten‹ bezeichnet, die je ca. 500 Großfolioblätter umfassen. Die Arbeit des Redaktors dürfte in die 20er/30er Jahre fallen; die älteste datierte Handschrift der ›Jahrespredigten‹ stammt jedoch erst vom Jahre 1439 (Stockholm, Kungliga bibl., Cod. A 190 [= Sh1], vgl. o. S. 181), die der ›Tractatus octo‹ vom Jahre 1444 (ebd., Cod. A 191 [= Sh2]).6 Von Thomas Peuntner (ca. 1390–1439), dem anderen zeitgenössischen Nikolaus-Bearbeiter in der Volkssprache, wissen wir, daß sich Nikolaus von Dinkelsbühl selbst für die Vermittlung seiner Werke an die simplices stark engagierte. In der Vorrede zu seinem ›Büchlein von der Liebhabung Gottes‹ schreibt Peuntner, er habe zu maister Niklasen von Dinkelspuhel (SCHNELL [1984] [Anm. 4], S. 290,34), aus dessen Schriften er größtenteils geschöpft habe, nicht nur sundrew zuflucht (Ebd., S. 290,35) gehabt, dieser habe auch das püchel etwe vil vber lesen vnd peschaut (Ebd., S. 290,35f.). Zwischen dem Redaktor und Nikolaus wird ein ähnlich intensives Arbeitsverhältnis existiert haben, obwohl der Redaktor keine mit Peuntners Vorrede vergleichbare direkte Auskunft darüber gibt. Der maister ist in den verdeutschten Predigten ständig präsent; 5

Vgl. ALOIS MADRE, Nikolaus von Dinkelsbühl, 2VL VI, Sp. 1048–1059. Grundlegend zu Nikolaus von Dinkelsbühl: DERS., Nikolaus von Dinkelsbühl. Leben und Schriften. Ein Beitrag zur theologischen Literaturgeschichte (Beiträge zur Geschichte der Theologie und Philosophie des Mittelalters 40), Münster 1965. 6 Im folgenden werden die Predigtsammlungen nach Sh1 bzw. Sh2 zitiert. HOHMANN [Anm. 3], Sp. 1060, datiert die Übersetzungsarbeit des Redaktors »um 1420«. Vor einem umfassenden Quellenvergleich möchte ich den Entstehungszeitraum jedoch noch nicht genau festlegen, zumal Nikolaus einige Predigtzyklen, etwa die Eucharistiepredigten, nach Zeugnis der Überlieferung erst 1431 verfaßt haben soll; s. MADRE [Anm. 5], S. 246f.

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Hinweise wie das hat der maister sust geredt vnd nicht an der predig (Sh1, 127rb), Di drew ding hat der maister gesagt an der predig nicht, aber man hat es sust von ym gehört (Sh1, 127va) zeugen von großer Vertrautheit zwischen beiden Männern. Ob der Redaktor, wie dies Peuntner von sich selbst bekundet, ebenfalls zu den ainuoltigen priestern der eingangs zitierten Predigt zu zählen ist, muß offen bleiben, denn gerade diese, sogenannte Universitätspredigt hat als einzige der insgesamt 86 Predigten umfassenden Jahrespredigtsammlung in der Überlieferung einen ausdrücklichen Hinweis darauf erhalten, daß der Autor nicht bekannt sei.7 Bei der Arbeit Peuntners wie des Redaktors sind jedoch durch ein Universitätsstudium erworbene, ausgezeichnete Latein- wie Theologiekenntnisse selbstverständlich vorauszusetzen, aber wohl nicht der theologische Doktorgrad. Angesichts seiner enormen Übersetzungsleistung wird der Redaktor dann auch den Bildungsoptimismus des anonymen Verfassers der Universitätspredigt geteilt haben, nach dessen Meinung sich die Erfolge der Volkse bildung rasch abzeichneten: vnd darumb, von der schul wegen, habent hie frawn vnd mann in einer chürczen czeit aufgenamen an der gotleicher erchantnuss vnd an der lieb gotes vnd irs nachsten vnd in anderen tugenten, die vor gar wenig verstuenden von got vnd gotleicher volchomenhait vnd von geistleichen dingen (Sh1, 43va). Im folgenden werde ich die beiden vom Redaktor geschaffenen deutschen Predigtsammlungen auf der Folie ihrer lateinischen Vorlagen kurz vorstellen und anschließend mittels der aus der Überlieferungs- und Textgeschichte bisher gewonnenen Ergebnisse sowie im Vergleich zum Werk Peuntners versuchen, das Spezifische an der Leistung des Redaktors herauszuarbeiten. Zunächst zum Corpus: Fast alle lateinischen Predigten des Nikolaus von Dinkelsbühl sind in zwei von ihm dem Collegium ducale in Wien vermachten Autographhandschriften8 erhalten. Diese bieten allerdings reine ›works in progress‹, d. h. das corpus sermonum dokumentiert das Werden der Predigten wohl über mehrere Jahre hinweg. Zahlreiche Streichungen, Zusätze und Korrekturen in den Handschriften zeugen von mindestens einer, wenn nicht mehreren Revisionen des Textes durch den Autor. Eine grobe Einteilung in Predigten nach dem Jahreszyklus, d. h. Sonntagspredigten, in der einen, Reihen- und Festtagspredigten in der anderen Autographhandschrift wurde von Nikolaus angelegt, wenn auch nicht ganz konsequent durchgehalten. Die lateinische Überlieferung schafft hier bald klare Konturen und unterscheidet, allein schon durch den riesigen Umfang der Sammlungen bedingt, zwischen Sonn- und Festtagspredigten einerseits und Reihenpredigten andererseits. Im Laufe der Jahre wurden diese in der Tradition der Gelehrtenpredigt zu theologischen Grundlagenwerken umgearbeitet, die eine enorme Verbreitung fanden.9 7

Im Rubrum des Cod. 177/144b des Wiener Dominikanerklosters (= W1), dessen Schreiber die von Nikolaus abweichenden Quellen des Redaktors innerhalb der Überlieferung am gewissenhaftesten notiert, steht zu dieser Predigt die Angabe: Nescitur quis sit expositor huius ewangelii (409r). 8 Wien, ÖNB, Cod. 4353 und 4354, s. MADRE [Anm. 5], S. 127–130.

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Es sei darauf hingewiesen, daß die Reihenpredigtsammlung den in der Forschung eingebürgerten, in Hinblick auf den als Verfasser postulierten Nikolaus jedoch nicht ganz korrekten Titel ›Tractatus octo‹ erst in dem von Jacob Wimpfeling in Straßburg 1516 veranlaßten Erstdruck erhielt, der neben sieben Reihenpredigtzyklen von Nikolaus von Dinkelsbühl einen achten (›De quinque sensibus‹) von Thomas Ebendorfer10 überliefert, einem Wiener Gelehrten der nächsten Generation.11 Nur für einen Teil des Predigtwerks konnte bisher die auch für die Datierung der Redaktorarbeit wichtige Frage geklärt werden, inwieweit er die lateinischen Predigten in einer Frühfassung oder der von Nikolaus in den Autographhandschriften überarbeiteten Fassung vor sich hatte. HOHMANN konnte für die Predigt zum 1. Fastensonntag (Predigt Nr. 18 der dt. Jahrespredigtsammlung) nachweisen, daß dem Redaktor eine Vorstufe der im Cod. 4353 der ÖNB überlieferten Autographfassung vorlag.12 SCHNELL ([1984] [Anm. 4], S. 352f.) bestätigte dies für das Kapitel ›Von der Liebhabung Gottes und des Nächsten‹ aus den ›Tractatus octo‹. UTA STÖRMER-CAYSA konnte zeigen, daß der Dekalogteil aus den ›Tractatus octo‹ auf die von Nikolaus schon überarbeitete Fassung im Autograph zurückgeht.13 Die Chronologie der beiden vom Redaktor übersetzten Werke steht indes fest. Zunächst nahm er die Übersetzung und Bearbeitung der Reihenpredigtzyklen, der ›Tractatus octo‹, in Angriff, wie die zahlreichen, für seine Arbeitsweise charakteristischen Querverweise belegen: Während diese sich in den ›Tractatus octo‹ nur auf Predigten innerhalb der Sammlung beschränken, begegnen in der Jahrespredigtsammlung gelegentlich Verweise auf das ander püch (= ›Tractatus octo‹), das schon fertiggestellt war.14 Außerdem deutet, wie STÖRMER-CAYSA ([Anm. 13], S. 329) vermerkt, die Plazierung einer ursprünglich aus dem lateinischen Jahrespredigtzyklus stammenden Fastenpredigt an den Anfang der ›Tractatus octo‹ und ihre Auslassung aus der Jahrespredigtsammlung auf einen bewußten Eingriff des Redaktors hin, der das Nacheinander der beiden Sammlungen nahelegt. Daß die Reihenpredigtsammlung ›Tractatus octo‹ planvoll angelegt ist, zeigt nicht nur diese mit peniblen Vorschriften für die Fastenzeit ausgestattete, ausführliche Predigt,15 die in das erste Hauptkapitel ›Von Reue, Beichte und Buße‹ 9

MADRE [Anm. 5], S. 155–161 u. 162–202, zählt für beide Predigtzyklen jeweils ca. 200 Handschriften. 10 Vgl. MADRE [Anm. 5], S. 202 u. 323–328. 11 S. PAUL UIBLEIN, Ebendorfer, Thomas, 2VL II, Sp. 254–266. 12 THOMAS HOHMANN, Heinrichs von Langenstein ›Unterscheidung der Geister‹ lateinisch und deutsch. Texte und Untersuchungen zu Übersetzungsliteratur aus der Wiener Schule (MTU 63), München 1977, S. 161–173. 13 UTA STÖRMER-CAYSA, Gewissen und Buch. Über den Weg eines Begriffes in die deutsche Literatur des Mittelalters (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 14), Berlin/New York 1998, S. 928f. 14 di selben vier ding oder erczney stont gescriben in dem andern püch vnd da selbs vindt man sy (Sh1, 246va).

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(IV, ›De tribus partibus poenitentiae‹) thematisch einführt.16 Als zweiter Teil werden die dem lateinischen Kapitel VI, ›De vitis et virtutibus‹, entnommenen ›Sieben Hauptsünden‹ eingehend abgehandelt.17 Die Erläuterung der ›Acht Seligkeiten‹ (V, ›De octo beatitudinibus‹) schließt sich als dritter Hauptteil an. Viertens werden die Liebhabung Gottes und die Nächstenliebe (I, ›De dilectione Dei et proximi‹) thematisiert, fünftens und letztens die ›Zehn Gebote‹ (II, ›De decem praeceptis decalogi‹) ausgelegt. Das VII. Kapitel des Nikolaus, ›Confessionale‹, eine gekürzte, praktische Beichtanleitung zu den sieben Hauptsünden, wird vom Redaktor gar nicht übersetzt, die Predigten zu Kapitel III, ›De oratione dominica‹, integriert er in das Corpus der ›Jahrespredigten‹. In der Form einer Reihenpredigtsammlung liegt hier ein mit Bedacht zusammengestelltes, möglichst alle Bereiche christlichen Lebens umfassendes katechetisches Lehrbuch mit stark kasuistischem Einschlag vor. So geschah es sicher nicht von ungefähr, daß der Bibliothekar Tengnagel (1608–1636) den Wiener Cod. 3054, der die ›Tractatus octo‹ enthält, mit dem Titel ›Anonymi Tractatus De casibus conscientiae, ex Variis auctoribus‹ versah.18 Die klare Intention des Redaktors, einen Ratgeber und ein Nachschlagewerk für alle Aspekte des christlichen Lebens zu schaffen, wird von einem sicher dem ursprünglichen Konzept des Redaktors entstammenden, sorgfältig angelegten Register bestätigt, das verläßlich über die Art der Anlage und den Benutzungszweck des Buches Auskunft gibt: Gleichwertig mit den Hauptüberschriften werden alle feinen Untergliederungen aufgelistet und mit einem differenzierten Buchstaben- und Zahlensystem versehen, das, im Textteil entsprechend ausgeführt, ein rasches Nachschlagen ermöglicht.19 Das Corpus der ›Jahrespredigten‹ enthält 67 nach dem Kirchenjahr geordnete Sonn- und Feiertagspredigten und als Anhang weitere neunzehn, vor allem zusätzliche Passions- und Weihnachtspredigten. Die Vorliebe des Nikolaus (und des Redaktors) für die kasuistische Themenbehandlung zeigt sich, obgleich nicht so stark wie in den ›Tractatus octo‹, auch in dieser Sammlung. Wo es der Evangelientext nahelegt, werden Themen wie Gottesliebe, Höllenqualen, Versuchungen des Teufels usw. in aufreihender und erschöpfender Manier behandelt. Dies 15

Die Quelle ist Predigt Nr. 20 des Jahrespredigtzyklus, vgl. MADRE [Anm. 5], S. 138f. u. 161f. Zur genauen Inhaltsübersicht der ›Tractatus octo‹ s. HERMANN MENHARDT, Nikolaus von Dinkelsbühls deutsche Predigt vom Eigentum im Kloster, ZfdPh 73 (1954), S. 1–39 u. 268–291, hier S. 3–13. 16 Die römischen Zahlen zeigen die Reihenfolge der Kapitel im Straßburger Druck von 1516 an. 17 Das Kapitel ›Von der Keuschheit‹ wird nicht hier, sondern separat nach den ›Acht Seligkeiten‹ plaziert. 18 Wien, ÖNB, Cod. 3054, 1r oben. Auf dem Buchrücken erscheint der Titel ebenfalls in einer Schrift des 17. Jahrhunderts. Vgl. auch MENHARDT [Anm. 15], S. 17 u. 35. 19 Die Anleitung zur Benutzung der tauel (abgedruckt bei MENHARDT [Anm. 15], S. 16) ähnelt im Wortlaut der in der Vorrede Ulrichs von Pottenstein zu seinem katechetischen Gesamtwerk, ist jedoch weit weniger detailliert; vgl. Ulrich von Pottenstein, Dekalog-Auslegung. Das erste Gebot, hg. von GABRIELE BAPTIST-HLAWATSCH (TTG 43), Tübingen 1995, S. 3,16–4,23, sowie MENHARDT [Anm. 15], S. 16.

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dürfte erklären, warum in der oben erwähnten, für ihre präzisen Quellenangaben außergewöhnlichen Handschrift W1 aus dem Dominikanerinnenkloster St. Laurenzien zu Wien sogar versucht wird, die Jahrespredigtsammlung in ähnlicher Weise als Handbuch aufzubereiten wie die ›Tractatus octo‹: In einem nur hier bezeugten Register werden die Predigtthemen gebündelt und mit Seitenangaben versehen am Ende der Sammlung aufgelistet.20 Bei der Corpuszusammenstellung beider Sammlungen erweist sich der Redaktor indes als einer, dessen gestalterisches Interesse keineswegs nur auf die von Nikolaus gelieferten Vorlagen beschränkt bleibt. In den ›Tractatus octo‹ fügt er ergänzend zwei kleinere Kapitel aus den Predigten des zeitgenössischen Wiener Gelehrten Konrad Ülin von Rottenburg hinzu.21 Die Quelle der an das Ende des Kapitels ›Von der Liebhabung Gottes und des Nächsten‹ plazierten Predigt über den Eigenbesitz im Kloster ist unbekannt.22 In den ›Jahrespredigten‹ zieht der Redaktor neben Konrad Ülin Predigten eines weiteren, in der Forschung bisher nicht beachteten zeitgenössischen Wiener Universitätsprofessors, Johannes Fluk (Fluck, Flukch) von Pfullendorf, als Vorlage von Einzelpredigten sowie als Ergänzung zu Predigten des Nikolaus heran. Johannes Fluk wurde 1389 in die Matrikel der Universität Wien eingetragen. In den Jahren 1392–1394 und 1397–1399 ist er als magister actu regens der Artistenfakultät belegt, 1398 und 1409 war er deren Dekan und insgesamt achtmal Konsiliar des Dekans. Den theologischen Doktorgrad erlangte er 1413 und war jeweils 1416, 1417 und 1418 Dekan der theologischen Fakultät; Rektor der Universität war er 1409 und 1413. Seit 1411 war er außerdem, wie auch Nikolaus von Dinkelsbühl und Konrad Ülin, Kanoniker bei St. Stephan in Wien. 1431 nahm er am Basler Konzil teil. In den Universitätsakten wird er bis 1433 erwähnt, als Pfarrer von Perchtoldsdorf (Niederösterreich) ist er 1423–1434 nachweisbar. Sein Todesdatum ist 1436.23 Neben zahlreichen kleineren, z. T. lateinischen Einschüben sind nach Ausweis der Handschrift W1 auch zwei größere Textstücke von Johannes Fluk aufgenommen: Als Ergänzung der Eucharistiepredigt wird eine Textpassage zu den vier Arten des Eucharistieempfangs mit der Angabe magister Johannes Flukch (W1, 103r) eingeleitet; diesem Abschnitt folgen, ebenfalls Ex lectione magistri Johannes Flukch (W1, 103v), dreizehn Flüche auf diejenigen, die das Altarsakrament unwürdig empfangen (W1, 103v–105r). Von der Predigt zum 1. Sonntag nach Dreikönig heißt es im Rubrum von W1 (385v): Ein wenig 20

Aus den mit genauen Blattangaben versehenen Querverweisen geht hervor, daß der Schreiber der Hs. W1 auch ein Exemplar der ›Tractatus octo‹ zur Verfügung hatte und von dort evtl. auch die Anregung zum Register bezog. 21 S. THOMAS HOHMANN, Konrad Ülin von Rottenburg, 2VL V, Sp. 256–259. 22 Nach MENHARDT [Anm. 15], S. 24–30, hat Nikolaus von Dinkelsbühl die Predigt selbst verfaßt; diese wäre die einzige von ihm überlieferte originär deutsche Predigt. Berücksichtigt man die Souveränität, mit der der Redaktor ansonsten Zusatzquellen heranzieht, muß die Verfasserschaft dieser Predigt noch offenbleiben, bis die Quellenüberprüfung abgeschlossen ist. 23 Zu Johannes Fluks Wirken vgl. JOSEPH ASCHBACH, Geschichte der Wiener Universität, Wien 1865, Reg. S. 611 u. passim; Die Matrikel der Universität Wien, Bd. 1, Wien 1956, S. 30; Acta facultatis artium universitatis Vindobonensis. 1385–1416, hg. v. PAUL UIBLEIN, Graz usw. 1968, Reg., passim; Die Akten der Theologischen Fakultät der Universität Wien, Bd. 1, (1396–1509), hg. v. PAUL UIBLEIN, Wien 1978, Reg., passim; DERS., Mittelalterliches Studium an der Wiener Artistenfakultät (Schriftenreihe des Universitätsarchivs 4), Wien 1987, S. 49, Anm. 40.

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der auslegung vnd hat predigt maister Hannis Flukch ein tail. Welcher Teil von Fluk stammt, konnte noch nicht festgestellt werden. Eine Untersuchung der, soweit ich sehe, bisher völlig unerforschten Überlieferung der Predigten Fluks steht in unserem Projekt noch aus. Einige seiner lat. Predigten sind z. B. in einer großen Sammelhandschrift (Wien, ÖNB, Cod. 3746) mit Predigten zahlreicher weiterer Wiener Gelehrten, etwa Heinrichs von Langenstein, des Nikolaus von Dinkelsbühl, Thomas Ebendorfers und Johannes Geuss’, mitüberliefert. Nach Ausweis der Fakultätsakten [Anm. 23] hat er mehrere Universitätspredigten gehalten.

Für die letzte Predigt des Jahreszyklus, die Predigt zur Kirchweih (Lc 19,1–10), greift der Redaktor auf die Auslegung des Nikolaus von Gorran OP (1210–1295) zurück.24 Mit einer vom Anspruch auf Gelehrsamkeit zeugenden Akribie werden die Zusatzquellen vom Redaktor angezeigt; wird eine Passage jedoch manchmal ohne Autorangabe mit dem Vermerk extra sermonem versehen, dürfte der Zusatz von ihm selbst, vielleicht unter Berücksichtigung anderer Schriften des Nikolaus, stammen.25 Bei der Behandlung der von Nikolaus stammenden Texte vermerkt er sogar die nur gesprächsweise aufgenommenen Gedanken des maisters gesondert (vgl. oben S. 183). Bemühung um Authentizität und gestalterische Eigenständigkeit sind auch die wichtigsten Merkmale der Übersetzungsleistung des Redaktors. Das oberste Ziel, dem er die Vorlagentreue unterordnet, sind Eindeutigkeit der dargebotenen Inhalte und ihre Nachvollziehbarkeit durch seine Adressaten, die, wie etwa bei Ulrich von Pottenstein und Thomas Peuntner, neben nichtlateinkundigen Geistlichen (vor allem Nonnen) auch verstanden layen waren.26 Zu diesem Zweck sind Auslassungen, Kürzungen und Straffungen, aber auch klärende Erweiterungen der Vorlage notwendig und erlaubt. Auch auf der Textebene zielt der Redaktor auf eine anspruchsvolle Darbietung der Lehre ab. Er beläßt alle Autoritätenangaben in ihrer lateinischen Form und fügt ansonsten gelegentlich kleine Textpassagen zunächst auf Latein, dann in der Übersetzung ein; bei Bibelzitaten ist dies die Regel. Eventuelle Schwierigkeiten bei der Vermittlung theologischer Inhalte kommentiert er freimütig, wie der folgende Passus aus der Pfingstpredigt zeigt: vnd wie wol die gancz drivaltichait chumpt zu dem menschen, so aigent es die heilig geschrift doch zu dem heyligen geist von vil sach wegen, die man den layn dewscht, das sy es möchten versten, nicht gesagen chan, aber in latein ist es gar schon ausgericht (Sh1, 178vb). 24

Überschrift: Exposicio gorre (Sh1, 391ra), Registereintrag von W1 (441v): Jtem das ewangelium an dem chirchbeich tag dasselb hat nicht gemacht maister Nyclas sunder der Gorra. Zu Nikolaus von Gorran vgl. 2LThK VII, Sp. 986; THOMAS KAEPPELI O.P., Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi, Bd. 3, Rom 1980, S. 165–168. 25 Nach HOHMANN ([Anm. 12], S. 169f.) hat der Redaktor etwa bei der Predigt zum 1. Fastensonntag die Passage von den 7 Anfechtungen des Teufels wahrscheinlich aus dem Matthäuskommentar des Nikolaus übernommen. 26 So nennt Ulrich von Pottenstein (BAPTIST-HLAWATSCH [Anm. 19], S. 2,11) bekanntlich die Adressaten seines katechetischen Werks. Die Bezeichnung möchte ich indes auch für die Adressaten des Redaktor-Werks beanspruchen, denn entgegen HOHMANN, der die Sammlungen in erster Linie als »Modellpredigten« für Priester sieht ([Anm. 3], Sp. 1061), sind m. E. durchaus auch Laien als Adressaten anvisiert, wie Handschriften aus Laienbesitz nahelegen.

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Das kritisch-erläuternde Vermittlungsverfahren des Redaktors manifestiert sich vor allem im souveränen Umgang mit der Materie. Die zahlreichen kleinen und größeren Ergänzungen, die er mit extra sermonem- oder ganz präzisen Quellenangaben versieht, enthalten zumeist erläuternde Beispiele oder zusätzliche Quästionen, die das behandelte Thema erhellen. In der Predigt zum 4. Sonntag nach Ostern etwa, einer Auslegung von Io 16,5–14, in der Jesus den Jüngern die Ankunft des Hl. Geistes voraussagt, fügt der Redaktor eine extra sermonem-Passage hinzu, die die innertrinitarische Bewegung mit drei Arten des Gebärens zu erklären versucht (Sh1, 153vb), die Nikolaus an dieser Stelle nicht behandelt.27 Die Bemühung des Redaktors um Eindeutigkeit kann zuweilen sogar als leise Kritik an Nikolaus erscheinen, wie ein Beispiel aus dem Kapitel zur Hochmut (›Tractatus octo‹) zeigt: Nikolaus von Dinkelsbühl präsentiert die zwölf Staffeln der Hochmut und der Demut in e i n e m Textpassus kunstvoll ineinandergeschachtelt. Hierbei verliert der maister jedoch, wie der Redaktor scheinbar kritisch bemerkt, die jeweils auf- und absteigende Ordnung der Staffeln aus den Augen, d. h., er setzt deren Kenntnis voraus und verzichtet zunächst auf die konsequente Darstellung, wobei er die Staffeln der Demut in absteigender Reihenfolge präsentiert. Dem Redaktor scheint die ordentliche Präsentation der von St. Benedikt und St. Bernhard stammenden Staffeldarstellungen jedoch so wichtig, daß er sie nochmals separat in der richtigen Ordnung mit folgenden Begründungen aufführt: vnd am aufsteigen der staffel der diemuetichait sol pehalten werden ain ordnung die da widerwertig ist der ordnung die der maister gehabt hat da er die staffel erczelt hat, also das der xij staffel an der zal als er sye erczelt hat, seye an dem aufsteigen der erst vnd der xj sey der ander vnd der x sey der dritt vnd also gleiche auff hin (Sh2, 87ra/b); die Wiederholung der Bernhardschen Staffeln wird mit der Überschrift eingeleitet: Nun von den xij e staffeln der hochfart ein afrung (Sh2, 88ra). Schlägt man jedoch die entsprechende Stelle im Autograph des Nikolaus nach, so zeigt sich, dass dieser mit den Wiederholungen genauso verfahren ist. Die Stellungnahmen des Redaktors sind demnach rein vom Darstellerischen, nicht vom Inhaltlichen her bedingt.28 Ein aufschlußreiches Beispiel für die kürzende Auswahltechnik des Redaktors bietet die Eucharistiepredigt zum antlas tag (Gründonnerstag) der Jahrespredigtsammlung. Erst 1431 hat Nikolaus einen Zyklus von fünf Eucharistiepredigten verfaßt und gehalten.29 In der ersten Predigt behandelt er die Wandlung selbst, die körperliche und geistige Wirkung und die spirituale Bedeutung der Eucharistie sowie den Laienkelch, in der zweiten die Gründe der Eucharistie, in der 27

Die Quelle konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Vgl. Wien, ÖNB, cod. 4354, 65v–66r. Ganz auszuschließen ist jedoch nicht, daß Nikolaus die Korrekturen erst auf Anregung aus der Übersetzungsarbeit hinzufügte. Zu den 12 Staffeln der Demut nach St. Benedikt vgl. RUDOLF HANSLIK, Benedicti regula (CSEL 75), Wien 1960, cap. VII, S. 39–52; zu den 12 Staffeln der Hoffart nach St. Bernhard vgl. S. Bernardi Abbatis De gradibus humilitatis et superbiae tractatus, II. De duodecim gradibus superbiae, PL 182, Sp. 957– 972. 29 Vgl. MADRE [Anm. 5], S. 245–249. 28

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dritten ihre Wesensbestandteile und Wunder, in der vierten die Voraussetzungen und Früchte des Eucharistieempfangs, in der sechsten dessen Häufigkeit und Nutzen sowie die Vorschriften zur Eucharistiefeier. Aus diesem Predigtstoff greift der Redaktor einzelne Themen auf, die er für wichtig erachtet, wobei er seine Predigt dreiteilig gestaltet: der Hauptpredigt An dem antlas tag von dem sacrament des alters (Sh1, 120va–125ra) folgen zwei Ergänzungen: Nach ein wenig vom sacrament (Sh1, 125ra–127va) und Von der hewtigen hochtzeit stet hernach mer gescriben (Sh1, 127va–129va). Insgesamt verwertet der Redaktor alle fünf lateinischen Predigten des Nikolaus, strukturiert sie aber neu. Die Hauptpredigt schöpft aus der ersten, vierten und fünften Predigt des Zyklus, die erste Ergänzung aus der dritten und zweiten; der letzte Teil geht auf Johannes Fluk zurück.30 Die Wandlung selbst erklärt der Redaktor in drei Punkten mit knappen, klaren Worten31 und erläutert sie mit zwei von Konrad Ülin entnommenen Beispielen (nach Quellenangabe in W1, 97r) und einem Gleichnis des Nikolaus selbst, den er extra sermonem erzählt haben soll (Sh1, 121va). Die von Nikolaus ausführlich dargelegten vier Gründe zur Ablehnung des Laienkelchs – Verschüttungs- und Entehrungsgefahr durch Ungeschicklichkeit, Gefahr eines Mißverständnisses der Wandlung, Entehrungsgefahr durch lange Bärte und Krankheiten der Laien, und die aus all diesen resultierende Nutz- und Fruchtlosigkeit des Laienkelchs (A, 182r–183r) – streicht er stark zusammen. Möglicherweise will er den Laienkelch, der durch die Hussitenbewegung heftige theologische Diskussionen ausgelöst hatte, für seine Adressaten nicht allzu ausführlich thematisieren. Nach einem knappen historischen Überblick über die Häufigkeit des Sakramentsempfangs (Nikolaus von Dinkelsbühl, 5. Eucharistiepredigt, A, 202r) legt der Redaktor das Hauptgewicht der Predigt auf den kasuistischen Teil: in genauer Übereinstimmung mit Nikolaus (4. Eucharistiepredigt, A, 193r–195r) präsentiert er die Voraussetzungen des Sakramentsempfangs, von erforderlicher Nüchternheit über eventuelle Fleischreste in den Zähnen bis hin zur Erkenntnis der Todsünden. Der zweite Teil der Predigt ergänzt die theologischen Grundlagen durch Erläuterung des Wunders der Eucharistie (3. Eucharistiepredigt, A, 191v–192r; 190v) und der Gründe für die Einsetzung vor der Passion (2. Eucharistiepredigt, A, 188r–189v). Der von Johannes Fluk übernommene dritte Teil behandelt schließlich die (bei Nikolaus fehlenden) vier Arten des Sakramentsempfangs und die den unwürdigen Empfänger treffenden 13 maledictiones (nach Ps 68,23–29). 30

Der Zyklus der Eucharistiepredigten ist nicht als Autograph erhalten. Zum Vergleich habe ich den Cod. II.1.2° 176 der UB Augsburg (= A), 181r–208v, herangezogen. Falls dem Redaktor dieser auf 1431 datierte Zyklus (vgl. Anm. 6) und nicht eine Vorstufe dessen vorlag, was vor einer Überprüfung weiterer lateinischer Handschriften nicht auszuschließen ist, wäre dies ein neuer terminus post quem für seine Arbeit an den ›Jahrespredigten‹. Die Eucharistie hat Nikolaus außerdem im Traktat ›De sacramentis‹ (1420, s. MADRE [Anm. 5], S. 97f. und in der ›Lectura Mellicensis‹ 1421–1424, s. ebd., S. 99–125), ausführlich behandelt. 31 Die Erklärung des Redaktors entspricht nur sehr vage der des Nikolaus am Anfang der ersten Predigt (A, 181r–182r).

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Die Eucharistiepredigt dokumentiert sowohl den souveränen Umgang des Redaktors mit seinen Quellen als auch seine praktisch-seelsorgerische Vermittlungsweise: Zunächst legt er ein solides theologisches Fundament, wenn auch nicht in der Ausführlichkeit der Vorlage, um sich dann vor allem der vom Apostel Paulus jedem Christen auferlegten selbständigen Prüfung vor dem Abendmahl (Probet autem seipsum homo, I Cor 11,28), d. h. den kasuistischen Fragen des Nüchternheitsgebots und der Gewissensprüfung, gründlich und erschöpfend zu widmen; zur Illustration und Vervollständigung zieht er geeignetes Material aus dem engsten Umkreis des maisters heran. UTA STÖRMER-CAYSA hat das 1. und 4. Gebot aus dem Dekalogteil der ›Tractatus octo‹ eingehend analysiert. Sie konnte einerseits aufzeigen, wie sehr der Redaktor um Eindeutigkeit der Lehre bestrebt war, indem er unterschiedliche theologische Positionen zu harmonisieren versuchte und das von Nikolaus bewußt in der Schwebe Gelassene durch Heranziehung von kirchlichen Normen und Traditionen fundierte. Andererseits, so das Fazit STÖRMER-CAYSAs, strebte der Redaktor durch die Übernahme komplizierter scholastischer Ableitungsstrukturen seiner Vorlage an, Modelle dafür zu schaffen, »wie sich ein volkssprachiger Benutzer Normen selbst herleiten kann, wenn er sich einer einzelnen Situation gegenübersieht«.32 Als ein solches Modell kann auch die oben vorgestellte Eucharistiepredigt gelten. Im Vergleich mit anderen Werken mit einem ähnlich enzyklopädischen Anspruch, etwa Ulrichs von Pottenstein Katechismus-Summe, fanden die beiden Werke des Nikolaus-Redaktors großen Zuspruch. Zweifellos sprachen solche Mammutwerke nicht ein ebenso breites Publikum an wie die kleinen katechetischen Schriften, von denen zahlreiche im 15. Jahrhundert im Umlauf waren. Immerhin sind von den ›Tractatus octo‹ dreizehn, von den ›Jahrespredigten‹ acht mehr oder weniger vollständige Textzeugen überliefert. Nimmt man die Einzelpredigtüberlieferung hinzu – besonders beliebt waren die Fasten- und die Eucharistiepredigt –, erhöht sich die Zahl auf insgesamt 36 Textzeugen. Beide Sammlungen sind sowohl im Laienbesitz als in Frauen- und Männerklöstern bezeugt. Beachtenswert sind die z. T. mit Initialschmuck und Illustrationen versehenen prächtigen Großfoliohandschriften im Besitz von wohlhabenden Wiener Bürgern, von denen auch sonst Beziehungen zur ›Wiener Schule‹ bekannt sind. In solchen Handschriften werden zugleich die persönlichen statusträchtigen Bildungsinteressen, die Teilhabe am wissenschaftlichen Ruhm der eigenen Universität und selbstverständlich auch die private Frömmigkeit durch vorgezeigten Bücherbesitz dokumentiert. In Corpus- und Texttradierung fällt, von Lienhart Peugers Textbearbeitung33 abgesehen, nur eine Gruppe von vier Handschriften besonders auf, in der eine zielgerichtete Corpus- und Textrevision stattfindet: Eine Auswahl kasuistisch 32 33

UTA STÖRMER-CAYSA [Anm. 13] S. 384. Überliefert in: Melk, Stiftsbibliothek, Codd. 1865 u. 705, s. FREIMUT LÖSER, Peuger, Lienhart OSB, 2VL VII, Sp. 534–537, hier Sp. 535.

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angelegter Themenpredigten aus beiden Sammlungen wird zu einem neuen kompakten Werk vereint, das vom Corpusaufbau her dem Normenbuchansatz des Redaktors Rechnung trägt. Die Predigttexte dagegen, die hier durchgehend leicht bearbeitet sind, werden durch völlige Entlatinisierung vom wissenschaftlichen Anspruch des Redaktors befreit.34 Was die Vermittlung der Lehren des maister Nikolaus betrifft, so waren die kompakteren Traktate Thomas Peuntners wesentlich erfolgreicher als die Großwerke des Redaktors. Peuntners meistgelesenes Werk, ›Von der Liebhabung Gottes‹, das genau wie das entsprechende Kapitel des Redaktors auf ›De dilectione Dei‹ des Nikolaus aus den ›Tractatus octo‹ beruht, ist in 70 Handschriften bezeugt, aber auch seine anderen Werke – fast allesamt zu Themen, die auch der Redaktor behandelte – fanden breiteren Zuspruch. Zweifelsohne sind diese unterschiedlichen Überlieferungszahlen wesentlich durch das schiere Volumen der dargebotenen Lektüre bedingt, das in der Herstellung natürlich einen beachtlichen Kostenfaktor ausmachte. Für die von der Notwendigkeit der Laienunterweisung überzeugten Gelehrten sowie für die Vermittler ihrer Werke in der Volkssprache wird der finanziell-praktische Aspekt als Grund für das gleichzeitige Erproben verschiedener Bearbeitungsstrategien jedoch kaum allein ausschlaggebend gewesen sein. Es ging den beiden Vermittlern, dem Redaktor und Peuntner, auch eindeutig um unterschiedliche Rezeptionsformen ihrer Werke. Die ›Tractatus octo‹ des Redaktors waren, wie ich oben darlegte, als umfassendes Gewissensbuch konzipiert und mit einem Register versehen, das zum Nachschlagen verschiedener Themenbereiche je nach Bedarf ermutigte. Thomas Peuntner aber verlangte in seiner Vorrede zum ›Büchlein von der Liebhabung Gottes‹ mit Nachdruck eine genau entgegengesetzte Lesehaltung: Aber ich beger von allen menschen, die di materig weschawent das si sew nicht gechling noch zuckund vber lesend noch vnordenlichen jeczund hinden jeczund vorn noch allein ainen tail, sunder das si sei genzleichen ordenleichen vnd wol wedechtigkleichen von tag zu tag, mit vleiß durch schawen. So hoff ich das got do von müg gelobt werden vnd ein mensch an seinem lebn mug hailsamlichen gestifft werden.35 Diese Leseempfehlung liest sich gleichsam als Warnung vor der vom Redaktor nahegelegten Benutzungsart. Daß das Lesepublikum die Anweisung Peuntners dennoch nicht immer gehorsam befolgte, soll als Beispiel für die Relativität allen pädagogischen Bemühens hinzugefügt werden: Ausgerechnet in dem Überlieferungszweig, dem der ›Brief des Kartäusers‹ an die swester Cristina (SCHNELL [1984] [Anm. 4], S. 282–285) vorangestellt ist, in dem der unbekannte Kartäuser das Büchlein in höchsten Tönen lobt und dessen mehrmalige Lektüre anmahnt, schreibt dieser an den Anfang des von ihm Zu dieser Gruppe gehören München, BSB, Cgm 1151 (vgl. KLAUS BERG, Der tugenden buo ch. Untersuchungen zu mhd. Prosatexten nach Werken des Thomas von Aquin [MTU 7], München 1964, S. 218–224); Salzburg, Nonnberg, Ms. 28 D 4 und Ms. 28 D 2 (vgl. SCHNELL [1984] [Anm. 4], S. 100–105 u. 216–219); Karlsruhe, Bad. LB, Hs. Donaueschingen 295. 35 SCHNELL (1984) [Anm. 4], S. 290, 37–42. 34

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für das Büchlein eigens erstellten Registers: Libste swester Cristina, ... das du dester behender vinden mügst zu lesen was materig du wöllest dorumb so hab wir diß obgeschriben Register oder tafel gemacht vber diß büchlein dir zu nucz vnd allen den die diß puchlein werden lesen, denn der groß maister der diß puchlein hat zu deutsch gemacht zu Wien der hat kein Register darüber gemacht vnd das hat villeicht von kurcz wegen getan (SCHNELL [1984] [Anm. 4], S. 50). Dem Kartäuser, der das Büchlein oft überlesen zu haben glaubwürdig beteuert, wird die eindringliche Mahnung des Autors entgangen sein; ein Teil der Überlieferung des Peuntnerschen Büchleins wird jedenfalls von da an mit einer im Sinne des Autors falschen Leseanleitung tradiert.36 Die jeweils vorgesehene Art der Benutzung leitet sich aber letztlich natürlich von den unterschiedlichen Vermittlungsstrategien her. Während der Redaktor das schwerfällige, wenn auch für seine Zielsetzung unentbehrliche scholastische Herleitungsprinzip und den lateinisch-gelehrten Apparat der Vorlage beibehält, gelingt es Peuntner, die Materie ohne größere Verluste am Informationsgehalt in eine neue, sich von der Vorlage zunehmend verselbständigende Form der Vermittlung umzuwandeln. Die absichtsvolle Entfernung von der lateinisch-universitären theologischen Tradition und Hinwendung zu einer eingängigen Aufbereitung einer schwierigen Materie wird sicherlich auch ein Hauptgrund für den größeren Erfolg Peuntners gewesen sein, denn für viele potentielle Leser waren die Redaktor-Werke wohl schlichtweg mit gelehrtem Apparat überfrachtet. Die Tatsache, daß in der Überlieferung oft in Ergänzung zu Peuntners Werken Einzelpredigten zu den von ihm nicht behandelten Themen aus den Predigtsammlungen des Redaktors herangezogen wurden, zeigt jedoch, daß die Bildungsstrategien der ›Wiener Schule‹ den Bedürfnissen des anvisierten Publikums weitgehend entsprachen. Aus dem gewaltigen Angebot der zur Selbstpastoration der illitterati aufbereiteten Schriften wählten diese mit Bedacht und in kluger Kombination das je Wichtige, einander Ergänzende aus und stellten somit wiederum neue Werkcorpora zusammen. Eine Universität, die die inzwischen mündiger gewordenen verstanden layen ernst nahm, verwirklichte damit eines der wichtigsten Ziele der Kirchenreform in membris.

Die in Anmerkung 39 angesprochene Quellenproblematik ist inzwischen geklärt; eine direkte Vorlage der Predigt wurde gefunden. Auch die Zahl der Textzeugen (S. 190) hat sich erhöht. Dies alles wird in meiner demnächst erscheinenden Arbeit zum Nikolaus von Dinkelsbühl-Redaktor dargelegt. 36

Zur Diskrepanz von didaktischer Intention und Rezeption vgl. HELMUT PUFF, Exercitium grammaticale puerorum. Eine Studie zum Verhältnis von pädagogischer Innovation und Buchdruck um 1500, in: Schule und Schüler im Mittelalter. Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts, hg. von MARTIN KINTZINGER, SÖNKE LORENZ u. MICHAEL WALTER, Köln usw. 1996, S. 411–439.

Anke Wrigge/Falk Eisermann

Der Nürnberger Pfarrer und Prediger Albrecht Fleischmann († 1444)

I. Biographie Anno domini 1444. Feria quinta Cinerum, obiit venerabilis Magister Albertus Fleischmann, Ekelheimensis, Plebanus hujus Ecclesiae, quam rexit per XLVII. annos cujus anima requiescat in pace.

Mit diesen Worten erinnerte ein Epitaph im Ostchor von St. Sebald an Albrecht Fleischmann, der fast ein halbes Jahrhundert und damit den größten Teil seines Lebens Pfarrer der wichtigsten Kirche Nürnbergs war.1 Zu seinen Lebzeiten entwickelte sich Nürnberg unter Führung des Patriziats zu einer der bedeutendsten Städte im Reich. Der Rat verstand es, wirtschaftliche Macht mit königsnaher Politik zu verbinden und sich gerade die luxemburgischen Könige zu verpflichten, die sich häufig in Nürnberg aufhielten und die Stadt zum Zentrum des Reichs machten.2 Die gesellschaftliche Stellung des Pfarrers von St. Sebald als einem der führenden Geistlichen der Stadt bot zahlreiche Möglichkeiten und Tätigkeitsfelder, die angesichts der engen Verbindung von Stadt- und Pfarrgemeinde über die rein pastoralen Angelegenheiten hinausgingen. Albrecht Fleischmann hat, wie viele seiner Nachfolger, von diesen Möglichkeiten in großem Umfang Gebrauch gemacht. Geboren wurde Fleischmann um 1364 in Eggolsheim, einem Marktflecken in der Nähe von Forchheim, etwa auf halbem Weg zwischen Bamberg und Nürnberg.3 Sein Name, der bayerischen Ursprungs ist und sich bis heute gerade auch 1

Das Epitaph ist nicht erhalten, vermutlich ging es mit der Zerstörung des Ostchors im Jahr 1945 verloren; die Inschrift hier nach ANDREAS WÜRFEL, Diptycha ecclesiae Sebaldianae das ist: Verzeichnuß und Lebensbeschreibungen der Herren Prediger Herren Schaffer und Herren Diaconorum, Nürnberg 1756, S. 27 (dort fälschlich ›1744‹ als Todesjahr angegeben, wohl Lesefehler). – Der vorliegende Beitrag beruht wesentlich auf: ANKE WRIGGE, Studien zu dem Nürnberger Prediger Albrecht Fleischmann († 1444), Staatsexamensarbeit (masch.) Göttingen 1989. 2 Vgl. HELMUT MÜLLER, Die Reichspolitik Nürnbergs im Zeitalter der luxemburgischen Herrscher, Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 58 (1971), S. 1–101 (im folgenden wird für dieses Jahrbuch die Abkürzung MVGN gebraucht). 3 Das ungefähre Geburtsjahr errechnet sich aus seinem Bildungsgang. Über das durchschnittliche Alter bei Studienbeginn und das Promotionswesen (mit Bezug auf Prag) vgl. PETER MORAW, Die Universität Prag im Mittelalter, in: Die Universität Prag, München 1986, S. 9–134, hier S. 63–78. – Fleischmanns Lebensdaten stellen zusammen: WÜRFEL [Anm. 1]; GEORG ANDREAS WILL, Nürnbergisches Gelehrtenlexikon IV, Nürnberg/Altdorf 1758, S. 404f.; FRIEDRICH WACHTER, General-Personal-Schematismus der Erzdiözese Bamberg 1007–1907, Bamberg 1908, Nr. 2522; JOHANNES KIST, Die Matrikel der Geistlichkeit des Bistums Bamberg 1400–1556 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, IV. Reihe, 7), Würzburg 1955–1965, Nr. 1655.

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in Nürnberg erhalten hat, weist auf eine bürgerliche Herkunft. Daß er über die Jahre hinweg seiner Familie in Eggolsheim verbunden blieb, zeigt die Nachricht über einen Jahrtag, den er bereits im Februar 1419 gemeinsam mit seiner Schwester für sich und seine Angehörigen in St. Martin, der Pfarrkirche von Eggolsheim, gestiftet hatte.4 Darüber hinaus ist nichts von seiner Familie bekannt, und es bleibt auch ungewiß, wo er seine erste Ausbildung erfuhr. Um 1380 begann er in Prag das Studium an der Artistenfakultät. Zu den bedeutendsten Lehrern an der dortigen Universität gehörten neben Heinrich Totting von Oyta auch Konrad von Soltau, Johannes Marienwerder und Matthäus von Krakau.5 Nach vermutlich zwei bis drei Studienjahren wurde Fleischmann 1382 unter anderem von Konrad von Soltau examiniert; nach etwa zweieinhalb weiteren Studienjahren hatte er im Februar 1385 das Lizentiat und damit die Vorstufe zur formellen Promotion zum Magister erreicht.6 Wahrscheinlich hat er das Studium in Prag mit diesem höchsten Grad der Artistenfakultät abgeschlossen, aber eine Qualifikation über das Lizentiat hinaus ist nicht nachweisbar. In den zeitgenössischen Quellen wird er als ›Meister‹ oder ›Magister Albertus‹ tituliert, einen Doktortitel führte er nicht.7 Die erste Station seiner kirchlichen Laufbahn war ein Kanonikat in Eichstätt, das ihm am 12. November 1389 vom eben neu gewählten Papst Bonifaz IX. verliehen wurde.8 Gut eineinhalb Jahre später bestätigte ihn der Papst als Rektor der Pfarrei Schlicht in der Diözese Regensburg, die Fleischmann einen Monat zuvor durch den Bamberger Bischof Lamprecht von Brunn übertragen worden war.9 Spätestens vor der Übernahme dieses Amtes wird er die kirchlichen Weihen empfangen haben. Das Amt in Schlicht blieb eine Übergangsstation: Bereits 1393 verlieh ihm Lamprecht die Pfarrei St. Sebald in Nürnberg.10 Allerdings konnte Fleischmann diese nicht sofort übernehmen, da Streitigkeiten zwischen Bamberg und dem Nürnberger Rat einerseits und ein alter Rechtsstreit zwischen seinem Vorgänger Wolfram Dürr und Konrad Sauer, dem Pfarrer der Landpfarrei Poppenreuth, andererseits komplizierte rechtliche Verhältnisse geschaffen 4

Vgl. KIST [Anm. 3], Nr. 1655. Vgl. MORAW [Anm. 3], S. 79–90, hier S. 87f. 6 Vgl. Monumenta Historica Universitatis Carolo-Ferdinandeae Pragensis, Bd. 1: Liber Decanorum Facultatis Philosophicae Universitatis Pragensis (1367–1585), Prag 1830, S. 207 und 226. Fleischmann besaß auch eine Handschrift mit einem Werk Konrads von Soltau, wie aus dem Verzeichnis seiner Bücherschenkung an St. Sebald – dazu s. u. – hervorgeht; vgl. Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, Bd. 3/3, bearb. von PAUL RUF, München 1939 (im folgenden: MBK), S. 682–685, hier S. 683 Z. 4f.: Item super prima parte psalterii Soltaw. 7 In den oben unter Anm. 3 genannten Nachschlagewerken wird ihm der Titel eines Doktors des Kirchenrechts wohl zu Unrecht beigelegt. 8 Vgl. Repertorium Germanicum. Verzeichnis der in den Registern und Kameralakten vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien vom Beginn des Schismas bis zur Reformation. Bd. 2: Urban VI., Bonifaz IX., Innocenz VII. und Gregor XII.1378–1415, bearb. von GERD TELLENBACH, Berlin 1933, Sp. 52. 9 Vgl. ebd. 10 Vgl. ebd., Sp. 52f. 5

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hatten. Diese sollen hier kurz skizziert werden, da sie St. Sebald im Kräftespiel zwischen dem Bamberger Bischof, der Kurie und dem Rat der Stadt Nürnberg zeigen – eine Konstellation, in die sich der jeweilige Pfarrer einzuordnen hatte. St. Sebald war ursprünglich Filialkirche von St. Peter in Poppenreuth und blieb es rechtlich wohl bis in die 1390er Jahre, obwohl der Rektor der beiden Pfarreien seinen Sitz längst an die viel bedeutendere Sebaldskirche verlegt hatte.11 Diesen Umstand nutzte Konrad Sauer, damals Altarist an St. Sebald; er berief sich darauf, daß der damalige Pfarrer Wolfram Dürr die Pfarrei unter dem Titel St. Sebald erhalten hätte, und ließ sich die aus seiner Sicht vakante Pfarrei Poppenreuth 1379 im Namen des Papstes übertragen. Aus dieser Situation entstand ein Rechtsstreit, der zum größten Teil an der Kurie ausgetragen wurde und seinen Abschluß erst im Jahr 1386 in einem Unionsdekret Urbans VI. fand, in dem der Papst den Bitten des Nürnberger Rates um Wiederaufhebung der erst 1383 verfügten Trennung der Pfarreien entsprach.12 Nicht nur in dieser Angelegenheit verwandte sich der Rat beim Papst für ›seine‹ Pfarrei, sondern er versuchte mit Hilfe der Kurie vor allem, Einfluß auf die Besetzung der Pfarrstellen zu gewinnen. In diesem seit etwa der Mitte des 14. Jahrhunderts geführten Kampf mit dem Bamberger Bischof um das Patronats- und Besetzungsrecht an den beiden Nürnberger Pfarrkirchen erreichte der Rat in einem ersten Schritt, daß mit der päpstlichen Verordnung einer Residenzpflicht für die Pfarrer an St. Sebald und St. Lorenz die traditionelle Bindung der Pfarrämter an das Bamberger Domkapitel gelöst wurde.13 Aufgrund dieser Verordnung betrachtete die Stadt Wolfram Dürr, der als Bamberger Domherr und Generalvikar der Residenzpflicht nicht nachkam, als amtsenthoben und sah in Konrad Sauer den Rektor von St. Sebald/Poppenreuth. In Bamberg hatte man das Vorgehen der Stadt allerdings nie gebilligt und übertrug daher auch nach Dürrs Tod im Jahr 1393 die Pfarrei an Fleischmann. Weil auch Sauer, der weiterhin als Pfarrer beider Kirchen geurkundet hatte, 1394 starb, blieb eine Konfrontation aus;14 auch scheint der Rat gegen Fleischmann, der wie Sauer Eichstätter Kanoniker war, keine Einwände gehabt zu haben. Jedoch erreichte Fleischmann erst im Juni 1396 zusammen mit der Verleihung eines Stiftskanonikats an St. Jakob in Bamberg die päpstliche Bestätigung als Pfarrer von St. Sebald.15 Er wurde also erst 1396 in dieses Amt eingeführt und gab noch im gleichen Jahr die Pfarrei in Schlicht auf.16 Daß es Fleischmann dabei nicht nur um die einträgliche Pfründe einer hochdotierten Pfarrei ging,17 zeigt das Engagement, mit dem er von Anfang an 11

Vgl. EMIL REICKE, Stadtgemeinde und Stadtpfarrkirche der Reichsstadt Nürnberg im 14. Jahrhundert, MVGN 26 (1926), S. 1–110, hier S. 20–38. 12 Vgl. JOSEF KRAUS, Die Stadt Nürnberg in ihren Beziehungen zur Römischen Kurie während des Mittelalters, MVGN 41 (1950), S. 1–154, hier S. 10–17. 13 Vgl. ebd., S. 13. 14 Vgl. ebd., S. 13f. 15 Vgl. Repertorium Germanicum 2 [Anm. 8], Sp. 52f. 16 Vgl. ebd.; JOHANN LOOSHORN, Geschichte des Bistums Bamberg, Bd. 3, München 1891, S. 279f. 17 Die Einträge in den Salbüchern von St. Sebald machen deutlich, daß das Einkommen dieser

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für St. Sebald eintrat. Wie seine Vorgänger Albert Krauter und Konrad Sauer förderte er die Sebaldsverehrung, die im Zusammenhang mit dem Aufstieg der Stadt seit 1380 spürbar zunahm, nach Kräften.18 Nach seinem Amtsantritt wurden im Jahr 1397 zunächst die Gebeine des (erst 1524 päpstlich approbierten19) Heiligen in einen neuen Silberschrein gebettet, der auf dem Hochaltar aufgestellt wurde. Der Schädel wurde vermutlich bei dieser Gelegenheit in das Kopfreliquiar gefaßt. In den folgenden Jahrzehnten entstanden eine Sebaldsstatue, die mit den Wappen des dänischen und französischen Königshauses auf die zwischen 1380 und 1385 entstandene deutschsprachige Sebaldslegende Bezug nahm, sowie ein Wandteppich, der an Festtagen als ›stumme Predigt‹ rund um das Sebaldgrab gehängt wurde.20 Die deutsche Legende Es was ain kunek wurde anscheinend bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts ins Lateinische übertragen und zu der Vita Si dominum umgestaltet. Ob Fleischmann daran in irgendeiner Weise beteiligt war, ist nicht nachzuweisen, zudem wurde die lateinische Vita wohl nicht in Nürnberg verfaßt.21 Auch an anderer Stelle setzte sich Fleischmann für seine Pfarrei ein und verhinderte mit seiner kompromißlosen Haltung jede Abspaltung vom Pfarrsprengel. Dies wird deutlich in der Auseinandersetzung um die Errichtung einer Pfarrei in Wöhrd, einem im Pfarrsprengel von St. Sebald gelegenen Dorf vor den Toren Nürnbergs. Begonnen hatte der Streit bereits unter Wolfram Dürr, und zwar mit dem Bau einer Kapelle in dem burggräflichen Wöhrd, gegen den Dürr ebenso wie später Fleischmann Widerspruch an der Kurie einlegte.22 Die Burggrafen Johann und Friedrich von Nürnberg, die zu vermitteln versuchten, blieben genauso erfolglos wie Jahre später die Stadt Nürnberg, denn nachdem Wöhrd 1427 in den Besitz der Stadt übergegangen war, zeigte auch der Rat Interesse an einer eigenständigen Pfarrei in Wöhrd, konnte aber gegen Fleischmanns Widerstand nichts ausrichten.23

Pfarrei überdurchschnittlich hoch war. Daher erscheint es realistisch, wenn im Jahr 1430 im Bistum Bamberg die Plebane an St. Sebald und St. Lorenz auf je 500 Gulden veranschlagt wurden (vgl. DIETRICH KURZE, Der niedere Klerus in der sozialen Welt des späteren Mittelalters, in: Festschrift für Herbert Helbig, hg. von KNUT SCHULZ, Köln/Wien 1976, S. 273–305, hier S. 291f.; vgl. auch KARL SCHLEMMER, Gottesdienst und Frömmigkeit in der Reichsstadt Nürnberg am Vorabend der Reformation, Würzburg 1980, S. 78). Denselben Eindruck vermitteln die Einträge in den Salbüchern der beiden Pfarreien: Staatsarchiv Nürnberg, Salbücher 1 und 2; vgl. auch ERIKA BLEICH, Eine Stadtkirche vor der Reformation. Studien zum letzten Salbuch der Kirche St. Sebald in Nürnberg, Magisterarbeit (masch.), Göttingen 1985. 18 Zum Sebaldskult vgl. ARNO BORST, Die Sebalduslegenden in der mittelalterlichen Geschichte Nürnbergs, Jahrbuch für fränkische Landesforschung 26 (1966), S. 19–178, hier S. 74–81. 19 Zu Sebalds Kanonisierung vgl. KRAUS [Anm. 12], S. 39f. 20 Vgl. BORST [Anm. 18], S. 76f. 21 Vgl. ebd., S. 70–75. In seiner Bibliothek befand sich keine Sebaldslegende (vgl. MBK [Anm. 6]). 22 Vgl. Repertorium Germanicum 2 [Anm. 8], Sp. 53; Monumenta Zollerana. Urkundenbuch zur Geschichte des Hauses Hohenzollern, Bd. 6, hg. von RUDOLPH FRHR. VON STILLFRIED u. TRAUGOTT MÄRCKER, Berlin 1860, Nr. 57. 23 Vgl. KRAUS [Anm. 12], S. 16f. und SCHLEMMER [Anm. 17], S. 65–68.

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Albrecht Fleischmann hat sich also für die Belange seiner Pfarrei durchaus eingesetzt, nutzte aber darüber hinaus seine Stellung auch zu anderen, über das lokale Umfeld hinausreichenden Tätigkeiten. Während der ganzen Zeit als Pfarrer von St. Sebald stand er in engem Kontakt mit dem Bischof von Bamberg. 1399 erwirkte er im Auftrag des resignierten Bischofs Lamprecht an der Kurie die Bestätigung des neugewählten Bischofs Albrecht, Graf von Wertheim.24 Für diesen war er dann ebenso tätig wie für Friedrich III. von Aufsess, der Albrecht 1421 auf dem Bamberger Bischofsstuhl nachfolgte. Dies heißt konkret, daß er Gesandtschaften übernahm, den Bischof bisweilen begleitete oder vertrat, als sein Zeuge fungierte und wahrscheinlich eine beratende Funktion innehatte, die sich aber in den Quellen nicht niederschlägt.25 Als bischöflicher Rat wird er nur unter Bischof Friedrich in den Jahren 1422 und 1424 erwähnt.26 Im Jahr 1424 verfaßte er auch den Entwurf einer öffentlichen Erklärung des Bischofs zu den nach Nürnberg überführten Reichskleinodien,27 und 1431 war er als Friedrichs Vertreter an Verhandlungen mit König Sigismund um die geistliche Gerichtsbarkeit in Nürnberg beteiligt.28 Fleischmann reiste nicht nur im Auftrag des Bamberger Bischofs, sondern übernahm auch erstmals Anfang Mai 1401 eine Gesandtschaft im Auftrag König Ruprechts.29 Möglicherweise gaben die guten Verbindungen zu Bischof Albrecht von Wertheim den Ausschlag, ihm eine Reihe wichtiger Gesandtschaften anzuvertrauen,30 Voraussetzung dürfte jedoch gewesen sein, daß mit dem Bischof, dem Burggrafen Friedrich VI. von Nürnberg und dem Rat der Stadt alle Mächte, 24

Vgl. LOOSHORN [Anm. 16], S. 510f. Vgl. ebd., Bd. 4: Im Jahr 1404 wird er zusammen mit fünf anderen Geistlichen als Treuhänder der verstorbenen Pfarrers von St. Lorenz erwähnt (S. 35); 1415 ist er als Vertreter des erkrankten Bischofs Albrecht in Konstanz (S. 105); 1423 ist er in Begleitung Friedrichs in Kärnten, im Jahr darauf wird er als Zeuge genannt (S. 189 und S. 178). 26 Vgl. LOOSHORN [Anm. 16], Bd. 4, S. 184f.; SIEGFRIED BACHMANN, Die Landstände des Hochstiftes Bamberg. Ein Beitrag zur territorialen Verfassungsgeschichte, Goslar 1962, S. 77. 27 Vgl. MARTIN WEIGEL, Dr. Conrad Konhofer. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte Nürnbergs, MVGN 29 (1928), S. 169–297, hier S. 259; weiterhin: Nürnberg – Kaiser und Reich. Ausstellung des Staatsarchivs Nürnberg, 20. September bis 31. Oktober 1986 (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns, Bd. 20), Neustadt/Aisch 1986, darin bes. GÜNTHER SCHUHMANN, Die Reichsinsignien und Heiltümer (S. 32–49), GERHARD RECHTER, Die ›Ewige Stiftung‹ König Sigismunds von 1423 (S. 50–56), und FRANZ MACHILEK, Die Heiltumsweisung (S. 57–70, Fleischmann genannt S. 61); JULIA SCHNELBÖGL, Die Reichskleinodien in Nürnberg 1424–1523, MVGN 51 (1962), S. 78–159; JÖRG K. HOENSCH, Kaiser Sigismund. Herrscher an der Schwelle zur Neuzeit, Darmstadt 1996, S. 309f. (ohne Erwähnung Fleischmanns). 28 Vgl. Regesta Imperii XI. Die Urkunden Kaiser Sigmunds, Bd. 1, hg. von WILHELM ALTMANN, Innsbruck 1896–1900, Nr. 8740. 29 Vgl. Deutsche Reichstagsakten unter König Ruprecht, hg. von JULIUS WEIZSÄCKER, Bd. 4 (Deutsche Reichstagsakten Bd. 4/5), Nachdruck Göttingen 1956, S. 345, Nr. 291 u. S. 349–354, Nr. 294–297. Über Fleischmann als Rat König Ruprechts vgl. PETER MORAW, Beamtentum und Rat König Ruprechts, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 116 (1968), S. 59–126, hier S. 111; DERS., Kanzlei und Kanzleipersonal König Ruprechts, Archiv für Diplomatik 15 (1969), S. 428–531, hier S. 501–503. 30 Die Grafen von Wertheim gehörten von Anfang an zu den treuesten Anhängern Ruprechts, wurden jedoch in den engsten Kreis der königlichen Berater nur ausnahmsweise aufgenommen (vgl. MORAW, Beamtentum [Anm. 29], S. 71f. 25

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mit denen Fleischmann in Verbindung stand, Ruprecht – und später auch Sigismund – unterstützten.31 Während seines zweiten Aufenthalts in Nürnberg ernannte Ruprecht Fleischmann zu seinem Rat und sandte ihn zum Bischof nach Lüttich und an den französischen Hof.32 Unter anderem wurde er mit dem Auftrag nach Frankreich geschickt, die Königin Isabeau, deren Vermittlung Ruprecht mehrfach in Anspruch nahm, vor den Aktivitäten des Herzogs von Orle´ans zu warnen und sie zu bitten, eine Heirat des Dauphins mit einer Tochter des Herzogs zu verhindern.33 Im Sommer 1401 reiste Fleischmann, jetzt im Rang eines Protonotars, nach Venedig und anschließend nach Rom, um den Italienzug Ruprechts vorzubereiten.34 Mit dem Titel des protonotarius wollte der König vermutlich seine Gesandten ehren und zugleich die Bedeutung ihrer Missionen unterstreichen; er wurde verdienten Diplomaten als Auszeichnung und Förderung verliehen, eine Verbindung Fleischmanns zu Ruprechts Kanzlei hat aber nie bestanden.35 Nach 1402 ist Fleischmann nicht mehr beim König nachzuweisen, und anscheinend nahm er erst 1410 nach Ruprechts Tod wieder aktiv an der Reichspolitik teil. Analog entwickelten sich dann seine Beziehungen zu König Sigismund, der offenbar ebenso wie sein Vorgänger daran interessiert war, den einflußreichen Geistlichen an sich zu binden. Auch Sigismund erhob zu Beginn seiner Regierungszeit am 31. August 1411 Fleischmann von Ungarn aus zum Protonotar.36 Der Kontakt zum König könnte durch Burggraf Friedrich VI. vermittelt worden sein, der Fleischmann bereits am 2. Oktober 1410, gleich nach der Doppelwahl Josts von Mähren und seines Vetters Sigismund,37 beauftragt hatte, mit der Stadt Nürnberg über eine Anerkennung Sigismunds zu verhandeln.38 Im Juli 1411 begleitete Fleischmann den Burggrafen nach Frankfurt, 31

Zur Rolle Nürnbergs in der Politik König Ruprechts und zur Bedeutung des Burggrafen vgl. MÜLLER [Anm. 2], S. 53–66; zum Verhältnis zwischen Burggraf Friedrich VI. und Ruprechts Nachfolger Sigismund vgl. HOENSCH [Anm. 27], S. 466f., S. 470f., S. 481 u. ö. 32 Vgl. Reichstagsakten 4 [Anm. 29]; Regesten der Pfalzgrafen bei Rhein 1214–1508, Bd. 2: Regesten König Ruprechts, bearb. von Graf Lambert von Oberndorff. Nachträge, Ergänzungen und Berichtigungen zum 1. und 2. Band, Namen- und Sachregister, bearb. von MANFRED KREBS, Innsbruck 1939, S. 58, Nr. 834 u. S. 57f. Nr. 831–833. In diesen Urkunden wird Fleischmann als secretarius bezeichnet, was für Ruprechts Kanzlei gleichbedeutend ist mit consiliarius (vgl. MORAW, Beamtentum [Anm. 29], S. 82). 33 Vgl. Reichstagsakten 4 [Anm. 29], S. 350f., Nr. 296. 34 Vgl. ebd., Bd. 4, S. 436f., Nr. 362f., S. 28–33, Nr. 10–14 u. Bd. 5, S. 386–388, Nr. 283f.; OBERNDORF/KREBS [Anm. 32], S. 78, Nr. 1160f. u. 1163. 35 Vgl. MORAW, Kanzlei [Anm. 29], S. 502f. u. S. 506. 36 Vgl. ebd., S. 502; Regesta Imperii XI [Anm. 28], Nr. 121. Während seiner Zeit als römischer König dienten Sigismund zahlreiche Kleriker »als Schreiber, Notare, Sekretäre, Sendboten, Räte und Ärzte« (HOENSCH [Anm. 27], S. 477), ebenso Persönlichkeiten aus Patriziat und Bürgerschaft süddeutscher Städte (vgl. ebd.). 37 Vgl. ebd., S. 148–154. 38 Vgl. Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigismund, 1. Abt.: 1410–1420, hg. von DIETRICH KERLER (Deutsche Reichstagsakten, Bd. 7), Nachdruck Göttingen 1956, S. 51f., Nr. 35; MÜLLER [Anm. 2], S. 66f.; SABINE WEFERS, Das politische System Kaiser Sigmunds (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte, Bd. 138 = Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches, Nr. 10), Stuttgart 1989, S. 23: »Friedrich griff mit Fleischmann die legitimierende Kraft der Kontinuität auf, die den Dynastienwechsel überdauerte«.

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wo Sigismund nach Josts Tod (18. Januar 1411) mit allen kurfürstlichen Stimmen zum deutschen König gewählt wurde.39 So ist es verständlich, daß der Rat auf Fleischmann zurückgriff, als die Stadt in den Verhandlungen mit dem König über die Bestätigung der städtischen Privilegien auf Schwierigkeiten stieß. Zusammen mit den Ratsherren Sebald Pfinzing und Erhard Schürstab reiste er im Februar 1412 nach Ungarn an den Königshof, jedoch blieb auch diese Gesandtschaft erfolglos.40 Fleischmann stand also mit König Sigismund in Kontakt und war wahrscheinlich auch unmittelbar für ihn tätig, doch lassen sich hierfür keine eindeutigen Belege beibringen. Gut belegt ist hingegen die Verbindung zum Burggrafen Friedrich VI. von Nürnberg, die dieser selbst in einer Schenkungsurkunde hervorhob. Im Mai 1412 schenkte er Fleischmann und der Pfarrei St. Sebald auf ewige Zeiten den fünften Teil eines Gartens am Tiergärtner Tor aus Dank für sölch merkenliche dinst, die vns der Ersam Albrecht Pfarrer czu sant Sebalt czu Nurmberg, vnser lieber geuater, nemlich in des Allerdurchleuhtigsten fürsten vnd herren, hern Sigmunds Römischen vnd czu Ungern etc. königs in seiner küre czu Frankfurt, An seinem hof in Vngern, In seiner Botschaft czu dem Pabst vnd anderswo vnd in andern sachen getreulich getan hat.41 Dies ist wohl die erste, auf jeden Fall aber die letzte Zuwendung der Burggrafen an St. Sebald.42 Während seiner zahlreichen Reisen mußte Fleischmann die Pfarrei einem Stellvertreter überlassen. Bereits im Januar 1400 hatte er vom Bamberger Bischof eine Dispens von der Residenzpflicht erhalten,43 und es ist nicht bekannt, daß der Nürnberger Rat irgendwann dagegen protestiert hätte. Vielmehr nutzte die Stadt Fleischmanns Beziehungen: 1402 reiste er erstmals im Nürnberger Auftrag an die römische Kurie,44 in den Jahren 1412 – siehe oben – und erneut 1414 zu König Sigismund, 1434 schickte man ihn zum Bischof nach Bamberg.45 Die Anzahl der Belege ist dabei weniger aussagekräftig als die Tatsache, daß sie sich über Fleischmanns gesamte Amtszeit als Pfarrer von St. Sebald verteilen. Demnach stand er während dieser ganzen Zeit mit dem Rat in Kontakt. Auch suchte man über die Botschaftsreisen hinaus bei ihm Rat und Unterstützung. So priesen die Ratsherren Sebald Pfinzing und Peter Volkmaier die freundliche Hilfe, die ihnen Albrecht Fleischmann in Speyer 1414 habe zuteil werden lassen.46 Zwei Jahre später bedankte sich der Rat mit einem Geschenk bei dem vom 39

Vgl. LOOSHORN [Anm. 16], Bd. 4, S. 98. Vgl. Reichstagsakten 7 [Anm. 38], S. 166–169, Nr. 121; Regesta Imperii XI [Anm. 28], Nr. 206a; MÜLLER [Anm. 2], S. 67–69. 41 Monumenta Zollerana [Anm. 22], S. 96, Nr. 87. 42 Vgl. BORST [Anm. 18], S. 79. 43 Vgl. KIST [Anm. 3], Nr. 1655. 44 Vgl. KRAUS [Anm. 12], S. 15. 45 Vgl. PAUL SANDER, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs. Dargestellt aufgrund ihres Zustandes 1431–1440, Leipzig 1902, S. 536. Seit etwa 1434 wird er im Zusammenhang mit Gesandtschaften nicht mehr erwähnt; vermutlich zwang ihn sein fortgeschrittenes Lebensalter, auf größere Reisen zu verzichten. 46 Vgl. Reichstagsakten 7 [Anm. 38], S. 197 u. Anm. 2, Nr. 139; es ist nicht bekannt, in wessen Auftrag sich Fleischmann in Speyer aufhielt. 40

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Konstanzer Konzil heimkehrenden Fleischmann dafür, daß er die dort anwesenden Nürnberger Gesandten unterstützt habe.47 Mit anderen Worten: Fleischmann wurde, was für die Pfarrherren von St. Sebald und St. Lorenz nicht ungewöhnlich war, von der Stadt als Ratskonsulent eingesetzt.48 Erst nach 1450 wurde es üblich, dieses Amt nur noch an graduierte Juristen zu verleihen. Da in späterer Zeit auch die Pfarrer und Pröpste fast durchweg gelehrte Juristen waren, etwa Fleischmanns Nachfolger Konrad Leubing und Johann Lochner, blieb diese Verbindung zwischen Rat und Pfarreien bestehen.49 Es bleibt ein weiterer Bereich, in dem Fleischmann nicht nur im Auftrag geistlicher oder weltlicher Größen Aktivitäten entfaltete, sondern auch als Theologe angesprochen war: die Reformkonzilien von Konstanz und Basel. Im Vorfeld des Konstanzer Konzils beteiligte er sich im Oktober 1414 an einer öffentlichen Disputation mit Johannes Hus, der auf der Reise nach Konstanz in Nürnberg Quartier bezogen hatte.50 In der vierstündigen Debatte, an der auch der Pfarrer von St. Lorenz und ein Kartäuser mitwirkten, fanden Hus’ Thesen anscheinend beim Publikum mehr Zustimmung als den Nürnberger Geistlichen lieb war. Hus notierte darüber in einem Brief vom 20. Oktober: Et consideravi, quod M. Alberto, plebano s. Sebaldi, displicuit, quod cives meam sententiam confirmabant. Finaliter omnes magistri et cives steterunt contenti.51 Im Februar 1415 befand sich Fleischmann, vermutlich als Vertreter des erkrankten Bischofs Albrecht, in Konstanz. Er beteiligte sich nachweislich an den Konzilsdisputationen um die causa fidei52 und wurde dort offenbar so geschätzt, daß sich das Konzil in den Verhandlungen über das Vorgehen gegen die Hussiten im Juni 1416 unter anderem auf ihn berief.53 Mit der ungelösten Hussitenfrage wurde Fleischmann als Nürnberger Pfarrer über Jahrzehnte konfrontiert. Die Stadt Nürnberg drohte durch die Hussitenkriege ihre Absatzmärkte im Osten zu verlieren und hoffte daher – zumal alle militärischen Aktionen des Reiches 47

Vgl. ebd., S. 287 u. Anm. 3, Nr. 191: Item 21 guldlein umb ein vergult mischkentlein, das wag ein mark 12 lot 3 quentlein, domit erten die burger desselben jares den pfarrer zu sant sebalt, als er von Constentz vom concilii herheim kam und etwielang außgewesen was. 48 Vgl. FRIEDRICH ELLINGER, Die Juristen der Reichsstadt Nürnberg vom 15. bis 17. Jahrhundert, in: Reichsstadt Nürnberg, Altdorf und Hersburg. Genealogica, Heraldica, Juridica (Freie Schriftenfolge der Gesellschaft für Familienforschung in Franken 6), Nürnberg 1954, S. 130–222, hier S. 132–134. 49 Liste der Ratskonsulenten ebd., S. 162–165; zu Leubing und Lochner vgl. KIST [Anm. 3], Nr. 3911 u. 3991. 50 Zu dieser berühmten Disputation vgl. HERMANN HAUPT, Die religiösen Sekten in Franken vor der Reformation, in: Festgabe zur dritten Säcularfeier der Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg, Würzburg 1882, S. 55–114, hier S. 31. 51 Documenta Mag. Joannis Hus vitam, doctrinam, causam in Constantiensi concilio actam et controversias de religione in Bohemia annis 1403–1418 motas (...), hg. von FRANTISˇEK PALACKY, Prag 1869 (Nachdruck Osnabrück 1966), S. 75f. (Brief 39). 52 Vgl. ebd., S. 311. 53 Vgl. Acta concilii Constantiensis, Bd. 4, hg. von HEINRICH FINKE, Münster 1928, S. 514–519, Nr. 486 (hier S. 519). In Fleischmanns Bibliothek befand sich eine Handschrift mit Konstanzer Konzilspredigten (vgl. MBK [Anm. 6], S. 683 Z. 1), einem tractatus contra Waldenses (ebd. Z. 26) sowie reprobaciones articulorum Hussonis (S. 684, Z. 27f.).

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gegen die hussitischen Heere gescheitert waren – auf eine friedliche Lösung durch das 1431 eröffnete Basler Konzil.54 Wo immer das Konzil bei den Verhandlungen mit den Hussiten Hilfe benötigte, stellte sich der Nürnberger Rat zur Verfügung. In diesem Zusammenhang verhandelte Fleischmann 1432/1433 im Auftrag der Stadt über die Bedingungen für eine hussitische Gesandtschaft an das Konzil in Basel.55 Auf dem Konzil selbst ist er nur im März 1434 nachgewiesen.56 In seinen letzten Jahren hat er offenbar auf reichspolitische Aktivitäten verzichtet oder verzichten müssen, da es seit 1434 keine Belege mehr hierfür gibt. Albrecht Fleischmann starb in hohem Alter am 26. Februar 1444 an einer ›schweren, tötlichen‹ Krankheit.57 Seine Verbindung mit St. Sebald und zugleich seine Wertschätzung der Predigt spiegelt eine von ihm errichtete und mit einem Jahrtag verbundene Stiftung für eine Prädikatur wider. In der Stiftungsurkunde wird hervorgehoben, daß Fleischmann, von seiner sel seligkeit wegen / vmb des willen / das yetzutzeiten / Ein prediger daselbst / das wort gots / dem Volk desterbaß / vnd volligclicher sagen vnd verkunden mug, schon zu Lebzeiten ein Grundstück erworben habe, von dessen Zinserträgen jährlich zwölf Gulden für die Prädikatur und drei Gulden für einen Jahrtag verwendet werden sollten.58 Die Stiftung wurde den Kirchenpflegern von St. Sebald zur Verwaltung übergeben. In der Urkunde finden sich auch genaue Angaben über die Ausrichtung des Jahrtags, zu dessen Sicherung weitere 100 Gulden vorgesehen waren. Außerdem stiftete er 900 ungarische Gulden, die von Treuhändern, Altaristen an St. Sebald, verwaltet wurden, für die Errichtung eines Benefiziums am Johannisaltar.59 Besonders hervorzuheben ist seine Bücherstiftung zugunsten der Pfar54

Vgl. KRAUS [Anm. 12], S. 24f.; MÜLLER [Anm. 2], S. 74f., S. 80–94; FRIEDRICH VON BEZOLD, König Sigmund und die Reichskriege gegen die Hussiten, Teil 3: 1428–1431, München 1877, S. 35–51. 55 Vgl. Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund, 4. Abt., 2. Hälfte 1432–1433, hg. von DIETRICH KERLER (Deutsche Reichstagsakten 10/2), Nachdruck Göttingen 1957, S. 554–559 (Einleitung); S. 589–591, Nr. 354, hier S. 590; S. 960f., Nr. 588. Gemeinsam mit dem Propst von Langenzenn, Peter Imhof, erwirkte Fleischmann in zähen Verhandlungen freies Geleit für die hussitische Gesandtschaft durch die fränkischen Gebiete auf ihrem Weg von Eger nach Basel, vgl. ALFRED WENDEHORST, Propst Peter Imhof und die Anfänge des Augustiner-Chorherrenstiftes Langenzenn, in: Tradition und Geschichte in Frankens Mitte. Festschrift für Günther Schumann, hg. von GERHARD RECHTER, ROBERT SCHUH u. WERNER BÜRGER (Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken 95), Ansbach 1991, S. 33–37, hier S. 36f. 56 Vgl. Concilium Basiliense. Studien und Quellen zur Geschichte des Concils von Basel, Bd. 3, hg. von JOHANNES HALLER, Basel 1900, S. 49. 57 Nürnberg, Staatsarchiv, Rep. 2a V 94/1, Nr. 3255. Zum Todesdatum vgl. das Epitaph (s. Anm. 1) und KIST [Anm. 3], Nr. 1655. 58 Nürnberg, Staatsarchiv, Rep. 8, Nr. 65; zum Erwerb des Grundstücks ebd., Rep. 2c, Nr. 209. Zur Jahrtagstiftung in der Pfarrkirche in Eggolsheim s. o. bei Anm. 4. – Zum Stiftungswesen in Nürnberg vgl. CORINE SCHLEIF, Donatio et Memoria. Stifter, Stiftungen und Motivationen an Beispielen aus der Lorenzkirche in Nürnberg (Kunstwissenschaftliche Studien 58), München 1990; MARTIAL STAUB, Memoria im Dienst von Gemeinwohl und Öffentlichkeit. Stiftungspraxis und kultureller Wandel in Nürnberg um 1500, in: Memoria als Kultur, hg. von OTTO GERHARD OEXLE (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121), Göttingen 1995, S. 285–334.

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rei von St. Sebald, mit der er die Pfarrbibliothek begründete.60 Demzufolge verfügte Fleischmann über eine Sammlung von 104 Codices vor allem theologischen Inhalts, die er im wesentlichen nach seinen Bedürfnissen als Prediger zusammengestellt hatte. Der Besitz einer solch umfangreichen Bibliothek war zu Fleischmanns Lebzeiten eine Besonderheit, zumal nur wenige die finanziellen Möglichkeiten hatten, teure Bücher zu erwerben. Aber die günstige Situation des Nürnberger Buch- und Literaturmarktes bot einem Prediger außergewöhnlich gute Voraussetzungen für den Aufbau eines ausreichenden Handapparates – auch Conrad Konhofer, der 1452 gestorbene Stadtjurist und Pfarrer von St. Lorenz, besaß über 151 Bände.61 In Fleischmanns Fall kommt hinzu, daß seine guten und weitreichenden Verbindungen bei der Beschaffung von Büchern von Nutzen waren. Wohl als Folge seiner gesellschaftlichen Stellung und politischen Bedeutung hatte sich für Fleischmann also ein gewisser Wohlstand eingestellt, der auf dem Einkommen als Pfarrer, den Geldern für die Gesandtschaften62 und vor allem auf den Pfründen beruhte; neben den eingangs erwähnten Pfründen erhielt er, nachdem er 1414 auf das Kanonikat an St. Jakob verzichtet hatte, im Jahr 1417 ein Stiftskanonikat am Neumünster in Würzburg und 1421 ein weiteres an St. Gumbert in Ansbach.63 Seit 1431 verfügte er außerdem über ein Kanonikat an St. Stephan in Bamberg.64 Über das Studium und über die Pfarrei St. Sebald ist Albrecht Fleischmann zu einer einflußreichen Persönlichkeit des öffentlichen städtischen Lebens aufgestiegen, ohne indes sein Amt als Pfarrer und Prediger aufzugeben. Die Pfarrei bildete vielmehr die geographische Basis, zu der er immer wieder zurückkehrte. Seine Biographie ist ein Musterbeispiel für die Verflechtung von städtischem Klerus und städtischer Amtsträgerschaft im späten Mittelalter.

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Nürnberg, Staatsarchiv, Rep. 2a V 89/1, Nr. 2067; WÜRFEL [Anm. 1], S. 15 und S. 47; vgl. auch HANNS HUBERT HOFMANN, Die ›Pfaffenpfründen‹ im Landalmosenamt zu Nürnberg 1540–1550, MVGN 42 (1951), S. 145–170, hier S. 159. 60 Zur Bibliothek von St. Sebald vgl. JOHANN PETZ, Urkundliche Beiträge zur Geschichte der Bücherei des Nürnberger Rates, 1429–1538, MVGN 6 (1886), S. 123–174, hier S. 123 Anm. 3; ELISABETH CAESAR, Sebald Schreyer, ein Lebensbild aus dem vorreformatorischen Nürnberg, MVGN 56 (1969), S. 1–213, hier S. 99ff.; MBK [Anm. 6], S. 676f.; Verzeichnis der in der Kirche und im Pfarrhof befindlichen Handschriften aus dem Jahr 1446 (nach Staatsarchiv Nürnberg, Salbuch 1, fol. 137r–147r), ebd., S. 680–690, Fleischmanns Stiftung ebd., S. 682–685. 61 Vgl. PETZ [Anm. 60], S. 137ff. 62 Die Größenordnung läßt sich nur schwer bestimmen, wird aber erkennbar in dem Betrag, den der Rat für die zweite Gesandtschaft an König Sigismund im Jahr 1412 aufbringen mußte: Item meister Albrecht pfarrer zu sant Sebalt, Sebalt Pfintzing, und Erhart Schurstab wurden gen Ungeren gesant zu unserm kunig von einr gemein bestetigung wegen. die bei 11 wochen auß waren und verzerten 732 lb. novi 5 sh. (Reichstagsakten 7 [Anm. 38], S. 171, Nr. 124). 63 Vgl. Repertorium Germanicum [Anm. 8], Bd. 3: Alexander V., Johann XXIII. und Konstanzer Konzil, bearb. von ULRICH KÜHNE, Berlin 1935, Sp. 96 und Bd. 4: Martin V. 1417–1431, 1. Teilband, bearb. von KARL AUGUST FINK, Berlin 1943, Sp. 29. 64 Vgl. KIST [Anm. 3], Nr. 1655.

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II. Die Predigtnachschriften 1. Die Handschrift Die Nachschriften von Predigten Albrecht Fleischmanns sind in der Handschrift Cent. IV,33 der Stadtbibliothek Nürnberg unikal überliefert.65 Über den Inhalt des Bandes gibt ein Register auf fol. 2r–4v Auskunft, das die Texte der gesamten Handschrift nach dem Kirchenjahr ordnet. Es verzeichnet – mit Blattangabe für jeden Tag – Introitusvers, Epistel und Evangelium sowie an den Sonntagen die dazugehörige Predigt. Die Handschrift enthält Nachschriften von 14 Predigten Fleischmanns (7ra–145va), ein Verzeichnis der Introitusverse von Herrenfastnacht bis zum Samstag nach Pfingsten (148r–158r) und ein Lektionar (164r–281rb), auf 282ra–b wurde von einem späteren Schreiber ein Hymnus nachgetragen. Cent. IV,33 enthält einschließlich einzelner Pergamentblätter 291 Blatt Papier im Format 28,5 x 19 cm. Der Schriftraum beträgt 18,3–19,5 x 12,8 cm und ist in zwei Spalten mit 30 bis 34 Zeilen aufgeteilt. Bis auf den Nachtrag wurde der Band von zwei Schreiberinnen in einer kräftigen Buchkursive geschrieben, und zwar von Kunigund Niklasin und Klara Keiperin im Nürnberger Dominikanerinnenkloster St. Katharina.66 Die Handschrift hat einen alten, schlichten Einband und weist auch innen keinen Schmuck auf; die Ausstattung beschränkt sich auf zweifarbige Lombarden mit Tier- und Pflanzenmotiven sowie rot ausgeführte zwei- bis fünfzeilige Lombarden und Überschriften. Neben der modernen Blattzählung gibt es eine alte Foliierung, die in römischen Ziffern von ›194‹ bis ›470‹ über dem Text steht. Geschrieben wurde der Band im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts, was aus den Lebensdaten der Schreiberinnen (Kunigund Niklasin † 1457), dem paläographischen Befund sowie den Wasserzeichen hervorgeht. Auf dem oberen Blattrand von 2r wurde die Signatur E II eingetragen. Unter dieser Signatur ist die Handschrift auch in dem seit 1455 geführten Bibliothekskatalog von St. Katharina verzeichnet.67 Auf 1v befindet sich der Besitzvermerk, der außer den Namen der Schreiberinnen angibt, daß die Handschrift – wie bereits aus der alten Foliierung ersichtlich – ursprünglich Bestandteil eines umfangreicheren Bandes war. Nach den Einträgen im Bibliothekskatalog gehörten die unter E I-III genannten Texte ursprünglich zu einer Sammlung von Sonn65

Vgl. KARIN SCHNEIDER, Die deutschen mittelalterlichen Handschriften. (Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg, Bd. 1), Wiesbaden 1965 S. 27–32. Angaben, die über die dort gegebene Beschreibung hinausgehen, beruhen auf Autopsie. – Zur Problematisierung der Bezeichnung der in Cent. IV,33 erhaltenen Texte als ›Predigten‹ s. Abschnitt 4. 66 Zur Charakterisierung ihrer Handschriften vgl. SCHNEIDER [Anm. 65], S. XVIf. u. S. XXIX. 67 Vgl. MBK [Anm. 6], S. 596–638, hier S. 604. Zu den Katalogen von St. Katharina vgl. KARIN SCHNEIDER, Die Bibliothekskataloge des Katharinenklosters in Nürnberg und die städtische Gesellschaft. Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. v. BERND MOELLER, HANS PATZE u. KARL STACKMANN (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, 3. F., Bd. 137), Göttingen 1983, S. 70–82, hier S. 71.

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tagspredigten durch das gesamte Kirchenjahr, die von Albrecht Fleischmann an St. Sebald gehalten worden waren.68 Im Text von Cent. IV,33 erscheint sein Name nur einmal, am Ende der Predigt zum ersten Fastensonntag: Und also ist das geschriben uber das ewangely als mans list am ersten suntag in der vasten, als es gepredigt hat maister Allbrecht (16vb). An allen anderen Stellen wird er nur der lerer genannt. Diese in E I-III vorliegende, umfangreiche Sammlung wurde geteilt und die einzelnen Teile mit anderen Texten zu Handbüchern für die Tischlesung zusammengestellt (s. u. bei Abschnitt 4). Im Katalog ist hierzu folgende Dreiteilung angegeben: E I enthielt die Predigten, Introitusverse, Episteln und Evangelien von Advent bis Invocavit (pis auff den weissen suntag), E II daran anschließend bis Trinitatis und E III vervollständigte die Texte des Kirchenjahrs bis zur Adventszeit.69 Der Inhalt von E II stimmt genau zur Angabe des Katalogs: Am Anfang der Handschrift steht der Schluß einer Predigt zum Sonntag vor Fastnacht (7ra–va), dann folgt die Predigt zu Invocavit. Der Zyklus endet mit der Pfingstpredigt (104vb). Während Klara Keiperin ausweislich des Schriftbefunds das Register anlegte und vor allem für den zweiten Teil der Handschrift verantwortlich war, hat Kunigund Niklasin, Buchmeisterin und eine der bedeutendsten Schreiberinnen des Konvents, u. a. die Fleischmann-Texte abgeschrieben. Die Vorlage war dem Katharinenkloster von einer junkfraw Anna Winterin geliehen worden und wurde später an Margareta Scheuerin weitergereicht.70 Die Scheuerin ist schon vor der Reform von 1428 im Kloster bezeugt und wurde 1442 ins Pforzheimer Dominikanerinnenkloster versetzt, das im Jahr darauf durch St. Katharina reformiert wurde.71 Von Anna Winterin ist bekannt, daß sie – abgesehen von der erwähnten Leihgabe – dem Katharinenkloster eine in Cent. IV,16 überlieferte Sammlung anonymer Predigten schenkte oder vererbte; auch diese Predigten sind vielleicht Albrecht Fleischmann zuzuordnen.72 Außerdem ist Anna Winterin als Schreiberin einer vielleicht von einem Nürnberger Dominikaner verfaßten,73 zweibändigen Quaestionensammlung bezeugt, die sich die Nonnen von St. Katharina von den Nürnberger Klarissen ausgeliehen hatten (Cent. IV,30 und Cent. V,5). Sie war also keine Mitschwester und gehörte wohl auch nicht zum städ68

Vgl. MBK [Anm. 6], S. 604. Der Eintrag zu E III ist vermutlich fehlerhaft, weil er angibt, daß dieser Teil der Predigtsammlung ebenfalls mit dem weissen suntag begonnen habe; da E I und E III verloren sind, kann dies freilich nicht überprüft werden. 70 Vgl. MBK [Anm. 6], S. 604. 71 Vgl. SCHNEIDER [Anm. 65], S. XVIII; ANDREW LEE, Materialien zum geistigen Leben des späten 15. Jahrhunderts im Sankt Katharinenkloster zu Nürnberg, Heidelberg 1969, S. 346 u. 368; WALTER FRIES, Kirche und Kloster zu St. Katharina in Nürnberg, MVGN 25 (1924), S. 1–143, hier S. 51f. 72 Vgl. SCHNEIDER [Anm. 65], S. 13–18 und Register S. 503. Eine kursorische Prüfung von Cent. IV,16 ergab, daß Ähnlichkeiten zu Fleischmanns Predigten nach Aufbau und Inhalt unverkennbar sind, jedoch bedürfte eine eindeutige Zuordnung einer eingehenderen Untersuchung. 73 SCHNEIDER [Anm. 65], S. 24f. und S. 66f. Zum vermutlichen Verfasser (nicht Heinrich von Rübenach) vgl. PETER KESTING, Meister Heinrich zu Nürnberg, 2VL III, Sp. 852–854. 69

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tischen Patriziat, muß aber in beiden Konventen als gebildete und geistlich interessierte Frau bekannt gewesen sein, da man durch sie offenbar Texte Nürnberger Geistlicher ins Kloster holte. Vor diesem Hintergrund erscheint es möglich, daß Anna Winterin diejenige war, die Fleischmanns Predigten nachgeschrieben hat. Die Handschrift selbst, bei der es sich ja um den mittleren Teil einer zusammenhängenden Sammlung handelt, enthält keine weiteren Angaben, die über den Überlieferungstyp Auskunft geben könnten. Es läßt sich lediglich vermuten, daß Prediger und nachschreibende Zuhörerin sich als Seelsorger und Gemeindemitglied gekannt haben, eine Konstellation, die für die Predigtüberlieferung nicht ungewöhnlich wäre.74 2. Aufbau, Stil, Quellen a. Die Predigten bestehen in der Regel aus drei Elementen: dem deutschen Perikopentext, einer Vorrede und der Auslegung der Perikope. In der Mehrzahl der Predigten wird das Tagesevangelium vor oder nach der Vorrede vollständig wiedergegeben (es fehlt in fünf von 14 Texten). Nur ausnahmsweise beginnt die Predigt mit einem deutschen Bibelspruch (thema), der der Perikope entnommen ist. Der eigentlichen Auslegung wird eine Einleitung vorangestellt, die ein für die Predigt zentrales Thema in sich abgeschlossen behandelt. In der Auswahl und Gestaltung des Themas ist der Prediger nicht an die Perikope gebunden; da aber die Vorrede die Zuhörer auf die Auslegung vorbereiten soll, sind beide inhaltlich aufeinander bezogen. Der Lehrinhalt ist in beiden Texten weitgehend identisch, allein die Erläuterung von Bedeutung und Funktion des jeweiligen Sonntags bleibt den Vorreden vorbehalten. Der Hauptteil der Predigt besteht aus der Auslegung der Perikope, die in ihrer Abfolge dem Bibeltext entspricht. In den meisten Predigten wird der theologische Gehalt der Perikope abschnittweise kommentiert, und nur wenn die Perikope ein Ereignis zusammenhängend erzählt, geht die Deutung von der Kenntnis des gesamten Textes aus (s. Editionsbeispiel 1). Die kommentierende Auslegung erläutert den Bibeltext und verbindet ihn mit einer einfachen moralischen Unterweisung. Dieselbe Funktion hat die wenig ausgearbeitete tropologische Deutung, die sich immer auf die Heilstaten Christi bezieht (s. Editionsbeispiel 2, S. 223f.). Der entsprechende exegetische Terminus lautet ›geistlich‹: so ist Ihesus gaistlich in dem grab, das ist in der menschen hercz (54vb–55ra). Nur zwei Predigten schließen mit einer conclusio, einer Ermahnung oder Belehrung, die allerdings nicht als Anrede an das Publikum formuliert ist. Einen abweichenden 74

Vgl. PAUL-GERHARD VÖLKER, Die Überlieferungsformen mittelalterlicher deutscher Predigten, ZfdA 92 (1963), S. 212–227, mit Bezug auf das Klostermilieu. Von Hörern bzw. Hörerinnen aus dem Gedächtnis festgehaltene Nachschriften sind verschiedentlich bezeugt, stellen aber dennoch eine »lokal und persönlich eng begrenzte Sonderform der Predigtüberlieferung« dar (ebd., S. 220), die dadurch gekennzeichnet ist, daß die Handschriften »im Umkreis ihrer Entstehung« (S. 219) verblieben sind.

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Aufbau hat nur die sehr ausführliche Pfingstpredigt, in der entsprechend einem scholastischen sermo der Vorrede eine thematische Predigt folgt, die einleitend das Thema durch mehrere Fragen untergliedert:75 So ist hie zu mercken von der götlichen lieb, wie der mensch sich schnell erkenne, ob er got lieb hat und was die götliche lieb würk in dem menschen und wie edel, achtper und hoh ist die götliche lieb (106va–vb). In ihrem zweiten Teil lehnt sich die Auslegung wieder an den Text des Tagesevangeliums an (110ra/b–115va), geht dann aber unmittelbar in die Auslegung der sieben Gaben des Heiligen Geistes über (115va–145va). Es fragt sich, ob man diesen Teil des Textes überhaupt noch zu den Predigten rechnen darf.76 Zwar ist er inhaltlich und stilistisch mit der Pfingstpredigt verbunden, hat aber den Umfang und den Aufbau eines geistlichen Traktats. Möglicherweise wurde der Text in diesem Teil stärker überformt, als man es bei anderen Predigten beobachten kann. Für das gesamte Corpus gilt, daß bei der Niederschrift offenkundig darauf verzichtet wurde, die einzelnen Predigten komplett wiederzugeben. An die Stelle des üblichen Eingangsgebets und der Schlußformel sind stereotype Formeln getreten (und also ist das über das ewangely als mans list am andern suntag nach dem heiligen ostertag, 76va–b), die sicher – ebenso wie überleitende Bemerkungen, die die einzelnen Elemente der Predigt miteinander verbinden – Zusätze der Nachschrift sein dürften. Daneben finden sich kommentierende Einschübe: Und nit mer legt der lerer auß wenn als vil von diesem ewangely, wann noch ist des text vil das denn geschriben stet in disem ewangely (58va–b). Da es sich nicht abschätzen läßt, wie stark Vorrede und Auslegung durch die Niederschrift in ihrer Struktur verändert wurden, kann man die Texte schwerlich einem der bekannten Predigttypen zuordnen.77 Die Aussagen über den Texttyp beschränken sich somit zunächst auf die Feststellung, daß es sich bei den in Cent. IV,33 überlieferten ›Predigten‹ Albrecht Fleischmanns nicht um eine Fortsetzung der klassischen homiliae handelt. Die Bestimmung der textlichen Funktion kann nur über die Gebrauchssituation der Handschrift erfolgen (s. Abschnitt 4). b. Weniger noch als über den Aufbau der Predigten läßt sich über den Stil des Predigers Fleischmann etwas Sicheres aussagen. Die überlieferten Texte können nur als überformte Nachschriften analysiert werden, und es ist nicht zu beweisen, daß diese die stilistischen Eigenheiten des Predigers bewahrt haben. Grund75

Zu den Strukturelementen eines vollständigen sermo um 1400 vgl. GERRIT CORNELIS ZIELEMAN, Das Studium der deutschen und niederländischen Predigten des Mittelalters, in: ›So predigent etelıˆche‹. Beiträge zur deutschen und niederländischen Predigt im Mittelalter, hg. von KURT OTTO SEIDEL (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 378), Göppingen 1982, S. 3–48, hier S. 7f. 76 Auch SCHNEIDER [Anm. 65], S. 31, führt die Auslegung der sieben Gaben gesondert auf. 77 Vgl. etwa die Einteilung von RUDOLF CRUEL, Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, Detmold 1879 (Neudruck Darmstadt 1966), S. 3f., der zwischen Homilien, Textuale, thematischen Sermones und Kollationen unterscheidet; ZIELEMAN [Anm. 75], S. 10–15, fordert die Beschreibung des Predigtschemas nach den Vorgaben der artes praedicandi, doch sperren sich unsere Texte gegen eine solche Zuordnung.

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sätzlich gilt: Schriftlich überlieferte mittelalterliche Predigt ist nicht als mit der mündlich vorgetragenen Form identisch anzusehen.78 Weder war es möglich, einen mündlichen Vortrag in deutscher Sprache wörtlich mitzuschreiben, noch konnte der Stil eines Predigers aus dem Gedächtnis auf das Genaueste wiedergegeben werden. Inwieweit sich im Prozeß der Verschriftlichung die Strukturen der Predigten und die spezifischen Stilformen der Prediger erhalten haben, ist offensichtlich abhängig von den jeweiligen Funktions- und Überlieferungszusammenhängen. Ob bestimmte Eigentümlichkeiten einer Nachschrift auf den Prediger oder den Nachschreiber zurückzuführen sind, läßt sich somit wohl nur selten entscheiden.79 Charakteristisch für die Nachschriften des Cent. IV,33 ist die enge Verknüpfung der Sätze durch Konjunktionen, deiktische Partikel und Hypotaxe. Die gebräuchlichsten Konjunktionen sind das (häufig in Verbindung mit dar umb) und wann, daneben und, aber, seltener auch; die Satzverknüpfung mit aber signalisiert meist nur den Fortgang der Rede, kann jedoch auch adversativ gebraucht werden. Als deiktische Partikel erscheinen in fast jedem Satz also, so und vielfach dar umb. Auffallend ist die Neigung, Satzverknüpfungen zu variieren. Auf diese Weise wird versucht, die komplexe Gedankenführung des Predigers im schriftlichen Nachvollzug wiederzugeben. Nur ausnahmsweise kommen die in Predigten sonst durchaus üblichen Stilformen der Reihung als Syndeton, Asyndeton oder Anaphern vor. Die einzelnen Sätze eines Sinnabschnitts sind durch Vor- und Rückverweise miteinander verbunden, auch wenn dies inhaltlich nicht erforderlich ist. In hypotaktischer Verwendung stehen neben der einfachen Form von Haupt- und Nebensatz mehrfach geschachtelte Sätze und bisweilen komplizierte Konstruktionen, die schwer überschaubar, manchmal auch fehlerhaft sind (Anakoluth): Als da ein pischoff oder süst ein herr, wie er wer, gaistlich oder wertlich, den ot ander lewt befolhen wern, es wer in pistummen oder in pfarren oder in andern emptern, und er het veintschaft, also das man sücht sein aygen persan, e wenn er denn verderben scholt laßen ander leut, die unter im wern, er scholt sich e mit willen geben in tot, den worten das sein arm lewt hin nach mit frid wern (71va–b). Einschübe haben erklärende oder paraphrasierende Funktion, bisweilen wiederholen sie auch nur Bekanntes. Die stereotyp verwendeten explikativen daß-Sätze leiten, häufig mit der Formel das ist, die zumeist bildliche Auslegung ein. Dies ist seit dem hohen Mittelalter ein bewährtes Element der »hochgezüchteten Repetitions- und Parallelismustechnik«80 der volkssprachigen Predigt. Das ist-Sätze gleichen Inhalts werden auch 78

Vgl. ZIELEMAN [Anm. 75], S. 8f.; VÖLKER [Anm. 74], S. 215f.; KURT RUH, Deutsche Predigthandbücher des Mittelalters, in: Beiträge zur Geschichte der Predigt, hg. von HEIMO REINITZER (Vestigia bibliae 3), Hamburg 1981, S. 11–30. 79 Vgl. zu den gegensätzlichen Positionen der Forschung RUH [Anm. 78], S. 14 und DIETER RICHTER, Die deutsche Überlieferung der Predigten Bertholds von Regensburg (MTU 21), München 1969, S. 235. 80 HANS FROMM, Zum Stil der frühmittelhochdeutschen Predigt, Neuphilologische Mitteilungen 60 (1959), S. 405–417, hier S. 408.

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hier über längere Textabschnitte hinweg öfter wiederholt, ganze Satzteile kehren in kurzen Abständen wieder. Ein anderes Mittel der Hervorhebung bestimmter Sachverhalte ist die Verwendung von Parallelismen, die zuweilen auch Antithetisches zum Ausdruck bringen. Entsprechend wird mit zentralen Begriffen verfahren, die leitmotivisch wiederholt werden, so etwa ›freier Wille‹, ›Anfechtung‹; gleiches gilt für die Verwendung der Perikopenteile. Eine vergleichbare Wiederholungstechnik ist auf der lexikalischen Ebene zu finden: Geminatio, Synonymie, zweigliedrige Ausdrücke (schar und menge, nit angesehen noch schawen), Polyptoton, mehrfache Verneinung. Diese und andere formelhafte Verwendungen, besonders im Gebrauch von Attributen, geben den Texten einen ausgesprochen monotonen Charakter. Die selten eingesetzten Latinismen werden sogleich mit Übersetzungen bzw. Erläuterungen versehen. Sprachliche Bilder, Vergleiche, Metaphern und allegorische Auslegungen erscheinen durchweg in sehr reduzierter, konventioneller Form. Die Auslegung bleibt im tropologisch-moralischen und christologischen Bereich. Vorrang hat die stete Wiederholung einprägsamer und gängiger Formeln: In jeder Predigt kommt die Welt als jamertal vor, der Name Jerusalem wird in geläufiger Form als gesicht des frids erklärt. Anreden an das Publikum fehlen völlig. Einzelne Elemente wie rhetorische Fragen, Ausrufe und die Verwendung der ersten Person Plural könnten zwar aus dem Redegestus des Predigers stammen, jedoch sind solche einfachen Figuren in geistlichen Texten allgemein verbreitet. Insgesamt erscheint die Form des mündlichen Vortrags eher zurückgedrängt. Der Text baut nicht auf Lebendigkeit und Variation, um die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu wecken und zu binden, sondern auf Wiederholung. Man wird dies aber weder dem Prediger noch dem Verfasser (bzw. der Verfasserin) der Nachschriften als Nachteil auslegen, denn Repetition ist ein paränetisches Grundprinzip mittelalterlicher Unterweisungstexte. c. Hauptquelle der Predigten sind die Evangelien. Alle Texte gehen von der dem jeweiligen Sonntag zugeordneten Perikope aus, die zumeist am Anfang der Predigt oder nach der Vorrede mit Stellenangabe wiedergegeben wird. Der Text wird nacherzählt, wobei es weniger um eine wortgetreue Wiedergabe als um die Verständlichkeit des Bibelwortes geht. Der Prediger zögerte offenbar nicht, den Bibeltext durch kommentierende Zusätze zu erweitern oder zu konkretisieren oder Parallelstellen aus den anderen Evangelien hinzuzuziehen. Die Perikope wird in Versen, Versabschnitten oder -gruppen in der Predigt erneut aufgenommen und wiederholt: Sie bildet das Fundament der Predigt, auf das die Auslegung aufbaut; die anderen Zitate aus Altem und Neuem Testament belegen und vertiefen diese. Für alle Bibelzitate gilt, daß sie keine reinen Übersetzungen sind, sondern freie, oft bereits kommentierende Paraphrasen, deren oberstes Prinzip die Verständlichkeit ist – bisweilen entfernt sich die Predigt so weit vom Bibeltext, daß sich die entsprechende Stelle nicht mehr nachweisen läßt (s. u. Anm. 137). Einige Male wird das Bibelwort geradezu überzeichnet, um die Plas-

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tizität der Aussage zu erhöhen: Wann spricht Isayas, der prophet [es handelt sich jedoch um eine Paraphrase von Ps 102,15f.]: Des menschen leben ist geleich einer plumen, die da stet auf der wisen, die ist heut schön und grün, aber kumt die hicz der sunnen, so dert er sie zestunden. Und met mans denn ab, so ist sie anders nit wenn heu und gessen sie die tier (36ra). Bibelzitate werden durch Angabe des Verfassers, eventuell des Buchs, gekennzeichnet oder dadurch hervorgehoben, daß Christus bzw. eine andere biblische Figur als Sprecher auftreten. Gelegentlich kommt es zu Irrtümern bei den Kapitelangaben und zu Verwechslungen zwischen den vier Evangelien (85ra zu Gal 5,22f.; 96va zu Io 16,13; 97vb zu Io 3,8; 99rb–va zu Mt 12,47–50 und Lc 8,19–21 u. ö.). Am häufigsten wird das Neue Testament, insbesondere die Evangelien des Matthäus und des Johannes, zitiert; im Fall des Alten Testaments dominieren Psalter- und HoheliedZitate. Außer der Bibel werden selbstverständlich ausgiebig die Kirchenväter, -lehrer und -schriftsteller benutzt und genannt: Neben der gloß, gemeint ist wohl die ›Glossa ordinaria‹ oder die ›Postilla‹ des Franziskaners Nikolaus von Lyra, die zwanzigmal vorkommt, sind Augustinus mit 33, Gregor der Große mit 29 und als jüngste Autorität der 1348 gestorbene Augustiner-Eremit Simon von Cassia mit 26 namentlichen Nennungen vertreten, gefolgt von Bernhard von Clairvaux (15) und Johannes Chrysostomus (12); Thomas von Aquin kommt siebenmal vor, Hieronymus, Beda, Wilhelm von Paris, Origenes, Hrabanus Maurus, Petrus Lombardus und Bonaventura werden zwei- bis fünfmal zitiert, andere wie Cassian und Isidor nur einmal. Es ist schwer, die Dicta im einzelnen in den Werken dieser Autoritäten nachzuweisen, da auch hier die Vorlagen nicht wörtlich übersetzt, sondern frei paraphrasiert und den Bedürfnissen der Predigtsituation entsprechend umgestaltet wurden. Außerdem sind Stellenangaben selten und bisweilen ungenau. Der Prediger zeigt sich seinen Quellen in den zentralen Gedanken und Motiven verpflichtet, die das Konzept seiner Auslegung strukturieren, das er den Zuhörern häufig vorab erläutert und auslegt; jedoch gestaltet er die Durchführung frei, kürzt oder erweitert die Vorlagen und kombiniert sie mit anderen Belegen. Eine unbearbeitete Übernahme eines längeren Textabschnitts aus einer Vorlage kann nirgends nachgewiesen werden. Es ist zu vermuten, daß er einen Großteil der verwendeten Autoritätenbelege nicht unmittelbar aus ihren Schriften zitiert, sondern auf eine der zahlreich in seiner Bibliothek vorhandenen Predigtsammlungen und homiletischen Hilfen zurückgegriffen hat.81 Bemerkenswert ist die häufige Zitation des Simon von Cassia, dessen zwischen 1338 und 1347 entstandenes Hauptwerk, die ›Gesta Salvatoris‹, um 1400 besonders 81

In Auswahl zu nennen sind etwa (nach MBK [Anm. 6]): (S. 682) diverse omelie Origenis super ewangelia (Z. 13), sermones de beata virgine (Z. 21), secunda pars compendii una cum sermonibus (Z. 35), omelie beate Gregorii (Z. 36), sermones de tempore et de sanctis (S. 682 Z. 38-S. 683 Z. 1); (S. 683) sermones concilii Constantiensis (Z. 1), sermones de resurrectione domini (Z. 17f.), sermones ex canticis Bernhardi (Z. 28f.), (S. 684) liber omeliarum et sermonum sanctorum patrum (Z. 4). Dazu tritt ein auf mehrere Bände verteilter Zyklus von Predigten über das Kirchenjahr und anderes mehr.

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im ostmitteldeutschen Raum von Krakau bis Prag und Erfurt und auch in Nürnberg viel rezipiert wurde.82 Da sich die Zitate aber wiederum nur an die ›Gesta‹ anlehnen, ohne wörtlich abgeschrieben zu sein, ist denkbar, daß Fleischmann sich auch hier auf eine sekundäre Quelle, etwa ein Florilegium, gestützt hat. 3. Lehrinhalte Die Vielfalt der von Fleischmann behandelten Themen kann hier nicht ausführlich dargestellt werden. Es dominieren klassische paränetische Inhalte: die Heilige Schrift (der Begriff ›Bibel‹ wird übrigens nur selten verwendet, z. B. 13ra–b, 99ra); Gott und die Trinität, wobei dem heilsbringenden Wirken des Heiligen Geistes große Aufmerksamkeit geschenkt wird; der Mensch und seine immerwährende Gefährdung im Kampf um das ewige Leben; die Sünde und die Frage, wie der Mensch sich von Schuld befreien kann. Im Mittelpunkt aller erhaltenen Predigten stehen, wie es in den Perikopen des Osterfestkreises vorgegeben ist, Leben und Lehre Christi, Kreuztod und Wiederauferstehung. Als Heilsmittel werden die Tugenden, vor allem Glaube, Liebe, Hoffnung behandelt; besondere Aufmerksamkeit widmet Fleischmann auch dem Gebet, über das er ausführlich am Sonntag vor Himmelfahrt in Anschluß an Io 16,23f. predigt (91rb–95va). Die guten Werke, die Prüfungen und Anfechtungen und die Sakramente werden erwähnt, aber nicht besonders thematisiert, auch Maria und die Heiligen kommen insgesamt nur selten vor (s. etwa Editionsbeispiel 2, 76rb). In den Prothemen seiner Predigten spricht Fleischmann auch über die Bedeutung des Kirchenjahrs für die Gläubigen. Er macht immer wieder deutlich, daß jeder Sonntag eine besondere Funktion hat, der die von der Kirche sorgfältig ausgewählten Perikopen entsprechen. In den erhaltenen Predigten spielen natürlich das Osterfest und die vorausgehende Vorbereitungszeit die zentrale Rolle. Schon das Evangelium des letzten Sonntags vor Beginn der Fastenzeit kündigt den Weg zur Passion an und ruft die Gläubigen auf, sich zu dem großen streit der pitern marter unsers lieben herren Ihesus Cristus (...) zu beraiten mit einem püßenden, seligen leben (38rb, die Perikope von Quinquagesima ist Lc 18,31– 43). Dieses Motiv rückt dann am Passionssonntag in den Vordergrund, an dem die heilig cristenheit (...) an hebt mit gesang und mit gepeten in allen ampten und allen tagczeyten (38rb-va), des Leidens Christi zu gedenken. Auf liturgische Besonderheiten der Fastensonntage geht Fleischmann nur einmal ein: Er erwähnt, daß es päpstlicher Brauch ist, an Laetare, dem vierten Fastensonntag, eine ›goldene Rose‹ zu weihen. Dieser Brauch geht vielleicht auf ein römisches Frühlingsfest zurück, an dem die Gläubigen Blumen in den Gottesdienst mitbrachten.83 Fleischmann nennt den Brauch am Schluß der Laetare-Predigt und 82

Vgl. HARDO HILG, Das ›Marienleben‹ des Heinrich von St. Gallen (MTU 75), München 1981, bes. S. 369; ADOLAR ZUMKELLER, Das Ungenügen der menschlichen Werke bei den deutschen Predigern des Spätmittelalters, Zeitschrift für katholische Theologie 81 (1959), S. 265–305, hier S. 285–289.

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deutet die Rose als Allegorie auf Christus (37va–b). In der Vorrede zur Pfingstpredigt rekapituliert er mit Auferstehung, Himmelfahrt und Pfingsten kurz die wichtigsten Stationen der Osterzeit und charakterisiert anschließend die Hauptfeste des Kirchenjahrs: Weihnachten, Ostern und Pfingsten (105ra–va). Insgesamt deutet der Prediger den Ablauf des Kirchenjahrs als kontinuierliche Möglichkeit für die Gläubigen, die Heilstaten Christi feiernd nachzuvollziehen und sich immer wieder neu zu vergegenwärtigen. Fleischmann unterrichtet seine Zuhörer auch über die Predigt bzw. die Aufgaben des Predigers und seines Publikums.84 Die Predigt ist unvergleichbarer Bestandteil des Gottesdienstes, da sie den Gläubigen das Wort Gottes verkündet. Dies geschieht nach dem Vorbild und im Auftrag Christi, der selbst den Glauben gepredigt hat wol vierdhalb jar mit seinem zarten götlichen mund (fol. 70va, s. Editionsbeispiel 2). In der Auslegung von Io 12,13 in der Predigt am Sonntag zu Mittfasten handelt Fleischmann über die Predigt als das ›geistliche Brot‹, mit dem Christus die Gläubigen speist. Die zwölf Körbe stehen für die zwölf Apostel, ein die gelegt ist das über worden prot, das ist die mynniclich süß ler unsers hern Ihesu Cristi (37ra), damit sie es allen Menschen verkünden.85 Aufgabe der Prediger ist es also, Christi Lehre auf der Basis der Heiligen Schrift allen Menschen mitzuteilen und sie zum Glauben aufzurufen: Sie sollen als des hirten hund die Gläubigen vor dem wolf des ungelauben und der totsünd bewahren (71ra, s. Editionsbeispiel 2). Dazu bedürfen sie der göttlichen Gnade, denn ohne die Erkenntnis der Heiligen Schrift, die ihnen durch den Heiligen Geist gegeben wird, können sie den Menschen das Wort Gottes nicht auslegen. In der Predigt am Sonntag zu Mittfasten spricht Fleischmann im Anschluß an die Auslegung von Lc 9,12 auch über die Verwendung heidnischer Schriften in der Predigt: Während die Lehren der Kirchenväter und aller anderen christlichen Autoritäten als sekundärer Predigtinhalt anerkannt sind, dürfen heidnische Schriften oder ander kunst (34ra) nur verwendet werden, wenn sie gut und frum (34rb) sind und dem besseren Verständnis der christlichen Lehren dienen. Prediger und Zuhörer sollen beweisen, daß sie der Predigt würdig sind. Es ist möglich, daß Gott einem Prediger wegen eines unchristlichen Lebens seine Gnade entzieht, so daß er das Volk nicht mehr angemessen unterweisen kann. Auf die gleiche Weise straft Gott den Ungehorsam des Volkes, indem er ihm gute Prediger versagt. Obwohl von den Predigern ein vorbildliches Leben erwartet wird, ist das Zeugnis der eigenen Person für die Predigt nicht wesentlich. Daher dürfen die Menschen die Prediger nicht nach den Werken beurteilen. Sofern diese rechtgläubig sind und uns das leren, das uns zihen und raiczen ist zu der 83

Vgl. ADOLF ADAM, Grundriß Liturgie, Freiburg i. Br. 21985, S. 274 u. JOSEF PASCHER, Das liturgische Jahr, München 1963, S. 93f. 84 Dies ist ein wichtiges Thema in den Prothemen scholastischer Sermones, vgl. JOHANN BAPTIST SCHNEYER, Die Unterweisung der Gemeinde über die Predigt bei scholastischen Predigern (Münchener Universitäts-Schriften. Theologische Fakultät. NF 4), München usw. 1968. 85 Zu ein für ›in‹ s. u. Anm. 119. – Vgl. auch in der Predigt zum zweiten Sonntag nach Ostern die außlegung des ewangelys, unten Editionsbeispiel 2, 70vaff.

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lieb gotes und zu der lieb unsers ebenmenschen (41rb), sollen sich die Gläubigen auch dann an ihre Worte halten, wenn die Prädikanten ihren Lehren selbst nicht gerecht werden. Über diese Frage spricht Fleischmann im Anschluß an Io 8,47 in der Predigt zum Sonntag vor dem heiligen Palmsonntag; er beruft sich dabei auf Gregor den Großen86 und auf Simon von Cassia (41rb-va). Von den Gläubigen wird erwartet, daß sie gern zur Predigt kommen, da sie damit ihre Liebe zu Gott zum Ausdruck bringen. Sie sollen das Gesagte mit innerer Anteilnahme hören und im Herzen bewahren. Die fromme Hingabe an das Gotteswort wird aber erst durch die Tat vollendet, das der mensch das denn an greyff mit dem leben und dar nach würk, als er dann gehört und gemerkt hat die heiligen geschrift (40va); in diesem Zusammenhang betont Fleischmann unter Bezug auf Dt 6,4–8 nochmals nachdrücklich, daß die Vollendung der Predigt in den Werken heilsnotwendig ist. Nur die Christen, die Gottes Wort hören u n d vollbringen, können das ewige Leben erlangen.87 4. Zur Gebrauchssituation der Handschrift Für die Bestimmung der Gebrauchssituation liefert uns die Handschrift Cent. IV,33 selbst mehrere eindeutige Kriterien außerhalb des Textes der Predigtnachschriften. Auf 2r–4v ist das bereits erwähnte Register eingetragen. Es gliedert jedoch nicht den Inhalt des Bandes nach Blattfolge, sondern ordnet die Teile der Handschrift für den entsprechenden Abschnitt des Kirchenjahrs von herrenfasnacht bis zum Sonntag nach Pfingsten kalendarisch unter Angabe von Introitus, Epistel und Evangelium für den jeweiligen Wochentag sowie dem ewangelium mit der predig bzw. der auslegung oder der gloß für die Sonntage; dann werden die Blattzahlen angegeben: Item an dem palmtag dz introit (...) cccxl; die epistel ccclxxvi; dz ewangelium mit der auslegung ccxx. In diesem Fall wird auch noch auf einen Ausschnitt aus einer der vier Passionen am Ende des Lektionars verwiesen: den passion ccccxlviii. Dieses kalendarische Register gibt dem Benutzer also Anweisungen für den Gebrauch und die schnelle Handhabung der Handschrift in einem bestimmten paraliturgischen Zusammenhang. Dabei handelt es sich um die gemeinsame Lektüre, genauer die Vorlesung bei Tisch (lectio und collatio),88 was aus der zwischen 1455 und 1457 niedergelegten ›Anweisung für die Tischlesung‹ aus dem Katharinenkloster hervorgeht.89 Die ›Anweisung‹ verzeichnet, wie man sol 86

›XL Homiliarum in Evangelia‹ I, Hom. 17, in: PL 76, Sp. 1139f. Vgl. auch die Ausführungen in Editionsbeispiel 2, 73rbff. 88 Vgl. BURKHARD HASEBRINK, Tischlesung und Bildungskultur im Nürnberger Katharinenkloster. Ein Beitrag zu ihrer Rekonstruktion, in: Schule und Schüler im Mittelalter. Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts, hg. von MARTIN KINTZINGER, SÖNKE LORENZ u. MICHAEL WALTER (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 42), Köln usw. 1996, S. 187–216. 89 Ausgabe: MBK [Anm. 6], S. 650–670. Die ›Anweisung‹ ist in der Handschrift Cent. IV,79 erhalten, die wie der Text unserer Predigtnachschriften von Kunigund Niklasin geschrieben wurde. Da sie 1457 starb, ist – gegen die Angabe ebd., S. 650 – dieses der terminus ante quem für die 87

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zu tisch und zu collacio lesen durch das gancz ior, das man find verczaichent ein yetliche wochen und tag und fest oder hochczit, was darynnen zu lesen sey. Zur Zuordnung der erwähnten Bücher bemerkt die ›Anweisung‹: Item die pücher sol man erkennen pey den puchstaben und pey der czal, die zu den ersten stent. Item die czal pey den puchstaben bedeut als vil, welches puch ist an der czal. Aber die czal darnach bedeut, als vil pleter daran man suchen sol, das man lesen sol oder will.90 Diese Erläuterung freilich bereitet Schwierigkeiten bei der Zuordnung der zahlreichen mit Signatur aufgeführten Bücher zu den erhaltenen Handschriften. Die Signaturangaben der ›Anweisung‹ stimmen nämlich zumindest teilweise nicht mit den alten Signaturen der Klosterbibliothek überein, wie sie in den Handschriften und im Bibliothekskatalog von St. Katharina dokumentiert sind. Dies ist besonders auffällig, da der Katalog ebenfalls in Cent. IV,79 in direktem Anschluß an die ›Anweisung‹ überliefert ist und größtenteils auch von der Niklasin geschrieben wurde.91 So wird empfohlen, daß man am erst suntag noch dem cristag im E. V. puch, ein predig uber die meß und uber das ewangelio, am V. plat lesen solle.92 Die alte Signatur E V trägt allerdings die heutige Handschrift Cent. IV,29 mit Predigten von Johannes Tauler, und auf Blatt V befindet sich dort keine Predigt, sondern von IIIr-XIv steht das Register.93 Auch die Leseanweisungen zu der Handschrift E IIII, aus der an Trinitatis die epistel (...), das ewangelio der text und ein predig von der heiligen drivaltikeyt zu lesen seien, lassen sich an Cent. IV,16 (= E IV, s. o. S. 204) nicht nachvollziehen, denn dieser Band enthält keine Episteln oder Evangelien, sondern ausschließlich Predigten, die zudem nicht von der Trinität handeln.94 Es ist mithin offensichtlich, daß die Signaturangaben in der ›Anweisung‹ zumindest im Bereich der Signaturengruppe E II bis E V gegenüber denen des Bibliothekskatalogs um eine Ziffer nach oben verschoben sind. Entsprechend finden wir den Cent. IV,33 in der Leseanweisung unter der Signatur E III: E. III. puch, das ewangelio mit der gloß und von den VII goben des heiligen geistz, am cclxxxxii plat soll am heiligen pfingsttag gelesen werden.95 Damit ist natürlich die Pfingstpredigt mit dem angehängten Sieben-Gaben-Traktat gemeint. Der Text beginnt auf 104vb unten, so daß man durch das Aufschlagen von Blatt cclxxxxii (= 105) ›Anweisung‹, vgl. SCHNEIDER [Anm. 65], S. 395. – In der älteren Anweisung von 1429–1431 (MBK [Anm. 6], S. 638–650; Handschrift: Cent. VII,25) ist zwar des öfteren von einem dicken predigpuch (im Gegensatz zu dem dunen predigpuch, das uns von der Winterin ist worden), die Rede, jedoch kann nicht nachgewiesen werden, daß es sich dabei um das Predigtcorpus Albrecht Fleischmanns handelte. Allerdings lassen einige Hinweise dies vermuten: Item an dem palmtag zu dem ersten die meß und epistel. Item danach das ewangelium (an dem dicken puch); ebd., S. 643, Z. 10f. 90 Ebd., S. 651 Z. 16ff. u. 21ff. 91 Vgl. SCHNEIDER [Anm. 65], S. 395. 92 MBK [Anm. 6], S. 652, Z. 31ff. 93 Vgl. SCHNEIDER [Anm. 65], S. 23f. 94 Vgl. ebd., S. 13–18. 95 MBK [Anm. 6], S. 660, Z. 23f.

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sofort den Textanfang findet. Auch der Übergang zwischen Pfingsten und Trinitatis verdeutlicht die Signaturenverschiebung: Bis Pfingsten sollen immer wieder Predigten, Evangelien und Episteln aus E III, von Trinitatis an aber aus E IIII gelesen werden. Auch die selteneren Lesungen aus E II – was eigentlich unsere Handschrift sein müßte – können nicht auf Cent. IV,33 zurückgeführt werden. Es dürfte somit deutlich sein, daß hier eine Umsignierung stattgefunden hat: Die überlieferte Fleischmann-Handschrift Cent. IV,33, die heute die Signatur E II aufweist, trug zuvor die Signatur E III. Sie war Teil einer umfangreichen Predigtsammlung. Nach einer Vermutung BURKHARD HASEBRINKs trug diese gesamte Sammlung zunächst lediglich die Sigle E und wurde später in zwei Bände aufgeteilt, »welche der Tischlesungskatalog als E. III und E. IIII bezeichnet«;96 dann wurde ein dritter Band abgetrennt, der »offensichtlich die erste Gruppe vom ersten Advent bis ausschließlich heren vasnacht, dem Beginn von Kodex Cent. IV,33«97 enthielt. Nun erhielt Cent. IV,33 die Signatur E II und der Eintrag des Bibliothekskatalogs wurde entsprechend korrigiert, was auch daraus hervorgeht, »daß sich die Signaturen der Fleischmann-Bände im Hauptkatalog auf einem (...) eigens neu eingefügten Blatt befinden. Zudem wurde auf diesem eingefügten Blatt eine Korrektur der Inhaltsangabe angebracht, die – belegt durch Tintenspuren auf der gegenüberliegenden Seite – erst nach dem Einkleben getätigt wurde.«98 Fassen wir das Ergebnis dieser etwas mühsam zu schildernden und wohl auch nicht leicht nachzuvollziehenden bibliothekarischen Aktionen zusammen, so ergibt sich, daß die drei Bände von Fleischmanns Postille schließlich die Signaturen E I-III trugen, sie führten somit im Katalog »die Gruppe der Predigtbände an«.99 Doch läßt sich die Tatsache der Umsignierung, wie geschildert, an der Tischlesungsanweisung nicht nachvollziehen, da die ›Anweisung‹ nicht entsprechend geändert wurde. Wahrscheinlich war sie zum Zeitpunkt der Änderung nicht mehr in Benutzung.100 Dennoch läßt die Verzeichnung erkennen, daß die Nachschriften von Fleischmanns Predigten im Katharinenkloster eifrig gelesen wurden: Alle 14 Texte sind an den entsprechenden Sonntagen mit überwiegend korrekten Blattangaben aufgeführt: An dem palmtag: (...) E. III. puch, das ewangelio mit der gloß, am cccxxxiii. [recte: ccxxxiii].101 Die einzige Ausnahme ist die Predigt zum zweiten Sonntag nach Ostern (Editionsbeispiel 2). Sie wird erst 96

HASEBRINK [Anm. 88], S. 206. Solche Aufteilungen lassen sich auch sonst nachweisen, vgl. ebd. Anm. 56 mit Verweis auf ANDREAS RÜTHER/HANS-JOCHEN SCHIEWER, Die Predigthandschriften des Straßburger Dominikanerinnenklosters St. Nikolaus in undis. Historischer Bestand, Geschichte, Vergleich, in: Die deutsche Predigt im Mittelalter. Internationales Symposium am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin vom 3.–6. Oktober 1989, hg. von VOLKER MERTENS u. HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 1992, S. 169–193, hier S. 188. 97 HASEBRINK [Anm. 88], S. 206. Vgl. auch ebd., Anm. 57. 98 Ebd., S. 206. 99 Ebd. 100 Vgl. ebd., S. 207. 101 MBK [Anm. 6], S. 657, Z. 11f.; s. Editionsbeispiel 1. Verschreibungen wie diese, die den Nachweis zusätzlich erschweren, sind häufig in der ›Anweisung‹.

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am darauffolgenden Mittwoch gelesen, da am Sonntag unser kirchwei102 ist und entsprechend eine Kirchweihpredigt aus einer anderen Handschrift zur Lektüre empfohlen wird. Unter der Prämisse, daß die ›Anweisung für die Tischlesung‹ tatsächlich befolgt wurde, läßt sich für jeden beliebigen Textabschnitt des Cent. IV,33 der Gebrauch in der gemeinsamen lectio und collatio im Nürnberger Katharinenkloster nachweisen. Wir wissen also, daß den Dominikanerinnen von St. Katharina in den Jahren nach (und vielleicht auch schon vor 1455) beispielsweise am dritten Sonntag nach Ostern die Nachschrift der Fleischmann-Predigt vorgelesen wurde, die auf Blatt 76vb beginnt.103 Die vollständige Ausschöpfung der hier niedergeschriebenen Texte in den Tischlesungen zeigt an, daß die Handschrift für die Nonnen von großer Bedeutung war.104 Von dieser Bestimmung der Gebrauchssituation ausgehend, ist auch die Gattungsbezeichnung ›Predigt‹ im Hinblick auf die Fleischmann-Texte noch einmal zu thematisieren. Der Bibliothekskatalog von St. Katharina bezeichnet im Bereich der Signaturengruppe E Sammlungen geistlicher Texte verschiedenster Zusammensetzung als predigpuch. Da ›Predigt‹ und ›Traktat‹ auf die gleiche Art rezipiert wurden, spiegelt die heute gebräuchliche Abgrenzung das mittelalterliche Verständnis dieser ›Gattungen‹ nicht wider. Die Grenzen zwischen diesen beiden ›Gattungen‹ waren im mittelalterlichen Vollzug nicht nur fließend, sondern nicht existent. Die Nachschriften des Cent. IV,33 stellen eine Übergangsform dar. Geht man davon aus, daß die Typengruppe ›Predigt‹ durch genau beschreibbare Kriterien bestimmt werden kann,105 so wird man die hier untersuchten Texte nicht mehr als Lesepredigten im strengen Sinn bezeichnen.

III. Kommentierte Edition zweier Predigtnachschriften Editionsprinzipien: Alle Abkürzungen sind aufgelöst. Umlaute, von der Schreiberin mit übergeschriebenem ›e‹ ausgeführt, sind als ›ö‹, ›ä‹, wiedergegeben. Dasselbe Zeichen verwendet sie gelegentlich zur Kennzeichnung des Diphthongs ›eu‹, was hier nicht beibehalten wird. Graphien des ›s‹ sind vereinheitlicht. Anlautendes ›u‹, in Cent. IV,33 stets als ›v‹ geschrieben, wird als ›u‹ wiedergegeben. Satzanfänge sind groß geschrieben, ebenso die Eigennamen, die 102

Ebd., S. 659, Z. 9. Lectio und collatio aus deutschen Handschriften gab es natürlich schon vor der Aufzeichnung der ›Anweisung‹, die sicher alte Gewohnheiten festschreibt. Durch die Reform des Katharinenklosters im Jahr 1428 und besonders durch die Ordinatio des Ordensgenerals Bartholomäus Texery vom 20. Januar 1429 wurden »ausdrücklich die Lesungen über Tisch am Morgen, Abend und zur Collacion« festgeschrieben (MBK [Anm. 6], S. 639); vgl. ausführlich HASEBRINK [Anm. 88], S. 202–212 und passim zur Bedeutung der Lesung für das innerklösterliche Bildungswesen; zum Umfang der Leseabschnitte vgl. ebd., S. 207. – Zur Reform des Konvents zusammenfassend FRIES [Anm. 71], S. 22ff. 104 Zu weiteren (Predigt-)Handschriften, die in der Lesung in St. Katharina viel benutzt wurden, vgl. HASEBRINK [Anm. 88], S. 207–212. 105 So ZIELEMAN [Anm. 75], S. 8f. 103

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auch gegen die Gewohnheit der Schreiberin, ›de‹ und ›von‹ mit dem Herkunftsnamen zu verbinden, normalisiert wurden, also wurde z. B. Symon Dekassius geändert zu Symon de Kassius. Die in der Handschrift bisweilen zur Hervorhebung von bestimmten Begriffen und auch zur Kennzeichnung von Sinn- und eventuell Leseabschnitten verwendeten Großbuchstaben sind nicht beibehalten. Die in Cent. IV,33 durch Punkte angedeutete Sequenzierung ist zwar sehr locker, gibt aber Hinweise auf Satzgrenzen und syntaktische Strukturen, von denen die hier eingeführte Interpunktion ausgeht, deren Ziel es ist, den syntaktischen Aufbau transparent zu machen, ohne den Text übermäßig zu zergliedern. Zusammen- und Getrenntschreibung wird in der Handschrift konsequent gehandhabt, so daß bei den wenigen Zweifelsfällen nach der sonst üblichen Schreibweise verfahren wird. Entsprechend werden dar umb, dar auß, dar uber, da mit und präfigierte Verbformen getrennt geschrieben. Zweigliedrige Substantivkomposita werden hingegen gegen den Gebrauch der Handschrift zusammengeschrieben. Direkte Rede ist mit doppelten Anführungsstrichen gekennzeichnet, einfache Anführungszeichen stehen für direkte Rede innerhalb der direkten Rede. Textkritische Anmerkungen geben Auskunft über weitere Eingriffe und über die Korrekturen der Schreiberin. Eckige Klammern bezeichnen von uns vorgenommene Ergänzungen.

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Editionsbeispiel 1: Die Predigt zum Palmsonntag über Mt 21,1–9 (45vb–51ra) (45 vb) Das ewangely Matheus als mans list an dem heiligen palmtag So fragen nw die lerer uber das ewangely das Matheus geschriben hat am xxj capitel und als mans gewanlich list an dem heiligen palm(46 ra)tag. Und schreibt der ewangelist also: Unser herr Ihesus gieng von Jericho hin gen Jerusalem und da er kam unten an ölperk, der da leyt zwischen Jerusalem und Jericho, do sprach er zu zwayen seiner jungern, das was Petrus und Pylippus: »Get da hin ein in das kastel«, und maint Jerusalem, »das da wider euch leyt. Da vindet ir ein eßlin und ir kint und das pringt mir.« Da maint unser herr, den jungen eßel scholten sie im pringen, sein jungern. »Und ob euch yemant fregt«, sprach unßer herr, »wem ir den eßel wolt, so sprecht: ›Der herr bedarf sein.‹« Und das teten die jungern und prachten unserm hern den eßel und legten ire cleider dar auf. Und da saß unser herr auf den essel und rayt ein gen Jerusalem. Das tet unser (46 rb) herr dar umb, schreibt der ewangelist, das unser herr erfüllen wolt die geschrift, wann der prophet Isayas vor vil zeyten geweissagt het der tochter von Syon, wie ir kumen scholt ir künig diemüticlich auf einem eßel. Und da unßer herr also106 ein rayt, da kam im engegen geloffen auß der stat ein groß volk. Da warn etlich die zugen ab ire claider und legtens unter den essel, den worten107 das der essel dester senfter gieng und unser herr dar auf dester senfter ryt. Aber etlich108 warn, die stigen auf die pawmen und namen daher ab ollzweyg und auch palmzweyg und ander plumen109 und streutes110 für unsern hern. So warn da etlich die sungen lob unserm hern: »Osanna filio Dauites.« Das ist als vil ›ossanna‹ (46 va) als ›mach uns hayl, du sun hern Dauites‹.111

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also] alse in Hs. den worten = ›in der Absicht‹, vgl. Lexer III, Sp. 979. 108 etlich] Davor gestrichen etw. 109 plumen = ›Blüten‹, vgl. LEXER I, Sp. 315. 110 streutes] Ungewiß, wohl streutens zu lesen. 111 Mt 21,1–9: Et cum adpropinquassent Hierosolymis et venissent Bethfage ad montem Oliveti, tunc Iesus misit duos discipulos dicens eis ›ite in castellum quod contra vos est et statim invenietis asinam alligatam et pullum cum ea. Solvite et adducite mihi. Et si quis vobis aliquid dixerit, dicite quia dominus his opus habet et confestim dimittet eos‹. Hoc autem factum est ut impleretur quod dictum est per prophetam dicentem ›dicite filiae Sion ecce rex tuus venit‹ tibi mansuetus et sedens super asinam et pullum filium subiugalis. Euntes autem discipuli, fecerunt sicut praecepit illis Iesus et adduxerunt asinam et pullum et inposuerunt super eis vestimenta sua et eum desuper sedere fecerunt. Plurima autem turba straverunt vestimenta sua in via, alii autem caedebant ramos de arboribus et sternebant in via. Turbae autem quae praecedebant et quae sequebantur clamabant dicentes ›Osanna Filio David benedictus qui venturus est in nomine domini osanna in altissimis‹. 107

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War umb man beget an dem heiligen palmtag die zwey ampt der frewden und des leydens Und also wart unser herr enpfangen mit großer schonheyt in die stat Jerusalem. Und dar umb so ist ein merkliche frag von disem tag, als man heist den palmtag, seyt die muter der heiligen cristenheyt geordent hat auf disen tak zweyerley gesank, die man denn hat in der heiligen proczessen und in der heiligen meß. Das ein laut zemal süssiclich und frölich, wie man unsern hern als gar erlich und schan enpfangen hat gen Jerusalem. Das ander gesank, das denn ist der passion, den man denn list in der heiligen meß, der laut zemal betrübtlich und wainlich, wie (46 vb) es unserm hern gegangen ist in der zeyt seyner pittern marter und seins jemerlichen todes. Und dar umb so ist ein frag war umb das also geordent hat die heylig cristenheyt, das man ein traurigs ampt und ein fröligs hat auf den ain tagk. Het man nit genunk ze schiken gehabt mit ir ainem? Da spricht sant Bernhart,112 das sey dar umb, das der mensch wissen schüll, das er kein frewd müg gehaben in diser zeyt, sie sey alweg gemischt mit betrübt und mit leyden. Und ob sich halt nw gepürt, das zu etlichen zeyten der mensch möcht haben ein vernüftige frewd, so schol er ims selber allweg mischen mit etwas betrübt, also das im der mensch schol etwas fürseczen, das im etwas betrübt mach, als das der mensch gedenkt an seinen natürlichen tot oder an das leyden (47 ra) Ihesus Cristus, also das in etwas auf halt in der frewd, das er sich dar ein icht zu ser und zu tieff geb. Auch so hat es dar umb geordent die heylig cristenheyt, ob das wer, das dem menschen leiden zu viel, des doch kein mensch mag uber haben gesein hie in diser zeyt, so schol er im mischen die betrübt und das leyden mit einer gaistlichen frewd und schol gedenken an die frewd des ewigen lebens, das got alle dink im aller pesten tut und verhengt. Und also belib der mensch im mittel payde in der betrübt und auch in der frewd. Und dar umb schreibt Salaman:113 Die geordent frewd ist allweg gemischt mit betrübt, auch die geordent betrübt ist allweg gemischt mit etwas frewden. Und dar umb so hat also zu mal weißlich geordent die heilig cristenheyt das man dise zwey (47 rb) ampt, trawern und frewd, hat auf den ainen tagk.

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Die Disposition der Auslegung folgt weitgehend einer Predigt Bernhards von Clairvaux: ›Sermones per annum, In ramis palmarum II, De passione et processione et quattuor ordinibus processionis‹. In: Bernhard von Clairvaux, Opera, Bd. 5, hg. von JEAN LECLERCQ, CHARLES HUGH TALBOT u. HENRI MARIE ROCHAIS, Rom 1968, Sermones II, S. 46–51. Fleischmann deutet den Einzug in Jerusalem als Prototyp der Prozession, in der alle Stände der Christenheit vertreten sind. Die Feier des Palmsonntags, der die Karwoche einleitet, wird durch das Nebeneinander von Freude über den Einzug Jesu in Jerusalem und Trauer über den bevorstehenden Tod bestimmt. Fleischmann betont, daß sich alle Gläubigen diese Verbindung von Freude und Trauer nicht nur für die Fastenzeit zum Vorbild nehmen sollen. 113 Prv 14,13: risus dolore miscebitur et extrema gaudii luctus occupat. Bei Bernhard von Clairvaux [Anm. 112], S. 46, Z. 11, ist nur der zweite Halbvers zitiert.

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War umb unser herr also wolt gelobt werden als kurczlich vor seiner marter am palmtag Do ist denn ein frag war umb der weis kunig114 Cristus Ihesus, die ewig weisheyt, das geschrey und das groß lob also wolt ein nemen von den menschen vor seinem pitern tod und also wolt ein reiten gen Jerusalem, wann des list man doch nit mer in allem seim leben, das er ye also geriten sey, man list newr, wie er zu fussen gieng. Da spricht aber sant Bernhart in der predig von disem heiligen palmtag,115 das unser lieber herr recht da mit beweisen wolt, das er williclichen leiden wolt und sich williclich und gern wolt opfern durch aller menschen sund willen ein den pit(47 va)tern tot. Wann sie hetens schan uber tragen die schreiber und gleihsner, das sie den hern ye töten wollten, so sie aller schierst könden und möchten das getun. Das westen sie wol, das sich des unser herr wol verstünd, wann sie wol westen, das er wol west, das sie im gar veint warn und tag und nacht giengen auf sein leben. Und dar umb das nw unser herr ye leiden wolt und wolt sich in nw willich geben in ir hend, dar umb wolt er recht, das ein solch groß geschrey würd unter dem volk von seiner heiligen gegenwürtikeyt, das recht aller meniclich ynnen würd, das er da köm, der da zu hant dar nach am freytag wolt leyden den pittern schemlichen tot. Auch wolt im unser lieber herr vor seinem heiligen pitern leiden laßen erpieten die großen err, auf das, das im sein (47 vb) leiden dester wirser würd tun und die groß uner, die im nach der großen ere erpoten wart. Wann, spricht Pueczius,116 nicht größer marter ist, wenn leiden uner und smacheyt noch großer ere und wirdikeyt. Nw legt auß der ersam Beda dicz ewangely in der omely117 und spricht also, das pey den zweyen eseln ist anders nicht bedewt wenn die zweyerley volk in der alten e. Als die juden sein bedeut pey der alten eslin und die hayden pey dem jungen esell, wann die haiden kamen von juden. Nw hieß unser lieber herr die zwen zwelffpoten sant Peter und sant Villippen, das sie im scholten pringen den jungen esel, auf dem wolt er raiten gen Jerusalem. Das ist, spricht Beda, der erwerg lerer, das unser lieber herr sant sein czwelfpoten nach seiner heiligen hymelfart (48 ra) zu den zwayen geslechten, das was zun juden und zun haiden, den sie da predigten den heiligen cristenlichen gelauben. Aber die jungern prachten newr den jungen esel, das ist das sich neur bekert zu dem cristenlichen gelauben die haiden, wann die cristenmenschen sein zu mertail kumen von haiden. Aber die alten eslin ließen sie sten, das ist das gar 114

Fleischmann bezeichnet Christus auch als ewig weißheyt (11ra). Es ist unklar, ob weis kunig hier als Kompositum zu verstehen ist (keine Belege in den Wörterbüchern). 115 In der Bernhard-Predigt [Anm. 112] so nicht nachweisbar, paraphrasiert wohl die Stelle S. 48, Z. 2ff. 116 Pueczius = Boethius. Zitat nicht nachgewiesen. 117 Beda Venerabilis, ›Homiliae‹, in: PL 94, Sp. 121: Asina et pulius ejus, quibus sedens Hierosolynam venit utriusque populi, Judaei videlicet et gentilis, simplicia corda designant, quibus ille praesidens quaeque a noxia libertate suo frenans imperio ad visionem supernae pacis perducit. Beda bemerkt weiterhin lediglich, daß nur Matthäus neben dem Füllen auch die Stute erwähnt (vgl. auch Za 9,9).

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wenik bekert sein zu dem cristenlichen gelauben auß den juden. Nw rait unser lieber herr auf dem esel gen Jerusalem, das ist, spricht der lerer, Jerusalem ist als vil gesprochen als ein gesicht des frids118 und ist uns bedeuten das hymelisch ewig Jerusalem, ein119 das Jerusalem unser herr fürn wil alle cristenmenschen, die da fürn ein cristenlichs seligs leben. Aber was sein die plumen und (48 rb) das gesank, das man denn tut, so der herr Ihesus also fürt sein außerwelten in die hymellischen stat Jerusalem? Das sein die lieben engel, die singen ein fröliches frolocken in got dem hern und werffen im für die plumen, das ist ein ere und ein loben das sie tun got, dem hern, wenn also die außerwelten kumen in das ewig leben. Die ander außlegung tut sant Bernhart120 und spricht also, das in diser processen ist zu merken vierley volk. Das erst volk121 was, das vor unserm hern loff in die stat. Das ander volk loff nach unserm hern. Das drit volk was, das da neben unserm hern giengen, als denn die jungern und ander, die denn unter unsern hern legten ire claider. Zum vierden mal so was (48 va) da das vih, auf dem unser herr denn rait. Also ist vierley volk in der cristenheyt, die denn all gern wern mit unserm hern in der hymellischen stat Jerusallem, wan es ist doch nyemant, er wer gern in dem ewigen leben. Pey dem ersten volk, das vor loff unserm hern und den, die do stigen auf die öllpaumen und zwayg warffen für unsern hern und für das volk, das mit im kam, das sein alle prelaten als pischoff, pfarrer und auch ander öbrern, das sein die vor lauffen vor andern lewten, wöllens newr selber und woln ir leben schiken darnach. Aber was sein die plumen, die dy selben vor lauffenden menschen, das sein die prelaten, schüllen werffen für unsern hern? Das ist, spricht der lerer, das sie schüllen steygen auff die pawmen (48 vb) der lieben heiligen veter und ander außerwelten lieben heiligen, die nw sein vor got in dem ewigen leben, die hie gefürt haben ein seligs hoh erhabens leben zu got und zu hymellischen gaistlichen dingen. Und auf die selben pawmen, das ist auf das leben der außerwelten, schüllen steygen die öbrern und schüllen her ab prechen die plumen, das ist ir tugent, die sie denn haben gehabt und schüllens werffen für unsern hern. Das ist das sie die selben tugent, durch die die lieben heiligen sein kumen in das ewig leben, schüllen lern und predigen dem gemainen122 volk, das denn nach ist lauffen unserm hern.123 Pey dem andern das etlich warn in diser processen, die nachgiengen und luffen unserm hern, das ist anders nit bedeut wenn das gemain volk, das denn ist in der heiligen cristenheyt, (49 ra) die denn nach scholten volgen den öbrern. Das selb 118

Geläufige Etymologie, die wohl auf Augustinus, ›De civitate dei‹ XIX 11, zurückgeht; vgl. HARTMUT KUGLER, Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters (MTU 88), München/Zürich 1986, S. 116ff. 119 ein für ›in‹ kommt häufig im Text vor und wird deshalb hier nicht geändert. 120 Bernhard [Anm. 112], S. 48f. und 50f. Fleischmann erweitert Bernhards Auslegung teilweise erheblich, etwa in bezug auf das grob vihisch volk. 121 volk] Davor nochmals volk, gestrichen. 122 gemainen] gemainem Hs. 123 hern] herm hern Hs.

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gemain volk ist auch nach volgen unserm hern ains paß wenn das ander, ein yetliches als es stund und stat hat und gerüst ist von got. Aber doch ye wöllens newr selber und wöln irn fleiß tun, so kumens ye mit dem hern in die hymellischen stat Jerusalem, das ist in das ewig leben, als wol als die öbrern, die vor lauffen dem hern. Zum dritten mal so warn etlich pey dem hern des nechsten, als denn124 die jungern, die unserm hern die claider legten auf den esel und in handelten und wandelten. Da pey ist uns bedewt, die dritten menschen in der heiligen cristenheyt sein als die abgescheiden volkumen menschen, die legen ire cleider unter unsern hern, das ist das sie alle sorg und alle dink, die in der zeyt sein, auf geben und was (49 rb) uberig ist, das vermaiden sie. Und also ploß mit einem abgescheiden leben so volgens nach unserm hern mit einer lautern aufflamenden lieb zu got. Aber pey dem vih, das da was in diser processen, auf dem denn unser herr rayt, und da pey ist uns bedewt das vierd volk in der cristenheyt, das sein die groben ainfeltigen menschen. Wann recht als das vih unvernüftig ist und nichcz tut, man erslahs denn auß in, also sein die selben groben, wilden menschen, die haben wenig vernuft und verstentikeyt hymellischer, götlicher ding und tun nichcz nit gucz gen got, denn man treibs und twings dar zu. Und doch, so spricht sant Bernhart,125 dennoch schol man leyden die selben menschen in der cristenheyt und sein auch zu zelen an der cirstenlichen schar und menge und in der (49 va) processen der cristenheyt. Wann die126 sel pey dem leib ist, die weil ist in unversagt, got müg in genad geben, also das sie geschikter werden zu dem dienst gotes und nit als grob beleiben als das vih ist. Aber, spricht der lerer, so merk ains hie von unserm hern, unter der schar aller samt und unter der menige des volks, das denn also ein loff mit unserm hern zu Jerusalem, so was unser herr kainem als nahent als dem vih, auf dem saß unser herr, dicz volk loff vor im und noch im und umb in. Da pey ist zu merken, das unser herr noch unter der vierley menschen, die denn sein in der cristenheyt, als denn vor geschriben stet, noch kainem volk als nahent ist als dem vih. Das ist, spricht der lerer, das unser herr (49 vb) noch umb kainerley menschen ser besorgt ist als umb das grob vihischs volk, wie er das pring von seinen sünden und von der hertikeyt seins lebens mit vermanung von ynnen und mit predigen und unterweisen von außen und mit gutem ebenpild ander seliger cristenmenschen. Und also zu versten, so ist unser herr dem selben groben volk aller nechst, wann alles sein ler und leben get newr dar auf, wie man sünder beker von seinen sünden. Und spricht der lerer, das ims kain mensch schüll lassen versmahen, das man in also zel zu einem vih, wann Dauit im psalter an maniger stat zelt er sich zu einem vih. Auch spricht der lerer, so merk, das unter den volken allen kainerley volk was, das den hern stecz mocht gesehen unter sein antlücz, die weil sie also warn (50 ra) auf dem weg gen Jerusalem. Die ersten, die vor im hin luffen, die mochten sich unterweilen gar selten umbgekern, das sie den herren 124

denn] den Hs. Siehe Anm. 112. 126 die] Davor gestrichen sein auch zu zeln an der cirstenlichen schar (Dittographie). 125

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mochten angesehen. Auch die hinden nach luffen, den was das antlucz des herren noch vil selczemer wenn den ersten, wann der after unsers hern was gegen in. So warn denn die, die neben im giengen, die musten sich auch hin und wider pucken, wie sie den hern recht seczten und unter in recht legten ire claider, also das sie in auch nit stecz mochten angesehen, aber doch so hetens sis peßer wenn der vorrigen kainer. Aber das vih, das unter dem hern was, das mocht sein antlücz zu mol nymer nit angesehen.127 Also sein die groben, wilden lewt, die mügen zu mol nymer nit angesehen noch schawen got in ynnerlicher andacht, (50 rb) wann sie sein zu grob und zu sündig. Wenn da pey ist zu merken, das kein stat ist in der cristenheyt, weder die öbrern noch die untern noch die volkumen menschen, die stecz mügen gehaben als vor iren augen got und hymellische gaistliche dinck. Wann die öbern, die denn vorlauffen dem hern, die haben unterweilen als vil zu schiken mit dem, wie sie wol auß richten, die denn unter in sein und in befolhen sein, das in der zart anplick gotes gar dick enczogen wirt, das sie vor solcher unmuß nit künnen kumen zu sölcher ynnerlicher andacht. So ist denn die gemein in der cristenheyt, die denn nach lauffen unserm hern, die haben als vil zu sorgen mit in und mit iren kinden und mit der leiplichen narung, das selten ir kainer (50 va) mag kumen, das er schawen müg das antlücz des hern. Aber die dritten menschen, als die volkumen, den wirt dennoch dik unterczogen128 der anplick des hern, das in der nit werden kann nach herczen lust, als sie in denn gern heten. Aber das grob volk, das bedewt ist pey dem vih, das mag zu mal dar zu nymer kumen. Und dar umb so spricht der lerer, das kain stat in der cristenheyt sey, in dem der mensch das antlücz des hern und gaistliche, hymelische dink müg stecz gegenwürtig gehaben. Wann wir sein all zu mal als prechenlich hie auf dem weg in disem jamertal, das uns das nit werden kann, wir müssen paiten pis wir kumen in die stat zu Jerusalem, das ist in das ewig leben, da wir denn got nyessen und schawen von anplick zu anplik. (50 vb) Aber was ist das gesank, das wir denn tun dem hern, wenn wir nw also kumen in die hymelischen stat Jerusalem, und das lob, das denn unserm hern hie erpoten wart, da er kam in die stat? Wann, schreibt der ewangelist, sie gaben lob dem hern und sungen: »Osanna filio Dauit.« Da spricht der lerer, das das gesank anders nit ensey und die ererpietung, die die außerwelten haben in der hymelischen stat Jerusalem, wenn das sie tun als denn schreibt der prophet, wie er sah in einem gesiht sten vor der maienstat des hern vier rint und xxiiij althern,129 die von ersamkeyt gegen den130 hern die kran seczten ab iren haubtern und ließen ir gülden vedern nyder hangen gen der erden. Dar uber sprechen die lerer, das die außerwelten in dem ewigen leben vor got nemen die cran von (51 ra) iren hauptern, das ist alle ir err, die geben sie got und laßen hangen ir vedern, das ist das 127

angesehen] an über die Zeile geschrieben. unterczogen = ›entzogen‹, vgl. LEXER II, Sp. 1813. 129 Die 24 Alten werden in Apc 4,4 eingeführt; die vier rint beziehen sich auf die vier Wesen aus Apc 4,6ff.; zum Absetzen der Kronen vgl. Apc 4,10. 130 den] dem Hs. 128

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sie ir selbs vergeßen und von mynnen in got dem herrn zersmelczten, also das si ir selbs nicht enahten, sie ahten newr des hern und sein als gar in im versmolczen, das recht in ist, wie sie nit sein, got sey newr in in. Aber das gesank, das die kinder sungen dem hern, das als131 vil gesprochen ist ›mach uns hail, du sun herr Dauicz‹, da für singen die in dem ewigen leben nit anders, wenn als schreibt Iohannes in apokkalipsi: »Sanctus, sanctus, sanctus, heilig, heilig, heiliger got, piß gelobt ewiclich.«132 Und also das ist das von dem heiligen palmtag uber das ewangely.

Editionsbeispiel 2: Die Predigt zum zweiten Sonntag nach Ostern über Io 10,11–16 (68va–76vb) (68 va) Das ewangely Iohannes als mans list am andern suntag nach dem heiligen ostertag133 Von dem ewangely als mans list am andern suntag nach dem heiligen ostertag, als das schreibt Iohannes in seinem ewangely am x capitel. Und sprechen die wort unsers hern also, als sie denn beschreibt der egenant ewangelist: »Ich pins ein guter hirt, wann ein guter hirt gibt sein sel für seine schaff. Aber die mitling, die nicht war hirten sein, wenn es den schafen übel get und sie der wolf (68 vb) zuken134 wil, so fleuht er dar von. Wann war umb? Da sein die schaf sein aigen nicht, dar umb so sucht er nicht den nucz der schaf, er sucht newr sein aygen nucz. Aber ich wird geben mein sel für meine schaf. Und ich bekenn den vater und der vater bekent auch mich, und mich bekennen auch meine schaf und ich kenn sie hin wider, wann sie hören mein stym und volgen mir nach. Und noch ist vil ander schaf, die noch nit sein in dem schafstall, die muß ich noch herzu pringen, und so wirt denn ein hirt und ein schafstal.«135 Uber das ewangely bekümern sich die heiligen lerer zu mal vil und sünderlich den außlegungen dicz ewangelys zu berayten einen wek, (69 ra) so vecht der lerer136 an dise predig mit einem spruch, den tut sant Bernhart137 und spricht also, 131

das als] Davor als gestrichen, zweites als über die Zeile geschrieben. Apc 4,8. 133 Diese Predigt wurde im Katharinenkloster als einzige nicht an einem Sonntag in der collatio gelesen, sondern an einem Mittwoch (s. o. Abschnitt 4 zur Gebrauchssituation der Handschrift). 134 Mhd. zücken swV. = ›rauben, stehlen, entreißen‹, vgl. LEXER III, Sp. 1165. 135 Io 10,11–16: Ego sum pastor bonus. Bonus pastor animam suam dat pro ovibus, mercennarius et qui non est pastor, cuius non sunt oves propriae, videt lupum venientem et dimittit oves et fugit. Et lupus rapit et dispergit oves, mercennarius autem fugit quia mercennarius est et non pertinet ad eum de ovibus. Ego sum pastor bonus et cognosco meas et cognoscunt me meae sicut novit me pater et ego agnosco patrem. Et animam meam pono pro ovibus, et alias oves habeo, quae non sunt ex hoc ovili et illas oportet me adducere et vocem meam audient et fiet unum ovile unus pastor. – Vor schafstal die Buchstaben sta gestrichen. 136 Als der lerer wird in der Regel am Anfang einer Predigt, seltener am Ende, Fleischmann tituliert. 137 Bedauerlicherweise ist es nicht gelungen, einen Großteil der Autoritätenzitate in dieser Predigt zu 132

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das die menschen got dienen, das tun sie von dreyer sach wege[n].138 Des ersten so dienen etlich menschen dem hern newr von der vorcht wegen, das sye fürchten den zorn gotes. Wer das, das sie sich geben zun sünden und kerten sich von got, so würd in dar umb von got die ewig straff und die ewig verdampnüß. Und dar umb das sie vor der behüt sein, so vermeyden sie die sünd und geben sich zu dem dienst des herren. Aber zwar, spricht der lerer, das sein unfrum diener, sie tun gleich als der diep, der vermeyt das er nicht stilt newr dar umb das er fürcht, man werd sein ynnen und hoh in denn an galgen (69 rb) von seins stelns wegen. Und also von der vorcht wegen des galgen lest er das steln und hecz doch süst im herczen den willen gleichwol zu der dieberey, wer die pein dar umb nicht; der ist geleich ein wek als wol ein diep der poßheyt halben als den andern.139 Also tun die menschen, die also wol willen heten zun sünden, aber newr dar umb das sie doch wol wissen durch den gelauben, das got ir sünd ungestraft mit nicht lest, dar umb so laßen sie die sünd. Und140 das sein doch wol unnücz diener des hern, wann sie wolten die selben lewt, das got nicht got wer. Als wie sie wolten, das got der herr sünd nicht straft und da mit wolten sie, das got nicht gerecht wer. Und die also laßen sünd newr (69 va) von der pein wegen, die in dar umb von got würd, die sein noch nyndert auf dem rechten weg in das ewig leben und sein zumal unnücz diener. Die andern menschen, die got diener sein und sünd vermeyden, das tun etlich menschen von des lons wegen, den sie hoffen, den in got141 dar umb werd geben. Und also das sie durch den gelauben wissen, das got der herr gibt den menschen, der sich hüt vor sünden und angreift ein tugentlichs seligs leben hie, hundertvaltigen lan und dar zu das ewig leben, so gedenken142 sie: »In trewn, es belont got seinen diener zu mol wol, er gibt in das ewig leben. Du wilt auch an heben got zu dienen, das dir auch werd nach disem leben das ewig leben.« Und also von (69 vb) des lons wegen so geben sich etliche menschen zu dem dienst des herren. Das sein auch nicht gar gut diener, doch sein sie etwas pesser wenn die vorigen, wann die dienen dem herren von des lons wegen, als ein soldner dient und arweyt umb sein solt, und wer der lan nicht, so achten sie des hern gar ein clein. Und also suchen sie mer irn aygen nucz wenn die ere gotes des hern, und dar umb sein sie nicht gut, wann die ere des hern schol vor gen in allen dingen. Zum dritten mal so sein den[n]143 menschen, die sich hütten vor144 sünden und sich geben zu dem dienst gotes newr dar umb von des ewigen ungemessen gucz wegen, das got ist in im selber, und das in dar umb kain nucz dar auß nymer mer identifizieren. Auch einige der zitierten Bibelstellen waren nicht zu finden, z. B. das Paulus-Zitat Lieben pruder, got ist alle zeyt bereyt zu geben, wern wir newr bereyt zu nemen (75rb). 138 Nasalstrich fehlt. 139 Bedeutung von wek und Satzkonstruktion unklar. 140 Und] Davor da gestrichen. 141 got] Davor d gestrichen. 142 gedenken] Davor d gestrichen. 143 Nasalstrich fehlt. 144 vor] Davor s gestrichen.

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scholt [werden] gegen145 iren halben, das (70 ra) sie vermiten sünd und an griffen ein seligs tugentlichs leben. Dennoch wann sünd ist wider das ewig gut, und tugent und gute werk erlich sein dem selben ewigen gut, dar umb so wöllen sie sünd vermeyden und tugent uben nach allem irem vermügen. Und das sein die rechten diener des hern, wann sie haben den hern liep als die kinder irn lieben vater. Und also sein manigerley diener gotes, aber einer ist got lieber wenn der ander. Die außlegung des ewangelys Nu fürpaß uber das ewangely als denn unser herr spricht: »Ich pin ein guter hirt, wann ein guter hirt gibt sein sel für seine schaf.« Hye spricht Symon (70 rb) de Kassius,146 das sich unser lieber herr Ihesus Cristus pillich geheißen hab einen guten hirten und fraget, was zu gehör einem guten hirten. Und spricht also, das ein guter hirt muß haben ein taschen und prot in der taschen, da mit er speiß seine schaff, ob in geprechen wolt, e wenn ers haim precht in den schaffstal. Zum andern mal so muß ein guter hirt haben einen steken, an dem er sich lain, wenn er müd sey und da mit er zusamen halt seine schaf. Zum dritten147 mol so muß der148 gut hirt haben einen hunt, da mit er vertreib den wolf, wenn er kum und den schafen wolt schaden tun. Also ist wol ein guter hirt unser lieber herr Ihesus Cristus. Er ist her ab kumen zu uns armen schafen (70 va) auß dem trons eins hymelischen vaters auf die haiden oder wisen dicz jamertals und ist unser hirt worden. Und was ist die taschen des hirten Ihesus Cristus? Das ist sein angenumene menscheyt, mit der er nw in der gotheyt ewiclich veraint ist und beleibt. Was ist das prot, das da leyt in der taschen? Das ist sein heiliges gocz wort, das er denn gepredigt hat wol vierdhalb149 jar mit seinem zarten götlichen mund. Und das man nw alltag predigen ist sein heilige ler und die ler der heiligen lerer. Und denn also mit ein ander die bewert heilig geschrift ist das prot, das in der gaistlichen taschen leyt, wann die geschrift der heiligen lerer und auch des heiligen ewangelys mit ein ander ist allzumal (70 vb) rynnen auß den offen wunden Ihesus Cristus. Auch so ist die speys und das gaistlich prot, das diser hirt Cristus Ihesus gibt seinen schaffen, das ist uns armen menschen, das ist sein heiliger warer leichnam; und trenket sie auch mit seinem tewrn wirdigen heiligen plut. Als er denn selber spricht: »Mein fleisch ist ein wares eßen und mein 145

gegen] Korrigiert aus gen. Da die Satzkonstruktion unklar ist, wurde zum besseren Verständnis werden eingefügt. 146 Vgl. Simon von Cassia, ›Gesta Salvatoris domini nostri Jesu Christi seu Commentaria super IV evangelia in XV libros‹, 2 Bde, Regensburg 1733. Die Stelle klingt an Buch VII, Kap. 18/38 an, ohne wörtlich übereinzustimmen. Zu Simon vgl. 2LThK 9, 1964, Sp. 766f. Er ist einer der von Fleischmann am häufigsten zitierten Autoren. Zur Schwierigkeit der Verifizierung und zu den Besonderheiten der Simon-Zitation vgl. HILG [Anm. 82], S. 368f. 147 dritten] vierden Hs. 148 der] Davor in gestrichen. 149 vierdhalb = ›dreieinhalb‹.

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plut ein wares trank. Wer das ist und trinkt, der wird ewiclich leben.«150 Dise speiß gibt er uns menschen hie auf dem weg in disem jamertal, das wir dester paß an geprechen der sünden scheyden auß disem ellend und zu im kumen in das ewig leben. Zum andern mal so hat diser hirt einen stap, das ist das heilig151 krewcz, an dem er sich gelaint hat, da er von sext czeyt152 uncz zu non zeyt hieng (71 ra) lebendiger an dem heiligen crewcz, und von non zeyt uncz vesper zeyt hieng er toter an dem heiligen crewcz. Das creucz ist auch der stab da mit der hirt Cristus Ihesus zusamen helt seine schaf, wann wen nit erwegt das creucz Ihesus Cristus und sein pittern tot, das er sich helt in einem cristenlichen leben, den mag unfast nymer mer anders nichz bewegen zu dem dienst gotes. Und dar umb so ist das heilig crewcz der stab des lieplichen hirten Ihesus Cristus, mit dem er zusamen helt seine schaf, das ist uns armen menschen. Zum dritten mal so sein des hirten hund alle prediger, die denn außrüffen das heilig gocz wort und vertreiben den wolf des ungelauben und der totsünd von den schaffen, das ist von den cristenmenschen. Und also ist unser (71 rb) lieber herr Ihesus Cristus wol ein guter hirt, als er denn selber spricht: »Ich pins ein guter hirt, wann ich gib mein sel für meine schaf.« Hye ist ein frag, seyt alle öbrern hirten sein gaistlich und die untern sein die schaff, als der pabst für die cristenheyt und die pischof sein hirten und die unter in sein,153 unter einem yeden in seinem pistum, das sein die schaf des hirten. Also ist im mit den pfarrern und auch [mit] einem haußwirt, [der] ist der hirt über seine kint und sein haußgesind das sein die154 schaff. Also wenn man im nach wolt gen, so wer ein yeder mensch ein hirt und het schaff unter im.155 Wye ein öbrer möcht sterben für sein unterteningen oder wie er des nicht scholt tun (71 va) Nw dar umb so156 fragen die lerer, ob denn also ein öbrer scholt sterben von seiner untertenigen wegen und von der wegen, die denn also wern unter im. Da spricht sant Thomas157 de Aquino und auch sant Augustin und halten vil lerer: Ja, wenn also ein öbrer wer, der seh, das ein schad wolt geschehen seinen schaffen, das ist seinen undertenigen, die im befolhen sein, und möcht er gewenden den schaden mit seinem naturlichen tot, den scholt er williclich auf nemen, den worten das die untertenigen und die im denn befolhen sein hin nach dester paß mit frid beliben oder des großen schaden uber haben beliben nach 150

Io 6,56. Folgt ein unleserlicher Eintrag am rechten Blattrand. 152 sext czeyt] Davor non zeyt gestrichen. 153 sein] Davor was gestrichen. 154 die] Davor sc gestrichen. 155 im] in Hs. 156 so] Davor fragen gestrichen. 157 Thomas] Thoma mit Nasalstrich. 151

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seinem tot. Als da ein pischoff oder (71 vb) süst ein herr, wie er wer, gaistlich oder wertlich, den ot ander lewt befolhen wern, es wer in pistummen oder in pfarren oder in andern emptern, und er het veintschaft, also das man sücht sein aygen persan, e wenn er denn verderben scholt laßen ander leut, die unter im wern, er scholt sich e mit willen geben in tot, den worten das sein arm lewt hin nach mit frid wern. Also e das ein vater scholt hungers lassen sterben sein kint oder eins andern todes, den der vater möcht gewenden mit seinem tot, so scholt der vater e dar halten sein natürlich leben und den tod leiden, das seine kint pey dem leben beliben. Und also möcht mans nemen in allen dingen, wenn der öberst sicht, das es also großen nucz (72 ra) möcht pringen seinen untertenigen und in schaden precht, ob er des nit entet, so ist er schuldig vor got, zu bewarn sein untertanen und sich für sich geben zu leiden, in was in zu leiden geschiht. Aber wo des enmerklich nit enwer, da wer sein auch der öbrer nicht schuldig. Und dar umb so ist da not, das der mensch da eben auf seh, wie158 er das versten schüll. Dar nach sprach unser herr aber: »Der mietlink, der da newr ist ein verlonter gedingter hirt, der tut des nicht, wenn er sicht, das der wolf zucken wil die schaf, so fleuhet er da von. Wann war umb? Er ist kain warer hirt nicht, dar umb sucht er nicht den nucz der schaf, wann sie seind sein aygen nicht, er sucht newr seinen159 aygen (72 rb) nucz und den lon, der im wirt von schaffen.« Hye spricht sant Augustin, das unser lieber herr hie beweißen wolt, welches die waren hirten sein, nw nach im das160 ist die getrewen vorgener der heiligen cristenheyt, oder welches wern die mietling und die verlonten knecht. Die ersten, das war getrew hirten sein, die tun das, das unser herr Ihesus Cristus selber getan hat. Das ist das sie geben ir sel für ire schaf, das ist das sie pey stentig sein irn untern, und wo sie recht haben, da stet er in pey und tecz not, so schüln sie alle zeyt berayt sein zu leiden für ire untertenigen, was in zu leiden kumt, es sey der tot oder ander leiden. Aber die nicht die warn hirten sein, die tun des (72 va) nicht, wenn in wirt die gült und der zins von iren untertenigen, so achten sie denn hin nach ir gar ein clains, und wöllens nit recht und wol leben, so leben aber übel, und also lassen sie den wolf der leidigen sünd und der ungerechtikeyt zuken ire schaf. Wann war umb tun sie das? Spricht unser herr: »Da sein die schaff ir aigen nicht.« Das ist das sie nicht suchen in irn emptern die ere gotes und der sel hail, der die unter in sein. Sie suchen newr den pfennik und den gewyn. Wenn in der wirt, so achtens denn nicht wie es get den armen schaffen, das ist den armen menschen, die denn unter in sein. Aber sprach unser herr: »Ich pins ein guter (72 vb) hirt, wann ich wird geben mein sel für meine schaf und ich kenn den vater und der vater kennet auch mich. Und mich kennen auch wol meine schaf und ich kenn sie hin wider, wann sie hören mein stymm.« Hye sprechen aber die lerer, das unser herr recht beweisen 158

wie] Davor en gestrichen. seinen] Davor ay gestrichen. 160 das] Davor sein gestrichen. 159

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wolt mit disem wort als er spricht zwir in disem ewangely: »Ich gib mein sel für meine schaf«, das er dem menschen sein ewige lieb in keinem lieplichern wek beweisen möcht, wenn mit dem, das er für uns starb eins pitern todes. Und an die lieb, das er das wolt tun und nw getan hat, wolt er oft manen den menschen zu einem zaichen, das der mensch oft mit großer dankperkeyt scholt dar an gedenken. Und recht wolt er be(73 ra)weisen mit dem wort als er denn spricht: »Und ich bekenn den vater und der vater kent auch mich, und mich kennen auch meine schaf und ich kenn sie hin wider.« In disen worten wolt der herr Cristus beweisen, als er und der vater eins sein mit ein ander in der natur, das also eins mit in würden die außerwelten, wenn sie kömen in das ewig leben in genaden. Als denn Iohannes schreibt, das unser herr das sprach an seinem abentmal. Da sprach er: »Vater, ich wil, das eins in genaden mit uns161 werden mein jungern, als ich und du eins sein in der natur.«162 Und welhes aber weren die selben menschen, die also die schaf sein unsers herren und die in also bekennen in genaden und er sie hin (73 rb) wider kent? Das wolt unser herr beweisen und sprach: »Wann sie hören mein stymm und volgen mir nach.« Hye spricht Thoma de Aquino, das kain pesser zaichen sey eins seligen cristenmenschen, der gehört in das ewig leben, wenn das zaichen ist, das Cristus der herr hie geben hat. Das ist das der mensch mit lieb und mit frewden hört das heilig gocz wort und denn das behelt fleissiclichen und dar nach sein leben richtet. Wann es mag nit anders gesein, wer will kumen in das ewig leben, der muß gen durch die anweißung der heiligen geschrift und dar nach volgen, und anders niemant uber all. Und dar umb wer das tut, der ist sicher, stirbt er also, das er gehört in das ewig leben. (73 va) Und dar nach sprach unser herr: »Und noch ist vil ander schaf, die noch nit sein in dem schafstall, die muß ich herzw samen, und so wird denn ein hirt und ein schafstal.« Hye sprechen die lerer, das der hirt anders niemant sey wenn unser lieber herr Ihesus Cristus, als er sich denn selber nent einen guten hirten an dem anfang dicz ewangelys; und denn dar nach alle öbern und auch gemainclich alle menschen, wann es ist kain vernüftiger mensch, er hab etwas unter im, dar uber er ein hirt ist. Aber die schaf des öbersten hirten Ihesus Cristus sein alle außerwelten menschen, aber der schafstal ist von ersten hie in genaden die gemainsam der heiligen cristenheyt, aber der recht schafstal ist das ewig (73 vb) leben. Nw spricht unser lieber herr Ihesus Cristus: »Und noch sein vil schaf, die noch nit sein in dem schafstal.« Spricht sant Thoma de Aquino, das sein alle ungelewbigen menschen als juden, haiden und keczer und sein auch alle pöß cristenmenschen, die denn leben in tot sünden und mit einem wort alle die menschen, die nit sten in der genad und lieb gocz. Das sein die schaf, die nit sein in dem schafstal,163 das ist das sie nit sein in dem schafstal des verdienens der 161

mit uns] Davor mit uns gestrichen. Paraphrasiert Io 17,11: Pater sancte serva eos in nomine suo quos dedisti mihi ut sint unum sicut et nos. Diese Stelle wird auch in der Predigt zum Pfingstsonntag zitiert (115rb–va). Auch eine Anlehnung an Io 17,21–23 erscheint möglich. 163 schafstal] stal am rechten Rand nachgetragen. 162

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heiligen cristenheyt, das in das nit zustaten kumt. Als wenig einem toten faulen gelid, das der mensch hat an seinem leib, nit zu hilff kumt alle die guten, lebendigen tunst, die da gen von dem herczen und die sich süst tailn in alle gelider des leibs, das die da von wachsen und zu nemen. Aber (74 ra) hat der mensch ein tods fauls gelid an im, dem kumen die tunst und die zarten außfluß des herczen nymer nit zustaten an kainerley hilf. Und das ist die schuld des herczen noch der lebern nit, es ist die schult des gelidcz, das das unenpfenklich ist der würklichkeyt des plucz. Und also ist im gleicher weiß gaistlich mit den pößen cristenmenschen und auch mit den ungelaubigen oder wie sie genant sein unter allen menschen, die nicht sten in der genad und lieb gotes; die sein auch nit in dem schafstal der heiligen cristenheyt weder hye in genaden, also das in nicht zu hilf kumt weder ir aygen gutet, obs nw etwas gucz teten, noch die gutet aller frumen cristenmenschen also zu dem ewigen leben nicht, als es denn zu hilf kumt andern (74 rb) menschen, die sten und leben in der genad und lieb gotes. Sie kumen auch mit nichte in den rechten schafstal, das ist in das ewig leben. Aber das der herr Ihesus sprach: »Und noch sein vil ander schaf, die nicht sein in dem schafstal, die muß ich herzu samen.« Dar auß wöllen etliche menschen, das wen der herr wöll, der kum in das ewig leben. Wen er also für gesehen hab, der muß kumen in das ewig leben und leb er halt, wie er wöll, so schiks got doch hinden nach, das er kum in das ewig leben. Und dar auß kumt das denn etlich döreht lewt sprechen: »Ich leb woll wie ich wil, hat mich got also erwelt, so schiket er wol, das ich in hymel kum, hat er mich denn zu der hell erdacht, so muß ich ye aber dar.« Und (74 va) also wöllen sie die poßheyt irs verkarten willen ye got haym legen und sprechen, er habs als vor angesehen, wie es einem yeden ergen schol. Und dar auß machen in den[n] etlich lewt ein pöß anfechtigung: das sie nymer mer anfichtet, wie das sey, das sie der verdamten menschen müßen sein und tun halt, was sie wöllen,164 so hab sie got nicht erwelt und wöll ir got nicht haben zu dem ewigen leben. Wye der mensch sich wern sol der anfechtigung, das er ewiglich verdamt und verlorn sey165 Und dar über redt maister Wilhelmus Parisiensis und spricht also, das got in im selbs hat angesehen von eben zu eben, wie alle dink ergen würden, aber er hacz nit also angesehen, das also ergen scholten oder ergen müsten. Als wie got ist die ewig weißheyt und hat in im selbs erkant (74 vb) ewiclich alle dink. Und in dem erkant er ewiclich, welcher menschen sich166 mit freyen willen zu im kern würden und ein seligs leben an sich nemen würden; und das die selben menschen denn also wirdig würden von des willigen zukerns wegen irs freyen willen zu dem höchsten gut, das got ist, des ewigen lebens und das ewiclich niessen 164

wöllen] Davor halten gestrichen. Überschrift am oberen Blattrand nachgetragen. 166 sich] Davor mensch gestrichen. 165

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und schawen das anplick gotes. Auch erkant got ewiclich alle die menschen, die sich denn mit freyen willen167 würden wenden von im und sich würden kern zun sünden und an sich würden nemen ein süntlichs leben und denn also dar ynnen entlich erfunden würden, das die denn also von rechtes wegen wirdig würden der ewigen verdampnüß und der hell ewiclich. Dise dink und alle dink hat got also angesehen und für sehen ewiclich, (75 ra) aber allweg was da pey angesehen, das ein yeder mensch also sein freyen willen würd wenden, zu welchem er wolt. Und dar umb so tarf kain mensch got die schult geben, ist das er pöß ist und sein leben also erfunden wirt und denn kumt in die ewigen verdampnüß, das er maint got habs also geordent ewiclich, das er also ein sünder schüll sein und kumen schül in die ewigen verdamnüß und hab ander leut erwelt zu dem ewigen leben und den geb er denn genad, das sie fürn ein seligs tugentlichs leben. Nayn zwar, es layt als an unserm freyen willen, den mag ein yeder mensch wenden zum guten oder zum pößen, recht welchen wek er wil. Und ist168 kain sünder so grob noch so herter, diemütigt er newr seinen willen unter den willen gotes, got (75 rb) ist im mit tailen sein götliche genad, durch die genad er wol mag kumen in das ewige leben. Und dar umb so tarf kain mensch der genad die schult geben, das er spricht oder maint, er hab der genaden nicht als ander lewt, das er also für ein tugentlichs leben. Es ist die schult newr seins hoffertigen herczen und seins unberaiten gemücz ein, das er enphahen scholt die genad. Wann spricht sant Pauls: »Lieben pruder, got ist alle zeyt bereyt zu geben, wern wir newr169 bereyt zu nemen.« Und dar umb170 wen also nicht tunk, das er fürsehen sey zu dem ewigen leben, der traht, das er fürsehen werd, wann es leyt an uns, got hat uns haim geben unsern freyen willen, mit dem mügen wir recht wilkürn was wir wöllen. Und ob kain mensch nw wer in der anfech(75 va)tigung, das in teufel anfecht, er wer doch ye und ye der verdamter ainer, so schol er sich also wern. Spricht diser lerer maister Wilhelmus, das im der mensch hin wider schül gedenken: »Du pößer teufel, du sagst mir ymmer mer, ich sey verdamt und zwar, du sagst nicht war dar an. Und ob das nw wer,171 das du mir sagst, des ich nymmer mer gelauben wil, so wil ich mich des ewigen gucz, das got ist, hie recht wol nieten und mich in im wol erlüsten und newr dester mer tugentlicher werk würken. Ob das wer, das du mir sagst ich sey verdampt, dem doch nit also ist, das ich mich denn meins zarten gocz wol erniet hab, als vil ich denn vermag in diser zeyt in einem gaist(75 vb)lichen tugentlichen leben. Ob er mir nit werden müg in ewicheyt, das ich wol verwaiß, das ich denn den slek172 seiner götlichen süßikeyt doch etwas in zeyt versucht hab. Und wil recht tun als die lewt an der vasnacht: dar umb das sie her nach hunger müßen leiden und müßen vasten, dar 167

willen] Davor die sich gestrichen. ist] Davor kain gestrichen. 169 newr] Links von der Spalte nachgetragen. 170 umb] Am rechten Blattrand nachgetragen. 171 Und ob das nw wer] Korrigiert aus Und ob das. das nw wer. 172 Wohl von mhd. slic stM., ›Bissen, Trunk, Schluck‹, vgl. LEXER II, Sp. 973. 168

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umb so seten sie sich zu mal sat an der vasnacht.« Und also schol der mensch denn sich newr dester mer üben in einem seligen tugentlichen leben. Und also begegent der mensch der anfechtigung zu mal eben, das sie im nichcz geschaden mag. Zum andern mal so schol der mensch in diser anfechtigung lauffen zu den genaden reichen wunden unsers herren und schol sich mit ynnerlicher betrachtung recht pinden zum hern ans krewcz und schol im gedenken: (76 ra) »O lieber herr, du hast doch gesprochen: ›Wer zu mir fleuht, den wil ich behalten.‹ Und wenn des menschen kint erhöcht wirt, so zeucht er alle dink an sich. Eya lieber herr, so wil ich zu dir fliehen unter den schirm schilt des heiligen creucz und wil ein gucz getrauen nemen auß dem verdienen deiner offen wunden, die du durch meiner sünd willen enpfangen hast. Du wolst der wunden und der großen heiligen marter an mir nymmer loßen verlorn werden, du wolst mich zu dir ziehen ans creucz, das du mir mit wolst tailn das teur verdienen am creucz, das ich da durch kum nach disem leben in das ewig leben.« Und also in der anfechtigung der verdampnüß ist dem menschen zu mal nücz, das er sich also halt zu dem heiligen crewcz und zu den offen wunden (76 rb) am crewcz. Zum dritten mal so schol der mensch in ynnerlicher diemütikeyt zu fussen vallen der muter der parmherczikeyt, das ist der junkfraw Maria, und schol auf schreyen mit ynnerlicher andaht zu ir: »Eya muter der parmherczikeyt, erparm dich uber mich, gedenk das der engel sprach: ›Maria, du hast die genad funden‹,173 und tail mir mit die genad, die du zarte junkfraw funden hast, die wir armen menschen verlorn haben, und hilf mir in diser anfechtigung, das der tot und die marter deins kindes, unsers hern Ihesus Cristus, an mir nit verlorn werd.« Und wenn der mensch also hilf suchet, es sey in der anfechtigung oder in einer andern sach, so mag got, der herr, mit nichte gelaßen den (76 va) menschen, er muß im zu hilf kumen mit sunderlicher genad. Nw besleust unser herr dise red, als der ewangelist schreibt, und spricht also: »Und denn so wirt ein hirt und ein schafstal.« Hye wöllen etlich lerer, das noch vor dem jüngsten tag werd newr der aynig hirt Cristus Ihesus und der ein schafstal, das ist der einig cristenlich gelaub, ein den gesament werden alle menschen. Aber die ander außlegung helt das von dem ewigen leben, wenn nw der jüngst tag erge und alle außerwelten kumen sein zu dem hern in das ewig leben und denn so wirt ein hirt, das ist Ihesus Cristus, und ein schafstal, das ist die wanung des ewigen lebens. Und also ist das über (76 vb) das ewangely als mans list am andern suntag nach dem heiligen ostertag.

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Worte Gabriels bei der Verkündigung, Lc 1,30: Et ait angelus ei: ›Ne timeas, Maria, invenisti enim gratiam apud deum‹.

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Anke Wrigge/Falk Eisermann

Nachbemerkung Das Manuskript dieses Beitrags wurde im Jahr 2000 abgeschlossen und zur Publikation im vorliegenden Band eingereicht. Aufgrund der von den Herausgebern zu verantwortenden, außergewöhnlich langen Verzögerung bei der Fertigstellung des Bandes mag der Beitrag stellenweise nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand entsprechen, doch war es uns bedauerlicherweise nicht möglich, die seitdem erschienene Literatur zum Thema noch einzuarbeiten.

Christoph Burger

Die Vermittlung von Ergebnissen scholastischer und monastischer Theologie und mystischer Gotteserkenntnis an Laien in einem Sermo des Johannes von Paltz OESA (etwa 1445–1511)

Einleitung: Vermittlung von Glaubenswissen an Nichttheologen im 15. Jahrhundert Handschriftlich oder gedruckt überlieferte deutschsprachige Predigten und Erbauungsschriften der Angehörigen einer theologischen Richtung, deren angemessene Charakterisierung in der Forschung zur Zeit strittig ist, beschränken sich etwa vom Jahre 1400 an nicht länger auf die Vermittlung elementarer Glaubenssätze und schlichter Anleitungen zur Lebensgestaltung. Einige Hochschullehrer in Paris und Wien und deren theologisch ausgebildete Schüler entsprechen vielmehr den Wünschen der Hörer und Hörerinnen, Leser und Leserinnen, ihnen mehr als Grundlagenwissen über christlichen Glauben und christliche Ethik zu vermitteln. Damit verschärft sich für Prediger, die diesen Wünschen entsprechen wollen, die Aufgabe, die Inhalte auszuwählen, die sie für das ewige Heil und deswegen auch für das zeitliche Wohl der Hörer und Leser am wichtigsten finden. Kommt doch nicht jeder theologische Stoff in Frage, der im Hörsaal besprochen werden kann. Außerdem gilt es beim Predigen vor einem Publikum mit sehr unterschiedlicher Vorbildung viel intensiver darüber nachzudenken, was es zu verstehen vermag, als bei einer Vorlesung vor einer relativ homogenen Gruppe von Studenten. Theologen, von denen uns solche anspruchsvollen Predigten überliefert sind, distanzieren sich häufig bewußt vom scholastischen Wissenschaftsbetrieb ihrer Zeit. Die geläufige Theologie des Hörsaals sieht ihre Ziele ja zum einen in der möglichst vollständigen Sammlung und systematischen Ordnung des überlieferten theologischen Stoffs, zum anderen in der Bearbeitung dieses Stoffs in der Form der scholastischen quaestio.1 Im Spätmittelalter konzentrieren sich viele 1

Siehe dazu ULRICH KÖPF, Monastische und scholastische Theologie, in: Bernhard von Clairvaux und der Beginn der Moderne. Dokumentation der Wissenschaftlichen Studientagung in Kloster Schöntal 14.–18. März 1990, hg. von DIETER R. BAUER/GOTTHARD FUCHS, Innsbruck 1996, S. 96–135: »Die Arbeit der Schultheologen sollte gewiß jene Materialien und Erkenntnisse bereitstellen, die für die verschiedenen kirchlichen Aufgaben von der Schulwissenschaft erbeten werden konnten.« (S. 125) »Zum einen hat sie [die scholastische Theologie] sich erfolgreich um eine möglichst vollständige Sammlung und systematische Ordnung des gesamten überlieferten theologischen Stoffes bemüht.« (S. 126) »Die quaestio genoß so hohe Schätzung, daß sie schließlich auch zur Erörterung textferner Sachprobleme in Bibelkommentare eingefügt wurde – eine Entwicklung, die schließlich denkbar weit von der Bemühung um ein Verständnis des Textes wegführte.« (S. 127)

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Christoph Burger

Theologieprofessoren, die die Weitergabe von Heilswissen an Nichttheologen nicht zum Kern ihrer Aufgabe rechnen, auf Fragen der Wissenschaftslehre, die sie mit Vorliebe an quaestiones zum ersten Buch der Sentenzensammlung des Petrus Lombardus aufhängen.2 Kritik an der daraus entstehenden Vorherrschaft philosophischer Fragestellungen in theologischen Vorlesungen kommt nicht nur von den Angehörigen der eben charakterisierten Richtung, sie wird vielmehr auch innerhalb der theologischen Fakultäten selbst laut.3 Die Prediger und Erbauungsschriftsteller, um die es uns hier geht, sind zwar in der scholastischen Theologie geschult, vertreten aber in ihren Predigten und Erbauungsschriften Ansichten, die sich bewußt von dieser Art, Theologie ganz im universitären Rahmen zu treiben, absetzen. Die Angehörigen einer Richtung innerhalb der Theologie des 15. Jahrhunderts, von denen zahlreiche Predigten und Schriften überliefert sind, schließt die ihnen gemeinsame Überzeugung zusammen, es gelte, die theologische Arbeit auf die Weitergabe von heilsnotwendigem Wissen zu konzentrieren. Obwohl sie als Hochschullehrer tätig sind oder als Schüler ihrer Meister doch ein Studium der Theologie absolviert haben, distanzieren sie sich von dem theologischen Wissenschaftsbetrieb, in dem sie erzogen worden sind. Sie setzen andere Schwerpunkte als die meisten spätscholastischen Theologen. In bewußter Abkehr von einer theologischen Wissenschaft, die ihrer Meinung nach nicht auf Kirche und Frömmigkeit bezogen ist, wollen diese Prediger und Erbauungsschriftsteller nur noch vermitteln, was Nutzen verspricht, was Frucht bringt, was erbaut. ›Frucht‹ (fructus) und ›Nutzen‹ (utilitas), in minderem Maße auch ›Erbauung‹ (aedificatio), scheinen um 1500 so tagtägliche Begriffe zu sein, daß ihnen kein unterscheidender Wert zugemessen werden darf. Doch erlaubt die Betonung, die diese alltäglichen Wörter in Predigten und Erbauungsschriften von Vertretern des skizzierten Theologieverständnisses erhalten, sie als Hinweise auf eine bewußte Parteinahme zu bewerten. Die Angehörigen dieser Richtung, die im 15. Jahrhundert breitenwirksamer ist als die traditionelle spätscholastische Theologie, wehren ab, was nicht ›erbaut‹, nicht ›nutzt‹, keine ›Frucht‹ bringt – doch sie bleiben Theologen. Auch in ihren volkssprachlichen Predigten vermitteln sie theologisches Wissen. Sie übersetzen ausgewählte Ergebnisse der akademischen Diskussionen, die in der Sprache der Gelehrten, in Latein, geführt werden, in die Sprache des Volkes. Sie stellen sich bewußt auf das ein, was sie bei ihren Hörern (und gegebenenfalls Lesern) voraussetzen können.4 Vgl. dazu VENI´CIO MARCOLINO, Der Augustinertheologe an der Universität Paris, in: Gregor von Rimini. Werk und Wirkung bis zur Reformation, hg. von HEIKO A. OBERMAN, Berlin/New York 1981, S. 127–194, hier: S. 159: »Gegen Mitte des 14. Jahrhunderts überwog bereits die Tendenz, Prolog und erstes Buch vorzuziehen.« 3 Vgl. dazu MARCOLINO [Anm. 2] S. 160, der eine Bestimmung der Statuten der Pariser theologischen Fakultät von 1366 anführt. Zur Haltung des Pariser Kanzlers Johannes Gerson vgl. CHRISTOPH BURGER, Aedificatio, Fructus, Utilitas. Johannes Gerson als Professor der Theologie und Kanzler der Universität Paris (Beiträge zur historischen Theologie 70), Tübingen 1986, S. 46. Speziell zu seiner Kritik an Jean de Ripa OFM, dem doctor supersubtilis, ebd. S. 160. 2

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Die Angehörigen dieser Richtung weisen zwar bestimmte Gemeinsamkeiten auf, doch ist der Zusammenhang unter ihnen zu schwach ausgebildet, als daß man sie als ›Gruppe‹ oder ›Schule‹ bezeichnen dürfte. Dafür, sie immerhin als Vertreter einer ›Richtung‹ zu bezeichnen, scheint mir zu sprechen, daß sie sich wiederholt einigen Autoren anschließen, die sie verehren und mit Vorliebe zitieren. Zu diesen gemeinsam verehrten Autoritäten gehört der Pariser Kanzler Johannes Gerson. Krankheit und Überdruß an seinem Amt als Kanzler der Pariser Universität haben ihn um 1400 in eine Lebenskrise geführt. Diese Krise überwindet er durch eine Neuorientierung weg von der rein akademischen Theologie hin zu einer Theologie, die an Erbauung, Frucht und Nutzen orientiert ist.5 Gersons Anregungen für die Predigt sind außer in seinen eigenen volkssprachlichen Predigten besonders wirksam durch Geiler von Kaysersberg im süddeutschen Raum umgesetzt worden.6 Als Meister geistlichen Lebens werden neben Gerson auch die Hochschullehrer der Theologie Heinrich von Langenstein, Nikolaus von Dinkelsbühl und Heinrich Totting von Oyta anerkannt. Ihre Schüler Ulrich von Pottenstein, Leopold Stainreuter und Thomas Peuntner,7 später auch Stephan von Landskron,8 von der modernen Forschung als ›Wiener Kreis‹ zusammengefaßt, vermitteln die Anregungen der Meister einer breiteren Gruppe von Predigthörern und Lesern von Erbauungsschriften. Im Kloster Melk haben sich Gersons Einfluß und die Impulse dieses ›Wiener Kreises‹ miteinander verbunden. 4

Vgl. CHRISTOPH BURGER, Die Erwartung des richtenden Christus als Motiv für katechetisches Wirken, in: Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter. Perspektiven ihrer Erforschung. Kolloquium 5.–7. Dezember 1985, hg. von NORBERT RICHARD WOLF, Wiesbaden 1987, S. 103–122; DERS., Theologie und Laienfrömmigkeit. Transformationsversuche im Spätmittelalter, in: Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Politik – Bildung – Naturkunde – Theologie, Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1983 – 1987, hg. von HARTMUT BOOCKMANN [u. a.] (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-hist. Klasse. Dritte Folge, Nr. 179), Göttingen 1989, S. 400–420; DERS., Volksfrömmigkeit in Deutschland um 1500 im Spiegel der Schriften des Johannes von Paltz OESA, in: Volksreligion im hohen und späten Mittelalter, hg. von PETER DINZELBACHER/DIETER R. BAUER (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte. Neue Folge, Heft 13), Paderborn [usw.] 1990, S. 307–327. 5 Vgl. BURGER, Aedificatio [Anm. 3], vor allem Kap. 2: Die Konzeption, 1. Auf Erbauung, Frucht und Nutzen kommt es an: Das veränderte Wertungsschema Gersons (S. 40–55). 6 Vgl. dazu HERBERT KRAUME, Die Gerson-Übersetzungen Geilers von Kaysersberg. Studien zur deutschsprachigen Gerson-Rezeption (MTU 71), München 1980. Werke Geilers wurden 1989– 1995 von GERHARD BAUER kritisch herausgegeben. 7 Vgl. zu Pottenstein GABRIELE BAPTIST-HLAWATSCH, Das katechetische Werk Ulrichs von Pottenstein. Sprachliche und rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen, Tübingen 1980. Dieser Bearbeiterin ist auch der erste Band der Edition der Dekalog-Auslegung Pottensteins zu verdanken (Tübingen 1995), der die Textbasis für die Kenntnis des Autors erheblich verbreitert. – Vgl. zum ›Wiener Kreis‹ als ganzem THOMAS HOHMANN, Die recht gelerten maister. Bemerkungen zur Übersetzungsliteratur der Wiener Schule des Spätmittelalters, in: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050–1750), T. 1, unter Mitwirkung von FRITZ PETER KNAPP (Mittelalter) hg. von HERBERT ZEMAN, Graz 1986, S. 349– 365. 8 Die Dissertation meines Schülers UWE BOCH, Katechetische Literatur im fünfzehnten Jahrhundert. Stephan von Landskron (†1477): Die Hymelstrasz. Diss. Tübingen 1994, liegt leider nur maschinenschriftlich vor.

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Strittig ist nun, ob die hermeneutische Bemühung, die ein Prediger dieser Richtung leistet, um Heilswissen zu vermitteln, als theologische Leistung bewertet werden darf, und wie diese Vermittlung sachgemäß zu benennen ist, kann man doch auch die Meinung vertreten, sie erfordere als bloße Weitergabe keine eigenständige theologische Anstrengung. Ich vertrete in der Debatte, die darüber geführt wird, die erste Auffassung: Die Transformation von Ergebnissen scholastischer und monastischer Theologie und mystischer Gotteserkenntnis für Laien stellt meiner Meinung nach eine theologische Leistung dar. Sie liegt vor allem auf dem Gebiet der theologischen Hermeneutik. Die Prediger reflektieren darüber, welche Inhalte scholastischer, monastischer und mystischer Theologie auf das Ziel der ewigen Seligkeit hinweisen, im guten Sinne erbauend und deswegen nützlich sind. Sie bemühen sich um verständliche und anschauliche Weitergabe von theologischen Aussagen, die zuvor bewußt nicht über den theologischen Hörsaal hinaus vermittelt worden waren. Bei den Adressaten sollte man nicht vereinfachend von ›Laien‹ sprechen. Dazu sind sie weder kirchenrechtlich noch durch Bildungsprivilegien scharf genug abzugrenzen.9 Nimmt man als Maßstab, in welchem Maße einem Personenkreis theologische Bildung zuvor vorenthalten worden ist, so handelt es sich bei den Adressaten der Mitglieder der skizzierten theologischen Richtung in aufsteigender Linie um Frauen (auch Nonnen), um Männer jeden gesellschaftlichen Standes, die ›in der Welt‹ leben, um Mönche, die nicht Kleriker sind, und um einfache Pfarrer (simplices curati). Die theologisch gebildeten Prediger der skizzierten Richtung knüpfen in ihren Predigten und den daraus konzipierten Erbauungsschriften gekonnt an die alltäglichen Erfahrungen ihrer Hörer und Leser an. Die deutschsprachige Predigt gewinnt im 15. Jahrhundert bei den Vertretern der charakterisierten theologischen Richtung eine neue Dimension, was die Vermittlung von Wissen angeht, das zum Heil nötig ist. Diese an Erbauung und Frömmigkeit interessierten Theologen setzen bei den Laien Interesse an solchem Wissen voraus. Sie befriedigen dieses Interesse, versuchen es wach zu halten, nach Kräften zu verstärken und gegenüber konkurrierenden Lesestoffen wie etwa den Heldensagen zu propagieren.

9

Vgl. GEORG STEER, Der Laie als Anreger und Adressat deutscher Prosaliteratur im 14. Jahrhundert, in: Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Dubliner Colloquium 1981, hg. von WALTER HAUG [u. a.], Heidelberg 1983, S. 354–367; DERS., Zum Begriff ›Laie‹ in deutscher Dichtung und Prosa des Mittelalters, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981, hg. von LUDGER GRENZMANN/KARL STACKMANN, Stuttgart 1984, S. 764–768; DERS., Transformation theologischer Ergebnisse für Laien im späten Mittelalter und bei Martin Luther. In: Praxis Pietatis. Beiträge zu Theologie und Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Wolfgang Sommer zum 60. Geburtstag, hg. von HANS-JÖRG NIEDEN und MARCEL NIEDEN, Stuttgart 1999, S. 47–64; DERS., Theologie und Laienfrömmigkeit. [Anm. 4], hier: S. 400–405; sowie von DEMS., Direkte Zuwendung zu den ›Laien‹ und Rückgriff auf Vermittler in spätmittelalterlicher katechetischer Literatur. In: Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 15), hg. von BERNDT HAMM und THOMAS LENTES, Tübingen 2001, S. 85–109.

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Meine zunächst an Johannes Gersons Vorlesungen, akademischen Reden, Erbauungsschriften und Predigten gewonnenen Beobachtungen werden bestätigt durch die meines Erlanger Kollegen BERNDT HAMM. Seine und meine eigenen Beobachtungen stützen und ergänzen einander. HAMM hat seine Sicht bei der Analyse der Schriften des Erfurter Augustinereremiten und Theologieprofessors Johannes von Paltz (†1511), die wir gemeinsam in Tübingen edierten, und der Werke des Johannes von Staupitz (†1524) entwickelt. Er hat den Vorschlag gemacht, die Angehörigen der skizzierten theologischen Richtung aufgrund ihres gemeinsamen Interesses an einer Theologie, die der Frömmigkeit dient, als ›Frömmigkeitstheologen‹ zu bezeichnen.10 ›Frömmigkeitstheologie‹ hat HAMM definiert als »eine Art von Theologie, die teils mehr reflektierend, teils mehr anleitend in ihrer grundlegenden Intention und in der Wahl ihrer Adressaten, Themen, Gattungen und ihres Modus loquendi der Verwirklichung einer bestimmten Lebensgestaltung dienen will.«11 In einem späteren Beitrag formulierte er: »Mit unterschiedlicher Reflexionsdichte und Informationsbreite, durch Weisung und Trost will sie [...] der Begnadung des sündigen Lebens, der zunehmenden Heiligung des begnadeten Lebens und der Erlösung des geheiligten Lebens dienen.«12 Widerspruch gegen den Terminus ›Frömmigkeitstheologie‹ hat ULRICH KÖPF angemeldet. Er hat im Kontext der Erforschung der Schriften Bernhards von Clairvaux die besonderen Kennzeichen monastischer Theologie im Vergleich zur scholastischen Theologie herausgearbeitet.13 KÖPF plädiert dafür, die Erklärung für die Wirksamkeit dieser theologischen Richtung vielmehr in einem Wiederaufleben monastischer Theologie im 15. Jahrhundert zu sehen. Er weist darauf hin, daß im 15. Jahrhundert Gersons »grundsätzliche Kritik am scholastischen Typ der Theologie aus der monastischen Tradition heraus [...] einer Wiedergewinnung monastischer Theologie den Weg geebnet« habe.14 Gegen den 10

Vgl. BERNDT HAMM, Frömmigkeit als Gegenstand theologiegeschichtlicher Forschung. Methodisch-historische Überlegungen am Beispiel von Spätmittelalter und Reformation, Zeitschrift für Theologie und Kirche 74 (1977), S. 464–497. – DERS., Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis (Beiträge zur historischen Theologie 65), Tübingen 1982. – BERNDT HAMM, Was ist Frömmigkeitstheologie? Überlegungen zum 14. bis 16. Jahrhundert, in: Praxis Pietatis [Anm. 9], S. 9–45. 11 HAMM, Frömmigkeitstheologie [Anm. 10], S. 133. Vgl. ferner von DEMS., Das Gewicht von Religion, Glaube, Frömmigkeit und Theologie innerhalb der Verdichtungsvorgänge des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Krisenbewußtsein und Krisenbewältigung in der Frühen Neuzeit – Crisis in Early Modern Europe. Festschrift für Hans-Christoph Rublack, hg. von MONIKA HAGENMAIER und SABINE HOLTZ, Frankfurt a. M. [usw.] 1992, S. 163–196, bes. S. 167–170, sowie von DEMS., Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation: der Prozeß normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, in: Archiv für Reformationsgeschichte 84 (1993) S. 7–81, bes. S. 24–35. 12 BERNDT HAMM, Was ist Frömmigkeitstheologie? [Anm. 10], S. 13. 13 Vgl. KÖPF [Anm. 1]. 14 ULRICH KÖPF, Monastische Theologie im 15. Jahrhundert, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte, Bd. 11, Sigmaringen 1992, S. 117–135, hier: S. 131. – Freilich schreibt er auch: »Es ist noch nicht im einzelnen untersucht, wie weit man über das 12. Jahrhundert, über Bernhard, seine Zeitgenossen und Schüler hinaus, von einer monastischen Theologie sprechen kann.«

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Begriff ›Frömmigkeitstheologie‹ wendet er ein: »Ich halte diesen Begriff für ganz unglücklich, weil er zwei grundsätzlich verschiedene Ebenen auf mißverständliche Weise miteinander verbindet. Jede Art von Theologie bezieht sich auf Frömmigkeit und strebt nach Umsetzung in Frömmigkeit. Entscheidend ist die genauere Bestimmung dieser Beziehung, die durch eine Verbindung der beiden Ebenen in einem Begriff erschwert wird. [...] Ein eigener Typus von Theologie liegt nur dann vor, wenn es sich nicht bloß um die Umsetzung theologischer Erkenntnisse aus dem Bereich der Wissenschaft in kleine Münze und pastorale Belehrung handelt, sondern wenn sich im Denken der betreffenden Autoren eine von ihrer Lebenssituation und den Zielen ihrer Arbeit bestimmte theologische Reflexion und Urteilsbildung nachweisen läßt. Andernfalls handelt es sich um eine Form der literarischen Vermittlung, nicht aber der theologischen Arbeit.«15 KÖPF ist also der Meinung, daß es die Transformationsbemühung theologisch geschulter Prediger des 15. Jahrhunderts nicht verdient, als eigene Art der ›Theologie‹ bezeichnet zu werden, schon gar nicht als ›Frömmigkeitstheologie‹. Die Frage, wie die neuen Akzentsetzungen in der deutschsprachigen Predigt des 15. Jahrhunderts adäquat zu bezeichnen sind, wird also kontrovers beantwortet. ULRICH KÖPF betrachtet die Leistung der Prediger lediglich als »Umsetzung theologischer Erkenntnisse aus dem Bereich der Wissenschaft in kleine Münze und pastorale Belehrung« und sieht im Rückgriff auf die monastische Theologie des 12. Jahrhunderts das eigentlich Neue. BERNDT HAMM stellt heraus, daß im 15. Jahrhundert die in die Zukunft weisende Theologie auf Förderung der Frömmigkeit ausgerichtet ist, während von der Schultheologie, die sich auf ausgetretenen Pfaden bewegt, keine wirklich wirkungsvollen Impulse mehr ausgehen. Mir ist der Vorgang besonders wichtig, den ich als ›Transformation‹ bezeichnet habe, die hermeneutisch bewußte Umsetzung ausgewählter Ergebnisse scholastischer und monastischer Theologie, damit sie von Nicht-Fachleuten verstanden werden können. Dabei spielt es nach meiner Beobachtung eine wichtige Rolle, an welchem Quellenkorpus die Beobachtungen gewonnen werden, die dann als die besondere Leistung der spätmittelalterlichen Prediger der skizzierten Richtung herausgestellt werden. Ob man von den Schriften eines Bernhard von Clairvaux, eines Johannes Gerson oder eines Johannes von Paltz ausgeht, um diese Form spätmittelalterlicher Theologie zu charakterisieren, hat entscheidenden Einfluß auf das Ergebnis. An einem sermo will ich nun prüfen, welche Theorie den Befund am besten erklärt. DERS., Die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Bernhards von Clairvaux. Forschungsstand und Forschungsaufgaben, in: Bernhard von Clairvaux. Rezeption und Wirkung im Mittelalter und in der Neuzeit, hg. von KASPAR ELM, Wiesbaden 1994, S. 5–66, hier S. 51. – Der an erster Stelle genannte Aufsatz über monastische Theologie enthält den wichtigen Hinweis, daß zwischen ›mystischer Theologie‹ als einer ›Theologie der Mystik‹ und ›mystischer Gotteserkenntnis‹ präzise unterschieden werden sollte (S. 124). 15 Vgl. KÖPF, Monastische Theologie im 15. Jahrhundert [Anm. 14], S. 124–125. Anfragen an den Begriff formuliert beispielsweise auch MARKUS WRIEDT, Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johann von Staupitz und Martin Luther, Mainz 1991, S. 224, Anm. 232.

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1. Die volkssprachliche Erbauungsschrift ›Die Himmlische Fundgrube‹ des Erfurter Augustiners Johann von Paltz Im Jahre 1490 wurde eine volkssprachliche Erbauungsschrift gedruckt, ›Die himmlische Fundgrube‹.16 Ihr Autor, der Erfurter Augustinereremitenmönch und Hochschullehrer der Theologie Johann von Paltz (etwa 1445–1511),17 hatte sie aus seinen eigenen Predigtkonzepten komponiert. In den folgenden Jahren wurde sie wiederholt nachgedruckt. ›Die himmlische Fundgrube‹ des Paltz gehört zu den am weitesten verbreiteten Erbauungsschriften des ausgehenden Mittelalters. 21 frühneuhochdeutsche und niederdeutsche Drucke sind in den Jahren 1490 bis 1521 erschienen. Die elf erhaltenen Handschriften sind gegenüber den Drucken sekundär. Das Verhältnis zwischen den ursprünglich gehaltenen Predigten und der gedruckten Erbauungsschrift läßt sich nicht genau bestimmen. Greifbar ist ja lediglich das gedruckte Werk. Es ist immerhin denkbar, daß der Prediger die Predigtreihe gründlich umarbeitete, bevor er die durchkomponierte deutsche Schrift dem sächsischen Kurfürsten Friedrich dem Weisen als Erbauungsschrift widmete. Paltz hat seine Predigtreihe zu vier ganz unterschiedlich langen ›Lesepredigten‹ umgearbeitet. Für diese Lesepredigten behalte ich die Bezeichnung der Quelle, sermo, bei. Nicht sicher auszumachen ist, ob alle vier sermones aus von Paltz wirklich gehaltenen Predigten oder Predigtentwürfen (und einer akademischen quaestio) ausgearbeitet worden sind oder ob er für die Publikation auch Stücke neu konzipierte.

2. Der Anlaß der Predigten Paltz war am 3. Februar 1490 von dem päpstlichen Legaten Raimund Peraudi angefordert worden. Der Erfurter Theologe sollte seine Pflichten in Kloster und Universität ruhen lassen und in Peraudis Auftrag als Unterkommissar den Ablaß in Thüringen, Meißen, Sachsen und Brandenburg vertreiben, also im Gebiet der Kurfürsten aus den Häusern Wettin und Hohenzollern. Peraudi betrieb als Kommissar den Vertrieb des Ablasses, der zur Finanzierung eines Krieges gegen die Türken ausgeschrieben worden war. Die Türken wurden, da sie Moslems waren, nicht allein als bedrohliche Reichsfeinde, sondern auch als Gegner des christlichen Glaubens betrachtet. Peraudi war ein bedeutender Organisator, der selbst nur die Bischofsstädte besuchte und von dort aus Unterkommissare entsandte.18 16

Kritische Edition: Johannes von Paltz, Die himmlische Fundgrube, hg. von HORST LAUBNER/ WOLFGANG URBAN [u. a.], in: Johannes von Paltz, Werke III: Opuscula, hg. u. bearb. von CHRISTOPH BURGER/ALBERT CZOGALLA [u. a.] (Spätmittelalter und Reformation 4), Berlin/New York 1989, S. 201–253 (hochdeutsch), 254–284 (niederdeutsch, ohne Fußnoten). 17 Zu Paltz vgl. BERNDT HAMM, Frömmigkeitstheologie [Anm. 10] sowie von DEMS., Johann von Paltz, 2VL IV, Sp. 698–706, u. DERS., Paltz, Johannes von (Johann[es] Jeuser [Jenser, Zenser, Genser, Geisser] von Paltz [Palz]), ca. 1445–1511, TRE XXV, S. 606–611. 18 BERND MOELLER, Die letzten Ablaßkampagnen. Der Widerspruch Luthers gegen den Ablaß in

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Seine Ablaßpredigt zog viele Menschen an. Eine Helmstedter Chronik des Jahres 1491 verzeichnet, daß dort im Jahre 1489 acht Beichtväter fast sieben Wochen lang für Peraudi tätig waren. In Erfurt waren im gleichen Jahre 25 Beichtväter im Dienste des Ablaßvertriebs tätig, in Nürnberg gar 43.19 Unter anderem predigte Paltz im Auftrage Peraudis im sächsischen Teil des Erzgebirges, in den Städten Freiberg und Schneeberg. In Schneeberg waren 1470 reiche Silbervorkommen entdeckt worden. Sie machten das Städtchen zum Zentrum des sächsischen Silberbergbaus. Die Einkünfte aus dem Bergbau wurden zur wichtigsten Einnahmequelle des Kurfürsten von Sachsen.20 Vermutlich nicht in Schneeberg selbst, sondern in der Residenzstadt Torgau21 predigte Paltz anschließend vor dem Kurfürsten Friedrich und dessen Bruder und designiertem Nachfolger Johann. Den Quellen läßt sich nicht entnehmen, wo die Predigten gehalten wurden und wieviele davon Kurfürst Friedrich selbst gehört hat. Bei seinen Predigten vor dem kurfürstlichen Hof in Torgau hatte Paltz es mit einem relativ homogenen Hörerkreis zu tun. Dagegen mußte er bei einer Ablaßpredigt in Schneeberg mit einem sehr gemischten Publikum rechnen. Hier konnten Hörer und Hörerinnen aller Stände der Bergwerksstadt zugegen sein. Der Augustinertheologe stimmt seine Botschaft geschickt auf die örtlichen Gegebenheiten und Erwartungen ab. Als die beiden sächsischen Fürsten ihn dazu ermutigten, seine Predigten gesammelt herauszugeben, gab Paltz der durchkomponierten volkssprachlichen Erbauungsschrift den Namen ›Die himmlische Fundgrube‹. Mit dem Wort ›Fundgrube‹ im Titel seiner Schrift spielte Paltz darauf an, daß es in Schneeberg die Zechen ›Rechte Fundgrube‹ und ›Alte Fundgrube‹ gab.22 Mit ›himmlisch‹ suggerierte er, die Gnade Gottes verspreche ähnlich hohe Gewinne geistlicher Art, wie der Bergbau hohe finanzielle Gewinne erwarten ließ. Auf der Grundseinem geschichtlichen Zusammenhang, in: Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1983–1987, hg. von HARTMUT BOOCKMANN [u. a.] (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-hist. Klasse. Dritte Folge, Nr. 179), Göttingen 1989, S. 539–567. MOELLER erwähnt auf S. 554, daß Peraudi in Helmstedt nicht selbst zugegen war, sondern einen Erfurter Licentiaten als seinen Unterkommissar einsetzte. Die Ablaßverkündigung dort ist also mit dem Einsatz des Paltz besonders gut vergleichbar. 19 Vgl. MOELLER [Anm. 18], S. 552–553. 20 Vgl. dazu INGETRAUT LUDOLPHY, Friedrich der Weise. Kurfürst von Sachsen 1463–1525, Göttingen 1984, S. 69f. u. S. 299–300, ferner WOLFGANG URBAN in seiner Einleitung zur Edition der ›Himmlischen Fundgrube‹ (PALTZ, Fundgrube [Anm. 16], S. 157–200, hier: S. 160 mit Anm. 16.) 21 Von Torgau geht HERBERT WOLF, Die ›Himmlische Fundgrube‹ und die Anfänge der deutschen Bergmannspredigt, in: Hessische Blätter für Volkskunde 49/50, T. 1 (1958) S. 347–354 aus. HAMM, Frömmigkeitstheologie [Anm. 10], S. 111 schließt sich dieser Auffassung an. Wenn Paltz sich in seinem Widmungsbrief an den Kurfürsten Commissarius der romischt gnaden zu Torgaw nennt (Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 202,5), dann kann das freilich nicht heißen, daß er nur in Torgau befugt gewesen wäre, den Ablaß zu predigen. 22 Vgl. zu den beiden Schneeberger Zechen HAMM, Frömmigkeitstheologie [Anm. 10], S. 114, Anm. 185. Der Terminus ›Fundgrube‹ ist als allgemeine Bezeichnung für ein Bergwerk ohne nähere Spezifizierung bereits seit der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts nachweisbar. Vgl. dazu JACOB GRIMM/WILHELM GRIMM, Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, S. 540.

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lage der volkssprachlichen Erbauungsschrift arbeitete Paltz in lateinischer Sprache eine Summe pastoraler Theologie aus. 1502 erwähnte Paltz in einem Brief, mit dem er dieses Werk dem Kurfürsten-Erzbischof von Köln Hermann IV. von Hessen widmete, der Besuch in Schneeberg habe ihn dazu angeregt, dieses umfangreiche Werk in Anlehnung an die geläufigen Wörter ›Goldbergwerk‹ oder ›Silberbergwerk‹ nun eben ›Himmelsbergwerk‹ zu nennen, ›Coelifodina‹.23 Das Studium der Heiligen Schrift nennt Paltz die Kunst, himmlische Erze zutage zu fördern.24 Einer der ältesten und ergiebigsten Stollen in Schneeberg, in denen Silbererz zutage gefördert wurde, hieß der ›Heilig-Kreuz-Stollen‹. Kein Wunder also, daß Johannes von Paltz, der den weitaus größten Teil seiner ›Himmlischen Fundgrube‹ der Anleitung zur Passionsmeditation25 widmete, sich angeregt fühlte! So, wie es der schneebergische ›Heilig-Kreuz-Stollen‹ ermöglichte, das Silbererz zu erreichen und abzubauen, so führt laut Paltz die Betrachtung Christi, der durch sein Selbstopfer am Kreuz das gestörte Verhältnis zwischen Gott dem Vater und den Menschen bereinigt, als eine Art metaphorischer Stollen zur Teilhabe am Heil, das der Erlöser geschaffen hatte. Der Nutzen des Ablasses wird zwölf Jahre später in der lateinischen ›Coelifodina‹ eine große Rolle spielen. In der volkssprachlichen Erbauungsschrift kommt der Ablaß fast nicht zur Sprache. Das ist erstaunlich genug bei einer Publikation, die aus Ablaßpredigten entstanden ist. Doch nicht genug mit den bisher genannten Anleihen des Predigers: Es hat in Schneeberg auch einen Stollen ›Gottes Gnade‹ gegeben. Paltz greift auch diesen Namen in seiner Erbauungsschrift auf. Zu Beginn der ›Himmlischen Fundgrube‹ schreibt er: Diß buchlein wirt genant Die himlische funtgrub, darumb das man himlisch erze darinn mag finden oder graben, das ist die gnad gottes.26 Durch die Bergbau-Metaphorik spielt der Hochschullehrer geschickt auf die Gewinnerwartungen seiner Hörer und Leser an. 23

Vgl. Johannes von Paltz, Werke I: Coelifodina, hg. u. bearb. von CHRISTOPH BURGER/FRIEDHELM STASCH (Spätmittelalter und Reformation 2), Berlin/New York 1983, S. 3,31–4,2: Nam sicuti ex aurifodina aurum et ex argentifodina argentum, quod in Monte Nivis, unde similitudinis occasionem quondam acceperam, abundat plurimum, ita ex ›Coelifodina‹ coelestis gratia omnibus his pretiosior educi potest. In dem lateinischen Werk bezeichnet Paltz die ›Fundgrube‹ als volkssprachliches Silberbergwerk, als Argentifodina vulgaris (Paltz, Coelifodina, S. 113,31). Eine interessante handschriftliche Notiz zum Aufbau der ›Coelifodina‹ aus einem Exemplar des Erstdrucks von 1502 druckt URBAN [Anm. 20] auf S. 169 ab. 24 Johannes von Paltz, Werke II: Supplementum Coelifodinae, hg. u. bearb. von BERNDT HAMM (...) Berlin/New York 1983, S. 150,11: artem mineralem coelestem. Vgl. dazu HAMM, Frömmigkeitstheologie [Anm. 10], S. 191. 25 Zur Passionsmeditation vgl. ULRICH KÖPF, Die Passion Christi in der lateinischen religiösen und theologischen Literatur des Spätmittelalters, in: Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters, hg. von WALTER HAUG/BURGHART WACHINGER, Tübingen 1993, S. 21–41, sowie MARTIN ELZE, Das Verständnis der Passion Jesu im ausgehenden Mittelalter und bei Luther, in: Geist und Geschichte der Reformation. Festschrift für HANNS RÜCKERT, hg. v. HEINZ LIEBING/KLAUS SCHOLDER (Arbeiten zur Kirchengeschichte 38), Berlin 1966, S. 127 – 151. Weitere Literatur in URBAN [Anm. 20], S. 167, Anm. 47. 26 Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 201, 3–4.

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3. Das Heilsangebot als lateinisch Geschulter zur Sprache bringen für volkssprachlich Geschulte und lateinisch Geschulte Paltz hat seine Predigten in deutscher Sprache gehalten. Die lateinischen Konzepte dafür sind uns leider nicht erhalten geblieben. Doch es hat sie gegeben. Das läßt sich daran ablesen, daß Paltz in seinem Widmungsbrief an den sächsischen Kurfürsten schreibt, dieser habe ihm den Auftrag erteilt, das ich welle zu teutsch machen etlich predige vor euern genaden getan.27 Eigentlich wäre der Gebrauch der vornehmeren lateinischen Sprache der Würde des Adressaten angemessen, setzt der Autor voraus. Doch war Friedrichs des Weisen Kenntnis der lateinischen Sprache nicht so gut, daß er wirklich gerne lateinische Texte gelesen hätte.28 Paltz meint eine höfliche Floskel der Entschuldigung dafür anbringen zu müssen, daß er ihm eine volkssprachliche Schrift widme, und bittet ihn, das schlecht teusch nicht zu verachten.29 Sei doch oft ein guter Kern in einer groben Schale verborgen, gutes Gold in einem groben, mißgeformten Beutel. Welche Ergebnisse theologischer Arbeit Paltz in der deutschsprachigen Erbauungsschrift vermittelt, wird besonders gut durch den Vergleich mit der zwölf Jahre später für einfache, aber doch immerhin lateinkundige Priester30 aus dem Welt- und Ordensklerus publizierten und wesentlich erweiterten ›Summe pastoraler Theologie‹ sichtbar, der bereits erwähnten ›Coelifodina‹. Wir sind also in der glücklichen Lage, zwei Ausarbeitungen desselben Autors für verschiedene Lesergruppen zu besitzen. Von den vier Gestalten, die der Stoff bei Paltz angenommen hat (lateinische Konzepte, deutsche Predigten, deutsche Erbauungsschrift, lateinische Summe pastoraler Theologie) sind uns also die beiden letzten erhalten. Ausdrücklich schreibt er in der ›Coelifodina‹, daß er seinerzeit seine volkssprachliche Erbauungsschrift aus lateinischen Konzepten erarbeitet habe.31 Hier in der ›Summe‹ nennt er häufig die Quellen mit Fundortangabe, die er in der Erbauungsschrift lediglich mit den Namen der Verfasser bezeichnet hat. Abgesehen davon, daß er in den zwölf Jahren zwischen dem Erscheinen der 27

Ebd., S. 202, 10–11. Vgl. zu Friedrichs des Weisen Kenntnis dieser Sprache LUDOLPHY [Anm. 20], S. 46: »Als Kurfürst ließ er sich eingegangene Schriften von Spalatin übersetzen, verstand ihren Sinn aber auch ohne fremde Hilfe.« Zuzustimmen ist LUDOLPHYs Hinweis, die ›Himmlische Fundgrube‹ sei eine »Quelle für die Frömmigkeit, die am kurfürstlichen Hofe gelebt wurde«. (S. 339). 29 Paltz, Fundgrube [Anm. 16], 202,14. 30 Zur Zielgruppe der sacerdotes simplices vgl. HAMM, Frömmigkeitstheologie [Anm. 10], S. 144 mit Anm. 77. 31 Paltz, Coelifodina [Anm. 23], Widmungsbrief an den Erzbischof von Köln, S. 3,18–19: Latinum ipsum hinc inde dispersum, ex quo vulgare sumpseram. – Vgl. dazu CHRISTOPH BURGER, Die Passionsharmonie des Augustiner-Eremiten Johannes von Paltz (ca. 1445–1511), in: Evangelienharmonien des Mittelalters, hg. von CHRISTOPH BURGER, AUGUST DEN HOLLANDER und ULRICH SCHMID (Studies in Theology and Religion, Bd. 9), Assen 2004, S. 123–138; DERS., Zwei spätmittelalterliche Predigten im Medium von Gelehrtensprache und Volkssprache, in: Media Salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, Bd. 58), hg. von BERNDT HAMM, VOLKER LEPPIN und GURY SCHNEIDER-LUDORFF, Tübingen 2011, S. 85–100; hier: S. 95–100. 28

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›Fundgrube‹ und dem der ›Coelifodina‹, zwischen seinem 45. und seinem 57. Lebensjahr, zusätzliches Wissen angesammelt haben mag, erfahren wir also in der ›Coelifodina‹ aus erster Hand, auf der Basis welchen gelehrten Wissens er schon 1490 vor Laien gepredigt hat. Ferner besitzen wir von dem Prediger Paltz auch einige lateinische Predigten für ein lateinkundiges Publikum, eine zu Beginn des akademischen Studienjahres an der Universität Erfurt32 und eine vor einer Klerikersynode.33 In diesen Predigten vor Gebildeten arbeitet Paltz mit einem ungleich höheren Aufwand gelehrten Wissens als in seinen volkssprachlichen Predigten. Darüber, daß der Theologe Paltz über die Verstehensvoraussetzungen bei seinen Hörern und Lesern reflektiert, gibt ein Satz wie dieser Aufschluß: Et forte in Argentifodina vulgari huiusmodi meditationes facilius a simplicibus intelligerentur.34

4. Der Aufbau der Erbauungsschrift Der erste sermo umfaßt mit 35 Seiten im modernen Druck allein zwei Drittel des gesamten Werkes. Ihm gilt unsere Aufmerksamkeit hier in erster Linie. Er handelt von der täglichen Betrachtung des Leidens Christi auf sechs verschiedene Weisen. Paltz bezeichnet diese Möglichkeiten des Zugangs zur Gnade Gottes – einmal mehr in Bergwerksmetaphorik – als sechs stollen. Paltz will die sechs Arten der Passionsmeditation wohl auf die sechs Werktage einer Woche aufgeteilt sehen. Dafür spricht besonders, daß die Betrachtung des gesamten Leidens Christi nach den einzelnen Tagzeiten des kanonischen Stundenbuches bei Paltz’ Einteilung auf den Freitag fällt, auf den Tag also, an dem allwöchentlich der Kreuzestod Christi in Erinnerung gerufen wird.35 Die ersten drei und der fünfte stollen gehen wohl auf eine Predigtreihe zurück, die darüber handelt, wie man sich das Leiden Christi zu Nutzen machen könne.36 Als eine Methode empfiehlt Paltz eine popularisierte mystische Meditation der fünf Wunden Christi. Er spricht ferner über die fünf Schläge, die Jesus empfangen habe, sowie über die sieben letzten Worte Jesu am Kreuz.37 Der vierte und der sechste stollen innerhalb des Teils der Erbauungsschrift, der sich als ein einziger sermo präsentiert, lassen noch besonders deutlich erkennen, daß hier mehrere ursprünglich selbständige Predigten zusammengearbeitet worden sind: Im vierten stollen des ersten sermo zitiert Paltz intensiv eine pseudo-bernhardinische Homilie über das ›Stabat mater‹ (Io 19, 25–27).38 Dem sechsten stollen dagegen liegt offenbar eine scholastische Quaestio zugrunde. Der Autor hat sie nicht so gründlich um32

Sermo in principio novi studii (Paltz, Opuscula [Anm. 16], S. 355–379). De adventu domini ad iudicium (Paltz, Opuscula [Anm. 16], S. 381–408). 34 Paltz, Coelifodina [Anm. 23], S. 113,31–32. 35 Vgl. URBAN [Anm. 20], S. 166. 36 Zum Thema ›Nutzen‹ vgl. oben die Einleitung und unten Abschnitt 5 zur Zielsetzung. 37 Vgl. URBAN [Anm. 20], S. 165–166. 38 Nähere Ausführungen dazu unten in Anm. 83 u. 84. 33

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gearbeitet, daß ihre Spuren nicht noch erkennbar wären. Besonders deutlich wird das etwa an einer Formulierung, die an eine Gliederung des Stoffes für Studierende im Hörsaal denken läßt: dabei finden sich seuberlich frogen.39 Der zweite sermo, ein kurzer Traktat von den bosen gedanken der misbittung,40 schildert die Gefahr blasphemischer Gedanken und unterbreitet Vorschläge, sie abzuwehren. Diesem sermo dürfte ein Predigtkonzept zugrunde liegen, denn für eine wirklich gehaltene Predigt ist er mit seinen knapp zweieinhalb Seiten im modernen Druck zu kurz. Eingefügt ist ein Stoßgebet an Maria. Der dritte sermo, Von der wollgebrauchung des todes,41 ein in zwei Abschnitte gegliedertes Sterbebüchlein, läßt noch deutlich erkennen, daß er aus mehreren Predigten zusammengefügt worden ist. Einige Gedanken aus dem zweiten Abschnitt Von der kunst zu sterben42 hat Paltz zu einer kleinen Schrift De arte bene moriendi ausgearbeitet, die handschriftlich überliefert ist. Sie unterscheidet sich von dem gleichnamigen Abschnitt in der ›Coelifodina‹, in den sie eingearbeitet worden ist.43 Der vierte sermo handelt vom Nutzen des Sakraments der Heiligen Ölung.44

5. Die umfassende Zielsetzung: Gott und der ganzen ecclesia triumphans im Himmel zu Lob und Ehren, den Gliedern der auf Erden streitenden ecclesia militans zum Nutzen Die Erbauungsschrift ›Die himmlische Fundgrube‹ des Erfurter Hochschullehrers und Augustinereremiten Johannes von Paltz sowie seine zwölf Jahre später verfaßte ›Coelifodina‹ sind einzuordnen in die Bemühungen der Angehörigen der eingangs skizzierten theologischen Richtung. In seinem Widmungsbrief zu der Schrift ›Die himmlische Fundgrube‹ unterstellt Paltz auch dem Kurfürsten diese Intention: gott dem almechtigen zu ere, seiner liben muter und allen gottes heiligen in lob und den menschen zu nutz.45 Zu Beginn des ersten sermo begegnet nutz im Zitat des angeblichen Albertus Magnus komparativisch verwendet dreimal, in Paltz’ eigener Formulierung superlativisch weitere drei Male: Es gibt nichts Nützlicheres als die Meditation der Passion Christi heißt es dort, Gottes Huld zu erwerben, die Gunst der Gottesmutter, aller Heiligen und Engel. Es gibt nichts Nützlicheres, die durch den Sündenfall geschädigten Kräfte der Seele wiederherzustellen und damit den 39

Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 233,8. Ebd., S. 236,14–238,27. 41 Ebd., S. 239,1–248,23. 42 Ebd., S. 243,12–248,23. 43 Vgl. dazu die Einleitung von BURGER zur ›Coelifodina‹ [Anm. 23], S. XV, Anm. 14. In der kritischen Edition (S. 210,20–228,3) wurden die Abweichungen zwischen diesem Schriftchen und der Endgestalt, die Paltz seinen Gedanken in der ›Coelifodina‹ gab, hervorgehoben. 44 Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 249,1–253,7: Die vierd predig ist von der heiligen olung, die den kranken gros hilf tut an leib und an sele. 45 Ebd. [Anm. 16], S. 202,8–10. 40

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Menschen wieder zu Gottes Ebenbild zu machen. Es gibt nichts Nützlicheres, seine eigene Ehre zu bewahren und den Anfechtungen des Teufels zu widerstehen, der in des Christenmenschen Seele und Leib und (bis zu seiner endgültigen Überwindung) als Herr der widergöttlichen ›Welt‹ die Wirkung von Gottes Gnade zu vereiteln sucht.46 Man kann all diese Sätze als Topik abtun. Ich bin aber geneigt, die Bezugnahme auf himmlische und irdische Hierarchie vielmehr als den Bezugsrahmen ernst zu nehmen, in den Paltz seine Aussagen einordnen will, hatte doch die Lehre des Pseudo-Dionysius Areopagita von der Abbildung der himmlischen Hierarchie auf Erden im späten Mittelalter große Bedeutung.47 Paltz’ Zielsetzung insgesamt findet sich ganz ähnlich formuliert bei Ulrich von Pottenstein: Christo Jhesu czu lob, seiner lieben muoter vnd allem hymlischen her czu eren, der heiligen kirchen vnd iren kindern, den frumen und verstanden layen, die geschikchet sind vnd lieb haben in dewtschen puchern zu lesen, czenucz vnd cze ubung.48 Ohne daß bei ihm stets ausdrücklich Gottes Ehre erwähnt werden müßte, die dem ihn ehrenden Menschen Gottes Huld einträgt, und ohne die himmlische Hierarchie stets mit zu nennen, formuliert auch Johannes Gerson eine vergleichbare Zielsetzung, wenn er immer wieder auf Erbauung, Frucht und Nutzen als Ziele theologischer Arbeit abhebt.49 Einen ähnlichen Ton schlägt allerdings auch der päpstliche Legat Peraudi an, dem ich dabei keine theologische Konzeption unterstelle, wenn er die Erfurter Augustiner bittet, ihren Mitbruder Paltz eine Weile als Unterkommissar ziehen zu lassen. Er werde unter Gottes Leitung in diesem so notwendigen und heiligen Werk die reichsten ›Früchte‹ hervorbringen.50

6. Die Vermittlung von Ergebnissen scholastischer und monastischer Theologie in der volkssprachlichen Erbauungsschrift im Vergleich zur späteren lateinischen Fassung Gleich zu Beginn des ersten Sermo führt Paltz zwei Autoritäten ein: Bernhard von Clairvaux und Albert den Großen. Schon Bernhard, der heilge, susse lerer,51 habe die Betrachtung der Wunden Christi empfohlen, weil kein nutzer oder kreftiger ding sei, zu heilen die wunden der sunde.52 46

Ebd. [Anm. 16], S. 203: mer nutz (Z. 1), nutzer (Z. 2), nutzer (Z. 4), kein nutzer ding (Z. 6), kein nutzer ding (Z. 8), kein nutzer ding (Z. 11). 47 Vgl. PIERRE FRAENKEL, An der Grenze von Luthers Einfluß. Aversion gegen Umwertung, Zeitschrift für Kirchengeschichte 89 (1978), S. 21–30. 48 BAPTIST-HLAWATSCH [Anm. 7], S. 145, V. 59–63. Vgl. BURGER, Erwartung [Anm. 4], S. 111. 49 Vgl. zu Gerson BURGER, Aedificatio [Anm. 3]. 50 Pariet, deo duce, in hoc tam necessario et sancto opere fructus uberrimos (zit. nach URBAN [Anm. 20], S. 160). 51 Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 202,18: Anspielung auf den Ehrentitel Bernhards doctor mellifluus. 52 Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 202,19–20. Bernhard spricht allerdings von conscientiae vulnera, nicht von Wunden, die die Sünde geschlagen habe: Quid enim tam efficax ad curanda conscientiae vulnera, necnon ad purgandam mentis aciem, quam Christi vulnerum sedula meditatio?

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In der lateinischen ›Coelifodina‹ wird Paltz diese Aussage des Bernhard gleich dreimal zitieren: am Ende des ersten Teils seiner Passionsharmonie,53 ein zweites Mal dort, wo er die ›Früchte‹ der Passionsmeditation aufzählt,54 ein drittes Mal an der Stelle, an der er verschiedene Weisen der Passionsmeditation nennt.55 An der ersten genannten Stelle bündelt das Zitat lediglich, ein Hieronymus-Zitat tritt verstärkend hinzu. An der zweiten Stelle liefert der Hochschullehrer Paltz in der lateinischen Fassung eine exakte Fundortangabe: Gelehrte Leser, die Zugang zu einer Bernhard-Handschrift oder zu einem Druck haben, können das Zitat im Kontext nachlesen.56 Die Kombination mit der aus einem Florilegium zitierten Aussage Alberts des Großen macht deutlich, daß mit dieser zweiten der drei Stellen, an denen Paltz das Bernhard-Zitat anführt, eine Neubearbeitung aus der deutschsprachigen Erbauungsschrift in der lateinischen ›Summe‹ vorliegt. An der dritten Stelle schließt diese Textpassage an ein ausführliches Augustinzitat an. Paltz betont denn auch, daß der mellifluus doctor hier Augustinus nachahme.57 Eine besonders gut ins eigene Konzept passende Aussage, gedeckt durch die Autorität des ›honigfließenden Lehrers‹ Bernhard von Clairvaux, verwendet Paltz ohne weiteres mehrfach. Hämmert sie doch ein, wie nützlich die Meditation der Passion Christi für die Heilung der Wunden ist, die die Erbsünde geschlagen hat. In der deutschsprachigen Predigt folgt sodann eine Aussage, die Paltz auf Albert den Großen zurückführt. Es ist dieselbe Aussage, die Paltz zwölf Jahre später in seinem lateinischen Werk erneut mit dem Bernhard-Zitat kombinieren wird: Wer das Leiden Christi auch nur so oberflächlich bedenkt, wie man Erbsen oder Bohnen zählt, der erlanget da mit mer nutz, als wenn er jeden Freitag fastet oder als wenn er sich wöchentlich einmal als Bußübung bis aufs Blut geißelt oder als wenn er freiwillig wöchentlich alle Psalmen des Psalters betet, wozu ja nur Mönche verpflichtet sind.58 Den Lateinkundigen wird der Hochschullehrer verraten, daß er (und, wie wir wissen, vor ihm schon sein Lehrer Dorsten) dies angebliche Albertus-Zitat im Unterschied zu dem Bernhard-Zitat, das er exakt nachweist, aus einem Florilegium59 übernommen hat. Schreibt Paltz doch, diese Bernhard von Clairvaux, Super Cantica sermo 62, 7 (ed. Cist. II), S. 159,24–26). – Bernhards Stellung in der Auslegungsgeschichte des Hohenliedes behandelt ULRICH KÖPF in seiner Einleitung zu Text und Übersetzung der Predigten über das Hohe Lied, in: Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke lateinisch/deutsch, Bd. 5, hg. von GERHARD B. WINKLER, Innsbruck 1994, S. 27–47, hier: S. 34–37. 53 Paltz, Coelifodina [Anm. 23], S. 21,14–16. 54 Ebd., S. 99,24–26. 55 Ebd., S. 111,15–18. 56 Ebd., S. 99,24f.: Bernhardus sermone 43 Super Cantica. 57 Ebd., S. 11,15f.: mellifluus doctor Bernhardus Augustinum imitatus. Nicht umsonst führt Paltz in seiner Erbauungsschrift als erste Autorität Bernhard von Clairvaux an, die herausragende Autorität monastischer Theologie am Ende des Mittelalters. Insofern ist ULRICH KÖPF, Die Rezeptionsund Wirkungsgeschichte [Anm. 14], S. 8–27 zuzustimmen, daß dieser Exponent monastischer Theologie in der skizzierten ›Richtung‹ gern rezipiert worden ist. 58 Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 202,20–203,5. Diese auf Albert den Großen zurückgeführte Aussage hat Paltz wie vieles andere von seinem Lehrer Johann von Dorsten übernommen.

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Aussage des großen Dominikaners werde communiter apud multos angeführt.60 Meditation der Passion erwirbt wahre Genugtuung für die Sünden. Sie ist laut Albertus Magnus eine einfachere und nützlichere Weise der Genugtuung. Passionsmeditation, in Paltz’ Formulierung betrachtung des heiligen leidn Cristi, nützt mehr als alles andere, gots hult zu erwerben. Dadurch erwirbt man ferner die gunst der muter gots, aller Heiligen und Engel. Der Gläubige, der noch Glied der auf Erden kämpfenden Kirche ist, stellt sich also dadurch unter den Schutz der triumphierenden Kirche im Himmel. Für seine Behauptung führt der Prediger keine Autoritäten mit Namen und Fundort an, er verweist nur allgemein darauf, das könne man aus vil leren verstehen.61 Für den oberflächlichen Leser kaum erkennbar, für den Kenner aber überdeutlich vorhanden ist der theologische Hintergrund, wenn Paltz den Lesern der deutschen Erbauungsschrift sodann versichert, nichts nütze mehr als das Bedenken des Leidens Christi zu gutem verstentnis, zu guttem willen, zu guttem gedechnis.62 Paltz führt an dieser Stelle nicht aus, was er damit theologisch sagen will, und nennt auch keinen Autor, dem er folgt. Hält man aber die zwölf Jahre später gedruckte lateinische ›Coelifodina‹ des Autors daneben, so wird klar, daß der Augustiner seinen Hörern schon 1490 mit seiner Formulierung sagen will, daß die Passionsmeditation die Folgen des Sündenfalls in memoria, intellectus und voluntas des Sünders, dem Abbild der Dreifaltigkeit im Menschen, tilge.63 Paltz greift damit wieder auf, was er weiter oben (frei nach Bernhard von Clairvaux) gesagt hatte: Die Meditation der Passion Christi heile die Wunden, die der Sündenfall geschlagen habe. Sucht man in dem volkssprachlichen Werk nach der Durchführung des Plans, durch die Passionsmeditation den drei Seelenkräften aufzuhelfen, so läßt sich beobachten, daß Paltz das Erinnerungsvermögen seiner Leser durch eine leicht faßliche, durch mnemotechnische Hilfen wie fünf Wunden, fünf Schläge, sieben Worte stark gegliederte Nacherzählung der Passionsgeschichte zu unterstützen versucht. Ihre Einsicht will er beispielsweise verstärken mit seinen Hinweisen: So mustu zu dem ersten merken und Zu dem andern mustu merken.64 Ihren Willen versucht er durch die zahlreichen eingestreuten Gebete anzuspornen. Es liegt ihm besonders daran, Dankbarkeit für Christi erlösendes Leiden zu erzeugen.

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Vgl. ebd. [Anm. 16], Anm. 8 auf S. 202f., mit Verweis auf WOLFGANG STAMMLER, Albert der Große und die deutsche Volksfrömmigkeit, Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 3 (1956), S. 287–319, bes. S. 305. 60 Paltz, Coelifodina [Anm. 23], S. 99,27–30: facilior et utilior modus satisfaciendi secundum Albertum Magnum, qui communiter apud multos allegatur dicens: Quicumque passionem Christi cotidie transcurrerit, sicut qui fabas numerat, talis exinde tres utilitates consequitur. 61 Vgl. Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 203,6–8. 62 Ebd., S. 203,9–10. 63 Ebd., [Anm. 16], S. 230,10: geschaffen drifaltikeit. 64 Ebd., S. 204,12 u. S. 205,6.

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In der ›Coelifodina‹ tritt der Ansporn des Willens minder stark hervor. Als Beleg dafür, daß die Gottebenbildlichkeit des Menschen nach Genesis 1,26 wiederhergestellt werden muß, zitiert Paltz aus den kommentierenden Glossen des Nikolaus von Lyra.65 Er verweist außerdem auf den Aristoteles-Kommentator Avicenna, auf Heinrich Seuses ›Horologium aeternae sapientiae‹, auf Augustin und einmal mehr auf Bernhard von Clairvaux.66 Von zentraler Bedeutung ist für Paltz in der ›Coelifodina‹ die Seelenkraft ›Erinnerung‹, die memoria. Er stellt denn auch seine lateinische Darstellung der Passionsmeditation unter das Thema: Reduc me in memoriam tuam.67 An der Zufügung des tuam wird exemplarisch deutlich, wie frei Paltz als Theologe seiner Zeit mit dem biblischen Text umgehen kann. Die Zufügung dieses Wörtchens verändert den Sinn von Is 43,26 völlig. Im Wortlaut der hebräischen Bibel läßt der Prophet Jesaja Gott sein Volk spöttisch herausfordern: »Erinnere du mich doch, mein Volk Israel, [wenn du es vermagst]!« Durch den Zusatz tuam wird aus der spöttischen Herausforderung Gottes an sein Volk eine Bitte des gläubigen Christen: »Gott, laß mich deiner wieder gedenken!« In der lateinischen ›Coelifodina‹ führt Paltz Aussagen der beiden Viktoriner Richard und Hugo zu den Folgen des Sündenfalls an und faßt dann zusammen: Wie die Verdammnis des Menschen eine Folge dessen gewesen sei, daß er Gottes vergaß, so sei es für seine Rettung erforderlich, daß er sich Gottes erinnere.68 Christus habe aus dem Wunsch heraus, das Erinnerungsvermögen der Menschen wiederherzustellen, zunächst bestimmte Orte für seine Passion gewählt, sodann für jeden dieser Orte eine bestimmte Art des Leidens. Auf diese Weise habe er die Menschen wieder an ihren Schöpfer erinnern wollen.69 In der volkssprachlichen Fassung rundet Paltz anschließend sein umfassendes Programm ab: Nicht genug damit, daß es, wie bereits gesagt, kein nutzer ding gibt dan das leiden Cristi bedenken, um gots hult zu erwerben, zu gunst der muter gots und aller heiligen und aller engel, [...] kein nutzer ding zu gutem verstentnis, zu guttem willen, zu guttem gedechnis, nein, die Passionsmeditation nützt auch am meisten zu gesuntheit des leibes, zu bewarunge der sele und der ere, zu uberwindung der [gottfeindlichen] welt und des [wider Gottes Gebote streitenden] fleisch und des bosen geistes und vor aller ferlichkeit leibs und sele.70 Der Prediger und Erbauungsschriftsteller spricht seine Hörer und Leser 65

Nikolaus von Lyra zu Gn 1,26: Imago enim dei consistit in anima quantum ad proprietates naturales, scilicet memoriam, intelligentiam et voluntatem, zit. in: Paltz, Coelifodina [Anm. 23], S. 101, 19–21. 66 Paltz, Coelifodina [Anm. 23], S. 101,26–103,3. 67 Ebd., S. 11,2. 68 Ebd., S. 11,23f.: Sicut autem hominis damnatio ex dei oblivione procedit, sic salvatio ex dei recordatione. 69 Ebd., S. 11,27–12,4. 70 Vgl. Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 203,6–14, geringfügig umgestellt, um das Zitat in den Satzbau einzupassen. Paltz hat die Trias ›Welt, Fleisch, böser Geist‹ an dieser Stelle wohl von Bernhard übernommen. Denn wie weiter unten darzustellen sein wird, taucht sie einige Zeilen weiter (S. 204,8–11) erneut auf, diesmal in einem freien Zitat nach Bernhard von Clairvaux: Bernhard,

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auf allen Ebenen an. Mit der Passionsmeditation ist Gottes Huld zu verdienen, die durch den Sündenfall verlorene Gottähnlichkeit zurück zu gewinnen, allen Gefährdungen durch den Teufel Widerstand zu leisten und auf diese Weise auch die eigene Ehre und körperliche Gesundheit zu schützen. Der Theologe spitzt seine Predigt deutlich darauf zu, was dem Hörer nützt. In der lateinischen ›Coelifodina‹ wird er auch minder nützliche Frömmigkeitsübungen abweisen. Um die Plausibilität seiner Predigt zu erhöhen, bietet er seinen Lesern (und bot er vermutlich bereits seinen Predigthörern) Autoritätenbelege an. Sie können in der volkssprachlichen Form allein dazu dienen, seine Aussage zu unterstreichen. Genauere Angaben, in welchem Werk beispielsweise Bernhard von Clairvaux und Albert der Große diese Aussagen gemacht haben sollen, hätten für die Hörer der Predigt und die Leser des Erbauungsbuches keinen Wert. Es geht also um eine Auswahl aus dem Wissensstoff, wobei den Maßstab wiederum der für die Hörer erwartete Nutzen liefert. Wie man das Silber in den Schneeberger Gruben durch Stollen erreicht, so kann man sich auch dem durch Jesu Passion vermittelten Heil durch stollen nähern. Paltz geht davon aus, daß Menschen als Folge der Schädigung durch die Erbsünde ein so schwaches Erinnerungsvermögen haben, daß sie sich den Ablauf der Passion nur merken können, wenn ihnen Erinnerungsstützen geboten werden. Eine erste derartige Merkhilfe, ein erster ›Zugangsstollen‹ zu dem heilig leiden Cristi, das in Überbietung der sächsischen Silberbergwerke ein goltgrub und mer dan ein goltgrub71 genannt zu werden verdient, sind die fünf Wunden, die Christus beigebracht wurden.72 Wenn es im Hohen Lied 2,14 heißt: Mein taub sol nisten oder ruen in den lochern des felsen und in dem loch der weingartmaur,73 dann hört der Prediger Paltz Christus selbst sprechen: Mein einige sele sol nisten oder ruen in mein heligen wunden und sunderlich in meiner heiligen seiten.74 Er verweist darauf, daß schon Bernhard von Clairvaux geschrieben habe, die Seele des Christen finde nirgends anders Ruhe vor dem eigenen gottfeindlichen Fleisch, der gottfeindlichen Welt und dem bösen Geist als in Christi Wunden.75 Schildert der sprachgewaltige Zisterzienser die Anfechtungen mit drei Verben: Fremit mundus, premit corpus, diabolus insidiatur: non cado,76 so spitzt der Augustiner in der volkssprachlichen Schrift die Gefährdung auf die Folge für den Angefochtenen zu, der keine rue findet: Spricht sant Bernhart, das die sele kein rue muge finden vor dem fleisch, vor der welt und Super Cantica, sermo 61, 3 (ed. Cist. II, S. 150,9f.). Vgl. auch Paltz, Coelifodina [Anm. 23], S. 112,9–15. 71 Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 204,2. 72 Ebd., S. 204,4–5. 73 Ebd., S. 204,5–6. 74 Ebd., S. 204,7–8. Die Seitenwunde Jesu, aus der Blut und Wasser flossen (vgl. Io 19,34), wurde schon von Augustinus mit den Sakramenten in Verbindung gebracht, und die Sententiae des Petrus Lombardus griffen diesen Gedanken wirkungsreich auf; vgl. ebd., S. 204, Anm. 15. 75 Ebd., S. 204,8–11. 76 Bernhard, Super cantica sermo 61, 3 (ed. Cist. II, S. 150,9f.).

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vor dem boßen geist. In seiner lateinischen Schrift läßt Paltz in seiner Paraphrase des Bernhard-Zitats die Rolle des eigenen Fleisches wegfallen: Nam clamat contra nos mundus, rugit diabolus, et tamen non cadimus.77 Neben Aussagen, mit denen Paltz zugleich theologische Ergebnisse vermittelt, stehen durchaus auch Anleitungen zur Förderung der Frömmigkeit ohne theologischen Anspruch. Als Zeichen seiner Dankbarkeit für Christi stellvertretendes Leiden soll der Glaubende sich selbst mit all seinen guten und bösen Taten ihm ›opfern‹. Für seine Leser formuliert Paltz je ein Gebet für jede einzelne von Christi Wunden. Hier kann keine Rede sein von ›Transformation von Theologie‹, es handelt sich vielmehr um schlichte Anleitung zur Frömmigkeitspraxis. Auf theologische Reflexion weist dennoch auch hier hin, daß der Augustinertheologe konsequent in seinen einleitenden Texten den soteriologischen Titel ›Christus‹ gebraucht, während er die Gebete an ›Jesus‹ richtet. Als einen zweiten stolle betrachtet der Autor die fünf Schläge, die Christus erlitten hat. Paltz zählt sie zunächst auf.78 Auch hier formuliert er wieder Gebete, eingeleitet durch die Teilüberschrift: Von der betrachtung der funf schleg.79 Sie sprechen den Dank für jeden der Schläge aus und bitten um Zurechnung dieses Leidens zur Vergebung der Sünden, die durch dies Leiden getilgt werden sollten. Im dritten stoll, der die Meditation der sieben Worte Christi am Kreuz zum Thema hat, beschränkt sich Paltz völlig auf das Formulieren von Gebeten.80 In einem Gebet an Maria in der volkssprachlichen Schrift geht Paltz ohne lange Erörterungen davon aus, Christus habe nackt am Kreuz gehangen. Das scheint ihm hier für die fromme Erbauung unproblematisch gewesen zu sein.81 In der lateinischen ›Coelifodina‹ dagegen reflektiert er im Anschluß an seinen Lehrer Dorsten ausgiebig darüber, ob Christus nun bekleidet oder nackt am Kreuz gehangen habe und was es zu predigen gelte.82 Der vierte Zugangsweg führt über die Meditation von Marias Stehen beim Kreuz Christi. Im Unterschied zu den beiden vorigen stollen, in denen allein die Erwähnung Bernhards von Clairvaux auf den theologischen Hintergrund verweist, referiert Paltz nun wieder Aussagen anderer Theologen, von denen er sich verspricht, daß sie die Frömmigkeit seiner Leser fördern werden. Ausgiebig zitiert er aus einer Predigt über Io 19,25–27,83 die er Bernhard von Clairvaux zuschreibt, deren wirklicher Verfasser aber wahrscheinlich Heinrich von Langenstein ist, der Homilie zu Stabant autem iuxta crucem Iesu mater eius.84 Es 77

Paltz, Coelifodina [Anm. 23], S. 112,13. Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 206,12–16. 79 Ebd., S. 207,1. 80 Ebd., S. 208,5–210,4. 81 Ebd., S. 208,23f.: do dein aller liebstes kint vor dir hingk nakket. 82 Paltz, Coelifodina [Anm. 23], S. 51, 18 – S. 53, 18. 83 Diesen Bibeltext zitiert Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 210,8–12. 84 Homilie Stabat autem iuxta crucem Iesu mater eius. Überliefert in: Clm 7455 und Clm 7553. Differenziert erörtert wird die Verfasserfrage von BURGER in: Paltz, Coelifodina [wie Anm. 23], S. 61, Anm. 6, und von URBAN in: Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 210, Anm. 54. 78

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belegt einmal mehr die Bedeutung Heinrichs von Langenstein für die theologische Richtung, deren Anhänger sich stark für die Förderung der Frömmigkeit einsetzten, daß eine seiner Predigten Bernhard von Clairvaux zugeschrieben werden konnte. Dieser Predigt entnimmt Paltz die Aussage, die Meditation von Marias Stehen unter dem Kreuz besitze die Kraft, auch den zu heilbringenden Tränen zu rühren, der die Leiden Christi, die in den Evangelien an früherer Stelle zur Sprache kommen, zu seinem eigenen Schaden ungerührt anhören konnte.85 Denn Paltz geht es darum, auch Unbußfertigen eine Chance zu bieten, die Heilsangebote anzunehmen, die Gott durch Vermittlung der Kirche selbst den maximi peccatores eröffnet.86 Neben Pseudo-Bernhard kommt auch Simon von Cascia zu Wort.87 Ganz knapp streift der Prediger und Erbauungsschriftsteller die Eva-MariaTypologie: Wie Eva und ihre geistlichen Töchter beim verbotenen Baum der Wollust stehen, so stehen Maria und ihre geistlichen Töchter beim Kreuz, dem Baum der Schmerzen. Die Quelle, aus der Paltz schöpft, wird einmal mehr deutlich, wenn man die ›Coelifodina‹ zum Vergleich heranzieht. Er hat in dem Werk ›De gestis domini salvatoris in quattuor evangelistas‹ seines Ordensbruders Simon von Cassia ausführliche Aussagen über die Eva-Maria-Typologie gefunden. Doch ähnlich wie bei der Frage, ob Jesus nun nackt oder bekleidet am Kreuz gehangen habe, bleibt er auch in dieser Frage in der ›Fundgrube‹ knapp. Er beläßt es bei sechs Zeilen im modernen Druck.88 Ganz anders zwölf Jahre später in der lateinischen Fassung. Nun zitiert er zur Eva-Maria-Typologie beinahe drei Druckseiten der modernen Edition aus Simon von Cassia.89 Mitten in die Belehrung schiebt der Prediger eine Nutzanwendung ein. Mit der gleichen Andacht, mit der Maria unter dem Kreuz stand, sollen auch seine Hörer Christi Leiden meditieren und Maria darum bitten, ihnen zu solcher Andacht zu verhelfen: Alßo sollen wir auch steen und sollen sie bitten, das sie unß welle helfen alßo steen.90 Ein Stoßgebet an Maria, sie als aller getreueste muter möge die Beter von der ersten muter Eva erlösen, schließt die Behandlung dieser Frage ab.91 Auch den vierten ›Zugangsweg zur Gnade Gottes‹, in den er vergleichsweise viel theologisches Material eingearbeitet hat, schließt Paltz wieder mit 85

Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 210,13–211,4. Zu Paltz’ Einsatz gerade für die maximi peccatores vgl. HAMM, Frömmigkeitstheologie [Anm. 10], S. 377, Register s. v. ›Sünde‹, Unterstichwort ›peccator maximus‹. 87 Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 212,14f.: All hie fraget der doctor Simon de Cassia ... 88 Ebd., S. 211,19–21. 89 Vgl. Paltz, Coelifodina [Anm. 23], S. 68,28–71,21 u. S. 80,20–82,16. Vgl. CHRISTOPH BURGER, Johannes von Paltz († 1511) als Rezipient von De gestis Domini Salvatoris des Simon von Cascia, in: Simone Fidati da Cascia OESA. Un agostiniano spirituale tra medioevo e umanesimo. Atti del Congresso Internazionale in occasiione dell’ VIII Centenario della nascita (1295–1347). Cascia (Perugia) 27–30 Settembre 2006 a cura di Carolin M. Oser-Grote e Willigis Eckermann O.S.A., hg. v. WILLIGES ECKERMANN u. a. (Studia Augustiniana Historica 15), Rom 2008, S. 351–366. 90 Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 211,17–18. 91 Ebd., S. 212,1. 86

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Gebeten ab. Fünfmal empfiehlt er ein ›Recordare‹ zu beten, als müßten seine Leser wissen, wie dieses Gebet lautet. Am Ende trägt er dessen deutschen Wortlaut für alle die nach, die damit nicht vertraut sind. Der fünfte stoll leitet dazu an, allwöchentlich – wohl am Freitag – die ganze Passion Christi zu meditieren. Kurze Texte rufen den Ablauf der Passion in Erinnerung, Gebete wenden sich an Jesus, zweimal auch an Maria als mitleidende Zeugin. Als Frömmigkeitsübung zur Zeit der kanonischen Vesper empfiehlt Paltz ein mystisches Reimgebet des 14. Jahrhunderts.92 Einmal mehr stützt er seine Aussagen auf die Autoritäten (Pseudo-)Bernhards und (Pseudo-)Augustins.93 Die Meditation orientiert sich an den kanonischen Horen. Wer (als Mensch ›in der Welt‹) seinen Tagesablauf nicht danach einrichten kann, soll Schwerpunkte setzen, wo ihm andacht zufellet.94 Der Leser spürt, wie Paltz erst lernen muß, mit den Realitäten des Lebens außerhalb des Klosters zu rechnen. Scholastische Theologen führt Paltz ausführlich an, wenn er im sechsten stollen Jesus am Kreuz als das Buch des Lebens bezeichnet, das auf einem Lesepult steht. Die ersten Leser dieses Lebensbuchs waren die, die unter dem Kreuz standen. Zu Beginn dieses sechsten stollen ist noch Simon von Cassia Paltz’ Gewährsmann wie schon öfter. Die Anleitung zur Meditation und die Gebete zu Jesus ähneln dem fünften stollen. Doch plötzlich zitiert Paltz auch Thomas von Aquin, und zwar mit lateinischer Angabe des Fundorts: in tertia parte der ›Summa theologiae‹.95 Hier hat der Verfasser eines Erbauungsbuches deutlich auf seine Vorarbeiten als Hochschullehrer zurückgegriffen, er hat eine quaestio aus dem Hörsaal verwertet! Der ›Summa theologiae‹ des Thomas von Aquin, aber wohl auch dem von ihm hier nicht erwähnten ›Sentenzenkommentar‹ des Bonaventura, den er in der ›Coelifodina‹ ausgiebig zitieren wird, entnimmt Paltz den Hinweis, daß Christus am Kreuz aus vier Gründen die schlimmsten körperlichen Schmerzen auf sich genommen habe, die je ein Mensch erleiden mußte.96 Ferner ertrug Christus vier besonders schlimme geistliche Schmerzen.97 Ausgestattet mit der Kenntnis, die er als Hochschullehrer erworben hat, legt Paltz nun seinen Hörern und Hörerinnen eine scholastische quaestio in Übersetzung vor, aufgegliedert in fünf Teilfragen. Doch erspart er den Lesern des volkssprachlichen Erbauungsbuches (und wohl auch schon den Bewohnern der Bergwerksstadt Schneeberg) jede Debatte. Er reduziert die Sic-et-Non-Methode des Hörsaals auf ein Sic-Verfahren.98

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Ebd., S. 226,1–18, vgl. dazu ebd. S. 225f., Anm. 157. Ebd., S. 221,1–2; S. 226,26–227,3. 94 Ebd., S. 227,24. 95 Ebd., S. 231,16. 96 Ebd., S. 231,16–232,16. 97 Ebd., S. 233,1–7. 98 Vgl. dazu HAMM, Paltz [Anm. 17], S. 609,29–44. Als Gegenstück kann eine Eßlinger Sammelhandschrift von 1457/58 dienen, die BURGER, Theologie [Anm. 4], S. 413–414 charakterisiert. 93

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– Erstens: Wie konnte Christus, der doch wahrer Gott ist, leiden? Dazu zitiert der Augustiner Paltz nach dem Dominikaner Thomas von Aquin nun den Franziskaner Bonaventura, und zwar auch in der volkssprachlichen Schrift mit Angabe der distinction.99 Das hatte er zu Beginn seines sermo wohlweislich unterlassen, als er den heilge, susse lerer sant Bernhart und Albertus Magnus genannt hatte.100 Es wird deutlich, daß Paltz als Erbauungsschriftsteller scholastische Autoren aus anderen Orden zitieren kann, wenn ihre Aussagen der Erbauung dienen. In der spätmittelalterlichen Schultheologie dagegen gilt in aller Regel eine strenge Verpflichtung auf den jeweiligen Ordenslehrer: Dominikaner haben sich an Thomas von Aquin zu halten, Franziskaner an Bonaventura und Duns Scotus, Augustiner an Aegidius von Rom oder Gregor von Rimini.101 – Zweitens: Wie konnte Christus sich von Gott verlassen fühlen, wenn er doch durch die Schau Gottes selig war? Die Antwort findet Paltz in Thomas’ Summe und in der Interlinearglosse zu Mt 27,46 Got, mein got, wie hastu mich verlassen: Christi Menschheit fühlte sich ohne Trost, doch seine göttliche Natur verließ seine menschliche Natur zu keinem Zeitpunkt.102 – Drittens: Wie konnte Christi Seele betrübt sein, wenn sie doch mit der göttlichen Natur verbunden war? Wieder bietet Bonaventura die Lösung: Christi Seele litt darunter, daß seinem Vater Ehre vorenthalten wurde und daß die Menschen sich von Gott trennten. Laut Thomas von Aquin litt Christus an seinem Leib körperliche Schmerzen, an seiner Seele Mitleid.103 – Viertens: Litt Christus mehr unter seinem eigenen Leiden oder an seinem Mitleiden? Nach Bonaventura war das Mitleid schmerzhafter.104 – Fünftens: War das Leiden Christi größer als alles menschliche Leiden, sein Mitleiden größer als alles menschliche Mitleid? Im Anschluß an Bonaventura antwortet Paltz darauf bestätigend.105 Paltz vermittelt hier im sechsten stollen eindeutig Ergebnisse scholastischer Theologie. Weder Bernhard von Clairvaux noch in dessen Schatten Heinrich von Langenstein sind hier seine Autoritäten, sondern Thomas von Aquin und Bonaventura. Beide werden freilich nicht als Vertreter einer kontrovers diskutierbaren Auffassung genannt, sondern als Autoritäten, die eine aufgeworfene Frage beantworten. Die Predigthörer und die Leser der Erbauungsschrift werden denn auch nicht wie im Hörsaal mit offenen Fragen konfrontiert, sondern ihnen werden Antworten gegeben. Den Nichttheologen werden Ergebnisse theologischer Arbeit vermittelt, um ihnen damit für die Gewinnung ihres Seelenheils zu nutzen. 99

Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 233,14. Ebd., S. 202,18 u. 20. 101 Vgl. dazu etwa HAMM, Frömmigkeitstheologie [Anm. 10], S. 204 –216, sowie von DEMS., Paltz [Anm. 17], S. 608,57–609,10. 102 Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 233,18–234,2. 103 Ebd., S. 234,3–11. 104 Ebd., S. 234,12–24. 105 Ebd., S. 234,25–235,4. 100

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Christoph Burger

Fazit: Vermittlung von Ergebnissen scholastischer und monastischer Theologie oder monastische Theologie? Die Analyse dieses sermo soll einen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten, wie die eingangs beschriebene theologische Richtung adäquat zu bezeichnen ist. Ist es angemessener, Paltz’ ›Fundgrube‹ als ›genuin monastische Theologie‹ zu bezeichnen, wie es KÖPF auch für solche Schriften des 15. Jahrhunderts vorschlägt?106 Läßt sich seine Schriftstellerei treffender mit BURGER als »Transformation der Erträge scholastischer und monastischer Theologie«107 beziehungsweise mit HAMM als ›Frömmigkeitstheologie‹ charakterisieren?108 Oder muß eine andere Kategorie entwickelt werden? Außer Betracht bleiben können in Paltz’ sermo die Anleitungen zur Förderung der Frömmigkeit ohne theologischen Anspruch. In diesen Passagen liegt bei ihm keine neue Weichenstellung gegenüber hochmittelalterlicher Katechese vor. Doch Paltz flicht in seine volkssprachliche Erbauungsschrift eben auch eine Fülle von Ergebnissen theologischen Nachdenkens ein, von denen er erwartet, daß sie die Leser erbauen werden. KÖPF ist insoweit zuzustimmen, als Paltz eindeutig auf das monastische Erbe zurückgreift. Bernhard von Clairvaux, dem wichtigsten monastischen Theologen des 12. Jahrhunderts, billigt er dabei eine herausragende Rolle zu. Nicht umsonst beginnt Paltz seinen ersten sermo mit einem Zitat aus Bernhards HoheliedPredigten.109 Nicht umsonst zitiert er ausgiebig aus einer Predigt über Marias Stehen beim Kreuz Jesu, die ihm als Predigt Bernhards gilt. Doch beschreibt die Kategorie ›spätmonastische Theologie‹110 allein Paltz’ Bemühung nur sehr unvollkommen. Die aus Werken scholastischer Theologie übernommenen Passagen dürfen neben der Transformation monastischer Theologie nicht übersehen werden. Paltz vermittelt ja zustimmend auch Ergebnisse des scholastischen Diskurses, wenn sie dazu dienen, das Erinnerungsvermögen der Leser anhand der Passionsgeschichte zu stärken und dadurch zum Heil zu führen. Auch die lere sancti Thomae111 und sant Bonaventura112 als akademische Theologen haben nach Paltz’ Überzeugung dadurch Stoff zur Passionsmeditation beigetragen, daß sie darüber nachgedacht haben, welche leiblichen und welche geistlichen Schmerzen Christus für die Sünder auf sich nahm113 und die 106

KÖPF, Monastische Theologie [Anm. 14] S. 134, in These 4. (1). BURGER, Theologie und Laienfrömmigkeit [Anm. 4], S. 404. 108 Vgl. die Beiträge von HAMM in Anm. 10–12. 109 Siehe oben in Anm. 52. 110 Geprägt von HELLMUT ZSCHOCH, Klosterreform und monastische Spiritualität im 15. Jahrhundert. Conrad von Zenn OESA († 1460) und sein Liber de vita monastica (Beiträge zur historischen Theologie 75), Tübingen 1988, S. 96–97, zitiert bei KÖPF, Monastische Theologie [Anm. 14] S. 134, Anm. 91. 111 Paltz, Fundgrube [Anm. 16], S. 231,16. 112 Ebd., S. 233,12–14: in dem dritten buch [...] in der funfzehenden distinction. In diesem Zusammenhang nennt Paltz auch Petrus Lombardus mit dessen Ehrentitel Meister von den hohen sinnen (S. 233,13–14). 113 Ebd., S. 231,16–233,7. 107

Die Vermittlung von Ergebnissen scholastischer und monastischer Theologie

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heilsrelevanten Fragen beantworteten, ob Christus wahrhaftig habe leiden können und gelitten habe.114 Darum kann der Autor seine Paraphrase der Aussagen aus der ›Summa Theologiae‹ des Thomas und dem ›Sentenzenkommentar‹ des Bonaventura in den Sätzen bündeln: O sunder und sunderin, verzweifelt nicht! Hat Cristus mer mitleiden gehabt mit dir dan sein muter mit im, warumb wiltu verzweifeln und wilt nit umbkeren und auch mitleidung mit im haben und mit dir selber?115 Bezieht man zudem das Register der in der ›Coelifodina‹ des Paltz zitierten Autoren in die Betrachtung mit ein,116 so wird deutlich, daß er sich in seiner Summe pastoraler Theologie nicht auf die monastische Tradition beschränkt, sondern bei seinem Bemühen um heilbringende Erbauung auch reichlich von Werken scholastischer Autoren Gebrauch macht. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß Paltz auch mystische Aussagen in seine Schriften einarbeitet. Von dem mystischen Reimgebet, das er in den fünften stollen des ersten sermo aufnahm, war oben bereits die Rede. In der ›Coelifodina‹ zitiert er außerdem Pseudo-Dionysius Areopagita, Hugo und Richard von St. Victor und Heinrich Seuse.117 Deshalb bleibe ich dabei, die ›Transformation theologischer Ergebnisse für Laien‹ (BURGER) als Paltz’ besondere Leistung zu betrachten und die Richtung, der er angehört, mit HAMM als ›Frömmigkeitstheologie‹ zu bezeichnen.

114

Ebd., S. 233,8–235,4. Ebd., S. 235,5–7. 116 Paltz, Coelifodina [Anm. 23], S. 497–516. 117 Zu Paltz’ Verarbeitung der Tradition vgl. HAMM, Frömmigkeitstheologie [Anm. 10], S. 182–216. 115

Volker Mertens

Lebendige Stimme und tote Schrift Erscheinungsform und Selbstverständnis von Luthers Predigt

In Johann Sebastian Bachs Kantate ›Nun komm der Heiden Heiland‹ zum 1. Adventsonntag des Jahres 1714 auf einen Text von Eduard Neumeister bittet die Gemeinde um Jesu Erscheinen: »Komm Jesu, komm zu deiner Kirche [...] / Erhalte die gesunde Lehre / Und segne Kanzel und Altar.« Damit werden die Dingsymbole der evangelischen Kultur genannt: Die Kanzel steht für das lebendige Gotteswort, der Altar für die liturgischen Handlungen, die von deutlich geringerer Bedeutung sind. Wir sehen das auf dem Holzschnitt von Sebaldus Beham (um 1525) zu einem Spruchgedicht von Hans Sachs (›Ein neuwer spruch, wie die geystlicheit und etlich handwercker uber den Luther clagen‹). Er zeigt Luther mit der Bibel in der Hand, konfrontiert von ›altgläubigen‹ Geistlichen mit liturgischen und paraliturgischen Geräten wie Kelch und Glocke (Abb. 3). Das urteil Christi nennt die Predigt als wichtigste Aufgabe der Geistlichen: Predigen aller creatur / Das evangeli rein und pur. Die Verkündigung der Schrift, die Predigt, erscheint in beiden Fällen als wesentlichstes Merkmal des evangelischen Bekenntnisses – so hat Luther selbst es verstanden und so hat es der Protestantismus durchgesetzt und bis heute geprägt. Diese Hochschätzung der Predigt ist nur insofern neu, als sie in Konkurrenz und als Überbietung der Messe, des Meßopfers, wie die Altgläubigen es verstanden, gesehen wird. Als das zentrale Medium der Vermittlung von Glaubens-, Sitten- und Lebenslehre hatte die Predigt schon immer eine herausragende Bedeutung. Davon legen nicht nur die Sammlungen von deutschen Musterpredigten seit dem 12. Jahrhundert, sondern auch die verschriftlichten tatsächlich gehaltenen Predigten seit dem späten 14. Jahrhundert und die Zeugnisse von der Faszination bedeutender Prediger von Berthold von Regensburg bis Johannes Capistrano beredtes Zeugnis ab. Das Amt des Predigers war eines der wichtigsten und geachtetsten, das die Kirche zu vergeben hatte.1 Martin Luther wurde früh mit dem Predigtamt betraut.2 Im Jahre 1511, nach seiner Rückkehr in das Wittenberger Kloster im Anschluß an seine Romfahrt, 1

GEORG STEER, Bettelorden-Predigt als Massenmedium, in: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, hg. von JOACHIM HEINZLE, Stuttgart/Weimar 1993, S. 314– 336; BERND DÜWEL, Bilder für den Prediger. Ein Beitrag zur Spiritualität des Predigtdienstes (Dissertationen. Theologische Reihe 53), St. Ottilien 1992, S. 92ff. 2 DIETRICH EMME, Martin Luther. Seine Jugend- und Studienzeit 1483–1505, Bonn 1983; HEINRICH BOEHMER, Der junge Luther, Stuttgart 41951, S. 75ff.; MARTIN BRECHT, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 21983, S. 126ff.; BERND MOELLER, Das Berühmtwerden Luthers, Zeitschrift f. historische Forschung 15 (1988), S. 65–92.

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Volker Mertens

bestimmt der Generalvikar der Augustiner-Eremiten, Johann von Staupitz, den achtundzwangjährigen »unterm Birnbaum« (WA TR 3143b) zum Prediger, gleichzeitig mußte Luther sich auf das Doktorat vorbereiten. Am 19. Oktober 1512 wurde er zum Doktor promoviert und am 21. als Nachfolger von Staupitz mit der Bibelprofessur beauftragt. Beides, behauptet er später, habe er nicht von sich aus gewollt, sondern aus mönchischer Gehorsamspflicht geleistet. Ego plus quam 15 rationes allegabam Staupitio, cum repugnarem fieri doctor et praedicator (TR 3143a), sagte er im Mai 1532, und ein Jahr vorher schrieb er in der ›Glosse auf das vermeinte kaiserliche Edikt‹: Ich aber doctor Martinus bin dazu beruffen und gezwungen das ich muste Doctor werden, on meinen danck aus lauter gehorsam, Da hab ich das Doctor ampt mussen annemen und meiner aller liebsten heiligen schrifft schweren und geloben, sie trewlich und lauter zu predigen und leren (WA I,30,3, S. 386,14f.). Als Klosterprediger mußte er »bei Tisch« predigen, aber auch in die Pfarrkirche holte man ihn seit 1514. In den Jahren 1519–1521 hielt er an Sonn- und Festtagen im Kloster nach dem Mittagessen eine Predigt über das Tagesevangelium, vorher hatte er dasselbe in der Pfarrkirche gepredigt und noch jeweils eine Predigt angeschlossen, die fortlaufend die Genesis kommentierte. Oft kamen die drei Stationsfasttage Mittwoch, Freitag und Sonnabend zu den Sonntagen als Predigttermine hinzu. Er hatte die Gewohnheit, bei eher langsamem Sprechtempo etwa eine Stunde lang zu predigen, was damals die übliche Länge war. Das Predigeramt gilt auch Luther als ein besonders ausgezeichnetes. Im Jahre 1525 wird er in einer Predigt zum Sonntag ›Invocavit‹ schreiben, daß Gott die prediger zu mithelffer und miterbeyter haben wolle: Weyl denn die prediger das ampt, namen und ehre haben, das sie Gottes mithelffer sind, soll niemand so gelert odder so heylig seyn, der die aller geringste predige verseumen odder verachten wollte (WA I, 17,2, S. 179,21ff.). Für seine Predigt konnte er die traditionellen Hilfsmittel heranziehen, wie sie reichlich zur Verfügung standen und wie es die Prediger üblicherweise taten. Lehrbücher der Homiletik, das verbreitetste, das ›Manuale curatorum‹ des Ulrich Surgant, Sammlungen von Musterpredigten in lateinischer Sprache, von denen etwa ein Dutzend in Druckausgaben vorlagen, Exempelsammlungen, wie das ›Speculum historiale‹ oder das ›Speculum exemplorum‹ (Geiler von Kaysersberg benutzte beide) sowie Bibelkommentare. Die Sentenzen des Petrus Lombardus und Schriften Augustins, Anselms und Thomas’ von Aquin sowie Predigten Taulers hat Luther durchgearbeitet und z. T. sehr ausführliche Randbemerkungen dazu gemacht (WA I,9, S. 1–114). Den herkömmlichen deutschen Predigtstil und die deutsche geistliche Terminologie konnte Luther mit Hilfe deutscher Musterpredigten lernen, daneben standen ihm als Materialsammlung und Muster die sog. Plenarien mit der Glosse, d. h. Epistel- und Evangelientexte für die einzelnen Sonn- und Festtage mit Erläuterungen zur Verfügung.3 3

PAUL PIETSCH, Evangely und Epistel Teutsch. Die gedruckten hochdeutschen Perikopenbücher

Lebendige Stimme und tote Schrift

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Seine früheste erhaltene Predigt aus dem Jahre 1512 ist weder eine Klosternoch eine Gemeindepredigt, sondern ein sog. Sermo praescriptus, eine Gefälligkeitsarbeit für den Probst Georg Mascov in lateinischer Sprache zum Vortrag auf einer Bezirkssynode (WA I,1, S. 10–17). Dieser Befund resultiert aus dem Umstand, daß Luther anscheinend weder seine Vorlesungen noch seine Predigten vorher aufschrieb. An der Universität sollten zwar die Vorlesungen verschriftlicht werden, Luther tat das auch, allerdings erst anschließend, bei seinen Predigten verzichtete er anscheinend ganz darauf. Vieles als Abhandlung überlieferte, wie die Genesis-Auslegung von 1519/21, wird mit den Predigten inhaltlich nahezu identisch gewesen sein (WA I,9, S. 329–415). Luther war zunächst ein öffentlich wenig wirksamer Hochschullehrer: Er publizierte fünf Jahre lang so gut wie nichts – außer dem Psaltertext von 1513, einer Art Reader für seine Studenten und der Edition der ›Theologia deutsch‹ mit einem knappen Vorwort im Jahre 1516. Mit der Auslegung der sieben Bußpsalmen in deutscher Sprache im Jahre 1517 ging er erstmals über die gelehrte Öffentlichkeit hinaus: Wir dürfen sie als Reflex seiner Predigttätigkeit sehen, denn sie sind, wie er in einem Brief an Christoph Scheurl vom 6. Mai 1517 schreibt, ausdrücklich für die »rohen Sachsen«, denen die christliche Lehre nicht wortreich genug vorgekaut werden könne, und nicht für die »feingebildeten Nürnberger« bestimmt: Non enim Nurimbergensibus, id est, delicatissimbus et emunctissimis animabus, sed rudibus, ut nosti, Saxonibus, quibus nulla verbositate satis mandi et praemandi potest eruditio christiana, editae sunt (WA IV,1, S. 93, Nr. 38): Luther kennt die Grenzen und Möglichkeiten seines Publikums (er rechnet sich selbst zu den Sachsen) und richtet sich danach. In der Fastenzeit des Jahres 1517 legte Luther in Reihenpredigten das Vaterunser aus, Anfang 1518 wurden sie in der deutschen Übersetzung einer lateinischen Nachschrift seines Schülers Agricola veröffentlicht. Luther, der mit der Fassung unzufrieden war, bearbeitete die Predigten in Traktatform und publizierte sie, wie es im Titel heißt, fuer dye einfeltigen leyen [...] Nicht fur die gelerten im April 1519. Im gleichen Jahr folgten sechs weitere Ausgaben, fünf im Jahre 1520, ebenfalls eine lateinische Übersetzung. Damit beginnt eine Publikationstätigkeit größten Umfangs. Luthers Schriften werden zu Bestsellern, die unautorisiert nachgedruckt werden, weil sie den Druckern Gewinn versprechen. Die zwanzig deutschen Publikationen in zwei Jahren werden allerdings von den wesentlich umfangreicheren lateinischen deutlich übertroffen (377 Seiten vs. 1210). Ein großer Teil der deutschen Drucke sind Predigten, bzw. Sermones, wie die beiden üblichen Titel lauten. »Predigt« ist hier Dignitäts- und Niveausignal: ein bedeutender und wichtiger Text, der sich sprachlich und inhaltlich an ein theo(Plenarien) 1473–1523, Göttingen 1927; NIGEL F. PALMER, Deutsche Perikopenhandschriften mit der Glosse. Zu den Predigten der spätmittelalterlichen deutschen Plenarien und Evangelistare, in: Deutsche Bibelübersetzungen des Mittelalters, hg. von HEIMO REINITZER (Vestigia Bibliae 9/10), Hamburg 1987/88 (= 1991), S. 273–296.

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Volker Mertens

logisch nicht vorgebildetes Laienpublikum wendet. In den ersten Predigten wird die Thematik in den Titel gesetzt: Eyn Sermon von der bereytung czum sterben Doctoris Martini Luther (aus dem Jahre 1519). Später, als das Bedürfnis nach lutherischen Musterpredigten per circulum anni entstanden war, stand die Bibelstelle und oft auch der Tag im Titel, wie in den Predigten des Jahres 1523: Ayn Sermon an de¯ Jarsztag vo¯ der beschneidung der Juden [...] Actum M.D.XXIIj. D. Mar. Luth. (WA I,12, S. 400) oder Ein Sermon auff das Euangelion Am Sontag nach Epiphanie. Luce.ij. D. Martinus Luther Uuittemberg 1523 (ebd., S. 407). Predigten erscheinen auch in lateinischer Sprache; damit wendet sich der Gelehrte an seine Fachkollegen: Er schreibt einen ›Sermo de triplici iustitia‹ (gedruckt 1519), ›de poenitentia‹ (1518), ›de virtute excommunicationis‹ (1518). Seine Predigten über die Zehn Gebote werden deutsch verschriftlicht, weil Luther sie einem Freund, Johann Lang in Erfurt, schicken will: Praecepta ideo tibi utraque lingua misi, ut, si quando volueris ad populum de iis praedicare (sic enim ego illa docui, ut mihi videor, ad ewangelicum morem), haberes (4. September 1517, WA IV,1, Nr. 45). Relativ häufig wird in den Drucken ausdrücklich angegeben, daß der Sermon an einem bestimmten Ort, an einem bestimmten Tag »gepredigt«, bzw. »getan« wurde, es wird also eine Authentisierung durch Verweis auf ein tatsächliches Predigtereignis ausgesprochen. Bei Predigten, die Luther vor fürstlichen Herren, vor allem vor den Ernestinern, gehalten hat, wird dieser Umstand besonders erwähnt, auch bei ›Gastpredigten‹, die er auf Reisen hielt, zum Unterschied zu den ›Dienstpredigten‹ im Kloster oder in der Pfarrkirche. Wie sahen nun die frühen Lutherpredigten aus? In welcher Genauigkeit spiegeln die gedruckten Predigten die tatsächlich gehaltenen, sind sie ein Reflex des Predigtereignisses oder halten sie vornehmlich den Lehrgehalt fest? Hier sind grundsätzliche Überlegungen Luthers zur Predigt aufzugreifen, denn er entwickelt (wenngleich nicht systematisch) eine eigene »Medientheologie« der Predigt.4 Die Predigt ist ein ausschließlich mündliches Ereignis, die 4

ADAM WEYER, »Das Evangelium will nit alleyn geschrieben, ßondern viel mehr mit leyplicher stym geprediget seyn.« Luthers Invocavit-Predigten im Kontext der Reformationsbewegung, in: Martin Luther, hg. von HEINZ-LUDWIG ARNOLD (Text und Kritik, Sonderband 15), München 1983, S. 86–104; HANS-MARTIN BARTH, Luthers Predigt von der Predigt, Pastoraltheologie 56 (1967), S. 481–489; AXEL DENECKE, Lutherische Homiletik? – Lutherische Homiletik, Pastoraltheologie 70 (1981), S. 546–562; MARTIN OVERNE, Luther und die Predigt, Luther 22 (1940), S. 36; ROBERT FRICK, Luther als Prediger dargestellt auf Grund der Predigten über 1. Kor. 15 (1532/33), Luther-Jahrbuch 21 (1939), S. 28–71; VOLKER MERTENS, Schwellentexte autorzentrierter Predigten im 16. Jahrhundert, in: Textsorten deutscher Prosa vom 12./13. bis 18. Jahrhundert und ihre Merkmale, hg. von FRANZ SIMMLER, Bern u. a. 2002, S. 243–256; ERICH VOGELSANG, Luthers Torgauer Predigt von Jesu Christo vom Jahre 1532, Luther-Jahrbuch 13 (1931), S. 114–130 (zu Stadien der Überlieferung S. 118ff.); CHRISTOPH BURGER, Luthers Predigten über das Magnificat, in: The´orie et pratique de l’exe´ge`se, hg. von IRENA BACKUS u. FRANCIS HIGMAN, Genf 1990, S. 273–286 (Pred. v. 2. 7. 1520 in 2 Nachschriften WA 4,633–635; WA 59,227–230); ELMAR CARL KIESSLING, The Early Sermons of Luther and Their Relation to the Pre-reformation Sermon, Michigan 1935 [Neudruck 1971] (Zahlengliederung, S. 61; Bilder S. 127f.).

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Schrift ist dagegen sekundär: Das gilt für den zeitgenössischen Prediger in der Nachfolge Christi, denn das newe testament solt eygentlich nur leyplich lebendige wort seyn und nitt schrifft, derhalben auch Christus nichts geschrieben hatt, heißt es am 1. Adventssonntag in der Adventspostille (WA I,10,1,2, S. 35,1) mit Verweis auf die Predigt zum Epiphaniustag aus der Kirchenpostille, wo Luther schreibt: Darumb hatt auch Christus selbs seyn lere nitt geschrieben, wie Moses die seyne, ßondern hatt sie mundlich than, auch mundlich befollhen tzu thun und keynen befelh geben sie tzu schreyben. Item die Apostolln haben auch wenig geschrieben. Und wenig später: darumb ists gar nicht new testamentisch, bucher schreyben von Christlicher lere, ßondern es sollten on bucher an allen orttern seyn gutte, gelerte, geystliche, vleyssige prediger, die das lebendige wortt auß der allten schrifft tzogen (10,1,1, S. 626,6ff.). Das ist eine Auffassung, die als Dignitätsausweis bereits bei Humbert von Romans formuliert ist.5 Der Dienst am Neuen Testament liegt im Klang der lebendigen Stimme – vieles kann wirkungsvoll mit der Stimme behandelt werden, was in Schriften nicht möglich ist. Die paulinische Dichotomie von Spiritus und Littera (littera enim occidit, sed spiritus vivificat, II Cor 3,6), von Leben und Tod, bezieht Luther auf die Stimme und die Schrift: Die Stimme ist der Klang gewordene Geist Gottes, die Schrift hingegen ist tot. Es ist ein gros unterscheyt, etwas mit lebendiger stymme adder mit todter schrifft an tag zubringen heißt es, in Abwandlung des zitierten Paulus-Wortes, in der Vorrede zum ›Sermon von dem Elichen Stand‹ von 1519, der uns noch beschäftigen wird. Schon in der lateinischen Stephanuspredigt aus dem Jahre 1514 hatte Luther ähnlich formuliert: Quia litera est vox mortua, vox autem est litera viva, quia magis movet vox quam litera (WA I,1, S. 30,22). Die Hochschätzung des mündlichen Wortes ist ursprünglich nicht eine Strategie, sich der schriftlichen Lehrtradition der alten Kirche zu entledigen, sondern Basis von Luthers Predigt und dann auch von seinem Bibelverständnis. Das Christentum ist für ihn keine Buch-, sondern eine Wortreligion, eine des mündlichen Wortes, das Priorität vor der Schriftlichkeit hat. Während das Alte Testament in der Schrift besteht, ist das Neue eygentlich nitt schrifft, ßondern mundlich wort (WA I,10,1, WA I,10,1,1, S. 17,8) und die Verkündigung nitt mit der feddernn, ßondern mit dem mund soll getrieben werden (ebd., S. 17,12). Daß man Bücher schreiben mußte, ist schon eyn grosser abbruch und eyn geprechen des geystis, das es die nott ertzwungen hatt, d. h. die ketzer, falsche lerer und mangerley yrthum, daher fieng man an zu schreyben (WA I,10,1,1, S. 27,1ff.). Hier geht es noch um die Überlegenheit der cogitatio, die zweite Stelle der vox viva wird noch nicht theologisch, sondern von der Wirkung her begründet. Genau so ist Luther selbst vorgegangen, seine publizierten Predigten sind nachträgliche Verschriftlichungen (postskriptiv), bzw. sie sind von ihm so legitimiert.

5

Vgl. DÜWEL [Anm. 1], S. 92ff.

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Volker Mertens

Eine sinnfällige bildliche Umsetzung der Problematik, daß die Lehre Jesu mündlich war und erst später schriftlich niedergelegt wurde, diese Schrift aber ihrerseits doch das lebendige Wort Gottes ist, hat Albrecht Dürer in einer Illustration der ›Apocalipsis cum figuris‹ um 1497/98 geschaffen.6 Im 10. Kapitel, Vers 1–9 schreibt der Apokalyptiker Johannes von einem »starken Engel«, der ihm erscheint, in der Hand ein offenes Buch und er sagt: »Nimm es hin und verschling es.« Dürer stellt das als die materielle Aufnahme der Visionen dar (Abb. 1). Sie werden vom Engel in objektivierter Form als Buch übergeben und dieses geht sozusagen durch den Autor hindurch: Neben ihm liegt das bereits angefangene Buch und das Schreibzeug, gleich wird er das aufschreiben, was er verschlungen hat. Der Evangelist (Dürer hielt den Apokalyptiker für den 4. Evangelisten wie seine Zeitgenossen) ist also nicht Sprachrohr Gottes, sondern sozusagen die Rohrpost; so wird verbildlicht, daß sein Buch identisch mit Gottes Offenbarung ist und nicht nur ihre subjektive Wiedergabe. Eine ähnliche Illustration aus der Werkstatt Lukas Cranachs illustriert die entsprechende Passage in Luthers September-Testament; hier fehlt allerdings das Buch, das Johannes schreibt. Für ältere Zeiten war das Medienproblem nicht existent: Die Evangelisten wurden mit der Feder in der Hand dargestellt. Wie sie die Inspiration des Gotteswortes empfangen, entzog sich der Verbildlichung: Sie schauten nach oben. Möglicherweise hat die schriftliche ›Massenproduktion‹ durch den Buchdruck das Problem akut werden lassen. Unter den Apokalypse-Illustrationen ist diese von besonderer Kühnheit der Bilderfindung, das Bedürfnis nach der Umsetzung gerade dieser Verse entspringt der Problematisierung der Verschriftlichung, auf die Luther mit seiner (unbiblischen) Unterscheidung von lebendiger Stimme und totem Buchstaben reagiert – er selbst stilisierte sich ja gern als Evangelist Johannes (den er wegen seiner theologischen Ausrichtung am höchsten schätzte), wenn er sein Wartburg-Exil mit Patmos, dem Verbannungsort des Johannes, gleichsetzte. Für seine eigene Predigtpraxis bedeutet das Vertrauen in das ›lebendige Wort‹ den Verzicht auf eine vorherige Ausarbeitung der Predigt – nach späteren Aussagen (1532) konzipierte er nur den status, d. h. die Hauptpunkte der zu behandelnden Texte. So behauptet er zu Tisch nach Aurifaber zum Jahre 1532: Ich [...] befleiße mich in meinen Predigten, daß ich einen Spruch für mich nehme, dabei bleib ich [...] Das ist, ich bleibe in statu nur auf dem Artikel, Höhepunkt und Materien allein, davon ich zu reden furgenommen hab (WA TR 1650), oder nach Cordatus zum 2. Januar 1533: Contionaturus non concipio singula membra, sed tantum statum, velut est exhortatio ad cultum Dei verbum Dei studiose audiendum esse, et alia, quae necessaria sunt, inter loquendum mihi incidunt (WA TR 2869a), und zum 23. März 1533: Thesis et status observandus mit einem Beispiel von der Predigt zum Sonntag Laetare über die Brotvermehrung: Es sei nicht richtig, die einzelnen hypotheses abzu6

Zu Dürers theologischen Vorstellungen vgl. FRIEDRICH ROTH, Die Einführung der Reformation in Nürnberg 1517–1528, Würzburg 1885, S. 61.

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handeln, sondern der status (Aurifaber: Hauptsache) sei zu bewahren, d. h. das eigentliche Ziel der Predigt (WA TR 3032b). Aus seiner Frühzeit haben wir nur ein einziges Konzept einer Predigt erhalten aus dem Jahre 1518 (die Predigt selbst ist nicht überliefert). Es zeigt ganz diese völlig elementare Vorbereitung (WA I,9, S. 208, 207f.). Aus späterer Zeit haben wir noch knapp zwei Dutzend Konzepte, fast ausschließlich lateinisch, mitunter mit einigen deutschen Wörtern. Luther selbst benutzte privat gern eine Mischsprache aus Deutsch und Latein.7 Ein Reflex von Luthers eigener vorbereitender Schriftlichkeit ist vielleicht in der lateinischen Fassung der ›Kirchenpostille‹ durch Martin Bucer (Straßburg 1525 u. ö.) bewahrt: Hier werden in dem Teil zu den Festen der Heiligen nach dem Evangelientext vier bis sechs Punkte aufgeführt, die Summa oder Status überschrieben sind und möglicherweise auf Luthers eigene Aufzeichnungen zurückgehen, zumindest aber seine Methode reflektieren. Daß Luther mit der Disposition seiner Predigt gelegentlich Schwierigkeiten hatte, ist aufgrund des vorliegenden Materials nur zu vermuten. In den frühen Predigten sind die Gedanken oft einfach durchnumeriert (z. B. von 1 bis 33), ohne daß eine logische Über- und Unterordnung hergestellt wurde. Das mag zwar auf das Konto des Mitschreibers gehen, reflektiert aber ein anscheinend grundsätzliches Problem. Luther war von seiner Lehrtätigkeit die fortlaufende Kommentierung der biblischen Bücher gewohnt und dieses unstrukturierte Reihenprinzip prägt auch viele Predigten. Wenn die Predigt von den guten Werken aus dem Jahre 1520 (WA) zum 1. und 2. Gebot 31 Punkte aufführt, zum 3. 25, zum 4. 21, dann 3 bzw. 4 (7. Gebot) und das 9. und 10. ganz übergeht, so wird das nicht nur eine Nachlässigkeit des Mitschreibenden sein, sondern eine schlechte Zeitdisposition des Predigers, der gegen Ende der Stunde immer kürzer wurde, reflektieren – Geiler von Kaysersberg z. B. soll nach einer Stunde Predigtzeit einfach abgebrochen haben. Luther predigte also ohne Konzept und stützte sich auch bei den Schriftzitaten auf seine vorzüglichen Kenntnisse. Er nahm lange keine Bibel mit auf die Kanzel, sondern verließ sich auf sein Gedächtnis, ganz wie bei der Leipziger Disputation mit Eck. Später führte er das Buch mit, nicht aus Furcht, sein Gedächtnis könnte versagen, sondern, so sagt er am 11. Oktober 1538: Ich thue es nicht umb notthe willen, sed aliis in exemplum. Und darff sich des buchs auff der cantzel niemannd schemmen, weil Christus, der hohe meister, Lucae 4. uns das exempel aus dem buch zu predigen gelassen hatt (TR 4052). Der Prediger mit seiner ›lebendigen Stimme‹ nutzt die Faszination von Melodie und Rhythmus in seiner Intonation, die körperliche Erscheinung mit Mimik und Gestik tritt hinzu, das priesterliche Gewand signalisiert die AmtsAutorität. Luther predigte zuerst vermutlich in der Mönchskutte (so zeigt ihn der Titelholzschnitt der Predigt zu Petri und Pauli 1519 in der Ausgabe bei Wolfgang Stöckel Leipzig 15198 (Abb. 2) und der erste Kupferstich Cranachs von 7 8

BIRGIT STOLT, Luther sprach »mixtim vernacula lingua«, ZfdPh 88 (1969), S. 432–435. WA I,2, S. 242; Abb. bei BOEHMER [Anm. 2], S. 235. Cranach zeigt ihn ohne Mönchskappe, Abb. u. a. bei BRECHT [Anm. 2], S. 299.

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1520), nach dem Wartburg-Aufenthalt trug er (im Unterschied zu Karlstadt) auf der Kanzel wieder das geistliche Gewand und erschien erst am 9. Oktober 1524 in veste communi.9 Später legte er den Talar des Gelehrten an, wie die vielen offiziellen Luther-Bilder zeigen. Zu dieser Zeit begann er auch wieder den Doktortitel zu führen, den er nach 1521 zugunsten der Selbstbezeichnung als Ecclesiast (Prediger) aufgegeben hatte.10 Signalisiert die Kleidung das Amt, so sind Stimme und Körper das Medium des Predigers, Spontaneität und kommunikative Intensität sind seine Kennzeichen – und Luthers Stärken. Der Leipziger Gräzist Petrus Mosellanus berichtet von Luthers Auftreten bei der Disputation mit Eck: »Martin ist von mittlerer Leibeslänge, hager von Sorgen und Studieren [...] noch in männlichem und frischem Alter, und klarer, durchdringender Stimme. Er ist aber voller Gelehrsamkeit und vortrefflicher Kenntnis der Schrift, so daß er gleichsam alles an den Fingern herzählen kann [...] Seinem Leben und seinen Sitten nach ist er sehr höflich, und hat nichts Sauertöpfisches noch Strenges an sich; ja, er kann sich in alle Zeiten schicken.«11 So sehen wir ihn auf einem zweiten Kupferstich von Lukas Cranach von 1521: die hagere Physiognomie, die intensiven Augen, (die von Zeitgenossen ausdrücklich bemerkt werden) und als Zeichen der Gelehrsamkeit das Doktorbarett – jetzt nicht mehr die Mönchskapuze (Abb. 4).12 Bezeichnend, daß die körperliche Erscheinung und die Stimme hervorgehoben werden. Was von dem kommunikativen und spirituellen Mehrwert des lebendigen Wortes ist in den überlieferten Texten reflektiert? Luthers eigene Literarisierungen seiner Predigt nehmen auf die Predigtsituation nur wenig Bezug. Statt Spontaneität und Kommunikativität geht es ihm um die Haltbarkeit und Kontinuität der Überlieferung, die auf immer erneuten Wiedergebrauch angelegt ist. Das läßt sich an einem Beispiel sehr gut zeigen: Es handelt sich um die Predigt auf den 2. Sonntag nach Epiphanias aus dem Jahre 1519, die traditionell der Lehre von der Ehe gilt.13 Anscheinend auf der Basis einer überarbeiteten Mitschrift erschienen drei Druckausgaben, die Luther nicht akzeptierte: Es ist eyn Sermo vom Elichenn Stand außgegangenn unnter meynem namen / das myr vill lieber nit gescheen were. Dan wye wol ich myr bewust, das ich von der matery geprediget, ßo ist es doch nit yn dye feddernn bracht, / als woll gleych were. Darumb ich vorursacht, den selbenn zu endern und ßo vill myr muglich tzu bessernn. Bitt eynn yglich frum mensch, wolt den ersten außgangen sermon lassen untergehn und tzu nichte werden. Auch ßo yemand meyn prediget fahen 9

Vgl. PAUL PIETSCH in WA I,15, S. 404. Vgl. BRECHT [Anm. 2], S. 128. 11 Zitiert nach BRECHT [Anm. 2], S. 299f. 12 Abb. u. a. in Martin Luther und die Reformation. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg. Katalog 1983, S. 176, Abb. 217. 13 Vgl. MERTENS [Anm. 4] und DERS., Das Buch und die Stimme. Überlegungen zur »gemischten Medialität« an Hand von Handschriften der Ratschulbibliothek Zwickau, in: Literarisches Leben in Zwickau im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. von MARGARETE HUBRATH u. a., Göppingen 2001, S. 3–18. 10

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will, messig sich seyner eyle, unnd laß mich auch zu meiner wort außbreytung radten. Es ist ein groß unterscheyd, etwas mit lebendiger stymme adder mit todter schrifft an tag zubringen (WA I,2, S. 166,2f.). Der Raubdruck scheint also die ›lebendige Stimme‹ stärker zu transportieren, als es Luther lieb ist, weil die literarisierte Fassung eben nicht den mündlichen Vortrag ›speichern‹ soll, sondern eine andere Funktion hat. Die Textelemente, die ursprünglich der Intensivierung der Prediger-Hörer-Kommunikation dienten, sind in seiner eigenen Version eliminiert zugunsten des Überdauernden, der Lehre. Die nichtakzeptierte Druckfassung bewahrt z. B. ein argumentum ab auctore bezüglich der Stärke sexueller Versuchung: es ist ein schentliche anfechtung, ich hab sie wol erkant, ich meyn zwar, yr solts auch wissen, o ich kenn sie wol, wen der teuffel kompt und reytzt das fleysch an und entzunt es. Darumb bedenck sich eyner wol vorhyn und brüff, ob er yn der keuschheit leben kan, dan wen das börnen wirt, ich weyß wol wy es ist, und die anfechtung kompt, so ist das aug schon blint (WA I,9, S. 215,4ff.). Die stärker mündlich geprägte Fassung erlaubt sich Redundanzen und Wiederholungen: Es haben ein teyl gantze bücher dar von geschriben, uff das sich einer enthalt, wie es ein solche unsauber ding sey umb eyn weyb und schlammig etc. Ovidius de remedio amoris dinet auch wol darzu, aber dyß reytzt eynen mer an, dan wen die anfechtung kompt und das fleysch wird entzündt, so bistu bereyt blint, ob gleich das weyb nicht schön ist: Eyner neme wol mist unnd leschet mit, het er kein wasser. Hier spricht der Lateinschüler, den die Ovidlektüre nicht geheilt, sondern, im Gegenteil, erregt hatte – die ›Remedia amoris‹ gehörten sicher nicht zum Lesestoff seiner »rohen Sachsen«, seiner Zuhörer. Die Formulierung von oben, daß die Anfechtung blind mache, wird hier noch einmal benutzt, eine Steigerung bringt die Redewendung, daß mit Mist löscht, wer kein Wasser hat. Derartige sprichwörtliche Redensarten gehören zur Kanzelrede und sind nicht typisch lutherisch.14 Spätmittelalterliche Sprichwortsammlungen waren z. T. ausdrücklich für die Hände von Predigern zur Vorbereitung bestimmt. Für die inhaltliche Reduktion der autorisierten Fassung gilt folgendes Prinzip: Von den beiden Hauptgegenständen der Predigt, der Lehre (doctrina) und der Ermahnung (exhortatio), ist letztere stärker situations- und publikumsbezogen und wird daher im autorisierten Text reduziert. Ebenso werden auch Exempla (Joseph und Maria, Heinrich und Kunigunde für die Josephsehe), die der Verlebendigung und Verdeutlichung der Lehre dienen sowie Autoritätenzitate (Augustinus), die das Gesagte aus der Tradition legitimieren, nicht mehr verwendet. Der Raubdruck bezeugt also eher das Predigtereignis und sucht es literarisch zu vermitteln, sozusagen die Stimme im Text zu bewahren, während Luther selbst auf die Lehre zielt. Er hatte anscheinend erkannt, daß im Jahre 1519 mittlerweile eine Handreichung zur Sicherung der Glaubens- und Sittenlehre 14

Luthers Deutsch: sprachliche Leistung und Wirkung, hg. von HERBERT WOLF, Frankfurt a. M. 1996, darin der Beitrag von RUDOLF BENTZINGER/GERHARD KETTMANN (1983), S. 201–214.

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nötig war, um dem gepredigten ›Wildwuchs‹ der ›evangelischen‹ Kanzelredner zu steuern, ein Bedürfnis, dem er bald darauf in seinen Postillen systematisch Rechnung tragen sollte.15 Ein vergleichbarer Fall ist mit dem ›Sermon von der würdigen Empfahung des heil wahren Leichnams Christi, gethan am Gründonnerstag zu Wittenberg‹ aus dem Jahre 1521 gegeben: Hier existiert eine ausgearbeitete Nachschrift, die nur handschriftlich überliefert ist (WA I,9, S. 640ff.), und eine Druckausgabe. Letztere enthält dreizehn durchnumerierte kurze Lehrabschnitte, während die der mündlichen Predigt nähere Version zwar inhaltlich mit dem Druck weitgehend übereinstimmt, aber nur drei Abschnittsgliederungen hat, also weniger systematisch verfährt, und außerdem durch fingierte Fragen und Antworten größere Hörernähe erzeugen will: Wie soln wir nuen thuen, das wir wirdig zum sacramenth gahen? Respondetur: Du darffest ganzs nichs darzu thuen denn das allein [...] das dw ein begird darzu hast. Dan als Augustinus sagt [...] (WA I,9, S. 642,35–643,1). Dem entspricht im stärker literarisierten Text die umstandslos formulierte Lehre, daß die, die nur aus Gewohnheit zum Abendmahl gehen, nicht aus gutem Willen oder Begierden, sich enthalten sollen, hier findet sich auch das Augustinuszitat. Die Polemik gegen das formalistische Sakramentsverständnis der alten Kirche ist in der mündlichkeitsnahen Handschrift viel wirkungsvoller, im Druck wird eher erklärend und abgrenzend argumentiert, weil Luther zu dieser Zeit in seinen Publikationen noch von zu heftiger Kritik an der Kirche zurückscheut; anscheinend ist er mit der ›lebendigen Stimme‹ da freier gewesen. Die zeitgenössischen Drucke von Predigten Luthers sind ein Reflex seiner wachsenden Berühmtheit. Seine Schüler schrieben seine Predigten mit, das Vorgang, der im Universitätsbetrieb, in dem Luther nach wie vor wirkte, ganz üblich war. Luthers Studenten hatten das Mitschreiben gelernt und praktizierten es nicht nur bei den Vorlesungen, sondern auch in den Predigten, wobei der Übergang zwischen beiden Formen fließend war. Vor allem bei den sog. Reihenpredigten, die fortlaufend biblische Bücher abhandelten, wird Luther inhaltlich auf seine Vorlesungen zurückgegriffen haben; der Unterschied lag v. a. in der Sprache und im theologischen Niveau. Die Studenten praktizierten das Mit15

SUSANN C. KARANT-NUN, What was Preached in German Cities in the Early Years of the Reformation? Wildwuchs Versus Lutheran Unity, in: The Process of Change in Early Modern Europe. Essays in Honor of Miriam Usher Chrisman, hg. von PHILIPP N. BEBB/SH. MARSHALL, Athens (USA) 1988, S. 81–96; ERNST KOCH, Evangelienauslegung und Krisenbewältigung. Zur Funktion der lutherischen Postillenliteratur zwischen 1350 und 1600, in: The´orie et pratique de l’exe´ge`se, hg. von IRENA BACKUS u. FRANCIS HIGMAN, Genf 1990, S. 355–361. – HANS-HENRIK KRUMMACHER, Der junge Gryphius und die Tradition, München 1976 (1533 nach inhalt der postille zu predigen zur Verdrängung Müntzers S. 52, Postillen S. 69ff.); BERND MOELLER, Was wurde in der Frühzeit der Reformation in den deutschen Städten gepredigt?, Archiv f. Reformationsgeschichte 75 (1984), S. 176–193; Reformationsgeschichte Deutschlands. Ein Handbuch, Göttingen 1964, S. 3–66. Schon Berthold von Regensburg hatte ein vergleichbares Problem mit den Nachschriften seiner Predigten, weil die mitschreibenden simplices clerici religiosi nur das mitschrieben, was sie verstanden und so multa falsa notaverunt (Vorrede des ›Rusticanus de Sanctis‹), vgl. FRANK G. BANTA, Berthold von Regensburg, 2VL I, Sp. 817–823.

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schreiben in der Vorlesungssprache, dem Lateinischen, das war nicht nur unkomplizierter, v. a. im Fall der theologischen Fachterminologie, sondern auch technisch einfacher, weil im Lateinischen ein ausgeprägtes Kürzungssystem zur Verfügung stand, das es im Deutschen nicht gab.16 Die Mitschriften deutscher Predigten von Luthers Schülern sind daher zunächst vornehmlich in lateinischer Sprache, Melanchthon streut sogar griechische Wörter ein, aber mitunter finden sich auch deutsche Wendungen: darüber gibt die Sammlung der Predigten aus den Jahren 1519–1521, die Johann Poliander z. T. aufgrund eigener Mitschriften zusammengestellt hat, deutlich Auskunft (WA I,9, S. 329–676). Derartige Mitschriften sind keine wörtlichen Protokolle, sondern, v. a. im Fall der Notizen Melanchthons, systematisierte Inhaltsangaben, die wahrscheinlich erst im Anschluß an die Predigt niedergeschrieben wurden. Diese unterschiedlich umfangreichen Texte wurden dann von den Schülern in eine deutsche Predigtform umgesetzt, die zur Lektüre geeignet war. In welchem Umfang das eine Literarisierung von Luthers Predigtstil war, läßt sich schwer abschätzen, hier fehlen differenzierte Analysen der verschiedenen Stufen von der Mit- oder Nachschrift bis zu den Publikationen in zum Teil differierenden Fassungen. Der Nachvollzug der Textverarbeitung wäre durchaus möglich, denn wir sind bei Luther in der glücklichen Lage, den Prozeß der Verschriftlichung in diversen Aggregatzuständen dokumentiert zu haben. Dafür sind mehrere Gründe zu nennen: einmal ist Luther seit dem Ende des zweiten Jahrzehnts ein berühmter, beachteter Theologe, dessen Lehren man zu bewahren wünschte; es existiert also eine interessierte Öffentlichkeit. Er war stolz auf das weite Echo seiner Schriften; in der ›Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle‹, sagt er, schreib fedder so fern komen, daß ich itzt nicht wolt mit dem Turchkisschen keiser beüten, das ich sein gut solt haben und meiner kunst emperen (WA I,30,2, S. 576,16f.). Daneben stellt seine Position als akademischer Lehrer das Netzwerk bereit: ausgebildete Schüler, die die mündlichen Vorträge schriftlich festhalten und für die Veröffentlichung vorbereiten, sowie Drucker, die Satz, Druck und Vermarktung übernehmen. Schließlich hat die historische Bedeutung Luthers dazu geführt, daß alle erreichbaren Zeugnisse (oder fast alle) in modernen Ausgaben (v. a. der Weimarer Ausgabe) zugänglich sind. Die Öffentlichkeit des frühen 16. Jahrhunderts sah anscheinend in dem dargestellten ›Textverarbeitungssystem‹ kein Authentizitätsdefizit: So erschien z. B. die Dreikönigspredigt des Jahres 1521 unter dem Titel ›Ain gute nützliche Sermon Doctor Martini Luthers Augustiner zu Wittenberg gepredigt am Obersten (Anno M.D. XXJ) und durch ainen seiner Discipel fleissigklich gesammlet‹ (KIND 777).17 Eben diese Predigt liegt außerdem in einer bearbeiteten Nachschrift Polianders vor, die wesentlich weniger konzentriert und am Schluß sehr knapp ist, also vielleicht auf ein Gedächtnisprotokoll zurückgeht (WA I,9, S. 547–551). 16 17

Vgl. die Erläuterungen von E. THIELE in WA I,9, S. 314f. HELMUT KIND, Die Lutherdrucke des 16. Jahrhunderts und die Lutherhandschriften der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Göttingen 1967, Nr. 777.

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Luther erkannte die Möglichkeiten und die Gefahren, die diese Praxis bot. Die Wichtigkeit des Buchdrucks für die Intensivierung der religiösen Lebensführung der Laien war ein zeitgenössischer Gemeinplatz, der eine besonders nachdrückliche Formulierung im Lob der Druckkunst in der Auslegung des Evangeliums vom 18. Sonntag nach Trinitatis im Plenar des Adam Petri (Basel 1514) findet: Schem dich du mensch, der du ietzund in vnsern zayten nit kanst lesen [...] vnd versaumest die seligkeit deiner sel, welche du wol moechtest suochen auß der kunst [...] Dar umb du hoffartiger mesch / schem dich [...] dz du nit ankerest fleiß etlicher bücher zu über kume / die du umb so leycht gelt kauffen magst [...] Schem dich du geytiger mensch, d r du dich selber nit auß dieser kunst wilt lere [...] Du vnkeuscher mensch, du solt dich schemen [...] der du deine liebe legst vff schentliche süntliche ding (Bl. 228r/v). Denen, die den »Trost der Bücher« nicht nutzen, droht der anonyme Autor mit den Worten Jesu die ewige Verdammnis an (dafür bemüht er die allegorische Auslegung von Corozaim, Bethsaida und Capharnaum) und schließt mit der Zeitklage, daß die Welt so schändlich sei ee man auß geb ein schilling vmb ein buoch / man verzerte lieber iij schilling in dem weinhauß. Als Luther im Rahmen der Leipziger Disputation am Tag St. Peter und Paul (29. Juni) 1519 auf Bitten des Wittenberger Rektors die oben erwähnte Predigt hielt, die wegen des großen Andrangs aus der Schloßkapelle in den Disputationssaal verlegt werden mußte, nahm er die Gelegenheit wahr, seine Position im Ablaßstreit darzulegen und sie aus der Schrift und der Autorität des hl. Hieronymus zu begründen und sich damit von den Vorwürfen, die »böhmische Ketzerei« zu verfechten, zu reinigen. Die Druckfassung zielt auf die Vermittlung von Luthers Lehre einerseits und der Rechtfertigung gegen die Vorwürfe andererseits: Auff das ich mir nit alleyn diene, ßundernn auch ein nutz hab, der diß liset, will ich den Sermon dargeben, den ich zu Leypßgk auffm Schloß than hab (WA I,2, S. 245,32f.). Der Text, der folgt, ist jedoch ein Lehrgerüst und keine Kanzelrede, eine typische Reduktion auf die Summa doctrinae, wie es Luther immer mit seinen »dargegebenen« Predigten machte. Die Druckkunst, die für die Verbreitung der »richtigen« Lehre sorgte, bot andererseits die Gefahr, daß nicht authentisierte Fassungen publiziert wurden: alle, die do meyne sermone schreyben oder fassen, wollten sich der selben zcu drucken unnd auß zcu lassen enthallten, es sey denn das sie durch meyne hand gefertiget odder hie zcu Wittemberg durch meyn befelh zuvor gedruckt sind, heißt es im Vorspruch Mar. Luther. Den Buchdruckern Gnad und frid, zur Predigt auf den 1. Sonntag nach Trinitatis des Jahres 1522 (WA 10,3, S. 176,2f.). Daher steht auch zu Beginn des Sermons von dem Sakrament der Buße von 1519 die Authentisierung durch den Widmungsbrief des Autors an Herzogin Margarethe von Braunschweig-Lüneburg, der nicht nur die Protektion demonstrieren soll, die Luther genoß, sondern auch die Eigenhändigkeit dieser »Predigt« bezeugt. Schon in seiner VaterunserAuslegung von 1517 verwahrt sich Luther gegen die, die sein wort fahen unnd treiben, sei es aus Freundschaft, sei es aus Feindschaft. Das Vaterunser, durch

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meyne gutte freundt auszgangen, habe er mit zusätzlich genaueren Erläuterungen versehen (weyter vorcleret). In der Folge erschien im Jahre 1523 eine erste nicht autorisierte Sammelausgabe von zehn Predigten in Straßburg; zuvor war Luther schon einem ständig gewachsenen Bedürfnis nach authentischem Material für die reformatorische Predigt nachgekommen und hatte Schriftauslegungen für das Kirchenjahr auf der Basis eigener Predigten in lateinischer Sprache publiziert: die Adventspostille von 1521. Die Anregung dazu war vom Kurfürsten selbst ausgegangen, weil er anscheinend Probleme mit unqualifizierten und fanatisierten Predigern hatte und eine ›Engführung‹ der lutherischen Lehre für nötig hielt. Derartige Schriftauslegungen waren Handreichungen für den Prediger, sie sollten der Festigung der Lehre und der Abwehr der ›wilden‹ Predigt dienen. Wie groß die Nachfrage war, zeigt sich daran, daß im gleichen Jahr drei zusätzliche Ausgaben erschienen: eine weitere in Wittenberg, eine in Straßburg und eine in Paris: mit der lateinischen Sprache war einerseits der gesamte hoch- und niederdeutsche Sprachraum zu bedienen, ohne daß es sprachliche Verständigungsprobleme gab, ebenso war die europäische Ausweitung möglich. Im Jahr 1522 erschien in Straßburg eine deutsche Übersetzung, im gleichen Jahr in Wittenberg die nunmehr deutsche ›Weihnachtspostille‹, die dann zusammen mit dem ersten Teil von Adam Petri in Basel veröffentlicht wurde: Auch hastu eyn klare vnderricht, was man in dem Evangelio suochen vnd leren sol (KIND 547). Damit wird die ursprüngliche Funktion, die Handreichung für den Prediger, ergänzt durch die Bestimmung zur privaten Lektüre, wobei hier in traditioneller Weise an das Lesen bzw. das Vorlesen von Bibeltext und Auslegung durch den Hausvater als nachbereitende Ergänzung oder eventuellen Ersatz des Kirchenbesuchs gedacht ist. In dem Erbauungsbuch des Stephan von Landskron ›Die Hymelstrasz‹, das 1484, 1501 und 1510 in Augsburg gedruckt wurde,18 sagt der Autor über das Ziel seiner Publikation, die er aus vielen Büchern und Predigten zusammengestellt und in schlichte und einfache Worte gefaßt habe, daß er denen, die die heilsame Lehre aus Unverstand oder Armut nicht in den Büchern suchen könnten bzw. die Predigt oder Verlesung nicht verstehen oder behalten könnten, helfen will und ihnen zum Lesen oder Lesenhören sein Werk anbietet (IIIr, vgl. auch LIr/v). In den ersten gedruckten Perikopenbüchern mit Auslegungen heißt es in dem bei Grüninger 1503 in Augsburg erschienenen, es sei den menschen gar heylsam zu lesen19 und deutlicher noch in dem Basler Druck von Adam Petri von 1514: Viele Menschen verstehen nicht gut genug Latein, können aber Deutsch Lesen, vornehmlich die, die keine Gelegenheit haben die Predigt zu hören, können ire sele also [...] speysen geistlich auß dissem buoch und die 18

Stephan von Landskron, Die Hymelstrasz, hg. von GERARDUS JOHANNES JASPERS (Quellen u. Forschungen zur Erbauungsliteratur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 13), Amsterdam 1979. 19 FRIEDRICH MAURER, Studien zur mitteldeutschen Bibelübersetzung von Luther (Germanische Bibliothek II,26), Heidelberg 1929, S. 17.

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getreuen Leser oder Zuhörer empfangen neue Gnaden von Gott. Ein Register erschließt dieses kirchenjahrbegleitende Lektüreangebot zur themenbezogenen erbaulichen Lektüre als Ersatz und zur Nachbereitung der Kanzelpredigt. Aus dem Predigermanuale ist also ein Lesebuch geworden, ohne daß die erste Funktion dafür aufgegeben wurde. Luther ließ der ›Weihnachtspostille‹ im Jahre 1525 noch die ›Fastenpostille‹ folgen, wobei er sich gegen Raubdrucker verwahren mußte, die ihm sogar eine Handschrift gestohlen und die Texte so verändert hatten, daß er sie, wenn sie zu myr widder komen, ich meyne eygene bucher nicht kenne. Hier bearbeitete Luther noch eigenhändig die Auslegungen, die weiteren brachte sein Schüler Stephan Roth in publikationsreife Form: in der 1526 erschienenen ›Sommerpostille‹ und der ›Festpostille‹ von 1527, für die Luther dann legitimierende Vorworte schrieb. Seit Weihnachten 1522 hatte Luther nämlich für vierundzwanzig Jahre in Georg Rörer einen Schüler seines Vertrauens, der seine Predigten mitschrieb und die Grundlagen für die Rothschen Lesefassungen bereitstellte. Luther selbst jedoch benutzte die Nachschriften Rörers nach den Sontagen nicht. Roth behauptete bescheiden, die Predigten nur übersehen und in eyne ordnung gebracht zu haben. Tatsächlich hat er nicht nur die Mitschriften ausformuliert und gegliedert, sondern auch umgestellt, neu arrangiert und ergänzt, also das genau getan, was übliche Praxis bei der Erstellung von Predigtbüchern war. Im Vorwort zur ›Festpostille‹ kritisiert Luther ausdrücklich die, die setzen auch dartzcu was sie wöllen unnd verhümpeln nur meine predigen, das ich sie selbs nicht verstee, unnd doch meynen namen füren (WA I,17,2, S. 251,8f.); Roths Umgang mit dem Material in dieser Zeit hat er hingegen ausdrücklich gutgeheißen. Die ersten Postillenteile wurden schon 1525 von Martin Bucer ins Lateinische übersetzt, 1528 erschien dann die ganze Kirchenpostille als Handreichung für den Prediger; die Einrichtung der Ausgabe mit alphabetischem Register der behandelten Gegenstände macht einen eklektischen Umgang mit dem Text bei der Predigtvorbereitung möglich. Doch es gab nicht nur die gebildeten und fleißigen Theologen unter den Predigern. Luther hatte deshalb in seiner ›Deutschen Messe‹ von 1526 ins Auge gefaßt, wegen der Prediger, die es nicht besser könnten, und wegen der »Schwärmer« das passende Stück aus der Postille einfach vorlesen zu lassen, damit nicht jeder predige, was er wolle. Dennoch blieb er Verfechter der ›lebendigen Stimme‹, wenn er an gleicher Stelle meint, der geyst leret wol bas reden, denn alle postillen und Homilien (WA I,19, 95,11). Seine alte Hochschätzung der mündlichen Rede bricht hier durch – schon 1514 hatte er in einer Stephanuspredigt eine Dreireihung aufgestellt: Das Wort ist mental, vokal und skriptural, wobei letzerem der niedrigste Rang zukommt, denn mehr bewege die Stimme als der Buchstabe, aber mehr der Gedanke als die Stimme. Der direktere Weg zum Inneren des Menschen führt also über die Stimme, das mündliche wort ist nicht allein das wirkungsvollste Medium, sondern eben deshalb das höchste Gnadenmittel. Doch wegen der Gefährdung der reinen Lehre durch die Papstkirche einerseits (eyn recht pfeffisch und munchs Euangelion)

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und die »Schwärmer« andererseits, scheint die Verschriftlichung wie schon im Fall der Evangelisten geboten. In seinem Sermon auf den 9. Sonntag nach Trinitatis vom Jahre 1522 reflektiert er die beiden Alternativen: entweder die Notwendigkeit alle Euangelia tzu postilliern oder aber verstendige prediger [zu] bestellen, die mundtlich solchs deutten und lereten (WA 10,3, S. 283,9–11). Ein weiterer Schüler Luthers, Veit Dietrich, publizierte im Jahre 1544 eine ›Hauspostille‹, die auf Predigten zurückging, die Luther in den Jahren 1532–34 im Hause gehalten hatte, »über Tisch«, weil er aus Krankheitsgründen nicht in der Kirche predigen konnte. Dietrich, später Pfarrer von St. Sebald in Nürnberg, hat sie mit eylender hand auffgefasset [...] für das junge einfaltig Völcklin (WA I,52, S. 5,38f.). Damit sagt er etwas nicht nur über die Authentizität, sondern auch über den Zweck. Hier ist die Bestimmung für die häusliche Lektüre sicher die primäre, die ›Dokumentation‹ des Predigtereignisses tritt ganz zurück, deshalb fehlen z. B. die in den einzelnen gedruckten Predigten häufigen Vulgarismen. Aber die Zielsetzung als Predigtmanuale für die ungelerten Pfarrherrn auff dem Lande (ebd., S. 6) steht daneben, nicht nur sollen viele Menschen sie lesen, sondern sie soll auch vielen Kirchen dienen. Deshalb wurde die Hauspostille im Jahre 1546 durch Johannes Wanckel ins Lateinische übersetzt (KIND 544), die Anregung gab Herzog Friedrich Wilhelm I. von Sachsen-Weimar: Wir erkennen hier wieder das landesfürstliche Interesse an einer ›lutherischen Engführung‹ der Lehre. Die lutherische ›Predigtfabrik‹ produzierte ausdauernd und eifrig, seine Evangelisten waren tätig, so daß wir von schätzungsweise über 3000 gehaltenen Predigten etwa 2300 in Nachschrift, Bearbeitung oder autorisiertem Druck erhalten haben, sie füllen 30 Bände der Weimarer Ausgabe mit etwa 20000 Druckseiten. Selbst lange nach Luthers Tode, im Jahre 1587 wurden noch Predigten aus dem vorhandenen Mitschriftsmaterial »generiert«: die Hauspostille erschien nunmehr mit XIII Predigten [...] gemehret (KIND 542). Die Rothschen Predigtbearbeitungen in seinen Postillen gefielen Luther später nicht mehr, und er beauftragte seinen Schüler Caspar Cruciger mit einer Neubearbeitung, den Stil gab er selbst mit der eigenen Neufassung der ersten Predigten vor. Auf der Basis der Mitschriften Rörers erschien die neue ›Sommerpostille‹ im Jahre 1544, aber auch die ›Hauspostille‹ Dietrichs wurde 1559 in einer Neuausgabe durch Andreas Poach bearbeitet, der behauptete, nunmehr alle nicht authentischen Predigten eliminiert, echte hinzugefügt und durch die Ausgabe In welchem Jar und an welchem Ort sie geschehen ist beglaubigt zu haben. Die von Dietrich aus mehreren Predigten amalgamierten Stücke habe er wieder in die ursprünglichen Einheiten aufgelöst (WA I,52, S. VIIIf.). Die Neubearbeitung von Poach nach Rörer ist in Band I,52 der Weimarer Ausgabe nur in der Übersicht S. XII−XXVII aufgenommen, so daß Vergleiche auf die Erlanger Ausgabe zurückgreifen müssen. Die Dietrichsche Hauspostille ist die allgemein akzeptierte geworden. Ganz offensichtlich gab es für Luther für sein mundlich wort also nicht nur eine einzige schriftliche Entsprechungsmöglichkeit. Als Caspar Cru-

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ciger eine von ihm gehaltene Predigt schriftlich ausgearbeitet hatte, lobte ihn Luther, er habe es besser gemacht als er selbst (WA TR 2869b, 2. Jan. 1533) und ganz offensichtlich hat er die Druckfassung wichtiger Programmpredigten aus dem Jahr 1533, die wohl ebenfalls von Cruciger stammt (WA I,37, S. 627–672, erschienen 1535) und, wie gegenüber der für eine Predigt erhaltenen Nachschrift Rörers deutlich wird (WA I,37, S. 9–12), eine Bearbeitung mit Erweiterungen um andere Stücke darstellt, gut geheißen. Im Unterschied zu den frühen autorisierten Druckpredigten sind die späteren dem Stil der Kanzelrede deutlich näher. Das reflektiert das Bedürfnis einer Lesegemeinde nach dem Prediger, nicht nur nach dem Lehrer, nach einer imaginierten sinnlichen Predigterfahrung, nicht nur nach kognitiver Wahrnehmung ethisch-moralischer und theologischer Inhalte. Sicherlich ist dieser Wunsch besonders an die Leitfigur Luthers und die Verehrung, die er genoß, geknüpft. Der Predigtstil ist jedoch kein typisch lutherischer, sondern der von den HomiletikHandbüchern seit je empfohlene biblische Stil des sermo humilis im deliberativen Genus, der vor allem an den Paulusbriefen und dem Johannesevangelium geschult ist.20 Syntaktisch bedeutet dies eine Vorliebe für Doppel- und Tripelformen, für Aufzählungen: liegen, trigen, geytzen, fressen, sauffen, hüren, schlagen, mördern (S. 55,36f.) oder armut, ellend, leyden, jammer, schmach und schand (S. 89,15). Parallelismen sind häufig, oft in Verbindung mit der Anapher, neben der Antithese steht die Variation, das Zweimalsagen. Redensartliche Wendungen gehören zu diesem Stil – Wolan, was wir daran gewinnen, mögen wir die schuck mit schmieren (S. 40,29). Im Bereich der Darstellung werden Beispielfiguren angeführt, vornehmlich aus der Bibel, auch aus den Heiligenlegenden und anderen Erzähltraditionen, wie der ›Kindheit Jesu‹ (S. 108,26ff.). Ausgeführte Exempel verdeutlichen und verlebendigen einzelne Argumente: gleych wie der groß vogel Strauß, der so töricht ist, wenn er den hals mit eim reise deckt, so meint er, daß sein ganze leib bedeckt sei (I, 37, S. 35–72). Luther rekurriert damit auf das, was seine Zuhörer/Leser gehört hatten oder wussten. Gern verwendet er den Bezug auf bildliche Darstellungen, so in der genannten Torgauer Predigt zu Christi Höllenfahrt21: Mit Worten oder Gedanken sei sie nicht zu fassen, da wir aber ohne Bilder nichts denken oder verstehen können, solle man es ansehen, wie es gemalt wird und die hohen unverstendlichen gedancken anstehn lassen, denn das Bild zeige wie Christus die Gewalt der Hölle zerstöre und den Teufel seine Macht nehme. Es geht um die Grundbedeutung, die die Bilder fassen, nicht um die Details, ob die Fahne aus Tuch oder Papier gewesen sei, was die Hölle für Türen oder Schlösser gehabt habe – daraus dann 20

BIRGIT STOLT, Biblische Erzählweise vor und seit Luther sakralsprachlich-volkssprachlichumgangssprachlich, in: Was Dolmetschen für Kunst und Erbeit sey. Beiträge zur Geschichte der deutschen Bibelübersetzung, hg. von HEIMO REINITZER (Vestigia Bibliae 4), Hamburg 1982, S. 179–182. 21 ERICH VOGELSANG, Luthers Torgauer Predigt von Jesu Christo vom Jahre 1532, Luther-Jahrbuch 13 (1931), S. 114–130, hier: S. 126f.

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allegorias zu machen und zu deuten, was Fahne und Stab, Tuch und Hölle usw. bedeute, sei eine Kunst, auf die sich auch eine Sau oder eine Kuh verstände. Luthers Bilddeutung ist also, anders als in der homiletischen Tradition, nicht allegorisch (und damit intellektuell vermittelt), sondern eindrucksbezogen, »komprehensiv«. Die rein kognitiv Vorgehenden können die Wahrheit Gottes nicht erfassen. Die Verständlichkeit für das grobe volck ist Luthers Anliegen und dafür sind ihm alle Medien recht: Wort, Bild und Lied sollen die Grundwahrheiten des Glaubens festigen, vom Singen ist nicht nur häufiger die Rede, sondern Luther hat es ja auch aktiv betrieben und gefördert.22 Die Ablehnung der Allegorie als Methode der Schriftauslegung gilt allerdings erst für den späten Luther, diese klassische Methode des Bibelverständnisses pflegt er noch in der ›Kirchenpostille‹ und seine frühen Predigten folgen ganz den traditionellen Mustern. Auch die Verwendung von Autoritätenzitaten zur Absicherung des vorgetragenen Schriftverständnisses, die Luther später ganz stark reduziert, kennzeichnet seine Predigt bis zur Kirchenpostille. Dann wendet sich die Predigt zunehmend an das grobe volck und dort hat die gelehrt-theologische Argumentation nach dem gängigen homiletischen Verständnis nichts zu suchen. Was heute als luthertypischer Stil gilt, die große Laster- und Gegnerschelte, ist ein klassischer Topos der volkssprachlichen Predigt von Berthold von Regensburg an. Grobianismen und Vulgarismen sind in der Predigt des späten 15. Jahrhunderts üblich und wurden von den Zeitgenossen nicht als außergewöhnlich empfunden. Luther selbst charakterisiert seinen Stil zwar als rauh (WA I,50, S. 549) und rechtfertigt des Öfteren seine derben Formulierungen aber, was die frühen Schriften angeht (in denen die Scheltreden reduziert sind), galt Luthers Rede im Gegenteil als zierlich und fein, ja sogar süß.23 Von Luthers ›lebendiger Stimme‹ geben unsere Texte wechselnde, nur meist unvollkommene Eindrücke. Ob er wirklich der »größte Prediger« der Deutschen war, wie Friedrich Nietzsche meinte, ist nicht zu überprüfen. Er hat seine Predigtpublikationen jedoch nicht zuletzt deshalb betrieben und befördert, weil er, mehr wollte, als seine eigene Stimme hörbar machen, vielmehr mit ihnen eine neue ›lebendige Stimme‹ generieren: die Stimme des Vorlesers oder besser noch, des Predigers, der sich an seinen Predigten inhaltlich und gleichzeitig stilistisch geschult hat, denn der biblische Inhalt braucht den sermo humilis, die biblische Sprache, um wirksam zu werden. Die evangelische Predigt hat sich bis heute an Luther orientiert; die große Arbeit von ULRICH ASENDORF will noch im Jahre 1988 eine Neuaneignung seines Werkes in die Wege leiten – der Schlachtruf von 1952 »Vorwärts zu Luther«, meint er, sei weiterhin aktuell.24 22

GERHARD HAHN, Evangelium als literarische Anweisung. Zu Luthers Stellung in der Geschichte des deutschen kirchlichen Liedes (MTU 73), München 1981. 23 BIRGIT STOLT, Studien zu Luthers Freiheitstraktat (Stockholmer germanist. Forschungen 6), Stockholm 1969, S. 132ff.; DIES., Lieblichkeit und Zier, Ungestüm und Donner. Martin Luther im Spiegel seiner Sprache, in: Luthers Deutsch [Anm. 14], S. 317–339. 24 ULRICH ASENDORF, Die Theologie Martin Luthers nach seinen Predigten, Göttingen 1988, S. 422.

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Ohne daß es jedoch die Adepten wußten und wissen, ist mit Luthers Predigt eine Kontinuität des Spätmittelalters bis in unsere Zeit gegeben, die ohne Beispiel ist. Ein Hausbuch mit den Epistelpredigten der ›Kirchenpostille‹ von 1522, das nach Ausweis von Typographie und Bildern vor etwa 100 Jahren in Braunschweig (L. Stottmeister o. J.) gedruckt wurde, ermahnt zur Lektüre »in stillen Stunden«, wenn sich das Herz »nach Erlösung aus dem Joch der Sünde, nach Befreiung aus den drückenden Fesseln irdischer Armseligkeit« sehnt. Trost in Anfechtung suchte und fand schon Albrecht Dürer in Luthers gedruckten Predigten (Briefe 1,151), ihn selbst aber hatte er nie gehört. Das neue Medium der Druckkunst, das Luther so ausgiebig nutzte, bedeutete die Möglichkeit, Massenpredigten zu halten, ohne sie tatsächlich vor Massen vortragen zu müssen, wie es Berthold oder Capistrano taten. Der Druck wirkte selbst als Multiplikator: Texte wurden vorgelesen, wurden zur Grundlage von Predigten, wurden wieder vokalisiert, wobei der neue Sprecher nur Medium war. Daß die Schrift zur ›lebendigen Stimme‹ führte, hängt aber nicht mit einer besonders »vokalen« Textfassung der Predigten zusammen, sondern mit dem Namen und der Aura Luthers. Die Drucke evozieren schon mit dem Kürzel D.M.L. den berühmten Theologen und betonen oft ausdrücklich, es handle sich um tatsächlich gepredigte Texte. Auch die Postille Roths erscheint unter dem Mediensignalement, sie sei von D. Martin Luther »gepredigt«, ja im Fall der Hauspostille, er habe sie »selbst in seiner Pfarrkirche gepredigt«, was nicht richtig ist, aber der körperliche Beglaubigungsakt behauptet die Gültigkeit der Lehre. Die Betonung seiner »Stimme«, das Insistieren auf ihrem kommunikativen und spirituellen Mehrwert, war nötig, um diese Aura aufrecht zu erhalten. Insofern ist es gerade die Behauptung der Unterlegenheit der Schrift, die hier ihre Wirksamkeit intensivierte. Die lebendige Stimme »vor« der Schrift soll diese selbst entmedialisieren, Unmittelbarkeit durch das Medium induzieren. Zu Beginn eines neuen Medienzeitalter »borgt« das aufkommende Medium, hier der Buchdruck, noch die Legitimation des alten, der Stimme. Für eine autochthone Buchpredigt war die Zeit noch nicht gekommen, aber Luthers Postillen trieben trotz und wegen des Bezugs zur Mündlichkeit die Durchsetzung der Schriftautorität des auslegenden Wortes voran. An die körperliche Stimme Luthers mahnte dann nur noch das obligatorische Porträt im Buch. Das Auge soll über das Bild das innere Ohr für die virtuelle Stimme sensibilisieren. Daß damit das Bedürfnis nach dem erregenden Potential des klingenden Wortes nicht genüge getan wurde, zeigt die oben skizzierte »Vermündlichung« der späten Postille. Die Beobachtungen zu Luthers Predigten sind, trotz der besonderen Bedingungen, in einigen Punkten verallgemeinerbar.25 Im Zentrum steht das ›münd25

Zum Beispiel VOLKER MERTENS, »Texte unterwegs«. Zu Funktions- und Textdynamik mittelalterlicher Predigten und ihrer Konsequenzen für die Edition, in: Mittelalterforschung und Edition, Actes du Colloques 1990 (Wodan 6), Greifswald 1991, S. 75–85; DERS., Predigt oder Traktat? Thesen zur Textdynamik mittelhochdeutscher geistlicher Prosa, Jahrbuch f. Internationale Germanistik 24 (1992), S. 41–43.

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liche Ereignis Predigt‹, auf dieses hin sind die Texte, sei es real oder fiktiv, bezogen. Für die frühe Lutherpredigt gilt, daß sie anteskriptiv ist und mehrheitlich von anderen, aber auch von Luther selbst, verschriftlicht wurde (»nachbereitete Mündlichkeit«). Basis dieser Verschriftlichung sind vornehmlich Mitschriften der Schüler, was ein Sonderfall sein dürfte, da Luther als Universitätslehrer die nötige Infrastruktur dafür zur Verfügung hatte. Mit der Kirchenpostille rückt die Postskriptivität ins Zentrum: Luther bzw. seine Schüler geben Predigtmuster (»vorbereitete Mündlichkeit«). Als Legitimation bleibt jedoch die Referenz auf das ›mündliche Ereignis‹ erhalten. Später gehen dann von den Postillen weite Wirkungen für Inhalt und Stil der reformatorischen Predigt bis in das 18. Jahrhundert aus. Für die spätmittelalterliche Predigt darf mit einer komplexen Situation gerechnet werden, die grundsätzlich ähnliche Bedingungen aufweist wie die Lutherpredigt.26 »Im Anfang war das Wort – der Sinn – die Kraft – die Tat«: Faust, fiktiver Zeitgenosse Luthers, zweifelt an der ihm passenden Übertragung von Johannes I,1, er kann »das Wort so hoch unmöglich schätzen«. Luther tat es, und übersetzte: »Im Anfang war das Wort« – aber er meinte nicht das geschriebene oder gedruckte Wort im beschränkenden »Bücherhauf«, sondern die viva vox. Vielleicht hätte er sagen sollen: »Im Anfang war – die Stimme.«

Nach Abschluss des Manuskripts erschien die einschlägige Arbeit von SUSANNE WIEDEN, Luthers Predigten des Jahres 1522. Untersuchungen zu ihrer Überlieferung (Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers Bd. 7), Köln [usw.] 1999. Hier ausführliche Informationen zum oben besprochenen ›Sermo vom ehelichen Stand‹: S. 421–425, zu lateinischen Nachschriften S. 180f., zu dem Problem Schriftlichkeit vs. Mündlichkeit S. 26–32. Die in meinem Beitrag angestellten Überlegungen habe ich für weitere Corpora aufgegriffen: – Authentisierungsstrategien in vorreformatorischer Predigt. Erscheinungsform und Edition einer oralen Gattung am Beispiel Johannes Geilers von Kaysersberg, in: editio 16 (2002), S. 70–85. – Schwellentexte autorzentrierter Predigten im 16. Jahrhundert, in: Textsorten deutscher Prosa vom 12./13. bis 18. Jahrhundert und ihre Merkmale, hg. von FRANZ SIMMLER, Bern [usw.] 2002, S. 243–256. – Stimme und Schrift in der Predigt des Nikolaus von Kues, in: Nikolaus von Kues als Prediger, hg. von KLAUS REINHARD [u. a.], Regensburg 2004, S. 9– 27. BEI DER

26

WOLFRAM SCHNEIDER-LASTIN (Hg.), Johannes von Staupitz, Salzburger Predigten 1512, Tübingen 1990; WERNER WEGSTEIN, Reminiszenz an Johann von Paltz in einer Trierer Klosterpredigtsammlung, in: Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Kurt Ruh zum 75. Geburtstag, hg. von KONRAD KUNZE [u. a.], Tübingen 1989, S. 314–331 (Nachschriften von Predigten durch Schwester Katharina Grudeler).

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– Die Predigt des Nikolaus von Kues im Kontext der volkssprachlichen Kanzelrede, in: Die Sermones des Nikolaus von Kues. Merkmale und ihre Stellung innerhalb der mittelalterlichen Predigtkultur. Akten des Symposions in Trier vom 21. bis 23. Oktober 2004, hg. von KLAUS KREMER u. KLAUS REINHARD (Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 30), Trier 2005, S. 171–190. – figuren und gemelt: Reale und evozierte Bilder in Geilers Narrenschiff-Predigten, in: Die Predigt im Mittelalter zwischen Mündlichkeit, Bildlichkeit und Schriftlichkeit, hg. von RENE´ WETZEL u. FABRICE FLÜCKIGER (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 13), Zürich 2010, S. 17–34.

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Abb. 1: Albrecht Dürer, Die heimlich offenbarung iohannis (lat. Ausgaben: Apocalipsis cum figuris), Figur 8: Johannes verschlingt das Buch (Apc 10,1–11) (Nürnberg 1498/1511).

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Abb. 2: Titelblatt einer von Martin Luther in Leipzig am 29. Juni 1519 gehaltenen Predigt, zugleich ältestes bekanntes Bild Luthers. Die Umschrift wurde (in Eile?) so ins Holz geschnitten, daß im Druck Spiegelschrift erscheint (Leipzig: Wolfgang Stöckel, 1519).

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Abb. 3: Hans Sebald Beham, Illustration zu Hans Sachs, Ein newer Spruch / Wie die Geystlicheit vnd etlich Handtwercker vber den Luther clagen (Nürnberg: Hieronymus Höltzel, um 1524/25).

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Abb. 4: Lucas Cranach, d. Ä., Kupferstich: Martin Luther als Augustinermönch mit Doktorhut (1521).

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Worte und Werke Stationen und Funktionen eines Toposgeflechtes in der Predigtliteratur des Mittelalters

Engel und Harfner, Töpfer und Schnitter, Weingärtner und Schafhirte, Glocke und Kerze, Fenster der Kirche und Wolke am blauen Himmel der Christenheit: Die in der mittelalterlichen Predigtliteratur für das Amt des Wortverkündigers verwendeten Bilder sind vielfältig und schillernd. Es sind Bilder aus den Wortfeldern von Licht und Klang, Bilder vom Erleuchten, Ertönen, Erbauen und Ernten. Ihre komplexe Metaphorik und deren theologische Implikationen sind noch weitgehend unerforscht, und es lohnte wohl der Mühe, sich einmal eingehender auf sie einzulassen.1 Denn im Bilderreichtum seiner Verkündigung feierte der Klerus gleichsam die Dignität eines Amtes, dem die Gesellschaft zu keiner Zeit unkritisch gegenüberstand. Kritik am Prediger ist so alt wie die Predigt selbst. Wer sie durch die Zeiten verfolgt, stellt bald fest, daß die Zahl der angesprochenen Kritikpunkte überschaubar bleibt und die Kritiker aus einem relativ begrenzten Vorrat sich wiederholender Argumente schöpfen, die nach und nach zu feststehenden gedanklichen und sprachlichen Prägungen heranwuchsen. Ihre gleichsam doppelte Verfestigung garantierte ihr Fortleben als Topoi der Predigerkritik.2 Das Interesse an Genese und Filiation formelhafter Gebilde, das den Begründer der literarischen Toposforschung durch die Höhenkämme des europäischen Mittelalters trieb,3 führte im Bereich massenhaft überlieferter Gebrauchstexte bald in die Aporie. Wenn ein Teil der folgenden Überlegungen dennoch auf der Zeitachse angesiedelt ist, so ausdrücklich ohne ›literaturbiologische‹ Intentionen. Im Mittelpunkt wird vielmehr die Frage nach der Einbindung von Topoi in argumentative Zusammenhänge stehen. Das sollen die Begriffe ›Station‹ und 1

Einige Hinweise bei ANTON LINSENMAYER, Geschichte der Predigt in Deutschland von Karl dem Großen bis zum Ausgange des 14. Jahrhunderts, München 1886, S. 104f.; JOHANN B. SCHNEYER, Die Unterweisung der Gemeinde über die Predigt bei scholastischen Predigern. Eine Homiletik aus scholastischen Prothemen (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes NF 4), Paderborn 1968, S. 40ff. 2 Vgl. WOLFGANG G. MÜLLER, Topik des Stilbegriffs. Zur Geschichte des Stilverständnisses von der Antike bis zur Gegenwart (Impulse der Forschung 34), Darmstadt 1981, S. 17; erweiterter Topos-Begriff jetzt auch bei CLEMENS OTTMERS, Rhetorik (Sammlung Metzler 283), Stuttgart/ Weimar 1996, bes. S. 90f. 3 ERNST ROBERT CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 79f. – Zur Kritik an CURTIUS’ Toposbegriff vgl. LOTHAR BORNSCHEUER, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt a. M. 1976, S. 138–149, bes. S. 146; STEFAN GOLDMANN, Zur Herkunft des Topos-Begriffs von Ernst Robert Curtius, Euph. 90 (1996), S. 134–149.

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›Funktion‹ andeuten, die Aspekte des Synchronen und Diachronen notdürftig verbinden. Die meinen Überlegungen zugrundeliegende Materialbasis umfaßt im Kern Texte der lateinischen und deutschen Predigtliteratur aus etwa fünf Jahrhunderten. Zu ihr rechne ich sowohl explizit als Predigt gekennzeichnete als auch homiletische Literatur, der ich jene normativen Texte zuordne, die zwar nicht ausdrücklich als Ars praedicandi gekennzeichnet sind, den Anspruch aber gleichwohl erheben. Speziell in diesem Punkt haftet der Auswahl der Quellen fraglos etwas Willkürliches an. Rein ökonomisch bedingt sind auch die Zäsur im 16. Jahrhundert und der Verzicht auf einen Brückenschlag zur modernen Homiletik.4 Meine Untersuchung konzentriert sich auf ein einziges, für die Predigerkritik jedoch zentrales Topos-Geflecht: den Topos der notwendigen Übereinstimmung von Worten und Werken des Predigers und seine Nivellierung. Ich nenne die verschiedenen Akzentuierungen dieses Topos versuchsweise ›Geflecht‹, insofern sie – sobald sie auftreten – auf einander zu rekurrieren scheinen. So ist etwa eine Nivellierung ohne die wenigstens unterschwellige Präsenz der NormierungsTopoi nicht vorstellbar. Ich frage also nach literarischer Predigt im Kontext ihrer pastoralen Realisierung, genauer: nach den gesellschaftlich-historischen Bedingungen topischer Prägungen. Ich gehe damit von einer engeren Verflechtung von rhetorischer Tradition und geschichtlichen Gegebenheiten aus. Meine Lektüre greift (von den Spezifika der Gattung ausgehend) über die Texte hinaus: Sie unterstellt eine unmittelbare wechselseitige Beeinflussung, wie wir sie – außer beim Gebrauchstext Predigt – bei kaum einer anderen Textsorte erwarten dürfen.

Normierung Als sich im Zeitalter der karolingischen Kirchenreform angesichts der zu entsendenden Missionare erstmals auf breiterer Basis die Frage nach der Dignität der Predigt und der Qualifikation der Prediger stellte,5 standen dafür aus der patristischen Literatur im Prinzip zwei Anknüpfungspunkte zur Verfügung. Den einen lieferte Augustins ›Doctrina christiana‹, den anderen Gregors des Großen ›Regula pastoralis‹. Beide Werke waren in unterschiedlicher Weise für die Praxis des Predigers und Seelsorgers zugeschnitten. 1. Die ›Doctrina christiana‹6 ist auf absehbare Zeit das letzte Werk, in dem ein christlicher Verfasser aus voller Kenntnis der säkularen Literatur und der 4

Hierüber informiert aus katholischer Perspektive übersichtlich W. KEUCK [u. a.], Predigt, 2LThK VIII, Sp. 705–718; vgl. G. FERSENMEYER, Rhetorik, ebd., Sp. 1276–1278. 5 Vgl. MICHAEL MENZEL, Predigt und Predigtorganisation im Mittelalter, Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 111 (1991), S. 337–384, hier S. 338ff. 6 Im folgenden zitiert nach PL 34, Paris 1887, Sp. 1–122. Eine knappe Analyse bietet DOROTHEA ROTH, Die mittelalterliche Predigttheorie und das Manuale Curatorum des Johann Ulrich Surgant, Basel 1956, S. 15–26.

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forensischen Rhetorik eine explizite und ausführliche Auseinandersetzung mit der antiken techne´ des Redens führt. Davon ausgehend, daß sich Cicero im Prinzip für den christlichen rhetor fruchtbar machen lasse, reflektiert Augustin, nachdem er in den Büchern I-III eine Summe der Christenlehre entfaltet hatte, im vierten Buch neben der technischen auch die theologische Dimension der Verkündigung. Die Predigt stellt sich ihm als ein Zusammenwirken Gottes und der (rhetorisch geschulten) priesterlichen Person dar: »God controls the message and the rhetorician chooses the medium.« Die sich aus diesem Verständnis ergebende systematische Konsequenz ist bemerkenswert: »When the medium fails [...] it cannot be the fault of the message«.7 Hier zeichnen sich Ansätze einer Trennung von Prediger und Predigt ab. Die Verkündigung wird als von menschlicher Defizienz gelöst vorstellbar: Gott handelt in ihr, der Priester ist nur sein Werkzeug. Sogar ausgesprochen verwerfliche Personen können demnach mit Gewinn für ihre Zuhörer das Gotteswort verkündigen, denn – nicht sie sind es, die da predigen.8 2. Der Verfasser der ›Regula pastoralis‹ geht andere Wege. Er greift weniger die Qualität der Verkündigung als das Anforderungs- und Persönlichkeitsprofil des Verkündigers auf. Der Prediger stehe auf dem Berg Zion (Is 40,9), herausgehoben aus der Gesellschaft, zum Göttlichen auf-, zu den Menschen herabschauend, intermittierend wie die Engel auf der Jakobsleiter (Gn 28,12). Von dieser Position aus habe er sein Amt mit Liebe zu erfüllen und vorbildhaft zu wirken. Seine pietas bewirke, daß der Same des göttlichen Wortes in der Brust seiner Hörer gedeihe. Vita und doctrina müssen harmonieren, sonst fällt die Verkündigung auf unfruchtbaren Boden. Der Prediger tritt mit seinem Lebenszeugnis für die Sache ein: Seine Werke werden zur Voraussetzung für den Erfolg seiner Worte. Wenn Gregor im folgenden zu erkennen gibt, daß er es durchaus akzeptieren könne, wenn ein Prediger der Gemeinde durch seinen Lebenswandel mehr als durch seine Verkündigung den rechten Weg aufzeige,9 versucht er vor allem, im Sinne erfolgreicher cura animarum die Superiorität der Werke zu unterstreichen. Dieser Gedanke wird in den folgenden Jahrhunderten als Argument häufiger auftauchen. Der Zusammenhang setzt dann aber meist voraus, daß der Prediger Defizite in seinem Vortrag durch gottgefälliges Leben wenn nicht wettmachen, so doch wenigstens korrigieren könne.10 7

JAMES J. MURPHY, Rhetoric in the Middle Ages. A History of Rhetorical Theory from Saint Augustine to the Renaissance, Berkeley [usw.] 1974, S. 291; vgl. aus der theologischen Spezialliteratur noch ULRICH DUCHROW, Sprachverständnis und biblisches Hören bei Augustin (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 5), Tübingen 1965, bes. S. 166–183. 8 Augustinus, ›De doctrina christiana‹ IV, 27; vgl. MURPHY [Anm. 7], S. 274f. Loci classici dieser Theologisierung der Predigt sind Mt 10,20 u. Hebr 12,25. Die Lehre vom predigenden Christus, dessen Wort die Geistlichen nur den Mund leihen, entspricht im übrigen moderner katholischer Dogmatik; vgl. KEUCK [u.a], Predigt [Anm. 4], bes. Sp. 713–715. 9 ut praedicator quisque plus actibus quam vocibus insonet, et bene vivendo vestigia sequacibus imprimat potius, quam loquendo quo gradiantur ostendat (Gregor der Große, Regula pastoralis, Sp. 124 C/D).

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Was sich im Rückblick als bemerkenswerte Alternative darstellt, wurde von den Zeitgenossen offenbar nicht mit der gleichen Trennschärfe wahrgenommen. Die Spannung wurde zudem dadurch eingeebnet, daß auch der Bischof von Hippo auf die Vorbildhaftigkeit des Predigers zu sprechen kam (Sp. 118f).11 Man zögert dementsprechend, von einer ›historischen‹ Entscheidung zwischen Augustin und Gregor zu sprechen. Es kann jedoch nicht überraschen, daß sich in der kirchlichen Situation des ausgehenden achten Jahrhunderts Gregors Entwurf vom Geistlichen als Seelenführer durchsetzte.12 Menschen wurden ausgesandt, die sich als Repräsentanten ihres Glaubens nicht nur in der Verkündigung, sondern auch in ihrem Handeln beweisen mußten. Die Qualifikation für diese mitunter lebensgefährliche Aufgabe brachte nur mit, wer sich auf die Beachtung eines vorbildlichen Lebenswandels verpflichten ließ. Obwohl die Verkündigung nun zunehmend an Bedeutung gewann, verzichtete man darauf, sie sakramental zu überhöhen. Anders als die Eucharistie, die im Gefolge der donatistischen Streitigkeiten zum von Gott gewirkten Sakrament aufgestiegen war, galt die Predigt zwar als eine dem Amtsinhaber reservierte Handlung, doch blieb ihrer beider Status letztlich systematisch unabgesichert. Der Ordinierte predigte, doch der Sinn dieser Ordination im Zusammenhang des Predigens mußte einer breiteren Öffentlichkeit verborgen bleiben. Das Privileg des Predigens konnte infrage gestellt werden.13 Erwägungen zu einer unmittelbaren Gottgewirktheit begegnen erst (v. a. gegründet auf neutestamentliche Verse) in der Homiletik des 14. Jahrhunderts.14 Damit reagierten die Theologen zweifellos auf einen wunden Punkt. Die Lehre war an dieser Stelle nicht nur für Kritik an der Verkündigung, sondern auch an der Person des Verkündigers anfällig. In den Zeugnissen der volkssprachlichen Verkündigung manifestiert sich diese Theologisierung indes nur selten; wo sie anklingt, hat sie kaum jenen fundamentalen Geltungsanspruch.15 10

So auf der Diözesansynode von 966 unter Rather von Verona (LINSENMAYER [Anm. 1], S. 25) und bei Cäsarius von Heisterbach (Wer nicht predigen kann, soll wenigstens durch seine Werke sein Beispiel geben); vgl. RICHARD CRUEL, Geschichte der Predigt im Mittelalter, Detmold 1879, S. 249f. 11 Das erkennt auch DUCHROW [Anm. 7], der diese Forderung allerdings als »einen rein rhetorischen Topos« bezeichnet (S. 170, Anm. 102). 12 Seit 836 zählt die ›Regula pastoralis‹ zur kanonisierten Pflichtlektüre; vgl. LINSENMAYER [Anm. 1], S. 15. 13 Es ist daher ganz bezeichnend, daß die Kirche vor allem gegen die Annexion der Predigt durch die vielfältigen religiösen Bewegungen des hohen und späten Mittelalters einschreiten mußte. Das Privileg der Sakramentenspendung wurde offenbar weitaus seltener mißachtet oder ging gleich mit einer totalen Ablehnung der Amtskirche einher. 14 Hier vor allem bei den Dominikanern Jean de Galles (ob. 1300) und Jacob von Fusignano (ob. 1329). Während dieser über Gott als Wirkursache der Predigt erst im zweiten Kapitel seiner ›Ars praedicandi‹ handelt, stellt jener die Unterscheidung einer causa efficiens principalis (Gott) und einer causa efficiens instrumentalis (Prediger) an die Spitze seiner Abhandlung; vgl. ROTH [Anm. 6], S. 79f. und S. 88. – Weitere Beispiele bei SCHNEYER [Anm. 1], S. 17ff., dem jedoch im Sinne der Grabmann-Schule mehr an einer Dokumentation der Fortwirkung ihres scholastischen Erbes als an seiner Verknüpfung mit den Niederungen historischer Gegebenheiten gelegen ist. 15 Prominenteste Ausnahme ist sicherlich Berthold von Regensburg, der wiederholt erklärt: allez

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Seit dem achten Jahrhundert ist in den für die Predigttätigkeit maßgeblichen Beschlüssen die auf Gregor zurückgehende normative Gleichordnung von Wort und Werk zu beobachten. So wird es auf der Synode zu Friaul verkündet (791),16 so wiederholt es der Synodalbeschluß von Arles,17 und so wird es die Altheimer Synode von 916 bekräftigen.18 Die Kongruenz von Worten und Werken des Predigers wird dabei mit Blick auf eine erfolgreiche Verkündigung immer wieder eingeschärft. Auch die erste selbständige Homiletik des Hochmittelalters, des Alanus ›Summa de arte praedicatoria‹, ist noch in vielen Punkten Gregors Handbuch verpflichtet.19 Neu ist allerdings die Trias einer praedicatio in verbo, in scripto und in facto (Sp. 113 C). Im Rahmen der Lehre vom Predigen tritt die schriftstellerische Tätigkeit dann aber zurück, rücken Worte und Werke enger zusammen. Der gekrümmte Bischofsstab deutet auf ihre unmittelbare Verklammerung: die recurvatio virgae pastoralis soll den Prediger daran erinnern, ut quod praedicat aliis, in se reflectat, ratione bonae operationis (Sp. 183 A).20 Die Forderung nach einer Kongruenz von Leben und Lehre wird von nun an zu den Grundfesten der Homiletik zählen.21 Das IV. Laterankonzil weist mit Nachdruck auf sie hin,22 und offenbar im Anschluß daran zählt sie auch Wilhelm von Auvergne zu den Voraussetzungen erfolgreicher Predigt.23 Die Vertreter der eben gegründeten Bettelorden, vor allem die Dominikaner, übernehmen das Kongruenz-Postulat uneingeschränkt. Wir begegnen ihm (mit Hinweis auf Gregor) bei Humbert von Romains,24 im anonymen ›Manuale parochialium‹ (1255),25 im ›Modus componendi sermones‹ des Dominikaners Thomas Wadaz ich hiute ruofte an iuch, sünder, daz ruofet der almehtige got durch mıˆnen munt [...] got selbe sprichet ez gein iu durch mıˆnen munt... (Berthold von Regensburg. Vollständige Ausgabe seiner Predigten, hg. von FRANZ PFEIFFER u. JOSEPH STROBL, 2 Bde, Wien 1862/1880, Bd. 1 S. 371,4ff.). 16 LINSENMAYER [Anm. 1], S. 8. 17 ut ... presbyteri ad populum verbum faciant, ut et bene vivere studeant (Concilium Arelatense, bearb. von ALBERT WERMINGHOFF, in: MGH. Lib. de lite, 3. Conc. 2, 1, Hannover 1906, S. 251,23f.). 18 CRUEL [Anm. 10], S. 39. 19 ROTH [Anm. 6], S. 36, im Anschluß an ETIENNE GILSON, La philosophie du moyen aˆge, Paris 1952, S. 309ff.; zu Alanus vgl. auch ROTH, S. 36–43; die ›Summa‹ wird zitiert nach PL 210, Paris 1855, Sp. 111ff. 20 Bei Cäsarius von Heisterbach begegnet der gekrümmte Bischofsstab als Sichel des Schnitters (CRUEL [Anm. 10], S. 249f.). 21 Cäsarius streut sie an verschiedenen Stellen des ›Dialogus miraculorum‹ ein (vgl. LINSENMAYER [Anm. 1], S. 371f.). 22 C. 15. X. de officio jud. ord. (I. 31): [...] sancimus, ut episcopi viros idoneos [...] assumant potentes in opere et sermone, qui plebes sibi commissas [...] verbo aedificent et exemplo (LINSENMAYER [Anm. 1], S. 76, Anm. 1). 23 A. DE POORTER, De arte predicandi. Un manuel de pre´dication me´die´vale, Revue ne´oscolastique de philosophie 25 (1923), S. 192–209. 24 ›De eruditione Praedicatorum‹; dieselbe Vorstellung findet sich bereits in Humberts ›Liber de Instructione Officialium OFP‹ im Abschnitt De officio praedicatoris communis. – Zu Humbert vgl. LINSENMAYER [Anm. 1], S. 93–101; ROTH [Anm. 6], S. 54–64. 25 LINSENMAYER [Anm. 1], S. 78.

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leys26 und bei Johannes von Kastl.27 Der Verfasser eines Traktates aus dem 13. Jahrhundert befindet, daß, wie ein Brief ohne Siegel keine Beweiskraft besitze, so auch ein Prediger ohne sein Lebenszeugnis keinen Glauben finden könne: Er gleiche »den Blinden und Lahmen, die am Eingang der Stadt sitzen und betteln; sie zeigen den Vorübergehenden den Weg, setzen aber nie einen Fuß in sie hinein«.28 Mag die Bildersprache in der Folgezeit auch variieren, die argumentative Funktion des Worte/Werke-Topos bleibt über Jahrhunderte nahezu unverändert. Unter Rückgriff auf Gregor, Alanus oder beide finden wir ihn bei Robert von Basevorn,29 Martin von Amberg30 und im ›Mauritius-Traktat‹.31 Auch der eigentlich nur in scripto predigende Kartäuser Heinrich Haller macht sich in seiner Übersetzung der ›Hieronymus-Briefe‹ im Kapitel Wie der prediger geschickht sol sein vehement für die unbedingte Kongruenz der Worte und Werke stark.32 Zu Beginn des 16. Jahrhunderts geht ihre Einforderung in des Erasmus ›Ecclesiastes‹33 und das ›Manuale curatorum‹ Ulrich Surgants ein, noch immer auf Gregor gegründet: Praedicator tenetur facere ea quae praedicat.34 Die Beispiele mögen genügen, um die Kontinuität des congruitas-Gemeinplatzes in der Gregor-Nachfolge innerhalb des homiletischen Schrifttums zu veranschaulichen. Werfen wir nun (wiederum ausgehend von Gregor) einen Blick in die Predigten. In dessen Homilie auf den zweiten Sonntag nach Ostern heißt es über den guten Hirten: Fecit quod monuit, ostendit quod jussit (Sp. 1127 C). Diese Predigt appelliert an die fratres charissimi; ihre Forderungen bewegen sich im klösterlichen und damit für die öffentliche Predigt weitgehend unverbindlichen Milieu. Wir werden dort zu suchen haben, wo das Werk der Verkündigung im Vordergrund steht. Die Übereinstimmung der Worte und Werke eines Heiligen gilt als konstitutives Merkmal von Sanktizität. In Heiligenpredigten begegnen wir daher immer wieder formelhaften Wendungen wie dieser: er bewaert div gvoten wort mit den gvoten werchen.35 Das Idealbild, das die meisten Predigten zeichnen, rückt sie in 26

TH. M. CHARLAND, Artes praedicandi. Contribution a` l’histoire de la Rhe´torique au Moyen Age (Publications de l’institut d’Etudes Me´die´vales d’Ottawa VII), Paris/Ottawa 1936, S. 329ff. (Thomas Waleys, ›De modo componendi sermones‹, Kapitel: De qualitate praedicatoris); Thomas leitet die Würde der Predigttätigkeit wie Alanus aus Is 40,9 her. 27 JOSEF SUDBRACK, Die geistliche Theologie des Johannes von Kastl, Bd. 2, Münster 1967, S. 140 (sog. ›Ars praedicandi‹). 28 FRANZ KÖHLER, Estländische Klosterlektüre, Reval 1892, S. 79 (zit. nach FRIEDRICH W. OEDIGER, Über die Bildung der Geistlichen im Spätmittelalter [Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 2], Leiden/Köln 1953, S. 113). 29 CHARLAND [Anm. 26], S. 241. 30 Vgl. LINSENMAYER [Anm. 1], S. 102f. 31 ROTH [Anm. 6], S. 121. 32 Heinrich Hallers Übersetzung der ›Hieronymus-Briefe‹, hg. von ERIKA BAUER, Heidelberg 1984, S. 17ff. 33 ROTH [Anm. 6], S. 188. 34 ROTH [Anm. 6], S. 157. 35 FRANZ KARL GRIESHABER, Predigtbruchstücke aus dem 12. Jahrhundert, Germania 1 (1856), S. 441–454, hier S. 450,6f.: Predigt über den Apostel Matthias.

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die Nähe der homiletischen, mehr für den Wortverkündiger als für sein Publikum normativen Literatur.36 Das gilt nicht weniger für Schrifttum, das auf das Andenken berühmter Prediger zielt. Die Betonung, daß sie ihre trefflichen Worte durch Werke verifizierten, gehört zur Mindestausstattung eines Nachrufs.37 Hagiograph und Biograph rücken Abgeschlossenes zurecht und betonen oder fingieren Vorbildhaftigkeit. Für die auf Veränderung innerkirchlicher Mißverhältnisse zielenden ad status-Predigten ist hingegen die Geste der Ermahnung konstitutiv. Wo Geistliche ihresgleichen an ihre Vorbildfunktion erinnerten, bedienten sie sich daher gerne des negativ akzentuierten Worte/Werke-Topos. So wird schon in einer aus althochdeutscher Zeit überlieferten Predigt recht ungestüm Anklage erhoben gegen die, dıˆe dir habent den phaflichen namen. Christus habe die Jünger als Schnitter in die Felder gesandt, das Evangelium zu verkündigen und das Gebot der Nächstenliebe zu erfüllen. Was aber passierte? Daz kiscihet ofto, daz der predigare irstummet ettisuenne durh sin selbis unreth, daz er dei nieth vuurchen ni uuile dei er da brediget.38 Prediger-Kritik kann bestürzende Ausmaße annehmen, wie VOLKER MERTENS an einer Berliner Sammlung aufzeigte.39 Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Konkurrenzkampf zwischen Weltgeistlichen und Mendikanten sich nicht zuletzt über Kritik am Lebenswandel der Kontrahenten ausweitete.40 Im ›Buch der Rügen‹, das zwischen gereimter Predigtlehre und Ständedidaxe changiert, heißt es im an die fratres praedicatores gerichteten Schlußkapitel drohend: geboesert niht mit ungebaˆr die liute, wan sie nement war wie ir iuch daˆ zuo keˆret daz ir mit worten leˆret ... (vv. 1611–14)41

Der Wiener Minorit Johannes Bischoff attackiert die in Worten und Werken disharmonierenden Geistlichen als Delphine, deren süßer Gesang über ihre scharfen chrempelen42 hinwegtäusche. Im Anschluß an Gregor erkennt er in 36

Zur Gebrauchsfunktion von Heiligenpredigtmagazinen als Nachschlagewerke für Prediger vgl. WERNER WILLIAMS-KRAPP, Mittelalterliche deutsche Heiligenpredigtsammlungen und ihr Verhältnis zur homiletischen Praxis, in: Die deutsche Predigt im Mittelalter. Internationales Symposion am Fachbereich Germanistik der FU Berlin vom 3.–6. Oktober 1989, hg. von VOLKER MERTENS u. HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 1992, S. 352–360. 37 Zu Berthold vgl. die Zeugnisse in der Ausgabe von PFEIFFER/STROBL [Anm. 15], S. XXff. – Zu Geiler: Jakob Wimpheling – Beatus Rhenanus, Das Leben des Johannes Geiler von Kaysersberg, hg. von OTTO HERDING (Jacobi Wimpfelingi opera selecta II,1), München 1970. 38 WILHELM WACKERNAGEL, Altdeutsches Lesebuch, Basel 51873, Sp. 330; vgl. CRUEL [Anm. 10], S. 104ff. 39 VOLKER MERTENS, Der implizierte Sünder. Prediger, Hörer und Leser in Predigten des 14. Jahrhunderts, in: Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Dubliner Colloquium 1981, hg. von WALTER HAUG [u. a.], Heidelberg 1983, S. 76–114, bes. S. 83ff. 40 MERTENS [Anm. 39], S. 87; vgl. MENZEL [Anm. 5], S. 350ff. 41 Vgl. NIKOLAUS HENKEL, ›Sermones nulli parcentes‹ und ›Buch der Rügen‹. Überlegungen zum Gattungscharakter und zur Datierung, in: HAUG [Anm. 39], S. 115–140. 42 Das meint wohlgemerkt die eigenen scharfen Zähne, nicht etwa die scharfen Klippen im »Meer dieser Welt«, auf die Delphine die Seefahrer mit ihrem »Gesang« locken!

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ihnen die bösen Ärzte, die Gesundheit predigten und Gift verabreichten. Seine Konsequenz: Es sei höchste Zeit, daß die Laien deutsche Bücher besäßen, um nicht länger von blinden Blindenführern abhängig zu sein.43 Das kaum verdeckte Paktieren des Predigers mit dem Publikum hat Folgen. Der inkongruente Geistliche wird obsolet. Es überrascht daher nicht, daß solche die Existenz riskierenden Frontalangriffe aufs Ganze gesehen die Minderheit ausmachen. In der Mehrzahl der Predigten wird (wie in der ›Leipziger Predigtsammlung‹ Dietrichs von Gotha) die congruitas-Forderung zwar adhortativ, jedoch ohne hypocrisis-Polemik vorgetragen: Wer das wort gotis lerit, der sal iz bewisin mit den werkin, so mogen siz dy lute gebessere vnd ouch dornoch gethuen (fol. 105rb).44 Mancher Prediger erhoffte sich vielleicht auch kathartische Wirkung durch die Macht der Bildersprache: danne missehellen die seiten [scil. o der Harfe], swenne der predigere anders tut an sinen werken danne er lerit. dirre luth benimet die suzzecheit vnd den smak des goteswortes.45 Zusammenfassend läßt sich bei aller gebotenen Vorsicht doch soviel sagen: Dem in Homiletik und Predigtliteratur zu beobachtenden Rückbezug auf die ›Regula pastoralis‹ Gregors des Großen liegt eine Auffassung von Ursprung und Reinheit des Wortes zugrunde, die sich enger an der Person des Verkündigers als an der kategorischen Integrität einer gottunmittelbaren Verkündigung orientiert (wie sie bei Augustin angelegt ist). Sie erhebt den Boten zum Urheber der Botschaft, was in der Konsequenz zur stärkeren Akzentuierung einer puritas vitae führen mußte. Damit gebiert sie den Topos von der notwendigen Übereinstimmung der Worte und Werke des Amtsinhabers, die als konstitutiv für Aufnahme und Erfolg der Verkündigung vorgestellt wird und die sich wie ein roter Faden durch die Homiletik und die für die Geistlichkeit normative Predigtliteratur zieht.

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JAMES M. CLARK, Johannes Bischoff’s Prologue, English Historical Review 47 (1932), S. 458. Vgl. CHRISTOPH ROTH, ›Wie not des ist, daz die frummen layen selber pücher habent‹. Zum Predigtzyklus des Johannes Bischoff aus Wien (Anfang 15. Jahrhundert), ZfdA 130 (2001), S. 19–57, hier S. 35. 44 Vgl. CHRISTOPH FASBENDER, Die ›Leipziger Sammlung Dietrichs von Gotha‹, in: Septuaginta quinque. Fs. Heinz Mettke, hg. von JENS HAUSTEIN [u. a.], Heidelberg 2000 (Jenaer germanistische Forschungen N.F. 5), S. 83–101, hier S. 95. Die Predigt des Johannes Schoup (1436): Ein ieglicher bredier sol an ime haben zwei ding, das eine Wort, die ernsthaftig sind und wol gesetzet, das ander ein wandel und werck, die den worten gelich sint. (Berlin SBB-PK, Mgq 296, 252r; mitgeteilt von HANS-JOCHEN SCHIEWER / CARMEN VON SAMSON-HIMMELSTJERNA, Computing Middle High German Sermons, in: De L’home´lie au sermon. Histoire de la pre´dication me´die´vale, hg. von Jacqueline Hamesse, Louvain-la-Neuve 1993, S. 341–352, hier S. 341). 45 Aus dem Vorspruch einer Predigt In annunciacione beate marie virginis seu in adventu domini dom. I aus dem 14. Jahrhundert, in: Deutsche Predigten des XIII. und XIV Jahrhunderts, hg. von HERMANN LEYSER (Bib. d. ges. dt. Nat.-Lit. 11,2), Quedlinburg/Leipzig 1838, S. 24,14ff.

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Nivellierung Als Topos der lateinischen Homiletik wäre die Worte/Werke-Kongruenz-Forderung eine letzten Endes primär literarische Formel geblieben. Doch gibt die Überlieferung der volkssprachlichen Predigt Hinweise auf die Dimensionen, die sich im Moment einer tatsächlichen Verkündigung ad populum auftaten. Die Verknüpfung von vita und doctrina dürfte jeden Pfarrprediger vor nicht geringe Probleme gestellt haben. Es mußte im Interesse zumal der weitgehend ungeschützt agierenden Parochialgeistlichkeit liegen, diesen Zusammenhang aufzuheben, und das konnte nur heißen, die Aufmerksamkeit von der Person des Verkündigenden abzuziehen. Belege aus der Homiletik lassen sich für diese Nivellierung begreiflicherweise nicht erbringen; es war ja gerade ihr Ziel, die praedicatio in verbo und in facto zu harmonisieren. So läßt sich auch ein entsprechender Passus bei Alanus nicht in unserem Sinne deuten. Hier wird von der Darbietung der Predigt gehandelt, bei der des Predigers Streben nach Beifall (applausus) die Vermittlung der Inhalte behindere. In knapper Formelhaftigkeit heißt es über die Zuhörer: considerare non debent quis loquatur, sed quid.46 Nicht die Person, sondern die Sache, nicht die Selbstinszenierung eines Verkündigers, sondern allein der Inhalt der Verkündigung käme dem Alanus-Abschnitt auch für eine Geschichte der congruitas-Forderung höchstens indirekte Bedeutung zu, indiziert er doch ein Bewußtsein dafür, daß das Wort Gottes an Menschen gebunden ist und daß jene einer erfolgreichen Verkündigung in ihrer Menschlichkeit mitunter im Wege stehen können. Freilich sucht der Homiletiker, die Kluft zwischen Anspruch und Realität im Vertrauen auf seine Mahnungen so weit wie möglich zu überbrücken. Es werden die Prediger sein, die sich den notwendigen Abstand selbst verschaffen. Dazu einige Beispiele. Noch dem zwölften Jahrhundert gehört das Predigtbuch des Priesters Konrad an, das zu großen Teilen Bearbeitungen lateinischer Vorlagen darstellt. In einer Kirchweihpredigt vergleicht Konrad die Priester mit den Trägerfiguren eines Taufbeckens. Es handelt sich um Ochsen, deren Häupter unter dem Beckenrand hervorlugen, während die zaegel verborgen bleiben: daz bezaichent daz ir iuwerm briester unde iuwerm leraer sult sehen under diu ougen und su´lt war nemen waz er iu sage unde sult iuch von sim worte unde von siner guoten lere gebezern [...] ob siniu werch niht guot sint, da ne sult ir iuch niht von gepoesern.47 VOLKER MERTENS registrierte, daß der Prediger seine Vorlage »auffällig frei« übersetzt habe: »davon, daß die Gläubigen sich nicht nach den Werken der Priester richten sollen, steht nichts darin.«48 Der Weltkleriker Konrad wehrt hier 46

›Summa de arte praedicatoria‹, Sp. 114 A mit verdeutlichender Lesart: (considerare non debent) quis est qui loquitur. 47 Altdeutsche Predigten I-III, hg. von ANTON E. SCHÖNBACH, Graz 1886–1891, Bd III, S. 101,26ff. Zur Stelle vgl. jetzt Regina D. Schiewer, Die deutsche Predigt um 1200. Ein Handbuch, Berlin und New York 2008, S. 29. 48 VOLKER MERTENS, Das Predigtbuch des Priesters Konrad. Überlieferung, Gestalt, Gehalt und Texte (MTU 33), München 1971, S. 139, Anm. 54.

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ganz offensichtlich die congruitas-Forderung ab. Allein die Lehre des Geistlichen sei für die Hörer verbindlich, seine Lebensführung hingegen irrelevant. Diese Haltung durchzieht die ganze Sammlung. Konrads Apostelpredigt49 ist in dieser Hinsicht ein hochartifizielles apologetisches Produkt. Die Apostel werden ausdrücklich als ›Gefallene‹ qualifiziert, denn Petrus habe seinen Herrn dreimal verleugnet. Dieser lapsus aber wurde von Christus selbst provoziert: Das tet vnser herre alles durch vns, das er die der christenhait pflegen solten, lie geuallen (S. 263,34–36). Das pflegen der Christenheit wird dann ausschließlich auf lere und predige reduziert (S. 264,64; 265,84 u. ö.) – von den Werken ist nicht mehr die Rede. Wenn Konrad nun den Wortverkündiger in die Nachfolge der Apostel stellt, sanktioniert er nicht nur seinen Status als Gefallener, sondern verweist auf die durch die höchste Instanz begründete Notwendigkeit des Falles. Der Priester Konrad steht mit seiner Apologie des in Worten und Werken inkongruenten Geistlichen nicht alleine. Ein analoger Fall von Quellenbearbeitung läßt sich in einer der von LEYSER edierten ›Leipziger Predigten‹ des 14. Jahrhunderts beobachten. Sie endet mit folgenden Worten: Nv sin etteliche leider. die vnsers herrin gotes boten solden sin vnd ir vndertanigen solden leren. vnd wisen den rechten weg zv himelriche [...] nv hort ir oder seht ir leider wenig guotes von vns. Idoch sult ir tvon als uch vnser herre got selbe gebuotet vnd spricht o – es folgt der lat. Vers Mt 23,3 – swaz wir guotes heizen oder lern. daz tvt. vnd o 50 swaz ir vbeles von vns hort oder seht oder vornemet. des ensult ir niht tvn. Das Christuswort wird indes nicht ganz ohne Gewalt exegesiert: Der Prediger übersetzt dicimus statt dicunt; Subjekt dieses Sprechens sind im Evangelium die heuchlerischen Schriftgelehrten, und Christus entbindet seine Jünger von der Pflicht, ihnen zu folgen. Daraus wird in den ›Leipziger Predigten‹ ein Christus, der seine Gemeinde durch den Mund ihrer Prediger vor ihren Predigern warnt. – Der ganze Absatz erweist sich allerdings bei Hinzuziehung der Parallelüberlieferung wiederum als sekundäre Erweiterung. Die wohl noch ins 12. Jahrhundert zu setzenden ›Schlägler Bruchstücke‹51 kennen – bei ansonsten identischem Wortlaut – die Entlastung des Geistlichen noch nicht. Die Negierung eines Worte/Werke-Konnexes fällt zusammen mit dem Topos vom ›Boten Gottes‹. Dieser Topos leistet ein Doppeltes: der Prediger, dessen Botschaft höhere Geltung beanspruchen kann als die auctoritas des eigenen Exempels, wird entlastet, die congruitas-Norm der Homiletik aufgehoben. Zugleich wird das Wort Gottes als ›Botschaft‹ von seiner engeren Bindung an den Menschen befreit.52 Es sind wiederum die ›Leipziger Predigten‹, in denen diese Vorstellung ausgeführt wird: die wir da bischolve, pherrere und pristere heizen 49

MERTENS [Anm. 48], S. 262–265. LEYSER [Anm. 45], S. 124,10–19 (Nr. 27: ›De uno confessore‹). 51 KARL POLHEIM, Schlägler Bruchstücke altdeutscher Predigten, PBB 50 (1926), S. 18–60, hier S. 36 par. 52 Der Boten-Topos ohne explizite Bezugnahme auf die Predigt auch in den ›Züricher Predigten‹ (WILHELM WACKERNAGEL, Altdeutsche Predigten und Gebete aus Handschriften, Basel 1876, Nr. I Z. 73ff. [S. 5]). 50

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o und sin, swie sundlich so wir sin, so sule wir doch die boten sin die unsers herren des almechtigen gotis boteschaft werbin suln. der untuore und der bose o bote brenget etteswanne als gute botschaft als der gute. man ensol den botin niht 53 an sehn sunder der in da sendet. Noch einen Schritt weiter geht ein österreichischer Prediger des 14. Jahrhunderts. Mögliche Kritik an der Unzulänglichkeit des Boten fängt er durch den Gebrauch positiver Bilder ab: Ist aber daz wir ew guetew dinch sagen. und e ublew dinch begen. so sey wir einr chertzen geleich. dew andern lewten wol lewcht – und, in derselben Predigt: ist aber daz wir guetew dinch predigen und e ublew tuen. so sey wir gemazzet zu einer glokken. mit der daz volch zechirchen geladen wirt.54 Es ist dies die genaue Umkehrung des im homiletischen Kontext negativ konnotierten Bildes vom Bettler als Wegweiser in die Stadt. Der Prediger-Bote ist auf der Bildebene zum Werkzeug Gottes geworden.55

Ich begreife den Boten-Topos und seine Scheidung von Verkündiger und Verkündigung als Reflex auf die Über-Forderung nach Harmonisierung von Worten und Werken der Geistlichen. Seine Heimat ist indes nicht die Predigt. Er ist ursprünglich im Zusammenhang der sakramentalen Amtshandlungen anzutreffen, etwa in den ›St. Georgener Predigten‹ und der dort vorgenommenen Trennung von Amt und Person des Geistlichen: swie bös und wie su´ndig er si an sim leben untz daz im sin amt unverbotten ist, so mag er messe singen und biht hören und aplas geben [...] swie krumb er si an sinem leben mit den su´nden, so ist doch sin ampt schön und luter und raine.56 Es folgt der Vergleich mit dem Boten, der einäugig, krummnasig oder bucklig sein könne, solange er gute Botschaft überbringe. Das Stichwort ›Botschaft‹ schlägt die Brücke zur Wortverkündigung: Etteswanne bringe auch der schlechte Bote gute Kunde. Dem Boten-Topos steht ein weiteres, die Forderung nach Einheit von Leben und Lehre nivellierendes Diktum so nahe, daß ich abschließend kurz darauf eingehen möchte. Ein von HANS-JOCHEN SCHIEWER aus der Schaffhauser Handschrift der ›Schwarzwälder Predigten‹ mitgeteilter Kolophon57 wurde zum Aus53

SCHÖNBACH [Anm. 47], Bd I, S. 243,21–26; vgl. VOLKER MERTENS, Studien zu den ›Leipziger Predigten‹, PBB 107 (1984), S. 256, Anm. 32. 54 Altdeutsche Predigten, hg. von FRANZ JOSEF MONE, Anzeiger für Kunde der teutschen Vorzeit 8 (1839), Sp. 510f.; vgl. LINSENMAYER [Anm. 1], S. 105. Der Prediger als Glocke auch in der Predigt-Übersetzung des Kartäusers Nikolaus nach Richard von St. Victor; vgl. IRMA LAMPRECHT, Der Mönch Nikolaus, ein Vorläufer Abrahams a Santa Clara, Münchner Museum für Philologie des Mittelalters 5 (1928), S. 159 u. 161 (lat.). 55 So argumentierte auch der Florentiner Volksprediger Savonarola, der in einer Zwiesprache mit Gott dessen Begründung für die Wahl seines Predigers erfährt: »Ob das Werkzeug edel oder einfach ist, darum kümmere ich mich nicht. Denn die Tauglichkeit kann ja doch nur von mir kommen und nicht vom Werkzeug« (hg. von GUNDOLF GIERATHS, Freiburg 1961, S. 116). 56 Der sogenannte St. Georgener Prediger aus der Freiburger und der Karlsruher Handschrift, hg. von KARL RIEDER (DTM 10), Berlin 1908, S. 6,41–7,22; vgl. WACKERNAGEL [Anm. 52], S. 80,90–119. 57 HANS-JOCHEN SCHIEWER, Eine Sammlung von Sonn- und Festtagspredigten des Schwarzwälder Predigers in der Stadtbibliothek Schaffhausen, Schaffhauser Beiträge zur Geschichte 62 (1985), S. 15–30.

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gangspunkt meiner Beschäftigung mit der Sentenz Non sit tibi cura quis dicat sed quid dicatur. SCHIEWER hielt sie zunächst »für eine Verlegenheit angesichts anonymer Überlieferung«, kam aber dann auf den Gedanken, daß es sich nicht um zufällige, sondern um gewollte Anonymität handelt.58 Nun fand ich die nämliche Sentenz in einem anderen Fall als handschriftlichen Nachtrag unter einem ebenfalls anonymen Werk, einem Druck von Thomas Peuntners ›Buch von der Liebhabung Gottes‹. Dort heißt es: Et quamvis ignoratur eius compositor, credamus tamen verbis Senece dicentis: Non quis sed quid dicat attende.59 Eine in irgendeiner Weise ›taktische‹ Verwendung ist nicht erkennbar. Das Diktum deutet lediglich auf die Resignation des Rezipienten und wenn nicht auf ein Bedürfnis nach Autorennamen, so doch wenigstens auf eine gewisse Irritation angesichts ihres Fehlens. Gleichwohl könnte dem Ausspruch im Schaffhauser Codex die Funktion zugedacht gewesen sein, die Aufmerksamkeit der Leser von der Person des Predigers (oder vielleicht seiner Ordenszugehörigkeit) abzuziehen und auf den Inhalt der Predigt zu lenken. Das wird wahrscheinlich, wenn wir uns die Herkunft des im Peuntner-Druck verkürzt wiedergegebenen Diktums vergegenwärtigen. Seneca, der seinen Zögling Lucilius am Schluß seiner Briefe mit Maximen großer Philosophen auszustatten pflegte, berief sich gerne auf Epikur, einen erklärten Gegner der Stoa. Lucilius fragt, warum er dies tue. Seneca antwortet, indem er sich gegen jene wendet, qui in uerba iurant nec quid dicatur aestimant, sed a quo, und befindet, daß das Beste ohnehin Allgemeinbesitz sei – und also auch einem Epikur angehören könne. Nicht Schulzugehörigkeit und Lebensführung interessieren, sondern allein die Aussagen; nicht der Bote, sondern allein die Botschaft.60

Verteilung der Belege In groben Strichen möchte ich abschließend eine Belegstellen-Gruppierung der hier behandelten Topoi versuchen. Sie beansprucht Aussagekraft allein mit Blick auf die jeweiligen Gattungen und Genera der literarischen Predigt. Indes könnte sich über ihre Verteilung auch die Bestätigung unserer Ausgangshypothese von der Bindung der Texte bzw. Stoffe an bestimmte Lebensräume (und damit bestimmte Aufführungssituationen) ergeben. 58

HANS-JOCHEN SCHIEWER, Et non sit tibi cura quis dicat sed quid dicatur. Entstehung und Rezeption der Predigtcorpora des sog. Schwarzwälder Predigers, in: MERTENS/SCHIEWER [Anm. 36], S. 31–53, hier S. 46. 59 HERMANN MASCHEK, Der Verfasser des Büchleins von der Liebhabung Gottes, Zentralblatt für Bibliothekswesen 53 (1936), S. 361–368, hier S. 368 Anm. 2. Zum ganzen Komplex vgl. jetzt: CHRISTOPH FASBENDER, Non sit tibi cura quis dicat, sed quid dicatur. Kleine Gebrauchsgeschichte eines Seneca-Zitats, in: Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit, hg. von Stephan Pabst, Berlin u. Boston 2011, S. 35–40, hier S. 41f. 60 Seneca, ›Epistulae ad Lucilium‹ I 12,11. Ähnlich ›De moribus‹ 13: Verba rebus, non personis estimanda sunt. – Dies kann den Ethiker Seneca natürlich nicht davon abhalten, an anderer Stelle die congruitas seines Schützlings einzufordern, vgl. Ep. XXXV,4: Hunc te prospicio, si perseveraveris et incubueris et id egeris ut omnia facta dictaque tua inter se congruant ac respondeant sibi.

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Vorab sollte vermerkt werden, wo Belege weitgehend fehlen. Es ist dies der ganze Bereich mystischer Predigt, die primär Unterweisung zu individuellem Heilserwerb sein wollte und der die Person des Predigers keinen adäquaten Gegenstand bot.61 Wo deren Verhalten dennoch diskutiert wird, stehen zumeist andere Aspekte im Vordergrund, etwa in Geilers von Kaysersberg Apologie der vita contemplativa.62 Auch in selbständigen Klosterpredigten spielt der Worte/Werke-Topos nur eine marginale Rolle. Die genaue Erfüllung der Regel gilt als einziger Indikator für die Integrität eines Klosterbewohners.63 Schließlich fällt das Fehlen von Belegen in den Plenarien und Predigtjahrgängen der Inkunabelzeit auf. Will man es nicht mit einer allgemeinen Verflachung ihres diskursiven Niveaus oder der primär katechetischen Ausrichtung der Texte erklären, könnte man den potentiellen Wechsel der Gebrauchssituation anführen und die damit einhergehende Entlastung des Geistlichen, dessen Rechtfertigung coram publico entfiel. Die Kongruenz-Forderung ist ein Postulat der Homiletik von Gregor dem Großen bis ins Zeitalter der Reformation und darüber hinaus. Seit dem 13. Jahrhundert fehlt sie in keiner Predigtlehre. Zumal die Dominikaner berufen sich auf sie. Sie tritt normativ in bestimmten De tempore-Predigten (häufig: Ego sum pastor bonus)64 und unter negativen Vorzeichen in ad status gehaltenen Predigten als Klerikerschelte auf. In den Bereich der Homiletik fallen auch jene Belege, aus denen sich der Gedanke einer Superiorität der Werke gegenüber den Worten ableitet. Diese prädikatorischer Defizienz Rechnung tragende Nivellierung scheint sich seit dem 12. Jahrhundert aus der Diskussion zurückzuziehen; in den Predigtsammlungen ist sie kaum anzutreffen. 61

Man vgl. allerdings die von WALTER HAUG und FREIMUT LÖSER angeführten Beispiele aus Predigten Taulers und Eckharts (vor allem S. 5 und S. 159f., 163–165, 174–176). In diesen Fällen wird allerdings weniger eine seelsorgerliche Minimal-Ethik als die Kraft der Predigt und die Berufung des Predigers reflektiert. 62 So heißt es: ain ‹schawender› mensch leert mer mit dem exempel seiner werck. dann ein prediger der vil zeit das volk underwiß allain mit den worten / und die werck nit dabey hat (Johannes Geiler von Kaysersberg, Sämtliche Werke, Bd. 2, hg. von GERHARD BAUER [Ausgaben er Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts], Berlin/New York 1991, S. 100, Z. 16–18). 63 Vgl. etwa folgende Mahnung: liebe, slahit den wint niht, daz ist daz ir des iht wenit daz chappe oder roch iht helfi wider den almehtigen got ane gtiu werch. (Predigtbruchstücke II, hg. von ANTON E. SCHÖNBACH, ZfdA 20 [1876], S. 226); vgl. Zisterzienser-Predigten, hg. von ERIKA BAUER (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 7), München 1969, S. 56 par.; allein auf die Verkündigung des Hirten zielt eine Ego-sum-pastor-bonus-Predigt aus Weingarten, hg. von ANTON E. SCHÖNBACH, ZfdA 28 (1884), S. 10. Eine wohl ebenfalls in einem Benediktinerkloster abgefaßte Predigt ermahnt dazu, das Wort Gottes zu hören und mit den gedanchen zu erfüllen (Predigtbruchstücke I, hg. von ANTON E. SCHÖNBACH, ZfdA 19 [1875], S. 195). Der Hinweis auf Gedankensünden ist typisch für monastisches Milieu; vgl. auch Johannes Bischoff bei CLARK [Anm. 43], S. 459. 64 Der von REGINA D. SCHIEWER gewiesene Analyse-Weg (»Baustein-Prinzip«) könnte diese Beobachtung wahrscheinlich bestätigen (vgl. S. 127–144).

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Christoph Fasbender

Dagegen gehören weitreichende Zugeständnisse, in denen der Primat des Wortes betont wird, der Predigtpraxis an. Ihre Prägung als Reaktion auf speziell in der Homiletik formulierte Erwartungshaltungen ließ sich am Beispiel selbständiger Erweiterungen von Vorlagen aufzeigen. Der nivellierte Worte/WerkeTopos steht in enger Verbindung mit dem Boten-Topos und dem Diktum von der grundsätzlichen Belanglosigkeit der Lebensführung des Sprechenden für seine Verkündigung. Ihre Funktion wäre als Ablenken vom Sprechenden (und dessen Werken) hin zu den Worten (bzw. der hinter ihnen stehenden höheren Instanz) zu beschreiben. Diese indirekte ›Theologisierung der Predigt‹ läßt sich als Antwort auf eine als Überforderung empfundene Ethisierung der Homiletik begreifen. Ich wurde gefragt, ob ich mir zutraute, eine Geschichte des Worte/WerkeTopos zu schreiben und wie jene aussehen müsse. Eine solche Geschichte – die wohl eher ins Ressort des Ethikers fiele – hätte in hohem Maße den textsortenbedingten Einsatz der Topoi, den Kontext der pastoralen Realisierung, zu berücksichtigen. Diese Funktion wäre im Falle ausschließlich literarischer Produktionen nicht gegeben oder wenigstens nicht mehr erkennbar. Meine ToposGeschichte ginge damit ihrer theologischen Dimension verlustig und würde zu einer Art allgemeiner Aufklärungs-Geschichte, die normatives Sprechen jenseits der Person des Sprechenden diskutierte. Dafür gibt es freilich vorchristliche Belegstellen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit dürfte die Beobachtung eines Zusammenhanges von Worten und Werken sogar zu den ältesten Bedürfnissen der Menschen zählen, zumindest im Kontext öffentlicher Rede. Aristoteles wies in der ›Rhetorik‹ darauf hin, daß man tugendhaften Menschen schneller zu glauben bereit sei, da ja der Charakter »so ziemlich die bedeutendste Überzeugungskraft« besitze (I 2,4). Quintilian prägte Begriff und Ideal des vir bonus. Auch Cicero, vor allem aber die Rhetorik der Stoa forderte vom Redner »gewisse moralische Qualifikationen«.65 Dem liegt eine dem Ideal der kalokagathı´a verwandte Anschauung zugrunde, derzufolge sich der Charakter eines Menschen in seinem Reden offenbare. Öffentlich sprechen soll nur der sittlich Gute; den Schlechten entlarven seine schlechten Worte. Die christliche Rhetorik mußte, obwohl sie die säkulare techne´ des Redens aufnahm, andere Wege gehen. Die Predigt, zunächst Wort von Menschen für Menschen, wurde theologisiert, wurde als Wort Gottes durch das ›Werkzeug‹ Prediger verstanden, ohne daß man das Absolute des Gotteswortes und die damit einhergehende Freiheit des Verkündigers in der Predigtliteratur verbindlich gemacht hätte. So blieb die scholastische Homiletik dem Gedanken eines synergetischen Wirkens von Gotteswort und Menschentat verpflichtet. Sie stellte – beginnend mit Gregor – die Geistlichkeit mit der topischen Einforderung einer Kongruenz von Worten und Werken für Jahrhunderte vor ein kaum zu lösendes Dilemma. Es ist bezeichnend, daß der entscheidende Vorstoß zur Entlastung der 65

MANFRED FUHRMANN, Die antike Rhetorik. Eine Einführung, München/Zürich 31990, S. 13f.

Worte und Werke

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Prediger, der eine theologische Neubewertung der Verkündigung implizierte, dem sakramentalen Bereich als dem im Mittelalter am stärksten ausgeprägten entstammte. Daß sich diese Verschiebung auf dem Wege zur volkssprachlichen Verkündigung beobachten ließ, läßt die theologie- und kirchengeschichtlichen Dimensionen eines inhaltlich erst in Ansätzen erforschten Mediums erahnen. Die gewählte Beschränkung auf ein durch Zeitrahmen und Gattungsgesetze geprägtes Segment erscheint mir trotz der angedeuteten Traditionslinien sinnvoll, insofern in der Argumentation der Homiletiker und Prediger Gregors Handbuch den ältesten und aktuellsten Anknüpfungspunkt darstellte. Auch zur Aufhebung des Worte/Werke-Konnexes bedurfte es nicht des Rekurses auf antike Autoritäten. Insofern die Zäsur deutlich erkennbar ist, sehe ich mich – zumindest für den Augenblick – von der Forderung befreit, »Entstehungsort und Wanderwege« (Hervorheb. im Orig.)66 der Topoi nachzeichnen zu müssen. Ich hoffe dagegen, Stationen eines die Predigtliteratur durchziehenden Wanderweges und die Beschaffenheit seiner besonders signifikanten Wegmarken aufgezeigt zu haben. Es sei abschließend (stark abbreviierend) vermerkt, daß abseits dieses Weges – etwa in der volkssprachlichen didaktischen Literatur – die Kritik am Prediger oft zu Polemik und die Polemik zu bloßer Volksbelustigung verkam. Man möchte gerne annehmen, daß sich mitunter echter Unmut Luft machte, wird allerdings unschwer erkennen, daß der in Worten und Werken disharmonierende Geistliche bald als über seine Inkongruenz zur topischen Figur reduzierte, beständig reproduzierte Typenkonstante aufgeboten wurde. Vor allem in Spruchdichtung und Novellistik wurde ihm übel mitgespielt.67 Seine Karriere blieb damit aufs Ganze gesehen recht statisch. Selbst als Luther im 16. Jahrhundert das ›Priestertum aller Gläubigen‹ entdeckte, bedeutete das keine fundamentale Neuorientierung. Die unterschiedlichen Ausprägungen des Worte/Werke-Topos lassen sich in allen Nuancen von Chaucer bis Goldsmith, von Heine bis Baghwan nachweisen. Sie prägten wesentlich Bild und Selbstbild des Wortverkündigers.

66 67

GOLDMANN [Anm. 3], S. 136. Die Belegzahl aus diesen und weiteren Genera wäre sicherlich ›endlos‹ zu nennen. – Für die Vagantendichtung – mit der erforderlichen methodischen Trennschärfe – vgl. HELGA SCHÜPPERT, Kirchenkritik in der lateinischen Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts (Medium Aevum 23), München 1972.

III

Johannes Evangelista und Johannes Baptista als Leitbilder dominikanischer Frauenseelsorge und Frömmigkeit

Jochen Conzelmann

Die Johannsen-Devotion im Dominikanerinnenkonvent St. Katharinental bei Dießenhofen Ein Modellfall für Literaturrezeption und -produktion in oberrheinischen Frauenklöstern zu Beginn des 14. Jahrhunderts?1 Das in den frühen vierziger Jahren des 13. Jahrhunderts (1242?) gegründete und 1245 den Konstanzer Dominikanern unterstellte Frauenkloster St. Katharinental bei Dießenhofen2 nimmt in der mediävistischen Forschung unter den oberdeut1

Der vorliegende Beitrag geht auf den Vortrag »Die Johannsen in Katharinental bei Dießenhofen« bei der Tagung »Predigt im Kontext« im Dezember 1996 an der FU Berlin zurück. Er basierte auf der Arbeit eines Teams von Studierenden der FU, eines Forschungskolloquiums unter Leitung von HANS-JOCHEN SCHIEWER, das sich die Edition des ersten Teils des Codex Ms. 120 der Gräflich-Schönbornschen Bibliothek Pommersfelden zum Ziel gesetzt hatte. (Trotz weitreichender Vorarbeiten konnte die seit langem unter dem Titel ,Der Pommersfeldener Johannes-Libellus. Der Evangelist und der Baptist in früher dominikanischer Literatur in der Volkssprache, hg. von HANS-JOCHEN SCHIEWER zus. mit VIOLA BECKMANN, JOCHEN CONZELMANN, NICOLAI PAHNE, CAROLA REDZICH, DIETMAR RIDDER, REGINA D. SCHIEWER, ANDREA SYRING, DARIA VASSILEVITCH u. JULIA ZIMMERMANN’ angekündigte Edition bis heute leider nicht realisiert werden.) Ich habe den Vortrag zwischen 1997 und 2001 für einen geplanten Tagungsband mehrfach überarbeitet und ergänzt. Leider hat sich auch die Publikation des Tagungsbandes immer wieder verzögert. Für den hiermit vorliegenden Band habe ich auf eine Neubearbeitung und Aktualisierung bewusst verzichtet. Da mein Beitrag zusammen mit HANS-JOCHEN SCHIEWER, Die beiden Sankt Johannsen, ein dominikanischer Johannes-Libellus und das literarische Leben im Bodenseeraum, OGS 22 (1993), S. 21–54, zum Thema »Pommersfeldener Johannes-Libellus« wohl als grundlegend bezeichnet werden darf und in den vergangenen Jahren in jüngerer Forschungsliteratur auch mehrfach nach dem von mir zur Verfügung gestellten Typoskript zitiert wurde (zuletzt z. B. in der unten genannten Dissertation von CAROLA REDZICH), scheint mir dies nicht nur legitim, sondern vielmehr auch sinnvoll. Ich möchte daher an dieser Stelle lediglich und ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit auf einige neuere Forschungsbeiträge zu einzelnen von mir im folgenden Beitrag angesprochenen Themenfeldern verweisen. Zunächst sei allgemein hingewiesen auf: ANETTE VOLFING, John the Evangelist and Medieval German Writing, Oxford 2001. Was Elsbeth von Oye [vgl. unten, meine Anm. 5] anbetrifft, hat WOLFRAM SCHNEIDER-LASTIN inzwischen ihre Vita in der Version des ›Ötenbacher Schwesternbuches‹ ediert: Leben und Offenbarungen der Elsbeth von Oye. Textkritische Edition der Vita aus dem ›Ötenbacher Schwesternbuch‹, in: Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studien und Texte, hg. von BARBARA FLEITH und RENE´ WETZEL (Kulturtopographie des Alemannischen Raums 1), Berlin/New York 2009, S. 395–467. Im Blick auf die deutschen Übersetzungen der Johannes-Apokalypse im Mittelalter (insbes. zu meiner Anm. 44) ist zu ergänzen: CAROLA REDZICH, Aspekte produktiver Rezeption von Bibelübersetzung, Überlieferungs- und Gebrauchszusammenhänge der Johannes-Apokalypse im bairisch-fränkischen Raum, in: Metamorphosen der Bibel. Beiträge zur Tagung ›Wirkungsgeschichte der Bibel im deutschsprachigen Mittelalter‹ vom 4. bis 6. September in der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars Trier (Vestigia Bibliae 24/25), hg. von RALF PLATE und ANDREA RAPP, Bern/Berlin 2004 und ganz besonders REDZICHs Dissertationsschrift: DIES., Apocalypsis Joannis tot habet sacramenta quot verba. Studien zu Sprache, Überlieferung und Rezeption hochdeutscher Apokalypseübersetzungen des späten Mittelalters (MTU 137), Berlin/New York 2010 [hier konkret zu den sog. Johannes-Libelli: S. 560–579; methodisch grundlegend – in Auseinandersetzung mit traditionellen Ordnungsmodellen im Gefolge WALTHERs (vgl. unten, meine Anm. 44) –: S. 9–41]. Zur frühen deutsch-

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schen Dominikanerinnenkonventen eine gewisse Sonderstellung ein, die zum einen auf dem prachtvollen Katharinentaler bzw. Züricher Graduale (Zürich, Schweizerisches Landesmuseum, LM 26117) beruht, einer Handschrift, die zu den drei hervorragendsten Zeugnissen oberrheinischer Buch- und Illustrationskunst gezählt wird, um 1312 abgeschlossen und aller Wahrscheinlichkeit nach im Dießenhofener Scriptorium geschrieben wurde.3 Zum anderen galt das besondere Augenmerk der Forschung der Tatsache, daß es überwiegend Schwestern aus dem Dießenhofener Konvent waren, die ins Elsaß umzogen, um sich dort im Zuge der Observanzbewegung an der Gründung des ersten reformierten Frauenklosters Schönensteinbach zu beteiligen.4 Drittens schließlich gilt St. Katharinental als Ort einer exzeptionellen Verehrung der beiden biblischen Johannsen, des Evangelisten und des Täufers. Die besondere Wertschätzung der heiligen Johannsen, vor allem des Johannes Evangelista, beschränkte sich jedoch im Mittelalter keineswegs auf den Dießenhofener Konvent. In Frauenklöstern, inbesondere, aber nicht nur bei den Dominikanerinnen des südlichen oberdeutschen Raumes, war sie alles andere als eine Seltenheit. So findet sich z. B. in den Offenbarungen der Ötenbacher Dominikanerin Elsbeth von Oye ein eigenständiger Abschnitt, der Johannes Evangelista deutlich in der Funktion des Vermittlers auf dem Wege zur unio mystica erkennen läßt.5 Aber auch bei Mechthild von Magdeburg zeigen sich Spuren einer außerordentlichen Wertschätzung der Johannsen. Maria nach- und Petrus sprachigen Predigt im Mittelalter – mithin also auch zum Vergleich der ›innovativen‹ Predigten der deutschen Bettelordensbrüder – inzwischen grundlegend: REGINA D. SCHIEWER, Die deutsche Predigt um 1200. Ein Handbuch, Berlin/New York 2008. 2 Zur Geschichte des Konvents vgl. ALBERT KNÖPFLI, Geschichte des Klosters St. Katharinenthal unter besonderer Berücksichtigung der Gründung und Anfangszeit, in: Das Graduale von Sankt Katharinenthal. Kommentar zur Faksimile-Ausgabe der Schweizerischen Eidgenossenschaft und des Kantons Thurgau, hg. von der vom Schweizerischen Landesmuseum, der Gottfried-KellerStiftung und dem Kanton Thurgau gebildeten Editionskommission, Luzern 1983, S. 1–64. 3 ALBERT KNÖPFLI, Die Kunstdenkmäler des Kantons Thurgau IV. Das Kloster St. Katharinenthal, Basel 1989, S. 173. – Die kunstvolle Ausstattung, Prachtinitalen, Bildminiaturen, die der Pariser Buchmalerschule nahestehen, will die Forschung den Schwestern allerdings nicht zutrauen. Was ihre Entstehung anbelangt, »drängt« es sich KNÖPFLI »auf, an Konstanz und das dortige Dominikanerkloster zu denken«, denn nur eine »erfahrene Werkstatt« komme für solch hochstehende künstlerische Qualität in Frage (ebd., S. 173f.). Vgl. auch ELLEN J. BEER, Die Buchkunst und das Graduale von St. Katharinenthal, in: Das Graduale von Sankt Katharinenthal. Kommentar [Anm. 2], S. 103–224 u. KNÖPFLI, Geschichte [Anm. 2], S. 63f. 4 Vgl. HIERONYMUS WILLMS, Geschichte der deutschen Dominikanerinnen 1206–1916, Dülmen 1920, S. 101–104 u. 140f. 5 Zürich, ZB, Rh 159, S. 145. – Bei HANS-JOCHEN SCHIEWER, Die beiden Sankt Johannsen, ein dominikanischer Johannes-Libellus und das literarische Leben im Bodenseeraum, OGS 22 (1993), S. 21–54, ist S. 45f. die entsprechende Passage nach der in Arbeit befindlichen Edition von WOLFRAM SCHNEIDER-LASTIN abgedruckt. – Zu Elsbeth von Oye s. HANS NEUMANN, 2 VL II, Sp. 511–514; PETER OCHSENBEIN, Die Offenbarungen Elsbeths von Oye als Dokument leidensfixierter Mystik, in: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, hg. von KURT RUH (Germanistische Symposien – Berichtsbände 7), Stuttgart 1986, S. 423– 442; WOLFRAM SCHNEIDER-LASTIN, Das Handexemplar einer mittelalterlichen Autorin. Zur Edition der Offenbarungen Elsbeths von Oye, editio 8 (1994), S. 53–70.

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und Paulus nebengeordnet, heißt es im ›Fließenden Licht der Gottheit‹ etwa: Johannes Baptista, ich bin mit dir gevangen [...] Johannes Ewangelista, ich bin mit dir entsclafen in herzeklicher liebi uf den brusten Jhesu Christi [...].6 Die Johannesdevotion war darüber hinaus nicht nur keine regionale Besonderheit der Dießenhofener Schwestern, sondern sie kann, wie MARTINA WEHRLI-JOHNS aufgezeigt hat, auch vor dem Hintergrund des Selbstverständnisses der Bettelordensbrüder in der deutschen Ordensprovinz gesehen werden; einem Selbstverständnis, das von einer geradezu programmatischen Wertschätzung der beiden Johannsen bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin geprägt ist. Die dominikanischen Gelehrten sahen in den beiden Johannsen die Verkörperung der grundlegenden Anliegen ihres Ordens: Studium, Kontemplation und (darauf gründende) Lehre bzw. Predigt.7 Dennoch bleiben, so meine ich, eine ganze Reihe von Indizien, welche die Sonderstellung des Dießenhofener Konvents zumindest als Modell eines spezifischen ›Johannsenkultes‹ und seiner möglichen Konsequenzen und Implikationen für Literaturrezeption und -produktion in Frauenkonventen im 14. und 15. Jahrhundert durchaus rechtfertigt.

Indizien einer besonderen Johannsen-Verehrung bei den Dießenhofener Schwestern Da ist zunächst das Züricher Graduale selbst. Das Bildprogramm dieses Prachtkodex zeigt eine deutliche Ausrichtung auf die beiden Johannsen. Sowohl quantitativ als auch, was die Prachtentfaltung angeht, muß hier gar das Leben Jesu hinter Stationen aus den Viten der beiden heiligen Johannsen zurückstehen. Nicht nur ist ihnen je einer der insgesamt fünf Bildkreise gewidmet, welchen sich die großen Miniaturen des Codex zuordnen lassen, sondern auf sie entfallen auch mehr als die Hälfte der kleineren Goldminiaturen der Handschrift. Gegenüber zwölf Darstellungen des Baptisten zeigt sich hier jedoch mit über 30 Miniaturen, die den Evangelisten abbilden, eine deutliche Dominanz des Johannes Evangelista.8 6

Mechthild von Magdeburg. Das fließende Licht der Gottheit, Bd. 1: Text, hg. von HANS NEUMANN (MTU 100), München/Zürich 1990, S. 59 [Buch II, Kap. 24, Z. 10–13]. 7 Vgl. MARTINA WEHRLI-JOHNS, Das Selbstverständnis des Predigerordens im Graduale von Katharinenthal. Ein Beitrag zur Deutung der Christus-Johannes-Gruppe, in: Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität, hg. von CLAUDIA BRINKER [u. a.], Bern [usw.] 1995, S. 241–271. 8 Dreimal ist Johannes Evangelista mit einer Dießenhofener Schwester abgebildet, die einmal in Anbetungshaltung vor dem Evangelisten kniet. Der Nonne ist der Namenszug Katharina von Radegg beigefügt. Katharina von Radegg (bzw. Randegg) ist auch im St. Katharinentaler Totenrodel verzeichnet. Eine weitere Miniatur zeigt eine kniende Nonne in Dominikanerinnenhabit vor einer Christus-Johannesgruppe. Vgl. KNÖPFLI, Kunstdenkmäler [Anm. 3], S. 173 u. 176–179; RUDOLF HENGGELER OSB, Der Totenrodel des Klosters Katharinenthal bei Dießenhofen, Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 26 (1932), S. 154–188, Katharina von Randegg hier S. 162, Kolumne III, Nr. 20.

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Zum zweiten kann als erwiesen gelten, daß in St. Katharinental eine aus der Werkstatt Heinrichs von Konstanz stammende große Holzplastik vorhanden war, die Johannes Evangelista an der Brust Jesu zeigt, eine sog. Christus-JohannesGruppe, die sich im inneren Chor befunden haben dürfte und auf kurz nach 1300 datiert wird. Aus der selben Werkstatt und gleichfalls aus dem frühen 14. Jahrhundert stammte eine dem Konvent gestiftete lebensgroße Johannes-der-TäuferPlastik.9 Bilddarstellungen der Johannsen finden auch in drei der Schwesternviten des ›St. Katharinentaler Schwesternbuches‹ Erwähnung,10 dessen Grundkorpus um die Mitte des 14. Jahrhunders entstanden sein dürfte.11 Mehrfach werden die Johannsen hier auch zum Gegenstand berichteter Auditionen und Visionen.12 Verschiedene Altäre der Klosterkirche des Dießenhofener Konvents waren, wenngleich neben anderen Heiligen, auch je auf einen der beiden Johannsen und ab 1351 ein zusätzlicher Altar – neben der Jungfrau Maria, dem heiligen Martin, Thomas von Aquin und der Märtyrerin Potentiana (Schützerin vor Feuerschaden) – auf beide Johannsen geweiht.13

Zwietracht im Konvent? – Der Johannsen-Streit als literarischer Topos Wenn man so den Doppelkult in St. Katharinental als gesichert annehmen darf, scheint indes fraglich, ob es darüber hinaus, wie gerade die jüngere Forschung vermutet hat, tatsächlich eine regelrechte Spaltung des Konvents in Anhängerinnen des Evangelisten auf der einen und des Täufers auf der anderen Seite gegeben hat.14 Einzig und allein der erste Teil der Vita Clara Annas von Ho9

Die Christus-Johannes-Gruppe ist heute in Antwerpen, Museum Mayer van der Bergh, der Täufer im Landesmuseum zu Karlsruhe zu bewundern. – Vgl. KNÖPFLI, Kunstdenkmäler [Anm. 3], S. 231–234 u. 226f.; vgl. auch EWALD M. VETTER, Das Christus-Johannes-Bild der Mystik, in: Mystik am Oberrhein und in benachbarten Gebieten. Augustinermuseum Freiburg im Breisgau, 10. Sept.–22. Okt. 1978 [Ausstellungskatalog], hg. von HANS H. HOFSTÄTTER, Freiburg i. Br. 1978, S. 37–50, inbes. S. 38f. 10 Das ›St. Katharinentaler Schwesternbuch‹. Untersuchung, Edition, Kommentar, hg. von RUTH MEYER (MTU 104), Tübingen 1995. Von Anne von Ramschwag und Adelheit Pfefferhartin wird o z. B. berichtet, daß sie vor dem grossen bilde, da sant Johannes ruwet v´ff unseres herren hertzen gebetet hätten und ihnen im Gefolge die Gnade von Lichterscheinungen und Visionen zuteil geworden sei (ebd., S. 130 [Anne, Nr. 41, Z. 42–45; Zitat Z. 42f.]; S. 152 [Adelheit, Nr. *54, Z. 50–54]). Von einem, allerdings explizit gemohlten bildnuss des Täufers ist in der Vita der Clara Anna von Hohenburg die Rede (ebd., S. 180 [Nr. *59, Z. 131f.]). 11 Ebd., S. 82. 12 In fünf Viten ist der Evangelist Gegenstand von Auditionen oder Visionen; R. MEYER [Anm. 10], S. 103 (Nr. 16, Z. 4f.), S. 106 (Nr. 21, Z. 4–8), S. 110 (Nr. 27e, Z. 2f.), S. 124 (Nr. 38, Z. 5f.), S. 125 (Nr. 39, Z. 2–8). Auch der Täufer wird einmal erwähnt; R. MEYER [Anm. 10], S. 108 (Nr. 24, Z. 17f.). Im Erweiterungsgut, insges. sechs Viten, die bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts dem Grundkorpus hinzugefügt wurden (vgl. ebd., S. 53–83), spielt mit Ausnahme der bereits erwähnten Vita der Clara Anna von Hohenburg ausschließlich der Evangelist eine zumeist herausragende Rolle, besonders exponiert in der Vita der Elsbeth von Villingen (ebd., S. 175f. u. ö. [Nr. *58]). 13 Vgl. KNÖPFLI, Geschichte [Anm. 2], S. 40. 14 Vgl. ebd., S. 60; VETTER [Anm. 9], S. 38; H.-J. SCHIEWER, Johannsen [Anm. 5], S. 48; R. MEYER [Anm. 10], S. 330.

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henburg legt bisher eine solche Annahme nahe. Es habe, so liest man hier,15 einige Jahre nachdem Clara Anna als Kind ins Kloster eingetreten war, unter den Schwestern in Katharinental ein geistlicher Zweytraht geherrscht, welcher Johannes vornehmer vnd grösser an verdienst bey gott wäre. Obgleich einige ältere Nonnen diesen Streit mißbilligt hätten, habe es Parteiungen unter den Schwestern gegeben: Ein theil woren Euangelister, die andern Pabtister. Weiter heißt es über Clara Anna, die schließlich die erste Priorin von Schönensteinbach werden sollte,16 sie habe einmal am Johannes-Baptista-Tag vor dem Bilde des Täufers gestanden und den Baptisten mit dem Ausruf: Schauwet, wie dieser holzackher allda steht geschmäht, weil sie mehr auff St. Johannes Euangelist hielt. Gott bestrafte diese Entgleisung unverzüglich. Wie vom Blitz getroffen stürzte Clara Anna in Ohnmacht zu Boden. Als sie wieder zu sich kam, beweinte und bereute sie ihren Frevel und hatte von Stund an den Baptisten so lieb wie zuvor den Evangelisten. Das Ereignis, so die Vita, habe dazu geführt, daß der Streit unter den Dießenhofener Schwestern beigelegt werden konnte. Die Entzweiung über die Johannsen in St. Katharinental müßte dieser Quelle zufolge in den 80er Jahren des 14. Jahrhunderts den Konvent vorübergehend gespalten haben.17 Die Vita Clara Annas ist jedoch vor dem 18. Jahrhundert ausschließlich in Johannes Meyers 1468 verfaßtem ›Buch der Reformacio Predigerordens‹ überliefert. Erst in einem 1720 in St. Katharinental geschriebenen Codex (Frauenfeld, Thurgauische Kantonsbibliothek, Cod. Y 75, S. 143–147) wurde die Vita der Clara Anna von Hohenburg in eine Teilabschrift des St. Katharinentaler Schwesternbuches integriert.18 Dieser Überlieferungsbefund legt es nahe, Meyer als Verfasser der Vita zu betrachten. Die Forschung hat die vorgestellte Passage bisher als historische Quelle und den Streit im Dießenhofener Konvent auf ihrer Grundlage als historisches Faktum behandelt. Gegenüber einem solchen Vertrauen auf den Wortlaut des Textes sind jedoch ernsthafte Zweifel angebracht. Nicht nur deshalb, weil Johannes Meyer offenbar mit der Vita Clara Annas den Prototyp einer Observanz-Heiligen schaffen wollte und die Episode vom geistlichen Zwietracht als Exempel für die richtige Heiligenverehrung nutzen konnte,19 wird man die historische Authentizität des Berich15

R. MEYER [Anm. 10], S. 180 (Nr. *59, Z. 1–23). Vgl. ebd., S. 330. 17 Ebd., S. 329: Mit 1362 kann das Geburtsjahr der Clara Anna angegeben werden. Schönensteinbach wurde im Jahre 1397 als Observanzkloster neugegründet. 18 Vgl. R. MEYER [Anm. 10], S. 83 u. 329f.; Johannes Meyer, Buch der Reformacio Predigerordens, Buch I-III, hg. von BENEDICTUS MARIA REICHERT (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens in Deutschland 2), Leipzig 1909, Buch III, Kap. 4., S. 61f. – Die Vita Clara Annas ist selbst in Johannes Meyers eigener Redaktion des St. Katharinentaler Schwesternbuches von 1454 n i c h t enthalten; vgl. R. MEYER [Anm. 10], S. 329. 19 Vgl. R. MEYER [Anm. 10], S. 329f. – Zu den Intentionen des Observanzverfechters Johannes Meyer und seiner Tätigkeit als Redaktor der Schwesternviten vgl. ebd., S. 66–72. Zu Zielen und Stoßrichtung der Observanzbewegung allgemein vgl. WERNER WILLIAMS-KRAPP, Frauenmystik und Ordensreform im 15. Jahrhundert, in: Literarische Interessensbildung im Mittelalter. DFGSymposion 1991, hg. von JOACHIM HEINZLE, Stuttgart/Weimar 1994, S. 301–113; DERS., Obser16

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teten in Frage stellen müssen, sondern vor allem, weil es sich beim Streit um die größere Heiligkeit des einen oder des anderen Johannes um einen im geistlichen Schrifttum des Mittelalters weit verbreiteten literarischen Topos handelt. Vom Streit zweier Klosterfrauen, die eine Anhängerin von Johannes Baptista, die andere des Evangelista, berichtet Cäsarius von Heisterbach bereits in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in seinem ›Dialogus miraculorum‹.20 Ebenfalls in Latein abgefaßt ist ein Streitgedicht Frankos von Meschede von 1330, das den Johannsen-Streit als kirchliches Gerichtsverfahren stilisiert.21 Die verbreitetste Variante des Johannsen-Streit-Topos – sowohl im lateinischen als auch im volkssprachlichen Schriftgut – ist aber diejenige, die Berthold von Regensburg in seiner Predigt ›Von dem heˆren kriuze‹ als Exempel verwendet hat, als Streit unter Pariser Schriftgelehrten bzw. zweier meister.22 In dieser Form hat der Topos vom Johannsen-Streit auch Eingang in die ›Legenda aurea‹ gefunden. Bei Jakobus de Voragine wird der Streit wie auch bei Cäsarius dadurch geschlichtet, daß beiden Streithähnen jeweils der eigene Lieblingsjohannes erscheint und jede Auseinandersetzung verbietet, denn sie, die beiden Johannsen, seien einträchtig im Himmel, weshalb man auf Erden über sie keinesfalls streiten oder kontovers disputieren solle.23 Eng mit Cäsarius’ lateinischer Version verwandt ist das volkssprachliche Streitgedicht ›Von den zwein sanct Johansen‹ des Heinzelıˆn von Konstanz.24 Interessant ist dabei, daß wir mit Heinzelıˆn zeitlich relativ und vor allem auch räumlich dem vermeintlichen Streit im Dießenhofener Dominikanerinnenkonvent nahekommen. Der Gönner Heinzelıˆns, Albrecht V. von Hohenberg, als dessen kuchenmeister der Verfasser in einer der drei das Gedicht überliefernden Handschriften bezeichnet wird, urkundet 1317 als Domherr in Konstanz. In den 30er, 40er und vanzbewegungen, monastische Spiritualität und geistliche Literatur im 15. Jahrhundert, IASL 20 (1995), S. 1–15, u. unten, Anm. 90. 20 Cesarii Heisterbacensis ordinis Cisterciensis Dialogus miraculorum, Bd. 2, hg. von JOSEF STRANGE, Köln/Bonn/Brüssel 1951, S. 122f. (Dist. VIII, Cap. LI). 21 Vgl. KURT GÄRTNER, Franko von Meschede, 2VL II, Sp. 830–832. 22 Berthold berichtet: es kriegent die meister von Paris und hält diesen ›akademischen Streit‹ um die Johannsen für nützlich (Berthold von Regensburg, Vollständige Ausgabe seiner Predigten mit Anmerkungen von FRANZ PFEIFFER, mit einem Vorwort von KURT RUH, Bd. 1, Berlin 1965, S. 537). Der Streit zweier meister um den Vorrang des einen oder des anderen biblischen Johannes findet sich u. a. auch im Bamberger Johannes-Libellus, Bamberg, SB, Cod. hist. 153 (137v) u. der Berliner Handschrift SBB-PK, Ms. germ. quart. 192 (63v), die unter anderen Texten eine den ›Heiligen Leben‹ nahestehende Vitensammlung überliefert und aus dem Straßburger Dominikanerinnenkonvent St. Nikolaus in undis stammen dürfte (WERNER WILLIAMS-KRAPP, Die deutschen und niederländischen Legendare des Mittelalters. Studien zu ihrer Überlieferungs-, Textund Wirkungsgeschichte, Tübingen 1986, S. 197). Vgl. auch FREDERIC C. TUBACH, Index Exemplorum. A Handbook of Medieval Religious Tales (FCC 204), Helsinki 1969, Nr. 2829. 23 Jacobi a Voragine Legenda aurea vulgo Historia Lombardica dicta ad optimorum librorum fidem recensuit, hg. von JOHANN GEORG THEODOR GRAESSE, 3. Aufl. Breslau 1890 (Nachdr. Osnabrück 1969), S. 363. 24 So bereits REINHOLD KÖHLER, Von den zwei Sanct Johannsen, in: Germania 24 [N.R. 12] (1879) 385–391; vgl. INGEBORG GLIER, Heinzelıˆn von Konstanz, 2VL III, Sp. 936–938, hier Sp. 937.

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50er Jahren versucht er wiederholt, Bischof von Konstanz zu werden, auch noch, als er bereits (ab 1349) den Bischofsstuhl von Freising innehat. Und häufiger als in Freising scheint er sich auch nach 1350 im Bodenseeraum aufgehalten zu haben. Er stirbt 1359, unweit von Dießenhofen, in Stein am Rhein.25 Sein vermeintlicher kuchenmeister dichtete vermutlich um 1330/40:26 In einem rıˆchen kloˆster was soˆ vil der kloˆsternunnen, die sich geˆn gote verre baz dan zuo der welt versunnen; diu eine sanc, diu ander las sam kloˆsterliute kunnen. [...] Ir kloˆsterzuht in wirde schein für ander kloˆsterliute, wan daz sich huop enzwischen zwein ein krieg, der wert noch hiute. [...] Die eine hoˆrt man prüeven sant Joˆhannesen Baptisten [...], die ander’n Eˆwangelisten. (v. 10,1–14,4)27

Heinzeˆlin gibt sich in diesem Gedicht theologisch versiert. Gegenüber Cäsarius stellt er einen Prolog voran, der u. a. den Dreifaltigkeitsgedanken thematisiert sowie Physiologus-Tradition aufnimmt, und fügt der Fabel im Epilog Worte des Paulus und Augustinus hinzu. Das Gedicht endet mit einem kurzen Schlußgebet. Nicht im Schlaf, wie bei Cäsarius, sondern im Wachzustand – ganz im Stile 25

Vgl. GLIER [Anm. 24]; zur Person Albrechts V. von Hohenberg vgl. auch NDB I, S. 127f. u. Helvetia Sacra I,2, Das Bistum Konstanz, Das Erzbistum Mainz, Das Bistum St. Gallen, redigiert von BRIGITTE DEGLER-SPENGLER, Teil 1, S. 297–301. – Der Stammsitz der Hohenberger, einem beutenden Hochadelsgeschlecht Schwabens, die Burg Hohenberg bei Spaichingen, liegt recht nahe bei Villingen, woher nach Auskunft des Katharinentaler Totenrodels zahlreiche Katharinentaler Schwestern stammten. Beziehungen Albrechts zum Dießenhofener Konvent scheinen also nicht völlig ausgeschlossen, konnten aber bisher nicht nachgewiesen werden. Albrecht besaß Pfründen an zahlreichen Pfarrkirchen im Bodenseeraum, Schwaben u. Österreich. Bei Streitigkeiten tritt er stets auf Seiten Herzog Albrechts von Österreich auf, der seinerseits den Katharinentaler Schwestern offenbar günstig gesonnen war (vgl. KNÖPFLI, Geschichte [Anm. 2], S. 19, 24 u. 29f.). Albrechts V. von Hohenberg Rivale 1345 bei seinem zweiten Versuch, den Bischofsstuhl von Konstanz zu erklimmen, war der aus einem bedeutenden Konstanzer Patriziergeschlecht stammende Ulrich Pfefferhart, dessen Base vermutlich die sowohl im Katharinentaler Totenrodel verzeichnete (HENGGELER [Anm. 8], VIII, Nr. 36) als auch im Schwesternbuch mit einer Vita (vgl. R. MEYER [Anm. 10], Nr. *54) bedachte Adelheit Pfefferhartin gewesen sein dürfte (vgl. ebd., S. 295). 26 Die Datierung ist umstritten. In Frage kommt ein Zeitraum von über 20 Jahren, von ca. 1329 bis 1356, Albrechts V. zweite Konstanzer Zeit (nach seinem Studienaufenthalt in Paris und insgesamt zwölfjähriger Abwesenheit) bzw. dessen letzter Versuch, das Bischofsamt in Konstanz zu erlangen. Vgl. die unter Anm. 24 u. 28 aufgeführte Literatur. 27 Zit. n. der Ausgabe von FRANZ PFEIFFER: Heinzelin von Konstanz, Leipzig 1852, S. 117f. Das Gedicht Heinzelıˆns ist auch in Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts, Bd. 1, hg. von THOMAS CRAMER, München 1977, S. 375–392, ediert. Abweichungen zwischen den Ausgaben von PFEIFFER und CRAMER in den zitierten Versen betreffen lediglich die – von PFEIFFER weitgehend ›normalisierte‹ – Graphie, jedoch m. E. keinerlei ›Sinnvarianten‹.

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einer Vision – erscheint den beiden Kontrahentinnen ihr jeweiliger Lieblingsheiliger in ›Von den zwein sanct Johansen‹. Heinzelıˆn reichert die Lob-Reden, die der eine Johannes seiner Anhängerin je über den anderen hält, mit legendarischen Topoi an, wie sie für Predigten auf die Johannsen typisch sind und wie sie sich bei Cäsarius nur teilweise und weniger ausführlich ausgebreitet finden. Auffällig ist, daß Heinzelıˆn durch die explizite Betonung der reinen Jungfräulichkeit des Täufers beide Heilige auch in diesem Punkt gleichwertig erscheinen läßt, während bei Cärsarius nur der Evangelist ausdrücklich als virgo bezeichnet wird. Ungeachtet der Toposhaftigkeit und der vermutlich lateinischen Vorlage mag man sich hier die Frage stellen, die die ältere Heinzelıˆn-Forschung heftig bewegt hat: Könnte es nicht einen aktuellen Anlaß für die Abfassung des Gedichtes gegeben haben?28 Man mag nun mutmaßen, daß der Anlaß für Heinzelıˆn bzw. seinen Gönner ein Streit im Dießenhofener Konvent gewesen sein könnte. Doch dies kann ernsthaft nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn sich über Johannes Meyers Clara Anna-Vita hinaus weitere Anhaltspunkte für einen Johannsen-Streit in St. Katharinental ermitteln lassen.

Eine Text-Sammlung über die zwei Johannsen – Der Pommersfeldener Codex 120 Im Codex 120 der Gräflich-Schönbornschen Bibliothek Pommersfelden findet sich ein solcher möglicher Anhalt. In der dort überlieferten Predigt des Hugo von Konstanz auf Johannes Baptista heißt es:29 Nu sult ir wissen, das den guten sant Johannes niemant volloben mag wann unser herre hat in selber mit seinem gotlichen munde mer gelobet den er ie chainen hailigen gelobet. Dauon soltent ir chain krieg han wann es ist ein rechte torhait vnd wiget es sant Pauel fur eine keczerei da er redet von einer hande lewt die waren bei seinen zeitten. Vnd hatt sie sant Peter vnd sant Pauel bekeret vnd ein groß bisschoff der hieß Appollo. Vnd was der crieg als groß vnder in, das sie einen tail macheten vnd sprachen ze einander: »Wen gehorest du an?« Do sprachen etlich: »Jch gehore Petrum an. Der ist mein herre.« So sprachen die andern: »So gehore ich Paulum an. Der ist mein herre.« Die dritten sprachen: »So gehore ich Apollum an.« Dise rede verwidiret sant Pauel gar strenglich vnd redet zornlicher darczu an seinem brieffe denn ich in ie gehoret reden an chainer stat vnd spricht: »Jch loben got, das ich ewern chainen nie getaufte, das ir den tauf den ir von meinen handen hetten empfangen an in selber icht 28 29

Vgl. EDWARD SCHRÖDER, Klein Heinzelıˆn von Konstanz, ZfdA 53 (1912), S. 395–398. Die Textwiedergabe nach dem Codex Pommersfelden, Gräfl.-Schönbornsche Bibliothek, Cod. 120 hier und im folgenden entspricht den Richtlinien der in Vorbereitung befindlichen Ausgabe ›Der Pommersfeldener Johannes-Libellus‹ [Anm. 1], die u. a. satzschließende Interpunktion sowie die Kennzeichnung von direkter Rede, Fragesätzen, daß-Anschlüssen, Aufzählungen, Appositionen, Apostrophen und konjunktionslosen Nebensätzen vorsehen. Abbreviaturen werden aufgelöst, Eigennamen groß geschrieben und die Zusammen- bzw. Getrenntschreibung normalisiert. Entgegen der Edition werden die Blattwechsel nicht markiert. Verweise auf Bibelstellen werden in eckigen Klammern gegeben. Die Folio-Angaben stehen nach den Zitaten in runden Klammern.

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verwurckent mit ewrem crieg. Wart Petrus durch euch gecreucziget?« [Vgl. I Cor 1,10–17] Nain er. Weder Petrus noch Paulus hant euch erloset. Vnßer herre Ihesus Christus hat euch allaine erloßet mit seinem tode. Sie seint alle eines herren knecht. Taillent ir die heilligen so tailent ir auch got. (106ra/rb)

Der Prediger mahnt seine Zuhörer, sich nicht über die Heiligkeit des Johannes Baptista zu streiten. Es scheint in der Tat, als nehme er Bezug auf ein aktuelles Geschehen. Den Streit um die größere Würdigkeit von Heiligen, die Parteiungen, die dabei auftreten können, nennt er unter Hinweis auf Paulus eine Ketzerei und zitiert den ersten Korinther-Brief heran. Dezidiert versucht der Prediger, seinen Zuhörern einzuschärfen, daß es nicht primär um Heilige gehen dürfe, sondern der Blick des gläubigen Menschen sich auf Gott, auf Christus selbst zu richten habe. Ein Einschub dieser Art in eine Heiligenpredigt ist zumindest ungewöhnlich. Einen aktuellen Anlaß einmal unterstellt: Wem könnte die Mahnung ursprünglich gegolten haben und wie und warum kam sie bzw. die Predigt zu Papier? Um der Beantwortung dieser Fragen näher zu kommen, ist es nötig, sich zunächst über den Autor der Predigt zu informieren und anschließend den Blick auf den sie überliefernden Codex und dessen Überlieferungszusammenhang zu richten.

Die Autoren der Predigten im Pommersfeldener Codex 120 Hugo von Konstanz ist bisher als Autor zweier Johannes-Predigten aus dem späten 13. Jahrhundert bekannt: Eine auf den Evangelisten und eine auf den Baptisten,30 die jedoch mit der genannten im Pommersfeldener Codex weder identisch ist, noch ihr inhaltlich oder stilistisch in signifikanter Weise nahesteht. Hugo, der auch ›von Schaffhausen‹ genannt wurde, urkundet 1279 und 1288 als Lektor des Konstanzer Predigerklosters, sechs Jahre später als Prior der Züricher Dominikaner. Im Jahre 1300 wird er auf dem Provinzialkapitel zu Löwen zum Provinzial der Ordensprovinz Teutonia gewählt.31 Die Predigt Hugos, aus der ich zitiert habe, ist neben dem Pommersfeldener Codex 120 in einer als verschollen geltenden ehemals Königsberger Handschrift (Cod. 898; olim L II) anonym überliefert, die heute unter der Signatur Cod. 8097 III in Warschau liegt und auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert wurde.32 30

Vgl. DAGMAR LADISCH-GRUBE/KURT RUH, Hugo von Konstanz, 2VL IV, Sp. 232f. – Die Predigten sind abgedruckt bei ALFRED HOLDER, ZfdPh 9 (1878), S. 29–43. 31 Vgl. MARTINA WEHRLI-JOHNS, Geschichte des Züricher Predigerkonvents (1230–1524). Mendikantentum zwischen Kirche, Adel und Stadt, Zürich 1980, S. 176–179. 32 Vgl. LADISCH-GRUBE/RUH [Anm. 30], Sp. 233. Zum Standort der Hs.: Handschriftencensus: http://www.mr1314.de/4064 (Zugriff am 13.9.2013), vgl. auch RALF PLATE, Zum Verbleib deutscher Handschriften der ehemaligen Königsberger Bibliotheken, in: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte, Bd. 1, 1993, S. 93–111, hier S. 103f.; Katalog der Mittelalterlichen deutschsprachigen Handschriften der ehemaligen Staatsund Universitätsbibliothek Königsberg, auf der Grundlage der Vorarbeiten LUDWIG DENECKES erarbeitet von RALF G. PÄSLER u. hg. von UWE MEVES, München 2000, Nr. 898, S. 91–93. (Die

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Ob Hugo von Konstanz tatsächlich, wie von der Forschung verschiedentlich behauptet, mit der Cura der Dominikanerinnen in Töss bei Winterthur beauftragt war, erscheint fraglich. Man hat hierauf lediglich aufgrund einer Erwähnung Hugos im Tösser Schwesternbuch geschlossen.33 Die ›funktionale Literarizität‹ der Schwesternviten34 verbietet es jedoch, der Stelle ohne weiteres historische Beweiskraft zuzusprechen. Immerhin war Hugo mit großer Wahrscheinlichkeit in Zusammenarbeit mit Hermann von Minden (OP, Provinzial 1286–1290) »an einer Neuorganisation und Intensivierung der cura monialium« in der deutschen Ordensprovinz beteiligt.35 Die Pommersfeldener Handschrift bezeichnet Hugo als vnser lieber vater bruder huch der prouincial, wobei vnser vater eine Benennung des pater confessarius durch weibliche Ordensmitglieder darstellen dürfte.36 Der Rezipientenkreis kann also mit einigem Recht in dominikanischen Frauenkonventen vermutet werden. Da die Handschrift Hugo als Provinzial ausweist, kann die erste Abschrift seiner Predigt sicher nicht vor 1300 und wohl kaum oder nur wenig nach dem Todesjahr Hugos, 1303, erfolgt sein. Ein weiterer, bisher unbekannter Prediger, Rudolf von Klingenberg, wird in der Handschrift gleichfalls als vnser lieber vater ausgewiesen. Wie HANS-JOAngaben S. 93 zur Edition erwecken den falschen Eindruck, daß es sich bei der Predigt Hugos in diesem Codex um eine Parallelüberlieferung der von HOLDER 1878 in der ZfdPh [vgl. Anm. 32] abgedruckten Johannes-Baptista-Predigt handle.) Eine glücklicherweise erhaltene Photographie des Beginns der Predigt Hugos aus dem ehemaligen Königsberger Codex (fol. 79r) ist ebd., S. 268 abgedruckt. Schrift und Sprachstand weisen noch deutlich ins 14. Jahrhundert. Der Schriftdialekt ist hochalemannisch. Inhaltliche Abweichungen gegenüber dem Beginn im Pommersfeldener Codex bestehen nicht, und der Wortlaut ist nahezu identisch. Dieser Befund stützt die von H.-J. SCHIEWER, Johannsen [Anm. 5] geäußerte Einschätzung einer Entstehung der Sammlung des ›Pommersfeldener Johannes-Libellus‹ bereits im 14. Jahrhundert im Bodenseeraum. 33 Vgl. WEHRLI-JOHNS, Predigerkonvent [Anm. 31], S. 177, Anm. 27; MARIE-CLAIRE DÄNIKERGYSIN, Die Geschichte des Dominikanerinnenklosters Töß (1233–1525) (Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Winterthur 289), Winterthur 1958, S. 21; BE´ ATRICE W. ACKLIN ZIMMERMANN, Gott im Denken berühren. Die theologischen Implikationen der Nonnenviten (dokimion 14), Freiburg/ Schweiz 1993, S. 50f.; H.-J. SCHIEWER, Johannsen [Anm. 5], S. 30. – Die implizite Gleichsetzung des im Tösser Schwesternbuch erwähnten Provinzials Hugo mit jenem Hugo von Stauffenberg, der im St. Katharinentaler Schwesternbuch genannt wird, bei ACKLIN ZIMMERMANN geht auf WALTER MUSCHG, Die Mystik in der Schweiz 1200–1500, Frauenfeld/Leipzig 1935, S. 232f. zurück (vgl. auch H.-J. SCHIEWER [Anm. 5], S. 29, Anm. 17). Sie entbehrt jeder Grundlage: Die Verfasserin der Katharinentaler Viten gibt an, sich bei Hugo von Stauffenberg über das Leben einer verstorbenen Ordensschwester informiert zu haben. Der Grundstock der Katharinentaler Schwesternviten entstand um 1350, zu einem Zeitpunkt also, da Hugo von Konstanz bereits seit ca. 50 Jahren nicht mehr am Leben war. 34 Mit dem Begriff ›funktionale Literarizität‹ verstehe ich hier das spezifische Phänomen hoher Literarizität bei gleichzeitig deutlich funktionaler Einbettung (und wohl auch Intentionalität) der Texte, wie es URSULA PETERS (Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, Tübingen 1988) herausgearbeitet hat. Vgl. in diesem Zusammenhang auch SUSANNE BÜRKLE, Weibliche Spiritualität und imaginierte Weiblichkeit, ZfdPh 113 (1994) Sonderheft, S. 116–143 u. inzwischen insbes. DIES., Literatur im Kloster. Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts, Tübingen [u. a.] 1999. 35 H.-J. SCHIEWER, Johannsen [Anm. 5], S. 29; zu den Beziehungen Hugos zu Hermann von Minden vgl. auch WEHRLI-JOHNS, Predigerkonvent [Anm. 31], S. 175f. 36 Vgl. H.-J. SCHIEWER, Johannsen [Anm. 5], S. 30.

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CHEN SCHIEWER in einem Aufsatz aus dem Jahre 1993 [Anm. 5], in welchem er Inhalt und Programm des Pommersfeldener Codex 120 erstmals der Öffentlichkeit vorstellte, aufzeigen konnte, handelt es sich sehr wahrscheinlich um den Vetter Heinrichs II. von Klingenberg.37 Heinrich II. war bekanntlich von 1293 bis 1306 Bischof in Konstanz und wird mit dem sog. Züricher ›Manesse-Kreis‹ in Verbindung gebracht.38 Rudolf urkundet u. a. als frater Rudolfo de Clingenberch [...] ordinis fratrum predicatorum 1291 mit dem Offizial von Konstanz und bereits 1279 im Zusammenhang mit der sammenunge der Schwestern am Brühl zu St. Gallen.39 Obgleich die Quellenlage für zwei weitere Autoren, die unsere Handschrift nennt, Heinrich von Schaffhausen und Konrad von Liebenberg,40 denkbar schlecht ist, konnte SCHIEWER wahrscheinlich machen, daß wir es mit einer dominikanischen Autorengruppe zu tun haben, deren Mitglieder etwa zwischen 1279 und 1303 im Bodenseeraum tätig waren. Die Handschrift böte so Einblick in die Literaturproduktion von Dominikanern im süddeutschen Raum um 1300 und mithin in früheste volkssprachliche Predigtüberlieferung dominikanischer Provenienz im deutschen Sprachgebiet. Zurecht spricht SCHIEWER von einer Sonderstellung der im Pommersfeldener Codex versammelten Predigten, denn die Texte der Sammlung sind in vorgängige Traditionen deutschsprachiger Predigtliteratur inhaltlich wie formal-stilistisch nicht einbindbar. Weder gleichzeitig noch vor 1300 kann bisher Vergleichbares nachgewiesen werden.41

Die Handschrift Pommersfelden Ms. 120 – Datierung, Anlage, Inhalt Die Pommerfeldener Hs. 120 kann aufgrund des sprachlichen und paläographischen Befunds sowie der Wasserzeichenbestimmung in das letzte Viertel des 15. Jahrhunderts datiert werden und ist vermutlich im bairisch-fränkischen Raum (vielleicht in Nürnberg oder Bamberg) geschrieben worden. Sie weist allerdings alemannische Spuren auf und scheint teilweise einen deutlich älteren Sprachstand zu konservieren.

37

Ebd., S. 30–32. Siehe ELISABETH RENK, Der Manessekreis, seine Dichter und die Manessische Liederhandschrift, Stuttgart [u. a.] 1974. 39 Vgl. HANS-JOCHEN SCHIEWER, Rudolf von Klingenberg, 2VL VIII, Sp. 358–360. 40 Zu Konrad vgl. VOLKER HONEMANN, Konrad von Liebenberg, 2VL V, Sp. 218. Zu den folgenden Ausführungen s. H.-J. SCHIEWER, Johannsen [Anm. 5], S. 33–35 u. 39. 41 Vgl. H.-J. SCHIEWER, Johannsen [Anm. 5], S. 42–44. – Für die uns überlieferten, früher zu datierenden Heiligenpredigten ist die Beschränkung auf Legendarisches, prägnante Kürze und weitgehender Verzicht auf Auslegung und lebensweltliche Lehre charakteristisch. Die Predigten der Pommersfeldener Sammlung dagegen weisen nicht nur eine Fülle von Mündlichkeitssignalen auf und gehen weit über die knappen Schilderungen von Legendeninhalten hinaus, sondern stellen zumeist Bibelpassagen in den Mittelpunkt der Deutung und vermitteln Frömmigkeitsdidaxe in einer auffällig um Nähe zur (klösterlichen) Lebenswirklichkeit bemühten Art und Weise, mitunter gar mittels geradezu ›handfest‹ zu nennender Vergleiche. 38

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Die wichtigsten kodikologischen Daten seien hier in aller Kürze genannt:42 Papier und Pergament · 246 Bll. · 300 x 225 · 130v–131v, 245v–246v leer · zweispaltig, je 34 Zeilen, blindliniert · rubriziert · Wasserzeichen: Ochsenkopf mit Kreuz (ähnl. PICCARD XI, Gruppe Nr. 122/123 [1474–1489]) · alte Foliierung aus dem 15. Jahrhundert · eine Hand · einfache Bastarda · Schönborneinband · Schreibsprache: ostmittelfränkisch mit bairischen und alemannischen Spuren · erkennbar planvolle Anlage in zwei thematisch unabhängigen Teilen.

Der Codex überliefert in einem ersten Teil eine Sammlung von Texten, die Leben und Wirken von Johannes Evangelista und Johannes Baptista zum Thema haben. Wir haben es also mit einem sog. Johannes-Libellus zu tun, wobei gegenüber anderen bekannten Johannes-Libelli die Besonderheit hervorzuheben ist, daß die Sammlung beiden Johannsen und nicht – wie ansonsten üblich – ausschließlich einem der beiden gewidmet ist.43 Der zweite Teil des Codex, der dem ersten aller Wahrscheinlichkeit nach erst sekundär hinzugefügt wurde, überliefert die sog. ›Hieronymus-Briefe‹ des Johann von Neumarkt. Der Pommersfeldener Johannes-Libellus wird mit einer Übersetzung der Apokalypse eröffnet (1ra–20rb), deren Sprachstand und Übersetzungscharkteristika eine Entstehung vor 1400 vermuten lassen und die keinem der der Forschung bisher bekannten Übersetzungszweige zugeordnet werden kann.44 An sie schließt sich ein Text an, der – als zaichen von sant Johannes überschrieben – nach dem Modell der Heiligenvita das apostolische Wirken des Johannes Evangelista erzählt (20rb–33vb), wobei einzelne Teile der ›Legenda aurea‹ nahestehen, sich jedoch nicht alle der berichteten Episoden bei Jakobus de Voragine finden. Zwei zwischen Predigt und Traktat changierende Johannes-Evangelista-Betrachtungen werden den Autoritäten Bernhard von Clairvaux (33vb–48va, als predige bezeichnet) und Vinzenz von Beauvais (48rb–61va, als legende von sant Johannes ewangelista betitelt) zugeschrieben.45 Es folgen zwei Predigtsequenzen zu Jo42

Die kodikologischen Angaben folgen dem (unveröffentlichten, maschinenschriftlichen) Bibliothekskatalog der Gräflich-Schönbornschen Bibliothek Pommersfelden. Sie wurden aufgrund unserer Ergebnisse und persönlichem Augenschein ergänzt und um eine Wasserzeichenbestimmung erweitert. Eine Lagenformel kann ich z. Z. leider nicht bieten, da die im genannten Katalog gebotene offensichtlich fehlerhaft ist und nochmals an der Hs. überprüft werden muß. 43 Vgl. WERNER WILLIAMS-KRAPP, Johannes Baptista, 2VL IV, Sp. 539f. u. DERS., Johannes Evangelista, ebd., Sp. 589–591. 44 Ich treffe diese Aussage auf der Basis der Untersuchung von CAROLA REDZICH, Spätmittelalterliche Übersetzungen der Apokalypse im oberdeutschen Raum, Magisterarbeit (Typoskript), Berlin 1997. – Die traditionelle Einteilung mittelalterlicher deutschsprachiger Bibelübersetzungen in Übersetzungszweige geht zurück auf: WILHELM WALTHER, Die Deutsche Bibelübersetzung des Mittelalters, Teil 1–3, Braunschweig 1889–1892. Zweifel an der Brauchbarkeit und Angemessenheit dieser, der überkommenen Stemma-Philologie verpflichteten Einteilung, läßt aufkommen: REDZICH, Aspekte [Anm. 1]. 45 Die Bernhard-Zuweisung ist kaum korrekt. Es konnte bislang weder eine lateinische Vorlage noch eine Parallelüberlieferung ermittelt werden. Für den Vinzenz von Beauvais zugeschriebenen Text ist hingegen eine lateinische Vorlage in zahlreichen Hss. schon seit dem 13. Jahrhundert greifbar; vgl. THOMAS KAEPPELI OP/EMILIO PANELLA OP, Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi, Bd. IV, Rom 1993, S. 453f.

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hannes Evangelista und Johannes Baptista, zwischen die ein Sermo auf die heilige Agnes eingeschoben ist, der gewissermaßen als Gelenkstelle fungiert: 61va–69rb 69rb –79ra 79ra –89ra 89ra –97rb 97rb –103rb 103rb –112vb 112vb–120vb 120vb–130ra

Konrad von Liebenberg: Predigt auf Jakobus major (und Johannes Evangelista),46 Accessit ad Ihesum (Mt 20,20) Anonymus: Predigt auf Johannes Evangelista, Conversus Petrus (Io 21,20) Heinrich von Schaffhausen: Predigt auf Johannes Evangelista, Mvlier ecce (Io 19,26) Rudolf von Klingenberg: Predigt auf Johannes Evangelista, Conuersus Petrus (Io 21,20) Anonymus: Predigt auf St. Agnes, Ecce sponsus (Mt 25,6) Hugo von Konstanz: Predigt auf Johannes Baptista, Elyzabeth (Lc 1,57) Anonymus: Predigt auf Johannes Baptista, Sciens eum (Mc 6,20) Anonymus: Predigt auf Johannes Baptista, Venit Ihesus (Mt 3,13)

Jungfräulichkeit, Kontemplation, Askese – Sammlungs-Programmatik und Frömmigkeitsmodelle im Pommersfeldener Johannes-Libellus Der Pommersfeldener Johannes-Libellus zeigt die Tendenz, anhand der beiden Johannsen dem Rezipienten zwei unterschiedliche Frömmigkeitsmodelle zur Selbstinterpretation zu vermitteln. Zwei Frömmigkeitsmodelle, die eine Ausrichtung auf weibliche Hörer-/Leserschaft vermuten lassen und in der Sammlung über den Themenkreis der Keuscheit bzw. Jungfräulichkeit gleichwohl miteinander verbunden und verknüpft werden. Die zentrale Stellung von Tugendlehre und geistlicher Minnedidaxe macht deutlich, daß die beiden biblischen, männlichen virgines den AdressatInnen der Texte, insbesondere in den Sermones als Identifikationsfiguren angeboten werden. Die Ausrichtung auf die monastische Lebensform als auch die dominikanische Provenienz der Sammlung bestätigt recht anschaulich eine Passage aus der Predigt Heinrichs von Schaffhausen, wo es heißt, die Gottesmutter Maria hätte in Jerusalem ›ein Haus‹ besessen vnd hat bey ir zwu und sibenzig megde der besten von dem lande. [...] Vnd was vnse frawe da priorin vnd sannt Johannes prior (86rb).

Das Evangelista-Modell Die Predigten der Evangelista-Sequenz stellen allesamt die Minnebeziehung zwischen Johannes und Jesus in den Mittelpunkt,47 und immer wieder wird in 46

Obgleich die Predigt als auf Jakobus ausgewiesen wird, dominiert die Johannes-Thematik ganz im Sinne der weiteren Johannes-Evangelista-Predigten. 47 Diese so besondere Liebesbeziehung wird selbst dort noch zum dominierenden Thema, wo die Predigt – im Falle Konrads von Liebenberg – eigentlich als Predigt auf den Bruder des Johannes, auf Jakobus major, ausgewiesen ist oder wo bei Rudolf von Klingenberg weitere Aspekte bzw. Predigtteile, vom Prediger als zu behandelnd angekündigt, aber gegen Ende dann nurmehr kurz

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ihnen die Auserwähltheit und jungfräuliche Keuschheit des Lieblingsjüngers betont; besonders im Zusammenhang mit der Anvertrauung Marias an Johannes durch Jesus am Kreuz. Als Grund dafür, daß Jesus seine Mutter gerade Johannes und keinem anderen Jünger zum Sohn und Anvertrauten gab, wird die außerordentliche Minne Christi zu Johannes genannt und vor allem, daß – wie es Rudolf von Klingenberg ausdrückt – sant Johannes rainikait gelich was vnßer frawen rainikait (94vb). Die Gleichstellung von Maria und Johannes kulminiert in der Predigt Heinrichs von Schaffhausen in der Behauptung, daß Johannes eigentlich tatsächlich – auch fleischlich – Marias Sohn gewesen sei, und zwar kraft der Worte Jesu am Kreuz. Dadurch habe sich sant Johannes flaisch vnd blut in das flaisch vnd in das blut vnser frawen verwandelt (80ra).48 Die zumeist am ausführlichsten geschilderte biblische Szene ist jedoch das letzte Abendmahl, mit welchem in allen Predigten das Bild des an der Brust Christi ruhenden Johannes assoziiert ist. Typisch für die Schilderung der Szene ist die in keiner der Predigten fehlende Vorstellung, daß der Lieblingsjünger dabei vor Minne selig aus dem Herzen Jesu die höchste Gotteserkenntnis ›trinkt‹ und in tiefste Beschauung versinkend selbst die Engelschöre überfliegt. Was ANNETTE VOLFING in ihrem Aufsatz ›The authorship of John the Evangelist as presented in medieval German sermons and »Meisterlieder«‹49 für Predigten in Johannes-Evangelista-Libelli grundsätzlich feststellte, kann hier bestätigend wiederholt werden: The two most important metaphors that came to be associated with the vision at the Last Supper are those of drinking and of flying. John drinks from the living dwell of wisdom and grace which pours from the heart of Christ; and like the eagle which was his symbol as an evangelist, he is liberated from the constraints of his body and flies right into the uppermost heaven in order to contemplate God. (S. 9)

Visionäres Schauen, Kontemplation in Verbindung mit brennender Gottesminne werden in den Evangelista-Predigten der Pommersfeldener Sammlung als Weg zu höchster Gotteserkenntnis und Gottesnähe deutlich; ein Erkenntnisweg, der zwar die menschliche Verstandeskraft und die Möglichkeit sprachlichen Ausdruckes weit übersteigt – er vberswangte alle vernuft vnd alle bezaichunge (59ra), wie es in der Vinzenz-von-Beauvais-Übersetzung heißt –, der aber dennoch in Verbindung mit Fasten und Wachen auch zur Produktion von heilsbringender Literatur führte, der Apokalypse des Johannes, auf die hinzuweisen gleichfalls kaum eine Predigt verabsäumt. Was Johannes geschaut, gibt er weiter, der Christenheit zum Heil und zur Lehre, wobei er selbst – etwa bei Rudolf angesprochen werden bzw. auf die aufgrund der Ausführlichkeit, mit welcher sich der Prediger der Beziehung Johannes-Jesus widmet, schließlich fast vollständig verzichtet wird, so daß eine deutliche Unausgewogenheit der Membra erkennbar ist; vgl. H.-J. SCHIEWER, Johannsen [Anm. 5], S. 40f. 48 Vgl. hierzu (und zu der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Johannes und Maria in den Johannes-Libelli allgemein) den Beitrag von ANNETTE VOLFING in diesem Band. 49 OGS 23 (1994), S. 1–44.

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von Klingenberg (96va/vb), ähnlich bei Heinrich von Schaffhausen (84rb) – zum Paradiesbrunnen oder zum ›Kanal‹ avanciert, in welchem Gott das lebendige Wasser seiner ewigen Weisheit zur Erde leitet.50 Die Offenbarung des Johannes wird so zum mystagogischen Text, der in die tiefsten Geheimnisse der Gottesschau einführt, denn, wie es bei Heinrich von Schaffhausen heißt, um nur eines aus einer Reihe möglicher Beispiele zu nennen: Was er wunder gesehen habe das vindet ir wol in Appokalipsi der das liset. Wann er hat mer gesehen gottes haimlikait vnd seiner wunder dann ie chain hailige in der alten ee oder in der newen. (86vb)

Als bezeichnend für die Art der Vermittlung im Pommersfeldener JohannesLibellus erweist sich, in enger Verknüpfung mit den benannten Motiven, die spezifische Behandlung der Minnethematik. Weniger argumentativ-theologisch, sondern unter Betonung gerade des affektiven Momentes bringen die Prediger ihrem Publikum die zu vermittelnden Inhalte näher. Unter Anlehnung an Topoi aus der profanen Liebesdichtung, im Vergleich zu weltlicher Minne bzw. zu den weltlichen Genüssen des Essens und besonders des Wein-Trinkens soll offenbar ein emotionaler Zugang zum Gesagten in direktem Rückgriff auf die lebensweltliche Erfahrung der Rezpienten ermöglicht werden, wobei die besondere geistliche Bedeutung von Brot und Wein im Sinne der Kommunion gerade nicht oder allenfalls andeutungsweise allegorisch ausgelegt oder erläutert wird. So heißt es in der Predigt ›Conversus Petrus‹ im Anschluß an die Schilderung der Abendmahls-Szene: Ir sehent wol als der man truncken wirt so naigt er sich aller gernest auf das vas von dem der tranck gegangen ist. Also naigt sich auch sant Johannes aller gernest auf das edel hercz von dem die sussikait alle gelassen was. (70va)

Die ›lebensnahe‹ Vermittlung der dargestellten Sachverhalte zeigt auch die Frage des Predigers, warum denn nun der ›trunkene‹ Johannes sich nicht wie andere Leute auch in solchen Zuständen an eine Wand gelehnt oder auf eine Bank gesetzt habe. Die Antwort lautet: Jesus wollte Johannes das allerzarteste Kopfkissen bieten, das je auf Erden zu finden war, seinen eigenen Körper (71ra/rb). Während hier die Minnetrunkenheit mit dem Weinrausch verglichen wird, wählt Rudolf von Klingenberg in verwandter Manier die weltliche Minne als Vergleichsmaßstab, um das ungeheure Verlangen des Johannes und die alle menschliche Liebeserfahrung übersteigende Beziehung zwischen Jesus und seinem Lieblingsjünger zu illustrieren,51 einer Minne, deren Intensität Heinrich von 50

Zu diesem, wohl auf Petrus Damiani zurückgehenden Motivkomplex vgl. VOLFING [Anm. 49], S. 10, Anm. 22. 51 So heißt es z. B. 91rb–91va: Ir sehent wol so ein mensch bei dem andern siczet das im von herczen lieb ist vnd es im zartlich vnd minniklich geberde erzaiget so komet der mensche etwenne von im selben, das er sich nit enthalten mag. Er muß sich neigen auf sein geminntes hercze. Seit diß geschicht an lieplicher minne so gedenck ein iglich mensch wie sant Johannes were do er vol was der gotlichen minne. Wann unßer herre erzaigte im als vil zartlicher vnd minniklicher geberde, das er von im selber kam vnd das sein hercze als inbrunstig wart von gotlicher minne, das er sich nit enthalten macht. Er muß sich naigen auf gotes hercz.

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Schaffhausen – ein Bild der Apokalypse aufgreifend – mit einem aitoven, da das fewr an allenthalben auß bricht (81ra) vergleicht. Zumeist wird in diesem Zusammenhang von den Predigern der Bezug zum Canticum canticorum, dem buch der minne, wie es im Sprachgebrauch der Handschrift heißt, unmittelbar hergestellt: Da von singen wir von im [Johannes], das er hin fliessende wart von sussikait vnd von genade do er getranck von dem brunnen des ewigen lebens. Da von macht er sich nit enthalten. Er muß sich naigen auf das hercz von dem im die genade vnd die sussikait alle geflossen was. Wann das geschihet auch an lieplicher minne so ein mensche mit dem andern lieplich vnd minniklich redet, das im sein hercz zerflusset von minne gegen seinen lieben. Seit diß geschihet an lieplicher minne so mercke ein iglich mensche wie vil billicher es denn geschehe an der gotlichen minne. Wann do der außfluß des lebendigen brunnen samenthaft floß in sant Johannes da was billich, das sein sele vnd sein hercz zerfloß von minne. Davon macht er wol sprechen als da gescriben stet in der minne buch: »Mein geminter hat zu mir geredet. Dauon ist mein sele vnd mein hercze hin fliessenden worden von sussikait vnd von minne.« [Vgl. Ct 5,2.5] (92rb/va)52

Als auserwählte, jungfräuliche Braut Christi stilisiert, avanciert Johannes Evanglista so, einer seit dem 12. Jahrhundert greifbaren Auslegungstradition des Canticum canticorum folgend, zur sponsa des Hohen Liedes.53 In diesem Sinne geradewegs programmatisch wird die Reihe der Evangelista-Predigten mit dem vorgeschalteten, Bernhard von Clairvaux zugeschriebenen Text eröffnet. Dort heißt es, nachdem der Bezug zum Hohen Lied und zur Abendmahlsszene hergestellt ist, daß die heilige sele des Johannes irm gemaehel Christo die aller 52

Vgl. z. B. auch 91vb: So spricht vnser herre her wider ze sant Johannes: »Mein geminter hat mir ein purd mit mirren gelegt auf mein hercz« [vgl. Ct 1,13]; 64rb: Da wart sant Johannes als truncken von rechter minne vnd von sussikeit vnd von hoher andacht, das im geswintel vnd viel nider vnd viel auf gottes hercze [...] vnd lag da vnd tranck in sich von dem lebendigen brunnen [...] Da von macht er wol sprechen als geschriben stet in canticis: »Der konig hat mich gefüret in sein wein keller vnd hat sein minne in mir geordnet.« [Ct 2,7] Disz wort mag niemant aigentlich gesprechen wann sannt Johannes alleine. 53 Zu dieser Auslegungstradition – die inbesondere auch in der Ikonographie der Christus-JohannesGruppen erkennbar wird – vgl. ELEANOR S. GREENHILL, The Group of Christ and St. John as Author Portrait: Literary Sources, Pictorial Parallels, in: Festschrift Bernhard Bischoff, hg. von JOHANNE AUTENRIETH u. FRANZ BRUNHÖLZL, Stuttgart 1971, S. 406–416, hier S. 406 (mit weiterführender Literatur) u. 409f.; H.-J. SCHIEWER, Johannsen [Anm. 5], S. 36. VETTER [Anm. 9], S. 48 mutmaßt: »Die Gleichsetzung des Evangelisten mit der Braut des Hohenliedes erwuchs aus der Vorstellung seiner in der Jungfräulichkeit begründeten ›familiaritas‹ mit Christus.« Als eine Art Bindeglied jedoch fungierte offenbar mitunter die familiaritas mit Maria. Die von ANNETTE VOLFING in ihrem Beitrag in diesem Band angesprochene, seltenere Gleichsetzung des Evangelisten mit dem sponsus, die in der Pommersfeldener Sammlung nur vereinzelt in der Bernhard von Clairvaux zugeschriebenen Predigt anklingt (35ra u. 36rb durch Zitat von Ct 5,10), gehört gleichfalls in diesen Auslegungszusammenhang, der nicht selten mit der Vorstellung, daß Johannes Evangelista der Bräutigam bei der Hochzeit zu Kana gewesen sei und zugunsten Christi auf die Heirat verzichtet habe (vgl. hierzu GREENHILL, S. 410), kombiniert worden zu sein scheint. Hier deutet sich ein ›Geflecht‹ unterschiedlicher, aber kombinierbarer Auslegungsansätze an, innerhalb dessen die Positionen austauschbar werden und das genauerer Nach- und Erforschung wohl lohnte, gerade auch, weil man womöglich damit einem spezifischen Modus mittelalterlicher Vermittlung theologischer Inhalte in der Volkssprache (auch in seiner Relation zum und der Kombination mit dem Medium bildlicher Darstellung) auf die Spur kommen könnte.

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liebste sei. Vnd dauon was sie wirdig irm gemaheln ze vmb halsen (36vb). Dieser Text stellt den Evangelisten explizit über Johannes den Täufer. Die höchste Gotteserkenntnis, die Johannes Evangelista an der Brust Christi zuteil geworden sei, erhebe ihn über alle anderen Heiligen, denn nur er alleine sei dazu geeignet und auserwählt gewesen: Vnd wisseint, das nie kain ander mensch dar zu geuellig wart noch genug. Weder von den patriarchen, noch von den propheten, noch der gnadereich Ysaias der Got sach siczen auf dem hohen himelischen thron vnd erhaben in seiner magenkraft, noch der außerwelt frewnt Gottes sant Johannes der tauffer. Weder diser noch nie kain ander heilig mochten noch enmugen zu diser sunderlichen ere vnd wirdickeit komen noch gerüren zu der sant Johannes von Got gezogen wart vnd erwelt (41va/vb).

Der Aspekt der unio, der in den Evangelista-Predigten nur vage anzuklingen scheint, findet deutlicheren Ausdruck in der als Gelenkstück zwischen den Predigtsequenzen zum Evangelisten und Baptisten eingeschobenen, anonym überlieferten Predigt auf die heilige Agnes: Vnd wie ein iglich cristen sele ein gemahel ist vnsers herren so hat er sich doch hart vngeleich vereiniget mit den megden mit sunderlicher haimlikait vnd mit außgenomener zemen fugunge der mahelschaft denn mit chainer creature. (97vb–98ra)

Im Mittelpunkt der Agnes-Predigt steht das emphatisch ausfallende Lob der e Jungfräulichkeit. Agnes wird als außergewöhnliche himmelische lylie magtlicher keuschait (97vb) gefeiert, die ihr magetum durch ihre gemähelschaft mit Christus bezeugt habe (102va). Geschickt werden so die Sequenzen der beiden männlichen virgines miteinander verknüpft, unterstützt durch die Tatsache, daß beide Johannsen auch in diesem Sermo genannt werden. Der Evangelist wird zweimal als Zeuge für die Vorzüglichkeit der jungfräulichen Gottesminne aufgeboten.54 Johannes der Täufer wird als spiegel seher bezeichnet, der in der Jungfernschaft Marias das Spiegelbild der ewigen gotheit erblickt habe (98va), denn eine maget ist ein spiegel der gotheit (103ra). Er dient darüber hinaus als stützende Autorität für die etymologische Auslegung von Agnes als agnus dei (›Agnes‹ spricht ein vngemase gottes lamp; 101vb). Als reine Jungfrau ist Agnes – wie dies in den Predigten der Sammlung auch wiederholt für beide Johannsen betont wird – engelsgleich: ein maget ist ein swester der engel (103ra).

Das Baptista-Modell Dementsprechend wird auch in den Baptista-Predigten die Jungfräulichkeit und munditia cordis des Täufers immer wieder dezidiert hervorgehoben.55 Laut 54

Der Evangelist wird als Autorität für das Wort »Gott ist die Minne« bemüht (100ra) und als Zeuge für die besondere Seligkeit, die die Jungfrauen im Himmel erwartet, denn Johannes schreibt in der Apokalypse, so der Prediger, von den megden vnd spricht, das er sie sach in dem himel. (101ra; vgl. Apo 14,3). 55 In der Predigt Hugos von Konstanz heißt es u. a.: Vnd wa man von rainikait redet so mag man von chainem heiligen als sprechen, daß er raine sei als von im [Johannes Baptista] an alleine vnse frawe. (111rb)

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Hugo von Konstanz ist er es, der dem Jungfernstand den ewigen Segen brachte. Vor seinem Wirken seien alle Jungfrauen verflucht und geächtet gewesen.56 Obgleich hier, bei Hugo, auch von einer mahelschaft zwischen dem Täufer und Jesus die Rede ist,57 zeichnen die Baptista-Predigten der Sammlung deutlich ein Gegenbild zum Evangelisten; ein Gegenbild, das Gehorsam, Leidensfähigkeit und duldsame Askese bis hin zur Selbstkasteiung gegen allzu beflissene Kontemplation, gegen visionäres Wunder- und Gnadenzeichen-Schauen und somit wohl auch gegen die affektgeladene brautmystische Minnelehre der Evangelista-Predigten setzt. Dabei geht es freilich nicht darum, Johannes Evangelista herabzusetzen. Vielmehr sollen lediglich gerade nicht die mit ihm verbundenen Qualitäten und Eigenschaften, sondern – vielleicht im Sinne eines Korrektivs – diejenigen des Täufers für das alltägliche fromme Klosterleben zur Nachahmung und Identifikation empfohlen werden (vgl. jedoch unten, Anm. 64). Eine Invektive Hugos spricht in diesem Punkt eine sehr deutliche Sprache: Nu sult ir wissen, das vil grosser ist der strenge ist an im selber vnd hertes leben hat denne der vil contempliert vnd haimliche vnd offenlich dinge sehe vnd große zaichen tete. Wann daran mag man wol betrogen werden. Aber an strengem vnd an hertem leben mag man niemer betrogen werden wann es ist das zaichen des lebendigen gottes. Vnd was wir armut leiden vnd guter werck tun das sullen wir thun in der ere unßers herren marter vnd sullen sie zieren mit der gedechtnuß des heiligen creuces. So werdent sie an vns fruchtber vnd nücze. (107ra/rb)

Insbesondere die Erwähnung des Gebots guter Werke scheint den Täufer als Personifikation der vita activa, etwa nach dem Vorbild der traditionellen Auslegung von Lc 10,38–42,58 dem Evangelisten als Verkörperung der vita contemplativa entgegenzusetzen. Die Ermahnung Hugos ist in diesem Punkt allerdings nicht unbedingt charakteristisch für das Baptistabild der Sammlung, das – in Hugos Predigt selbst und besonders im zweiten Sermo auf den Baptisten (›Sciens eum‹) – recht zentral auf das strenge und herte leben des Täufers in Askese 56

Denn wie Elisabeth, die Mutter der Täufers, als unfruchtbar verflucht gewesen sei, so seien im alten Bund die Jungfrauen geächtet und verflucht gewesen. Dem habe der Täufer ein Ende bereitet, denn er brachte dem fluche seiner muter ainen ewigen segen [...] vnd behielt magtlich rainikait an im selber. Wann alle megde seint seit gesegnet mit dem ewigen segen. (104va/vb) 57 Beide, so der Prediger, Johannes Baptista und Jesus, erkannten sich gegenseitig bereits im Mutterleib, als die schwangere Maria ihre Verwandte, die mit Johannes dem Täufer schwangere Elisabeth besuchte. Und als Johannes geboren wurde, da nahm Maria das Neugeborene in ihre Arme, nam [...] es auf mit den henden die da vol waren der gothait, wie es die Handschrift hat, vnd truchten an ir hercz vnd machet da ein mahelschaft enzwischen im vnd ir liebem kinde (109va). Wenig später heißt es: Vnd als vnse frawe sant Johannes mahelte vnd in verainiget mit irm kinde also weicht sie in auch in ir magtlichen henden, das er wirdig wurd, das er ein tauffer were des behalters aller diser welt (110ra/rb). 58 Auf diese denkbare Parallele wies KONRAD KUNZE im Rahmen der Diskussion meines Beitrages hin. Der Wortlaut der Predigten bietet jedoch keine Indizien dafür, daß die beiden Johannsen quasi als männliche Pendants zu Martha und Maria, den Schwestern des Lazarus, gesehen wurden. Auf Lc 10,38–42 wird nirgends eingegangen, noch wird im gesamten Libellus auf diese Bibelstelle auch nur angespielt. Als eine Art Folie mag ihre traditonelle Auslegung gleichwohl den Predigern wie zumindest einem Teil der Rezipienten präsent gewesen sein.

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und weltverachtender Abgeschiedenheit abstellt59 und weniger auf die freilich nicht als unbedeutend geschilderten Werke, die Johannes zum Wohle der Christenheit bzw. seiner Mitmenschen vollbracht hat.60 In der Predigt ›Sciens eum‹ werden dem Baptisten insbesondere folgende Tugenden attestiert: willige armut, frohliches ellend, messikait des leibs, grosse strengikait, grosse diemutikait, große gedultikait (115va), die anschließend im einzelnen ausführlich thematisiert und exemplifiziert (115va–117vb) und schließlich um vester glaub, gotliche minne, Gottesfurcht, Beständigkeit und Heilsgewissheit, die Johannes als Gaben des heiligen Geistes empfangen habe, ergänzt werden (199va–120va).61 Das Bild, das dabei von Johannes Baptista gezeichnet wird, entspricht der Vollkommenheit asketischer, demütig-gottesfürchtiger Lebensführung, worin er alle heiligen Einsiedler übertreffe, die [...] doch etwenne giengen in die huln vnd vnder die bawme, das sie sich selber beschirmden da vor dem wetter. Johannes habe aber nie eine Schutzstatt besessen noch begehrt (115va/vb). Ebenso habe er in der Einsamkeit der Fremde keinen menschlichen Trost empfangen, sein ganzes Leben lang streng gefastet, nie Wein, selten Wasser getrunken, kaum geschlafen, nie Schuhe und nur ein hartes Gewand getragen,62 das mit Dornen zusammengehalten wurde, so daß das Blut beständig von seinem Körper rann (115vb–117ra). Bei all seinen Verdiensten habe er sich selbst und jede weltliche Ehre gering geschätzt (116va; 117ra–117va), in Bescheidenheit und Demut alle Qualen, die ihm Herodes antat, nachdem er ihn in den Kerker werfen ließ, bis hin zu seiner Enthauptung geduldig und ohne Klage ertragen (117va/vb). Auch die tapfere Gerechtigkeit des Täufers ist dem Prediger als Ausdruck der Vollkommenheit aller Tugenden mehrfache Erwähnung wert.63 59

Vgl. SIEGFRIED RINLGER, Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters. Quellen und Studien, München 1980, S. 159, der die Formulierung hertes und strenges leben als Oberbegriff von Askese in Schwesternviten bezeichnet, wobei die Nähe zu Kasteiung und »leibfeindlicher Abtötung« unter Berufung auf die Marter Christi häufig deutlich werde. 60 In der Predigt Hugos findet sich allerdings auch eine Stelle, die dem Täufer die Sozialtugend der Menschenfreundlichkeit (vermutlich i. S. von comitas u. affabilitas) zuschreibt (107ra), was zu dem Baptista-Bild streng asketischer Zurückgezogenheit in gewissem Kontrast steht. RINGLER [Anm. 59], S. 167f., sieht in der Sozialtugend der mitewaere das distinktive Merkmal des innerhalb der Gemeinschaft lebenden Heiligen gegenüber dem Eremiten bzw. reinen Asketen. Im Blick auf die Konventsgemeinschaft strebt wohl zumindest die Predigt Hugos in diesem Sinne einen ›Mischtyp‹ an. Dagegen betont der Prediger des Sermo ›Venit Ihesus‹, daß Johannes in die Wüste floh, um weltlichem Ruhm zu entgehen (vgl. unten Anm. 72). Zur Spannung zwischen Verheimlichung und Ausbreitung des Rufes der Heiligkeit in Heiligenviten vgl. RINGLER [Anm. 59], S. 173. 61 Die Predigt Hugos von Konstanz ›Elyzabeth‹ hebt ähnlich die asketische strengikait und gedultikait des Täufers hervor (106vb;110vb) und zählt im dritten Teil der Predigt u. a. auf: rechte stettikait, strenges leben, außgenommen rainikait, grosse wirdikait (111vb–112va). Die anonym überlieferte Predigt ›Venit Ihesus‹ betont: Johannes behielt allezeit die rainikait vnd die heilikait seines herczen vnd seiner sele in volkomener lauterkait an alle mase. Vnd lebt als strengiklich vnd was allezeit in als grossen ernst der tugent, das er verdienet mit seiner heilikait des nie menschen wirdig macht werden, das er got handeln vnd tauffen solt (127ra), und: Er vieng tugendhaftes vnd strenges leben an in seiner kinthait (127va). 62 Ähnlich formuliert auch Hugo von Konstanz, 106vb. Bezugspunkte sind freilich Mt 3,4 u. Lc 1,15. 63 So z. B. 114ra: Alles das tugent gehaissen mugen das vinde ich alles an sant Johannes dem

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Während der Evangelist also für brennende Gottesminne, für brautmystisches, visionäres Schauen steht, für contemplieren und zeichen sehen, wie es Hugo von Konstanz ausdrückt, wird der Täufer als Leitbild klösterlicher Zucht und monastischen Gottesdienstes im Sinne von Askese, freiwilliger Armut und in der demütigen imitatio Christi profiliert, was trotz aller Predigeremphase und der menschliches Vermögen übersteigenden Leidensfähigkeit, die dem Täufer zugeschrieben wird,64 ganz offensichtlich ein wesentlich pragmatischeres Modell für klösterliches Leben vermittelt. Denn von der Leidensmystik etwa einer Elsbeth von Oye ist der Baptist der Predigten des Pommersfeldener Johannes-Libellus, die gleichwohl durchaus in einem solchen Sinne rezipierbar erscheinen, im Grunde weit entfernt: Er erduldet und leidet im Namen Christi, was die Welt ihm antut, er verweist auf die Abgeschlossenheit eines monastisch-asketischen Lebens in Weltverachtung, aber er leidet nicht etwa um der unio Willen, sondern seine Gottesliebe ist zugleich Gottesfurcht, Gehorsam, Demut und eben Gottesd i e n s t – ein Dienst, den ein Mensch dem so weit über ihm stehenden Christus leistet. Der Unterschied zwischen beiden ist letztlich nicht überbrückbar, wenngleich der demütige Dienst auch zur Selbstheiligung führt und die Engelsgleichheit des Johannes ihn über die menschliche Natur stellt.65 Deshalb wird auch immer wieder die Bescheidenheit und Demut des Täufers hervorgehoben, der sich nicht würdig wähnte, Jesu die Schuhriemen zu binden und erst von diesem selbst ausdrücklich aufgefordert werden mußte, den Messias zu taufen.66 Wie die brautmystische Vermählungs- und Vereinigungsmetaphorik, die brinnende minn, diu gar wise machet,67 die Versenkungs- und Liebestopik der Evangelistenpredigten unserer Sammlung, so ist auch das herte und strenge leben, wie es die Baptista-Sermones hervorheben, in der Bildlichkeit und im Formelschatz der Schwesternviten wiederzufinden. Das Katharinentaler Schwesterntauffer. Dauon mag er wol ein man haissen. Er was ain man vnd was ain gerechter man. Er redde die wahrhait vnd ließ das durch niemant. Vgl. auch 115rb: Das sant Johannes gerecht was, des gibt vnser herre vrkund do er cze im kam in den Jordan, das er von im getauft wurd. 64 Die Leidensfähigkeit des Johannes und sein beständiges Fasten was wider aller menschlichen nature, bemerkt etwa Hugo von Konstanz (106vb), was mit der Engelsgleichheit der Johannes erklärt wird (108ra–109rb). Ähnlich in ›Venit Ihesus‹ wan die [Johannes’ engelshafte Reinheit] was als verre vber all menschlich nature, das vmuglich was, das chain mensche die rainikait mocht gehan in totlichem leibe (123va). Damit soll nicht nur die besondere Auserwähltheit des Täufers erwiesen werden, sondern man wird wohl auch eine implizite Ermahnung an die Rezipienten darin sehen können, sich Johannes zwar als Vorbild zu nehmen, es aber mit Askese, Fasten und Kasteiung nicht zu übertreiben und ihm gleich werden zu wollen, was in diesem Kontext hieße, sich der Sünde der superbia schuldig zu machen. In diesem Punkt der übermenschlichen Strenge ist Johannes offenbar im Sinne der Prediger dann mehr als admirandus denn als imitandus zu verstehen. Das gilt freilich ähnlich auch für den Evangelisten, der in seiner heiligen Außergewöhnlichkeit und seiner visionären Erkenntnisfähigkeit, die alle menschliche Vernunft übersteigt, stets ebenso unerreichbar hoch über allen Menschen steht. Die Person der beiden Johannsen muß also im Sinne einer potentiellen Identifikation streng genommen vom Frömmigkeitsmodell, das durch sie vermittelt werden soll, unterschieden werden. 65 Vgl. Anm. 64. 66 So 117ra–117va. Vgl. Lc 3,16; Mc 1,7; Io 1,27. 67 So heißt es in der Vita der Elsbeth von Stoffeln, R. MEYER [Anm. 10], S. 120 (Nr. 33, Z. 73f.).

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buch preist Adelheid Pfefferhartin für ihr vorbildhaftes beständiges Beten, Wachen, Fasten und Kasteien, von Geri Heinburgin heißt es, sie sei ein usgenomen mentsch an hertem, strengen leben gewesen, Adelheid Zirgerin wird »als Muster im Fasten, im ständigen Verzicht auf Fleisch und auf unvermischten Wein und der zweimalig täglichen Geißelung, der sie sich unterzogen habe«68 dargestellt und Dietmut von Lindau als Vorbild strenge[n] lebens vnd state[m] fliss der tugent bezeichnet.69 Alle Baptista-Predigten heben hervor, daß Johannes der Täufer als ideale Verkörperung aller Tugenden in Vollkommenheit gelten müsse, wobei jedoch gerade solche christlich-moralischen Qualitäten und Eigenschaften dezidiert betont werden, die etwa in Legendaren oder Schwesternbüchern üblicherweise insbesondere – aber keineswegs ausschließlich – weiblichen Heiligen zugeschrieben werden. So finden sich die dem Täufer in der Predigt ›Sciens eum‹ ausdrücklich attestierten Tugenden u. a. und einschließlich der jungfräulichen munditia corporis et cordis wörtlich (oder nahezu wörtlich) im Tugendkatalog der Vita Elsbeths von Villingen wieder.70 Elsbeth war dem Text des Schwesternbuches aus St. Katharinental zufolge jedoch eine Anhängerin des Evangelisten! Auch Auditionen und Visionen waren ihr – ich bin geneigt zu sagen: dementsprechend – keineswegs fremd.71 Sie nimmt ihren Lieblingsheiligen in auffälliger Weise ge68

KNÖPFLI, Geschichte [Anm. 2], S. 56. R. MEYER [Anm. 10], S. 151f. (Nr. *54, Z. 40–54; Adelheid Pfefferhartin), S. 105 (Nr. 26, Z. 2; Geri Hainburgin), S. 113 (Nr. 29, Z. 1–5 u. ö.; Adelheid Zirgerin), S. 116 (Nr. 31, Z. 3f.; Diemut von Lindau). 70 Vgl. R. MEYER [Anm. 10], S. 169–174; genannt werden u. a.: maegtliche rainikait, gehorsamme, o kestegung des libs und grosse strengikait, messikait, beschaidenhait, gerechttikait, willige armut, e e gedultikait, tieffy demutikait, vester glob, geding gegen got, gotlich minn. Die reine – wenngleich teilweise wörtlich übereinstimmende – Erwähnung der entsprechenden Tugenden ist freilich noch kein zwingendes Argument. Ich möchte keineswegs wie auch immer geartete d i r e k t e Abhängigkeiten unterstellen, sondern die Entsprechungen und Motiv-Parallelen vielmehr im Sinne eines (noch zu erforschenden) Intertextualitäts- und Diskursphänomens (im Rahmen von Heiligentopik, Ordensideal, Frömmigkeitsvorstellungen, Klosteralltag, Reformbestrebungen und möglichen Konventsinteressen) verstanden wissen. Gerade Elsbeth werden in der genannten Vita nahezu alle christlichen Tugenden in toto zugeschrieben, und das Vorbild dafür wird textintern bereits als Christus selbst deutlich. Vgl. R. MEYER [Anm. 10], S. 166–168 (Nr. *58, Z. 69ff.) u. ebd., S. 322. Untersucht werden müßte im Vergleich mit anderen Schwesternviten die Gewichtung der Tugenden und vor allem, wie diese im Einzelnen exemplifiziert werden. In der Elsbeth-Vita fällt jedenfalls auf, daß die Qualitäten der Nonne besonders auf den Klosteralltag und die Ordensregel hin interpretiert werden. RINGLER [Anm. 59], S. 157, weist darauf hin, daß Ordenstugenden in Schwesternviten »überaus häufig als Einzeltugenden hervorgehoben« werden, und nennt die Vita Nr. 14 im Tösser Schwesternbuch, die einen programmatisch zu nennenden Tugendkatalog enthalte. Diese Vita zählt auf: Gehorsam, willige Armut, u´bung, Sanftheit, Stille, Arbeit, Geduld und Demut. Vgl. R. MEYER [Anm. 10], S. 321. Zur Darstellung weiblicher Heiliger vgl. auch ORTRUD REBER, Die Gestaltung des Kultes weiblicher Heiliger im Spätmittelalter, Hersbruck 1963, S. 168–171. – Vasten, wachen, peten, swigen und selbst hartes Lager und hährenes Hemd finden in verschiedenen Schwesternviten immer wieder Erwähnung; vgl. R. MEYER [Anm. 10], S. 321; s. auch RINGLER [Anm. 59], S. 158 u. 162. Vgl. in diesem Zusammenhang auch oben die Anm. 60 u. 61. 71 Vgl. R. MEYER [Anm. 10], Nr. *58, zu Johannes ebd., S. 175–177 [Z. 350ff.]; Visionen, Auditionen, Erleuchtungen: ebd., S. 166 [Z. 57ff.], S. 177–179 [Z. 424ff.] – Ebd., S. 176 [Z. 398–405] 69

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gen mögliche Vorwürfe, er habe nicht genügend gelitten, was seiner Heiligkeit abträglich sein könnte, in Schutz.72 Die Passage findet im Pommersfeldener Libellus in der Bernhard von Clairvaux zugeschriebenen Predigt eine Parallele (40ra). Johannes Evangelista, so die Argumentation in beiden Fällen, erlitt nicht die körperlichen Qualen des Baptisten oder anderer Märtyrer – aber er erduldete unter dem Kreuz die schlimmste aller Verletzungen: die Schmerzen der Seele, und so sei er gleichsam doch der allergrößte Märtyrer, obgleich er körperlich nicht zu leiden hatte.73 Elsbeth gehörte vermutlich von ca. 1300 bis gegen Ende der 30iger Jahre dem Dießenhofener Konvent an,74 und ihre Vita könnte als Indiz gewertet werden, daß die beiden skizzierten Modelle in Dießenhofen (und anderswo) zu Beginn bzw. im Verlauf des 14. Jahrhunderts bei den Dominikanerinnen zum Einklang gebracht werden sollten, und der Wunsch, die umrissenen Frömmigkeitsmodelle zu verbinden, könnte durchaus auch eine mögliche Motivation für die Entstehung unserer Sammlung gewesen sein. Vielleicht wird man gar in der dritten Predigt auf den Täufer, der letzten des Libellus, den Ausdruck eines solchen Bestrebens nach Ausgleich erkennen müssen. Der Sermo ›Venit Ihesus‹ betont zwar die besondere Reinheit und Heiligkeit des Täufers und attestiert ihm – eher am Rande, aber an exponierter Stelle der Predigt – ein demütiges und asketisches Leben, doch das Hauptthema der Predigt, die in diesem Sinne im Ausgangspunkt ›theologischer‹ erscheint, ist das Sakrament der Taufe, was ja bereits das Thema Venit Ihesus (Mt 3,13) nahelegt. Der Prediger scheint sich jedoch nicht so recht daran halten zu wollen oder zu können. Immer wieder stellt er voller Emphase die Person des Täufers in den Vordergrund, wobei es ihm offenbar wichtig ist, die besondere Heiligkeit des Baptisten im Sinne von wundertätiger Gnade, die Johannes von Gott und Christus zuteil wurde, und im Blick auf das Heil und den Nutzen, den Johannes Baptista der Christenheit in Form der Taufe gebracht habe, herauszustreichen. Betont wird die Gnade der Auserwähltheit. findet sich auch eine Beschreibung der Abendmahlsszene: Johannes’ Geist wird durch die Worte Jesu derart durchgossen [...] von min und suessekait, das er sich legen muost vff gottes hertzen und da trank er den hochen sin. 72 R. MEYER, S. 176f. (Nr. *58, Z. 405–418). 73 Legendarischer Hintergrund: Das heiße Öl etwa, in das ihn Domitian setzen ließ, verspürte Johannes gar nicht, ja es war ihm ein wohliges Bad, und selbst sein Tod glich dem freudvollen Endlich-Wiedersehen mit dem Geliebten ohne alle Schmerzen. Die Legende jedenfalls will es so, und die Texte des Pommersfeldener Johannes-Libellus betonen dieses leichte Sterben als besonderen Erweis der Liebe Christi zu seinem Lieblingsjünger. – Vgl. auch die sehr ähnliche Passage in R. MEYER [Anm. 10], Nr. 39, Z. 12–16: Do sprach aber du´ stimm: ›Sant Johannes ist der e o grost marter, der ie gemartret wart, won do er vnder dem cru´tz stund, do wart er gemartrot mit dem grundlosen mitliden von v´nseres herren marter, das er der groest marter ist in dem himelrich. Vnd da von maht er enkeines pinlichen todes me sterben‹ (S. 125). Das Motiv findet sich auch im Karlsruher Johannes-Libellus, Karlsruhe, LB, St. Peter pap. 21, 11v, in einer dort Beda Venerabilis zugeschriebenen Predigt auf den Evangelisten. – In den ›Zeichen des Johannes‹ der Pommersfeldener Sammlung heißt es allerdings auch einmal über Johannes Evangelista: Vnd het gar ein hertes leben mit vasten vnd mit wachen vnd mit stetter kestegung seines liebz (26ra). 74 Vgl. R. MEYER [Anm. 10], S. 312; s. auch im Katharinentaler Totenrodel, HENGGELER [Anm. 8], S. 162, Kolumne III, Nr. 42.

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Zu Beginn spielt die Predigt auf die Liebesbeziehung des Evangelisten zu Christus an. Man habe, so erläutert der Prediger, Johannes den minner teilweise zum größten aller Heiligen erklärt, der siezekait seiner Gottesminne wegen, so wie auch Petrus seiner standhaften Ernsthaftigkeit in der Liebe zu Gott oder Paulus, weil dessen Lehre der Christenheit großen Nutzen gebracht habe, von manchen Lehrern zum höchsten der Heiligen erklärt worden seien. Aber: Die heiligen vnd die lerer redent etwenn mislich. Yeglicher saget vnd redet nach seiner begirde vnd nach seinem andacht. Sie enwissen aber der warhait nicht, wer der hochst ist. Das wais niemant auf dem ertreich wann got allaine in des herczen alle haimlichait tugent verborgen vnd verslossen seint. Dis laß ich beleiben wann es gehoret zu diser rede nicht. (122ra) Der Prediger hält sich allerdings nicht ganz an seine Absichtserklärung. Indirekt, aber deutlich genug, schlägt er sich – seinem Predigtthema ja durchaus entsprechend – auf die Seite des Täufers, dem Gott sunder gewalt fur alle heiligen verliehen habe (125vb). Interessant ist, daß er sich dabei auch einer Bildlichkeit bedient, die fast wie eine Antwort auf die Aussage anmutet, der Evangelist habe gleich einer paradiesischen Quelle die göttliche Erkenntnis unter den Menschen verbreitet (s. o. S. 315): Johannes der Täufer was der erste runs der genade der nach dem lebendigen brunnen [gemeint ist hier: Christus] ie gefloß auff das ertreich (125rb). Johannes Baptista, so erklärt der Prediger schließlich unter Berufung auf Johannes Chrysostomus, werde nicht einer einzigen Tugend wegen gelobt – wie alle anderen Heiligen, zwischen denen unterschiedliche Tugenden, etwa ainer hat die minne, gleichsam aufgeteilt seien –, sondern in ihm wären alle Tugenden in Vollkommenheit vereint gewesen, weshalb er Christus am ähnlichsten und nächsten sei. Schon in seiner Kindheit habe der Täufer begonnen, ein tugendhaftes vnd strenges leben zu führen, er floch [...] in die wust, das er chain lob oder ere von den lewten enpfieng (127rb–127va).

Sammlungsinterne Parallelstellen und Legendenstoff im Pommersfeldener Johannes-Libellus Daß es sich beim Pommersfeldener Johannes-Libellus um ein Textkorpus handelt, das eine einheitliche, geplante Konzeption nahelegt, bestätigen neben den inhaltlichen und programmatischen Bezügen sammlungsinterne Parallelstellen. Die sammlungsinternen Parallelstellen im Pommersfeldener Codex 120 betreffen zum einen Autoritätenzitate, die in einigen Fällen in verschiedenen Predigten im selben Wortlaut wiedergegeben werden. Daneben sind solche internen Parallelen im Bereich des Legendenstoffes sehr häufig. Insgesamt finden sie sich hauptsächlich, jedoch nicht ausschließlich, in denjenigen Texten, die sicher oder vermutlich Übersetzungen darstellen. Hierbei spielen insbesondere ›Die Zeichen des Johannes‹ eine gewichtige Rolle. Ich wähle zur Illustration einen Ausschnitt aus einer wesentlich umfänglicheren Parallelstelle zwischen den

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›Zeichen‹ und dem Bernhard von Clairvaux zugeschriebenen Text, der gleichzeitig – im ›Zeichen‹-Teil – den Aufweis alemannischer Spuren in der Handschrift bietet und es erlaubt, einige allgemeine – diese Thematik jedoch keineswegs auch nur annähernd erschöpfende – Worte über den Umgang mit dem Legendenstoff in der Sammlung anzuschließen: Vnd do die seligen junger des geminten sant Johannes sahen, das ir getrewer maister von in schaiden wolt do wurden ir hercz ser betrubet vnd erfullet mit grosser bitterkait vnd vnmessiger trawrikait. Vnd der gemint sant Johannes troste sie als auch vnser herre Ihesus sein junger trost do er von in schaiden wolt vnd sprach zu in dise wort: »Lieben mein kint gehabt euch wol. Ich wol von iu schaiden vnd wil iu beraiten die stat. Vnd so ich mich von iu geschaide vnd iu beraitt die stat. So kum ich aber wider zu iu vnd nime euch zu mir, das ir auch seint da ich bin. Ir wissent wol war ich wil vnd wisset auch wol den weg.« Als unßer herre Ihesus Christus do er zu himel fur seine iunger gutlich segent vnd damit von in in den himel fur also gab auch der gut sant Johannes seinen jungern ein guten segen vnd gieng ab in das grab das er im hat haisset gemacht bei dem alter vnd sprach: »Lieben mein iunger [...]« (›Die Zeichen des Johannes‹, 30va–30vb) Vnd do der geminte sant Johannes dis gebet volendet vnd seine iunger sahen, das ir getrewer maister von in schaiden wolt do wurden ir hercze sere betrübet vnd erfullet mit grosser bitterkeit vnd vnmessiger trurikait. Vnd der geminte sant Johannes troste sie als auch vnser herre seine iunger troste. Vnd vnder andern worten, die er mit in redte, do sprach er: »Lieben mein kint gehabt euch wol. Ich wil von euch schaiden vnd wil euch beraitten die statt. Vnd so ich mich von euch geschaide vnd euch beraitte die stat so kome ich aber wider zu euch vnd nym euch ze mir, das ir auch seint da ich bin. Ir wissent wol war ich wil vnd wissent auch wol den weg.« Vnd als vnser herre Jhesus Christus do er ze himel für seine iunger gutlich segnet vnd damit von in in den himel für also gab auch der gut sant Johannes seinen iunger ein getrewen segen vnd gieng do ab in das grab das er im het haissen gemachet bei dem alter in dem munster Ephesim vnd sprach: »Lieben mein iunger [...]« (Ps.-Bernhard von Claivaux, 46vb–47ra)

Der Ausschnitt ist dem Bericht von Tod und Himmelfahrt des Johannes Evangelista entnommen, der inhaltlich gesehen im Kern einer Episode der ›Legenda aurea‹ des Jakobus de Voragine entspricht,75 die aber erzählerisch-erläuternd wesentlich ausgebaut und in geradzu szenischer Veranschaulichung narrativ ausgreifend entfaltet wird. In den ›Zeichen‹ nimmt diese Episode den Raum von vier Manuskriptseiten in Anspruch (29va–31rb) und stellt somit die ausführlichste der insgesamt 16 Episoden dar, in welche sich der Text gliedern läßt und von denen fünf in der ›Legenda aurea‹ keinerlei Entsprechung finden.76 Das eigent75 76

De sancto Johanne apostolo et evangelista, GRAESSE [Anm. 23], Nr. 11, S. 61f. Berichtet werden, recht nahe am Text der ›Legenda aurea‹ (De sancto Johanne apostolo et evangelista, GRAESSE [Anm. 23], S. 56–62) die Erweckung der Drusiana, die Widerlegung des Craton, die Geschichte von den zwei reichen Jünglingen, die Zerstörung des Diana-Tempels, das Minnelob des Johannes im hohen Alter, die Erzählung vom ›wilden Jüngling‹, das Exempel von König Eadimundus, wobei neben breiterer erzählerischer Ausschmückung inbesondere Abweichungen in Details teilweise inhaltlich akzentuierend wirken, etwa wenn Drusiana nicht – wie in

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liche Textgerüst des Berichtes von der Himmelfahrt des Johannes in der Pommersfeldener Sammlung steht allerdings dem Wortlaut der ›Legenda aurea‹ recht nahe. Ich gebe dieses ›Gerüst‹ im folgenden nach dem Text der ›Zeichen‹, alle Erweiterungen und Zusätze auslassend, wieder: 〈N〉v screibet Ysidorus, das sant Johannes wart newn vnd achtzig iar alt vnd nach vnsers herren marter gelebte siben vnd sechtzig iar [...] do erschain im vnser herre Jhesus Christus mit der wuniklichen schar der heiligen zwelffbotten. [...] Vnd sprach zu im: »Kum zu mir mein gemynter wann es ist zeit, das du essest von meinem tisch mit deinen lieben brudern die ewige wirtschaft. Wann an dem nechsten suntag [...] wil ich selb zu dir komen. [...] [Johannes] sprach: »Seit du mich nun, lieber herr, geladen hast so pin ich berait zu komen vnd kom frolich zu dir vnd sage dir genade vnd danck, das du selb mich geruchest zu laden zu deiner hochtzeit. Wann du waist, herre, woll das ich dein begert hab von allen meinem herczen.« Vnd [do] der suntag kam [...] da hat sich daz volk alles gesammet vnd dem prediget er [...] vnd manet sie, das sie veste wern an dem gelauben vnd fleissig an gottes gepott. Vnd dar nach hieß er im ein geviert grab machen bey dem alter vnd hieß die erde alle auß der kirchen tragen. [...] Zehant do kam auf in das aller schonste wolken das lewchtet als die sunnen, das es der junger cheiner mocht gesehen von vnmessiger clarhait. [...] Vnd darnach da dis wolken vnd das clar liecht zer gieng do giengen darczu dem grab alle die dar komen waren vnd funden dar inn nicht wan himel brot. Das sach man da von dem grunde genugsamklich auf wallen als ein lebendiger brunn und das zaichen sicht man da noch hewt dis tages. (29rb–31ra)

Die zitierte Einladung Christi, der seinen Jünger zur ewigen Wirtschaft im Himmelreich ruft, kum zu mir, mein gemynter, findet sich neben der Parallele im Bernhard zugeschriebenen Text auch wörtlich (mit dem Zusatz mein auszerwelter) in der Predigt Rudolfs von Klingenberg (97ra). Das wiedergegebene ›Textgerüst‹ wird in den ›Zeichen‹ wie im Bernhard-Text – neben einigen Details, auf die ich hier nicht im Einzelnen eingehen kann – um ein geradezu poetisch wirkendes und an das Glaubensbekenntnis bzw. das Vaterder ›Legenda Aurea‹ – als dilectrix, sondern als geistlich tochter des Johannes und selig frawe bezeichnet wird. Die Gefangennahme durch Domitian und die Verbannung auf Pathmos, wo die Apokalypse entstanden sei, folgt teilweise dem Text der ›Legenda aurea‹, fügt aber Einzelheiten hinzu und greift auch auf De sancto Johanne ante portam latinam (GRAESSE [Anm. 23], S. 311f.) zurück. Drei der insgesamt vier Berichte postumer Wunder finden keine Parallele in der ›Legenda aurea‹, der letzte weist Ähnlichkeit mit TUBACH [Anm. 22], Nr. 4665 auf. Ein Abschnitt der ›Zeichen‹ berichtet von der Widerlegung fünferlei ketzerischer Ansichten durch Johannes und entspricht einer Passage in der Vinzenz von Beauvais-Übersetzung. Möglicherweise wurden die ›Zeichen‹ der Pommersfeldener Sammlung als Übersetzungen der ›Legenda aurea‹ (oder einer ihr nahestehenden Sammlung), des Ps.-Bernhard-Textes und des Vinzenz-Textes plus weiterer Quellen kompiliert. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung können zu diesem Punkt allerdings noch keine verbindlichen Aussagen gemacht werden. Die ›Legenda aurea‹, die ja bekanntlich gerade bei den Dominikanern zur Predigtvorbereitung häufig benutzt wurde und auch zur Studienlektüre gehörte, dürfte jedoch um 1300 im Bodenseeraum gut zugänglich gewesen sein; eine der frühesten Hs. der lat. ›Legenda aurea‹ auf deutschem Boden, Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Cod. 629, datiert 1288, ist sehr wahrscheinlich im Bistum Konstanz entstanden (vgl. BARBARA FLEITH, Studien zur Überlieferungsgeschichte der lateinischen Legenda aurea, Brüssel 1991, S. 390 u. 382f.; KONRAD KUNZE, Die Elsässische ›Legenda aurea‹, Bd. II: Das Sondergut, Tübingen 1983, S. XL seq.).

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unser erinnerndes Gebet und eine elaborierte Abschiedsrede des Johannes erweitert, dessen Anfangsteil im obigen Beispiel zitiert wurde. Johannes wird als Prediger stilisiert, der Abschied von seinen Jüngern als Abendmahlsmesse geschildert und im Rückgriff auf Io 14,2–4 mit dem Abschied Jesu parallelisiert. Johannes hebt in seiner ›Predigt‹ die Bedeutung der Minne hervor, der Text selbst betont immer wieder die Lieblingsjüngerschaft des minniklichen Johannes Evangelista und seine Liebe zum aller süst[en] herre Ihesu Christe (wie Johannes Christus in seinem Gebet anspricht, 30ra). Bemerkenswert ist nun, daß eine der fünf Episoden der ›Zeichen‹, die die ›Legenda aurea‹ nicht kennt, sich wie die Vorgeschichte zur Himmelfahrt des Johannes liest und nicht nur die zweitumfänglichste des Textes ist (26va–27rb), sondern gleichfalls im Bernhard zugeschriebenen Text eine weitgehend wörtliche Parallele findet (43vb–44va). Hier wird berichtet, daß, nachdem alle Apostel außer Johannes gestorben vnd er allein als ein ellender bilgrem auf disem ertreich beliben was, Christus seinem Lieblingsjünger erschien, um ihn zu trösten: Es sei noch nicht die Zeit, daß auch er ins Himmelreich kommen solle, damit nicht, was er auf Erden gepflanzt habe, zugrunde gehe. Die Minnethematik klingt deutlich an, wenn Christus Johannes nicht nur als mein gemynter anspricht, sondern fortfährt: Ich waiß wol, das du grossen iamer vnd begirde allczeit nach mir hast. Vnd ich beger auch alczeit bei dir zu sein mit begirde vnd wil auch bei dir sein an underlasse vncz auf dein ende. Mit sussen, mynniklichen worten verkündet Christus seinem Lieblingsjünger, daß er ihn selbst zur rechten Zeit abholen und sein Tod ohne alle Schmerzen sein werde (27ra/rb). Auch im Bereich des Legendenstoffes zeichnet sich also eine Ausrichtung auf das ab, was man die ›Leitmotive‹ der Sammlung nennen könnte.

Überlieferungszusammenhänge der Pommersfeldener Sammlung Die zeitlich und räumlich recht homogene Autorengruppe, das einheitliche Programm des Textkorpus, die Tatsache sammlungsinterner Parallelen, die auf das Vorhandensein eines Fundus von Quasi-Textbausteinen deuten, der offenbar den verschiedenen Autoren oder Übersetzern als ›Text-Pool‹ zur Verfügung stand – all dies spricht für eine Entstehung der Sammlung als Einheit. Und diese wird i n einem oder zumindest f ü r ein Dominikanerinnenkloster im Konstanzer oder Züricher Terminierbezirk und im ersten Viertel des 14. Jahrhundert zu suchen sein. Die Entstehung der einzelnen Texte mag dabei noch ins 13. Jahrhundert zurückreichen. Die Predigten der Konstanzer-Züricher Autorengruppe könnten im Rahmen der cura monialium gehalten worden sein. Die Indizien weisen insbesondere auf den Dießenhofener Konvent als Adressatengruppe, ja selbst als möglichen Ort der (ersten?) Niederschrift der Predigten und der Entstehung der Sammlung. Für die darin enthaltenen Predigten der Züricher-Konstanzer Autorengruppe dürften die St. Katharinentaler Schwestern jedenfalls mit einiger Sicherheit als Primärrezipientinnen in Frage kommen.

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Dieser Befund kann durch ein gewichtiges Indiz aus dem Bereich der Parallelüberlieferungen gestützt werden.77 Die Handschrift München, BSB, cgm 531 aus dem ersten Viertel des 15. Jahrhundert überliefert u. a. ein Korpus anonymer Predigten, das bisher unter dem Namen ›Hochalemannischer Prediger‹ bekannt ist.78 Innerhalb dieser Predigtsammlung (von der Forschung bisher auf Bll. 26ra– 97vb der Münchner Handschrift begrenzt) lassen sich zwei Sermones als Parallelüberlieferungen zu den Predigten Konrads von Liebenberg und Hugos von Konstanz im Pommersfeldener Johannes-Libellus identifizieren. Die Münchner Handschrift enthält daneben eine weitere Parallelüberlieferung zum Pommersfeldener Codex, die Predigt Heinrichs von Schaffhausen, j e n s e i t s der Grenze, die die Forschung bisher für den Hochalemannischen Prediger gezogen hat (100ra–101vb). Nicht nur die Konstruktion eines ›Hochalemannischen Predigers‹ ist damit obsolet, womit sich einmal mehr eine solche, personenbezogene Vorstellung als der mittalterlichen Überlieferungspraxis unangemessen erweist, sondern auch der Umfang der Sammlung › H o c h a l e m a n n i s c h e P r e d i g t e n ‹ muß korrigiert und ihre Zuordnung zu der genannten Züricher-Konstanzer Autorengruppe erwogen werden. In einer Festtagspredigt dieser Sammlung (An dem montag in den österen, 49ra–50ra) findet sich der folgende Vergleich, der einen deutlichen Hinweis bezüglich der Herkunft der Texte bietet: Do giengen seiner junger zwen von Jerusalem ze ainer purg die hiez Emaus und leit von Jerusalem alz verr alz von Diessenhofen uncz gen Schafhaussen. (49ra)79 77

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Untersuchungen zu den Überlieferungszusammenhängen der uns bisher bekannten Johannes-Libelli, die NICOLAI PAHNE im Rahmen unserer Editionsarbeit (vgl. Anm. 1) unternommen hat. 78 KARIN MORVAY / DAGMAR GRUBE, Bibliographie der deutschen Predigt des Mittelalters, hg. von der Forschungsstelle für deutsche Prosa des Mittelalters am Seminar für deutsche Philologie der Universität Würzburg unter Leitung von KURT RUH, München 1974, T 60; vgl. auch DAGMAR LADISCH-GRUBE, Hochalemannischer Prediger, 2VL IV, Sp. 76f. 79 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf mögliche Beziehungen der Autoren der Pommersfeldener Sammlung zum sog. ›Marchwart-Biberli-Legendar‹ (Solothurn, Zentralbibliothek, Cod. S 451), denn in der Handschrift Basel, UB, G2 II 58, sind sechs der hochalemannischen Predigten zusammen mit Legenden aus dem Solothurner Legendar überliefert; s. REGINA D. SCHIEWER, Sermons for Nuns of the Dominican Observance Movement, in: Medieval Monastic Preaching, hg. von CAROLYN MUESSIG (Studies in Intellectual History), Leiden [usw.] 1998, S. 75–92, hier S. 85, Anm. 15. – Sucht man die beiden skiziierten Modelle (›Evangelista-Modell‹ u. ›Baptista-Modell‹) stärker unter mystischen Vorzeichen zu interpretieren, so rückt das Programm des ›Pommersfeldener Johannes-Libellus‹ recht nahe an die von MARIANNE WALLACHFALLER, Ein mittelhochdeutsches Dominikanerinnen-Legendar des 14. Jahrhunderts als mystagogischer Text?, in: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, hg. von KURT RUH (Germanistische Symposien. Berichtsbände 7), Stuttgart 1986, S. 388–401, thesenhaft aufgestellte Programmatik des aus zwei um 1310 bzw. 1325 entstandenen Teilen bestehenden ›Marchwart-Biberli-Legendars‹ heran. Johannes Evangelista stünde dann in erster Linie für die via unitiva und die via illuminativa. Auch Johannes der Täufer zeigt zwar Züge letzterer, wird aber weitaus deutlicher als vorbildhafter Märtyrer, auslegbar im Sinne der via purgativa, gekennzeichnet. Wie im Prolog des früher als der erste entstandenen, zweiten Teils des Solothurner Legendars (laut WALLACH-FALLER, ebd., S. 389, sind die Angaben zur Datierung der beiden Teile bei KARL-ERNST GEITH, Marchwart Biberli und das Solothurner Legendar Cod.

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Daß sich dieser Hinweis erhalten hat, ein Glücksfall in unserem Zusammenhang, ist umso erstaunlicher, als die Parallelüberlieferungen zu Pommersfelden Cod. 120 in der Münchner Handschrift überwiegend stark kürzenden Redaktionen unterlagen, wobei alle lebensnahen Vergleiche und nahezu alle Mündlichkeitssignale, insbesondere Ich-Nennungen des Predigers recht konsequent getilgt wurden. Sie zeigen, daß mit den Predigttexten ein äußerst freier Umgang offenbar Usus war und einzelne Teile auch relativ unabhängig als frei verfügbare Textbausteine genutzt wurden. Die Reihenfolge der Partitiones ist dabei teilweise vertauscht oder eigenständig neu geordnet worden. In der Berliner Handschrift SBB-PK Ms. germ. quart. 192, die zu einer Reihe von drei Codices aus dem Straßburger Dominikanerinnenkloster St. Nikolaus in undis gehört, welche insgesamt einen erweiterten Korpus der Legendensammlung ›Der Heiligen Leben‹ überliefern,80 finden sich im Rahmen einer nicht zum Grundkorpus der ›Heiligen Leben‹ zu rechnenden Johannes-Legende (106v–196v) Bruchstücke des in unserer Sammlung anonym überlieferten Sermo ›Conversus Petrus‹ sowie der Predigt Heinrichs von Schaffhausen inseriert.81 Die Apokalypse-Übersetzung des Pommersfeldener Johannes-Libellus ist in zwei ehemals Donaueschinger Handschriften aus dem Bodenseeraum parallelüberliefert; zum einen im Kontext von Übersetzungen der Traktate über Antichrist und Jüngstes Gericht des sog. Passauer Anonymus (Karlsruhe, LB, Cod. Don. 189, 1r–30r), zum anderen zusammem mit Übersetzungen alttestamentlicher Bücher und Legenden (Karlsruhe, LB, Cod. Don. 179, 178rb–191ra).82 Die weiteren Parallelüberlieferungen zur Pommersfeldener Handschrift finden sich ausschließlich in anderen Johannes-Libelli. S 45, ZfdA 111 (1982), S. 9–21, fälschlicherweise vertauscht worden; entsprechend fehlerhaft ist die Datierung bei WILLIAMS-KRAPP, Legendare [Anm. 22], S. 24; der erste Teil des Legendars ist der jüngere, um 1325 entstandene, der zweite der ältere, um 1310) läge so am Ende der Pommersfeldener Sammlung der Schwerpunkt auf der via purgativa, wobei in beiden Fällen eine Warnung erkennbar wird, nicht etwa »Marter und [...] Märtyrertod als solche nachzuahmen« (WALLACH-FALLER, ebd., S. 393). Mögliche programmatische Parallelen zwischen der Pommersfeldener Sammlung und dem Solothurner Legendar vermutete bereits H.-J. SCHIEWER, Johannsen [Anm. 5], S. 46f., wobei allerdings SCHIEWERs Annahme, die Pommersfeldener Sammlung weise wie das ›Biberli-Legendar‹ keinerlei Berührungspunkte zur ›Legenda aurea‹ auf, durch neuere Recherchen von NIKOLAI PAHNE und ANDREA SYRING nicht bestätigt werden konnte. 80 Vgl. WILLIAMS-KRAPP, Legendare [Anm. 22], S. 196. 81 Vgl. ANDREA SYRING, Compilatio as a Method of Middle High German Literature Production. An Anonymous Sermon about St. John the Evangelist and its Appearance in Other Sermons, in: Medieval Sermons and Society. Cloister, City, University. Proceedings of International Symposia at Kalamazoo and New York, hg. von JACQUELINE HAMESSE [u. a.] (Textes et Etudes du Moyen Age 9), Louvain-la-Neuve 1998, S. 117–143. Unter dem Aspekt der compilatio als Verfahren monastischer Literaturproduktion geht SYRING den Parallelen und Bezügen der Predigt ›Conversus Petrus‹ der Pommersfeldener Sammlung, ihrer Überlieferung im Karlsruher und Bamberger Johannes-Libellus sowie dem erwähnten Text der Berliner Handschrift nach und stellt u. a. fest, daß interessanterweise die Predigt-Version der Bamberger Hs. auch Passagen aufweist, die im Text der Berliner Hs. weitgehende Parallelen besitzen, sich aber in der Version der Pommersfeldener Sammlung nicht finden. 82 REDZICH, Spätmittelalterliche Übersetzungen [Anm. 44].

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Der Johannes-Evangelista-Libellus Bamberg, SB, cod. hist. 153, Papier, 228 Bll., 16 x 12,2 cm, einspaltig; frühes 15. Jh., aus dem Klarissenkloster Nürnberg überliefert 219v–226v die anonyme Predigt Conversus Petrus. Eine weitere Parallelüberlieferung dieser Predigt findet sich in der Handschrift Karlsruhe, LB, Cod. St. Peter pap. 21, 270 Bll., 10 x 8; Oberrheingebiet, Mitte 15. Jh., 174v–190r. Der Sermo Heinrichs von Schaffhausen ist neben der genannten Münchner Handschrift auch im Basler Johannes-Libellus, Basel, UB, Cod. A VI 38, 300 Bll., 20,5 x 13,5 cm, zweispaltig, 16 Vollbilder; 1493, vermutlich aus Gnadental, Basel OFM (F), 182vb–191rb anonym überliefert.

Der Überlieferungsbefund legt einen möglichen Überlieferungsweg vom Bodensee in den Nürnberg-Bamberger Raum nahe, was uns zurück zur Observanzbewegung führt, deren Ausbreitung wir bekanntlich eine Vielzahl der Textzeugen von bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts im alemannischen Sprachraum entstandener Literatur vor allem dominikanischer Provenienz – aber etwa auch der Offenbarungen Mechthilds von Magdeburg – verdanken. Zu denken ist wohl in erster Linie an einen Handschriften-Transfer über das Kloster Schönensteinbach, von dem aus einige Schwestern in das Katharinenkloster nach Nürnberg geschickt wurden, um dort die Observanz durchzusetzen.83 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Eintrag in dem 1455–1461 entstandenen Katalog der Klosterbibliothek von St. Katharina in Nürnberg. Unter dem Eintrag Nr. LXI findet sich dort: Item ein puch; helt des ersten apockalipsy vnd XIIII predig von sant Johannes ewangelisten und XI predig von sant Johannes paptisten, ein predig von sant Agnes. Daneben soll die Handschrift vier weitere Predigten zu anderen Themen umfaßt haben.84 Der Eintrag bestätigt die Existenz eines beiden Johannsen gewidmeten Libellus im Nürnberger Raum und die gemeinsame Überlieferung von JohannesPredigten und einer Predigt auf die heilige Agnes. Der Nürnberger Raum ist in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse. Der oben genannte Bamberger Johannes-Evangelista-Libellus (Bamberg, SB, cod. hist. 153) stammt aus dem einzigen Frauenkloster, in dem ein Streit um die beiden Johannsen nachweislich den Konvent gespalten hat, dem Klarissenkloster Nürnberg. In eigens für dieses ehemalige Reuerinnenkloster aufgesetzen Statuten von 1411 verbietet der Provinzialminister der Franziskaner Johannes Leonis explizit die Parteiungen im Konvent, die neben den beiden Johannsen auch die heilige Clara und Maria Magadalena betrafen, was sich aus der Geschichte des Konvents erklären läßt.85 83

Vgl. R. D. SCHIEWER, Sermons [Anm. 79], S. 80. – Zur Bedeutung der Observanz für die Literaturrezeption und -produktion in Frauenkonventen im 15. Jahrhundert vgl. ferner WILLIAMSKRAPP, Frauenmystik und Ordensreform [Anm. 19], S. 301–113, sowie DERS., Observanzbewegungen [Anm. 19], S. 1–15. 84 Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, hg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München, Bd. 3, T. 3, Bistum Bamberg, bearb. von PAUL RUF, München 1939, S. 611f. 85 Vgl. JOHANNES KIST, Das Klarissenkloster in Nürnberg bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts, Nürnberg 1929, S. 19–27; die aufgesetzten Statuten für die Nürnberger Klarissen sind ebd.,

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Im Nürnberger Stadtarchiv ist darüber hinaus die Eingabe einiger Schwestern an den Rat der Stadt von ca. 1410 erhalten. Der Rat wird aufgefordert, gegen die Mißstände im Kloster und insbesondere gegen die Parteiungen im Konvent Schritte zu unternehmen. Folgender Ausschnitt der Eingabe liefert uns weiteren Einblick, welche Konsequenzen der Streit unter anderem hatte: Auch sült ir wissen, das man ietzund an sant Johanstag des ewangelisten ain newes buch herfür hat getan und daran ze tisch gelesen, wan sein legend dran stet und das ist wider der abtissen und wider den meren teil des conventz willen; wan nach dem get aber mer, es sei denn das man es verküm, wan die sich umb sant Johannes baptisten annemen, die werden nun auch etwas newes erdenken gegen disen vnd also nimpt diß geraitz nymmer mer kein end.86

Das newe buch, von dem hier die Rede ist, es könnte sehr wohl der Bamberger Johannes-Evangelista-Libellus gewesen sein. Doch auch die ›Baptistinnen‹ im Nürnberger Klarissen-Konvent waren offenbar in der Tat nicht müßig. Die Schreiberin Agnes Sampach schreibt nach 1406 – denn diese Jahreszahl erwähnt sie im Zusammenhang mit der neuen Ausstattung einer Kapelle – einen Johannes-Baptista-Libellus,87 dessen Johannes-der-Täufer-Legende wie auch die Johannes-Legende des Bamberger Evangelista-Libellus in die Legendensammlung ›Der Heiligen Leben‹ eingegangen ist.88 Möglicherweise war auch die Pommersfeldener Handschrift 120 für die Klarissen in Nürnberg (oder deren ›Ableger‹ Bamberg) bestimmt. JOHANNES KIST jedenfalls äußerte in seiner Geschichte des Konvents den Verdacht, daß noch einige der Codices aus dem Klarissenkloster Nürnberg in Pommersfelden liegen dürften.89

Resumee Der Pommersfeldener Johannes-Libellus ist nicht nur ein Zeugnis der Johannsenverehrung, sondern er dokumentiert, daß es im Bodenseeraum um 1300 bzw. in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine Diskussion über zwei unterschiedliche Frömmigkeitsmodelle gegeben haben muß; eine Diskussion im Vorfeld der Observanz, Jahrzehnte bevor im Rahmen der Observanzbewegung zahlreiche Ordensgeistliche primär für das ›Baptista-Modell‹ votierten und in ähnlicher S. 162–165 abgedruckt. Hier wird ganz besonders nachdrücklich die Veranstaltung von Votivmessen für die genannten Heiligen verboten und angeordnet, daß Messen auf Klara, Maria Magdalena, Johannes Baptista und Johannes Evangelista ausschließlich an deren Ehrentagen zu feiern seien. Dann aber dürfe bei diesen Messen auch keine der Schwestern im Chor fehlen (ebd., S. 26 u. 164). Offenbar blieben etwa die Anhängerinnen des Evangelista am Baptist-Tag der Messe fern. 86 Nürnberg, Staatsarchiv, Urkunde d. 7 farb. Alph. Nr. 2139 (VI 99/2); zit. n. KIST [Anm. 85], S. 159. Vgl. auch ebd., S. 22. 87 Es handelt sich um den Codex Bamberg, SB, cod. hist. 152, Datierung und Schreiberinnennennung auf 150r/v. Vgl. WILLIAMS-KRAPP, Johannes Baptista [Anm. 43], Sp. 539. 88 Vgl. WILLIAMS-KRAPP, Legendare [Anm. 22], S. 275. 89 KIST [Anm. 85], S. 119, Anm. 463.

Die Johannsen-Devotion im Dominikanerinnenkonvent St. Katharinental

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Weise wie Hugo von Konstanz vor Auditionen und Visionen eindringlich warnten.90 Da scheint es nicht gänzlich abwegig, daß Johannes Meyer vielleicht gerade deshalb den Wendepunkt in Clara Annas von Hohenburg Leben gewissermaßen als ›Bekehrung‹ zum Täufer schildert. Interessant ist in diesem Zusammenhang jedenfalls, daß St. Katharinental selbst nie reformiert wurde. Im Dießenhofener Konvent wie in anderen Dominikanerinnenklöstern im Bodenseeraum und der nördlichen Schweiz bekamen die Männer, die Prediger und Beichtväter im Rahmen der cura monialium, offenbar die Schwestern nicht ohne weiteres dazu, dem Johannes-Evangelista-Modell weitgehend zu entsagen; es entstand im 14. Jahrhundert eine reiche und noch nicht in allen Zusammenhängen eingehend erforschte Viten- und Offenbarungsliteratur, die zwar eine gewisse Annäherung und Verbindung der beiden skizzierten Modelle erkennen läßt, aber – man denke an die Leidensmystik und radikale Selbstkasteiung bei Elsbeth von Oye – wohl nicht so, wie es sich die Seelsorger der Schwestern gewünscht haben dürften.91 Vor diesem Hintergrund erscheint die Frage, ob es denn in Dießenhofen unter den Schwestern tatsächlich einen Streit um die Johannsen gegeben habe, eher sekundär. Wenn, dann spiegelte er eine Kontroverse wieder, die nicht auf Dießenhofen beschränkt war oder blieb, und er könnte bereits um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert geherrscht und vielleicht mehrere Jahrzehnte angedauert haben.92 90

Die maßgeblichen Ziele für die Ordensreformer waren zweifellos die Besinnung auf strikten Gehorsam und die strenge Einhaltung des Armutsgebots und der Klausur; so notiert Johannes o Meyer in seinem ›Buch der Reformacio Predigerordens‹: Die Ordensschwestern sollten demut und gehorsami [...] erzaigen, und besunder soltent sy gemain halten, leben un aygenschafft und die beslützt sölt von in allen gehalten sin (Buch IV-V, hg. von Benedictus Maria Reichert [Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens in Deutschland 3], Leipzig 1908, Buch V, Kap. 19, S. 68). Vgl. EUGEN HILLENBRAND, Die Observantenbewegung in der oberdeutschen Provinz der Dominikaner, in: Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen (Berliner Historische Studien 14), hg. von KASPAR ELM, Berlin 1989, S. 219–71, hier S. 235. Die ›Individualität‹ mystisch-visionärer Gottesschau, die – besonders in Verbindung mit Literaturproduktion – auch das (männliche) Monopol der Auslegung und Glaubensvermittlung gefährdete, mußte daher den Observanzverfechtern ein Dorn im Auge gewesen sein; vgl. R. D. SCHIEWER, Sermons [Anm. 79]; ANDREA LÖTHER, Grenzen und Möglichkeiten weiblichen Handelns im 13. Jahrhundert. Die Auseinandersetzung um die Nonnenseelsorge der Bettelorden, RJKG 11 (1992), 223–240. Zu Warnungen vor Visionen und Auditionen s. WILLIAMS-KRAPP, ›Dise ding sind dennoch nit ware zeichen der heiligkeit‹, LiLi 20 (1990), S. 61–71; H.-J. SCHIEWER, Auditionen und Visionen einer Begine. Die ›selige Schererin‹, Johannes Mulberg und der Basler Beginenstreit. Mit einem Textabdruck, in: Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter. Internationales Symposium Roscrea 1994, hg. von TIMOTHY R. JACKSON, NIGEL F. PALMER u. ALMUT SUERBAUM, Tübingen 1996, S. 290–317, hier S. 303–305. 91 Bekanntlich soll etwa Meister Eckhart sich gegen übertriebene Kasteiung ausgesprochen haben. Heinrich Seuse warnte, daß große Strenge bei Wachen und Fasten sowie harte Kasteiung die weibliche Konstitution überfordere und gegen die Ordnung der Natur verstoße; vgl. KNÖPFLI, Geschichte [Anm. 2], S. 56. Vgl. in diesem Zusammenhang auch WILLIAMS-KRAPP, ›Dise ding‹ [Anm. 90] u. (zu Aspekten möglicher Zensur und der Haltung Johannes Meyers) SYRING [Anm. 81]. 92 In Heinzelıˆns von Konstanz Streitgedicht von den zwei Johannsen heißt es immerhin, trotz des

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Jochen Conzelmann

Im Fall der Klarissen in Nürnberg dauerte es immerhin rund 50 Jahre, bis die Observanzvertreter den Frauenkonvent in diesem Punkt endlich zur Ruhe bringen konnten.93 In der bereits zitierten Eingabe der Schwestern an den Rat der Stadt heißt es, daß die jüngeren Schwestern stets die eifrigsten Parteigänger seien und sich so der Streit regelrecht weitervererbe.94 Freilich kann man diese Verhältnisse nicht einfach auf St. Katharinental übertragen. Dennoch zeigt der Fall der Nürnberger Klarissen recht anschaulich, wie Johannsen-Verehrung zu verstärkter Literaturrezeption und -produktion führen konnte. Daß der Johannsenkult zur Entstehung einer besonderen Art von Sammlung, den Johannes-Libelli, beigetragen hat, ist ebenso einleuchtend wie trivial. Daß es Frauen gewesen sein könnten, die daran beteiligt waren, vielleicht darauf drängten, daß solche Sammlungen entstanden, und die von ihren Beichtvätern und Ordensbrüdern gehaltenen Predigten möglicherweise u. a. auch zu eben diesem Zweck aufgeschrieben haben, ist schon interessanter. Die Wahrscheinlichkeit, daß von hier aus sich eine spezifisch weibliche Literatur entwickelt hat, die ein ebenso spezifisches, wenngleich kaum genuin feminines Frömmigkeitsverständnis, jedoch vielleicht gar ›weibliche‹ theologische Denkmuster transportiert haben könnte,95 macht das ›Modell Katharinental‹ attraktiv. Vor dem Hintergrund der Toposhaftigkeit des Johannsen-Streites stellt sich auch die Frage, wie hier möglicherweise geistliche Literatur, deren Topoi und Motive die Denkformen, ja die Lebenserfahrung und vielleicht gar die Lebenswirklichkeit der Klosterfrauen beeinflußt haben könnten, ehe dies wiederum ihre eigene literarische Produktion anregte. Es dürften mithin Dominikaner i n n e n gewesen sein, die dafür verantwortlich zeichnen, daß wir nunmehr aufgrund der Pommersfeldener Sammlung von einer deutschsprachigen, dominikanischen Literatur im Bodenseeraum schon um 1300 sprechen können und die Predigten der Züricher-Konstanzer Autorengruppe uns darin geschilderten versöhnlichen Ausganges, über den krieg: der wert noch hiute (v. 13,4). – KNÖPFLI, Geschichte [Anm. 2], S. 60f., Anm. 354 hält fest: »Im ›Schürebrand‹ des Nikolaus von Blofelden, einer 1367 im Augustiner Chorherrenstift auf dem Beerenberg bei Wülflingen/Winterthur geschriebenen Anleitung zu geistlichen Leben, steht eine Ermahnung an die Adresse zweier Klarissen, nicht in den Fehler zu verfallen, als Folge der Bevorzugung bestimmter Heiliger sich in Parteien, z. B. Johannes-Baptistinnen/Evangelistinnen zu spalten, St. Gallen, Stiftsbibliothek Cod. 976 u. 1003«. 93 Vgl. KIST [Anm. 85], S. 52–55. 94 Ebd., S. 159. 95 Vgl. RINGLER [Anm. 59], LÖTHER [Anm. 90], ACKLIN ZIMMERMANN [Anm. 33]. Das Urteil, daß »das liebend sich verzehrende Verlangen nach der Versenkung in Gott, das die Frauen vor allem der süddeutschen Klöster ergriff, ihr körperlich-sinnenhaft gebundenes und doch asketisches Streben nach der Brautschaft mit Christus [...] kaum je die Filter theologischen oder gar philosophischen Nachdenkens« durchlief (KNÖPFLI, Geschichte [Anm. 2], S. 55), beruht auf einem einseitig am Monopol männlichen Gelehrtentums orientierten Maßstab und verrät ein eher dem modernen Geschlechterdiskurs angehörendes Vorurteil: »Aber solch subjektive Art der Gottesbegegnung entsprach dem weiblichen Empfinden und der Aufnahmefähigkeit der Nonnen.« (Ebd.)

Die Johannsen-Devotion im Dominikanerinnenkonvent St. Katharinental

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schriftlich überliefert sind;96 einer Autorengruppe, deren Mitglieder, wie es HANS-JOCHEN SCHIEWER formuliert hat, literaturhistorisch zu den unmittelbaren Vorgängern Heinrich Seuses zu zählen sind und deren Predigten eine neue Form der deutschsprachigen Ordenspredigt begründen.97 Ihre Texte weisen schließlich – was sowohl die Bildlichkeit als auch die Inhalte betrifft – deutliche, noch genauer zu erforschende intertextuelle Bezüge zu der später in oberrheinischen Frauenklöstern verfaßten sogenannten ›frauenmystischen‹ Literatur auf. In diesem Sinne wird man zurecht von der Johannsenverehrung in St. Katharinental als einem Modell für Literaturrezeption und -produktion in den oberdeutschen Frauenkonventen des 14. (und 15.) Jahrhunderts sprechen können, von dem aus sich weitreichende Fragestellungen ergeben, die der historischen wie der literatur- bzw. textwissenschaftlichen Erforschung weiblicher, klösterlicher Literatur des Mittelalters neue Perspektiven und neue Aufgaben eröffnen.

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Allerdings läßt sich beim gegenwärtigen Forschungsstand das ›Modell Katharinental‹ in diesem Punkt nicht weiter präzisieren. Die Frage, ob die Schwestern ihnen im Rahmen der cura monialium gehaltene Predigten verschriftlicht haben, ob sie bereits schriftlich vorliegende Sermones ihrer Ordensbrüder gesammelt und abgeschrieben haben oder ob nochmals andere Wege anzunehmen sind, wie die Texte zu Papier gekommen sein könnten (etwa durch die Bitte von Schwestern an die Prediger, ihnen die Predigt schriftlich zukommen zu lassen), ist nicht zu beantworten. Die Sammlung des ›Pommersfeldener Johannes-Libellus‹ könnte von den Katharinentaler Schwestern selbst zusammengestellt worden sein; ebensogut aber könnte sie den Schwestern als Handschrift von ihren Ordensbrüdern zur Lektüre und/oder Tischlesung vermacht worden sein. Mithin ist das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in diesem Zusammenhang sehr schwer zu beurteilen. Einige der Texte der Sammlung, die ›Zeichen des Johannes‹ und die Übersetzungen (bzw. ihre Vorlagen) dürften freilich auf schriftlichem Wege vermittelt worden sein. Daß andererseits zumindest ein Teil der Predigten der Züricher-Konstanzer Autorengruppe den Katharinentalerinnen tatsächlich gehalten wurde, darauf deutet im Kontext einiger weiterer oben gesammelter Indizien die S. 325 zitierte Erwähnung Dießenhofens in einer der ›Hochalemannischen Predigten‹ hin. Unklar bleibt, ob dies im Rahmen der cura geschehen sein könnte, ob es sich um nicht-öffentliche (sog. Kapitel-)Predigten gehandelt haben könnte oder aber die Predigten bei durchaus denkbaren Messen für ein Nonnen- u n d Laienpublikum gehalten wurden (vgl. BÜRKLE, Literatur im Kloster [Anm. 34] zur Rolle der Predigt im Kontext weiblich-monastischer Literaturproduktion, S. 85–89). Daß sie jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit primär für ein weibliches, klösterliches Publikum konzipiert wurden, dürften meine Ausführungen insgesamt verdeutlicht haben. – HANS-JOCHEN SCHIEWER, Uslesen. Das Weiterwirken mystischen Gedankenguts im Kontext dominikanischer Frauengemeinschaften, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloqium Kloster Fischingen 1998, hg. von WALTER HAUG u. WOLFRAM SCHNEIDER-LASTIN, Tübingen 2000, S. 581–603, kann weitere Indizien dafür liefern, daß in St. Katharinental »offenbar eine Vorliebe für die Zusammenstellung von Textensembles unter einem thematischen Rahmen« bestand und das Arbeitsprinzip der compilatio »den Schreib- und Bibliotheksort St. Katharinental auszeichnet« (S. 592): Die beiden Handschriften Karlsruhe, Bad. LB., Donaueschingen 115 und 116 aus dem ersten Drittel des 14. Jahrhunderts, deren Herkunft aus St. Katharinental als zweifelsfrei gelten darf, überliefern einen ›Magdalenen-‹ und einen ›Katharinen-Libellus‹. 97 H.-J. SCHIEWER [Anm. 5], S. 44f.

Annette Volfing

Johannes und Maria in den Johannes-Kompendien (Bamberg, Karlsruhe, Pommersfelden)

Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit drei deutschen Predigt-Kompendien zu Johannes dem Evangelisten: Bamberg, Staatsbibliothek, Hist. 153, Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, St. Peter pap. 21, und Pommersfelden, Gräflich Schönbornsche Bibliothek, Ms. 120.1 Ich möchte die Darstellung der Beziehung von 1

Folgende Predigten und Traktate werden untersucht: Bamberg, SB, Hist. 153: 1r–35v: ›Hye hebt sich an die gnad vnd daz lob daz die maister schreiben von dem wirdegen ewanglisten Johannes‹ Gratia et veritas per Ihesum christum facta est Jo. Genad vnd warheit ist gemachet von christo ... in aller widerwartikeit da von in seinem lob vnd dinst sterk vnd bestetig vns der minnikleich got AMEN, 37r–122v: ›Hie hebet sich an daz aller hiligest leben des aller wirdigsten ivngern vnn zwelfpoten iohannes der da ist gewest ain ewangelist‹ Johannes ist als vil gesprochen als di genad Gottes ... Daz ist nv wie der aller wirdigest zwelfpot vnn Ewangelist Johannes mit leib vnn mit sel ze himel gefv¨rt; Karlsruhe, Badische LB, St. Peter pap. 21: 2r–19r: Homilie, Beda Venerabilis zugeschrieben ›Dise Sermon von dem lob es fv¨r geminten jungers Christi des hochwirdigen apostelen sancti Johannis ewangeliste ist genumen vs menger hand red vnd sprichen der e heiligen lerer‹ In dem zit sprach jesus zv¨ Petro: Volge mir noch ... – vnd mit hilf siner jvnpfrowo e lichen muter vns geleiten vnser herr Ihesus Christus ... Amen; 151r–174v: ›Dis ist ein schone minesami predige vnd rede die der honig flüßig lerer Sant Bernhart tet an Sant Johannes Ewane e e gelisten tag‹ Wir sollent vns in got frowen aller liepsten min bruder der gegenwürtikeit ... – durch e die selbe magt vnd ir wirdiges verdienen müs vns erhohen zu der klarheit der vetterlichen glorie e ... Amen; 190v–213r: ›Diß ist och ein predie von dem hohen himelfv¨rsten sant Johannis Ewangelisten‹ Gratia et veritas per Ihesum Christum facta est Dis wort ist eigenlich gesprochen von o dem hoch gelopten fv¨rsten Sant Johannes Ewangelist ... – Sant Johannes der bruder vnsers herren Ihesu Christi ... der mit dem vatter vnd dem heiligen geist lebet vnd richsnet iemer ewiklich. Amen; 251r–262v: Sant Dionisirus [sic] der sendet dem lieben sant Johannes einen brv¨f e ... – daz wir mit im besitzen die ewige froid daz vns daz wider var daz helf mir vnd v¨ch der vatter vnd der svn vnd der helige geist. Amen; Pommersfelden, Gräflich Schönbornsche Bibliothek, Ms. 120 (olim 2868): 33v–48r: ›Dise predige prediget der andechtig heilig sant Bernhart von dem grossen herren sant Johannes ewangelist‹ Hodie dilectatur Aller liebsten hewt ist erhaben vnd erhohet der clare sunne ... der mit got dem vater vnd mit dem sun vnd mit dem heiligen gesit in ein wesen lebt vnd regnirt yemer ewiglich; 48r–61v: ›Dis ist ein legende von sant Johannes ewangelista vnd schreibt sie ein lerer prediger ordens Vincentius Johannes apostolus et ewangelista‹ Es screibet ein susser lerer preiger ordens der haist Vincentius Beluacensis ... das wir der also geuolgen das wir mit im die ewigen frewde besiczen des helff vns der vater vnn der sun vnn der heilig geist amen; 61v–69r: ›Ein predig von sant Jacob screibt Bruder conrad von liebenberg der lesenmaister zu ze constanze was‹ Accessit ad ihesum Man liset in dem ewangelium das ein gut andechtige frawe ze vnserem herren kam mit ir zwain sun ... das wir von im geeret werden vnd die ewigen frewde mit im besitzen des helf mir der vater vnd der sun vnd der heilig gaist amen; 69r–79r: ›Item ein ander predige von sant Johannes ewangelisten‹ Conversus petrus Man liset heut in dem ewanglium das vnser herre zu ainer zeiten gieng mit sinen iungern ... vnd das wir vns ewiglich mit ime werden frewen in himelreich das vns das wider var daz helf mir vnd in der vater vnd der sun vnd der hailige gaist amen; 79r–89r: ›Dise predige prediget vns Bruder hainrich von schaffhausen der arler der lesenmaister zu zurich was von dem grossen herren sant johannes ewangelista‹ Mulier ecce Man liset in dem passio do vnßer here andem

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Annette Volfing

Johannes und Maria in diesen Kompendien analysieren und gehe dazu in zwei Schritten vor. Zum einen werde ich die Auslegung der Worte untersuchen, die der gekreuzigte Christus an Maria und Johannes richtet. Im Zentrum steht hier die Auffassung, daß Johannes sich kraft dieser Worte auf wundersame Weise in den körperlichen Sohn Mariens verwandelt. Zum anderen werde ich mich mit den verschiedenen literarischen Kunstgriffen beschäftigen, die dazu dienen, das neue Mutter-Sohn-Verhältnis zu veranschaulichen. Mein Interese gilt dabei der Bildersprache, deren sich die Prediger bedienen, um das enge Verhältnis zwischen Christus, Maria und Johannes zu betonen. Dabei deutet sich eine gewisse Austauschbarkeit unter den drei Gestalten an: Bilder und Prädikate, die für eine bestimmte Gestalt charakterisch sind, werden auf eine andere übertragen. Diese Bildübertragung geht einher mit einer Tendenz zur personalen Substitution innerhalb der Dreierbeziehung, etwa dann, wenn Maria teilweise die Rolle übernimmt, die sonst Christus im Verhältnis zu Johannes spielt.

I Das Interesse am Verhältnis zwischen Johannes und Maria gründet auf der Auslegung von Io 19,25–27, wo beschrieben wird, wie Christus seine Mutter Maria dem Lieblingsjünger anvertraut: Stabant autem iuxta crucem Iesu mater eius, et soror matris eius, Maria Cleophae, et Maria Magdalene. Cum vidisset ergo Iesus matrem, et discipulum stantem, quem diligebat, dicit matris suae: Mulier ecce filius tuus. Deinde dicit discipulo: Ecce mater tua. Et ex illa hora accepit eam discipulus in sua. Nach der vorherrschenden patristischen Tradition geht es auf der buchstäblichen Ebene darum, daß Johannes die Verantwortung für den Unterhalt Mariens übernimmt. Auf der allegorischen Ebene hingegen erscheint Maria als Mutter der Kirche: Jeder einzelne Sünder soll sich mit Johannes identifizieren und darauf vertrauen, daß Maria ihn als ihren Sohn nicht verwerfen wird, wie unwürdig er auch sein mag.2 Vielleicht um diesen Identifikationsansatz zu fördern, crutz stunt das er redte mit vnser frawen von sant johannes ... vnd das wir mit im die ewigen frewde besiczen das vns das wider var des helff mir vnd in der vater vnd der sun vnd der heilige gesit amen; 89r–97r: ›Dise predige prediget vns vnser lieber vaterbruder rudolff von clingenberg von dem grossen herren sant johannes ewangelista‹ Conversus petrus Es ist heut ein hochzeit eines hohen himelfursten ... das wir komen fur das angesicht vnsers herren vnd vns da nieten seines wuneklichen antlucz iemer mer an ende das vns das wider far das helff mir vnd in der vater vnd der sun vnn der hailig geist amen. Die Johannes-Libelli werden eingehender besprochen bei ANNETTE VOLFING, John the Evangelist and Medieval Germin Writing: Imitating the Inimitable, Oxford 2001, S. 131–160. 2 C. J. KNELLER, Joh 19,26–27 bei den Kirchenvätern, Zeitschrift für katholische Theologie 40 (1916), S. 597–612. Besonders deutliche Beispiele der gängigen Auffassung findet man bei Ludulphus de Saxonia: ›Vita Jesu Christi‹, hg. von L. M. RIGOLLOT, Bd. 4, S. 118: Unde Hugo a Sancto-Victore: »Ex hoc articulo ubi dictum est: Ecce mater tua, intelligitur, quod Virgo beata non solum Joanni in matrem traditur, imo toti Ecclesiae universisque peccatoribus in matrem assignatur, cum dicitur: Ecce mater tua!, oder im ›Marienleben‹ des Heinrich von St. Gallen: ›O‹, spricht der vorgenant lerer, ›libe Maria, ich getraw deiner barmherczigkeit wol, dastu

Johannes und Maria in den Johannes-Kompendien

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betonen Exegeten und Prediger oft, wie unwürdig Johannes als Stellvertreter Christi sei und wie bedauerlich der Austausch für Maria. Bernard von Clairvaux etwa formuliert dies folgendermaßen: O commutationem! Joannes tibi pro Jesus traditur, servus pro domino, discipulus pro magistro; filius Zebedaei pro filio dei, homo purus pro deo vero! Quomodo non tuam affectuosissimam animam pertransiret haec auditio? (PL 183, 438). Die Autoren der eingangs genannten Predigt-Kompendien sind aber ganz anderer Ansicht: In ihrer Parteinahme für den Evangelisten unterdrücken die Kompendien jeden Hinweis auf den Kontrast zwischen Christus und Johannes, dem filius Dei und dem filius Zebedei. Ganz im Gegenteil – der Autor der vita in der Bamberger Handschrift behauptet, Johannes sei ein würdiger und passender Sohn für Maria: [51v] Es sprichet Sant Augustin von dem wort Ihesu Christi ward Maria vnn Johannes zv ain ander gefvget reht als ain mter vnn ir kint wann Johannes der ward da ain gewvnschter vnd ain gerehter svn vnser frawen von den worten Gots Johannes der ward auch da ein pruder [52r] Ihesu wann Got dem ist kain dink vnmvgleich ze tun.

Und der Autor der anonymen Predigt in der Pommersfeldener Handschrift versichert seinem Publikum, Johannes sei aufgrund der tiefen Affinität zu Maria fähig, für sie zu sorgen: Wäre Johannes der Aufgabe nicht gewachsen, hätte Christus andere Vorkehrungen getroffen. [71v] vnser herre [. . .] beualch sie sant johannes das er sie trostet an sein stat warvmb beualch er sie nicht sant peter oder sant Andreas oder einem engel von seraphim do fugt sich ir nieman als wol zu dienen vnd machte sie auch nieman als getrosten wan het got iemen sunder von dem angenge der welt der sich ir baß gefuogt haet dem het er vnser frawen beuölhn ich wil noch me sprechen er hete e ein heiligen gemachet auß einem staine het er sich ir bas gefügt vnd het im vnßer frawen beuolhen.

Im Anschluß folgt eine umfängliche Liste jener Ähnlichkeiten, die Maria und Johannes verbinden. Ihrer beider Jungfräulichkeit spielt hier eine große Rolle sowie die Tatsache, daß sie beide mit den himmlischen arcana vertraut sind und daß die Engel ihnen beiden zu gewissen Zeitpunkten gedient haben. Am allerwichtigsten ist aber die Überzeugung des Predigers, daß Johannes nicht nur als Adoptivsohn zu sehen sei, sondern daß er sich auf wundersame Weise in das körperliche Kind Mariens verwandelte, als ob sie ihn tatsächlich geboren hätte:

gedenckst, daß dir nit allein Ioahnnes sey entpfohlen worden zu einem sun, sunder auch mich vnd all sunder hat er dir entpfolhen yn der person Iohannis (HARDO HILG, Das ›Marienleben‹ des Heinrich von St. Gallen. Text und Untersuchung (MTU 75), München/Zürich 1981, S. 267f.; s. auch den Kommentar dazu, S. 356). Bei Mechthild von Magdeburg wird die neue Mutterschaft Mariens sogar völlig auf die cristanheit gelenkt, ohne Erwähnung des Johannes: Dar nach in e e miner kintheit sogete ich Jhesum; fu´rbas in miner jugent sogete ich gottes brut, die heligen cristanheit, bi dem cru´tze, da ich also du´rre und jemerlich wart, do das swert der vleischlicher pine Jhesu sneit geistlich in min sele. (Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit, nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung, hg. von HANS NEUMANN (MTU 100), München/Zürich 1990, 1.22, S. 19).

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Annette Volfing

[72r] er was ir aller geleichest Nu geleichet sich der lieb sant johannes vnser frawen aigentlich an vj dengen Das erste ist das er ir sun ist es ist von nature das sich ain iglich kint gleichet seiner müter dauon geleichet sich billich der werde sant johannes vnser frawen wann er ir lieben sun was wann er vnd got habent sam ein muter gemaine.

Dieser Glaube an ein Wunder am Fuß des Kreuzes prägt fast alle Texte in den Kompendien, obwohl einige stärker das Wunderbare hervorheben und dem Publikum vergleichbare Beispiele anbieten, damit es das unfaßbare Ereignis zumindest einordnen kann. So bringt der Autor des ersten Bamberger Traktats einen Vergleich mit der Verkündigungsszene: in beiden Fällen sei die wunderbare ›Niederkunft‹ Mariens durch Worte ausgelöst – bei der Verkündigung durch die Worte des Engels, unter dem Kreuz durch Christi eigene Worte: [23v] ... da Christus am dem crevz sprach weip nim war daz ist dein svn vnd zv dem jvngen nim war daz ist dein mvter mit den worten spricht albertus magnus wart er ain svn der zarten mvter Marien wann wir schvllen merken daz der engel Gabriel her ab gesant wart zu marien von got vnd von den worten wart si ain mvter gotz nv waz daz got als mvgleich zetan daz er selb sprach aus seinen gotleichen mvnde, wann in der geschepft aller creature, wes got gedaht, daz wart [24r] also aber in der gotleichen vnd in der edlen enpflehung da lieff wort vnd gedank mit ain ander vnd da beravwet got e sant Johansen mvter irs natvrleichen suns vnd machet in einen svn der iunkfrawen Marien.

Die Betonung dieser Steigerung (von den Worten Gabriels zu den Worten Christi) vermittelt den Eindruck, daß die zweite ›Niederkunft‹ die wichtigere oder die eindrucksvollere gewesen sei.3 Weiter heißt es dann, Maria habe Christus nur einen sterblichen, wandelbaren Körper verleihen können, während sie Johannes einen unsterblichen und unwandelbaren Körper geschenkt habe, den dieser bei der Aufnahme in den Himmel behalten sollte: [24r] etleich maister sprechent daz got in gotleicher natur ist ain vatter aller creatur wann er si geschaffett hat als ist Christus ein vater aller creature wann er si witer braht hat also ist ain mvter di irm kind gibet ainen toe[24v]leichen leyp also Mag avch mvter sein di irm kind gibet ainen vntoleichen leyp mit irr wirdikait also hat Maria irm svn Christo ainen naturleichen toetleichen leip geben mit leiplicher gebvrt Aber Iohanni hat si gegeben ainen vntoedleichen leip mit irr erherbvng von got vnd ditz ist ain gaystleich geburt mvterhalb vnd leipleich kindes halb wann als Johannes nam von seiner mvter ainen totleichen leip also gepar si Johannem mit irr erwerbung vntötleichkeit des leibs da von als di zart mvter Maria mit leyb vnd mit sel enpfangen ist in den himel also sprechent di lerer daz man tugentleich gelavben schol daz Iohannes mit leib vnd mit sel geno[25r]men sei in den himel.

Die Formulierung ain gaystlich geburt mvterhalb vnd leiplich kindes halb ist sehr geschickt gewählt, denn während Maria physisch unverändert blieb, soll 3

Siehe auch Pommersfelden, Gräflich Schönbornsche Bibliothek, Ms. 120, 95r: Sie gebar vnsern herrn Ihm Xpm mit grosse frewde vnd glorie Aber sant Johannes den gebar sie in den grosten sere vnd bitterkait ... Vnsern herren Ihm Xpm den speiste sie mit leiplicher speise Aber sant Johannes den speiste sie mit gaistlicher speise.

Johannes und Maria in den Johannes-Kompendien

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sich die körperliche Konstitution des Johannes in solchem Maße verwandelt haben, daß er nun seiner neuen Mutter ähnelte – so jedenfalls die eben zitierte Pommersfeldener Predigt.4 Hinzu kommt, daß diese körperliche Wandlung als Analogon zur Eucharistie dargestellt wird: Johannes wird dabei mit der Transsubstantion verglichen. Diesen Ansatz hat ein Autor aus dem Pommersfeldener Kompendium, Heinrich von Schaffhausen, besonders deutlich zum Ausdruck gebracht (Pommersfelden, Ms. 120): [79v] do sprach er zu vnser frawen frawe sich da dein sun vnn sprach ze sant johannes Sich da dein muter vnd als er an dem abende do er das brot segenet den worten die er sprach die kraft gab das sich brot vnd wein verwandelt in sein heiligen fronleichnam vnn den selben gewalt ließ er seinen iungen vnd allen [80r] priestern in der cristenhait wenn sie begent daz ampt der heiligen messe ... also gab er den gewalt den worten die er zu vnser frawen vnd ze sant johannes sprach ... in der selben stunde verwandelten sant johannes flaisch vnd blut in das blut unser frawen vnd von der stunde das got die wort gesprach da was sant iohannes als eigentlich vnser frawen sun als ob sie in getragen vnd geborn het.

Eine sehr ähnliche Textstelle findet sich im Kompendium der Karlsruher Handschrift.5 Da Johannes derjenige Evangelist ist, den man wegen seiner Vision auf der Brust Christi am ehesten mit der Eucharistie verband, und dem man ein besonderes Verständnis für die Sakramente zuschrieb, wirkt der Ansatz, er habe eine sakramentale Verwandlung am eigenen Körper durchgemacht, besonders einfallsreich. Er unterstützt auch die Annahme, Johannes sei befähigt, der Welt Anweisung über die Sakramente zu erteilen.6 Die Analogie selber stammt aus einer Predigt von Petrus Damianus (PL 144, 868): Sicut enim dixit matri: »Hic est filius tuus« ita dixit discipulis »Hoc est corpus meum«. Et tantus fuit in illis verbis effectus ut idico panis ille quem dabat Dominicum fieret corpus. Dixit enim, et om ia facta sunt; mandavit, et creata sunt. Et quadam itaque similitudine, si dicere audeamus, et B. Joannes non solam filii potitus est nomine, sed propter verba illa Dominica, quoddam majus necessitudinis sacramentum apud beatam Virginem meruit obtinere. 4

In einigen Predigten liest man, daß Johannes nach der Verwandlung noch schöner als Adam gewesen sei – ein Merkmal, das sonst nur von Christus und Maria geteilt wird. Siehe Pommersfelden, Gräflich Schönbornsche Bibliothek, Ms. 120, 80r (inhaltlich fast identisch mit Karlsruhe, Badische LB, St. Peter pap. 21, 194r): Nvn spricht ein ander meister daz Adam der lv¨tseligst vnn der schoenste mensch waz von natürlicher schoen der ie geboren wart vnn spriecht der selb lerer daz vnser liebe fröw vnn jr svn unser her Ihesus gelich waren Adam den got selber gemachet hat e e e mit siner hand an aller schone wann sy warent schoner denn je monsch wurde So spricht Sanct e e Ignacius daz Sanct Johannes Erv¨ng vnser lieben frowen lieber waz denn je kein kint siner muter unn daz er gelich waz als ob er nach ir geformet vnn gebildet were. 5 Karlruhe, Badische LB, St. Peter pap. 21, 165r: Die wort die vnser behalter christus an dem crücze sprach Froew Nim war dinen svn Vnn sprach zue dem jvngen Sant Johannes Nim war din e e muter die wort sint nit als einvaltiklich zenemen vnn zu verstand als werent sy von einem lutern e e monschen gesprochen svnder die wort sint mit ein ander kreftig vnn recht vol gotlicher tugenen vnn goetlicher warheit ... [165v] also sprach er oech zue sinen jungern an dem abent essen daz ist e min lip vnn jn den worten waz als vil kraft daz daz brot daz er inen gab ze stvnd der gotlich lichnam wart. 6 ANNETTE VOLFING, The authorship of John the Evangelist as presented in medieval German sermons and Meisterlieder, Oxford German Studies 23 (1994), S. 1–44, hier S. 20.

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Während Petrus Damianus sich aber damit begnügt, die Funktionsparallelität der beiden Stellen kurz zu erwähnen, bevor er ein neues Thema anschneidet, entwickeln die deutschen Predigten ein stärkeres Interesse an den Konsequenzen des Wunders.7 So bestehen sie darauf, daß Johannes nun wie Maria aussehen müßte. Auch betonen sie den Kontrast zwischen einem geistigen Mutter-KindVerhältnis (vom Gesichtpunkt Mariens) und einem körperlichen (vom Gesichtpunkt des Johannes). Obwohl in den Predigten großes Gewicht auf das übernatürliche Mutter-Sohn Verhältnis gelegt wird, zeigen sie auch ein ausgeprägtes Interesse für die ursprüngliche Abstammung des Johannes und geben ausführliche Auskünfte über die heilige Sippe und die drei Töchter der Anna.8 Diese Angaben wirken vielleicht etwas überflüssig – wenn Johannes sich in den körperlichen Sohn Mariens verwandelt hat, kann man es für relativ unwichtig halten, daß er früher ihr Neffe war. Trotzdem gehört das Aufreihen dieser engen Blutsverwandschaften zum festen Bestand der Privilegien des Evangelisten. Der Autor des ersten Bamberger Traktats versteigt sich hier in eine höchst spekulative Argumentation. Sie soll zeigen, daß Maria, der einzige menschliche Elternteil des Johannes, sowohl als Mutter als auch als Vater zählt und daß die Verwandtschaft Christi zu Johannes ebenfalls doppelt anzurechnen sei – väterlicher- und mütterlicherseits: di edel mvter Maria di het als vil gesippe zu irm zarten svn Christo als zu ainem andern kint vater und mvter wann alles daz di selben stendikait des leibs an andern kinten nimt von vater vnd von mvter daz nam Christvs allein [4r] von seiner zarten mvter. da von waz si im mer dann ein ander mvter irm kint. also waz Johannes Christo von seiner mvter zwir gesippe da von het er auch magschaft zu dem ewigen wort vnd zu dem vnderstivel oder austal der gotleichen person ... (Bamberg, SB, Hist. 153, 3v)

Die Vorliebe dieses Autors für komplizierte Familienbeziehungen erstreckt sich auch auf die Zeit nach der Verwandlung: Johannes wird nicht nur als ein Bruder Christi beschrieben,9 sondern auch als der Sohn Gottes, nahend gesippe dem 7

Die Stichhaltigkeit der eucharistischen Analogie wird nicht von allen Theologen akzeptiert. Johannes von Paltz z. B. argumentiert explizit dagegen: Propter ista quidam dixerunt, quod ista verba Christi fuerint tante efficaciae, quod mox a Christo prolata effecerunt, ut Maria esset vera mater Ioannis secundum naturam et substantiam, quia verba Christi transsubstantiant, ut patet in sacramento altaris. Et videntur ad hoc sonare quaedam verba Bernhardi: O quanta mutatio etc. Sed ista opinio non placet venerabili Simoni de Cassia, unde dicit: Quamvis »deo nihil sit impossibilie«, tamen ista »mutatio non est transmutation«, scilicet naturae in naturam, sed naturae in gratiam manente natura ... Non desinet esse Ioannes filius corruptae matris [d. h. der Maria Salome]. (Johannes von Paltz: Werke I: Coelifodina, hg. von CHRISTOPH BURGER/FRIEDHELM STRAUCH (Spätmittelalter und Reformation: Texte und Untersuchungen 2), Berlin/New York 1983, S. 80). Dieses spätmittelalterliche Beispiel zeugt aber auch von der Dauerhaftigkeit der eucharistischen Analogie. 8 Z. B. Karlsruhe, Badische LB, St. Peter pap. 21, 20r, 155v (er waz öch vnseren herren oehen), 192rv; Pommersfelden, Gräflich Schönbornsche Bibliothek, Ms. 120, 48v, 82r. G. M. LECHNER, Heilige Sippe, Marienlexikon, hg. von REMIGIUS BÄUMER/LEO SCHEFFCZYK, Regensburg 1988– 1994, Bd. 6 (1994), Sp. 175–179. 9 Das Bruderverhältnis zwischen Johannes und Christus wird manchmal als Grund dafür angege-

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heiligen gayst (26r) und als gar veraint mit den gotleichen personen (26v). Dies ist nicht einfach eine amplificatio des Grundgedankens, alle Menschen seien durch Christus als Kinder Gottes zu betrachten – din mennischeit mir sippe gıˆt, wie Wolfram es im ›Willehalm‹ 1,19 formuliert.10 Diesen Predigern geht es nicht darum, die Allgemeingültigkeit der Gotteskindschaft11 zu betonen: Im Gegenteil, sie sehen die Verwandlung des Evangelisten als ein einzigartiges und deshalb auch exklusives Ereignis.12 Johannes ist hier keine Gestalt, mit der sich jeder unmittelbar identifizieren kann, sondern das schon prominente Mitglied einer geistigen Elite, welches eine zusätzliche Auszeichnung erfährt. Die Betonung der Heiligen Sippe führt dazu, daß die Aufmerksamkeit des Publikums auf Maria Salome, die natürliche Mutter des Johannes, gelenkt wird.13 Die Zuhörer mögen sich also gefragt haben, wie diese für ihren mütterlichen Ehrgeiz bekannte Gestalt wohl auf die neue Sohnschaft des Johannes reagiert hat – bekanntlich hatte Maria Salome Christus darum gebeten, ihren beiden Söhnen Sitze auf jeder Seite des Heiligen Throns zu versprechen. Im eben zitierten Bamberger Traktat konstatiert der Autor rundheraus, Maria Salome werde aus der Mutterrolle verdrängt: [24r] da beravwet got sant Johansen mvter irs natverleichen suns. Heinrich von Schaffhausen erwähnt auch die Aberkennung ihrer Mutterrechte: [80r] da was sant johannes als aigentlich vnser frawen sun als ob sie in getragen vnd geborn het vnd was hie von aigentlicher vnser frawen sun dann der frawen von der er geborn wart.

Eine Predigt im Karlsruher libellus gibt aber eine erfreulichere Darstellung des Konflikts. Es wird erzählt, wie Maria und Josef nach ihrer Rückkehr aus Ägypben, daß die Geheimnisse des Himmels dem Evangelisten und keinem anderen offenbart wurden. Z. B. Karlsruhe, Badische LB, St. Peter pap. 21, 258r: Er ist sin brüder vnn sin heimlicher rat geb vnd sin aller leipster fründ Nun hab ich geseit wie sant Johannes vnser lieben frowen sun ist von der kraft gottes wort die er mit jm ret an dem crütze so ist er öch vnsers herren brüder was tüt nvn ein brüder dvrch den andren Er het jn lieb vnn eret jn vß genomenlich vnn offnet jm sin heimlichkeit vnn git jm sin erb daz tet vnser herr üch Sant johannes alles sament. Der mögliche Einwand, Johannes sei noch nicht verwandelt worden, als er beim Abendmahl auf der Brust des Herren ruhte, bleibt außer Betracht – vielleicht, weil Gott dieses Bruderverhältnis schon ab aeternitate vorausgesehen hat: s. Pommersfelden, Gräflich Schönbornsche Bibliothek, Ms. 120, 79r: mit dem worte gab er vnser frawen sant johannes ze einer muter vnn offenet die vngemessen minne die der ewige got von angenge der welt fur alle creature sunderlich zu sant johannes het. 10 Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen, hg. von JOACHIM HEINZLE (ATB 108), Tübingen 1994. 11 INGRID OCHS, Wolframs ›Willehalm‹-Eingang (Medium Aevum 14), München 1968, S. 34–39 u. 46–55. 12 Man vergleiche z. B. die hier zitierten Aussagen zur Beziehung zwischen Johannes und Maria mit den scheinbar ähnlichen Aussagen in einer Marienpredigt des Aelred von Rievaulx: Ipse est mater nostra, mater vitae nostrae ... Ideo nobis magis quam mater carnis nostrae (PL 195, Sp. 323). (Zitiert von CAROLINE WALKER BYNUM, Jesus as Mother, Berkeley/Los Angeles 1982, S. 137.) 13 Die Predigt Konrads von Liebenberg (Pommersfelden, Gräflich Schönbornsche Bibliothek, Ms. 120, 61v–69r) fängt mit einer Verteidigung dieser strittigen Bitte an.

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ten bei Zebedeus und Maria Salome gewohnt hätten und daß der Kontakt mit den heiligen Gästen dazu führte, daß der noch ungeborene Johannes im Leib seiner Mutter in solchem Maße geheiligt wurde, daß diese Heiligkeit auch auf seine Eltern überging.14 Die Ähnlichkeiten mit der Baptista-Legende sind natürlich auffällig, und die Hauptfunktion dieser Anekdote bestand sicher darin, möglichen Argumenten für die Vorrangstellung des Baptisten zuvorzukommen: Er war also nicht der einzige, der Christus schon im Mutterleib anerkannt habe. Die Anekdote sollte daneben wohl auch einen frühen Hinweis auf die Vorrechte Mariens geben: Die grundlegende Persönlichkeit des Johannes werde schon hier, und nicht erst in der Kreuzigungsszene, durch den Kontakt mit Christus und Maria geformt. Die Übertragung der Heiligkeit vom Kind auf die Eltern dient auch dazu, ihren Elternstatus zu schwächen: Eigenschaften werden normalerweise von den Eltern auf die Kinder übertragen. Hier aber ist es umgekehrt, und das kann als Indiz dafür verstanden werden, daß das Verhältnis des Kindes zu Christus und Maria als ausschlaggebender betrachtet wird als die Beziehung zu seinen natürlichen Eltern. Die hier erwähnten Predigten tendieren eher dazu, den Evangelisten als außergewöhnlich und exotisch erscheinen zu lassen, als daß sie ihn als eine Gestalt darstellen, mit der man sich leicht identifizieren könnte: Den Zuhörern stand die Möglichkeit ja nicht offen, selbst eine leibliche Verwandlung mitzumachen. Sie mußten sich mit einer allgemeineren, geistlichen Version der Gotteskindschaft begnügen und dieser Statusunterschied zwischen ihnen und dem Heiligen mag befremdlich gewirkt haben. Dagegen ließe sich einwenden, daß die meisten Nonnen mindestens eine der für das Johannes-Maria-Verhältnis wichtigsten Eigenschaften geteilt haben, nämlich die Jungfräulichkeit. Aelred von Rievaulx hatte die Kontemplation der Kreuzigungsszene mit Christus, Maria und Johannes empfohlen – ut cogites quam grata sit Christo utriusque sexus virginitatis (PL 32, 1463) – und die Predigten machen klar, daß nur ein jungfräulicher Mensch dazu geeignet war, die Verantwortung für Maria zu übernehmen (z. B. Heinrich von Schaffhausen, Pommersfelden, Gräflich Schönbornsche Bibliothek, Ms. 120: [80v] Die maget wart von rechte geben der megde ze dienst vnn ze einem andern sun das der schein ir beder keuschait glast wider ain ander).15 Diese Betonung der Jungfräulichkeit ermöglicht gewissermaßen Identifikation und imitatio: die Predigten beschreiben die neu gewonnen Privilegien einer vollkommenen Jungfrau, einer Super-Virgo, die zwar nicht völlig nachgeahmt werden kann, von der sich die jungfräulichen Zuhörer aber auch nicht völlig abgeschnitten fühlen mußten. Die Einzelheiten, die die ursprünglichen Familienverhältnisse betreffen, dienen vielleicht gerade dazu, die großen Unterschiede zwischen Johannes und gewöhnlichen Jungfrauen zu rechtfertigen: da er, genealogisch gesehen, von einem höheren Niveau angefangen habe, sei es auch ange14 15

Karlsruhe, Badische LB, St. Peter pap. 21, 192v–194v. Ähnliches in Karlsruhe, Badische LB, St. Peter pap. 21, 164v. Vgl. Hieronymus, PL 23, Sp. 259: Virgo virginem virgini commendavit.

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messen, daß er bedeutendere Privilegien erlangt habe. Schließlich mögen die Nonnen den Abbruch der Bindung zwischen Johannes und seiner ursprünglichen Mutter mit ihrer eigenen Berufung zum Klosterleben verglichen haben: er hat eine neue Mutter erhalten, genau wie sie im Kloster neue, geistliche Familienbeziehungen eingegangen worden sind.16

II Ich möchte nun von der Interpretation von Einzelstellen zur allgemeinen Darstellung des Zusammenwirkens von Johannes und Maria übergehen. Johannes ist eine Gestalt, die oft in Konfiguration mit einem anderen männlichen Heiligen erscheint. Bei dieser Zuordnung spielen Fragen von Rang und Rivalität eine nicht unbeträchtliche Rolle. Im einfachsten Fall wird die Vorzüglichkeit des Evangelisten auf Kosten eines weniger erfolgreichen Rivalen gepriesen: Der karolingische Gelehrte Johannes Scotus Eriugena zum Beispiel beteuert, Johannes sei in der Kontemplation weiter fortgeschritten als Paulus und in der Vermittlung des Evangeliums erfolgreicher als jener. Aelred von Rievaulx belegt ihn mit Komparativen wie sublimior Petro, Andrea sanctior, caeteris omnibus Apostolis sanctior.17 Dieses einfache Schema scheint typologische oder allegorische Gegensätze zu variieren, wenn etwa Petrus die vita activa verkörpert und Johannes die vita contemplativa; oder wenn Johannes der Täufer für das Alte Testament steht und Johannes der Evangelist für das Neue.18 In diesen Fällen 16

BYNUM [Anm. 12], S. 145f., zeigt, daß die Metaphorik der Mutterschaft im religiösen Kontext (Christus, Maria oder der Abt als Mutter) oft mit einem Gebot zusammenfallen, die irdische Mutter zu verwerfen. Zum Gebrauch dieser Metaphorik in Klöstern s. auch MATTHÄUS BERNARDS, Speculum Virginum. Geistigkeit und Seelenleben der Frau im Hochmittelalter, Köln/ Wien 21982, S. 141–143, u. CLAUDIA OPITZ, Evatöchter und Bräute Christi. Weiblicher Lebenszusammenhang und Frauenkultur im Mittelalter, Weinheim 1990, S. 70–78. In diesem Zusammenhang fällt auf, daß Heinrich von Schaffhausen Maria als Priorin darstellt und Johannes als Prior von 72 Jungfrauen (Pommersfelden, Gräflich Schönbornsche Bibliothek, Ms. 120, 86r); s. HANS-JOCHEN SCHIEWER, Die beiden Sankt Johannsen, ein dominikanischer Johannes-Libellus und das literarische Leben im Bodenseeraum um 1300, Oxford German Studies 22 (1993), S. 21–54, hier S. 38f. 17 Aelred von Rievaulx, PL 32, Sp. 1468. Eriugena bietet einen ausführlichen Vergleich zwischen Johannes und Paulus: Home´lie sur le prologue de Jean. Introduction, texte critique et notes, hg. von EDOUARD JEAUNEAU (SC 151), Paris 1969, S. 218–220; s. auch VOLFING [Anm. 6], S. 15f. 18 Typologische Beziehungen bestehen auch zwischen Johannes und einigen Gestalten aus dem Alten Testament, z. B. Jakob und Benjamin. Zu Johannes und Jakob, s. RAINER HAUSHERR, Christus-Johannes-Gruppen in der Bible moralise´e, Zeitschrift für Kunstgeschichte 27 (1964), S. 133–152. Die Johannes-Benjamin-Beziehung erwähnt Jacomijne Costers (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, s. n. 12827, 90r): S. Joannes die slapt en rust op dat saechtmoedich hert ons Heeren Jesu Christi. Hier is Beniamin den jongelinck op gevoert in verheffinge sijns geests, hier leet Jacob en rust slapende op den steen ende siet die verholentheit Godts, hier cleet en verciert den schoonen Joseph Beniamin, sijnen broeder, met vijf costelijcken stoelen, waer mede hij hem ge-eert heet bouen sijn mede broederen, hier wort heymelijk in Beniamins sack gesteken die gulden schael daer Joseph wt plech [90v] te drincken en te propheteeren. Dit is de schael van dat H. euangelium, d’welck den wtverco-ren apostel Joanns gesogen heeft wt Christus borst, daer alle geloouige sielen wt nemen geloof, kennisse en minne tot Godt (Ich bin Wybren F. Scheepsma dankbar für seine Abschrift dieses Textes).

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gelten beide Möglichkeiten als würdig, doch deutet sich eine größere oder wichtigere Bedeutung des Evangelisten an.19 Anders verhält es sich mit der Beziehung zwischen Johannes und Maria. Diese unterscheidet sich grundsätzlich von der Gegenüberstellung mit einem männlichen Konkurrenzheiligen – was nicht überraschen dürfte, wenn man die Rang- und Geschlechtsunterschiede mit in Betracht zieht.20 In diesem Fall, und nur in diesem, scheint die litarische Herausforderung für die Autoren darin bestanden zu haben, statt der Gegensätze Ähnlichkeiten zum Ausdruck zu bringen. So wird in der Konstellation von Johannes und Maria eine wundersame Übereinstimmung körperlicher Züge hervorgehoben. Ferner zeigt sich ein grundlegender Parallelismus in der Auslegung ihrer Rollen und Attribute.21 Manche Prädikate sind abgesehen von Unterschieden im grammatischen Genus identisch: So ist Maria vnser fursprecherin, Johannes ain fur sprach aller der welt; Maria ein kunigin der engel, Johannes ein herre der engel (Pommersfelden, Gräflich Schörnbornsche Bibliothek, 72r).22 Auch die Metaphern, mit denen die Rollen und Aufgaben der beiden Heiligen bezeichnet werden, sind analog ausgelegt: Heinrich von Schaffhausen etwa wendet für beide Emanations- und Flußmetaphorik an. So heißt es über Maria zum Beispiel: [79v] wann sie ist geseczet enzwischen got vnd die engel vnd enpfahet alle zeit den ersten frewd der genade von dem brunnen des lebens vnd gusset den in die engel.

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Zum besonderen Problem der Gegenüberstellung der beiden Johannsen s. MARTINA WEHRLIJOHNS, Das Selbstverständnis des Predigerordens im Graduale von Katharinenthal. Ein Beitrag zur Deutung der Christus-Johannes-Gruppe, in: Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität, hg. von CLAUDIA BRINKER/ALOIS M. HAAS, Bern 1995, S. 241– 271; zur Ikonographie s. auch CHRISTIAN HECK, Rapprochement, antagonisme, ou confusion dans le culte des saints. Art et devotion a` Katharinenthal au quatorzieme sie`cle, Viator 21 (1990), 229–238. 20 Die Beziehung zu Maria, deren absolute Vorrangstellung nie in Frage gestellt wird, dient als Beweis für den Vorrang des Evangelisten unter den männlichen Heiligen, z. B. in Karlsruhe, Badische LB, St. Peter pap. 21, 18r: Do von spricht aber Petrus Damiani zü welem der appostolen oder zü welem der Engelen ist je gesprochen worden Ecce mater tua. Nim war din müter, oder Bamberg, SB, Hist. 153, 23r: Daz legt avs bernhardus vnd sprichet nach der edlen naigvn vnd nach der suzzen ruwen auf des maisters prust da Johannes sah in dem anvang waz daz wort zu flaisch ist worden [enpfohlen wart] wann Petro wart enpfohlen di cristenhait Johanni Maria e petro die vnrwleich gescheft Johanni di fridleich rvwe Petro wart enpfolhen daz auzzer tail des tempels avs Johanni als ain warer bischof der inner alter der heilikait in dem da beschlozzen waz di war heilikait. Der Kontakt zu Maria dient auch als Argument für den Evangelisten bei Heinzelin von Konstanz: Von den zwein Sanct Johansen, in: Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts, Bd. 1, München 1977, S. 375–392, hier S. 386. 21 Dieser Parallelismus in den Rollen der beiden kann vielleicht auch als Erklärung für die Anwendung des Terminus cancellaria in Bezug auf Maria dienen, da cancellarius eine häufige Bezeichung für Johannes ist. Zu cancellarius s. VOLFING [Anm. 6], S. 33f.; zu cancellaria s. KARL SCHREINER, Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit. Bildungs- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zur Auslegung und Darstellung von ›Mariä Verkündigung‹, Frühmittelalterliche Studien 24 (1990), S. 314–368, hier S. 364. 22 Johannes wird mehrmals mit den Engeln verglichen oder sonst in Verbindung gebracht, z. B. Pommersfelden, Gräflich Schönbornsche Bibliothek, Ms. 120, 84r; Karlsruhe, Badische LB, St. Peter pap. 21, 154v; Bamberg, SB, Hist. 153, 78r.

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Ähnlich wird auch Johannes zugesprochen, daß er hohe weißhait ... gossen hatt durch alle die welt da von spricht petrus damianus Es ist das grosse wasser das da flusset auß dem paradeiß [84r].

Selbst im Zusammenhang mit dem Inkarnationsgeschehen lassen sich Übereinstimmungen zwischen beiden Heiligen greifen, die in Richtung einer funktionellen Ergänzung weisen: Maria habe das Wort geboren, Johannes hingegen habe es in seinen Schriften zum Ausdruck gebracht. Nach diesem Muster formuliert beispielsweise der Pommersfeldener libellus: [53v] Maria gebar Xpn gottes den enpfieng sie von der wurckung des heiligen gaistes. Die selben geburte offenet vnd künte der himelische vnd der lautter mensch Johannes nach der underweisung des heiligen gaistz.

Vergleichbares bietet Karlsruhe, Badische LB, St. Peter pap. 21: [5v] Dorvmb wann er von got züglichlichen allen tötlichen het geret so wirt er nit allein von den kriechen me öch von den latinschen genent theologus daz ist ein götlicher ader ein got bekenner Maria wirt genant theothoras daz ist ein göttin wann si warlich got het geboren Aber Johannes wirt genant ein götlicher wann er daz ewig wort gottes mit der aller tieffesten svbtilheit hat beschriben.23

Eine weitere Methode, die Ähnlichkeit zwischen den beiden zu betonen, besteht darin, Prädikate oder Bibelzitate, die für eine Gestalt charakteristisch sind, auf die andere zu übertragen. Zum Beispiel meint der Autor des ersten Bamberger Traktats, Gabriels Worte aus der Verkündigungsszene könnten sich genauso gut auf Johannes beziehen: da von mvg wir avch sprechen von im daz wort daz Gabriel sprach von der zarten ivnk[7v]frawen Marien dv hast fvnden genad vor dem herren als in Lvca geschriben stat.

Wo Christus als drittes Element in dieser Konfiguration auftritt, ergeben sich noch reichere Möglichkeiten der Übertragung und Substitution. Etwa dann, wenn Johannes im Verhältnis zu Maria die Rolle Christi übernimmt oder wenn Maria im Verhältnis zu Johannes an Christi Stelle tritt. Man findet mehrere Beispiele dafür, wie Johannes Christus ersetzt. Die Ausdrücke, mit denen Heinrich von Schaffhausen die Beziehung Mariens zu Johannes kennzeichnet, sind üblicherweise ihrem Verhältnis zu Christus vorbehalten. Indem sie sich mehrmals ein muter der schönen mine (z. B. 80v) nennt, bemächtigt sie sich der Ausdrücke der Weisheit aus Sir 24,24 (Ego mater pulchrae dilectionis). Doch geschieht dies nicht – wie zu erwarten wäre – um ihr Verhältnis zu Christus zu chrakterisieren, sondern um die Tatsache zu betonen, daß sie die Mutter des Johannes sei. Johannes ersetzt Christus auch als sponsus aus dem Hohelied (Ct 5,10). So in Karlsruhe, Badische LB, St. Peter pap. 21, 18v: 23

Die Gegenüberstellung von theologus und theothoras beruht auf Petrus Damianus, PL 144, Sp. 860.

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Vnn von jm mag wol gesprochen werden daz geschriben stet jn der mine büch Dilectus meus candidus et rubicundus.

Ferner im Pommersfeldener libellus, 37v: Das merken wir dan dem wort Das der heilig gaist von im spricht Mein geminter ist rot Sant Johannes was rot var Wann er was enzündet vnd glüttig vnn bran in der flamme gotlicher minne.

Allerdings sind diese Beispiele von der häufig anzutreffenden Identifikation des Johannes mit der sponsa zu unterscheiden, wie sie beispielsweise in der Ikonographie der Christus-Johannes-Gruppe begegnet.24 Wieder anders liegen die Verhältnisse, wenn Maria Christus teilweise ersetzt und einen Teil seiner Verantwortung für Johannes übernimmt: Sie soll Johannes geistig ernähren und ihm die materia für seine Schriften geben. In einer Predigt Konrads von Liebenberg aus dem Pommersfeldener libellus, verschmilzt das bekannte Bild von dem aus der Brust Christi trinkenden Johannes mit einer allegorischen Darstellung, die zeigt, wie Johannes aus Maria trinkt.25 Es liegt hier kein traditionelles Maria lactans Motiv vor, das dazu dienen könnte, die Mutter-Sohn-Verbindung zu unterstreichen. Vielmehr handelt es sich um eine kompliziertere, collageartige Kombination verschiedener Bilder und Situationen, die sich alle auf den Wein der Eucharistie beziehen: der bittere Kelch aus Mc 10,38 und Mt 20,22, der Weinkeller, in den die sponsa in Ct 2,4 geführt wird, und der gesamte eucharistische Kontext der Johannesvision. Johannes wird zum Kellermeister dieses allegorischen Weinkellers stilisiert, der über viele verschiedene Weinfäßer verfügen darf. Das erste Faß, aus dem er trinkt, ist das Herz Mariens, das ihn mit manchen hohen leren bereichert. Erst danach wendet er sich dem Herzen Christi zu: [64r] Der konig hat mich gefüret in sein wein keller vnd hat sein minne in mir ged[e]cket diß wort mag niemant aigentlich gesprechen wann sant johannes alleine ... [64v] Das erste vas dar vber vnßer here sant johannes saczte das was vnser fraw von himelreich in den alle selikait alle genade vnd alle wunne beslossen ist ... er sog in sich von ir munde vnd tranck von irm herczen manig hohe lere ... [65r] Das ander vas dar vber vnser herre sant johannes saczt das was nit anders wann sein selbes hertz in dem da versigelt vnd verborgen seint alle die hord der kunst vnd der weishait vnd alle der reichtum vnd das gut das die hohe driualtikait ewikleich in ir selben verborgen vnd beslossen hat. 24

Vgl. HANS WENTZEL, Die ikonographischen Voraussetzungen der Christus-Johannes-Gruppe und das Sponsus-Sponsa-Bild des Hohen Liedes, Heilige Kunst – Jahrbuch des Kunstvereins der Diözese Rottenburg, Stuttgart 1952, S. 6–21; RAINER HAUSHERR, Über die Christus-JohannesGruppen: Zum Problem ›Andachtsbilder‹ und deutsche Mystik, in: RÜDIGER BECKSMANN/ULFDIETRICH KORN/JOHANNES ZAHLTEN (Hgg.), Beiträge zur Kunst des Mittelalters: Fs. für Hans Wentzel zum 60. Geburtstag, Berlin 1975, S. 79–103. Im ›Speculum Virginum‹ wird Johannes auch mit der sponsa verglichen, s. ELEANOR S. GREENHILL, The Group of Christ and St. John as Author Portrait: Literary Sources, Pictorial Parallels, in: JOHANNE AUTENRIETH/FRANZ BRUNHÖLZL (Hgg.), Festschrift Bernhard Bischoff, Stuttgart 1971, S. 406–416; SCHIEWER [Anm. 16], S. 36. 25 HUGO RAHNER, De dominici pectoris fonte potavit, Zeitschrift für katholische Theologie 55 (1931), S. 103–108.

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Normalerweise gilt die Johannesvision an der Brust Christi als ausreichende Erklärung für die besonderen theologischen Leistungen des Johannes. Im vorliegenden Fall aber wird angedeutet, daß auch der Einfluß Mariens eine wichtige Rolle gespielt hat. Rudolf von Klingenberg (ebenfalls ein Autor des Pommersfeldener libellus) erachtet sogar das gemeinsame Leben von Johannes und Maria nach der Kreuzigung als eine hinlängliche alternative Erklärung für die theologischen Geheimnisse, die in seinem Evangelium zum Ausdruck kommen: [95r] Vnsern herren Ihm Xpm den speiste sie mit leiplicher speise Aber sant Johannes den speiste sie mit gaistlicher speise wan da ist chain zweifel an er wurd dick gespeiset von den sussen vnd gotleichen worten die da giengen von irm magetlichen munde wann sie wern dicke bei ein ander mit manigen minniklichen vnd heiligen kose vnd wann vnser frawe der gothait mer jnne was worden vnd si der lauterlich erkant den ie chain creature ... Nu wen die lerer das sant Johannes seiner weishait vnd seiner kunst vil von vnser frawen neme vnd das er seiner scrift vil geschriben hab von ir lere

In der Bamberger Legende legitimiert sich der angebliche Beitrag durch die Einführung des Motivs eines Himmelsbriefes – oder, genauer gesagt, eines Briefes, den Christus geschrieben haben soll, während er noch auf Erden war.26 Als Maria sich auf ihren unmittelbar bevorstehenden Tod vorbereitete, soll sie Johannes zu sich gerufen haben: [68v] vnd gab ym ze letze den brief den ir vnser herre ir liber svn vor seiner marter het gegeben den selben prief het vnser liber herer Jesus Christus mit seiner hant selber geschriben In dem preif stvnden geschriben die grozzen gotleichen tavgen vnd da sprach si Johannes du scholt disev dink offenparen vnn kvnt tvn den frevnten vnsers heren

Die wiederholt vorgebrachte Aussage,27 Johannes sei durch den Kontakt mit Maria gereinigt und geheiligt worden, erstaunt wenig. Dagegen ist die Aussage, sie habe auf seine Schriften eingewirkt – sei es als oberste Autorität oder nur als Vermittlerin – tatsächlich überraschend, trotz der Gemeinplätze, die Maria mit Büchern und mit Schriftlichkeit in Verbindung setzen, denn diese Gemeinplätze laufen zumeist nur auf eine allegorische Objektivierung hinaus. Maria wird dabei als Buch gesehen, das man lesen und deuten könne, oder als Pergament, dem das Wort Gottes eingeschrieben wurde.28 26

L. BÖER, Briefe, Marienlexikon [Anm. 8], Bd. 1 (1988), Sp. 584–589. MICHAEL STOLZ, Maria und die Artes liberales. Aspekte einer mittelalterlichen Zuordnung, in: Maria in der Welt. Marienverehrung im Kontext der Sozialgeschichte 10.–18. Jahrhundert, hg. von CLAUDIA OPITZ [u. a.], Bern 1993, S. 95–120, hier S. 106–109, erwähnt ein Prager Briefmuster mit einem Brief, in dem Maria sich angeblich an einen Studenten der Rhetorik wendet. 27 Pommersfelden, Gräflich Schönbornsche Bibliothek, Ms. 120, 37r: Die zarte maegt Maria wart besoget vnd behut von dem guten sant Johannes Die mägde von der mägde sant Johannes besorget vnser frawe an leiplichen notdurften vnd nam er von ir daß bilde vnd forme aller heilikait vnd zu nemen rechter rainikait also daz er von sein emsigen beywonung vnd ir heimliche vnd von ir guten vnd sussen worten die er stettiglich von irem munde hort ze also grosser heilikeit vnd ze als vnseglicher volkomener rainikeit gezogen wart daß er dauon alle heilige billich e vbertriffet an magtlicher rainikait. 28 Zur Darstellung Mariens als Buch s. HILG [Anm. 2], S. 132–143 and S. 323–327. In Karlsruhe,

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Annette Volfing

Hinzu tritt die Tradition, nach der Maria den Verfassern geistlicher Dichtung bei der Inspiration behilflich ist – aber immer nur aus der himmlischen Ferne, lange nach ihrer assumptio.29 In den vorliegenen Texten aber übt Maria ihre Einwirkung noch während ihres Erdenlebens aus, hauptsächlich als Folge ihres persönlichen Beispiels, ihrer Handlungen und ihrer Lehrtätigkeit. In der Himmelsbrief-Anekdote wird sie zum Bindeglied zwischen Christus und Johannes, und diese Rolle betont ihre Nähe zu den beiden Gestalten: indem sie theologische Kenntnisse an Johannes vermittelt, ähnelt sie Christus – aber wie Johannes empfängt auch sie letztlich ihre Weisheit von einer höheren Instanz. All diese Beispiele von Substitution und Rollentausch dienen im Grunde genommen nur einem Zweck, nämlich den Status des Evangelisten aufzuwerten: Wenn die Gesamtwirkung ist, eine gewisse Gleichheit oder sogar Austauschbarkeit unter Christus, Maria und Johannes anzudeuten, so deutlich, daß letzterer die größte Aufwertung oder hierarische Beförderung genießt. Ich hoffe, gezeigt zu haben, mit welcher Vielfalt an literarischen Methoden und Kunstgriffen dieser Zweck verfolgt wurde. Besonders auffallend ist, daß innerhalb der Predigt die spekulative Exegese und innerhalb der Legende die Erzählung sich gegenseitig ergänzen, wenn es darum geht, die Nähe des Johannes-Maria-Verhältnisses zu unterstreichen. Musterbeispiele liegen vor, wenn die eucharistische Interpretation von Ecce filium tuum sich in einer konkreten Veränderung der Erscheinung des Johannes spiegelt; oder wenn zwei höchst verschiedene narrative Modi, so wie die Beschreibung des allegorischen Kellers und die apokryphe Erzählung vom Himmelsbrief, beide einem grundlegenden Zweck dienen – nämlich, zu erklären, daß die Entstehung des Evangelium nicht nur durch die Johannesvision ermöglicht worden sei, sondern auch durch das besondere Zusammenwirken der zwei Jungfrauen, die Christus am meisten geliebt hat.

Badische LB, St. Peter pap. 21, 18r wird auch Christus als Buch dargestellt, und Johannes als gemaltes Bild (vielleicht eine Buchminiatur): Christus der do ist daz büch des lebens jn dem mit der vederen des heligen geistes mit der hant des vatters vnn mit der tinten der gotheit ist geschriben daz ewige wort des lebens der het vß gesprochens vnn versicheret diß testament Wir sehent so der maler [18v] daz bild entworffen het darnoch zieret er es mit vil schönen vnn kospern vorwan vnn bringet es zü siner volkomenheit Also der selig Johannes ist gewesen ein bild gottes gezieret mit vil varwen Mit wiß schinender varw der jvnpfröwlicheit mit gvldener varw vstentlichen clarheit Vnn von jm mag wol gesprochen werden daz geschriben stet jn der mine büch Dilectus meus candidus et rubicundus electus. Siehe auch SCHREINER [Anm. 21] u. HORST WENZEL, Hören und Lesen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 270–291. 29 Z. B. erscheint Maria (in Zusammenarbeit mit Gott) als Inspirationsinstanz in den Werken Heinrichs von Mügeln, s. MICHAEL STOLZ, ›Tum‹-Studien: Zur dichterischen Gestaltung im Marienpreis Heinrichs von Mügeln, Tübingen/Basel 1996, S. 172–183, u. ANNETTE VOLFING, A Commentary on Heinrich von Mügeln’s ›Der meide kranz‹ (MTU 111), München 1997, S. 15.

Martina Wehrli-Johns

Das ›Exemplar‹ – eine Reformschrift der Dominikanerobservanz? Untersuchungen zum Johannesmotiv im ›Horologium‹ und in der ›Vita‹ Heinrich Seuses

et secundum hoc in his verbis ›sic eum volo manere‹ significatur perfectio ipsius Iohannis in persona et perfectio futurae vitae in figura. (Eckhart, In Joh. n. 741, LW III, S. 645,12f.)

Die zweite ganzseitige Illustration zu Seuses ›Vita‹ nach der ältesten Handschrift des ›Exemplars‹ aus der ehemaligen Bibliothek der Johanniterkomturei zum Grünen Wörth in Straßburg (Bihlmeyers Leithandschrift A, heute Strasbourg, BNU, cod. 2929, datiert in das letzte Drittel des 14. Jahrhunderts)1 zeigt den Diener der Ewigen Weisheit in sitzender Haltung auf einem altarähnlichen Thron, das Dominikanerhabit soweit geöffnet, daß die Aufmerksamkeit des Betrachters ganz auf das Geschehen im Inneren des Dieners gelenkt wird (Abb. 1). Dessen zentrale Botschaft findet sich oben in der Bilderklärung mit folgenden Worten zusammengefaßt: Er hat mich und ich in minneklich umbvangen, dez stan ich aller creaturen ledig und bin mit in unbehangen. Das Bild nimmt Bezug auf eine Vision aus dem 5. Kapitel der ›Vita‹, das die Überschrift trägt Von dem e vorspil gotliches trostes, mit dem got etlichu´ anvahendu´ menschen reizzet (17,13f.). Eines Morgens sieht sich der Jüngling von einer Schar Engel umringt. Da begehrt er, man möge ihm zeigen, in weler wise gotes verborgnu´ wonung in siner sele gestalt were (20,13f.). Der Engel fordert ihn auf, in sein Inneres zu schauen und zu sehen, wie der minneklich got mit diner minnenden sele tribet sin minnespil (20,15f.). Worauf der Diener inmitten seines Herzens die Ewige Weisheit und seine eigene Seele erblickt, du´ waz minneklich uf sin siten geneiget 1

Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, hg. von KARL BIHLMEYER, Stuttgart l907 (Nachdr. l961), S. 3*–4* u. 47*, zitiert unter Verwendung folgender Werkkürzel: ›Vita‹ = ›Leben Seuses‹, BdeW = ›Büchlein der ewigen Weisheit‹. ›Das Büchlein der Wahrheit‹ (BdW) nach der neuen kritischen e Ausgabe: Heinrich Seuse: Das Buch der Wahrheit/Daz buchli der warheit, kritisch hg. von LORIS STURLESE/RÜDIGER BLUMRICH, mit einer Einleitung von LORIS STURLESE, übers. von RÜDIGER BLUMRICH (Philosophische Bibliothek 458), Hamburg l993. Die Bilder der Handschriften und Frühdrucke des Exemplars sind abgebildet bei ANNA MARGARETHA DIETHELM, Durch sin selbs unerstorben vichlichkeit hin zu grosser loblichen heiligkeit. Körperlichkeit in der Vita Heinrich Seuses, Bern l988, Bild 2, Handschrift A, f. 8v auf S. 176. Zu den Bildern s. auch MARTIN KERSTING, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses. Untersuchungen zu den illustrierten Handschriften des Exemplars, Mainz Phil. Diss. l987; JEFFREY F. HAMBURGER, The Use of Images in the Pastoral Care of Nuns: The Case of Heinrich Suso and the Dominicans, The Art Bulletin 71 (1989), S. 20–46, Abb. 2, S. 25.

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Martina Wehrli-Johns e

und mit sinen armen umbvangen und an sin gotlich herze gedruket, und lag also verzogen und versofet von minnen under dez geminten gotes armen« (20,20–23). Text und Illustration dieser Vision sind schon von E. BENZ und U. WEYMANN mit den bekannten Christus-Johannes-Gruppen der Bodenseegegend in Verbindung gebracht worden.2 Andere Interpreten wie A. HOLENSTEIN-HASLER,3 R. HAUSSHERR4 und E. COLLEDGE/J. C. MARLER5 stehen dieser Deutung jedoch ablehnend gegenüber, mit guten Gründen, wenn man Seuses Vision mit dem kodifizierten Bildschema der skulptierten Christus-Johannes-Gruppe vergleicht und diese aus dem Kontext der Frauenfrömmigkeit heraus im Sinne eines für Nonnen konzipierten Andachtsbildes deutet. Berücksichtigt man hingegen den ganzen theologisch-philosophischen Gehalt der Christus-Johannes-Gruppe im Kontext der dominikanischen Johannesexegese, so ergibt sich m. E. zwingend die Identifikation des Dieners mit der für das Ordensverständnis zentralen Gestalt des Evangelisten. Den Schlüssel zur Deutung von Bild und Vision bietet zunächst die Lehre vom connubium spirituale im ›Horologium‹. Der Vergleich zwischen der Verwendung des Johannesmotivs im ›Horologium‹ und in der ›Vita‹ soll im weiteren einen neuen Zugang zur funktionalen Bestimmung der ›Vita‹ und zur Frage der Autorschaft Seuses eröffnen. Daran anschließende Fragen zum historischen Kontext richten den Blick auf mögliche Zusammenhänge zwischen der Entstehung des ›Exemplars‹, den Gottesfreunden zum Grünen Wörth und den Anfängen der dominikanischen Observanzbewegung im Elsaß.6 2

ERNST BENZ, Christliche Mystik und christliche Kunst, DVjs 12 (1934), S. 22–48; URSULA WEYMANN, Die Seusesche Mystik und ihre Wirkung auf die bildende Kunst, Berlin Phil. Diss. l938, S. 27ff. 3 ANNE-MARIE HOLENSTEIN-HASLER, Studien zur Vita Heinrich Seuses, ZSchwKG 62 (1968), S. 186–332, bes. S. 227–232, hält jedoch Bezüge zwischen Johannesmystik und Brautmystik durchaus für möglich. 4 REINER HAUSSHERR, Über die Christus-Johannes-Gruppen. Zum Problem ›Andachtsbilder‹ und deutsche Mystik, in: Beiträge zur Kunst des Mittelalters. Festschrift für Hans Wentzel zum 60. Geburtstag, Berlin l975, S. 79–103, bes. S. 99–101. Für ihn steht das Sponsus-Sponsa-Motiv der Hohelied-Illustrationen im Vordergrund. 5 EDMUND COLLEDGE OSA/J. C. MARLER, ›Mystical‹ Pictures in the Suso ›Exemplar‹ MS Strasbourg 2929, AFP 54 (1984), S. 293–354, bes. S. 301 u. 308–309, verweisen auf Anna Selbdritt als Vorbild. 6 Das Johannesmotiv bei Seuse ist bisher noch nicht untersucht worden. Zur Johannesexegese im Dominikanerorden s. HANS-JOCHEN SCHIEWER, Die beiden Sankt Johannsen, ein dominikanischer Johannes-Libellus und das literarische Leben im Bodenseeraum um 1300, Oxford German Studies 22 (l993), S. 21–53; MARTINA WEHRLI-JOHNS, Das Selbstverständnis des Predigerordens im Graduale von Katharinenthal. Ein Beitrag zur Deutung der Christus-Johannes-Gruppe, in: Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität. Für Alois Haas zum 60. Geburtstag, hg. von CLAUDIA BRINKER [u. a.], Bern 1995, S. 241–271. Zum Stand der Seuse-Forschung ALOIS M. HAAS/KURT RUH, Seuse, Heinrich OP, 2VL VIII, Sp. 1109–1129; an neuerer Spezialliteratur ist zu nennen: Heinrich Seuse. Studien zum 600. Todestag 1366–1966, hg. von EPHREM M. FILTHAUT OP, Köln l966; PAUL MICHEL, Heinrich Seuse als Diener des göttlichen Wortes. Persuasive Strategien bei der Verwendung von Bibelzitaten im Dienste seiner pastoralen Aufgaben, in: Das »einig Ein«. Studien zu Theorie und Sprache der Deutschen Mystik, hg. von ALOIS M. HAAS/HEINRICH STIRNIMANN (Dokimion 6), Freiburg/Schweiz 1980, S. 281– 367; RUEDI IMBACH, Die deutsche Dominikanerschule: Drei Modelle einer Theologia mystica, in: Grundfragen christlicher Mystik. Wissenschaftliche Studientagung Theologia mystica in

Das ›Exemplar‹ eine Reformschrift der Dominikanerobservanz?

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Seuses Lehre vom connubium spirituale (Hor. II,7) Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist das der ›Vita‹ zugrundeliegende Generalthema der geistlichen Vermählung zwischen der Seele und der Ewigen Weisheit. Zu Beginn des 3. Kapitels, überschrieben mit Wie er kam in die geistlichen gemahelschaft der ewigen wisheit, wird auf die diesbezüglichen Ausführungen des Dieners im BdeW und im ›Horologium‹ verwiesen (11,23–26). Insbesondere die geschilderte Vision im 5. Kapitel ist ohne die theologisch präzisen Angaben des ›Horologiums‹ nicht verständlich. Meine Argumentation stützt sich deshalb zuerst auf Hor. II,7, das im ersten Teil Antwort gibt ›Auf welche Weise viele Gläubigen mit der göttlichen Weisheit vermählt werden können‹.7 In diesem Kapitel geht es im Zusammenhang mit dem Thema der geistigen Vermählung auch um die Einführung des Namens Amandus und um die Eingravierung des Namens Jesu auf die Brust des Schülers (discipulus). P. PIUS KÜNZLE, der Herausgeber des ›Horologiums‹, hat bereits auf diese Schlüsselstelle (Hor. 591,5–14) hingewiesen. Nach KÜNZLE erhielt Seuse »seinen Namen von der ewigen Weisheit im Austausch, indem sie ihm zum Zeichen ihrer liebenden Verbindung und in Erfüllung seines Wunsches ihren eigenen Namen schenkte, der sie als das eigentliche liebenswürdige Gut bezeichnet«.8 Wie zu zeigen sein wird, kann diese Erklärung noch in dem Sinne präzisiert werden, daß der Name Amandus den Lieblingsjünger Jesu bezeichnet, der an der Brust des Herrn das Brot der wahren Erkenntnis eingenommen hat. Theologische Vorgabe der geistigen Vermählung bei Seuse dürfte die zum theologischen Gemeingut zählende Ehelehre Papst Innozenz’ III.9 sein, denn nur sie ermöglicht die Verknüpfung von Brautsymbolik, eucharistischer unio und Johannesdevotion. In der Abhandlung des Papstes ›De quadripartita specie nuptiarum« werden die vier geistlichen Ehen den vier Schriftsinnen zugeordnet, die Ehe zwischen Mann und Frau dem historischen, die sakramentale Ehe zwischen Christus und der Kirche dem allegorischen, die unio spiritualis zwischen Gott und Seele dem tropologischen Weingarten vom 7.–10. November, hg. von MARGOT SCHMID (Mystik in Geschichte und Gegenwart I/5), Stuttgart-Bad Cannstatt l987, S. 157–172; WERNER WILLIAMS-KRAPP, Nucleus totius perfectionis. Die Altväterspiritualität in der ›Vita‹ Heinrich Seuses, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, hg. von JOHANNES JANOTA [u. a.], Tübingen l992, Bd. 1, S. 407–421; WALTER BLANK, Heinrich Seuses ›Vita‹. Literarische Gestaltung und pastorale Funktion seines Schrifttums, ZfdA 122 (l993), S. 285–311; MARKUS ENDERS, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes 37), Paderborn l993; Heinrich Seuses Philosophia spiritualis, hg. von RÜDIGER BLUMRICH/PHILIPP KAISER (Wissensliteratur im Mittelalter 17), Wiesbaden l994; ALOIS M. HAAS, Kunst rechter Gelassenheit. Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mystik, Bern l995; KURT RUH, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, München l996, S. 415–475. 7 Heinrich Seuses Horologium Sapientiae. Erste kritische Ausgabe unter Benützung der Vorarbeiten von Dominikus Planzer OP hg. von PIUS KÜNZLE OP (Spicilegium Friburgense 23), Freiburg/ Schweiz 1977, S. 590–597, zitiert als Hor. mit Seiten- und Zeilenzahl. Dieser Teil hat keine Parallele im BdeW, s. KÜNZLE, S. 47, und RUH [Anm. 6], S. 446. 8 KÜNZLE [Anm. 7], S. 14, Anm. 1. 9 Dazu WILHELM IMKAMP, Das Kirchenbild Innocenz’ III. (1198–1216) (Päpste und Papsttum 22), Stuttgart l983, S. 203–260.

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sowie die eschatologische unio zwischen dem Verbum und der menschlichen Natur dem anagogischen Schriftsinn.10 Die Vermählung von Gott und Seele wurde in Rom seit 1208 am zweiten Sonntag nach Epiphanias mit einer feierlichen Prozession zur Kommemoration der Hochzeit von Kanaan begangen. In seiner Eröffnungspredigt legte Innozenz das Evangelium des Tages im tropologischen Sinn auf das conjugium spirituale aus: Zum Ehekontrakt gehört der Konsens, d. h. der Glaube, zum Vollzug der Ehe die Liebe, d. h. die vom Bräutigam als Mitgift eingebrachte Caritas, und zu den Früchten dieser Ehe schließlich das richtige Wollen und Handeln und die daraus entstehenden guten Werke des Gläubigen. Ihre sakramentale Bedeutung erhält die Perikope durch den Bezug zu Taufe und Eucharistie. Mit der Umwandlung von Wasser in Wein bezeichnet der Papst die Rechtfertigung des Sünders durch das Blut Christi, mit dem Brautbild eine Vorwegnahme des Hochzeitsmahles der ewigen Hochzeit.11 Nun ist die Hochzeit von Kanaan seit der Patristik zugleich der Moment der Berufung des Johannes Ev. Albert der Große bezieht sich im Prolog seines Johanneskommentars ausdrücklich auf diese Auslegungstradition.12 Nach Albert ist es der Verzicht auf weltliche Liebe, der Johannes zum Vorbild aller virgines und zum Lehrer der vita contemplativa macht. Ihm hat Christus unter dem Kreuz die cura seiner Mutter anvertraut, in seiner Eigenschaft als Beschützer der Jungfrau dient er als Modell für die dominikanische cura monialium. Johannes wurde an der Brust des Herrn das Geheimnis des Sakramentes seiner Göttlichkeit enthüllt. Daraus resultiert für Albert die größere Vorliebe Christi für Johannes und die vita contemplativa. Aus dem gleichen Grund ist er für den Predigerbruder zugleich Leitbild für Studium und Lehre. Im Bildprogramm des berühmten Graduale von St. Katharinental aus der Zeit um 1310–1320, das Seuse als Mitglied des Konstanzer Predigerkonvents ebenso bekannt gewesen sein dürfte wie die dort beheimatete Christus-Johannes-Gruppe aus der Konstanzer Heinrichs-Werkstatt, findet diese Johannesexegese ihren klaren Ausdruck.13 Auch Seuse erweist sich im ›Horologium‹ als Schüler Alberts, allerdings weniger in der rationalen Intellektlehre als im johanneischen Eucharistieverständnis und in der Übernahme neuplatonischer Gedankengänge.14 Darüber hin10

PL 217, Sp. 921–968, verbreitet wurde die Ehelehre des Papstes vor allem durch seine Predigten, s. IMKAMP [Anm. 9], S. 214–217. 11 IMKAMP [Anm. 9], S. 235–249. 12 B. Alberti Magni Opera omnia, cura et labore AUGUSTI ET AEMILII BORGNET, vol. 24, Enarrationes in Joannem, Paris 1899 (= BORGNET 24), In prol. S. Hieronymi in D. Joannem, S. 12–14. Zur Bedeutung der Johannesexegese bei Albert dem Großen für die cura monialium und das Selbstverständnis der Dominikaner s. WEHRLI-JOHNS [Anm. 6]. 13 WEHRLI-JOHNS [Anm. 6]. 14 Daß Seuse innerhalb der verschiedenen Richtungen der deutschen Dominikanerschule der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts einen anderen (nicht intellekttheoretisch orientierten) Weg als Dietrich von Freiberg suchte, zeigt IMBACH, Dominikanerschule [Anm. 6], S. 157–164, dort auch Hinweise zur neuplatonischen Sichtweise im ›Horologium‹. Inwieweit sich Seuse mit seinem neuplatonischen Liebesbegriff von Alberts Illuminationslehre entfernt, wäre noch zu untersuchen. Zum Begriff philosophia spiritualis s. auch BLUMRICH/KAISER, Heinrich Seuses Philosophia spiritualis [Anm. 6].

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aus hat Seuse als eigenständiger Theologe mit seiner philosophia spiritualis und dem von ihm begründeten Kult der Ewigen Weisheit aber auch neue Wege beschritten. In Hinblick auf die Lehre vom connubium spirituale bedeutet dies zunächst folgendes: Die geistliche Vermählung, die bereits Albert mit der Kanaan-Perikope verbindet,15 findet in Umkehrung des herkömmlichen Ehebildes nicht zwischen sponsus (Christus) und sponsa (Seele), sondern zwischen der als sponsa titulierten Ewigen Weisheit und dem Jünger als sponsus /Johannes statt. Bei der zu Beginn von Hor. II,7 geschilderten Vision sieht sich der Schüler im Brautgemach mit der ihm von Gott zur Braut gegebenen Ewigen Weisheit. Er ist eingeweiht worden in das Geheimnis des Sakraments (sacramentum regis), das er, noch trunken von der göttlichen Hochzeit, anderen enthüllen möchte (Hor. 590,16–27). Diesem ungewohnten Bild fügt Seuse gleich noch ein weiteres hinzu, das nun bis auf die Namengebung und Herzmetapher vollständig der eucharistischen Exegese Alberts von Io 13,24 entspricht, die auch der ChristusJohannes-Gruppe zugrundeliegt:16 Im Moment, da der Bräutigam in vollkommener Stille von seiner himmlischen Braut in der Brautkammer ihres Herzens ihre Geheimnisse zu erfahren sucht und in ihren Armen gesättigt vom Genuß der Speise, d. h. des Sakraments, entschlafen ist, wird ihm die Gnade des mystischen Namens Amandus zuteil.17 Im Anschluß an diese Vision fragt der Schüler, wie andere Menschen zu dieser geistlichen Vermählung gelangen können und erhält als Antwort den göttlichen Rat, daß niemand diese Braut gewinnt, der nicht bis zum Ende in der Schlachtreihe für diese kämpft und viele Leiden aushält (593,26–35). Auch hier übernimmt Seuse in der Formulierung als theologisches Gemeingut ein Element der Ekklesiologie Innozenz’ III., wo der Kampf der ecclesia militans mit dem Bild der Braut aus Ct 6,3 (pulchra es amica mea suavis et decora sicut Hierusalem / terribilis ut castrorum acies 15

BORGNET 24 [Anm. 12], S. 15 (In prol. S. Hieronymi): unde dicit ›Servasti bonum vinum usque adhuc.‹ Hoc autem fecit, ›ut legentibus‹, ad intellectum spiritualem Evangelium suum, ›demonstraret‹, ipsa lectione, ›quod ubi Dominus‹ ad nuptias mentales in unione spiritus creati ad increatum ›invitatus est‹, per fidei et cognitionis devotionem, ›debeat deficere‹ et abjici ›vinum‹ carnalis gaudii ›nuptiarum‹ carnalium: et virginitatis munditia in integritate cordis generari. 16 BORGNET 24 [Anm. 12], S. 513: De secunda causa est, quia cibus dulcis generat somnum suavem, et somnus reclinationem sive recubitum inducit: et sic infusus intus dulcedine sacramenti, recubuit in pectore Dominii und ebd., S. 13: Effectum autem gratiae in ordine ad vitam contemplativam, majorem invenimus in Joanne: qui supra pectus Domini recubuit, quem a dolore mortis praeservandum praedixit, cui sacramenta suae deitatis revelavit: et quoad hoc ›prae caeteris dilectus a Deo dicitur‹. Vgl. auch WEHRLI-JOHNS [Anm. 6], S. 267–268. 17 Hor. 591,4–14: Sed neque his contentus rex magnificus adauxit munera, cumulavit beneficia, ampliavit dona, et gratiam copiose dilatavit. Nam humilis ille huius sapientiae discipulus in ea visionis gratia, quodam novo et mystico nomine ab ipsa vocatus Frater Amandus, dum in cordis cubiculo, nuptiali thalamo, cum divinissima sponsa sua secreta silentia petisset et inter ipsius amoris brachia dulciter soporatus obdormisset, cordis tamen fervido affectu admodum perfecte vigilaret, atque de aliorum pariter salute secum tractaret, praedicta sponsa huiuscemodi verba nimium dulcia intellectualiter ac supernaturaliter omniumque mortalium vocum condicionibus dissimiliter depromebat dicens: ›Ex te namque egredietur, in quo omnes gentes benedicentur‹ [Gn 26,4]. Zur eucharistischen Bedeutung der Herzmetapher bei Albert s. A. WALZ, De veneratione divini cordis Iesu in ordine praedicatorum, Rom l937, S. 24–33.

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ordinata) ausgedrückt wird.18 Ganz zum Schluß folgt dann die Konstituierung einer auserwählten Schar von Gottesfreunden in der Weise einer Bruderschaft und die Eingravierung des Namens IHC in der Brust des Schülers zum Zeichen seiner Inkorporation in Christus (Hor. 594–596).

Die beiden Sankt Johannsen im ›Horologium‹ Das ›Horologium‹ wurde in den frühen Handschriften des 14. Jahrhunderts stets anonym unter dem Namen Frater A./Amandus (domus predicatorum C.), gelegentlich auch unter dem Namen Frater Johannes, überliefert.19 Daß hier keine Verwechslung mit einem anderen Autor vorliegt, sondern der Name Johannes für die Rolle des discipulus im ›Horologium‹ steht, dürfte deutlich geworden sein. Die Bezeichnung Amandus für den discipulus dilectus ist damit jedoch noch nicht hinreichend geklärt. Es handelt sich vielmehr um eine sprachliche Neuschöpfung, zu der ihn vielleicht der Name des hl. Amandus aus der ›Legenda aurea‹ inspiriert haben mag. Bei Seuse ist dieser Name jedoch keineswegs ein Accidens, sondern führt zu ganz zentralen Gedanken seiner neuplatonischen Emanationslehre, weshalb er auch in den Augen der Zeitgenossen das Wesentliche dieses Autors zum Ausdruck brachte. ›Amandus‹ wird unter dem Titel eines nomen mysticum eingeführt, ist also eine der Gottesbezeichnungen nach der affirmativen Theologie des Ps.-Dionysios, auf die Seuse in Hor. I,1 (380– 381) zu sprechen kommt. Gott als erstes Prinzip (fontalis principium) ist reines Wesen, ohne Form und Materie, und deshalb menschlicher Erkenntnis nicht zugänglich. Erst in der Ewigen Weisheit, der zweiten göttlichen Person, teilt sich Gott als das summum bonum und summum amabile mit. In welcher Weise die göttliche Weisheit gleichsam als Braut zu lieben sei, hat der Schüler bereits im Verlauf seines Studiums der alttestamentlichen Weisheitsbücher erfahren (Hor. I,1, 374,5–8). Nun wird er, ebenfalls nach Ps.-Dionysios, über die vereinigende Kraft der Liebe belehrt, durch die der Liebende in den Geliebten verwandelt wird,20 nämlich auf dem Weg des Mitleidens und der conformatio mit Christus. Zu dieser Form der Gottesliebe ist er von Gott aus vorbestimmt worden, »denn es ist nicht so, daß du meiner Liebe vorangehst und du deshalb von mir geliebt wirst, sondern umgekehrt, weil ich dich von Ewigkeit her geliebt und dich ›an deinem Namen erkannt habe‹, deshalb liebst du«.21 Hier geht es um die Auserwählung Johannes des Täufers, dessen Name Gnade ist.22 Sie steht unausge18

IMKAMP, Kirchenbild [Anm. 9], S. 148, Anm. 280. Zum Gedanken der militia Christi im Dominikanerorden s. KÜNZLE [Anm. 7], S. 95. 19 KÜNZLE [Anm. 7], Hor. 7–12. 20 Hor. I,1, 382,18f.: quod amor virtus est unitiva, copulans vel potius transformans amantem in amatum. Bei KÜNZLE [Anm. 7] auch alle Verweise auf Ps.-Dionysios, ›De nomibus divinis‹. 21 Hor. I,1, 429,4–9: Nec est sic imaginandum, quasi tu iuvenis amorem meum praeveneris, et propterea a me diligi ex iure velis, sed revera econverso est. Etenim quia te ab aeterno dilexi, et ›te ex nomine novi‹ [Ex 33,12], et affectu singulari praeelegi, ideo diligis, licet ex consequenti effectus praedestinationis effectum requirat dilectionis.

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sprochen im Zentrum des ersten Lehrganges in Buch I des ›Horologiums‹, in dem Seuse die neuplatonische Lehre vom Ausfluß und Rückfluß der Naturen in Gott behandelt. Dieser erste Teil endet mit einer Vision des Himmlischen Jerusalem und der Belehrung des Schülers über die Freuden der Ewigen Heimat: Je vollkommener die Loslösung von allem Zeitlichen, desto freier der Aufschwung zur Kontemplation der geistigen Dinge, je größer aber die Hingabe an Geistiges, desto seliger das Entsinken in den Abgrund der göttlichen Klarheit, auf daß der Mensch von Gnaden werde, was Gott von Natur ist.23 Für den Schüler ist die Zeit jedoch noch nicht gekommen: Tempus pugnandi tibi adest, non venit hora regnandi (Hor. I,11, 468,17f.), sagt die Ewige Weisheit und warnt ihn zum Schluß ausdrücklich vor jenen, die von den Übrigen dadurch erkannt werden, daß sie wie der Adler in der höchsten Erkenntnis fliegen (Hor. I,12, 474,29), womit sich Seuse deutlich von der intellektheoretischen Spekulation der deutschen Dominikanerschule in der Nachfolge Alberts des Großen distanziert.24 Der Evangelist Johannes hingegen steht im Zentrum des 2. Buches, das eigentlich als Eucharistietraktat bezeichnet werden kann. Die Kapitel über die Kunst des rechten Sterbens und Lebens dienen der Vorbereitung auf die Kommunion, anschließend wird der Schüler in Kapitel 4 von der Ewigen Weisheit über das Sakrament der Eucharistie unterrichtet. Dieses Kapitel ist für unseren Zusammenhang besonders wichtig, da hier der Schüler in der Nachfolge der Jünger in seine priesterliche Funktion eingesetzt wird. Gleichzeitig vollzieht sich der Wechsel vom Schüler zum Diener (minister, Hor. II,4, 548,23–28; der Schüler nennt sich anschließend servus). Das Sakrament der Eucharistie überragt alle anderen Sakramente, weil der Strahl der göttlichen Liebe durch dieses Sakrament ungleich stärker fließt und die Herzen der Gläubigen zur Gottesliebe entzündet (Hor. 548,14–24). Das Herz, das im Sinne der neuplatonischen Emanationslehre zuerst bewegt wird, ist dasjenige des Dieners in seiner Stellung als Lieblingsjünger Jesu. Im Sakrament der Eucharistie begegnet ihm Christus als Gott, Bruder und Bräutigam, in ihm besitzt der Jünger das summum bonum Gottes gleichsam wie in seinem ersten Prinzip (fontalis principium).25 Dieser 22

Die in Hor. 429,7 zitierte Stelle Ex 33,12 wird bei Albert d. Gr., BORGNET 24 [Anm. 12], S. 77 (In Jo 1,40), auf den Namen Johannes d. T. bezogen, die Namensdeutung Johannes in quo est gratia bezieht sich aber auch auf den Evangelisten, s. Albert d. Gr., BORGNET 24, S. 11 (In prol. S. Hieronymi): ›Hic est Joannes.‹ Quia Joannes est Domini gratia, vel in quo est gratia, vel cui donatum est, sive cui a Domino donatio facta est, interpretatur: quod nomen in praesagium futurorum Joannes accepit. Die Auserwählung des Täufers wird außerdem in Hor. I,8, 440,20 ausdrücklich erwähnt. 23 Hor. I,11, 465,15–20: Et quanto nunc perfectius temporalia cuncta reliquerit, tanto liberius ad contemplationem spiritualium consurgit. Et quanto plus se actibus mancipaverit spiritualibus, tanto illic felicius absorbebitur in abyssum divinissimae claritatis, et unus cum eo spiritus efficietur, ita ut hoc, quod Deus est per naturam, ipsa fiet per gratiam. 24 Siehe oben IMBACH, Dominikanerschule [Anm. 6], S. 161–164. Mit dem Bild des Adlers ist sowohl bei Thomas von Aquin wie auch bei Albert dem Großen die dem Evangelisten Johannes zuteil gewordene höchste Erkenntnis der Wahrheit in ihrem Ursprung ausgedrückt, s. WEHRLIJOHNS [Anm. 6], S. 246–248 u. 264ff. 25 Hor. II,4, 554,27–555,1–5. Der Bezug zum Evangelisten ergibt sich aus dem Schlußsatz: Quid enim magis est amoris? Quid dilectionis, quam coniunctio dilecti cum dilecto familiaris?

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neuplatonische Hintergrund erhellt schließlich auch die Bedeutung des Namens Amandus und die ungewöhnliche Herzmetapher des bereits besprochenen Brautbildes in Hor. II,7. Im Herzen der Braut wird der Jünger berührt durch den Strahl der göttlichen Liebe, verwandelt durch deren virtus unitiva und aus Gnade mit dem Gottesnamen Amandus ausgezeichnet. In absteigender Linie fließt der Strahl der göttlichen Liebe über die priesterliche Vermittlung des Dieners zu den Gottesfreunden und weiter zu den übrigen Menschen entsprechend ihrer Teilhabe an der göttlichen Gnade. Durch die Eingravierung des Namens Jesu aber wird der Schüler zum ignem patiens, zu demjenigen »der das Feuer der göttlichen Minne erfahren hat«, wie der hl. Ignatius der ›Legenda aurea‹, von dem gesagt wurde, er sei ein Schüler des Johannes Ev. und sogar Dionysius habe sich in seinem Buch über die göttlichen Namen auf ihn berufen, um zu zeigen, »daß man wohl von Liebe möge reden in allen göttlichen Dingen«.26

Eucharistiefrömmigkeit und Interdikt Das ›Horologium‹ war ursprünglich keine Erbauungsschrift, sondern ein Unterrichtswerk zur Vorbereitung auf das Priesteramt, abgefaßt in den Jahren 1334– 1338 unter dem Ordensgeneral Hugo de Vaucemain, dem das Werk gewidmet und zur Approbation übergeben worden war.27 Es fügt sich ein in die Bemühungen der Ordensleitung zur Verbesserung der Novizenausbildung als Grundlage für die von Papst Benedikt XII. geforderte Ordensreform. Das Generalkapitel von Brügge (1336) hatte angeordnet, die Novizen innerhalb jeder Provinz in bestimmten Konventen zusammenzufassen und ihre Erziehung besonders ausgebildeten Magistern zu übergeben. Dieser Beschluß blieb leerer Buchstabe, die ganze Ordensreform scheiterte damals an Kompetenzstreitigkeiten mit der Kurie und ordensinternen Widerständen in der Armutsfrage.28 Die noch in der Chronik des observanten Dominikaners Johannes von Mainz († 1457) gebrauchte Bezeichnung »Braut« für die Bibliothek des Basler Konvents sowie der Name »Schüler der Weisheit« für die wenigen reformwilligen Brüder der ersten Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts, von denen er rühmend erwähnt, sie hätten die Scheune des Herrn, d. h. die Bibliothek ihres Konvents, mit Büchern berei26

Die ›Legenda aurea‹ des Jacobus de Voragine. Aus dem Lateinischen übersetzt von RICHARD BENZ, Heidelberg 10l984, S. 181–184, Zitate S. 181. Auf die Ignatius-Legende im Zusammenhang mit ›Vita‹ 17,5 weist auch HOLENSTEIN, Studien [Anm. 3], S. 241f. 27 Zur Datierung s. KÜNZLE, Hor. [Anm. 7], S. 19–27. Auf die Frage des Verhältnisses zum BdeW, die m. E. noch keineswegs geklärt ist, gehe ich hier nicht ein. 28 R. P. MORTIER, Histoire des Maıˆtres Ge´ne´raux de l’Ordre des Fre`res Preˆcheurs, t. 3, Paris l907, S. 99; Acta Capitulorum Generalium Ordinis Praedicatorum, vol. 2, recensuit Fr. BENEDICTUS MARIA REICHERT (Monumenta Ordinis Fratrum Praedicatorum Historica IV), Romae l899 (= MOFPH IV), S. 237. Daß der Orden damals nicht an der strengen Armut interessiert war und in den Reformplänen des Papstes eine Bedrohung der eigenen Unabhängigkeit sah, zeigt FRANZ J. FELTEN, Le pape Benoıˆt XII (1334–1342) et les Fre`res Preˆcheurs, Cahiers de Fanjeaux 26 (1991), S. 307–342.

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chert,29 zeigt aber, wie sehr Seuses Werk auf eine Reform der Ordensstudien zielte. Zum ordensgeschichtlichen Hintergrund ist außerdem anzumerken, daß der Dominikanerorden sich besonders die Förderung des Corpus-Christi Festes zur Aufgabe gemacht hatte, zusammen mit dem Kult des hl. Thomas von Aquin, der seit 1324 auch als Verfasser des Festoffiziums gefeiert wurde.30 Die Verpflichtung der Brüder auf die Lehre des Thomas, anläßlich des Generalkapitels von Maastricht (1330) mit Nachdruck erneuert,31 tritt bei Seuse besonders in Hor. II,4 hervor, also in seinem Kapitel über das Sakrament der Eucharistie, das deutliche Bezüge zum Corpus-Christi Fest aufweist, wenngleich dieses nicht ausdrücklich erwähnt wird.32 Auf dem gleichen Generalkapitel von Maastricht waren Ludwig der Bayer, Michael von Cesena und der Gegenpapst Petrus von Corvaro feierlich als Häretiker und Schismatiker verdammt worden. Gegen alle Brüder, die in irgendeiner Weise dem Bayern anhängen, wurden die schwersten Strafen ausgesprochen. Es erscheint wenig wahrscheinlich, daß Seuse zu diesen Brüdern gehört hatte und deshalb von der Ordensleitung zur Verantwortung gezogen wurde. Wie BIZET überzeugend dargelegt hat, kommt man nicht umhin, die bekannte Widderallegorie in Hor. I,5 nach Dn 8 und 9 auf den Konflikt der Kurie mit Ludwig den Bayern zu beziehen.33 Die Allegorie erhält durch die Erwähnung der siebzig Füchse im Gefolge des Widders auch eine inqisitorische Note, womit sich Seuse ganz als Vertreter der offiziellen Linie des Ordens zu erkennen gibt. Der zweite Teil der Civitas-Allegorie spielt hingegen deutlich auf lokalpolitische Ereignisse des Jahres 1334 an, als sich der päpstliche Kandidat für den Konstanzer Bischofssitz, Niklaus von Frauenfeld, mit Hilfe der Herzöge von Österreich gegen den kaiserlichen Kandidaten Albert von Hohenberg durchsetzen mußte. Die Bemerkung Seuses, daß die Macht des Widders am Schwinden sei (Hor. 415,10–11), bezieht sich wohl auf die vergebliche Belagerung der Stadt Meersburg durch kaiserliche Truppen im Mai 1334, die Albert von Ho29

Siehe FRANZ EGGER, Beiträge zur Geschichte des Predigerordens. Die Reform des Basler Konvents 1429 und die Stellung des Ordens am Basler Konzil (1431–1448) (Europäische Hochschulschriften III/467), Bern 1991, S. 41 u. 48. 30 MOFPH IV [Anm. 28], S. 153, Beschluß des Generalkapitels von Bordeaux 1324: Volumus, quod de corpore Christi officium editum per beatum Thomam de Aquino, ut asseritur, per totum ordinem fiat, illud officium a beato Thoma editum dicimus ... Siehe auch MIRI RUBIN, Corpus Christi. The Eucharist in Late Medieval Culture, Cambridge 1991, S. 185–196. 31 MOFPH IV [Anm. 28], S. 196. 32 Vgl. die Anmerkungen des Herausgebers in Hor. 548f. Der Bezug zum Corpus-Christi-Fest ergibt sich aus der Einsetzung des Abendmahls am Gründonnerstag (Hor. 548), zu dessen Erinnerung das Fest an einem Donnerstag gefeiert wurde, s. PETER BROWE SJ, Die Verehrung der Eucharistie im Mittelalter, München l933 (unveränd. Nachdr. l990), S. 82f. In der Diözese Konstanz ist es 1312 zuerst in der Fraumünsterabtei Zürich bezeugt (BROWE), allgemeine Verbreitung scheint es aber vor 1340 nicht gefunden haben. 1344 wurde es nach dem Chronisten Laurentius Bosshart erstmals in Winterthur abgehalten (fieng man [1344] an zum ersten began den tag unsers herrn fronlichnamstag und musten all schuler krentzlin tragen wie an der uffart), zitiert nach BROWE, S. 95. 33 J. A. BIZET, La parabole du be´lier re´calcitrant, re´ponse de Suso aux querelles de son sie`cle, in: FILTHAUT, Heinrich Seuse [Anm. 6], S. 33–37. Zur Widderallegorie bei Dietrich von Apolda s. KÜNZLE, S. 24, Anm. 4. Dennoch folgt KÜNZLE der umgekehrten Deutung von C. GRÖBER.

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henberg 1335 zur Aufgabe zwang.34 Die Prediger hatten damals noch in der Stadt ausgeharrt, ihr Exil begann erst 1339, als die Beobachtung des Interdikts nicht mehr möglich war, trotz der Haltung Bischofs Niklaus von Frauenfeld, und sie mit seiner Hilfe im bischöflichen Klingnau Aufnahme fanden.35 Der Kampf gegen den Widder wird nach Hor. 413,19–21 von den Wenigen geführt, die vom Volk Gottes noch übriggeblieben sind. In Konstanz ist es ein Mann Gottes, der gleichsam wie ein zweiter Dominikus die verängstigten Mitbrüder dazu ermahnt, Zuflucht zum Gebet zu nehmen.36 Wenig später erfahren wir, daß Seuse zu jener Zeit das Priorat innehatte37 und somit seinen Konvent durch diese schwierige Zeit führen mußte. Die Civitas-Allegorie widerspiegelt also das Selbstverständnis des Dominikanerordens zur Zeit des Interdikts. Dies erklärt, warum das ›Horologium‹ sehr bald in Basel zirkulierte, dessen Predigerkonvent 1339 einer Anzahl Straßburger Dominikaner Exil geboten hatte. Heinrich von Nördlingen, auch er ein exilierter Anhänger des Papstes mit engen Beziehungen zum Dominikanerinnenkloster Medingen, soll Johannes Tauler eine Handschrift des ›Horologiums‹ vermittelt haben.38 Mit durchaus anderer Akzentsetzung findet man auch in diesem Kreis von Basler und Straßburger ›Gottesfreunden‹ Spuren einer johanneisch geprägten Eucharistiefrömmigkeit. So zerfließen in den Offenbarungen Margaretha Ebners und in den Briefen Heinrichs an sie die Gestalt des Evangelisten und des exilierten Klosterkaplans zu einem literarisch gestalteten Modell dominikanisch geprägter Seelsorge. Der aller getriwest friund unsers herren, Figur des Beichtvaters und Lehrers, agiert in stetem Rollenwechsel mit dem geminten junger Johanen. Auf Befehl des warhaften friund gotez und unter Anrufung Gottes und sines geminten scribers mins herren sant Johans, daz er mir hülfe scriben uzze der warhet, die er trank uz dem süezzen herzen Jhesu Christi erfolgt die Niederschrift dessen, was Gott durch das Sakrament der Eucharistie in der Seele der geistlichen Tochter gnadenhaft gewirkt 34

Zu diesen Vorgängen s. jetzt Helvetia Sacra I/2, Das Bistum Konstanz, Das Erzbistum Mainz, Das Bistum St. Gallen, redigiert von BRIGITTE DEGLER-SPENGLER, Teil 1, Basel/Frankfurt a. M. 1993, S. 102f., 297–299, 302f. 35 Dazu auch ALOIS M. HAAS, Civitas Ruinae. Heinrich Seuses Kirchenkritik, in: HAAS, Kunst rechter Gelassenheit [Anm. 6], S. 67–92. 36 Hor. 414,23–25: Unus autem de his, qui partem domini adiuvabant, ceteros timore perterritos ad constantiam constanter animabat, et ad orationum suffragia confugere hortabatur. Et ipse quidem ad locum orationis se conferens, prostratus ad terram ›haec et his similia‹ in oratione dicebat. Darauf folgen Teile aus dem Missale OP, die der Herausgeber kenntlich gemacht hat. Zu Dominikus vgl. BENZ, Legenda aurea [Anm. 25], S. 549. Zur Gebetshaltung vgl. die Prostration des Dominikus vor dem Kruzifix im Traktat ›De modo orandi corporaliter sancti Dominici‹ (1288), abgebildet in: JEAN-CLAUDE SCHMITT, La raison des gestes dans l’Occident me´die´val, Paris 1990, Pl. XIII. 37 Hor. 415,26f.: Praelatus enim vel rector fratrum tu cum sis, licet in minimo gradu, ist von KÜNZLE [Anm. 7], S. 5, auf das Priorat bezogen worden. 38 Siehe GEORG BONER, Das Predigerkloster in Basel, von der Gründung bis zur Klosterreform 1233–1429, Basler Zs. für Geschichte und Altertumskunde 33 (1934), S. 195–303; 34 (l935), S. 107–259, bes. S. 170ff.; LOUISE GNÄDINGER, Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre, München l993, S. 34–43. Zur verlorengegangenen Handschrift im Besitz Taulers s. auch KÜNZLE [Anm. 7], S. 209.

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hat.39 Wie bereits erwähnt, hat dieses Eucharistieverständnis schließlich in der Christus-Johannes-Gruppe seinen künstlerischen Ausdruck gefunden. Ihre Verbreitung beschränkt sich auf den oberdeutschen Raum, wo die Auswirkungen des Interdikts wohl am stärksten spürbar waren und wo auf der anderen Seite die papsttreuen Dominikaner auch am ehesten auf die Hilfe der Habsburger zählen konnten.40 Nicht ausgeschlossen ist, daß das Motiv der dextrarum iunctio in diesem Umfeld den übrigen Bildmotiven der älteren Johannesexegese hinzugefügt wurde, nicht im Sinne der Ehesymbolik des Sponsus-Sponsa-Motivs, sondern als Verheißung ewigen Lebens für die wahrhaften Gottesfreunde.41

Zur johanneischen Struktur der ›Vita‹ Kehren wir zu Vision und Bild von Kapitel 5 in Seuses ›Vita‹ zurück. Was im ›Horologium‹ als Ziel und Abschluß des zum Priesteramt führenden Ausbildungsweges erscheint, steht hier am Beginn der dreistufigen Entwicklung des Dieners zu seiner Vollendung: Die Verheißung der ewigen Hochzeit von Gott und Kreatur nach der Ehelehre von Innozenz III. wird dem Diener selber in der gleichen Vision wie in Hor. II,7 zuteil. Die Funktion des Bildes besteht darin, diese Erkenntnis mittels der priesterlichen Gewalt des Dieners an den Betrachter 39

PHILIPP STRAUCH, Margaretha Ebner und Heinrich von Nördlingen. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mystik, Freiburg 1882, S. 25,8 u. S. 83,27, S. 84,6–8. Allerdings deckt sich die rationale Illuminationslehre in der Nachfolge Alberts des Großen, die der Medinger Nonne vermittelt wurde, nicht mit der des ›Horologiums‹. Vgl. STRAUCH, S. 28,7–10: nun enpfhing ich da vorn der innern güet gottes grozze gaub, daz was daz lieht der warhait der götlichen verstantnüz. mir wurden auch min sinne vernünftiger dann vor, und daz ich in aller miner rede die gnaud het, daz ich sie baz ze worten kund bringen. Zum fiktiven Charakter der spirituellen Freundschaft zwischen Margaretha Ebner und Heinrich von Nördlingen s. URSULA PETERS, Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts (Hermea 56), Tübingen 1988, S. 142–155. Die Frage von Verfasserschaft und Datierung der Offenbarungen und Briefe ist noch nicht befriedigend gelöst. 40 Die realpolitische Seite dieser älteren ›Gottesfreundliteratur‹ mit ihren Beziehungen zu den Habsburgern und insbesondere zu Agnes von Ungarn kann hier nicht weiter verfolgt werden. Immerhin ist auf die Erwähnung Agnes’ von Ungarn und Königsfeldens in den Briefen Heinrichs von Nördlingen hinzuweisen, s. STRAUCH [Anm. 39], XLVI seqq. In Königsfelden befindet sich eine Christus-Johannes-Gruppe bei den Glasfenstern, zur übrigen Verbreitung s. HANS WENTZEL, Die Christus-Johannes-Gruppen des XIV. Jahrhunderts (Werkmonographien zur bildenden Kunst 51), Stuttgart l960. 41 Vgl. STRAUCH [Anm. 39], XVII, 199,55–60: da von sprich mit lob zu deinem liebsten: ›lieb meins, ruf mir wie du wilt, ich sol dir antwurten mit einem gehorsamen, mineklichen willeklichen, frolichen nachhengen und nachvolgen deins liebsten willen in alle weisz, allein büit mir alzeit dein hand, here. vocabis me, ego respondebo tibi: operi manuum tuarum porriges dexteram‹ [Iob 14,15]. Zur Verwendung der gleichen Hiobstelle im BdeW, VI, 218,27–32: Sweli durch mich zerganklich minne lassent, und mich mit rehter tru´w und minne allein enphahent und dar an stet e e v belibent, die wil ich hie mit miner gotlichen minne und suzigkeit mehellen, und wil an ir tode min hende bieten, und wil su´ in den tron miner ewigen wirdekeit vor allem himelschen her erhoehen. Die Auslegung von Iob 14,15 als Verheißung ewigen Lebens auch bei Albert, BORGNET 24 [Anm. 12], S. 218 (in Io 5,25). Zu den älteren Motiven der Christus-Johannes-Gruppe in der Exegese Alberts s. WEHRLI-JOHNS [Anm. 6], S. 268. Zur Deutung der dextrarum iunctio aus der Hochzeitssymbolik s. HAUSHERR [Anm. 4], S. 96.

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weiterzugeben. Im Gesamtaufbau der ›Vita‹ dient es als strukturierendes Moment dazu, die ganze erste Stufe des ›anfangenden Menschen‹ zu kennzeichnen.42 Nun wird das Thema der geistlichen Vermählung zwischen dem Diener und der Ewigen Weisheit bereits in Kapitel 3 zur Sprache gebracht, und zwar nicht im johanneischen Bild der Vision nach Io 13,23, sondern beschrieben als ein Mutter-Kind-Verhältnis. Die Ewige Weisheit spricht ihn an: Gib mir din herz, kind mins (14,3), umfängt und drückt ihn an ihr liebevolles Herz, so daß es o ihm so erging als so ein muter ir sugendez kindli hat under den armen uf der schosse stende (15,10–11). Bereits jetzt erfolgt auch die Einzeichnung des Namens IHS in das Herz des Dieners, ohne daß dieser Augenblick wie im ›Horologium‹ eingebunden wäre in den Strom sakramentaler Vermittlung. Dies bedeutet, daß in der ›Vita‹ die Einigung mit Gott anders als im ›Horologium‹ in der Weise der Geburt und des »Sohn-werdens in Christus« (KAISER) gedacht wird, was der im ›Büchlein der Wahrheit‹ übernommenen Lehre Eckharts entspricht (BdW V).43 Wie zur Bestätigung der Lehrtradition Eckharts44 erscheinen denn auch in Kapitel 6 der selig meister Eghart und der heilig bruoder Johans der o Futrer von Strasburg und belehren den Diener über die wahre Gelassenheit. Beim Diener kommt es zum Durchbruch rechter Gelassenheit jedoch erst in Kap. 19, unmittelbar auf das Evangelium von Kanaan und der Verwandlung des Wassers in Wein (48,11ff.), durch das die lang anhaltende Zeit des Dürstens beendet wird. Es beginnt mit der Berufung des Johannes die zweite Stufe eines ›zunehmenden Menschen‹, nachdem der Diener in der Rolle des Jünglings den Bußstand der ›anfangenden Menschen‹ mit seinen äußerlichen Bußübungen und Kasteiungen hinter sich gelassen hat. In der Straßburger Leithandschrift A wird dem Betrachter der Moment des Durchbruchs mit dem Weinwunder bildlich signalisiert, vollzogen durch die Segnung des Jesuskindes, das dem Diener das Krüglein zum Trank reicht, in späteren Handschriften und Drucken wird der darauf folgenden Episode, der Rechtfertigung des Sünders durch das Blut Christi, der Vorzug gegeben.45 Der Jünger Jesu, dem durch das Weinwunder der geistige Sinn der Schrift aufgetan wurde, wird nun als Schüler in ein »vernünftiges Land« geführt, um dort die hohe Schule und Kunst der Gelassenheit zu erlernen, daz ist nit anders denn ein genzu´, volkomnu´ gelassenheit sin selbs, also daz ein mensch stand in soelicher entwordenheit, wie im got ist mit im selb ald mit sinen creaturen, in lieb ald in leide (Kap. 19, 54,2–5). So verbindet sich das Eckhart’sche Postulat der Gelassenheit und der Aufgabe des Eigenwillens mit dem Dionysischen Postulat des compati, des passiven Erleidens der Passion Christi, das den Diener gemäß der Lehre des ›Horologiums‹ zum christusför42

Zur systematischen Anlage der ›Vita‹ vgl. auch MICHEL, Seuse [Anm. 6], S. 305 u. 309; BLANK, Seuses ›Vita‹ [Anm. 6], S. 289. 43 KAISER, Christozentrik, in: BLUMRICH/KAISER, Philosophia spiritualis [Anm. 6], S. 120–122. 44 Vgl. STURLESE, in: STURLESE/BLUMRICH, Heinrich Seuses Buch der Wahrheit [Anm. 1], S. XX−XXI. 45 Siehe DIETHELM, Durch sin selbs [Anm. 1], S. 180–185.

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migen ignem patiens macht, ein Wissen, das der Diener in Bild 3 wiederum in priesterlicher Funktion, die geöffnete Brust mit dem eingravierten Christusmonogramm dem Betrachter darbietend, an die wahren Gottesfreunde weitervermittelt. Diese werden personifiziert durch eine Begine oder Laienschwester, die in späteren Handschriften das Gewand des 1405 approbierten Dritten Ordens des hl. Dominikus tragen wird.46 Die Zeit der mannigfachen inneren und äußeren Verfolgungen hält an bis zur Kreuzigung Christi. Der Diener erleidet in Kapitel 30 mit Christus das Martyrium des Kreuzes, so wie Johannes und Maria, die der Diener nunmehr als seine Mutter bezeichnen darf (89,4). Vorbild für dieses »Sohn-werden in Christus« ist also wiederum Johannes. Durch die Rollenidentifikation seiner eigenen Mutter mit der Schmerzensmutter in Kapitel 42 wird diese Sohnschaft des Johannes zusätzlich durch das Motiv der leiblichen Mutterschaft verstärkt. Als mit Christi Tod auch die Todesstunde des Dieners naht, spricht dieser die Worte: Ach, erbarmherzige Cristus, als du an dinem jungsten hinscheidene din lieben junger dinem himelschen vater mit tru´wen beviel, in der selben minne sien su´ dir bevoln, daz du in och ein guot heilig ende verlihest. Nu o nim ich einen lidigen abker von allen creaturen, und ker mich hin zu der blossen gotheit in den ersten ursprung der ewigen seligkeit (89,23–28). Mit dieser letzten Fürbitte für seine geistlichen Kinder, verlassen ihn die Sinne, erstirbt das Herz des Dieners, jedoch nur um sogleich wieder zum Leben erweckt zu werden, getreu den Abschiedsworten Jesu an seine Jünger in Io 22–23, das in der Auslegung Thomas von Aquins zum Sinnbild des kontemplativen Lebens geworden ist: »Sic eum volo manere, ich will, daß er bis zu meinem Kommen bleibt.«47 Dieser zweite Durchbruch an Ostern signalisiert zugleich die höchste Stufe der Vollkommenheit, gekennzeichnet durch ein Ende allen Leidens und die Rückkehr in den göttlichen Ursprung. Gleich dem Flug des Adlers zerspreiten sich neiswi die arm siner sele in du´ witen ende der welt in himeln und in erde, und danket und lobte got mit einer grundlosen herzklichen begirde (Kap. 31, 90,24–26). Am Ostertag wird dem Diener in einer Vision offenbart, womit Christus ihm und allen anderen leidenden und gelassenen Menschen ihre Geduld im Ertragen von Leiden belohnen wird: Su´ sind mit mir erstorben. su´ e son och mit mir frolich erstan (Kap. 32, 93,12f.). Drei besondere Gaben sollen sie erhalten, Wunschesgewalt im Himmel und auf Erden, ewiger Friede und die e Einladung zur ewigen Hochzeit, die dem Diener in Kapitel 5 als vorspil gotli46

Siehe ebd., S. 184–188. Das dominikanische Drittordenshabit ist abgebildet in der Handschrift R (Breslau, ursprünglich Dominikanerinnenkloster zum hl. Kreuz in Regensburg, vgl. BIHLMEYER, S. 6*), der Handschrift W (Wolfenbüttel, ursprünglich Nürnberg, BIHLMEYER, S. 7*), der Handschrift P (Paris, ursprünglich St. Nikolaus in undis, Straßburg, BIHLMEYER, S. 8*) sowie im Druck von 1482, BIHLMEYER, S. 159*. 47 S. Thomae Aquinatis Super Evangelium S. Joannis Lectura, cura P. RAPHAELIS CAI OP, Roma l952, Nr. 2648. Zur Exegese dieser Johannesstelle bei Albert dem Großen s. BORGNET 24 [Anm. 12], S. 715–717. Da heißt es unter Berufung auf den Brief des Dionysius Areopagita an den Apostel Johannes: Et ideo passiones persecutorum quas sustinuit, dolorem qui rationem angustiaret vel animam tolleret, non in eum inciderunt (S. 716).

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ches trostes bereits zuteil wurde. In diesem letzten Kapitel seines Vollkommenheitsweges vermittelt der Diener jedoch nicht nur die für alle Gläubigen bestimmte Lehre des ›Horologiums‹, sondern eine zweite, nur wenigen auserwählten Menschen vorbehaltene Botschaft. Für diese zweite Botschaft wechselt der Diener den Dialogpartner: An die Stelle der zweiten Person, der Ewigen Weisheit, tritt nun die ewige Wahrheit, d. h. Gott als die ungeschaffene Wahrheit: Dar na kert er sich mit siner vernu´nftekeit zuo der ewigen warheit und sprach also: ›ach ewigu´ warheit, nu bewise mich diser verborgnen togenheit, als verr man es den gewoerten mag; du´ warheit mengem blinden menschen so gar unkund ist‹ (94,5–8). Bekanntlich übernimmt der Diener hier Eckharts Lehre von der abegescheidenheit, wie sie auch im 5. Kapitel des ›Büchleins der Wahrheit‹ niedergelegt ist.48 Der vollkommen gelassene Mensch, der sich von seinem eigenen Selbst und von allen Dingen losgelöst hat, »dessen Sinn und Geist sind so ganz in Gott eingegangen, daß sie nicht mehr um sich selber wissen, sondern sich und alle Dinge in ihrem ersten Ursprung nehmen.« Diese Menschen, und hier bringt die ›Vita‹ ein neues Element hinein, das aber als entscheidendes Merkmal des intendierten status perfectionis angesehen werden muß, haben darum »so große Lust und so großes Wohlgefallen an jedem Ding, das Gott tut, als ob Gott (des Tuns) ledig und müßig wäre und ihnen aufgegeben habe, an diesem Ding nach ihrem Sinne zu wirken. Und in dieser Weise gewinnen sie Wunschesgewalt in sich selbst, denn ihnen dienen Himmel und Erde, und ihnen sind alle Geschöpfe gehorsam, indem ein jegliches tut, was es tut, oder läßt, was es läßt«.49 Der Vollkommenheitsweg Elsbeth Stagels, der geistlichen Tochter des Dieners, ist, wie man seit den Studien von WALTER BLANK und MARKUS ENDERS50 weiß, spiegelbildlich dem Weg des Dieners nachgebildet. Ich werde deshalb nur auf die zentralen johanneischen Strukturelemente dieses zweiten Teils der ›Vita‹ eingehen. Zu Beginn, in Kapitel 33, erbittet Elsbeth Stagel vom Diener der Ewigen Weisheit, er möge sie, so wie der Pelikan seine Jungen mit seinem eigenen Blut, mit seiner geistlichen Lehre speisen. Der Diener stimmt diesem Vorhaben zu, nachdem er sich vergewissert hat, daß die Tochter bereit ist, die »hohe Lehre« des Meisters Eckhart vorderhand noch beiseite zu lassen, da sie bei anfangenden Menschen Schaden anrichten könnte. Im Eucharistiesymbol des Pelikans, das dem Visionsbild der eucharistischen Hochzeit im ersten Teil gegenübersteht, wird also gleich am Anfang auf den priesterlichen Charakter dieser Art von Wissenvermittlung an Nonnen hingewiesen. Durch wen diese Vermittlung eucharistischen Wissens erfolgt, zeigt das nächste Kapitel. Es ist der Diener in seiner Rolle als Beichtvater, gleichgesetzt mit Johannes Evangelista. 48

STURLESE/BLUMRICH [Anm. 1], S. 17–27, s. auch die Einleitung von STURLESE, S. XXXIX−XLVI. 49 Übersetzungen aus: Heinrich Seuse, Deutsche mystische Schriften, aus dem Mittelhochdeutschen übertragen und herausgegeben von GEORG HOFMANN. Mit einer Hinführung von EMMANUEL JUNGCLAUSSEN, Düsseldorf 1986, S. 102f. Zum Inhalt von Kapitel 32 s. auch ENDERS, Das mystische Wissen [Anm. 6], S. 150–156. 50 BLANK, Seuses ›Vita‹ [Anm. 6], S. 291–295; ENDERS, Das mystische Wissen [Anm. 6], S. 156ff.

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Seine Aufgabe besteht darin, die Nonne als seine geistliche Tochter zurückzuführen in das göttliche Herz. Dies wird verdeutlicht mit Hilfe einer weiteren Variante der Christus-Johannes-Gruppe: Nicht Johannes liegt an der Brust des Herrn, sondern die geistliche Tochter liegt an der Brust des Dieners und wird auf diese Weise der göttlichen Gnade teilhaftig (Kap. 34,101). Darauf durchläuft Elsbeth getreu der Lehre des Dieners zunächst die Stufen des ›anfangenden Menschen‹, für die ihr, gleich der Novizenerziehung in den Predigerkonventen, die Lektüre der ›Vitaspatrum‹ empfohlen wird. Für das fortschreitende Leben unterzieht sie sich auf Rat des Dieners inneren Leiden und langwierigen Krankheiten. Dieser Teil bietet auch Gelegenheit, wiederum mit Hilfe der Bilder die Vorbildlichkeit des Dieners im Ertragen von Leiden und in der richtigen Gottesliebe aufzuzeigen. Wie im ›Horologium‹ endet die Stufe des ›fortschreitenden Menschen‹ mit der Verbreitung des Namens Jesu in der Art einer Bruderschaft, wobei hier der Akzent auf das Zusammenwirken der beiden Ordenszweige zum Heile der übrigen Gläubigen gelegt wird.51 Wie in Teil I folgt nun in den letzten Kapiteln 46–53 ein spekulativ-theoretischer Teil des vollkommenen Lebens. Dieser Teil wird eingeleitet durch das Bild des Adlers, das in der Johannesexegese Alberts die Vollkommenheit der kontemplativen Gotteserkenntnis bezeichnet, nur ist es nun nicht der alle Grenzen überfliegende Adler selbst, sondern der seine Jungen zum Höhenflug anleitende Adler:52 Fro tohter, es weri nu wol zit, daz du fu´rbaz in ein nehers giengist, und dich uss dem o nest biltlichs trostes eins anvahenden menschen uf erlupfist. Tu als ein junger zitiger adler, da mite daz du die wolgewahsen vetchen, ich meine diner sele obresten krefte, e e erswingest in die hohi dez schowlichen adels eins seligen volkomen lebens. Waist du o nit, daz Cristus sprach zu sinen jungern, die an siner biltlicher gegenwurtigkeit ze vast kleptan: ›es ist u´ch furderlich, daz ich von u´ch var, sond ir dez geistes enpfeklich e e werden‹? Din vordren ubungen sind gewesen ein gutu´ bereitunge, fu´rbaz ze komen dur e die wusti eins vihlichen unbekanten lebens, hin in daz geheissen land eins lutren e ruwigen herzen, in dem hie seligkeit anvahet und an enr welt eweklich blibet. Und daz dir der hoh vernu´nftiger weg des bekanter sie, so wil ich dir vor lu´hten mit dem liehte e eins guten underscheides, wenn du den underscheid wol begrifest, daz du mit nihtu´ maht verierren, wie hoh du iemer mit den sinnen flu´gest (Kap. 46, 156,1–16).

Auf die Interpretation dieser Kapitel, in deren Verlauf die geistliche Tochter entsprechend dem ›Büchlein der Wahrheit‹ zunächst in der richtigen Unterscheidung von wahrer und falscher Gelassenheit unterwiesen wird, sodann bei Erörterung der »hohen Fragen« über Gott und die Trinität den Flug des Adlers, d. h. die Erkenntnis Gottes in seinem Wesen ganz nach Eckhart als eine sich selbst verstehende istigu´ vernunftkeit (171,20),53 erlernt und schließlich nach der Einigung mit dem trinitarischen Gott die letzte Stufe des mystischen Weges nach 51

Bild 10 der Handschrift A, f. 68v, s. DIETHELM [Anm. 1], S. 209. Auch diese Auslegungstradition ist bei Albert dem Großen entwickelt, s. BORGNET 24 [Anm. 12], S. 2 (Prol. in D. Joannem). Zum Adlerbild auch MICHEL [Anm. 6], S. 305. 53 Vgl. STURLESE, in: STURLESE/BLUMRICH [Anm. 1], S. XXXIII, BdW II, 30f., und ENDERS [Anm. 6], S. 205. 52

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der negativen Theologie des Areopagiten und der Lehrtradition Eckharts erreicht, kann hier nicht weiter eingegangen werden.54 Für den hier interessierenden Zusammenhang genügt der Befund, daß die der Struktur der ›Vita‹ zugrundegelegte Gestalt des Evangelisten nicht nur zur theologischen Fundierung der cura monialium eingesetzt wird, sondern auch die Funktion erfüllt, zwei unterschiedliche Lehrtraditionen zu verklammern und zugleich mit dem Dreistufenweg der Anfangenden, Fortschreitenden und Vollkommenen zu verknüpfen. WINFRIED TRUSEN55 und LORIS STURLESE56 haben beide auf das Anliegen Seuses hingewiesen, seinen verehrten Lehrer Eckhart zu verteidigen. Diese Auffassung gründet einerseits auf biographischen Angaben in der ›Vita‹, andererseits auf dem ›Büchlein der Wahrheit‹. Nun erfüllt die ›Vita‹ offensichtlich den Zweck, die divergierenden philosophisch-theologischen Modelle des ›Horologiums‹ bzw. des ›Büchleins der ewigen Weisheit‹ und und des ›Büchleins der Wahrheit‹ zu harmonisieren. Außerdem soll die Lehre Eckharts dahingehend entschärft werden, daß sie nur noch den perfecti, d. h. den Predigern und den ihnen inkorporierten Frauenklöstern, vorbehalten bleibt, nicht jedoch für die beiden ersten Stufen bestimmt ist, zu denen auf der zweiten Stufe auch die Beginen und die Gottesfreunde gezählt werden. Auf der anderen Seite sind im Unterschied zu den beiden anderen Werken Seuses sowohl die ›Vita‹ wie das ›Büchlein der Wahrheit‹ nur im ›Exemplar‹ überliefert.57 Wie KURT RUH58 außerdem nachgewiesen hat, kann die im ›Exemplar‹ überlieferte Fassung des BdW nicht ohne Kenntnis der ›Vita‹ verfaßt worden sein, womit eine Frühdatierung des BdW in die Jahre unmittelbar nach dem Eckhartprozeß zweifelhaft erscheint. Daraus kann man entweder schließen, daß Seuses selber an einer Harmonisierung seiner Werke interessiert war und zu diesem Zweck die ›Vita‹ und eine revidierte Fassung des BdW erstellte, das ›Exemplar‹ also tatsächlich, wie allgemein angenommen, eine autorisierte Ausgabe letzter Hand darstellt, oder aber man gelangt zum Schluß, daß andere nach seinem Tod die Redaktion des ›Exemplars‹ unternommen haben, womit sich gleichzeitig die Frage stellt, ob bei dieser Gelegenheit nicht auch das ›Büchlein der Wahrheit‹ zur Verteidigung Eckharts neu hinzugefügt worden ist.

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Ich verweise dazu auf die Interpretation der entsprechenden Kapitel bei ENDERS [Anm. 6], S. 181–246. 55 WINFRIED TRUSEN, Der Prozeß gegen Meister Eckhart. Vorgeschichte, Verlauf und Folgen, (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft NF 54), Paderborn 1988, S. 134–163. 56 STURLESE, in STURLESE/BLUMRICH [Anm. 1], S. XIV-LXIII. 57 Siehe RÜDIGER BLUMRICH, Die Überlieferung der deutschen Schriften Seuses. Ein Forschungsbericht, in BLUMRICH/KAISER, Philosophia spiritualis [Anm. 6], S. 189–201, bes. S. 190–194. Die Frage des Briefbuches und der Predigten Seuses muß hier vorderhand ausgeklammert werden. 58 RUH, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3 [Anm. 6], S. 423–426.

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Vom discipulus zum beatus Zweifel an der Autorschaft Seuses sind schon seit dem Erscheinen von BIHLMEYERs Edition des ›Exemplars‹ geäußert worden. Vor allem KARL RIEDER, HENRI LICHTENBERGER und zuletzt wieder JEANNE ANCELET HUSTACHE haben mit Nachdruck den hagiographischen Charakter der ›Vita‹ herausgestellt und für eine posthume Kompilation aus dem Kreise seiner Anhänger oder Anhängerinnen plädiert.59 Von RIEDER erfolgte auch der entscheidende Hinweis auf ›Vita‹, Kap. 4, wo es heißt, der Diener truog den namen also uf sinem herzen unz an sinen tod (16,26–27).60 Wenn sich diese Meinung nicht durchsetzen konnte, so liegt dies daran, daß das literarhistorische Interesse seit einiger Zeit nicht mehr so sehr den biographischen Fakten der ›Vita‹ gilt, obleich diese weiterhin den Forschungsdiskurs bestimmen, als vielmehr ihrer Struktur und fiktionalen Gestaltung, sei es als geistlicher Ritterroman (SCHWIETERING),61 als pastorale Unterweisung für Nonnen (BLANK)62 oder als Neuauflage der Eremiten-Vita (WIL63 LIAMS-KRAPP). Diese Lösung würde sich auch für eine johanneische Lektüre der ›Vita‹ anbieten, zumal alle drei genannten Interpretationsmöglichkeiten darin ebenfalls ihren Platz finden. Ganz abgesehen davon, daß auch ein dem Typus der Eremiten-Vita nachgebildeter Aufstiegsweg mit dem Siegel approbierter Heiligkeit versehen sein muß, um seine intendierte Vorbildfunktion erfüllen zu können, vertritt das in der ›Vita‹ entfaltete Johannesmodell jedoch einen Vollkommenheitsanspruch, der dem Verfasser einer derartigen Autobiographie allenfalls einen Inquisitionsprozeß,64 gewiß aber keine Verehrung als beatus im Dominikanerorden eingebracht hätte. Die eingangs zitierte Eckhartstelle aus dem Johanneskommentar zur Auslegung von Io 21,22 schließt ganz klar eine eschatologische Dimension ein: »und demgemäß wird in diesen Worten: ›ich will, daß er so bleibt‹ die Vollkommenheit des Johannes selbst in seiner Person und die Vollendung des künftigen Lebens im Bild bezeichnet«.65 So heißt es denn auch ganz deutlich im Prolog des ›Exemplars‹: Es sait von aim zuonemenden mene schen, wie er mit miden und mit lidenn und ubenne einen durpruch sol nemen 59

KARL RIEDER in seiner Besprechung von K. BIHLMEYER, Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, Göttinger gelehrte Anzeigen l71 (1909), S. 450–500; HENRI LICHTENBERGER, Le mystique Suso, Revue des Cours et Confe´rences 19 (1910–1911), S. 7–14, 73–81, 154–167, 203–228; JEANNE ANCELET-HUSTACHE, Le proble`me de l’authenticite´ de la vie de Suso, in: La mystique rhe´nane, Colloque de Strasbourg 16–19 mai l961, Paris l963, S. 193–205. 60 RIEDER [Anm. 59], S. 489. 61 JULIUS SCHWIETERING, Zur Autorschaft von Seuses Vita, in: DERS., Mystik und höfische Dichtung im Hochmittelalter, Darmstadt 1960, wieder in: Altdeutsche und Altniederländische Mystik (Wege der Forschung 23), hg. von KURT RUH, Darmstadt l964, S. 309–323. 62 BLANK, Seuses ›Vita‹ [Anm. 6], S. 286ff. 63 WILLIAMS-KRAPP, Nucleus totius perfectionis [Anm. 6], S. 413. 64 Man vergleiche etwa den Inquisitionsprozeß des Dominikaners Eylard Schoenefeld in Lübeck (1402) gegen den Begarden Wilhelm, der für sich beanspruchte, so perfekt zu sein wie Johannes der Täufer, s. ROBERT E. LERNER, The Heresy of the Free Spirit in the Later Middle Ages, Berkeley l972, S. 150. 65 LW III, S. 645, Nr. 741.

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durch sin selbs unerstorben vichlichkeit hin zu grosser loblichen heilikeit. (3,10– 12). Der dreistufige Aufbau der ›Vita‹ zielt eindeutig auf die perfectio in patria, entspricht also der Lehre des Ps.-Dionysios Areopagita im 5. Kapitel der kirchlichen Hierarchien, die von Thomas von Aquin herangezogen worden war, um die joachitische Lehre vom dritten Zeitalter des Geistes zurückzuweisen.66 Aus dem gleichen Grund konnte mit ihrer Hilfe die Häresie des Freien Geistes verworfen und zugleich Eckharts Lehre im thomasischen Sinn entschärft und verteidigt werden. Wie bei Thomas von Aquin bedeutet der Opfertod Christi in der ›Vita‹ das Tor zur ewigen Seligkeit. Jetzt nimmt der Diener einen lidigen abker von allen creaturen und kehrt zurück zur blossen gotheit in den ersten ursprung der ewigen seligkeit (89,26–28). Der ewige Friede ist der Lohn des Leidens mit Christus, ein dritter Heilsstatus der Vollkommenheit im gegenwärtigen Leben erscheint damit ausgeschlossen. Einem weiteren Argument gegen die Autorschaft Seuses ist bisher ebenfalls keine Beachtung geschenkt worden: Der Tatsache nämlich, daß die spätere Ikonographie Heinrich Seuses in den Holzschnitten und Dominikanerstammbäumen des 15. Jahrhunderts praktisch im ›Exemplar‹ festgeschrieben wurde. D. h., die ›Vita‹ begründete einen Seuse-Kult, dessen Träger die dominikanischen Observanzbewegung war.67 Die ersten Spuren eines Seuse-Kultes führen zunächst nach Konstanz, den Heimatkonvent des frater Amandus.68 Wenn Ulm später der Bischofsstadt den Rang ablaufen sollte, so ist dies dem Einfluß der um die Einführung der Observanz in Ulm bemühten Kreise zu verdanken. Der Ulmer Konvent wurde 1465 auf Betreiben des aus Ulm gebürtigen Dominikaners Ludwig Fuchs reformiert. Der städtische Rat berief zu diesem Zweck die Basler Dominikaner Heinrich Ris und Heinrich Schretz nach Ulm. Schretz, der sich bereits als Reformator verschiedener Dominikanerinnenklöster im Elsaß bewährt hatte, übernahm das Priorat, Ludwig Fuchs wurde später sein langjähriger Nachfolger.69 Letzterer hatte wohl anläßlich eines Studienaufenthaltes in Italien Kontakte zu führenden Vertretern der Observanz knüpfen können. Jedenfalls gewährte Johannes de Turrecremata OP, Kardinalbischof von Praeneste, auf seine Bitte hin am 23.8.1462 in Siena einen Ablaßbrief zur baulichen Verschöne66

Siehe ERNST BENZ, Joachim-Studien III. Thomas von Aquin und Joachim von Fiore, in: ZKG 53 (1934), S. 53–116, bes. S. 83ff.; WINFRIED H. J. SCHACHTEN, Ordo salutis. Das Gesetz als Weise der Heilsvermittlung. Zur Kritik des hl. Thomas von Aquin an Joachim von Fiore (Beitr. zur Geschichte der Philospohie und Theologie des Mittelalters NF 20), Münster 1980, S. 152ff. 67 Vgl. dazu P. ANGELUS M. WALZ OP, Der Kult Heinrich Seuses, in: FILTHAUT, Heinrich Seuse [Anm. 6], S. 437–454; DERS., Von Dominikanerstammbäumen, AFP 34 (l964), S. 231–275. 68 WALZ, Der Kult [Anm. 67], S. 438. 69 Zur Reform des Ulmer Konvents s. Johannes Meyer Ord. Praed., Buch der Reformacio Predigerordens I, II und III, hg. von BENEDICTUS MARIA REICHERT (QF 2), Leipzig l909, S. 159, zu Heinrich Schretz, dessen Tätigkeit von Meyer breit gewürdigt wird, S. 114 u. 124–145, sowie P. GABRIEL M. LÖHR OP, Die Teutonia im 15. Jahrhundert (QF 19), Leipzig l924, S. 130. Siehe auch ISNARD W. FRANK OP, Franziskaner und Dominikaner im vorreformatorischen Ulm, in: Kirchen und Klöster in Ulm, hg. von HANS EUGEN SPECKER/HERMANN TÜCHLE, Ulm 1979, S. 103–147, bes. S. 125ff.

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rung der Ulmer Dominikanerkirche.70 Wie A. WALZ nachgewiesen hat, sind die bildlichen Darstellungen der Dominikanerstammbäume des 15. Jahrhunderts auf die 28. Betrachtung der ›Meditationes‹ dieses Kardinals zurückzuführen. Meyer zitiert den Prolog dieses Werkes in seinem ›Liber de illustribus viribus‹. Ein Holzschnitt aus dem Jahr 1473 illustriert diese Betrachtung mit der Darstellung eines Dominikanerstammbaumes, bei dem erstmals auch Heinrich Seuse als Sanctus erscheint.71 War Ludwig Fuchs der Vermittler und somit möglicherweise Initiant des Ulmer Seuse-Kultes? Luwig Fuchs unterstützte damals auch die Reform des Klarissenklosters Söflingen, wo die ältesten bemalten Holzschnitte aus der Zeit um 1470–1480 mit Motiven aus dem ›Exemplar‹ hergestellt wurden.72 Die Söflinger Devotionsbilder bezeugen den von Stadt und Observanz geförderten neuen Kult um das Grab Heinrich Seuses in der Ulmer Dominikanerkirche, dem man auch die zwei Altartafeln aus der Sammlung des Herzogs von Urach auf Schloß Lichtenstein73 zuordnen möchte. Todesdatum und Epitaph sind aber frühestens 1466, also sozusagen zum 100. Todestag Seuses, von Johannes Meyer in seinem ›Liber des viris illustribus‹ überliefert.74 Meyer zählt darin Seuse zu den Ordensbrüdern, die durch die Heiligkeit ihres Lebens hervorragten. Dies hätte er gewiß nicht getan, wenn die ›Vita‹ von Seuse selber verfaßt worden wäre. Von Meyer und der Mehrzahl der spätmittelalterlichen Leser des ›Exemplars‹ wurde offenbar sehr deutlich unterschieden zwischen des su´sen leben und den ihm zugeschriebenen Werken.75 Deshalb erschien es im Hinblick auf die Kultförderung auch völlig legitim, Leben und Wunder ständig zu erweitern. Dazu gehören sowohl die von Meyer redigierten Zusätze zum Tößer Schwesternbuch, d. h. die Vita Elsbeth Stagels und der Mutter Seuses, wie auch die spätere Ausgestaltung seines Ulmer Aufenthaltes. So weiß Felix Fabri, der ebenfalls aus Basel zum Kreis der Ulmer Observanten gestoßen war und die erste Druckausgabe des ›Exemplars‹ von 1482 besorgte, in seiner ›Historia Suevorum‹ erstmals vom Ulmer Exil Seuses zu berichten.76 Die hübsche 70

ISNARD W. FRANK [Anm. 69], S. 117, Anm. 52. Magister Ludwig Fuchs ist für das Jahr 1462 als Diffinitor der Provinz Teutonia auf dem Generalkapitel des Ordens zu Siena bezeugt, s. THOMAS KAEPPELI OP, Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi, Bd. 3, Rom l980, S. 94. 71 WALZ, Von Dominikanerstammbäumen [Anm. 67], S. 235–244 und Abb. 2 und 3. WALZ, Der Kult [Anm. 67], S. 438–440. 72 Siehe KARL SUSO FRANK OFM, Das Klarissenkloster Söflingen bis zur Aufhebung 1803, in: SPECKER/TÜCHLE, Kirchen [Anm. 69], S. 163–196, bes. S. 179. Zu den Holzschnitten BIHLMEYER [Anm. 1], S. 61*–62*. 73 Siehe Anm. 71. 74 BIHLMEYER [Anm. 1], S. 64*, und Johannes Meyer Ord. Praed., Liber de Viris Illistribus Ordinis Praedicatorum, hg. von PAULUS VON LOE¨ (QF 12), Leipzig l918, S. 35f. Die bei BIHLMEYER, S. 136*, angegebene Hs. des ›Horologiums‹ (München, BSB, Clm 7819) überliefert die Nachricht des Epitaphs erst von späterer Hand, durchgestrichen wurde die ältere Notiz in Constantia sepultus, s. KÜNZLE, Horologium [Anm. 7], S. 155, Hs. Nr. 114. Die verschiedenen Explicits dieser Handschrift übermitteln im übrigen ein sehr genaues Bild der verschiedenen Zeitstufen des Seuse-Kultes. Die gleichen Angaben wie in Clm 7819 finden sich auch in der aus Ötenbach stammenden Handschrift des Exemplars (Stuttgart, Württemberische LB, Cod. HB I 15), was auf eine rasche Übermittlung des Seuse-Kultes schließen läßt, s. BIHLMEYER, ebd. 75 Siehe BIHLMEYER [Anm. 1], S. 3. 76 Siehe BIHLMEYER [Anm. 1], S. 130*.

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Geschichte der Freundschaft Seuses mit dem Wiblinger Benediktiner wiederum dürfte eher aus der Zusammenarbeit zwischen den Ulmer Observanten und den von der Melker Reform berührten Benediktinern erwachsen sein.77 Diese wenigen Beispiele sollten genügen für den Nachweis, daß Seuses sog. Ulmer Jahre von einem kleinen Kreis interessierter Oberservanten erst sehr viel später seiner ›Vita‹ hinzugefügt wurden. Seuses fiktiver Aufenthalt in Ulm diente der Wiederbegründung eines Seuse-Kultes im neu reformierten Ulmer Dominikanerkloster. Damit entfällt auch der realhistorische Hintergrund für die Annahme eines ›Ulmer Archetyps‹ des ›Exemplars‹ aus der Zeit 1362–1366, und es stellt sich die Frage, ob die Straßburger Leithandschrift A (Strasbourg, BN, ms. 2929) aus dem Johanniterkloster zum Grünen Wörth nicht tatsächlich den Urtext des ›Exemplars‹ bietet.

Gottesfreundliteratur, Inquisition und Observanzbewegung KARL RIEDER, der die Gottesfreundfiktionen aus dem Johanniterkloster zum Grünen Wörth als Fälschung Nikolaus’ von Löwen entlarvt hatte, war auf Grund der großen Ähnlichkeit in der Anlage der Memorialbücher und der ältesten Handschrift des ›Exemplars‹ überzeugt davon »daß (das) Gottesfreund- und Seuseproblem auch hier in Beziehung zu einander stehen«.78 Dieser Spur soll hier zum Schluß noch etwas nachgegangen werden. Fertige Lösungen sind beim heutigen Stand der Gottesfreundforschung79 allerdings nicht zu erwarten. Es scheint mir vielmehr wichtig, die Diskussion durch neue Gesichtspunkte zu beleben. Als Ariadnefaden dient uns dabei wiederum das Johannesmotiv. Es läßt sich nicht mehr feststellen, ob die Straßburger Handschrift 2929 bereits im Mittelalter zur Bibliothek des Johanniterklosters zum Grünen Wörth gehört hatte, bzw. ursprünglich für dieses bestimmt oder sogar dort hergestellt wurde. Für letzere Hypothese sprechen aber eine Reihe von inneren Merkmalen. Wie RIEDER und andere nach ihm bemerkt haben, zeigen die Prologe zu Seuses ›Vita‹ auffällige Parallelen zu den Prologen in den Memorialbüchern, insbesondere zur Vorrede zum Traktat ›Merswins Vier anfangende Jahre‹, der fiktiven Biographie des Stifters.80 Dieser Prolog findet sich erstmals im sog. 77

Die näheren Angaben zu dieser Geschichte bei BIHLMEYER [Anm. 1], S. 131*ff. Zur Melker Reform in Wiblingen s. HERMANN TÜCHLE, Die Benediktinerabtei Wiblingen (bis zur Aufhebung l806), in: SPECKER/TÜCHLE, Kirchen [Anm. 69], S. 200–206, bes. S. 203; KLAUS SCHREINER, Mönchtum im Geist der Benediktregel, in: HANSMARTIN DECKER-HAUFF und IMMO EBERL (Hg.), Blaubeuren, Die Entwicklung einer Siedlung in Südwestdeutschland, Sigmaringen l986, S. 93–167, bes. S. 117. 78 RIEDER [Anm. 59], S. 500. 79 Dazu GEORG STEER, Merswin, Rulman, 2VL VI, Sp. 420–442. Dort auch eine Übersicht über die Gottesfreundliteratur und die Memorialbücher des Grünen Wörth. Nach STEER, Sp. 422, wurde die älteste erhaltene Handschrift von Seuses ›Exemplar‹ für die Johanniterkomturei geschrieben. 80 RIEDER [Anm. 59], S. 488 und 494. Siehe auch KARL RIEDER, Der Gottesfreund im Oberland. Eine Erfindung des Strassburger Johanniterbruders Nikolaus von Löwen, Innsbruck l905, S. 164– 167 u. 233. PHILIPP STRAUCH, Schriften aus der Gottesfreund-Literatur, 2. Heft, (ATB 23), Halle l927, Merswins Vier anfangende Jahre, S. 1 u. 22.

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›Briefbuch‹, das nach RIEDER von Nikolaus von Löwen in der Zeit von 1394– 1400 zusammengestellt worden war, um »die allerwichtigsten Schriften der beiden Stifter des Hauses der Gottesfreunde vom Oberland und Rulmann Merswins, ihre eigenhändigen Lebensbeschreibungen und ihren Briefwechsel [...] zu sammeln«.81 Dort ist auch das Johannesmotiv auffällig oft anzutreffen, und zwar im fiktiven Briefwechsel zwischen Merswin und dem geheimnisvollen Gottesfreund vom Oberland über die Stiftungsgeschichte des Grünen Wörth. Es beginnt damit, daß Merswin das aufwendige Chorprojekt der Johanniter auf Befehl des Gottesfreundes ändert, und der neue Chor zu Ehren von Johannes dem Täufer und Johannes Evangelista (der Johanniterorden selber kennt nur den Täufer als Patron) geweiht wird.82 Anschließend folgt die Parabel vom Vogelnest, die vom mysteriösen ›neuen‹ Bruder hern Johanse in einer Weise auslegt wird,83 die wiederum dem Adlermotiv in der ›Vita‹, Kap. 46, sehr nahekommt. Spätestens in Missive 9 wird deutlich, daß der neue Bruder mit dem Evangelisten Johannes gleichzusetzen ist.84 Er ist der hebräischen Sprache mächtig und deshalb in der Lage, der mittlerweile auf die Zahl 13 angewachsenen Schar der Gottesfreunde in der Osternacht die Botschaft des Himmelsbriefes kundzutun. In diesem 10. Sendbrief findet auch die Verabschiedung der Gottesfreunde statt. Rulmann wird sich künftig in eine Reklusenzelle bei der Kirche zum Grünen Wörth einschließen, nachdem ihn der Gottesfreund im Oberland um Urlaub gebeten hat, mit der Begründung, also es nu stot, so muos ich hern Johanse e gehorsam sin, alse du wol an dem briefe gehort hest.85 Wie in Seuses ›Vita‹ endet das creatürliche Leben mit Christi Opftertod, und der Durchbruch zur Gelassenheit erscheint nur denkbar in der Abgeschiedenheit eines rein kontemplativen Lebens. So rät der Gottesfreund zum Schluß: lieber heimelicher fru´nt, nu lidige dich und muessige dich und entslach dich aller creaturen und huete dich e vor allen den dingen, die dir usserliche bilde in tragen mogent, es sigent briefe o 86 oder irdensch gut. Diese Stelle setzt mit großer Wahrscheinlichkeit die Kenntnis des ›Exemplars‹ voraus. Tatsächlich enthält das Briefbuch im Traktat ›Schürebrand‹ einen wichtigen Hinweis, der diese Annahme stützt. Wie schon BIHLMEYER (S. 151*) bemerkt hat, werden darin zwei Klosterfrauen auf die Schriften der erleuchteten Gottesfreunde Tauler und Seuse aufmerksam gemacht. Dabei handelt es sich m. E. um den ältesten Beleg für den Namen »Seuse« außerhalb des ›Exemplars‹. Die Verknüpfung Seuses mit Tauler könnte heißen, daß der Redaktor des ›Exemplars‹ oder die Rezipienten seiner Lehre in den gleichen Kreisen zu suchen sind, die auch Tauler als Lehrer und Beichtvater Merswins besondere Verehrung entgegenbrachten. Es wurde kürzlich vermutet, 81

RIEDER, Gottesfreund [Anm. 80], S. 73. Ebd., S. 77*–79*. 83 Ebd., S. 79*–81*. 84 Ebd., S. 92*. 85 Ebd., S. 93*–98*, Zitat S. 98*,8f. 86 Ebd., S. 98*,15–17. 82

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die Grabplatte Taulers aus dem Kreuzgang des ehemaligen Dominikanerklosters in Straßburg sei von den Gottesfreunden im Grünen Wörth in Auftrag gegeben worden. Sie zeichnet den Prediger mit den Attributen der beiden Johannsen aus sowie dem gleichen Christusmonogramm auf der Brust wie den Diener der Ewigen Weisheit im ›Exemplar‹.87 Die Verehrung des Namens Jesu durchzieht die Ausstattung der ältesten Straßburger Handschrift des ›Exemplars‹ wie ein Leitmotiv. Überall ist das JHS-Zeichen mit der Krone im Text präsent, übergroß mit heraustretenden Blutstropfen auf f. 7 zur Illustration der zentralen Stelle in ›Vita‹, Kap. 4 (16,9–12), wo der Diener mit dem Griffel das Zeichen JHS auf sein Herz einritzt, so daß das Blut den Leib herabfließt. Mit anderer Schrift ist unter das heilbringende Blut des Dieners (!) das gleiche Gebet zu Ehren des Namens Jesu angefügt, das auch f. 1r an den Rand geschrieben ist.88 Die Straßburger Handschrift A beginnt und endet f. 161v mit der Anrufung des Namens Jesu. Dieses Motiv wiederum ist aber in der Gottesfreundliteratur frühestens im Briefbuch anzutreffen,89 so daß wohl nicht Rulman Merswin († 1382), sondern die Gottesfreunde um seinen engsten Mitarbeiter Niklaus von Löwen († 1402), wenn nicht sogar die Dominikaner selber, dafür in Frage kommen. Die im letzten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts von Nikolaus von Löwen umgearbeiteten jüngeren Memorialbücher enthalten teilweise ältere Traktate, die wiederum dem Redaktor des ›Exemplars‹ bekannt gewesen sein müssen. Es sind dies gewiss der ›Traktat von den drei Durchbrüchen‹90 bezüglich der Dreistufenlehre, das ›Neunfelsenbuch‹ für den Begriff der Wunschesgewalt91 und schließlich das ›Bannerbüchlein‹92 hinsichtlich der Abwehr des Freien Geistes und der Unterscheidung zwischen falscher und wahrer Gelassenheit. Das Schrifttum der Gottesfreunde kennzeichnet sich nach GEORG STEER keineswegs durch eine antihierarchische Laienfrömmigkeit aus.93 Der Laie unterstellt sich vielmehr einem Lehrer, der in der vielfachen Gestalt des Gottesfreundes oder aber auch wie in den Sendbriefen des Briefbuches sozusagen als Letztinstanz in Gestalt des 87

Siehe DENIS DELATTRE/JEAN DEVRIENDT, Un portrait de Jean Tauler selon Rulman Merswin?, in: Revue des sciences religieuses 70 (l996), S. 125–135; zur Interpretation der Grabplatte auch LOUISE GNÄDINGER, Johannes Tauler [Anm. 38], S. 79–82. 88 BIHLMEYER [Anm. 1], S. 4*: Gelobt vnd gebenediet sy der werde namen vnsers herren iesu xpi o vnd der hoh gelobten juncfrouwe Marien siner muter ewecliclichen an ende Amen. 89 RIEDER, Gottesfreund [Anm. 80], S. 154*–155*. 90 Ediert bei AUGUSTE JUNDT, Histoire du panthe´isme populaire au Moyen Age et au seizie`me sie`cle, Paris l875 (Nachdr. Frankfurt a. M. l964), S. 215–230, s. auch KURT RUH, ›Von den drin fragen‹, 2VL II, Sp. 234f. 91 PHILIPP STRAUCH, Schriften der Gottesfreundliteratur, 3. Heft (Altdeutsche Textbibliothek 27), Halle 1929, Merswins Neun-Felsen-Buch, S. 137 92 Edition bei AUGUSTE JUNDT, Les amis de Dieu au quatorzie`me sie`cle, Paris l879, 393–402. 93 GEORG STEER, Die Stellung des ›Laien‹ im Schrifttum des Straßburger Gottesfreundes Rulman Merswin und der deutschen Dominikanermystiker des 14. Jahrhunderts, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel l981, hg. von LUDGER GRENZMANN/KARL STACKMANN (Germanistische Symposien. Berichtsbände 5), Stuttgart l984, S. 643–658, bes. S. 648.

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Evangelisten auftreten kann. Das theologische Konzept der Gottesfreundschaft wiederum ist STEER zufolge deutlich der Lehre Eckharts und Taulers entnommen.94 Dieser Befund weist erstens darauf hin, daß in Straßburg in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts dem Laien ein philosophisch-theologisches Denken vermittelt wurde, das die Linie Eckhart-Tauler fortsetzte und nicht diejenige des ›Horologiums‹. Zweitens, daß diese Lehrtradition in den Traktaten der Gottesfreundliteratur Eingang gefunden hat (inwieweit die Dominikaner selber daran beteilt waren, sei dahingestellt) und drittens, daß genau diese Lehrtradition in der ›Vita‹ zusammen mit der Lehre des ›Horologiums‹ verknüpft und harmonisiert werden sollte. Gerade dieses Verfahren, verschiedene Traktate durch Unterlegen persönlicher Lebensdaten und Erlebnisse umzugestalten und miteinander zu verbinden, fand nach RIEDER auch bei den Memorialbüchern Anwendung.95 So ist in der ›Vita‹ der Gottesfreundaspekt sehr stark betont, umd zwar in einer Weise, die sowohl dem adlig-ritterlichen Lebensstil der laikalen Bewohner des Klosters wie auch des Johanniterordens sehr entsprochen haben muß. Insofern hat auch die Interpretation SCHWIETERINGS ihre Berechtigung. Aber auch das eremitische Element, das von WILLIAMS-KRAPP96 zur Diskussion gestellt wurde, stimmt überein mit den asketischen Intentionen der Gottesfreunde zu Grünen Wörth, in deren Besitz sich im ürigen eine der ältesten alemannischen ›Vitaspatrum‹-Handschriften befand.97 Zusätzlich zu den genannten Argumenten sind noch weitere, historische Gründe anzuführen, die für Straßburg als Entstehungsort und eine relativ späte Datierung des ›Exemplars‹ in die Zeit um 1390–1395 sprechen. Das ›Exemplar‹ zeigt in der Gesamtanlage und in einzelnen Passagen eine ausgesprochen antihäretische Tendenz, die sich m. E. nur aus den lokalen Verhältnissen am Oberrhein erklären läßt. Nur hier ergab sich aus der besonderen Lehrtradition der Eckhart/Tauler-Schule die Notwendigkeit einer Abgrenzung gegenüber den freigeistigen Beginen und Begarden. Denn erstmals bei den Straßburger Beginenverfolgungen des Jahres 1374 wurden hier auch Lehrsätze aus der Verurteilungsbulle Eckharts wie aus dem ›Neunfelsenbuch‹ in Verbindung mit der Häresie des Freien Geistes gebracht.98 Daß die Gottesfreunde im Grünen Wörth ein vitales Interesse haben mußten, vom Vorwurf der Nähe zum Freien Geist freigesprochen zu werden, liegt auf der Hand und wird bestätigt durch eine Anspielung im ›Briefbuch‹ auf Rulman Merswins ketzerische bekorunge zu Beginn seines 94

STEER, Stellung [Anm. 78], S. 648. Vgl. RIEDER, Gottesfreund [Anm. 80], S. 75ff. 96 WILLIAMS-KRAPP, Nucleus totius perfectionis [Anm. 6]. 97 Siehe ULLA WILLIAMS, Die ›Alemannische Vitaspatrum‹. Untersuchungen und Edition (TTG 45), Tübingen l996, S. 37*, Cod. A 100, seit 1819 verschollen. Zu beachten ist aber, daß sich die Altväterlehre im ›Horologium‹ traditionsgemäß auf die Erziehung des jungen Klosterbruders beschränkt, dem geraten wird, in der Zelle zu bleiben und überflüssiges Herumwandern zu meiden (Hor. 546), während sie erst in der ›Vita‹ mit dem Eckhartschen Postulat der Gelassenheit und der Abkehr von äußerlichen Bußübungen verknüpft ist. 98 Siehe dazu ALEXANDER PATSCHOVSKY, Straßburger Beginenverfolgungen im 14. Jahrhundert, DA 30 (1974), S. 56–239, bes. S. 118–125 u. 191–198. 95

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geistlichen Weges.99 Nach dem Inquisitionsurteil über den Benediktiner Martin von Mainz aus dem Jahre 1393, das in einer verlorenen Straßburger Handschrift überliefert ist, wurden zu diesem Zeitpunkt in Heidelberg eine Anzahl von Menschen als Ketzer verbrannt, die als Gottesfreunde und Anhänger des Laien Nikolaus von Basel näher bezeichnet werden.100 Nun ist bekanntlich Nikolaus von Basel von der älteren Forschung (KARL SCHMID) mit dem Gottesfreund Merswins identifiziert worden. Sehr viel wahrscheinlicher ist aber, daß der stark dominikanisch geprägte johanneische Gottesfreundbegriff des ›Briefbuches‹ und des ›Exemplars‹ dieser häretischen laikalen Auffassung des Gottesfreundes entgegengesetzt wurde. Wie im ›Bannerbüchlein‹ kämpfen die ritterlich gekleideten Gottesfreunde im ›Exemplar‹ unter dem blutroten Banner Christi, im Gegensatz zu den valschen frien menschen unter dem Banne Luzifers, die do sprechent su´ habent nu´t me zuo sterbende noch zuo lidende.101 Ihr Anführer aber ist ein Dominikaner, der sie darüber belehrt, daß ritterlichu´ klaid und ere son su´ eweklich niessen, die sich hie dur got lidens und midens nit land verdriessen (Abb. 2).102 Im Straßburger Inquisitionsprozeß gegen den preußischen Priester und Magister Johannes Malkaw (1390–1391) begegnen wir erstmals konkret einer Konstellation, bei der sich beide Beteiligten, die Johanniter zum Grünen Wörth und die Dominikaner, zu einer gemeinsamen Abwehrfront gegen die Häresie zusammengefunden hatten.103 Johannes Malkaw hatte sich in Straßburg im Jahre 1390 als Anhänger Urbans VI. und scharfer Kritiker der Bettelorden unliebsam hervorgetan. Der clementistische Komtur zum Grünen Wörth, Heinrich von Wolfach, mußte damals als Folge der Agitation Malkaws vor dem Zorn der Bürger nach Freiburg im Uechtland fliehen, die angegriffenen Bettelorden versuchten Malkaw durch ein Inquisitionsverfahren zum Schweigen zu bringen. Nun findet sich in der Anklageschrift des dominikanischen Inquisitors Nikolaus Böckeler, in der ihm praktisch alle Häresien der Zeit zur Last gelegt wurden, unter Punkt 4 auch die Anschuldigung, Malkaw habe gepredigt, daß das Herz Christi beim Durchstoß der Lanze noch gelebt habe, diese Häresie habe aber ihren Ursprung bei Petrus Johannis Olivi und deshalb sei Malkaw unter anderem als Fraticelle zu verurteilen. In seiner Verteidigungsschrift, die Malkaw im Straßburger Inquisitionsgefängnis zu Colmar verfaßt hatte, weist dieser entschieden zurück, diese Lehre je verbreitet zu haben, vermerkt aber, daß in Straßburg zu dieser Zeit unter Laien viel darüber gesprochen worden sei.104 Nun 99

RIEDER, Gottesfreund [Anm. 80], S. 145*. Ediert aus Cod. B 174 bei KARL SCHMID, Nikolaus von Basel, Wien l866, S. 66–69; s. auch HERMAN HAUPT, Beiträge zur Geschichte der Sekte vom freien Geiste und des Beghardentums, ZKG 7 (1885), S. 503–576, bes. S. 508–511. 101 JUNDT, Les amis [Anm. 91], S. 395. 102 Bild 9 der Straßburger Handschrift A, f. 67r, abgebildet und beschrieben bei DIETHELM, Durch sin selbs [Anm. 1], S. 202–204. 103 Zu diesem Prozeß s. HERMAN HAUPT, Johannes Malkaw aus Preußen und seine Verfolgung durch die Inquisition zu Straßburg und Köln (1390–1416), ZKG 6 (l884) S. 323–389 u. 580–584. 104 Siehe HAUPT, Johannes Malkaw [Anm. 103], S. 366 u. 373. 100

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könnte diese Diskussion um die auf dem Konzil von Vienne verurteilte Seelenlehre Olivis sehr wohl der Grund gewesen sein, warum im Passionskapitel der ›Vita‹ dem Herzenstod des Dieners so grosse Bedeutung beigemessen wurde.105 Vom dominikanischen Inquisitor Nikolaus Böckeler ist bekannt, daß er der observanten Richtung des Ordens angehörte und überdies enge Kontakte zu Köln pflegte.106 In Straßburg war er offenbar eng befreundet mit dem Hauptgegner Malkaws, dem bekannten Theologen und Augustinereremiten Johannes Hiltalinger von Basel.107 Nun enthält der Sentenzenkommentar Hiltalingers († 1392) auch Auszüge aus dem avignonesischen Gutachten Jacques Fourniers, des späteren Papstes Benedikt XII., im Eckhartprozeß.108 Vom Malkawprozeß, dessen Akten später nach Köln in die Hände des ebenfalls observant eingestellten Dominikaners Jakob von Soest gelangten,109 führt auch eine Linie zum Vorbesitzer der Akten des Eckhartprozesses in der Handschrift 33 der Stadtbibliothek Soest.110 D. h., die gleichen observanten Kreise, die inquisitorisch gegen die Häresie des Freien Geistes vorgingen, waren möglicherweise auch an einer Abgrenzung und Verteidigung der Lehre Eckharts interessiert. Diese Zusammenhänge zwischen Inquisition, Observanz und dem Fortwirken Eckharts in Straßburg und Köln111 müßten m. E. auch für eine genauere quellenkritische Untersuchung des ›Büchleins der Wahrheit‹ beachtet werden. In den Jahren unmittelbar nach dem Malkawprozeß konnte die Observanzbewegung große Erfolge verzeichnen. 1392 wurden auf dem Provinzialkapitel zu Speyer alle Mitbrüder von der observanten Ordensleitung schriftlich aufge105

›Vita‹, Kap. 30, 87,24f. do lu´f er dar mit leid und bitterkeit und greif im uf sin herz, daz er markti, o ob kein leben noch da were. Do waz es gelegen, daz es sich als wenig rute als in einem toten menschen. 106 Siehe GABRIEL M. LÖHR OP, Die Kölner Dominikanerschule vom 14. bis zum 16. Jahrhundert, Köln l948, S. 62f. Böckeler war 1378 Magister studentium in Köln, der spätere Provinzial Ulrich Theobaldi (1390–1397), war dort 1376 Lector principalis (LÖHR, S. 60). 1399 erhielt Böckeler weitgehende Vollmachten zur Reform des Kölner Konvents, s. LÖHR, Die Teutonia im 15. Jahrhundert [Anm. 69], S. 1. Siehe auch BENEDICTUS MARIA REICHERT, Registrum litterarum Raymundi de Capua (1386–1399) – Leonardi de Mansuetis (1474–1480) (QF 6), Leipzig l911, S. 9 die Einträge zum 10./11. April 1390, wo der Ordensgeneral Raymund von Capua N. Böckeler zum Inquisitor für die Kirchenprovinz Mainz ernennt und dieser zugleich beteiligt ist an der Absetzung des clementistischen Provinzials Petrus Engerlin, woraus geschlossen werden kann, daß die Obödienzfrage beim Inquisitionsprozeß gegen Malkaw nicht die entscheidende Bedeutung hatte, wie HAUPT annimmt. 107 HAUPT [Anm. 103], S. 334. 108 Siehe PATSCHOVSKY, Straßburger Beginenverfolgungen [Anm. 98], S. 122ff.; TRUSEN, Prozeß [Anm. 55], S. 116ff. 109 Die Anklagepunkte im Kölner Malkawprozeß wurden von Straßburg übernommen, s. HAUPT [Anm. 62], S. 358, ferner JOSEF HERMANN BECKMANN, Studien zum Leben und literarischem Nachlaß Jakobs von Soest O.P. (1360–1440) (QF 25), Leipzig l919, S. 23–27. 110 Siehe TRUSEN, Prozeß [Anm. 55], S. 80ff. 111 Siehe dazu auch JOSEF KOCH, Meister Eckharts Weiterwirken im deutsch-niederländischen Raum im 14. und 15. Jahrhundert, in: La mystique rhe´nane [Anm. 59], S. 132–156, bes. S. 139ff. LORIS STURLESE, Meister Eckharts Weiterwirken. Versuch einer Bilanz, in: HEINRICH STIRNIMANN/RUEDI IMBACH, Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus. Nachweise und Berichte zum Prozeß gegen Meister Eckhart (Dokimion 11), Freiburg/Schweiz 1992, S. 169–183.

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fordert, die Einführung der Observanz nicht zu hindern. Zu den Mitunterschreibern gehörte auch Gottfried von Mengen aus dem Heimatkonvent Seuses, damals Vikar über alle schwäbischen Konvente und Diffinitor des Generalkapitels.112 Die Refom von Schönensteinbach stand unmittelbar bevor, auch eine Reform der Straßburger Dominikanerinnenklöster schien 1396 in Reichweite gerückt.113 Was lag näher, als dieser Bewegung ein spirituelles Seelsorgeprogramm zu geben, in dem die Lehrmeinungen der verschiedenen Strömungen der deutschen Dominikanerschule repräsentativ vertreten und der Orden zu jener unitas cordis der Anfangszeit zurückgeführt werden konnte? Seuse verfügte als Autor des bis in die Niederlande bekannten ›Horologiums‹ über einen hohes Ansehen, bot sich also als Integrationsfigur geradezu an. Außerdem vertrat er ein Wissenschaftsideal, das der ersten Generation Ordensreformer entsprach. Oder ist es ein Zufall, wenn der Diener der Ewigen Weisheit bei der Einkleidung zum geistlichen Ritter mit den Emblemen des hl. Dominikus ausgezeichnet wird?114 Warum Elsbeth Stagel die gleiche Ehre für den weiblichen Ordenszweig zuteil wurde, hängt vielleicht damit zusammen, daß Nikolaus von Löwen laut ›Briefbuch‹ tatsächlich 1389 in Engelberg bei Johannes von Bolsenheim erschienen war und dort Kenntnis der Engelberger Handschrift E des ›Büchleins der Ewigen Weisheit‹ mit der Schlußnotiz Elsbeths und ihrer Familie erhalten hatte.115 Auch bei den Gottesfreunden zum Grünen Wörth bestand ein Interesse an einer Reform der Dominikanerinnenklöster. Johannes Meyer, der Ordenshis112

Siehe Johannes Meyer Ord. Praed., Buch der Reformacio Predigerordens IV und V, hg. von BENEDICTUS MARIA REICHERT (QF 3), Leipzig l908, S. 10f. 113 Siehe ANNETTE BATHELME´ , La re´forme dominicaine au XVe sie`cle en Alsace et dans l’ensemble de la province de Teutonie (Collection d’etudes sur l’histoire du droit et des institutions de l’Alsace 7), Strasbourg l931, S. 30–37. Zu Straßburg s. auch CHARLES WITTWER, L’Obituaire des Dominicains de Colmar, The`se Fribourg/Suisse, Mulhouse l934, S. 58. 114 Vgl. Abb. 2 (Bild 9 der Handschrift A), wo der Diener kniend vor dem weißroten Wappenschild mit der Umschrift dz wiss feld betu´tet luterkeit, daz rot gedultekei zu sehen ist und die von Johannes Meyer an den Schluß des ›Liber de Viris Illustribus‹ [Anm. 74], S. 72, gesetzte Stelle aus der Antiphon zum Magnificat der zweiten Vesper des Festoffiziums des hl. Dominikus: O lumen ecclesie, doctor veritatis, rosa paciencie, / ebur castitatis, aquam sapiencie propinasti gratia: / predicator gracie nos iunge beatis. Zum sapientialen Wissenschaftsverständnis der Frühobservanz, das von Johannes Meyer erneut angestrebt wurde, s. BERNHARD NEIDIGER, Selbstverständnis und Erfolgschancen der Dominikanerobservanten. Beobachtungen zur Entwicklung in der Provinz Teutonia und im Basler Konvent (1388–1510), Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 17 (1998), S. 67–122, bes. S. 87–97. 115 RIEDER, Gottesfreund [Anm. 80], S. 138*–140*, zur Handschrift E (Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 141) s. BIHLMEYER, S. 11*–12*. Allerdings ist die Frage nach dem Anteil Elsbeth Stagels an der Zusammenstellung des ›Großen Briefbuches‹ noch völlig offen. Dieses wird zusammen mit Fragmenten der ›Vita‹ zuerst überliefert in der Handschrift Berlin, Ms. germ. oct. 69 des ausgehenden 14. Jahrhunderts, die BIHLMEYER, S. 21*, einem Straßburger Nonnenkloster zuordnet. Diese Handschrift steht aufgrund der Lehren einer erleuchetenen Gottesfreundin, die auch Tauler und den Straßburger Dominikaner von berowe erwähnt, sicherlich den Gottesfreunden nahe. Die Aufnahme einer in das Jahr 1391 datierten Übersetzung der Vita der Margaretha von Ypern läßt an ein observantes Kloster denken, die Stücke aus den ›Revelationes‹ der hl. Brigitta von Schweden an Schönensteinbach. Eine genaue Beschreibung der Handschrift bietet PAULGERHARD VÖLKER, Die deutschen Schriften des Franziskaners Konrad Bömlin (MTU 8), München l964, S. 109–115.

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toriker der Observanz, gedenkt der Rolle, die der Gottesfreund Merswins beim Eintritt der Margaretha von Kentzingen in das observante Kloster Unterlinden gespielt hat.116 Zahlreiche Angehörige dieser Straßburger Patrizierfamilien traten den reformierten Frauenklöstern bei, ließen sich wie die ersten Schwestern von Schönensteinbach vom Ordensreformator Konrad von Preußen mit dem Bild von Maria und Johannes unter dem Kreuz einschließen und unterstellten sich der Obsorge ihrer beiden Beichtväter, den irdischen Vertretern Johannes des Täufers und Johannes Evangelista117 Seuses ›Vita‹ und angebliches Musterbuch also eine Reformschrift der elsässischen Observanzbewegung, gestiftet von den Gottesfreunden zum Grünen Wörth? Es wäre jedenfalls verfrüht zu meinen, es gäbe keine Seusefrage zu lösen.

Nachtrag Der vorliegende Beitrag wurde 1998 abgeschlossen und für die Drucklegung lediglich auf Fehler durchgesehen. Die seither erschienene Literatur zu Heinrich Seuse und zur Johannes-Verehrung im Dominikanerorden konnte nicht mehr eingearbeitet werden. Dennoch sei auf einige wichtige Neuerscheinungen zu den hier angesprochenen Fragen hingewiesen. Zur Bedeutung des Johannes Evangelista bei Seuse äußerte sich zuletzt JEFFREY F. HAMBURGER in seinem Buch, St. John the Divine. The Deified Evangelist in Medieval Art and Theology, Berkely 2002, zur ›Vita‹ Seuses vgl. den Aufsatz von WERNER WILLIAMSKRAPP, Henry Suso’s Vita between Mystagogy and Hagiography, in: Seeing and Knowing. Women and Learning in Medieval Europe 1200–1550, hg. von ANNEKE B. MULDER-BAKKER, Turnhout 2004, S. 35–47. Zur Diskussion über den fiktionalen Charakter des Briefwechsels zwischen Heinrich von Nördlingen und Margaretha Ebner vgl. jetzt die Dissertation von URBAN FEDERER, Mystische Erfahrung im literarischen Dialog. Die Briefe Heinrichs von Nördlingen an Margaretha Ebner (Scrinium Friburgense 25), Berlin 2011. Zum Malkawprozeß bietet die Dissertation von MICHAEL TÖNSING, Johannes Malkaw aus Preußen (ca. 1360–1416). Ein Kleriker im Spannungsfeld von Kanzel, Ketzerprozess und 116

Johannes Meyer, Buch der Reformacio Predigerordens IV und V [Anm. 112], S. 57–59. Nach RIEDER, Gottesfreund [Anm. 80], S. 7, übernimmt Meyer sein Wissen den Memorialbüchern vom Grünen Wörth. 117 Johannes Meyer, Buch der Reformacio Predigerordens I, II und III [Anm. 69], Chronik von Schönensteinbach, S. 35: do verwandlet unser lieber her mit ainem grossen zachen die bildlin alle, also daz sy alle glich förmige crucifix wurdent, und Maria und Iohannes under dem crütz o o stundent ... Do beschloss der vatter Cunrat mit der sichersten besliessung, da mit man ain gaistliches closter besliessen kain, und S. 62 im Zusammenhang mit dem Streit der beiden Johannsen do gewan sy s. Iohannes Baptisten also lieb, als sy s. Iohannes evangelysten hatt. Hye by o mugent alle swöstren an gut ebenbild entpfachen. sich nit allain andechtiklich mit grosser ersamkeit hailten gegen den hailgen in dem ewigen leben, sunder och lernen alle fründ gottes, die uff erden sind mit glicher liebe eren un alle versmecht; besunder die bed picht vätter des closters in glicher gnad haben.

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Kirchenspaltung (Studien zu den Luxemburgern und ihrer Zeit 10), Warendorf 2004, einen umfassenden Überblick mit Neuedition der Quellen und ausführlichen biographischen Angaben zu den Prozeßbeteiligten, die insbesondere auch die Verbindung zum Grünen Wörth hervortreten lassen. Zur Frage des Freien Geistes und zum Zusammenhang zwischen Inquisition und Eckhart-Verteidigung siehe MARTINA WEHRLI-JOHNS, Mystik und Inquisition. Die Dominikaner und die sogenannte Häresie des Freien Geistes, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, hg. von WALTER HAUG/WOLFRAM SCHNEIDER-LASTIN, Tübingen 2000, S. 223–252, sowie DIES., Die Straßburger Beginenverfolgungen (1317–1319) und ihre Nachwirkungen im Basler Beginenstreit (1405–1411): Neue Texte von Johannes Mulberg OP zum Basler Inquisitionsprozess, in: Meister Eckharts Straßburger Jahrzehnt, hg. von ANDRE´ S QUERO-SA´ NCHEZ/GEORG STEER (MEJb 2), Stuttgart 2008, S. 141–170. Zu Jakob von Soest und der Handschrift Soest, Stadtbibliothek, Cod. Nr. 33, ist jetzt maßgeblich LORIS STURLESE, Die Soester Handschrift als Hauptzeuge der Verteidigung Meister Eckharts, in: LW V, S. 357–520.

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Abb. 1: Straßburg, National- und Universitätsbibliothek, ms. 2929, fol. 8v: »Der Diener sieht sich in einer Vision umfangen von der ewigen Weisheit.«

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Abb. 2: Straßburg, National- und Universitätsbibliothek, ms. 2929, fol. 67r: »Der Diener empfängt die Insignien der geistlichen Ritterschaft« (unten); »Himmlischer Lohn für die geistliche Ritterschaft« (oben).

IV

Predigt und Frömmigkeit im Umkreis der Devotio moderna

Wybren Scheepsma

Alijt Bake (1415–1455) und die deutschen Prediger des 14. Jahrhunderts*

Der tragische Lebenslauf von Alijt Bake (1415–1455) illustriert auf einzigartige Weise die ablehnende Haltung der Devotio moderna gegenüber der Mystik und dem Mystischen. Bake war Priorin des Klosters Galilea zu Gent, das dem berühmten Kapitel von Windesheim angehörte, dem Klosterzweig der Devotio moderna. Alijt Bake versuchte, in Galilea eine sich auf die mystische Erfahrung stützende Lebensweise einzuführen, wobei sie selbst als die spirituelle Führerin auftrat. Weil sie den Genter Nonnen bei der Reform ihres inneren Lebens Unterstützung bieten wollte, verfaßte sie einige geistliche Texte. Die (männliche) Leitung des straff organisierten Klostervereins von Windesheim hatte große Bedenken gegen das Vorgehen von Alijt Bake. Im Jahre 1455 wurde im Kloster Galilea durchgegriffen: Nicht nur wurde Bake ihres Priorinnenamtes enthoben, sie wurde darüber hinaus in ein anderes Kloster verbannt. Einige Monate später starb die enttäuschte Mystikerin im Exil, im Alter von 40 Jahren.1 Alijt Bake ist die einzige unter Tausenden von weiblichen Nachfolgern der Devotio moderna, die eine eigenständige geistliche Lehre zu Papier gebracht hat.2 Ihre Amtsenthebung zeigt sicherlich auch einen Zusammenhang mit ihrem * Ich danke Jef Jacobs (Leiden) und Hans-Jochen Schiewer (Berlin) für ihre Hilfe bei der Übersetzung ins Deutsche. Eric Saak (Groningen) verdanke ich einige Bemerkungen zu Jordan von Quedlinburg. 1 Im allgemeinen über Alijt Bake: ROBRECHT LIEVENS, Alijt Bake van Utrecht (1415–1455), Nederlands Archief voor Kerkgeschiedenis 42 (1958), S. 127–151; RUDOLF TH. M. VAN DIJK, De mystieke weg van Alijt Bake (1415–1455), OGE 66 (1992), S. 115–133; DERS., Alijt Bake, Tot in de peilloze diepte van God. De vrouw die moest zwijgen over haar mystieke weg (Mystieke teksten en thema’s 12), Kampen 1997 (Ndl. Übersetzung ›Mijn beghin ende voortganck‹ und ›De brief uit de ballingschap‹ von MARINUS K. A. VAN DEN BERG), Kampen 1997; WYBREN SCHEEPSMA, Deemoed en devotie. De koorvrouwen van Windesheim en hun geschriften (Nederlandse Literatuur en Cultuur in de Middeleeuwen 17), Amsterdam 1997, mit Namen S. 175– 201 u. 251–264. 2 Alijt Bake wurden bis jetzt die folgenden Texten zugeschrieben (vgl. SCHEEPSMA, Deemoed en devotie [Anm. 1], S. 252f.). In oder um 1446 entstanden ›De vier kruiswegen‹ (ed. BERNARD SPAAPEN, Middeleeuwse Passiemystiek II: De vier kruiswegen van Alijt Bake, OGE 40 [1966], S. 5–64), vier ›Klosterunterrichtungen‹ (ed. BERNARD SPAAPEN, Middeleeuwse Passiemystiek V: ›De kloosteronderrichtingen‹ van Alijt Bake 1 ›De weg van de ezel‹, OGE 42 [1968], S. 5–32; 2 ›De lessen van Palmzondag‹, OGE 42 [1968], S. 225–261; 3 ›De louteringsnacht van de actie‹, OGE 42 [1968], S. 374–421; 4 ›De weg der victorie‹, OGE 43 [1969], S. 270–304) und ›De trechter en de spin‹ (ed. WYBREN SCHEEPSMA, ›De trechter en de spin‹. Metaforen voor mystiek leiderschap van Alijt Bake, OGE 69 [1995], S. 222–234). 1451–1452 entstand ›Mijn beghin ende voortganck‹ (ed. BERNARD SPAAPEN, Middeleeuwse Passiemystiek III: De autobiografie van Alijt Bake, OGE 41 [1967], S. 209–301 u. 321–350). Eine enge Verbindung zu diesem Text hat

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Auftreten als Autorin. Im selben Jahr 1455 nämlich führte das Generalkapitel eine Maßnahme durch, die es den Windesheimer Monialen untersagte, Offenbarungen oder philosophische Lehren abzufassen, zu kopieren oder aus dem Latein zu übersetzen. Die Leitung des Windesheimer Kapitels hatte offensichtlich die Absicht, einem selbständigen Vorgehen von Schwestern, die sich mit mystischer und theologischer Literatur beschäftigten, ein Ende zu setzen.3 Die Schriften aus dem Anfang von Alijt Bakes Priorat sind in einer Brüsseler Handschrift erhalten geblieben, die öfters wegen ihres einmaligen Inhalts auf dem Gebiet der mystischen Literatur gepriesen worden ist. Es handelt sich hauptsächlich um Predigten deutscher Mystiker des 14. Jahrhunderts in mittelniederländischer Übersetzung. Die Werke Johannes Taulers überwiegen, aber auch Meister Eckhart und Jordanus von Quedlinburg sind hier vertreten. Auf den ersten Blick wundert es uns, die schriftstellerische Arbeit einer Frau wie Alijt Bake unter diesen Größen der Mystik vorzufinden, unerklärbar ist dies aber nicht. In ihrem Text ›Die memorie van der passien ons Heren‹ deutet sie sogar Johannes Tauler als ihren wichtigsten Lehrer an. Dazu treten noch mystische Lehrmeister wie Jan van Ruusbroec, dessen Koch Jan van Leeuwen, Augustin, Bernhard von Clairvaux, Richard von St. Viktor und Dionysius, vermutlich schon der Areopagit.4 Alijt Bake war also sehr gut in die mystische Literatur ihrer Zeit eingeführt, und zwar in einer Epoche, in der dies sicherlich nicht unumstritten war. In diesem Beitrag möchte ich zeigen, wie wichtig die mystische Literatur des 14. Jahrhunderts für Alijt Bake war, wobei die Predigten Taulers offensichtlich ›Die memorie vander passien ons Heren‹ (ed. WYBREN SCHEEPSMA, ›Van die memorie der passien ons Heren‹ van Alijt Bake, OGE 68 [1994], S. 106–128). 1455 entstand schließlich der ›Brief uit de ballingschap‹ (ed. BERNARD SPAAPEN, Middeleeuwse Passiemystiek IV: ›De brief uit de ballingschap‹, OGE 41 [1967], S. 351–367). Die Zuschreibung folgender Werke an Alijt Bake ist noch unsicher: ›Van drije pointen die toebehooren een volmackt leven‹ (ed. WYBREN SCHEEPSMA, Twee onuitgegeven traktaatjes van Alijt Bake, OGE 66 [1992], S. 145–167); ›Van drien punten die tot enen scouwenden leven behoren‹ (ed. DIRK DE MAN, Uit twee Middelnederlandse handschriften, Archief voor de Geschiedenis van het Aartsbisdom Utrecht [1937], S. 559–569 [567–569]; SCHEEPSMA, Twee onuitgegeven traktaatjes [wie eben]); das ›Boecxken vander passien‹ ist nicht ediert. 3 Nulla monialis aut soror cuiuscunque status fuerit conscribat aliquos libros, doctrinas philosophicas aut revelationes continentes per se interpositamve personam ex sua propria mente vel aliarum sororum compositas sub poena carceris si qui inposterum reperti fuerint praecipitur omnibus quod statim illi ad quorum conspectum vel aures pervenerint eos igni tradere curent, similiter nec aliquem transferre praesumant de latino in theutonicum (ed. SAPE VAN DER WOUDE, Acta Capituli Windeshemense. Acta van de kapittelvergaderingen der Congregatie van Windesheim [Kerkhistorische studie¨n VI], ‘s-Gravenhage 1953, S. 53). Über dieses Schreibverbot: THOM MERTENS, Mystieke cultuur en literatuur in de late middeleeuwen, in: Grote lijnen. Syntheses over Middelnederlandse letterkunde, hg. von FRITS VAN OOSTROM [u. a.] (Nederlandse literatuur en cultuur in de middeleeuwen 11), Amsterdam 1995, S. 117–135 u. 205–217, hier S. 126 u. S. 208, Anm. 39; SCHEEPSMA, Deemoed en devotie [Anm. 1], S. 30 u. 216f. 4 Och, alleen ken ic een meester inder godheit die daer of leert [hier wird die innere Armut bezeichnet], die devote Thauler, die gaet hem naere dan ic ye hoerde in enigen scriften [...]. Ende heer Jan Ruusbrueck ende syn cock comen hem oec seer nae, ende Augustinus, Barnardus, Rychardus, Dyonisius (SCHEEPSMA, Memorie [Anm. 2], Z. 140–146).

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die wichtigste Rolle erfüllten.5 Sie sammelte Texte verschiedener Autoren, setzte sich mit ihnen auseinander und fügte auch selbst Texte in diese Tradition ein. Der ebengenannte Brüsseler Kodex reflektiert in gewissem Sinne diesen Prozeß und wird deswegen in dieser Darlegung die Leitlinie bilden. Aber bevor die verwickelte Struktur und die komplizierte Entstehungsgeschichte dieser Handschrift zur Sprache kommt, folgt zunächst eine kurze Lebensbeschreibung von Alijt Bake. Im Verlauf des Jahres 1440 meldete Alijt Bake sich im Kloster Galilea zu Gent. Vermutlich stammte sie aus der Bischofsstadt Utrecht. Sie muß allerdings berechtigte Gründe gehabt haben, um sich dieses Kloster im weit entfernten Flandern auszuwählen; wir kennen ihre Motive jedoch nicht. Fast vom Eintritt an war Schwester Alijt mit ihren Oberinnen in Konflikt geraten über das geistliche Verhalten in Galilea. Hille Sonderlants war damals Priorin. Sie kam vom Kloster Diepenveen bei Deventer, das schon seit einigen Jahrzehnten das führende Frauenkloster des Windesheimer Kapitels war. Als Galilea im Jahre 1436 diesem Klosterverein beitrat, wurde Hille Sonderlants beauftragt, die Schwestern mit den Windesheimer Konstitutionen bekannt zu machen. Praktische Klostertugenden wie Gehorsam und Demut nehmen darin eine zentrale Stelle ein. Die asketische Lebensweise der Windesheimer Schwestern zeigt sich klar in einer straffen Klausur und einem strengen Stillschweigen. Alijt Bake aber suchte sich eine Lebensweise, in der das innere Verhältnis zu Gott, also das Mystische, an die Haupstelle trat. Sie warf ihrer Priorin vor, sich nur an Formen äußerer Tugend zu klammern, obwohl der Mensch über den Weg des inneren Lebens soviel weiter zu greifen vermag, wie Bakes eigene Erfahrung sie lehrte. Die eigensinnige Postulantin erwog gerade, ihr Kloster zu verlassen, als sie von Christus selbst den Auftrag erhielt, in Galilea zu bleiben. Dort sollte sie eine Reform des inneren Lebens zustandebringen. In diesem Zeitraum empfing Alijt Bake regelmäßig Offenbarungen, in denen der Herr ihr zunehmende mystische Kenntnis enthüllte. Während ihres Noviziats wurden ihr schließlich die beiden höchsten Wege der Nachfolge Christi gezeigt, nämlich der der Schauung Christi und der der Vereinigung mit ihm. Ihre Mitschwestern und ihre Oberinnen aber befanden sich auf einer niedrigeren Ebene. Es wurde Alijt Bake immer klarer, daß es Mater Hille an Kenntnis von und Erfahrung mit der Mystik fehlte und daß sie daher von ihr nicht verstanden wurde. Anfangs wurde Alijt von den Mitschwestern für dickköpfig gehalten, aber im Laufe der Zeit bekamen sie immer mehr Respekt vor ihrer Persönlichkeit und ihren Auffassungen. Als Hille Sonderlants im Jahre 1445 starb, wurde Alijt Bake vom Konvent zur Priorin gewählt. Jetzt fing für sie die Zeit der Erfüllung an. Endlich war sie in der Position, sich das geistliche Leben in Galilea gefügig 5

Zur Überlieferung Taulers in den Niederlanden: GERARD ISAAC LIEFTINCK, De Middelnederlandsche Tauler-handschriften, Groningen/Batavia 1936; STEPHANUS G. AXTERS OP, Joannes Tauler in de Nederlanden, in: Johannes Tauler. Ein deutscher Mystiker. Gedenkschrift zum 600. Todestag, hg. von E. FILTHAUT, Essen 1961, S. 348–370.

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zu machen. Eine der von ihr benutzten Methoden, war die Abfassung von Unterrichtungen über das mystische Leben, wobei Bake von ihren eigenen Erfahrungen ausgehen konnte. Wenden wir uns jetzt wieder der Handschrift zu, in der Bakes Schreibarbeit vom Anfang ihres Priorats überliefert ist. Sie wird heute in der Königlichen Bibliothek ›Albert I.‹ in Brüssel unter der Signatur 643–644 aufbewahrt. (Der Anhang vermittelt einen Überblick über die Zusammensetzung und den Inhalt.) Teil I bildet eine eigenständige Einheit, die später in den Band eingefügt worden sein muß. Dieser Teil enthält den einzigen vollständig überlieferten Text des sogenannten ›Ridderboecs‹, und wird im weiteren nicht mehr zur Sprache kommen.6 Der zweite Teil besteht aus zwei Stücken, die jeweils von einer Hand geschrieben wurden. Eine dieser Hände füllte den Teil II-B mit dem ›Mystieke mondkus‹ oder ›De oris osculo‹ des Regularkanonikers Willem Jordaens (Kopist 3).7 Aber wir beschäftigen uns hier nur mit der Schreibarbeit der anderen Hand in diesem Teil (Kopist 2), die die Blätter 114 bis 198 schrieb (Teil II-A). Auch dieser Teil zerfällt wieder in zwei Stücke. Teil II-A–1 enthält einige Dutzende von Texten, die Johannes Tauler zugeschrieben werden. In Teil II-A–2 sind Werke von Jordanus von Quedlinburg und Alijt Bake überliefert. Alijt Bakes Verbindung zu diesem Teil II-A des Brüsseler Kodex erweist sich aus einem Reimkolophon am Schluß (siehe Anhang, fol. 198va). Darin wird mitgeteilt, daß Schwester Alijt, Priorin des Klosters Galilea zu Gent, etwa im Jahre 1446 das Vorhergehende hergestellt habe. Für GERARD LIEFTINCK, der sich als erster eingehend mit dieser Handschrift beschäftigte, war die Sache klar: Hand 2, der Kopist von Teil II-A, sei mit Alijt Bake zu identifizieren.8 Er hielt sie auch für die Herstellerin der ganzen Textsammlung in diesem Teil der Handschrift, der sie auch Werke eigener Hand beigefügt haben müsse. Spätere kodikologische und paläographische Untersuchungen haben jedoch erwiesen, daß diese Handschrift kein Autograph von Alijt Bake sein kann. Die Wasserzeichen im Papier dieser Teile sind auf einige Jahre nach 1446 zu datieren. Die Brüsseler Handschrift ist eine Abschrift, deren Entstehungsmoment auf zirka 1450 hinweist; sie ist also kein Autograph. Durch diese neuen Befunde war die Rolle der Alijt Bake bei der Herstellung dieser mystischen Texte weniger sicher geworden. Für Teil II-A–2, der dem Kolophon unmittelbar vorangeht, gibt es kaum berechtigten Zweifel, aber für den vorhergehenden Teil ist Bakes Anteil zwei6

Über das ›Ridderboec‹: GEERT WARNAR, Het Ridderboec. Over Middelnederlandse literatuur en lekenvroomheid (Nederlandse literatuur en cultuur in de middeleeuwen 10), Amsterdam 1995. Eine Edition durch WARNAR ist in Vorbereitung. 7 LODEWIJK REYPENS, De oris osculo of de mystieke mondkus (Studie¨n en Tekstuitgaven van OGE 17), Antwerpen 1967; weiter: HILDE NOE¨ , Onder u tafele als een hondeken. Willem Jordaens en de waarheid in ›De oris osculo‹, in: Boeken voor de eeuwigheid. Middelnederlands geestelijk proza, hg. von THOM MERTENS [u. a.] (Nederlandse literatuur en cultuur in de Middeleeuwen 8), Amsterdam 1993, S. 171–189 u. 419–426. 8 LIEFTINCK, Tauler-handschriften [Anm. 5], S. 17–26 u. 370.

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felhaft geworden. Ich möchte versuchen neue Argumente zu finden, um LIEFTINCKs Annahme, Alijt Bake sei für die Herstellung des ganzen Teils II-A verantwortlich, zu stützen. Selbstverständlich sind diese Argumente im dem ersten Stück zu suchen.9 Dieser Teil II-A–1 setzt auf Blatt 114 ein und schließt auf Blatt 153, in beiden Fällen mit einer Phrase in der alle zwischenliegenden Texte Johannes Tauler zugeschrieben werden (siehe Anhang). In der Tat enthält dieser Textblock 24 Predigten des berühmten Straßburger Dominikaners, aber unter seinem Namen sind weiterhin zwei Sermones Meister Eckharts aufgenommen, sowie auch einige anonyme Werke, manchmal von einem hoch spekulativ-mystischen Gehalt. Offensichtlich hat der Kompilator dieser Serie hier immer gemeint, es mit Werken Taulers zu tun zu haben.10 Die Tauler-Serie in unserer Brüsseler Handschrift weist besondere Parallelen zu den Predigten Taulers auf in einer Handschrift aus Alijt Bakes Kloster Galilea (Brüssel, KB, 2283–2284).11 Dieser letzte Kodex, der glücklicherweise erhalten geblieben ist, wird um 1440 datiert und wurde vermutlich von Anfang an in Galilea aufbewahrt. Bake muß diese Handschrift gut gekannt haben; wahrscheinlich war diese eine der wichtigsten Quellen für ihre Kenntnis von Tauler. Die Handschrift enthält 23 Sermones Taulers, in einer stark mit dem bekannten Engelberg-Kodex, datiert 1359, übereinstimmenden Reihenfolge (Engelberg, Stiftsbibliothek, 124).12 Dieser Kodex ist vielleicht noch von Tauler selbst autorisiert worden. Die Handschrift aus Galilea schließt sich also einer sehr alten Überlieferungstradition an. Im Brüsseler Kodex findet man dieselben 23 TaulerSermones aus der Galilea-Handschrift wieder.13 Diese sind aber auf eine andere Weise geordnet und darüber hinaus sind hier underschiedliche andere mystische Texte interpoliert.14 9

Eine Auseinandersetzung über den Stellenwert des Kolophons: SCHEEPSMA, Trechter [Anm. 2], S. 224–226. 10 Es handelt sich um die Predigten DW I,1 (fol. 117rb–118vb) und DW III,69 (fol. 118vb–119vb), eine Predigt zur Assumptio BMV (fol. 135vb–137ra) und eine Übersetzung von ›Von den drıˆn durchbruchen‹, in dem (anonym) eckhartisches Gedankengut verarbeitet ist. Weiter: RIJKERT ALEX UBBINK, De receptie van meister Eckhart in de Nederlanden gedurende de Middeleeuwen, Amsterdam 1978, S. 135–139. 11 Handschrift beschrieben von LIEFTINCK, Tauler-handschriften [Anm. 5], S. 3–10; die Predigten Augustins auf fol. 1r–60r, die Tauler-Predigten auf fol. 61r–138v. 12 Handschrift beschrieben von FERDINAND VETTER, Die Predigten Taulers aus der Engelberger Handschrift und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften (Deutsche Texte des Mittelalters 11), Berlin 1910, S. I−IV. Dazu: LOUISE GNÄDINGER, Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre, München 1993, S. 112f.; KURT RUH, Geschichte der abendländische Mystik, Bd. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, S. 488f. 13 LIEFTINCK, Tauler-handschriften [Anm. 5], S. 133–137 u. 148f. Mit der Handschrift 2283–2284 eng verwandt ist Hs. Utrecht, UB, 1027, die aus dem Regularissenkloster Sint-Agnes zu Maaseik stammt (beschrieben von LIEFTINCK, Tauler-handschriften [Anm. 5], S. 27–35). 14 Die beiden Handschriften werden verglichen von LIEFTINCK, Tauler-handschriften [Anm. 5], S. 133–137. Eine lateinische Notiz in Hs. 2283–2284, fol. 60v (In elseghem habentur isti sermones magis correcti secundum linguam flamingam. magis que fortassis ydonei pro exemplari ad

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Der Galileer Tauler-Kodex zeigt aber eine interessante Ergänzung. Auf eine anfangs leer gebliebene Seite sind Richtlinien eingefügt bezüglich der richtigen Reihenfolge, in der man die Sermones zu kopieren habe (fol. 60v).15 Richtschnur dabei ist der liturgische Jahreszyklus. Zu den Predigten sind Hinweise hinzugefügt bezüglich der Sonn- oder Feiertage, auf die die Texte bezugnehmen. Diese Kopierrichtlinien sind nicht vom Kopisten geschrieben worden, sondern von einer anderen, zeitgenössischen Hand. Dieselbe Hand ist auch für eine Zahl von Korrekturen in den Predigten Johannes Taulers verantwortlich. Möglicherweise stoßen wir hier auf Eingriffe von Alijt Bake. Als Priorin war sie in der Lage, derartige Eingriffe vorzunehmen, und außerdem war sie besonders an Taulers Werken interessiert. Man kann sich sogar die Frage stellen, ob es vielleicht Alijt Bake selbst war, die diese Kopierhinweise und Korrekturen abgefaßt hat. In diesem Fall würde uns die Galilea-Handschrift dennoch autographische Fragmente der Genter Priorin verschaffen. Jetzt kehren wir zu der Brüsseler Handschrift 643–644 zurück, in der die Tauler-Predigten nach dem kirchlichen Kalender angeordnet wurden, also genau wie es die Handschrift aus Galilea vorschlägt. Man kann nicht sagen, daß die Kopierrichtlinien hier genau befolgt wurden, aber es gibt Stellen an denen die Brüsseler Handschrift die empfohlene Reihenfolge der Galilea-Handschrift widerspiegelt. Dabei müssen wir selbstverständlich ins Auge fassen, daß die Handschrift aus Brüssel einen neuen Status bekommen hat, weil hier auch andere Texte interpoliert wurden: Sie ist nicht länger eine Handschrift von Predigten Taulers, sondern eine Sammlung von mutmaßlichen Texten dieses Dominikaners. Die bis jetzt gefundenen Argumente sind zu dünn, um mit Sicherheit behaupten zu können, die Brüsseler Handschrift sei direkt von der Handschrift aus Galilea abhängig. Andererseits sind die Parallelen meiner Meinung nach zu deutlich, um sie ignorieren zu können. Es ist gar nicht unwahrscheinlich, daß die Verwandtschaft zwischen den beiden Tauler-Handschriften vor allem Alijt Bake zu verdanken ist. Als Priorin und geistliche Führerin war sie als erste in der Lage, eine Ordnung der Tauler-Predigten nach dem liturgischen Zyklus durchzuführen.16 Es ist deshalb auch wahrscheinlich, daß sie für die Tauler-Serie in der Brüsseler Handschrift verantwortlich ist, die, zwar auf einige Distanz, mit dem Kolophon unter ihrem Namen unterschrieben worden ist. Die Datierung des Tauler-Komplexes in der Brüsseler Handschrift widerspricht dieser Annahme nicht. Bezieht sich der Kolophon auch auf diese Textgruppe, dann gilt für ihn auch etwa 1446 als Entstehungszeit. excopiandum) verweist auf eine Handschrift aus dem Windesheimer Kloster Elsegem, die eine bessere Redaktion von der flämischen Übersetzung der Predigten Johannes Taulers geboten habe. Das Kloster Elsegem hatte ziemlich enge Beziehungen zu Galilea. Diese leider verloren gegangene Handschrift dürfte die Vorlage der Tauler-Handschrift von Galilea gewesen sein. 15 LIEFTINCK, Tauler-handschriften [Anm. 5], S. 5f. 16 Über die Priorin in den Windesheimer Frauenkonventen: SCHEEPSMA, Deemoed en devotie [Anm. 1], S. 38; VAN DIJK, Alijt Bake [Anm. 1], S. 19–22 u. 181–186.

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Wenn nicht, dann gibt es immer noch die Wasserzeichen im Papier, die auf zirka 1450 hinweisen. In beiden Fällen würde die Datierung innerhalb des Priorats von Alijt Bake bleiben, also zwischen 1445 und 1455. Wir gehen zum zweiten Teil von Handschrift 643–644 (II-A–2) über, mit dem Alijt Bake sich sicherlich inhaltlich befaßt hat. Am Anfang wird eine Reihe von Predigten über das Evangelium für Palmsonntag angekündigt von einem Verfasser-Ich, das im weiteren noch regelmäßig hervortreten wird. Hier beghint een prologhe van seven sermoenen die ghemaect sijn op dat euwangelium van palmsondage. Die eerste twee die heeft die wise eersaem leerare Jordanus gemaect. Dat eerste van desen tween houtment op den eersten sondach van den advent ende dat hout vander ezelinnen ende vanden cleedren die zij onder Jhesum spreidden ende vanden telgeren der boemen. Dat ander sermoen houtmen op den palmsondach ende sprect van dien selven ende hoe dat die scaren ›Osanne‹ riepen. Ende dit sermoen es gedeelt in drien deelen na drie staten der menschen als der beginnender, der voortgaenden ende der volmaecter. Die ander V sermoenen, die zijn daertoe vergadert op die selve euwangelie ende bat verclaert na onse menscheyt ende jegenwordige wandelinge, hoe dat wi selve tot dien leven moghen commen. Ende hierinne zoe syn die ander articulen der euwangelien vervult die Jordanus achter lyet te verclaerne. Ende dat hij daer donckerlijck ende cort geset heeft, dat es hier bat in verclaert tot onser verstannessen. Aldus soe heeft dese [in margine, vom Korrektor: Johannes Taulerus] hem na gegaen ende heeft die crumkens wiselile [sic] opgeraept die hem ontvielen, ende dat hem daerinne ontbleef, dat heeft die heylege Geest door dezen armen mensche vervult. Danc hebbe die heilege Geest, die gever es alle goeds. Amen. (fol. 154ra)17

Auf Grund des Kolophons, mit dem diese Reihe abgeschlossen wird, kann man feststellen daß dieses ›Ich‹ mit Alijt Bake zu identifizieren ist. Die inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen den hier aufgenommenen Texten und anderen Arbeiten von ihrer Hand beseitigen die letzten Zweifel.18 Bei den ersten zwei Predigten die Alijt Bake aufgenommen hat, handelt es sich um Sermones des Augustinereremiten Jordanus von Quedlinburg († 1380).19 Dieser einflußreiche Autor war stark an Mystik interessiert. Von seiner Predigtarbeit bildet die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen actio tion und contemplatio einen wesentlichen Bestandteil. Jordan von Quedlinburg hat viele Gedanken Meister Eckharts in seine Sermones eingearbeitet. Das hat ihn zu einem wichtigen, häufig unterschätzten Glied in der Eckhart-Rezeption im deutschen und niederländischen Sprachraum werden lassen.20 Alijt Bake muß 17

Diese Passage wurde ediert von LIEFTINCK, Tauler-handschriften [Anm. 5], S. 18–19; ROBRECHT LIEVENS, Jordanus van Quedlinburg in de Nederlanden. Een onderzoek van de handschriften (Koninklijke Vlaamse Academie voor Taal- en Letterkunde Reihe 6, 82), Gent 1958, S. 189–190; SPAAPEN, Lessen van Palmzondag [Anm. 2], S. 225. 18 Über den inhaltlichen Zusammenhang: SCHEEPSMA, Onuitgegeven traktaatjes [Anm. 2], S. 159– 164. 19 Über Jordan von Quedlinburg und seine literarische Arbeit: LIEVENS, Jordanus [Anm. 17], S. 1– 85; ADOLAR ZUMKELLER, Jordan von Quedlinburg (Jordanus de Saxonia), 2VL IV, Sp. 853–861. 20 Über Jordan von Quedlinburg als Vermittler eckhartischen Gedankenguts: JOSEF KOCH, Meister Eckharts Weiterwirken im Deutsch-Niederländischen Raum im 14. und 15. Jahrhundert, in: La

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die Werke des Jordanus ziemlich gut gekannt haben. Der Gründer Galileas, Jan Eggaert († 1452), schenkte seinem Kloster um 1440 eine mittelniederländische Übersetzung von Jordans ›Meditationes de passione Christi‹.21 Auf welchem Weg Alijt Bake mit seinen Sermones bekannt geworden ist, ist jedoch nicht bekannt. Der erste Sermo des Jordanus (fol. 154va) war dem Prolog zufolge am ersten Adventsonntag zu lesen. Er behandelt Verse des Evangeliums vom Einzug Christi in Jerusalem, das sowohl am 1. Adventssonntag als auch am Palmsonntag als Perikopentext Verwendung findet. Der Sermo verbindet, offensichtlich wegen eines Kopistenirrtums, Fragmente aus Predigten Bernhards von Clairvaux mit einer Predigt des Jordanus von Quedlinburg.22 Dieser Text ist in mindestens sechs anderen Handschriften überliefert, unter denen unsere Handschrift eine der ältesten ist. Auf die Frage, ob Alijt Bake die Herstellerin dieser Kompilation ist, gehe ich nicht ein.23 Der zweite Sermo, den Bake darbietet (fol. 156rb), ist eine authentische Predigt des Jordanus von Quedlinburg. Eigentlich handelt es sich um drei einzelne Predigten zu einem Vers aus dem Palmsonntagsevangelium, Plurima autem turba vestimenta sua in via (Mt 21,8), über den Einzug Christi in Jerusalem.24 Jordanus macht sein Publikum auf vier wichtige Punkte aufmerksam: 1. Jesus ritt auf einer Eselin, 2. die Schar bedeckte den Weg mit Zweigen und Kleidern, 3. eine andere Schar ging ihm mit Palmzweigen und Blumen entgegen, 4. alle Anwesenden riefen »Hosanna«, um ihn zu ehren. Der Augustinerprediger erörtert darauf die Bedeutung und die mit den vier Punkten verbundenen Konsequenzen für jeweils anfangende, fortgeschrittene und vollkommene Menschen. mystique rhe´nane. Colloque de Strasbourg 16–19 mai 1961 (Bibliothe`que des Centres d’Etudes supe´rieures spe´ciale´s. Travaux des Centres d’Etudes supe´rieures spe´ciale´ d’histoire des religions de Strasbourg), Paris 1963, S. 133–156, hier S. 145–148; ALBERT AMPE, Een vernieuwd onderzoek omtrent enkele »onechte« sermoenen van Jordanus van Quedlinburg, Handelingen der Zuidnederlandse maatschappij voor taal- en letterkunde en geschiedenis 17 (1963), S. 13–46, hier S. 14–27. 21 Die Handschrift Brüssel, KB, II 6644 ist beschrieben von JOS A. A. M. BIEMANS, Middelnederlandse Bijbelhandschriften (Verzameling van Middelnederlandse bijbelteksten, Catalogus), Leiden 1984, Nr. 178. Zu den ›Meditationes‹: LIEVENS, Jordanus van Quedlinburg [Anm. 17], S. 13– 19; J. M. WILLEUMIER-SCHALIJ, De LXV artikelen van de passie van Jordanus van Quedlinburg in middelnederlandse handschriften, OGE 53 (1979), S. 23–35; zum Vergleich: SCHEEPSMA, Deemoed en devotie [Anm. 1], S. 261f. 22 LIEVENS, Jordanus van Quedlinburg [Anm. 17], S. 69f., deutet diesen Text als sermoen f an; AMPE, Een vernieuwd onderzoek [Anm. 20], S. 41–43, zeigt, wie diese Kopistenfehler gemacht wurde. 23 LIEVENS, Jordanus van Quedlinburg [Anm. 17], S. 69f., listet die sechs Handschriften mit diesem sogenannten sermoen f auf. Mutmaßlich mindestens ebenso alt wie die Brüsseler Handschrift ist Hs. Deventer, Stads- en Athenaeumbibliotheek, I 49 (101 E 7) aus der Bibliothek des Klosters Diepenveen (beschrieben von MIKEL MARIO KORS, De Middelnederlandse Brieven van Gerlach Peters [† 1411]. Studie en tekstuitgave, Nimwegen 1991, S. 109–122). 24 Die Predigten Jordans, die Bake hier kommentiert, sind in seinem 1483 in Straßburg gedruckten ›Opus postillarum‹ inkorporiert unter den Nummern 186, 187 und 188 (vgl. SCHEEPSMA, Deemoed en devotie [Anm. 1], S. 261f.).

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Die Erklärung von Jordans Palmsonntagsevangelium muß Alijt Bake stark beeindruckt haben. Trotzdem war sie der Überzeugung, daß über Christi Einzug in Jerusalem weitaus mehr zu sagen sei. Sie entschied sich dafür, die Krümel, die der ›weise Lehrer‹ Jordanus von seinem Tisch fallen ließ, zum Ausgangspunkt für ein paar Lehren von eigener Hand zu nehmen. Dabei bearbeitete sie ihre Themen nur für den Anfänger, da die Schwestern von Galilea ja noch am Anfang des inneren Lebens standen. Damit wir Alijt Bakes Ansichten bezüglich des geistlichen Lebens besser kennen lernen, werden wir uns jetzt weitergehend mit dem Inhalt ihrer Lehrtexte zum Palmsonntag beschäftigen. Besonders in ihrem ersten Traktat, ›De louteringsnacht van de actie‹, nimmt Alijt Bake eine bemerkenswerte Nuancierung in der Beobachtung des Jordanus von Quedlinburg vor. Dieser unterscheidet drei Kategorien in der Prozession, die Jesus auf seinem Weg nach Jerusalem begleitete. Vor Christus gehen die Oberen und Lehrer, ihm folgt eine große Schar, und neben Christus gehen seine Jünger. Jordan zählt Mönche, Nonnen und Klausner zur Kategorie der Vollkommenen. Ihre kontemplative Lebensweise ist mit der der Jünger zu vergleichen, die den Herrn aus nächster Nähe anschauen dürfen. Dieser Triade fügt Bake eine vierte Kategorie hinzu. Christus nämlich ruft manche Vollkommenen zum Handeln auf. Das gilt zum Beispiel den Jüngern, die Apostel wurden und allenthalben den Glauben verkündigten. Bake weist explizit auf das Beispiel von Maria Magdalena hin, die laut mittelalterlicher Auffassung mit Maria, der Schwester von Martha und Lazarus, identisch ist. Diese Maria wurde von Christus über Martha geschätzt, da sie Christi Nähe gegenüber allerhand tagtäglichen Tätigkeiten bevorzugte. Später aber zog Maria in die Welt, um das Evangelium zu verkünden, wobei sie der Legende zufolge sogar die Provence erreicht haben soll. Für Alijt Bake ist der Weg der Maria Magdalena, der über die Kontemplation und die daraus gewonnene Selbsterkenntnis hinaus zur actio führt, der allerhöchste. Es ist auch der Weg, den sie selber geht, obwohl diese Unterrichtung auch den Anschein erweckt, sie müsse nicht nur die Schwestern von Galilea, sondern auch sich selber von ihrer auserlesenen Position überzeugen. Die nachfolgende Lehre von Alijt Bake, ›De weg der victorie‹, handelt von einem Thema, das zwar von Jordan ausgearbeitet worden war, aber für ein Publikum von Anfängern auf dem mystischen Weg noch weiterer Erläuterung bedarf. Jordan benutzt das Bild einer Menschenschar, die Kleider und Zweige auf den Weg legt, um zu zeigen, daß der anfangende Mensch um Christi willen gewisse Eigenschaften ablegen soll. Diese Metapher wird von Alijt Bake weitergeführt. Die Zweige und die Kleider sind bei ihr Symbole für die sieben äußeren und die sieben inneren Sünden, die der Mensch zu überwinden hat. Man soll diese Zweige abreißen oder diese Kleider ablegen und vor den Esel auf den Weg werfen. Als äußere Unvollkommenheiten nennt Bake unter anderen die Sucht nach irdischen Gütern, die Furcht vor Entbehrungen und den Hang nach menschlicher Liebe. Als innere Unvollkommenheiten gelten unter anderem Eigensinn, Selbstliebe, Willkür und Eigenwilligkeit.

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Im dritten Lehrtext, ›De weg van de ezel‹, vertieft die Priorin von Galilea einen Punkt, den schon Jordan angedeutet hatte, und zwar die Tatsache, daß Jesus auf einer Eselin ritt. Bake entwickelt für ihr Publikum von anfangenden Schwestern eine sehr schöne Spiritualität des Esels in sechs Punkten, im Grunde genommen eine Auseinandersetzung über das Leiden Christi als Beispiel für das geistliche Leben. Der erste Punkt deutet darauf hin, daß der Esel ein kaum respektiertes Wesen ist, so daß er dem geistlichen Menschen ein Beispiel ist. Als zweite Tugend des Esels nennt Bake die Geduld, mit der er alles, was man ihm als Last aufbürdet, wegträgt. Daß der Esel Angst hat, sich zu verletzten, und daß er darum sehr aufmerksam seinen Weg sucht, gilt als dritte Eigenschaft. Eine vierte ist, daß der Esel zwei lange, aufrechtstehende Ohren hat, durch die er genau zuhört, was sein Reiter (also Christus) ihm zu sagen hat. Eine fünfte bemerkenswerte Eigenschaft des Esels ist die, daß sich in der Haut seines Rückens das Zeichen des Kreuzes abzeichnet. Demgemäß soll der geistliche Mensch immer dazu bereit sein, das Kreuz zu tragen. Als sechsten Punkt nennt sie schließlich die Tatsache, daß der Esel, wenn man ihn schlägt, den Kopf in eine Hecke steckt und duldet, daß er geschlagen wird. Aus dieser Unterrichtung von Alijt Bake geht ganz klar hervor, daß für sie Demut und Selbsterniedrigung den Grund bilden für ein aufrichtiges geistliches Leben.25 In ihrer vierten Lehre, ›De lessen van Palmzondag‹, erklärt Bake, warum Jesus weinend in Jerusalem ankam, ein Aspekt, der von Jordan nicht ausgearbeitet wurde. Christus weinte, weil er schon wußte, daß die Scharen, die ihm jetzt zujubelten, innerhalb einer Woche seine Kreuzigung fordern würden. Trotzdem hat er seinen Leidensweg auch um dieser untreuen Menschen willen erlitten. An dieser Einstellung soll der geistliche Mensch sich ein Beispiel nehmen. Wenn auch die Menschen ihn schmähen, so muß er dennoch bereit sein, in einer großen und uneigennützigen Liebe für die Menschheit zu sterben. Ein zweites Thema, das Alijt Bake in diesem Lehrtext berührt, ist die Frage, warum Jesus das Lob, das ihm von der treulosen Menschenmenge gespendet wurde, überhaupt akzeptiert hat. Die Priorin von Galilea ist der Meinung, daß jeder Mensch die Aufgabe, die Gott ihm auferlegt, zu übernehmen hat, wie schwer sie auch sein mag. Wenn man, wie der Gottessohn, eine wichtige Rolle bekommt, so darf man diese nicht verweigern. Es wird klar sein, daß Bake in dieser Schrift auch ihre eigene Position als Führerin einer Reform legitimieren will.

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Obschon das Eselthema vielfältig und auf viele Weisen ausgearbeitet ist in der geistlichen Literatur des Mittelalters, scheint Alijt Bake originell zu sein in ihrer Vorstellung von dem Esel als Beispiel für Gelassenheit und Duldsamkeit. Einen Überblick über die Verwendung des Eselsthemas in der mittelniederländischen Literatur (ohne Hinweis auf Bakes Unterrichtung) bietet ROBRECHT LIEVENS, De spekulatieve Vv-gedichten, in: Opstellen voor Jan Deschamps ter gelegenheid van zijn zeventigste verjaardag, hg. von E. COCKX-INDESTEGE/FRANS HENDRICKX (Miscellanea Neerlandica II), Löwen 1987, S. 71–97, hier S. 75–77.

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Man hat vielleicht bemerkt, daß hier nur vier Lehrtexte von Alijt Bake behandelt wurden, während sie im Prolog fünf ankündigte. Dieses Problem hat noch niemand auf befriedigende Weise lösen können. Auch ich werde dies hier nicht versuchen.26 Nach dem Predigtenzyklus Jordans und Bakes zu Palmsonntag folgt in der Handschrift auf fol. 181va ein Traktat, der in gewissem Sinn über Karfreitag handelt. Er wird unter dem Titel ›Een merkelike leeringhe‹ angekündigt, ist aber besser unter dem Titel ›Boecxken vander passien‹ bekannt. Wie in der Unterrichtung ›Der weg der victorie‹ (fol. 163va) handelt es sich hier um sieben innere und sieben äußere Sünden, die ein wahrhafter Diener Christi abzulegen hat. In diesem Traktat sind die Sünden aber symbolisiert durch die Kleider, die der Mensch ablegen soll, wenn er Christus auf seinem Weg nach Golgotha begleiten will. Die äußeren Sünden legt man an jener Säule ab, an der Christus gegeißelt wurde, die inneren aber am Fuß des Kreuzes, an das Christus geschlagen wurde. Im Traktat werden nur die inneren Sünden erklärt; diese stimmen größtenteils mit den inneren Sünden aus dem ›Weg der victorie‹ überein, der faktisch eine Zusammenfassung dieses längeren Traktats bietet.27 Die Frage, ob Alijt Bake die Autorin dieses ›Büchleins der Passion‹ sei, ist bis jetzt noch nicht befriedigend beantwortet worden.28 Ich muß mich hier mit der Feststellung begnügen, daß dieses Büchlein von der Thematik her sehr stark mit anderen Werken von ihrer Hand übereinstimmt. Am Ende dieser Textgruppe, und unmittelbar vor dem Kolophon, folgt dann noch ein kurzer, jedoch sehr interessanter Text, den ich als ›De trechter en de spin‹ bezeichnet habe.29 Alijt Bake erörtert hier ihre Position als geistliche Führerin der Galileer Gemeinschaft. Sie vergleicht sich selbst zuerst mit einem Trichter. Es ist ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, daß das Getränk der göttlichen Gnade ohne Kleckern durch die noch zu engen Kehlen ihrer Nachfolgerinnen fließen kann. Sie weiß aber auch, daß ein Trichter nicht mehr als ein Gebrauchsgegenstand ist, der weggeworfen wird, sobald er nicht mehr benötigt wird. Darauf vergleicht die Priorin sich selbst mit der Spinne, die sich selbst teilweise opfern muß, um ein Netz spinnen zu können, ohne im voraus einer Beute sicher zu sein. Darum ruft sie die Schwestern auf, sich ihre Lehre zu Herzen zu nehmen, damit ihre Mühe nicht umsonst sei. War Alijt Bake die Herstellerin des ganzen Teils II-A der Brüsseler Handschrift? Für den Teil der unmittelbar dem Kolophon vorangeht, kann diese Frage 26

Vgl. SCHEEPSMA, Deemoed en devotie [Anm. 1], S. 187. SPAAPEN, Weg der victorie [Anm. 2], S. 270f. 28 SPAAPEN, ebd., S. 271, schreibt Alijt Bake das ›Boecxken‹ zu, aber GASTON J. PEETERS, Frans Vervoort OFM. en zijn afhankelijkheid (Koninklijke Vlaamse Academie voor Taal -en Letterkunde, VIe reeks – Bekroonde Werken – nr. 99), Gent 1968, S. 23–52, ist der Meinung, sie habe ein älteres Werk kopiert und während der Arbeit einige Auseinandersetzungen von eigener Hand hinzugefügt. Weiter über diese Diskussion: SCHEEPSMA, Deemoed en devotie [Anm. 2], S. 255f. 29 SCHEEPSMA, Trechter [Anm. 2], S. 230–233. 27

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sofort bejaht werden. Für den Textteil, der in der Handschrift Johannes Tauler zugeschrieben wird, ist die Beteiligung von Alijt Bake zwar nicht unumstößlich beweisbar, meiner Meinung nach aber sehr glaubwürdig. Wir werden noch einmal die Argumente der Reihe nach durchgehen. Das erste und wichtigste ist selbstverständlich der Kolophon, der Alijt Bake als Herstellerin des Vorangehenden bezeichnet (fol. 198va). Diese Mitteilung dürfte vielleicht auch schlechthin auf den Tauler-Teil bezogen werden, aber weil es daran noch Zweifel gab, haben wir zusätzliche Argumente gesucht. Diese wurden in der Tauler-Handschrift gefunden, die nachweisbar aus Galilea stammt. Die Brüsseler Handschrift enthält dieselben 23 Sermones Taulers, die jedoch nach dem liturgischen Kalender geordnet sind, mehr oder weniger den später eingefügten Anweisungen aus der Galilea-Handschrift gemäß. Es ist ziemlich wahrscheinlich, daß Alijt Bake etwas mit den Kopieranweisungen in der Handschrift aus Galilea zu tun hatte. Und damit wird ihre Beteiligung an der Zusammenstellung der Brüsseler Handschrift wahrscheinlicher, zumal darin auch eine liturgische Anordnung der Tauler-Predigten benutzt worden ist.30 Alles in allem ist es also nicht unwahrscheinlich, daß der Kolophon auf den ganzen Teil II-A der Brüsseler Handschrift bezogen werden kann. Man könnte selbstverständlich viele Bedenken gegen diese Hypothese formulieren, aber mir scheint die einfachste und auch eleganteste Theorie, nämlich daß Alijt Bake auch die Herstellerin des Tauler-Teils der Brüsseler Handschrift war, die wahrscheinlichste. Jetzt kann man sich fragen, wie die Vorlage des Kopisten der Handschrift aus Brüssel ausgesehen hat. Über den historischen Vorgang in Galilea können wir wegen Mangels an Quellen nur spekulieren, aber ich stelle mir vor, daß Alijt Bake von Anfang ihres Priorats an sich bemüht hat, ihre Mitschwestern über das innere Leben zu lehren. Literatur über diesen Gegenstand war dann ein fast unentbehrliches Hilfsmittel. Das Kloster verfügte natürlich über eine kleine Handschriftensammlung, in der sich der hier vorgestellte Tauler-Kodex und die Handschrift mit den ›Meditationes‹ des Jordanus von Quedlinburg befanden. Angesichts ihrer Vorliebe für Tauler darf man davon ausgehen, daß Alijt Bake die Texte des berühmten Dominikaners und auch die ihm zugeschriebenen Werke, so viel wie möglich gesammelt hat. Auch für die Werke des Jordanus von Quedlinburg, der ebenfalls ein Vermittler mystischen Gedankenguts war, muß sie Interesse gehabt haben. Es fehlte aber noch sehr viel in der Literatursammlung von Galilea, und deswegen fügte Bake auch selbst noch etliche Werke in die Bibliothek ein.

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Man kann sich fragen, weshalb eine liturgische Reihenfolge zu präferieren war, statt z. B. eine thematische. Dazu sei zu bemerken, daß in der täglichen Praxis der Windesheimer Chorfrauen die Feier der Liturgie und des Offiziums von sehr großer Bedeutung war. Für Alijt Bake gilt dies im besonderen Maße: Sie verbindet z. B. in ›Mijn beghin ende voortganck‹ für ihr weiteres Leben bedeutende Gotteserfahrungen mit kirchlichen Feiertagen (s. VAN DIJK, Alijt Bake [Anm. 1], S. 179–181).

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Man kann in der Textsammlung der Brüsseler Handschrift gleichsam die Geburt der mystischen Autorin Alijt Bake beobachten (jedenfalls wenn man annimmt, sie sei die Herstellerin des gesamten Komplexes). Zuerst arrangierte sie eine Reihe von Tauler-Predigten auf eine neue Weise, nämlich dem kirchlichen Kalender gemäß. Dabei wurde auch eine Anzahl inhaltlich stark verwandter Texte interpoliert, so daß eine neue, thematisch zusammenhängende Einheit entstand. Um den Inhalt dieser Texte kümmert Bake sich hier noch nicht. Darin ändert sich etwas, als ihr die Predigten Jordans zu Palmsonntag in die Hände gerieten. Sie zitiert zwar ausführlich und mit voller Zustimmung diese Sermones, aber es läßt sich bei ihnen auch noch einiges ergänzen. Darum fängt Alijt Bake hier an, selbst Unterweisungen zu verfassen zur Erklärung des Palmsonntagevangeliums. Es entstand so um das Jahr 1446 ein ausführliches Dossier von mystischen Predigten und Traktaten. Der Terminus ›Dossier‹ scheint mir besonders zutreffend zu sein, weil er zum Ausdruck bringt, daß die Textsammlung von Alijt Bake noch keine feste Form gehabt haben kann. Die Wiedergabe der Texte aus dem Brüsseler Kodex gibt nämlich Anlaß zu vermuten, daß diesem Kodex eine unvollkommene oder unvollendete Vorlage zugrunde liegt. Dieser Umstand mag erklären, warum es sich als so schwer erwies, die fünf im Prolog angekündigten Sermones über Palmsonntag in der Handschrift zu unterscheiden. Fehlte noch eine Unterrichtung oder änderte Bake etwa während des Schreibens ihre Pläne? Eine andere Unterstützung für die Theorie einer unvollendeten Vorlage ist die verderbte Wiedergabe von Alijt Bakes Hauptwerk, ›Die vier Kreuzwege‹, in Handschrift 643– 644. Dieser Traktat ist in die Unterrichtung des Esels hineingeschoben worden, nach dem fünften Punkt, der dem Menschen rät, wie der Esel immer ein Kreuz auf dem Rücken zu tragen. BERNARD SPAAPEN, der Herausgeber des Großteils von Bakes Werken, meinte, die Redaktion der ›Vier Kreuzwege‹ aus der Brüsseler Handschrift sei so schlecht gewesen, daß diese unmöglich der Edition zugrunde liegen könne, obschon diese Handschrift den ältesten Text bietet.31 Der Fall der ›Vier Kreuzwege‹ gibt also auch Anlaß zu vermuten, daß die Brüsseler Handschrift, jedenfalls für die Werke von Alijt Bake, noch keine endgültige Fassung darstellte. Trotzdem hat man sich um das Jahr 1450 dazu entschieden, dieses einigermaßen ungeordnete Dossier der Alijt Bake einmal zu kopieren, und zwar in einer relativ großen und ansehnlichen Handschrift.32 Wir wissen nicht, wo und von wem diese Entscheidung getroffen wurde. Es ist aber bemerkenswert, daß die anderen Texte in Handschrift 643–644 stark mit Groenendaal, dem Kloster Jan van Ruusbroecs, verbunden sind. Nicht nur war Willem Jordaens, der Autor des ›Mystieke mondkus‹, Regularkanoniker in Groenendaal, auch das ›Ridderboec‹ entstand in der Nähe dieses Klosters. Weiter wissen wir, daß das Kloster 31 32

SPAAPEN, Vier kruiswegen [Anm. 2], S. 13–15. Die Handschrift mißt 290 × 203/213 mm (LIEFTINCK, Tauler-handschriften [Anm. 5], S. 17).

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Galilea lange Zeit von Beichtvätern aus Groenendaal betreut wurde. Alles in allem ist es darum nicht unwahrscheinlich, daß die Entscheidung, die Werke von Alijt Bake kopieren zu lassen, in Groenendaal oder in der Umgebung Groenendaals getroffen wurde. Dieser Entscheidung muß ein großer Respekt vor Alijt Bake und ihren mystischen Werken zugrundegelegen haben. Sie ist meines Wissens die einzige weibliche Schriftstellerin aus dem Kreis der Devotio moderna, deren Werke auch außerhalb ihres eigenen Klosters gelesen wurden. Die Handschrift zeigt aber auch einen tiefgreifenden Wandel in der Wertschätzung der Priorin aus Gent. Der Kopist der später, also einige Jahre nach 1446, die Handschrift um den ›Mystieke mondkus‹ von Willem Jordaens (II-B) ergänzte, hat bei dieser Gelegenheit im Kolophon den Namen von Alijt Bake mit Tinte gestrichen. Dieser Eingriff hat höchstwahrscheinlich mit ihrer Absetzung im Jahre 1455 zu tun. Die Werke der ehemaligen Priorin aus Gent in dieser Handschrift blieben aber unverletzt.33 Die Textsammlung aus der Brüsseler Handschrift entstammt einer Zeit, die als die Glanzzeit von Alijt Bake bezeichnet werden kann. Das Priorat versetzte sie in die Lage, die Wende zum geistlichen Leben herbeizuführen, die sie sich schon von ihrem Eintritt in Galilea an vorgestellt hatte. Sie wurde dabei stark von der mystischen Literatur des 14. Jahrhunderts inspiriert, genauer gesagt: der Literatur aus dem Kreis der Gottesfreunde. In ihrer Autobiographie beschreibt Alijt Bake die Art und Weise, wie sie das ›Neunfelsenbuch‹ Rulman Merswins zur Kenntnis nahm, übrigens ohne den Namen dieses bekanntesten der Straßburger Gottesfreunde zu kennen.34 In der zu Anfang genannten Auflistung ihrer Lehrer in ›De memorie van der passien ons heren‹ nennt Alijt Bake zuerst Johannes Tauler, Jan van Ruusbroec und Jan van Leeuwen. Der von ihr aufs höchste verehrte Tauler stand, obwohl er dem Dominikanerorden angehörte, ebenfalls zum Kreis der Gottesfreunde in Beziehung.35 In verschiedenen ihrer Werke bezieht Bake sich darüber hinaus auf Ruusbroec, mit dessen Werk sie sehr gut bekannt war, genauso wie mit den zehn Traktaten des Jan van Leeuwen.36 In jüngster Zeit wird immer klarer, daß es intensive Kontakte zwischen Straßburg, dem wichtigsten Zentrum der Gottesfreunde, und einem Kreis in Brabant um Ruusbroec gegeben hat, der sich schließlich in und um das Kloster Groenendaal bei Brüssel niederließ.37 Der Grund für diese Beziehung liegt in einem gleichen spirituellen Ideal, das stark mystisch geprägt ist. Aus der großen Intensität mit 33

SCHEEPSMA, Trechter [Anm. 2], S. 227f. SPAAPEN, Autobiografie [Anm. 2], S. 334–336; vgl. SCHEEPSMA, Deemoed en devotie [Anm. 1], S. 180–182. 35 GNÄDINGER, Johannes Tauler [Anm. 12], S. 102; RUH, Geschichte [Anm. 12], S. 482–485. 36 SPAAPEN, Autobiografie [Anm. 2], S. 326; vgl. SCHEEPSMA, Deemoed en devotie [Anm. 1], S. 261. 37 RUH, Geschichte [Anm. 12], S. 481f.; THOM MERTENS, Ruusbroec onder de godsvrienden, in: Die spätmittelalterliche Rezeption niederländischer Literatur im deutschen Sprachgebiet, hg. von RITA SCHLUSEMANN/PAUL W. M. WACKERS (Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 47), Amsterdam 1997, S. 109–130. 34

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der Alijt Bake die Texte von Tauler, Ruusbroec, Jan van Leeuwen und Merswin gelesen hat, geht hervor, daß sie in diesem Einflußbereich gefunden hat, was sie suchte. Vielleicht war Alijt Bake in der Lage, sich über diese ›German Connection‹ die deutschen mystischen Texte zu beschaffen, die in der Brüsseler Handschrift überliefert worden sind. Um 1350 gab es schon einen Austausch von Literatur zwischen Groenendaal und den Straßburger Gottesfreunden. In diesem Zeitraum wurden einige der Werke Ruusbroecs ins Mittelhochdeutsche übersetzt. Selbstverständlich konnten die Arbeiten deutscher Mystiker auf dem selben Weg in umgekehrter Richtung die Niederlande erreichen, was für das ›Neunfelsenbuch‹ mit hoher Wahrscheinlichkeit der Fall war.38 Möglich ist das auch für die Predigtserie Taulers, von der Galilea eine Kopie besaß, die auf einer authentischen Überlieferung beruht, obschon eine Herkunft aus dem Niederrheingebiet (Köln) wahrscheinlicher ist.39 Auf diesem Weg dürfte weitaus mehr mystisches Textmaterial deutscher Herkunft nach Brabant gekommen sein. Alijt Bake gebührt die Ehre, eine neue Sammlung dieser Mystik hergestellt zu haben. Dabei muß man sich der Tatsache bewußt sein, daß Bake dies alles nie allein hätte zustandebringen können. Die Klausur beeinträchtigte ihre Bewegegunsfreiheit sehr. Für das Sammeln von Texten aus anderen Bibliotheken war sie auf die Hilfsbereitschaft anderer angewiesen. Sie muß damit aber einen gewissen Erfolg gehabt haben, denn wir wissen, daß sie einige männliche Mitglieder des Kapitels von Windesheim von ihrer Auffassung über das innere Leben überzeugt hat. Einer von ihnen war Nicolaas van Duvendyc, der Rektor Galileas. Ein anderer Glaubensgenosse war Jan Eggaert jr., der Prior des Klosters Elsegem und ein Sohn des Gründers von Galilea. Einflußreiche Mitbrüder wie Nicolaas van Duvendyc und Jan Eggaert sind Alijt Bake bestimmt eine Hilfe gewesen beim Sammeln mystischer Texte. Und ihre Hilfe ging noch darüber hinaus: Als Bake ihr Ideal einer Reform des inneren Lebens weiter, außerhalb der Mauern des Klosters Galilea, verbreiten wollte, war Jan Eggaert eine wichtige Stütze. In den Jahren 1454–1455 beförderte er den Übertritt dreier flämischer Schwesternhäuser des gemeinsamen Lebens zur Observanz der Regula Augustini. Dabei wurde die Lebensführung, wie sie im Kloster Alijt Bakes praktiziert wurde, zum Ausgangspunkt genommen.40 Es war vermutlich in diesem Moment, daß die Führung des Windesheimer Kapitels sich für ein energisches Eingreifen entschied. Man kann sich vorstellen, daß das Verhalten von Alijt Bake schon seit längerer Zeit Anstoß gegeben hatte, aber als sie darüber hinaus das Leben anderer Klöster beeinflussen wollte, war das Maß voll. Dem Vorgehen dieser eigenwilligen Priorin wurde mit harter 38

GEORG STEER, 2VL VI, Sp. 423, über die Beziehung zwischen Ruusbroec und Merswin. Zum Vergleich: RUH, Geschichte [Anm. 12], S. 487–489; jedenfalls finden sich in Hs. Brüssel, 643–644 recht viele Predigten, von denen RUH in Anm. 27 eine Enstehung im Kölner Raum annimmt: VETTER 57, 60e, 63, 60g, 60f, 60b, 60a, 69, 60d, 61, 64, 65. 40 VAN DIJK, Alijt Bake [Anm. 1], S. 21; SCHEEPSMA, Deemoed en devotie [Anm. 1], S. 199f. 39

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Hand ein Ende gesetzt, und Bake wurde verbannt. Den anderen Windesheimer Schwestern wurde untersagt, über ihr inneres Leben zu schreiben, damit sich der Fall Bake nicht wiederholen würde. Die Reform des inneren Lebens, die Alijt Bake so gern durchgeführt hätte, stimmte nicht (mehr) mit dem spirituellen Ideal des Kapitels von Windesheim überein.41 In den dem Kapitel angeschlossenen Klöstern versuchte man vor allem ein einheitliches und geordnetes Klosterleben durchzuführen, ein Bestreben, dem getrost individuelle Freiheiten zum Opfer fallen durften. Die Angst vor der Rache Gottes lebte unter den Windesheimern stark, und deswegen gingen sie den sichersten Weg, den der Zucht und Askese. Die mystische Lebensweise, die Alijt Bake als die wahrhafteste und höchste betrachtete, wurde im Kreis der Devotio moderna für unkontrollierbar und gefahrvoll gehalten und deswegen letztendlich verworfen. Im Grunde war Alijt Bake wohl ein Jahrhundert zu spät geboren.

Nachtrag In den vergangenen Jahren ist recht viel über Alijt Bake und den Brüsseler Textkomplex veröffentlicht worden. Es sei verwiesen auf KURT RUH, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 4: Die niederländische Mystik des 14. bis 16. Jahrhunderts, München 1999, S. 252–267, der einen Überblick über Leben und Werk der Alijt Bake und die Forschung hierzu gibt. Eine Darstellung von Bake als geistliche Reformerin anhand ihrer literatischen Werke bietet ANNE BOLLMANN, ›Being a Woman on my Own‹: Alijt Bake (1415–1455) as Reformer of the Inner Self, in: Seeing and Knowing. Women and Learning in Medieval Europe, 1200–1550, hg. von ANNEKE MULDER-BAKKER (Medieval Women: Texts and Contexts 11), S. 67–96. Meine Dissertation über die Windesheimer Schwestern und ihre Schriften, u. a. auch das Kapitel zu Alijt Bake, wurde ins Englische übersetzt: WYBREN SCHEEPSMA, Medieval Religious Women in the Low Countries: the Canonesses of Windesheim and their Writings. Translated by David F. Johnson, Woodbridge 2004. JOHN VAN ENGEN (University of Notre Dame) bereitet eine englische Übersetzung des gesamten Schrifttums von Alijt Bake vor; bereits erschienen ist ›The Four Ways of the Cross‹, in: Late Medieval Mysticism of the Low Countries, hg. von RIK VAN NIEUWENHOVE [u. a.], New York 2008, S. 176–202. Derzeit arbeitet JONI DE MOL in Leiden an einer Dissertation zum Tauler-Jordanus-Bake-Komplex. Erste Ergebnisse wurden von ihr in Kenntnis des vorliegenden Aufsatzes veröffentlicht: JONI DE MOL, Een vreemde eend in de bijt? De teksten van Johannes Tauler, Jordanus van Quedlinburg en Alijt Bake in hs. Brussel, KB, 643–44, OGE 84 (2013), S. 96–119. 41

Über diese Umwandlung des Windesheimer Ideals: MERTENS, Mystieke cultuur [Anm. 3], passim.

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Anhang Hs. Brüssel, Königliche Bibliothek, 643–644, Inhaltsverzeichnis Teil I 1r–110r anonym, ›Ridderboec‹ Teil II-A–1 114r Dit sijn sermoene ende leeringhen eens werdeghe vander predickeeren ordene, gheheeten broeder Jan de Tauweleere 114ra–115va Vander geesteliker gheborten Gods anonym 115va–117ra Waer God es ende hoe datti es anonym 117ra–117rb Hoe ende waertoe God den mensche gescapen heeft na zijn beelde anonym 117rb–118vb Des dicendaechs naer half vastenen hout men dit euwangelium ende leert vanden tempel Gods Meister Eckhart, Predigt QUINT DW I,1 118vb–119vb Den derden sondach naer paesschen Meister Eckhart, Predigt QUINT DW III,69 119vb–121rb Inde cruysdaghe Johannes Tauler, Predigt VETTER 60a 121rb–122vb Op den Assentioensdach Johannes Tauler, Predigt VETTER 60b 122vb–124rb Op den sinxen dach Johannes Tauler, Predigt VETTER 60e 124rb–125vb Van der heylegher drievoudicheyt Johannes Tauler, Predigt VETTER 60d 125vb–127rb Van den heyleghen sacramente Johannes Tauler, Predigt VETTER 60c 127rb–129ra Noch vanden heyleghen sacramente Johannes Tauler, Predigt VETTER 60f 129ra–130ra Den IIsten sondach naer sinxenen Johannes Tauler, Predigt VETTER 60g 130ra–131vb Den derden sondach naer sinxenen Johannes Tauler, Predigt VETTER 60h 131vb–133va Op sente Jans baptisten dach Johannes Tauler, Predigt VETTER 61 133va–134vb Den vierden sondach Johannes Tauler, Predigt VETTER 62 134vb–135vb Den vijften sondach Johannes Tauler, Predigt VETTER 63 135vb–137ra Op Onzer Vrouwen dach assumptio anonym, Predigt 137ra–137va Van der oedmoedicheyt anonym, mndl. Übersetzung ›Totius vitae spiritualis summa‹

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137va–138va Van den heyleghen cruce ons heeren hoe dat verhaven wert met lydene Johannes Tauler, Predigt CORIN 2,27 138va–140ra Van den heileghen cruce Johannes Tauler, Predigt VETTER 65 140ra–140vb Van der edelheyt des lydens anonym 140va–141vb Van IIIrande vortgange des menschen anonym, mndl. Übersetzung ›Von den drıˆn fragen‹ 141vb–143ra Den XIste sondach Johannes Tauler, Predigt VETTER 57 143ra–144vb Den XIIIste sondach Johannes Tauler, Predigt VETTER 64 144vb–146ra Op den XVsten sondach Johannes Tauler, Predigt VETTER 66 146ra–147vb Op den XVJste sondach Johannes Tauler, Predigt VETTER 67 147vb–149ra Op sente Michiels dach Johannes Tauler, Predigt VETTER 68 149ra–149va Op den XVIJsten sondach Johannes Tauler, Predigt VETTER 70 149vb–150vb Dit sprect die prophete inden zouter Johannes Tauler, Predigt VETTER 71 150vb–152rb Den XIXsten sondach Johannes Tauler, Predigt VETTER 56 152rb–153rb Ter kercwiinghen Johannes Tauler, Predigt VETTER 69 153rb–153va Eene instructie vander biechten Johannes Tauler, Predigt VETTER 58 153va–153vb Van den wezene gods Johannes Tauler, Predigt VETTER 60 153vb Deze vorscreven leere die leerde een heilich predicheere die hiet de Tauweleere; dat wize nu alle vervolgen dies hulpe ons God 153vb–154va Van der minnender zielen anonym Teil II-A–2 154va Hier beghint een prologhe van seven sermoenen die ghemaect sijn op dat euwangelium van palmsondage usw. (vollständig zitiert im Text) 154va–156rb Hier beghint Jordanus eerste sermoen op die euwangelie die men leest op den eersten sondach vanden advent ons liefs heeren Jhesu Cristi Bernhard von Clairvaux/Jordanus von Quedlinburg, Predigt LIEVENS, sermoen f

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156rb–157rb Hier beghint dat ander sermoen dat die heileghe leerare Jordanus ghemaect heeft op die euwangelie vorscreuen welc sermoen men leest op den palmsondach. 〈E〉en groete scare stroyden haer cleederen inden weghe Jordanus von Quedlinburg, Opus postillarum, Predigt 186 157rb–158rb 〈E〉en grooete scare vander processien der beghinnender menschen Jordanus von Quedlinburg, Opus postillarum, Predigt 187 158rb Noch vanden seluen Jordanus von Quedlinburg, Opus postillarum, Predigt 188 159ra–163va Hier beghint dat derde stuc vanden vanden palmzondaghe dat doen overbleef ende dat den eerbaren wizen leerare ontviel. Dat heeft deze hier op gheraept ende dat hem hier in ontbleef, dat heeft die heylege geest door deze arme creature vervult, Gode lof. Deerste sermoen Alijt Bake, De louteringsnacht van de actie 163va–166va 〈E〉en grote scare die Jhesum te gemoete quam Alijt Bake, De weg der victorie 166va–168ra 〈H〉et es te wetene ende vort te merkene dat onder dese grooete scare oec een eselinne 〈was〉 daar Jhesus Cristus op reet Alijt Bake, De weg van de ezel 177va–181rb Hier beghint dat viifste sermoen op die euwangelie vanden aduent Ende hout vanden tranen die cristus wende op die stat van Jherusalem Alijt Bake, De lessen van Palmzondag 181va–197vb Hier beghint een merkelike leeringhe anonym (Alijt Bake?), Boecxken vander passien ons heren 197vb–198va 〈A〉ch alderliefste broederen ende susteren ende gheminde kinderen dien ic anderwerven begheere te baren in die levende binnenste ons liefs heeren Jhesu Cristi usw. Alijt Bake, De trechter en de spin 198va Bidt voor diet maecte ende heeft gescr〈e〉ven want zij arm door gode es bleven Doen men M vienhondert screef na dat Jhesus ant tcruce bleef en XLVJ ofte daer omtrent soe was dit eerst ghemaect te Ghent van zuster Alijt der priorinnen van Galileen. God wille haer ziele gewinnen42 Teil II-B 198d–227b 〈D〉at herte dat vol es van minnen usw. Willem Jordaens, mndl. Übersetzung von ›De oris osculo‹

42

Der unterstrichene Textteil wurde später vom Kopisten des ›Mystieke mondkus‹ durchgestrichen.

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Zwischen Predigt und Meditation Die Kollationalia des Dirc van Herxen

Am Anfang steht ein Predigtverbot. 1383 entzieht der Bischof von Utrecht Geert Grote, dem Gründervater der Devotio moderna, die Möglichkeit, öffentlich zu predigen, da dieser aus Demut nur die Weihe als Diakon empfangen hatte. Nicht nur, daß Grotes Predigten ein enormer Anziehungspunkt für die Menschen waren und viele Bekehrungserlebnisse auslösten, wie seine Biographen berichten, er ermahnte auch immer wieder den Klerus zölibatär zu leben, von persönlichem Reichtum und dem Kauf von Ämtern abzulassen.1 Im Kreis der Kleriker dürfen seine Gegner vermutet werden, die letztendlich für das Verbot verantwortlich waren. Grote sah sich seiner mächtigsten Wirkungsmöglichkeit beraubt. Er verstärkte seine Bemühung um das geschriebene Wort und versuchte, durch Traktate und durch Übersetzungen Einfluß zu nehmen. Etwas zugespitzt gefragt: Waren die Traditionen, die Grote durch seine Schriften für die Devotio moderna geschaffen hat, für ihn selbst nur ein Ersatz; war das Predigen mit der Feder – non verbo, sed scripto predicantes, wie es in einem Kolophon heißt – für Grote nur eine von außen aufgezwungene Notlösung?2

1

Vgl. Rudolf Dier van Muiden, Scriptum de magistro Gherardo Grote, domino Florencio et multis aliis devotis fratribus, in: Analecta seu vetera aliquot scripta inedita, Bd. 1, hg. von GERHARD DUMBAR, Deventer 1719, S. 1–113, hier S. 7: Ex eius [Geert Grotes] predicatione, vita et conversatione fructus multus provenit: nam adheserunt ei multi eius conuersationem imitantes, scilicet dominus Florencius, dominus Iohannes de Huxaria, dominus Iohannes Brinckerinck et multi alii abrenunciantes seculo et concupiscentiis eius; Thomas von Kempen, Dialogus noviciorum II 8, in: ders., Opera omnia, hg. von MICHAEL JOSEPH POHL, Bd. 7, Freiburg 1922, S. 45–48; die ›Chronica Montis S. Agnetis‹, ebd., S. 336, 382f., sowie die Chronik des St. Gregoriushauses in Zwolle, hg. von MICHAEL SCHOENGEN, Jacobus Traiecti alias de Voecht Narratio de inchoatione domus clericorum in Zwollis met Akten en Bescheiden betreffende dit Fraterhuis (Werken uitgegeven door het Historisch Genootschap 3, Serie 13), Amsterdam 1908, S. 5ff. Zur Predigttätigkeit Grotes vgl. GEORGETTE EPINEY-BURGARD, Ge´rard Grote (1340–1384) et les de´buts de la De´votion moderne (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 54), Wiesbaden 1970, S. 182–194; THEODORE P. VAN ZIJL, Gerard Groote, Ascetic and Reformer (1340–1384) (The Catholic University of America. Studies in Medieval History, N.S. 18), Washington 1963, S. 127–139; W. J. KÜHLER, De prediking van Geert Groote, Teyler’s Theologisch Tijdschrift 5 (1907), S. 51–87 u. 208–233. Zum Predigtverbot s. auch ANTON G. WEILER, Leven en werken van Geert Grote 1340–1384, in: Geert Grote en de Moderne Devotie, hg. von C. C. DE BRUIN/E. PERSOONS/A. G. WEILER, Zutphen 1984, S. 9–55, hier S. 44f. 2 Der zitierte Kolophon stammt aus dem Druck ›Sermones Discipuli (d. i. Johannes Herolt) de tempore‹ der Rostocker Fraterherren, s. G. C. F. LISCH, Geschichte der Buchdruckerkunst in Mecklenburg bis zum Jahre 1540, Jahrbücher des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde 4 (1839), S. 1–62, hier S. 45f.

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Geert Grote hat in einem Brieftraktat an Wilhelm Oude Scute, der wahrscheinlich in die Zeit des Predigtverbots fällt, von drei Möglichkeiten gesprochen, die Menschen zur Veränderung ihres Lebens und zu einer Umkehr zu bewegen. Er verdeutlicht dies anhand der correpcio, eines der zentralen Begriffe der monastischen Disziplin. Die Ermahnung oder Zurechtweisung kann demnach durch die Predigt, die collatio oder im persönlichen Gespräch vorgenommen werden. Die Wahl der jeweiligen Form hängt von der Persönlichkeit des Angesprochenen ab. In der allgemeinen und öffentlichen Predigt, dem sermo generalis, können jene zurechtgewiesen werden, die einen persönlichen Tadel nicht auszuhalten vermögen, so Grote im Anschluß an Gregor den Großen.3 Er habe mit eigenen Augen gesehen, daß manche devoti einige seiner Aussagen aus Predigten angemessen aufnahmen, die sie dennoch, als sie in einer collatio in allgemeiner Form ausgedrückt wurden, nicht ertragen hätten. Sie hätten diese dann nur auf sich bezogen, obgleich diese Aussage in einer ähnlich allgemeinen Form wie in der Predigt geäußert worden sei.4 Die Ermahnung im persönlichen Gespräch, die dritte Möglichkeit, setze voraus, daß die entsprechende Person in der brüderlichen Liebe bereits gefestigt und auch geduldig sei.5 Es ergibt sich somit eine Hierarchie der anzuwendenden Hilfsmittel. Grote wirkt damit in dieser Frage für die Devotio moderna traditionsbildend. Drei Stränge gehen von seinem Vorbild aus: die Predigt im Kirchenraum, die collatio im kleinen Kreis der Anhänger und das ermahnende Gespräch unter vier Augen. Aus seinem Erfolg als Prediger resultiert im wesentlichen das Urteil der Forschung, die modernen Devoten hätten »zur Verbreitung ihrer Botschaft regen Gebrauch von der Predigt« gemacht.6 Allerdings sind von Grote kaum entsprechende Texte überliefert, die bekannteste Predigt, ›Contra focaristas‹, richtet sich darüberhinaus ausschließlich an den Utrechter Klerus.7 Die Zuweisung der sogenannten ›Zwoller Predigten‹ an Grote durch GERRIT ZIELEMAN scheint wenig überzeugend, da die Predigten in keiner der Werklisten Grotes erwähnt werden. Die Argumentation, nur ein Autor mit dem Bildungsgrad Grotes käme als Verfasser in Frage, ist als Beleg für die Autorschaft nicht ausreichend.8 3

Siehe den vom Herausgeber auf das Jahr 1383 datierten Brief Grotes, WILLELMUS MULDER, Gerardi Magni Epistolae (Tekstuitgaven van OGE 3), Antwerpen 1933, Nr. 61, hier S. 227: Generali sermone illi possunt corripi, qui singularem correpcionem non sustinent, ut dicit beatus Gregorius, nescio in quoto Moralium. 4 Ebd., S. 227f.: Vidi ad oculum, quod devoti quidam apte sumpserunt quedam generalia dicta mea in predicacione mea, que tamen eis in collacione sic universaliter expressa, non sustinuerunt, quasi tunc essent particulariata, quia persone particulari dicta, licet eque generaliter. 5 Ebd., S. 228: Alias nullus est corripiendus coram omnibus, nisi sit firmus in caritate et paciens, qui verbis lacerari non potest. 6 JEAN LONGE´ RE, Predigt. A: Ursprünge und Recht, LexMA VII, Sp. 171–174, hier Sp. 173. Vgl. auch DERS., La pre´dication me´die´vale, Paris 1983, bes. S. 124f. 7 TH. A. CLARISSE/J. CLARISSE, Sermo magistri Gerardi Magni, dicti Groot, de focariis, factus in domo Capitulari Trajectensi, Archief voor kerkelijke geschiedenis inzonderheid van Nederland 1 (1829), S. 364–379; 2 (1830), S. 307–395; 8 (1837), S. 3–107. Vgl. dazu den Beitrag von RUDOLF TH. M. VAN DIJK in diesem Band. 8 Siehe GERRIT C. ZIELEMAN, Der Verfasser der sog. Zwoller Predigten des späten 14. Jahrhun-

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Nur von wenigen Devoten der ersten Generation ist bekannt, daß sie öffentlich gepredigt haben, entsprechende Handschriften sind kaum überliefert; eigenständige Predigttexte in nennenswerter Zahl stammen erst aus dem 16. Jahrhundert. Ist daher die Devotio moderna auf einer Tagung ›Predigt im Kontext‹ fehl am Platz? Ich denke nicht. Es gibt eine Reihe von Handschriften und Texten, sowohl in Latein als auch in der Volkssprache, die eine Betrachtung gerade im Kontext der Predigt sehr wohl lohnen. Dies gilt sicherlich weniger für die vielen Sermoneshandschriften und Homiliare mit Predigten der Kirchenlehrer, die, wie zum Beispiel aus den Tischlesungsverzeichnissen aus Zevenborren bekannt ist, regelmäßig im Refektorium vorgelesen wurden.9 Eine Reihe von Homiliaren zeigt entsprechende Gebrauchsspuren, etwa Nota-Vermerke für den Vorleser; sie sind zum Teil durch ihr Inhaltsverzeichnis für die Tischlesung erschlossen, oder sie geben durch ihren Kolophon zu erkennen, daß sie für eine eigenständige Aufbewahrung im Refektorium bestimmt waren. Das gilt schon eher für die Generalkapitelspredigten, die einmal im Jahr bei der entsprechenden Versammlung der Prioren der Windesheimer Kongregation gehalten wurden. Die meisten dieser Ansprachen sind bisher nicht ediert, und selbst die Textform ist noch kaum erforscht. Das gilt sicher im besonderen für die Beichtväterpredigten, die in der Volkssprache vor den Schwestern vom gemeinsamen Leben oder vor Tertiarissen, die die Devoten betreuten, gehalten wurden. Johannes Brinckerinck, Johannes Veghe oder auch Claus van Euskerken sind hier nur die prominentesten Namen. Viele dieser Handschriften sind bisher kaum untersucht, geschweige denn ediert oder kommentiert.10 derts, in: Die deutsche Predigt im Mittelalter. Internationales Symposium am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin vom 3.–6. Oktober 1989, hg. von VOLKER MERTENS/HANSJOCHEN SCHIEWER, Tübingen 1992, S. 223–255. Entsprechende stark voneinander abweichende Werklisten enthalten die verschiedenen Viten Grotes, s. dazu neben der in Anm. 1 angegebenen Literatur R. R. POST, The Modern Devotion (Studies in Medieval and Reformation Thought 3), Leiden 1968, S. 176ff. 9 Siehe zu den Tischlesungsanweisungen aus Zevenborren: THOMAS KOCK, Die Buchkultuer der Devotio moderna. Handschriftenproduktion, Literaturversorgung und Bibliotheksaufbau im Zeitalter des Medienwechsels (Tradition – Reform – Innovation. Studien zur Modernität des Mittelalters 2), 2. Aufl. Frankfurt/M. u. a. 2002, S. 154–185 sowie eine Teiledition auf S. 351–360. S. auch ALBERT DEROLEZ, A Reconstruction of the Library of the Priory of Zevenborren at the End of the Middle Ages, in: Miscellanea Martin Wittek. Album de codicologie et de pale´ographie offert a´ Martin Wittek, hg. von ANNY RAMAN/EUGE` NE MANNING, Löwen/Paris 1993, S. 113– 126. 10 Vgl. zur handschriftlichen Überlieferung GERRIT C. ZIELEMAN, Preken als litteraire documenten, in: Boeken voor de eeuwigheid. Middelnederlands geestelijk proza, hg. von THOM MERTENS (Nederlandse literatuur en cultuur in de middeleeuwen 7), Amsterdam 1993, S. 70–86 u. 388–395; DERS., De preek bij de moderne devoten. Een verkenning, Deventer 1984, sowie DERS., Das Studium der deutschen und niederländischen Predigten des Mittelalters, in: Soˆ predigent etelıˆche. Beiträge zur deutschen und niederländischen Predigt im Mittelalter, hg. von KURT OTTO SEIDEL/ THOM MERTENS (GAG 378), Göppingen 1982, S. 5–48. Zu Johannes Brinckerinck s. THOM MERTENS, Postuum auteurschap. De collaties van Johannes Brinckerinck, in: Windesheim 1395– 1995. Kloosters, Teksten, Invloeden, hg. von ANTON J. HENDRIKMAN [u. a.] (Middeleeuwse Studies 12), Nijmegen 1996, S. 85–97. Zu Johannes Veghe s. MONIKA COSTARD, Zwischen Mys-

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Um alle diese Texte soll es hier nicht oder doch nur am Rande gehen. Das Thema sind die Kollationalia, wobei sich drei Formen unterscheiden lassen: Die Handschriften können in unterschiedlichen Bearbeitungsformen den Text der collationes überliefern, wobei die Abfolge zumeist dem Kirchenjahr folgt. Eine andere Möglichkeit ist die Sammlung von dicta oder goede punten aus der Ansprache, die dann einen eigenständigen Werkcharakter entwickeln konnte. Eine dritte Form von Handschriften umfaßt die während der Kollation besprochenen Texte, also Exzerpte aus den Kirchenlehrern und Exempel in einer thematischen Ordnung. Es kann also zwischen den Vorlagen zur Kollation und damit einem Handbuch für den Gesprächsleiter, wenn man diesen modernen Begriff verwenden will, oder den Beichtvater einerseits, und den Nachschriften, sei es zum persönlichen Gebrauch oder zur Verwendung in der Gemeinschaft, andererseits differenziert werden.11 Es sind insgesamt überraschend wenige Handschriften überliefert, die ausschließlich zur Kollation dienten. Einige Codices sind darüberhinaus nur aus Buchinventaren bekannt, so aus den Fraterhäusern in Deventer oder Gouda; letzteres hieß sogar Domus fratrum collationis.12 Überraschend ist dieser Befund, da aus den Statuten bekannt ist, daß die Kollation zur gängigen Praxis aller devoten Gemeinschaften gehörte. In den von Dirc van Herxen aufgestellten Consuetudines des Zwoller Gregoriushauses können die drei Kapitel ›De collacione‹, ›De ammonitione‹ und ›De correpcione‹ als tik und Moraldidaxe. Deutsche Predigten des Fraterherren Johannes Veghe und des Dominikaners Konrad Schlatter in Frauenklöstern des 15. Jahrhunderts, OGE 69 (1995), S. 235–259; DIETRICH SCHMIDTKE, Veghe, Johannes und Pseudo-Veghe, 2VL X, Sp. 190–199. Zu Claus van Euskerken s. den Beitrag von THOM MERTENS in diesem Band. Zur Kollationspraxis vgl. auch die Vita des Rektors Peter von Amsterdam aus dem Meester-Geertshaus der Schwestern vom gemeinsamen Leben in Deventer, hg. von D. A. BRINCKERINCK, Biographien van beroemde mannen uit den Deventer-kring, V.: Peter van Amsterdam, Archief voor de Geschiedenis van het Aartsbisdom Utrecht 28 (1902), S. 243–276. 11 Zur Kollationspraxis vgl. den materialreichen und auf die Handschriften zurückgehenden Aufsatz von THOM MERTENS, Collatio und Codex im Bereich der Devotio moderna, in: Der Codex im Gebrauch, hg. von CHRISTEL MEIER/DAGMAR HÜPPER/HAGEN KELLER (Münstersche MittelalterSchriften 70), München 1996, S. 163–182. MERTENS, S. 170, möchte den Begriff Kollationale auf die speziell für den Gebrauch bei der collatio erstellten Bücher beschränken. Dies wird allerdings den zeitgenössischen Bezeichnungen nicht gerecht, die den Begriff für unterschiedliche Formen von Handschriften verwenden. 12 Siehe PIETER OBBEMA, Boeken in een meditatieschema uit Deventer, in: DERS., De middeleeuwen in handen. Over de boekcultuur in de late middeleeuwen, Hilversum 1996, S. 135–142, hier S. 142; zur Kollationspraxis in Gouda vgl. die Chronik des Fraterhauses, hg. von A. H. L. HENSEN, Henric van Arnhem’s Kronyk van het Fraterhuis te Gouda, Bijdragen en Mededeelingen van het Historisch Genootschap 20 (1899), S. 1–46; das Kollationale ist erwähnt auf S. 22 (in einem eingefügten Inventar). Die Kollation nähert sich in Gouda sehr der öffentlichen Predigt an, vgl. ebd., S. 44: Et erat tunc locus collacionis, ubi diebus festivis convenire solebat ad audiendum collaciones populus, mulieres scilicet sole. Que collaciones ante hec tempora fieri consueverunt in modum lectionis, qua unus fratrum sive alius quis legebat ex libris teutonialibus ad hoc ordinatis, donec aliquando aliquis sacerdos sive de fratribus sive aliis quibuslibet veniebat, qui per modum simplicis exhortacionis populum post lectionem docebat sermonis modo. Der Gründer hatte es den Brüdern zur Auflage gemacht, an Festtagen öffentlich eine Kollation abzuhalten, ebd., S. 11.

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eine Einheit gesehen werden, also bleibt hier von der Einteilung Grotes der Bereich der Predigt unberücksichtigt. Demnach sind zwei Formen der collatio zu unterscheiden, in beiden soll ein Thema der heiligen Schrift behandelt werden. An Festtagen trafen sich die Brüder nach der ersten Mahlzeit, post prandium, das war mittags, für eine Stunde, um gemeinsam ein vorgegebenes Thema zu besprechen. An Sonntagen und an feststehenden Feiertagen kamen die Brüder nach dem Abendessen zusammen, hier waren auch die von den fratres betreuten Schüler sowie Gäste – alii homines bone voluntatis, wie es in den Statuten heißt – eingeladen. Im Unterschied zu der internen Versammlung wurde hier die Volkssprache verwendet.13 Daß Dirc van Herxen Kollationalia geschrieben hat, ist seit der Edition der Zwoller Fraterhauschronik bekannt. Der Chronist Jacobus de Voecht berichtet, Dircs Fleiß sei daran zu erkennen, daß er neben kleineren Schriften auch Kollationen zusammengestellt habe, die er über verschiedene Gegenstände gesammelt und in angemessener Form in die deutsche Sprache übersetzt habe.14 Die Chronik berichtet also von einem lateinischen und einem volkssprachlichen Kollationale. Die Übersetzung habe er angefertigt, so Jacobus de Voecht an anderer Stelle, um die laici durch das Hören des Wortes Gottes für die Gemeinschaft zu bekehren, attrahere, wie er sich ausdrückt, also sie gleichsam zur Devotio moderna hinüberzuziehen. Durch die Chronik ist ebenfalls bezeugt, daß aus diesen Büchern regelmäßig an Festtagen vorgelesen wurde, um die Zuhörer zum timor dei und zur compunctio cordis zu bewegen.15 Dirc van Herxen war 24jährig 1405 in das Gregoriushaus eingetreten, 1410 wurde er der zweite Rektor. Dieses Amt hatte er bis zu seinem Tode 1457 inne. Neben dem Florenshaus in Deventer wird Zwolle unter seinem Rektorat zum 13

SCHOENGEN [Anm. 1], S. 239–273, die drei Kapitel auf S. 246–248; S. 246: Idcirco consuemus festivis diebus post prandium per horam convenire et colloqui de aliqua materia edificatoria, occasionem loquendi sumentes ex aliquo passu Scripture, qui legetur nobis per aliquem, qui fuerit deputatus custos collationis; S. 246f.: Solemus etiam Dominicis diebus et in precipuis solennitatibus de sero post cenam convenire et lecto completorio, colloqui consequenter de materia post prandium proposita. Illis etiam Dominicis diebus conferemus de scolaribus vel etiam aliis hominibus bone voluntatis, qui veniunt ad nos causa instructionis ... quibus legetur in teutonico aliquis passus Sacre Scripture de materia plana, que ad emendationem vite eos poterit provocare, videlicet de viciis, de virtutibus, de contemptu mundi, de timore Dei et similibus. Zum Zwoller Fraterhaus vgl. ANTON G. WEILER, Volgens de norm van de vroege kerk. De geschiedenis van de huizen van de broeders van het Gemene leven in Nederland (Middeleeuwse Studies 13), Nijmegen 1997, S. 26–54 u. 220–222. 14 SCHOENGEN [Anm. 1], S. 55f.: Quam continuus et diligens fuit in opere, patet eciam ex libellis et tractatulis, quos composuit et scripsit, et ex collacionibus, quas de diversis materiis collegit et apte in teutonicali lingua transtulit. 15 Ebd., S. 64: Iam de zelo suo ad multas Deo lucrandas animas aliqua perstringamus. Ipse, ut laici quoque attraherentur ad audiendum verbum Dei, composuit duos magnos libros teutonicales, ex quibus diebus festivis legeretur eis aliqua materia tempori deserviens. Sed et idem ipse aliquando eis fecit collacionem, in palacio stando more nostro, sicut clericis facimus. In magnis et precipuis festis pro omnibus fecit devote et efficaciter, auditores suos movens cordialiter ad Dei timorem et compunctionem cordis. Vgl. auch zu Albert Paep, ebd., S. 139–143, das Kapitel ›De multis exerciciis ejus utilibus valde et efficacia grandi in collacionibus assiduis‹, sowie zu Heinrich van Herxen, ebd., S. 180f., das Kapitel ›De modo et qualitate ammonitionum et collationum suarum‹.

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bedeutendsten Fraterhaus der Reformbewegung, mehrere Neugründungen gehen von den Brüdern aus, verschiedene Schwesterngemeinschaften werden von dort betreut. Institutionell fällt in sein Rekorat auch die Gründung des Zwoller Kolloquiums, des Zusammenschlusses der »niederländischen« Brüder- und Schwesternhäuser. Von Dirc stammen neben den bereits genannten Statuten auch verschiedene Dicta und Traktate insbesondere zur Erziehung der Jugend und der Novizen sowie Anleitungen zur Meditation und Passionsbetrachtungen. Sie sind zusammengefaßt als ›Devota exercicia‹.16 Aber erst in den 50er Jahren dieses Jahrhunderts konnte JAN DESCHAMPS mehrere Handschriften als die Kollationalia des Dirc van Herxen identifizieren.17 Die Kollationen sind in fünf Handschriften, drei lateinischen und zwei volkssprachlichen, überliefert, läßt man die ebenfalls von DESCHAMPS aufgelistete Streuüberlieferung einzelner Passagen außer Acht.18 Ein heute in der Universitätsbibliothek Utrecht aufbewahrter Codex stammt aus dem Augustiner-Chorherrenstift Frenswegen; das Kollationale wird im Inhaltsverzeichnis als ›Instructio religiosorum ex dictis doctorum‹ bezeichnet (siehe Abb. 1). Dirc van Herxen wird ausdrücklich als Autor angegeben, er habe den Band zusammengestellt, compilavit in unum, wie es in einem nach seinem Tod geschriebenen Vorwort heißt.19 Die zweite lateinische Handschrift, heute in der Koninklijken 16

Zu Person und Schriften des Dirc van Herxen s. THEO KLAUSMANN, Consuetudo consuetudine vincitur. Die Hausordnungen der Brüder vom gemeinsamen Leben im Bildungs- und Sozialisationsprogramm der Devotio moderna (Tradition – Reform – Innovation. Studien zur Modernität des Mittelalters 4), Frankfurt/M. [usw.] 2003, S. 113ff., S. 179ff. sowie PHILIPPINA H. J. KNIERIM, Dirc van Herxen (1381–1457), rector van het Zwolse fraterhuis, Amsterdam 1926; GEORGETTE EPINEY-BURGARD, Les ide´es pe´dagogiques de Dirc van Herxen, in: Serta devota in memoriam Guillelmi Lourdaux, Bd. 1: Devota Windeshemensis, hg. von WERNER VERBEKE [u. a.] (Mediaevalia Lovaniensia 20), Löwen 1992, S. 295–304; MARC HAVERALS, Contra detractores monachorum alias De utilitate monachorum van Dirk van Herxen, ebd., S. 241–294; WILLEM LOURDAUX, Dirk of Herxen’s tract ›De utilitate monachorum‹: A Defence of the Lifestyle of the Brethren and Sisters of the Common Life, in: Pascua mediaevalia. Studies voor Prof. Dr. J. M. de Smet (Studia Mediaevalia 1, Ser. 10), hg. von R. LIEVENS/E. VAN MINGROOT/W. VERBEKE, Löwen 1983, S. 312–336; ANDRE J. GEURTS, in: Moderne Devotie. Figuren en Facetten, Ausstellungskatalog, Nijmegen 1984, S. 139–144. 17 Siehe JAN DESCHAMPS, De Dietse kollatieboeken van Dirc van Herxen (1381–1457), rektor van het Zwolse fraterhuis, in: Handelingen van her XXIIIe Vlaams filologencongres Brussel 1–3 april 1959, Löwen o. J., S. 186–193; DERS., De Dietse kollatieboeken van Dirc van Herxen, rector van het Zwolse fraterhuis, in: Verslagen en Mededelingen van de Koninklijke Academie voor Nederlandse Taal- en Letterkunde 1987, S. 408–412. Vgl. A. M. J. VAN BUUREN, Wat materien gheliken op sonnendage ende hoechtijde te lesen. Het Middelnederlandse collatieboek van Dirc van Herxen, in: Boeken voor de eeuwighweid [Anm. 10], S. 245–263 u. 444–447; KARL STOOKER/THEO VERBEIJ, Uut Profectus. Over de verspreiding van Middelnederlandse kloosterliteratuur aan de hand van de ›Profectus religiosorum‹ van David van Augsburg, ebd., S. 318–340 u. 476–490. Zu den lateinischen Handschriften liegen bisher keine größeren Untersuchungen vor. 18 JAN DESCHAMPS, Middelnederlandsche handschriften uit Europese en Amerikaanse bibliotheken, Leiden 21972, Nr. 90. 19 Utrecht, UB, 1586 (8.E.29), fol. 3v: Nota quod sequentem tractatum siue materias sequentes compilauit in unum venerabilis et deuotus pater dominus Theodericus de Herxen natus de prope Windesym secundus rector domus clericorum in Zwollis. In quo aperte relucet cuius spiritus et quante scientie fuerit. Cuius anima requiescat in pace. Amen. Zu der Handschrift s. IRENE STAHL,

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Bibliotheek Brüssel, enthält keinen Kolophon, sie ist weder datiert noch lokalisiert. Allerdings wird in einer ›Tabula de festivitatis sanctorum‹ der hl. Gregor als Patron bezeichnet, was auf das Fraterhaus in Zwolle als Entstehungsort deutet. Nach dem paläographischen Befund sind die Handschriften etwa in der Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden.20 Daneben existiert eine in Aufbau und Inhalt sehr ähnliche Handschrift aus dem Kölner Kreuzherrenkonvent.21 Die Übernahme des Kollationale durch die Kreuzherren vermag zunächst zu überraschen, sie läßt sich aber durch die besondere Wertschätzung, die der Bibliothekar Conrad von Grünberg den Schriften der Devotio moderna entgegenbrachte, erklären. Conrad war 1418 in Deventer als Schreiber tätig, 1420 legte er in Köln die Profeß ab, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1466 bezeugt ist.22 In dieser Zeit hat er nicht nur Handschriften erworben, geschrieben, korrigiert und durch Inhaltsverzeichnisse, Register und Rubrizierungen erschlossen, er hat auch eine Sammlung verschiedenster Werke von Geert Grote, Florens Radewijns, Johannes von Schoonhoven, Thomas von Kempen oder eben auch von Dirc van Herxen zusammengestellt, wie sie in dieser Fülle aus keinem Konvent der Devotio moderna überliefert ist.23 Die aus Die Handschriften der Klosterbibliothek Frenswegen, Wiesbaden 1994, S. 203f.; Thomas a Kempis en de Moderne Devotie, Ausstellungskatalog, Brüssel 1971, Nr. 14; KNIERIM [Anm. 16], S. 131–135. Das Kollationale umfaßt fol. 1–215; fol. 216r–219v, ein Fragment aus dem ›Liber de preparatione cordis‹ des Gerhard von Lüttich, ist als selbständige Lage von anderer Hand erst später zugebunden worden. 20 Brüssel, Koninklijke Bibliotheek, IV 124, unter dieser Signatur werden zwei Bände verwahrt. Die tabula in Bd. 2, fol. LXXXIXr. 21 Köln, Historisches Archiv, GB 4o 166, s. JOACHIM VENNEBUSCH, Die theologischen Handschriften des Stadtarchivs Köln, Bd. 2, Wien 1980, S. 176–178. VENNEBUSCH, S. 177, weist bereits auf eine Ähnlichkeit der Collationes zu der Handschrift aus Frenswegen hin. 22 Zur Biographie Conrads s. Thomas Kock, Zerbolt inkognito. Auf den Spuren des Traktats ›De vestibus pertiosis‹, in: Kirchenreform von unten. Gerhard Zerbolt von Zutphen und die Brüder vom gemeinsamen Leben (Tradition – Reform – Innovation. Studien zur Modernität des Mittelalters 6), hg. von Nikolaus Staubach, Frankfurt/M. [usw.] 2004, S. 165–235, hier S. 177 sowie GER. Q. REIJNERS, Der Kölner Bibliothekar Conradus von Grunenberg, Clairlieu, Tijdschrift gewijd aan de geschiedenis der Kruisheren 52 (1994), S. 231–240; VENNEBUSCH [Anm. 21], S. 25, sowie DERS., Die homiletischen und hagiographischen Handschriften des Stadtarchivs Köln, Bd. 1, Weimar/Wien 1993, S. XIIf. Es gab auch Beziehungen nach Zwolle, zumindest besaßen die Kreuzherren einen Codex mit dem Besitzvermerk Iste liber pertinet ad domum Iohannis de Ommen (Köln, Historisches Archiv, GB 4o 37, GB 4o 128 und GB 4o 249, wobei Teile einer Handschrift zerschnitten wurden). Es handelt sich dabei um das 1395 gegründete Fraterhaus, aus dem das Augustiner-Chorherrenstift Agnietenberg hervorgegangen ist. 23 Folgende Handschriften der Kreuzherren enthalten Werke von Autoren der Devotio moderna: Köln, Historisches Archiv, GB fo 75, GB fo 196; GB 4o 37, GB 4o 85, GB 4o 100, GB 4o 108, GB 4o 134, GB 4o 153, GB 4o 155, GB 4o 169, GB 4o 194, GB 4o 242, GB 4o 249, GB 8o 40, GB 8o 41, GB 8o 53, GB 8o 54, GB 8o 60, GB 8o 61, GB 8o 70, GB 8o 76, GB 8o 77, GB 8o 83, GB 8o 84, GB 8o 87, GB 8o 92, GB 8o 96, GB 8o 113, GB 8o 122, GB 8o 126, GB 8o 144, GB 8o 145, GB 8o 149, GB 8o 152, GB 8o 155; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 4480. Zur Bibliothek der Kreuzherren vgl. neben den umfangreichen Beschreibungen der Handschriften bei JOACHIM VENNEBUSCH auch JOSEPH THEELE, Aus der Bibliothek des Kölner Kreuzherrenklosters, in: Mittelalterliche Handschriften. Paläographische, kunsthistorische und bibliotheksgeschichtliche Untersuchungen. Festgabe zum 60. Geburtstag von Hermann Degering, Leipzig 1926, S. 253–263, sowie ANT. VON ASSELDONK, Keulse Kruisherenhandschriften te Wenen, Clairlieu, Tijdschrift

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Köln stammenden ›Collationes de vita religiosorum ex dictis patrum et doctorum collectae‹ weichen im einzelnen von den beiden bekannten lateinischen Handschriften ab. In Aufbau und Inhalt gibt es allerdings viele Ähnlichkeiten.24 Leider sind von den ursprünglich 173 Blättern der Handschrift 48 verlorengegangen, in der Regel fehlt jeweils das äußere und innere Pergamentdoppelblatt einer Lage, so daß die Texte nicht vollständig sind. Allerdings ist die Handschrift mit zwei Inhaltsverzeichnissen ausgestattet, die einen Überblick ermöglichen (siehe Abb. 2).25 Aus St. Agatha in Amersfoort, einem Tertiarissenkonvent, stammt eine 1445 geschriebene volkssprachliche Handschrift.26 Die cura monialium der Schwestern oblag dem Fraterhaus in Hulsbergen, einer Tochtergründung der Zwoller Brüder, die stets in sehr enger Beziehung zum Gregoriuskonvent stand. Das Kollationale dürfte über diesen Weg von Zwolle nach Amersfoort gelangt sein.27 In den Schwesterngemeinschaften gab der Beichtvater für die Kollation die Themen vor. Hierzu konnte er selbst Ansprachen ausarbeiten, wie dies von Johannes Brinckerinck bekannt ist, aber er konnte auch auf bestehende Kollationalia zurückgreifen. Daß die Amersfoorter Sammlung vom Beichtvater Jan Lubberts van Hattem, er ist in St. Agatha von 1431 bis 1450 bezeugt, benutzt wurde, machen die lateinischen Verweise wahrscheinlich, die quasi als Regieanweisungen fungieren konnten.28 Eine weitere volkssprachliche Handschrift, heute in gewijd aan de geschiedenis der Kruisheren 27 (1969), S. 47–64. Siehe die Zusammenstellung der überlieferten Handschriften bei SIGRID KRÄMER, Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters, Teil 2 (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, Ergänzungsbd. 1) München 1990, S. 435–441. 24 Aus dem Kreuzherrenkonvent sind daneben die auf das Jahr 1417 datierten Collationes des Johannes Coci erhalten, Köln, Historisches Archiv, GB fo 130, fol. 147v–183v; GB 8o 58, fol. 65r–178v; GB fo 75, fol. 120–123 sowie GB 4o 118, fol. 146r–235r. Zu Johannes Coci s. auch den Artikel von HENRI VAN ROOIJEN im Dict. Spir. VIII, Sp. 389f.; VENNEBUSCH [Anm. 21], S. 130f., sowie DERS., Die homiletischen und hagiographischen Handschriften [Anm. 22], S. 203–205. Die letztgenannte Handschrift enthält auch die Collationes des Hendrik Herp, der zunächst als Rektor der Fraterhäuser in Delft und Gouda tätig war, bevor er zu den Franziskanern wechselte, s. GEORGETTE EPINEY-BURGARD, Henri Herp ›De processu humani profectus‹. Sermones de diversis materiis vitae contemplativae. Introduction et edition critique (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte 106), Wiesbaden 1982. 25 Das erste Inhaltsverzeichnis ist als Anhang I abgedruckt. 26 Utrecht, UB, 3.L.6. Vgl. Handschriften en Oude Drukken van de Utrechtse Universiteitsbibliotheek, Utrecht 21984, Nr. 104. 27 Zum Fraterhaus in Hulsbergen s. A. KLEIN-KRANENBURG, Geschiedenis van het fraterhuis St. Hieronymus te Hulsbergen, Heerde 1986, sowie WEILER [Anm. 13], S. 84–91 u. 216–218. Die Chronik mit Memoriale aus St. Agatha ist ediert von J. H. P. KEMPERINK, Johann van Ingen, Geschiedenissen, Archief voor de geschiedenis van het aartsbisdom Utrecht 64 (1957), S. 1–155, hier S. 64–138. Zu den Amersfoorter Konventen s. C. A. VAN KALVEEN, Kloosters en kapellen en de Moderne Devotie, in: De Amersfoortse kerken, kloosters, kapellen en synagoge en hun geschiedenis tot omstreeks 1850, hg. von S. VAN ADELBERG [u. a.], Amersfoort 1984, S. 24–41. 28 Jan Lubberts van Hattem ist im Memorienbuch des Konvents aufgeführt, s. KEMPERINK, Johann van Ingen [Anm. 27], S. 71. Die drei Regieanweisungen jeweils in kleinerer Schrift, fol. 20r am unteren Rand: Notabilia materia et motiua ad contempnendum delicie carnis et si breuis est addantur duo alia precedencia; fol. 54r: Item verte tria folia in fine secunde materie de verbo dei et lege exemplum; fol. 114r (am Rand): finitur vna collacio.

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Leiden, ist aus dem Augustiner-Chorherrenstift in Gaesdonck überliefert.29 Als Rezipienten sind hier auch die Laienbrüder denkbar. Alle Texte stammen jeweils von einer Hand, sie sind in einer sauberen Bastarda geschrieben und schon rein äußerlich zum Vorlesen bestimmt gewesen. Die Kollationalia gliedern sich in drei Bücher, wobei die ersten beiden thematisch ausgerichtet sind. In der Amersfoorter Handschrift ist der erste Teil mit ›Materien vanden vtersten ende vanden sunden‹ überschrieben, er umfaßt, hier nach der Zwoller Handschrift zitiert, Kapitel wie ›De intellectu et affectu purgandis‹, ›De timore dei‹, ›De utilitate meditandi de morte‹, ›De extremo dei iudicio‹ oder ›De regione gehenali‹. Der zweite Abschnitt behandelt die Tugenden, ›Vanden doechden‹.30 Diese Einteilung ist allerdings in den lateinischen Handschriften nicht stringent durchgehalten. Ein dritter Teil ist nach dem Kalender angeordnet und enthält Predigten zu den kirchlichen Hoch- und Heiligenfesten. Diese sind aus einem Homiliar zusammengestellt, keiner der Texte stammt von Dirc van Herxen. Der dritte Abschnitt ist ausschließlich, und dabei teilweise unvollständig, in den lateinischen Handschriften überliefert. Mit den beiden ersten Teilen bildete er in Frenswegen ursprünglich keine Einheit, die Handschrift ist erst später zusammengebunden worden, wie an der neu einsetzenden Lagenzählung zu erkennen ist. Die drei Abschnitte waren also ursprünglich auf zwei Handschriften aufgeteilt, ähnlich wie die zwei Bände aus Zwolle. In der volkssprachlichen Handschrift aus Amersfoort gibt es Verweise auf einen nicht überlieferten weiteren Teil. Das Kollationale aus Gaesdonck könnte ursprünglich aus drei Bänden bestanden haben. Dieser dritte Abschnitt konnte bisher nicht mit einer der überlieferten volkssprachigen Predigtsammlungen in Verbindung gebracht werden. Die vorliegenden Informationen sind hierfür zu unspezifisch. Keiner der Textzeugen bildet das vollständige Kollationale. Bis auf den Codex aus Gaesdonck enthalten die Handschriften weitere Traktate von der Schreiberhand, deren Zugehörigkeit zum Kollationale im Einzelfall zu klären ist. Beispielsweise folgt in Frenswegen auf die Heiligenleben der Traktat ›De communi vita‹, der zur Kollation ebenfalls herangezogen wurde.31 Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich im inhaltlichen Vergleich der Textzeugen. So sind weder die volkssprachlichen Handschriften ausschließlich Übersetzungen aus dem Lateinischen, noch stimmen die drei lateinischen Handschriften in ihrer Textauswahl überein. Das volkssprachliche Kollationale ist ausführlicher, neben 29

Leiden, UB, BPL. 2231. Vgl. zu der Handschrift WILLEM DE VREESE, ›Die materie van den Sonden‹, OGE 1 (1927), S. 191–203. DE VREESE druckt das Inhaltsverzeichnis ab und führt die zitierten Texte an. Er hat die Handschrift allerdings nicht mit dem Kollationale des Dirc van Herxen in Verbindung gebracht. 30 Die Amersfoorter Handschrift teilt die zwei Großkapitel in jeweils 50 Unterkapitel auf, die Ordnung erfolgt somit nach einem Wochenrhythmus. 31 Utrecht, UB, 1586, fol. 201r–205r. S. dazu KLAUSMANN (wie Anm. 16) S. 118–120. Der Traktat beginnt nicht auf einer neuen Lage, er gehörte zur ursprünglichen Konzeption. Seine Verwendung bei der Kollation beweist die beigefügte Leseliste s. u. Anhang II. Ein thematisch entsprechender Abschnitt ist auch in der Kölner Kreuzherrenhandschrift überliefert, Köln, Historisches Archiv, GB 4o 166, fol. LXr−LXIIv (an dieser Stelle bricht der Text wegen eines Blattverlustes ab).

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Exzerpten und Exempeln stehen hier eigenständige, nicht einer Autorität zugewiesene Passagen, die in Form eines Predigttraktats das behandelte Thema zusammenfassen und strukturieren. Bei Zuweisungen an Dirc als Autor dieser Texte ist allerdings größte Vorsicht geboten. Die lateinischen Kollationalia stellen ausschließlich Kompilationen dar. Weitgehend werden in allen Überlieferungsträgern die gleichen Themen behandelt, auch die Abfolge ist ähnlich, ohne allerdings vollständig kongruent zu sein. Dirc exzerpiert kaum zeitgenössische Autoren und auch nur wenige Werke der eigenen Reformbewegung. Der Anteil der Schriften von Gerhard Zerbolt von Zutphen, Geert Grote oder Thomas von Kempen ist gegenüber der älteren monastischen Literatur marginal. Autoritativ stehen die Traktate und Predigten Bernhards von Clairvaux sowie Gregor der Große, Augustin und David von Augsburg, gefolgt von Hugo von St. Viktor, Bonaventura und Heinrich Seuse. Bei den Exempeln greift Dirc ebenfalls auf die »klassischen« Sammlungen zurück, auf die Wüstenväterbiographien, auf Thomas von Cantimpre´ oder Cäsarius von Heisterbach. Erschlossen werden einige der Handschriften durch Leselisten, die den einzelnen Stoff den verschiedenen Sonn- und Festtagen zuordnen. Die Kollationalia wurden also nicht von vorne nach hinten gelesen. Solche Listen sind für die lateinischen Handschriften aus Zwolle und Frenswegen wie auch für das volkssprachliche Kollationale aus Amersfoort überliefert. Sie stammen jeweils von der Schreiberhand und sind den Codices beigebunden. Die beigefügte Tabelle zeigt die Übersicht für die ersten drei Sonntage im Advent; es handelt sich also um den Beginn der ›Tabula de materiis‹. Die Auswahl der Themen ist unterschiedlich ausführlich und unterschiedlich differenziert, allerdings gibt es einen gemeinsamen Grundbestand. Das läßt sich etwa an der Zusammenstellung für den zweiten Sonntag zeigen. Während der Kollation soll demnach jeweils über das jüngste Gericht gesprochen werden. Die römische Zahl in der Zwoller Handschrift ist die Folioangabe, solche Verweise gibt es auch in der Amersfoorter Handschrift, was in der Tabelle allerdings nicht zu sehen ist, in Frenswegen fehlen sie. Die beiden anderen Themen der volkssprachlichen Handschrift korrespondieren ebenfalls mit Frenswegen. Die einzelnen Materien werden an verschiedenen Tagen ausgeführt, also wird nicht ein Kapitel aus dem Kollationale an einem bestimmten Festtag vollständig behandelt. Der custos, wie er genannt wird, wählt vielmehr innerhalb des Kapitels bestimmte Exzerpte und Exempel aus. Ebensowenig ist davon auszugehen, daß alle genannten Punkte an dem entsprechenden Tag besprochen wurden; hier ergab sich im Laufe der Jahre die Möglichkeit zur vielfältigen Variation der einzelnen Texte wie auch der Themenstellung.32 So werden in der Kölner Kreuzherrenhandschrift die einzelnen 32

Vgl. Brüssel, Koninklijke Bibliotheek, IV 124, fol. I*r: Notio. pro materiis tractandis. Nos fraterne benigne simul lonquemur absque vlla contentione, et dissensione ad horulam, non absurda neque aliena a proposito adducentes, sed illa potissimum que vitam et statum nostrum concernunt, quando materie et proposito sic conuenit. Custos libri interroget per vices et ordinate

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Kapitel weiter unterteilt, der jeweilige Abschnitt ist durch Großbuchstaben am Rand gekennzeichnet. Eine weitere Hilfestellung bieten in den lateinischen Handschriften die vielen Zwischenüberschriften und Randbemerkungen, die den Inhalt kurz charakterisieren und zusammenfassen. Die Frenswegener Handschrift weist darüberhinaus deutliche Gebrauchsspuren auf, sie enthält weitere Gliederungshilfen, Nota-Vermerke, oder es steht am Rand ein non, was das Exzerpt von der Lektüre ausschließen dürfte. Zusätzlich findet sich in der Handschrift häufiger ein Zeichen, das den Anfang und das Ende der vorzulesenden Textpassage markiert. In der Zwoller Handschrift ist darüberhinaus für den ersten Sonntag der Verweis auf den zweiten Band zu erkennen. In dieser Handschrift wird nicht der vollständige Textbestand in die tabula eingearbeitet, eine Reihe von Kapiteln ist dort nicht verzeichnet, war also zur Kollation nicht vorgesehen, ohne daß hierfür eine inhaltliche Begründung ersichtlich wäre. Hierin zeigt sich der Einfluß des Gesprächsleiters.33 Für den zweiten Sonntag findet sich in der Frenswegener Handschrift, also in der dritten Kolumne der Tabelle die Angabe: De verbo dei et studio sacre scripture. Dieses Kapitel möchte ich beispielhaft anhand des Zwoller Codex vorstellen, da hier grundsätzliche Aussagen zum Studium der Bibel wie auch zur Lektüre zusammengefügt sind, auch hier in Form von Exzerpten. Die Hauptquelle für die Konzeption des Kapitels bilden die entsprechenden Bücher aus dem ›Didascalicon‹ Hugos von St. Viktor, das auch mehrfach zitiert wird.34 Behandelt werden die Fragen, warum die heilige Schrift vor allen anquomodo proposita intelligenda, aut quomodo debeant fratres in his atque in similibus habere. Mit dem Begriff propositum ist hier der zur Kollation ausgewählte Textabschnitt gemeint. 33 Über den Ablauf der Kollation enthält das lateinische Kollationale ein eigenständiges Kapitel ›De collatione quantum confert bona collacio‹, Brüssel, Koninklijke Bibliotheek, IV 124, fol. XLVv−XLVIr, das beginnt: Cum sit utilis ad instruendum lecio. adhibita autem collacione maiorem intelligenciam prebet. Melius est enim conferre quam legere. Collacio docibilitatem facit. Nam propositis interrogantibus cunctacio rerum excluditur. et sepe obiectionibus latens veritas approbatur. Quod enim obscurum est aut dubium conferendo cito perspicitur. Sicut instruere solet collacio. ita contencio destruere. Hec enim relicto sensu veritatis lites generat. et pugnando verbis etiam in deum blasphemat. Lectio memorie auxilio eget. Quod si fuerit naturaliter tardior frequenti tam meditatione acuitur. ac legendi assiduitate colligitur. Sepe prolixa lectio longitudinis causa memoriam legentis oblitterat. Quod si breuis sit submotoque libro sentencia retractatur in animo. tunc sine labore legitur. et ea que lecta sunt recolendo memoria minime excidunt. Acceptabilior est sensibus lectio tacita quam aperta. Amplius enim intellectus instruitur. quando vox legentis quiescit. et sub silencio lingua mouetur. Nam clare legendo corpus lassatur. et vocis acumen obtunditur. Der Text folgt damit in einer gekürzten Fassung dem Kapitel ›De collatione‹ aus Isidor von Sevilla, Sentenzen, PL 83, Sp. 688f. 34 Zum ›Didascalicon‹ s. den brillanten Essay von IVAN ILLICH, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand, Frankfurt a. M. 1991 (frz. 1990). Der Text ist ediert von CHARLES H. BUTTIMER, Hugonis de Sancto Victore Didascalicon, Washington, D. C. 1939. Folgende Überschriften sind in der Brüsseler Handschrift, fol. XVIIr−XXv, angegeben: Quod sacra scriptura omnes alias scripturas excellit siue de diuersis proprietatibus sacre scripture; De multiplici utilitate diuine lectione; Bernardus de multiplici utilitate verbi dei; Quibus sacra scriptura similatur aut verbum dei; Quod scriptura sacra est quasi speculum quoddam in quo videmus quantum proficimus uel deficimus; Quo spiritu uel affectu legi debet sacra scriptura aut verbum dei; De modo et ordine legendi et studendi; Quales libri legendi sunt; Quod magnopere cauendum est ne quis inutilibus studiis occupetur; Exempla.

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deren Büchern hervorragt35; der vielfache Nutzen der Bibellektüre; daß die Bibel das Wort Gottes ist; wie die heilige Schrift gleichsam einen Spiegel bildet, in dem sich der persönliche Fort- oder Rückschritt abbildet; ob für die Lektüre spiritus, hier im Sinne von intellectus, oder affectus, also Verstand oder Gefühl bestimmend sein sollen; dann die Art und Ordnung des Lesens; welche Bücher gelesen und welche Bücher lieber gemieden werden sollen.36 Die Exzerpte stammen aus den ›Moralia in Job‹ Gregors des Großen und dessen Ezechielkommentar, aus den Predigten Bernhards von Clairvaux und aus Wilhelm von St. Thierry, dessen ›Epistola ad fratres de monte dei‹ ebenfalls Bernhard zugeschrieben wird, sowie aus Augustin, Isidor und, wie erwähnt, Hugo von St. Viktor. Es ist ein konservativ-monastisches, vorscholastisches Studienprogramm. Anfang und Ziel jeder Lektüre soll der timor Dei sein, jede Form von subtilitas ist zu meiden.37 Die Bücher sollen von vorne nach hinten gelesen werden und nicht sprunghaft, nur unterbrochen durch das Gebet. Die Lektüre dient der Grundlage und Hilfestellung bei der Meditation.38 Implizit abgelehnt wird damit ein wis35

Als ein Leitsatz der Devotio moderna wird hier die ›Epistola ad Leandrum‹ zu den ›Moralia in Iob‹ Gregors des Großen zitiert: Diuinus etenim sermo sicut misteriis prudentis exercet, sic plerumque superficie simplices refouet. Habet in publico vnde paruulos nutriat, seruat in secreto vnde mentes sublimium in ammiracione suspendat. Quasi quidam quippe est fluuius ut ita dixerim planus et altus in quo et agnus ambulet et elephas natet (fol. XVIIr), s. CC 143, S. 6. In die gleiche Richtung zielt das aus Augustin, ep. 137, ausgewählte Zitat, CSEL 44, S. 122f. (Nr. 18). 36 Das Kapitel enthält keine Lektüreliste, gesammelt werden hier grundsätzliche Aussagen über den Sinn und das Ziel jeder Lektüre, erneut steht Hugo von St. Viktor am Anfang, fol. XXr: Qui virtutum noticiam et formam viuendi in sacro querit eloquio hos libros magis legere debet qui huius mundi contemptum suadent. et animum ad conditoris sui amorem accendunt. recte viuendi tramitem docent qualiter virtutes acquiri vicia deuitari possint ostendunt. Primum enim querite regnum dei et iusticiam eius. quasi diceret et celestis patrie gaudia desiderate et quibus iusticie meritis ad ea perueniatur sollerter inquirite. Utrumque bonum utrumque necessarium. amate et querite. Si amor est ociosus esse non potest. Peruenire desideratis. Discite quomodo perueniatur quo tenditis. Hec vero scienciam duobus modis operatur. videlicet exemplo et doctrina. Exemplo quando sanctorum facta legimus. doctrina quando eorum dicta ad disciplinam nostram pertinencia discimus. Inter que beatissimi gregorii scripta singulariter amplexanda estimo que quia pre ceteris mihi dulcia et eterne vite plena sunt visa silencio preterire nolui. Vgl. BUTTIMER [Anm. 34], S. 105. 37 Das Kapitel Quo spiritu uel affectu legi debet sacra scriptura aut verbum dei setzt ein mit einem Zitat aus Wilhelm von Saint-Thierry, Epistola ad fratres de Monte dei: In omnibus autem scripturis legenti inicium debet esse timore domini ut primo solidetur intencio legentis et ex eo exsurgat et ordinetur tocius lecionis intellectus uel sensus (fol. XIXr), vgl. JEAN DE´ CHANET, Guillaume de Saint-Thierry Lettre aux Fre´res du Mont-Dieu (Lettre d’or) (SC 223), Paris 1975, S. 240. Das Kapitel De modo et ordine legendi et studendi beginnt mit einem längeren Zitat aus dem ›Didascalicon‹, der Kernsatz lautet: Qui ergo in tanta multitudine librorum legendi modum et ordinem non custodit, quasi in codensitate saltus oberrans tramitem recti itineris perdit. et ut dicitur semper discentes et numquam ad scienciam peruenientes. Tantum enim valet discrecio ut sine ipsa et omne ocium turpe sit et labor inutilis (fol. XIXv), vgl. BUTTIMER [Anm. 34], S. 103f. 38 Hierzu wird erneut Wilhelm von Saint-Thierry zitiert, fol. XIXv: Hauriendus est quos sepe de lectionis serie affectus et formanda oratio que lectionem interrrumpat nec tam interrumpendo impediat quam puriorem continuo animum ad intellegenciam lectionis restituat. Intencioni enim seruit lectio. Si vero in lectione deum querit qui legit omnia que legit cooperantur ei in hoc ipsum et captiuat sensus legentis et in seruitutem redigit omnem lectionis intellectum in obsequium

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senschaftlicher, universitärer Umgang mit der Literatur. Wie unter einem Brennglas sind hier diejenigen Texte gebündelt, die für das Verhältnis der Devotio moderna zum Buch bestimmend waren. Ähnliche Aussagen finden sich auch in den Mosaiktraktaten von Florens Radewijns oder in den beiden grundlegenden Werken ›De spiritualibus ascensionibus‹ und ›De reformatione virium anime‹ des Gerhard Zerbolt von Zutphen.39 Diese Grundsätze sind ebenfalls für die verschiedenen überlieferten Lektürelisten maßgeblich, angefangen von Geert Grote in seinem persönlichen Propositum bis hin zu Rochus Heyme, der noch in den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts im Windesheimer Chorherrenstift Martinstal in Löwen ein entsprechendes Leseprogramm aufstellt.40 Ein Vergleich des Kapitels mit den Handschriften aus Frenswegen und Köln ergibt, daß der entsprechende Abschnitt dort nicht nur wesentlich kürzer ausfällt, auch die Auswahl der Exzerpte ist eine andere, die Zahl der zitierten Kirchenlehrer ist geringer, die Tendenz bleibt allerdings die gleiche. Nur ein Zitat stimmt in der Frenswegener und der Zwoller Handschrift überein, die Predigt 24 aus Bernhards von Clairvaux ›Sermones de diversis‹. Aus der ›Epistola ad fratres de monte dei‹ wird in anderer Folge und anderem Zusammenhang auch das Kapitel über die Lektüre sowohl in Frenswegen als auch bei den Kreuzherren angeführt.41 Der Kompilator hat die Texte für die Kollation bearbeitet, so wird in cristi. Si in aliud declinat sensus legentis omnia trahit post semetipsum. nichilque tam sanctum tam pium in scripturis inuenit quod seu per vanam gloriam seu per distortum sensum seu per prauum intellectum non applicet uel malicie uel vanitati. Vgl. DE´ CHENET [Anm. 37], S. 240. 39 Vgl. Florens Radewijns, Tractatulus devotus, in: LEONARDUS A. M. GOOSSENS, De meditatie in de eerste tijd van de Moderne Devotie, Haarlem/Antwerpen 1952, S. 213–254, hier S. 218ff.; Florens Radewijns, Omnes inquit artes, ed. M. TH. P. VAN WOERKUM, Het libellus ›Omnes, inquit, artes‹, een rapiarium van Florentius Radewijns, Diss. Löwen 1950, 3 Bde., hier Bd. 2, S. 46–48; Gerhard Zerbolt von Zutphen, De reformatione virium animae, in: MARGARINUS DE LA BIGNE, Maxima bibliotheca veterum patrum, Bd. 26, Lyon 1677, S. 235–258, hier S. 242, sowie Gerhard Zerbolt von Zutphen, De spiritualibus ascensionibus, ebd., S. 258–289, hier S. 276. Vgl. NIKOLAUS STAUBACH, Memores pristinae perfectionis. The importance of the Church Fathers for Devotio Moderna, in: The reception of the Church Fathers in the West. From the Carolingians to the Maurists, Bd. 1, hg. von IRENA BACKUS, Leiden [usw.] 1997, S. 405–469, bes. S. 411f. u. 422ff., sowie DERS., Von der persönlichen Erfahrung zur Gemeinschaftsliteratur. Entstehungsund Rezeptionsbedingungen geistlicher Reformtexte im Spätmittelalter, OGE 68 (1994), S. 200– 228, hier S. 211 u. 222ff. 40 Das ›Propositum‹ von Geert Grote ist von Thomas von Kempen in dessen Vita aufgenommen worden, Thomas von Kempen, Opera omnia [Anm. 1], Bd. 7, S. 87–107, das Lektüreprogramm S. 97–102; das Leseprogramm von Rochus Heyme ist ediert bei THOMAS KOCK, Lesen nach Vorschrift. Lektürepläne und Buchbestände devoter Gemeinschaften, in: Sources for the History of Medieval Books and Libraries, hg. von RITA SCHLUSEMANN [u. a.], Groningen 1999, S. 111– 122, s. auch KOCK [wie Anm. 9], S. 137–142. 41 Utrecht, UB, 1586, fol. 30r–32r: De utilitate uerbi dei. Bernardus in sermonibus de diuersis ... Idem in sermone de LXX; (am Rand:) Verbum dei audiendum est attente. Neemie VIII (Liber Esdrae secundus, cap. 8 stark gekürzt); (am Rand:) De dignitate verbi dei. Augustinus (es handelt sich um Caesarius Arelatensis, Sermones Caesarii uel ex aliis fontibus hausti, Sermo 78, cap. 2, CC 103, S. 323f.); es folgt ein Zitat aus dem Homiliar Gregors des Großen sowie am Rand die Überschrift: De studio sacre scripture mit Zitaten aus Wilhelm von Saint-Thierry; s. DE´ CHANET [Anm. 37], S. 238–240. Zur Überlieferung der ›Epistola‹ innerhalb der Devotio moderna s. VOLKER HONEMANN, Die ›Epistola ad fratres de Monte dei‹ des Wilhelm von Saint-Thierry. Latei-

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einer Predigt des Caesarius von Arles, in der Frenswegener Handschrift wird sie Augustin zugewiesen, die Anrede fratres vel sorores durch fratres ersetzt, durch die Einführung der 1. Person Plural anstelle der 2. Person wird der Text persönlicher gestaltet und auf die eigene Gemeinschaft bezogen.42 Ein entsprechendes Kapitel fehlt in den volkssprachlichen Handschriften. Allerdings stehen am Ende des Amersfoorter Kollationale neun Traktate, neben Übersetzungen und Auslegungen des Pater noster und des Ave Maria über Themen wie die Ermahnung, ›Van onderlinger vermaninge‹, den Frieden oder das Eheleben, ›Vander echtscap‹. Alle diese Texte sind in der Leseliste bestimmten Tagen zugeordnet und damit integriert.43 Diese Themen werden auch in anderen zur Kollation bestimmten Handschriften behandelt.44 Zum Thema Studium und Lektüre ist in verschiedenen volkssprachigen Kollationalia, so auch in Amersfoort, die Collacie ›Van Duytsche boeken te lesen‹ überliefert, eine volkssprachliche Bearbeitung von ›De libris teutonicalibus‹ des Gerhard Zerbolt von Zutphen.45 Zerbolt hatte am Ende des 14. Jahrhunderts in zwei Traktaten, neben ›De libris‹ auch im 7. Kapitel seiner die Grundsätze des gemeinsamen Lebens darstellenden Schrift ›Super modo vivendi‹, zur Legitimität volkssprachlicher geistlicher Lektüre für die Devotio moderna grundsätzlich Stellung genommen.46 Bekanntermaßen waren die Devoten, insbesondere die Schwestern, Anfeindungen auch durch Inquisitoren wegen ihrer Lektürepraxis ausgesetzt. Zerbolt kommt zu einer ambivalenten Bewertung, die Lektüre einiger biblischer Bücher in der Volkssprache sei nicht nur kirchenrechtlich nische Überlieferung und mittelalterliche Übersetzungen (MTU 61), München 1978, bes. S. 190– 196. In der Handschrift Köln, Historisches Archiv, GB 4o 166, wird fol. Vr−VIv neben Wilhelm von Saint-Thierry noch Augustinus in loco sermone vi o ad fratres de heremo zitiert. Die entsprechenden Exempel u. a. aus dem ›Didascalicon‹ sind auf fol. CLIXr zusammengestellt. 42 Utrecht, UB, 1586, fol. 31r. Vgl. zu der Umstellung der grammatischen Person THOM MERTENS, Texte der modernen Devoten als Mittler zwischen kirchlicher und persönlicher Reform, Niederdeutsches Wort 34 (1994), S. 63–74. 43 Es handelt sich um folgende Texte: Van onderlinger vermaninge, Van vrede, Van duytsche boeken te lesen, Vander echtscap, Sunte Iheronimus epistel tot Celanciam, Van heiligen dagen te vieren, Sunte augustinus ghedachten, Glose opt pater noster, Glose opt ave maria. 44 Zu nennen sind hier folgende Handschriften: Nijmegen, Provinciebibliotheek van de Jezuieten, MS 12 B I; Brüssel, Koninklijke Bibliotheek, 19549; London, British Library, add. 10287. Vgl. PETTY BANGE, So ist echtscap goet mer sy is niet te raden aen te gaen. Kanttekeningen bij een vijftiende-eeuws collatieboek, in: Codex in context. Studies over codicologie, kartuizergeschiedenis en laatmiddeleeuws geestesleven aangeboden aan Prof. Dr. A. Gruijs (Nijmeegse Codicologische Cahiers 4–6), hg. von CHRISTIAN DE BACKER [u. a.], Nijmegen 1985, S. 37–54. 45 Edition der Texte bei JAN DESCHAMPS, Middelnederlandse vertalingen van Super modo vivendi (7de hoofdstuk) en ›De libris teutonicalibus‹ van Gerard Zerbolt van Zutphen, Handelingen der Koninklijke Zuidnederlandse Maatschappij voor Taal- en Letterkunde 14 (1960), S. 67–108; 15 (1961), S. 175–220, mit Ausnahme der erst später bekanntgewordenen Handschrift Kalamazoo, Institute of Cistercian Studies Library at Western Michigan University, Ms. 18, s. DERS., in: Jan van Ruusbroec 1293–1381. Ausstellungskatalog, Brüssel 1981, S. 210. 46 Die Texte sind ediert von ALBERT HYMA, The ›De libris teutonicalibus‹ by Gerard Zerbolt of Zutphen, Nederlandsch archief voor kerkgeschiedenis N.S. 17 (1924), S. 42–70; DERS., Het traktaat ›Super modo vivendi devotorum hominum simul commorantium‹ door Gerard Zerbolt van Zutphen, Archief voor de Geschiedenis van het Aartsbisdom Utrecht 52 (1926), S. 1–100.

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erlaubt, sondern werde von den Kirchenlehrern und den Canones geradezu gefordert. Gleichzeitig schränkt Zerbolt die Lektüre im zweiten Teil seines Traktats wieder ein, indem er andere biblische Bücher als für Laien ungeeignet erklärt und vor Übersetzungen warnt. Es ergibt sich insgesamt ein Kanon monastischer Literatur, der für Übersetzungen geeignet erscheint, gleichzeitig wird die Behandlung schwer verständlicher und verwirrender Materien grundsätzlich abgelehnt.47 Die Traktate Zerbolts wurden früh übersetzt und bearbeitet, sie erfüllten dann im wesentlichen zwei Funktionen. Einerseits wurden sie volkssprachlichen Handschriften vorgebunden und dienten den Lesern zur Selbstvergewisserung und zur Rechtfertigung der Lektüre. Andererseits wurden die Argumente zu collaties wie in Amersfoort verarbeitet und damit regelmäßig im Kreis der Schwestern, der Laienbrüder oder auch von Gästen besprochen. Wie in den lateinischen Kapiteln der Kollationalia wird auch hier zum Lesen bestimmter Schriften aufgefordert, der Lektüre aber gleichzeitig ein enger Rahmen gesetzt. Ist Dirc van Herxen nun der Autor der Kollationalia? Alle Überlieferungsträger enthalten einen gemeinsamen Grundbestand, was die Auswahl der Themen, den Aufbau des Werkes und auch was die Zuordnung zu den einzelnen Sonn- und Feiertagen betrifft. Dies rechtfertigt es, die Handschriften trotz der deutlichen inhaltlichen Unterschiede einem Autor zuzuweisen. Nicht zu übersehen ist dabei allerdings, daß die Kollationalia eine offene Textgattung bilden, die einem ständigen Prozeß der Veränderung unterworfen sind. Dies führt auch alle Rekonstruktionsversuche des einen Kollationale von Dirc van Herxen in eine Sackgasse; eine solche Frage ist dieser Textform nicht angemessen. Hierzu zwei Beispiele: Die lateinischen Kollationalia enden jeweils mit einer Auflistung von Exempeln zur Illustration des Stoffes.48 Diese Exempel sind keineswegs vollständig ausgeführt, sie werden mit zwei oder drei Sätzen angedeutet und oft mit einem etc. abgeschlossen. Der custos mußte also, wollte er nicht die Exempel aus dem Gedächtnis vortragen, auf weitere Bücher bei der Kollation zurückgreifen. Solche Hinweise auf andere Codices finden sich explizit in der Handschrift aus Frenswegen, zum Teil mit einem vacat-Vermerk. Zwischen den einzelnen Kapiteln ist jeweils ein Freiraum für Nachträge gelassen, was nicht heißt, daß die neuen Kapitel auf einer neuen Seite beginnen, sondern der Schreiber konnte auch auf der Mitte der nächsten Seite wieder einsetzen, um zusätzlichen Raum zu gewinnen. Dies zeigt, daß es in das Ermessen des custos gestellt war, den Textbestand zu erweitern und zu verändern. Er konnte sich dem jeweiligen Publikum anpassen, wie bei der Behandlung des Kapitels über Studium und Lektüre zu sehen war. 47

Dazu jetzt grundsätzlich NIKOLAUS STAUBACH, Gerhard Zerbolt von Zutphen und die Apologie der Laienlektüre in der Devotio moderna, in: Laienlektüre und Buchmarkt im späten Mittelalter (Gesellschaft, Kultur und Schrift. Mediävistische Beiträge 5), hg. von THOMAS KOCK/RITA SCHLUSEMANN, Frankfurt a. M. [usw.] 1997, S. 221–289. 48 In der Kölner Handschrift stehen die Exempel gesondert am Ende der Handschrift. Sie beziehen sich auf die Nrr. 1–32 der in Anhang I abgedruckten Themenübersicht.

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Die Ergebnisse des Vergleichs der Handschriften soll noch anhand des Kapitels De morte verifiziert werden. Die Zwoller Handschrift führt eine Reihe von Zitaten über den Tod an, chronologisch betrachtet von der Antonius-Vita bis zum ›Horologium‹ Heinrich Seuses. Es sind die bereits genannten Autoren, die auch hier zitiert werden, insbesondere Gregor und Bernhard. Das gleiche Bild ergibt sich für die Frenswegener und die Kölner Handschrift, es werden im wesentlichen die gleichen Autoren zitiert, nur die Reihenfolge in den einzelnen Codices variiert. Am Ende stehen jeweils einige Exempel.49 Die volkssprachlichen Handschriften greifen ebenfalls im großen und ganzen auf den gleichen Textbestand zurück, auch hier variiert die Abfolge der Exzerpte und Exempel, die in der Regel ausführlicher sind als in den lateinischen Handschriften.50 ›De morte‹ ist gemäß den Zwoller Statuten ein Thema, über das die Brüder regelmäßig meditieren sollten, und das entsprechende Kapitel ist in der Zwoller Handschrift überschrieben: De utilitate meditandi de morte. Die Consuetudines geben sieben Themen vor, die in Form eines Septenars den Meditationsstoff für jeden Tag der Woche bereitstellen: der Schöpfer und sein Werk, die Sünden, der Tod, das jüngste Gericht, die Strafen der Hölle, die Leiden des Herrn und die himmlischen Freuden.51 Allen diesen Themen widmet Dirc van Herxen im Kollationale eigene Kapitel, und auch der Abschnitt über die Tugenden kommt hierauf immer wieder zurück. Mit dieser Einteilung werden ältere Traditionen, insbesondere der Passionsliteratur, aufgegriffen. Dieses Übungsprogramm wird allerdings von den modernen Devoten intensiviert. Eine Reihe von Schriften wie der ›Tractatulus devotus‹ von Florens Radewijns oder die als Teil des ›Liber de viris illustribus‹ von Johannes Busch sowie separat auch volkssprachlich breit überlieferte ›Epistola de vita et passione domini nostri‹ greifen das Wochenprogramm auf.52 Besonders in den Gebetbüchern lassen sich häufig nach Tagen und Stunden geordnete Meditationsanleitungen nachweisen. Ein Großteil der Handschriften und Inkunabeln von 49

Brüssel, Koninklijke Bibliotheek, IV 124, fol. VIv-VIIIr; Utrecht, UB, 1586, fol. 19r–22r; Köln, Historisches Archiv, GB 4o 166, fol. XIIr−XIIIv. 50 Utrecht, UB, 3.L.6., fol. 13r–21r; Leiden, UB, BPL. 2231, fol. XIVr−XXVIv. 51 Vgl. das Kapitel De materiis meditandi in den Statuten aus Zwolle, hg. von SCHOENGEN [Anm. 1], S. 241f.: Quas materias sic solemus dividere et alternare, ut meditemur Sabbato de peccatis, Dominica die de regno celorum, feriis secundis de morte, feriis terciis de beneficiis Dei, feriis quartis de judicio, feriis quintis de penis inferni, feriis sextis de passione Domini, de qua etiam singulis diebus infra missam convenit meditari, incipiendo a vita Domini die Dominica et consequenter singulis feriis aliquem passum passionis, prout habemus signatum. Während der Messe sollten die Brüder über die Passion meditieren, s. ebd., S. 244. Vgl. die Statuten des Emmericher Fraterhauses, hg. von WYBBE JAPPE ALBERTS/MAGNUS DITSCHE, Fontes historiam domus fratrum embricensis aperientes (Teksten en Documenten 3), Groningen 1959, S. 94, mit einer abweichenden Zuordnung der Themen zu den einzelnen Tagen. 52 Florens Radewijns, Tractatulus devotus, hg. von GOOSSENS [Anm. 39], hier S. 251–254. Ein solcher Wochenplan findet sich auch im ›Exercitium devotum‹ des Florens Radewijns, s. D. J. M. WÜSTENHOFF, ›Florencii parvum et simplex exercitium‹. Naar een Berlijnsch handschrift medegedeeld, Archief voor Nederlandsch Kerkgeschiedenis 5 (1894), S. 89–105, hier S. 98–105. Die Chroniken von Johannes Busch sind ediert von KARL GRUBE, Des Augustinerpropstes Iohannes Busch Chronicon Windeshemense und Liber de reformatione monasteriorum (Geschichts-

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›De spiritualibus ascensionibus‹ des Gerhard Zerbolt von Zutphen enthalten Randbemerkungen, die die einzelnen Kapitel auf die Wochentage verteilen.53 Die Laienbrüderstatuten aus dem Rooklooster, einem Brabanter AugustinerChorherrenstift, sind in einem Faszikel mit einem solchen Meditationsprogramm überliefert, und es läßt sich nachweisen, daß diese Anleitungen die private Lektüre der Laienbrüder ersetzen sollten.54 Das Kollationale des Dirc van Herxen ordnet sich in dieses Programm ein. Die Reduktion auf wenige Themen und Texte, die gleichzeitig ständig wieder vorzunehmen waren – sie sollten der erste und der letzte Gedanke des Tages sein – führte zu einer Einheitlichkeit der spirituellen Erfahrung. Ziel war eine Persönlichkeitsformung, die den Einzelnen nicht überforderte. Die Reform der Kirche sollte die ganze Laienwelt umfassen, die als ein Konvent, als ein Kloster aufgefaßt wurde. Die persönlichen Anforderungen durften dementsprechend keine Visionen, keine mystischen Erlebnisse beinhalten, die letztendlich nur für wenige erreichbar waren. Aus dieser Position resultiert die Ablehung der Schriften etwa eines Meister Eckhart oder, in der eigenen Bewegung, einer Alijt Bake.55 Die Kollationalia des Dirc van Herxen sind keine Predigtsammlung. Dieser von Grote angelegte Traditionsstrang bricht zwar nicht mit seinem Predigtverbot ab, aber die Bedeutung der Devotio moderna für die Predigt sollte nicht überschätzt werden. Die Kollationalia ordnen sich in der Trias aus lectio, meditatio und oratio dem zweiten Bereich zu, indem sie den Stoff zur Meditation bereitstellen wollen. Verbindungen lassen sich zu solchen persönlichen Rapiarien herstellen, die unter einer thematischen Ordnung Sentenzen und Dicta wie auch längere Exzerpte zusammenstellen, um diese für die ständige Erinnerung, die ruminatio, also die tägliche Meditation des Einzelnen, zur Verfügung zu haben.56

quellen der Provinz Sachsen 19), Halle 1886. Neuedition der ›Epistola‹ von MONIKA HEDLUND, Epistola de vita et passione domini nostri. Der lateinische Text mit Einleitung und Kommentar kritisch herausgegeben (Kerkhistorische Bijdragen 5), Leiden 1975. 53 Auf eine solche Handschrift weist hin: RUDOLF TH. M. VAN DIJK, Die Wochenpläne in einer unbekannten Handschrift von ›De spiritualibus ascensionibus‹ des Gerhard Zerbolt von Zutphen, in: Studien zum 15. Jahrhundert (Fs. Erich Meuthen), hg. von JOHANNES HELMRATH/HERIBERT MÜLLER in Zusammenarbeit mit HELMUT WOLFF, München 1994, S. 445–455. 54 Siehe zu den Meditationsanleitungen THOMAS KOCK, Lektüre und Meditation der Laienbrüder in der Devotio moderna, in: OGE 76 (2002), S. 15–63 (dort auch eine Edition der Statuten). 55 Zur Rezeption von Meister Eckhart bei der Devotio moderna vgl. MARIA ALBERTA LÜCKER, Meister Eckhart und die Devotio moderna, Leiden 1950, sowie R. A. UBBINCK, Meister Eckhart bij de Moderne Devoten, in: OGE 59 (1985), S. 154–171. Zu Alijt Bake s. den Aufsatz von WYBREN SCHEEPSMA in diesem Band. 56 Zum Rapiarium s. NIKOLAUS STAUBACH, Diversa raptim undique collecta: Das Rapiarium im geistlichen Reformprogramm der Devotio moderna, in: Literarische Formen des Mittelalters. Florilegien, Kompilationen, Kollektionen (Wolfenbütteler Mittelalter Studien 15), hg. von KASPAR ELM, Wiesbaden 2000, S. 115–147.

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Anhang I. Inhaltsverzeichnis der aus dem Kölner Kreuzherrenkonvent stammenden Handschrift Köln, Historisches Archiv, GB 4o 166, fol. Ir. Liber collacionum idest in quo sunt plures collaciones collecte. Et est fratrum sancte Crucis in Colonia Prima collacio sicut habetur in hoc volumine est de temptacione in g(enerali). 2 a quod omnis actus siue labor noster debet tendere ad puritatem cordis. que incipit Omnes inquit artes etc. 3 a de purgacione viciorum et affectuum ubi homo meretur etiam remissionem peccatorum. 4 a de modo studendi certis horis. et certum librum etc. 5 a de tribus modis orandi. 6 a de examinacione cotidiana post completum. 7 a quod mens alicui principaliter inhereat et de reuelacione defectuum et de confessione. 8 a de morte. 9 a de iudicio. 10 a de inferno. 11 a de misericordia et oracione pro defunctis. 12 a de purgatorio. 13 a de regno celorum. 14 a de pugna contra octo vicia principalia. 15 a de peccatis venialibus. 16 a de opere manuum. 17 a de obedientia. 18 a de gula. 19 a de luxuria. 20 a de auaricia. 21 a de ira. 22 a de tristicia. 23 a de accidia. 24 a de vana gloria. 25 a de superbia. 26 a de caritate. 27 a de disciplina morum. 28 a de scandalo. 29 a de zelo animarum et admonicione. 30 a de correpcione mutua. 31 a de periculosa instabilitate. 32 a de via illuminativa et laude dei etc. 33 a de octo diebus. 34 a de vtilitate communis vite. 35 a de guerra inter iherusalem et babilonem. 36 a de clericis uocandis ad gradus ecclesiasticos. Item de ornamentis sacerdotalibus. Item de missa. 37 a de passione domini. 38 a de sacra communione. 39 a de quatuor generibus meditabilium item de quodam ambicioso. 40 a de perfectione spiritualis vite. Item de caritate. 41 a de vita activa et contemplativa etc. 57 42 a de assumpcione beate marie virginis. 43 a de nativitate eiusdem. 44 a de angelis. 45 a de beato iheronimo. 46 a de festivitate omnium sanctorum. 47 a de aduentu domini. 48 a de nativitate domini. 49 a de circumcisione domini. 50 a de epiphania domini. 51 a de purificacione. 52 a de ieiunio. 53 a de sancto gregorio. 54 a de annunciacione dominica. 55 a de festo palmarum et passione domini. 56 a de festo pasche. 57 a de ascensione. 58 a de penthecoste. 59 a de festivitate sacramenti. 60 a de dedicacione templi. Exempla:58 Deinde de tribus inimicis cum exemplis Item de puritate cordis et de virium anime reformacione. De studio. de oracione. de memoria peccatorum. de confessione et reuelacione passionum. de meditationibus. de morte. de iudicio. de 57

Am Rand ist hier vermerkt: Epistola ludolphi carthusiensis. Die Traktate ›De remediis contra tentationes spirituales‹ des Ludolf von Sachsen sowie ›E tractatu Basilii de vita solitaria excerpta‹ wurden von dem Kölner Kreuzherren Rodolphus de Gravia auf freigebliebenen Seiten nachgetragen und sind nicht Bestandteil des Kollationale. Siehe zu dem Traktat JOACHIM VENNEBUSCH, Zur Überlieferung des Traktates ›De remediis contra tentationes spirituales‹ (Petrus Johannes Olivi, Venturinus de Bergamo, Ludolphus de Saxonia, Johannes Gerson), Scriptorium 33,1 (1979), S. 254–259. 58 Exempla vor einer Mengenklammer, die das folgende umschließt.

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inferno. de gloria celorum. de pugna contra vicia. de peccatis venialibus. de labore manuum. de obedientia. de gula. de luxuria et castitate. de auaricia et paupertate. de ira. de tristicia. de vana gloria. de superbia. de caritate et amicicia. de moribus exterirobus et scandalo. de ammonicione. de proprio consilio. de correpcione. de perseuerancia. de beneficiis dei. de omnibus istis habentur aliqua exempla et possunt plura adhuc adderi.

II. Die Leseliste der ersten drei Sonntage im Advent (Utrecht, UB, 3L.6) Hier volget een tafel wat materien ghelike op sonnendaghe ende hoechtijde te lesen Opten eersten sonnedag in den aduent vanden aduent ons heren Hoe swaer sunde is Van bereidinge tegen ons heren toecomst Van quade der gulsicheit Van quade der onkuyscheit Van quade des toerns ende des nijts Des anderen sonnendages Vanden ordel Vanden woerden godes Va mynne ons euen menschen Van versmadenisse der werelt Des derden sonnendages Van houerdien Van costelen ende oetmoedigen clederen Van onderlinger vermaninghe Van bereidinge tegens ons heren toecomst Brüssel, KB, IV 124 Tabula de materiis circa quas utiliter et oportune versari potest memoria et collacio in diebus festiuis per circulum anni secundum [officium ...] ecclesiasticum diei. Dominica prima aduentus domini. De aduentu domini. I. in 2 o numero. Dominica secunda. De extreme dei iudicio. IX Dominica tercia. De vana Gloria. Quid existis in desertum videre? LXIIII

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Utrecht, UB, 1586 Tabula de materiis circa quas utiliter et opportune versari potest memoria et collacio in diebus festiuis per circulum anni secundum officium ecclesiasticum diei Dominica prima aduentus domini De aduentu domini De aduentu domini in mentem De preparatione circa aduentum De preciositate temporis De peccati detestacione De pugna contra gulam De pugna contra luxuriam De spe in deum Dominica secunda De preparatione circa aduentum De uerbo dei et studio sacre scripture De dilectione proximi De spe vite eterne De iudicio dei De contemptu mundi Dominica tercia De vana gloria De iudicio De scandalo De humilibus vestibus De ammonicione De preparacione ad aduentum domini

Zwischen Predigt und Meditation

Abb. 1: Utrecht, Universitätsbibliothek, Ms. 1586, fol. 13v–14r.

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Abb. 2: Köln, Historisches Archiv der Stadt, Best. 7004 (GB 4°) 166, fol. Iv-IIr.

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Ein Prediger in zweifacher Ausführung Die Kollationen des Claus von Euskirchen

Über Claus von Euskirchen oder Claus van Euskerken, wie er im Niederländischen genannt wird, ist nicht viel bekannt. Seinem Namen zufolge stammt er wohl aus Euskirchen, südlich von Köln. Er war Bruder des gemeinsamen Lebens aus dem Herr-Florens-Haus in Deventer und um 1500 Rektor von zwei Häusern von Schwestern der gemeinsamen Lebens in derselben Stadt. Er starb 1520.1 Wir befinden uns also mit unserem Thema an der Geburtsstätte der Devotio moderna, ein wenig mehr als ein Jahrhundert nachdem diese Bewegung entstanden war. Claus von Euskirchen war Rektor von zwei Schwesternhäusern in Deventer: dem Meister-Geerts-Haus und dem Buiskens-Haus.2 In der Anfangszeit der Devotio moderna war es überhaupt nichts Außergewöhnliches, daß ein Priester die Leitung mehrerer Schwesternhäuser innehatte. Im Laufe des fünfzehnten Jahrhunderts wurde die Seelsorge in den Schwesternhäusern stärker in hierarchischen Strukturen verankert, und das Klosterleben begann immer mehr als Vorbild für die semireligiösen Schwestern des gemeinsamen Lebens zu gelten.3 Dies hatte eine Erschwernis der Aufgabe eines Rektors zur Folge. In Zwolle standen die vier Schwesternhäuser unter der Leitung eines einzigen Rektors, bis sie um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts jeweils einen eigenen Rektor bekamen.4 So weit kam es in Deventer nicht, aber das Rektorat über die fünf Schwesternhäuser, das unter Johannes Brinckerinck um 1400 noch in einer Hand vereinigt 1

Vgl. D. A. BRINKERINK, Goede punten uit de collatie¨n van Claus van Euskerken (naar hs. no. 686 der Provinciale Bibliotheek van Friesland), Nederlandsch Archief voor Kerkgeschiedenis N.S. 3 (1905), S. 225–264 u. 353–395, bes. S. 227–228. Die Varianten Gerhard Dumbars, die BRINKERINK hier zitiert, beruhen wahrscheinlich auf Lesefehler: Nicolaus Engskerck, Cuyskerck, Cuskerken, Enskerken. 2 Über die Schwesternhäuser zu Deventer: MICHAEL SCHOENGEN, Monasticon Batavum, Deel II: De Augstijnsche orden benevens de Broeders en Zusters van het Gemeene Leven (Verhandelingen der Nederlandsche Akademie van Wetenschappen, Afd. Letterkunde, Nieuwe Reeks 45), Amsterdam 1941, S. 49–54. Über das Meister-Geerts-Haus s. auch: Hier beginnen sommige stichtige punten van onsen oelden zusteren, hg. von D. DE MAN, ’s-Gravenhage 1919, S. XI−LXIX. Über das Buiskens-Haus auch: Buiskensklooster Deventer (Broschüre Stadt Deventer), Deventer o. J. 3 Vgl. THOM MERTENS, Mystieke cultuur en literatuur in de late middeleeuwen, in: Grote lijnen. Syntheses over Middelnederlandse letterkunde, hg. von FRITS VAN OOSTROM [u. a.] (Nederlandse literatuur en cultuur in de middeleeuwen 11), Amsterdam 1995, S. 117–135 u. 205–217, bes. S. 128–130. 4 Vgl. R. R. POST, The Modern Devotion: Confrontation with Reformation and Humanism (Studies in Medieval an Reformation Thought 3), Leiden 1968, S. 266–267.

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war, wurde dennoch verteilt. Die Situation im Jahre 1501 ist uns aus offiziellen Akten genau bekannt. Zu diesem Zeitpunkt war Claus von Euskirchen Rektor des Meister-Geerts-Hauses und des Buiskens-Hauses, Lambert von Rees war Rektor des zusammengelegten Brandes- und Kestkens-Hauses, während Jasper von Marburg neben seiner Funktion als Rektor des Herr-Florens-Hauses, des ältesten Bruderhauses der Devotio moderna, auch die Seelsorge im Lamme-vonDiesen-Haus wahrnahm.5 Aus beiden Schwesternhäusern, die unter der Leitung von Claus von Euskirchen standen, ist jeweils eine Handschrift mit Texten seiner Kollationen erhalten geblieben. (Eine kurze Beschreibung beider Handschriften finden Sie im Anhang). Es handelt sich in beiden Fällen um eine Hausüberlieferung, was bedeutet, daß die Texte im betreffenden Haus selbst verfaßt und nicht außerhalb dieses Hauses überliefert wurden. Die Handschriften stammen aus derselben Periode, Ende des 15. oder Beginn des 16. Jahrhunderts, und müssen noch zu Lebzeiten des Claus von Euskirchen angefertigt worden sein. Wir haben daher die seltene Möglichkeit, verschiedene Überlieferungswege von Predigten desselben Predigers zu vergleichen. Für die Forschung ist dies eine ziemlich einzigartige und glückliche Gelegenheit, zumal nicht allzuviel Predigtmaterial der Devotio moderna erhalten ist.6 Die Handschrift aus dem Meister-Geerts-Haus (Handschrift G) umfaßt mehr als dreihundert einzelne ›Punkte‹ aus den Kollationen von Claus von Euskirchen, das heißt Exzerpte, die in ihrer Länge zwischen einigen Zeilen und einigen Folios variieren. Der Kompilator hat die Punkte einigermaßen thematisch geordnet, ohne dies ausdrücklich durch Zwischentitel kenntlich zu machen. Die Paragrafenzeichen, die die Punkte voneinander trennen, bilden die einzige Untergliederung des Texts. Er enthält so gut wie keine Hinzufügungen oder Korrekturen. Auf die Kollationen folgen zwölf Lebensbeschreibungen Moderner Devoten aus Deventer; zunächst das Leben der führenden Persönlichkeiten der Devotio moderna: Geert Grote, Florens Radewijns und Johannes Brinckerinck. Auf das Leben von Brinckerinck († 1419), der Rektor des Meister-GeertsHauses war, folgt jenes seiner Nachfolger: Rudolf Dier von Muiden († 1459) und Peter von Amsterdam († 1483). Danach kommen die Biographien von sieben anderen Brüdern des gemeinsamen Lebens aus dem Herr-Florens-Haus. Die Kollationstexte aus der Handschrift des Meister-Geerts-Hauses wurden 1905 von Pastor D. A. BRINKERINK (nicht zu verwechseln mit seinem mittelalterlichen Namensvetter Johannes Brinckerinck) herausgegeben.7 BRINKERINK 5

GERHARD DUMBAR, Het kerkelyk en wereltlyk Deventer, Bd. 1, Deventer 1732–1738, S. 553 (Meister-Geerts-Haus: Claus von Euskirchen), S. 597f. (Lamme-von-Diesen-Haus: Jasper von Marburg), S. 601–602 (Brandes- und Kerstkens-Haus: Lambert von Rees), Bd. 2, S. 25–26 (Buiskens-Haus: Claus von Euskirchen). 6 Vgl. G. C. ZIELEMAN, De preek bij de moderne devoten. Een verkenning, Deventer 1984 (Broschüre); THOM MERTENS, Collatio und Codex im Bereich der Devotio moderna, in: Der Codex im Gebrauch (Münstersche Mittelalter-Schriften 70), hg. von CHRISTEL MEIER/DAGMAR HÜPPER/HAGEN KELLER, München 1996, S. 163–182, bes. S. 174–181. 7 BRINKERINK, Goede punten [Anm. 1], S. 232–264 u. 353–395.

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wußte um die Existenz der anderen Handschrift mit Kollationen von Claus von Euskirchen, aus dem Buiskens-Haus in Deventer. Er hatte einen Verweis darauf in einem Versteigerungskatalog aus dem Jahr 1828 gefunden. Er kannte allerdings den späteren Aufenthaltsort der Handschrift nicht und konnte sie daher bei seiner Ausgabe nicht berücksichtigen.8 Inzwischen ist diese Handschrift wieder aufgetaucht.9 Sie wurde bei der oben erwähnten Versteigerung vom berühmten Bibliophilen W. H. J. Baron van Westreenen gekauft, dessen Büchersammlung mit die Basis des Museums Meermanno-Westreenianum in Den Haag bildet. P. C. BOEREN weist in seinem Katalog der Handschriften dieses Museums bei der Beschreibung der Handschrift aus dem Buiskens-Haus zwar auf die Handschrift aus dem Meister-Geerts-haus hin, hat aber die Texte anscheinend nicht verglichen.10 Bis heute wurde keine Studie zum Verhältnis zwischen den Texten aus den beiden Handschriften angestellt. Die Kollationen des Claus von Euskirchen waren lange Zeit nur in der Form der Sammlung von einzelnen Punkten aus der Handschrift G bekannt, die D. A. BRINKERINK herausgegeben hatte. Es war dann auch eine Überraschung, daß die Handschrift aus dem Buiskens-Haus (Handschrift B) die Kollationen von Claus von Euskirchen in neunzehn mehr oder weniger abgerundeten Einheiten präsentiert, die säuberlich mit Überschriften versehen sind. Diese Überschriften geben an, auf welchen Sonn- oder Feiertag sich die Kollationen beziehen und enthalten eine Umschreibung der Thematik. Die Handschrift enthält auch noch drei Kollationen von Jasper von Marburg († 1502), der, wie gesagt, sein Rektorat im ältesten Brüderhaus von Deventer mit jenem in einem der Schwesternhäuser kombinierte. Die Handschrift hat einen sehr unregelmäßigen Heftaufbau; sie wurde offensichtlich nicht linear geschrieben. Mit Hilfe der gedruckten Beschreibung der Handschrift konnte ich zehn größere materiell-textuelle Einheiten unterscheiden.11 Eingehenderes Studium führt zu der Frage, warum innerhalb dieser Teile wiederum unregelmäßige Hefte vorkommen. Die zwei größten Einheiten werden jeweils mit einem Exzerpt abgeschlossen, anscheinend um das Heft zu füllen.12 Soweit die materiell-textuellen Einheiten dies ermöglichten, sind die Kollationen nach dem Kirchenjahr geordnet. Die Kollationen von Claus von Euskirchen und von Jasper von Marburg werden jeweils von einer Inhaltsangabe vorangegangen, die völlig dem Ablauf des Kirchenjahres folgen. Tatsächlich stehen die Kollationen von Claus von Euskirchen in der Handschrift in einer etwas anderen Reihenfolge als im Inhaltsverzeichnis. Dieses Problem wird durch Hinweise in der Inhaltsangabe anhand der (ursprünglichen) Foliierung gelöst. 8

Ebd., S. 229. Dr. Karl Stooker und Dr. Theo Verbeij (damals Leiden) spürten die Handschrift für mich in ihrem Datenbestand auf; dafür mein herzlicher Dank. 10 P. C. BOEREN, Catalogus van de handschriften van het Rijksmuseum Meermanno-Westreenianum, ’s-Gravenhage 1979, S. 159–160: Hs. 10 E 48. 11 Fol. I−5, 6–20, 21–117, 118–124, 125–188, 189–221, 222–234, 235–258, 259–271, 272−Ende. 12 Exzerpt I: fol. 116v–117v; Exzerpt II: fol. 187v–188v. 9

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Die Kollationen von Claus von Euskirchen haben durchwegs einen Text aus den liturgischen Lesungen des betreffenden Sonn- oder Feiertags zum Thema und geben dazu eine moralische Interpretation. Die Einteilung mit Hilfe von divisiones und subdivisiones ist sehr übersichtlich und in beinahe allen Fällen konsequent beibehalten. Nur acht Texte haben eine kurze Schlußformel.13 Das bedeutet aber nicht, daß die meisten Kollationstexte unvollständig sind. Bei einigen Kollationen scheint der Text sogar mehr als komplett zu sein, weil mehr Punkte behandelt werden als angekündigt, oder indem mehrere Alternativen angeboten werden.14 In einigen anderen Fällen hingegen endet der Text anscheinend vorzeitig oder die angekündigten Punkte werden nicht vollständig ausgeführt.15 P. C. BOEREN weist in seiner Beschreibung darauf hin, daß in Handschrift B ›verschiedene Hände‹ zu finden sind, aber ich sehe bisher nur eine Hand, die kopiert, korrigiert und – bei der Zusammenstellung des Kodex – in Rubriken einteilt. Die Handschrift macht einen schlichten, aber gepflegten Eindruck. Der Text beinhaltet wenige Abschreibefehler, und die meisten davon sind überdies am Rand korrigiert. Bei näherem Hinsehen handelt sich jedoch nicht nur um Korrekturen von Kopistenfehlern, sondern auch um stilistische Verbesserungen und inhaltliche Ergänzungen. So wurden zum Beispiel in einer Kollation über Maria am Rand auctoritates eingefügt.16 Beim Nachlesen wurden die Kollationen also redaktionell und inhaltlich bearbeitet. In einer anderen Kollation hat der Kopist Platz freigehalten, der nachher angefüllt hätte werden sollen. Der Text kündigt eine Abfolge von drei Punkten an, aber der zweite Punkt ist dem Kopisten anscheinend nicht bekannt, und so läßt er eine Zeile frei. Die Ausarbeitung der drei Punkte folgt unmittelbar darauf, und für den zweiten Punkt werden hier fast zwei Seiten freigelassen.17 Man könnte meinen, daß der Autor bei dieser Handschrift noch mit der Abfassung des Textes beschäftigt ist und daß wir es hier mit einem Autografen des Claus von Euskirchen zu tun haben, wenn nicht die Überschriften zu Beginn und am Ende der Abfolge von neunzehn Kollationen deutlich aus der Perspektive der Schwestern formuliert wären: Sie sprechen von den Kollationen ›unseres ehrwürdigen Paters Claus von Euskirchen‹. Die Hand, die diese Überschriften verfaßt hat, ist dieselbe wie jene, die die Handschrift kopiert und korrigiert hat. Darüber hinaus wird deutlich, daß dieselbe Hand auch in den drei Kollationen des Jasper von Marburg stilistische Korrekturen angebracht hat, die in der Handschrift auf jene Claus’ von Euskirchen folgen. Wir haben es hier also mit einer Kopistin zu tun, die Texte ihres Rektors redigiert und sich dabei auf eine völlig natürliche Weise eine große spirituelle Autorität zueignet. Auch wenn es hier 13

Kollationen 1, 3, 5, 6, 10, 11, 12 und 17. Kollationen 8, 12, 16 und 19. 15 Kollationen 5, 13, 15, 17 und 18. 16 Kollation 16 (Hs. B, fol. 189r–201r), z. B. auf fol. 191r und auf fol. 195r. 17 Kollation 17 (Hs. B, fol. 201r–221v), bzw. fol. 211v, 212v–213r. 14

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vielleicht um die mater des Konvents geht, zeigt es uns, daß wir das intellektuelle Niveau und die geistliche Autorität dieser ›Schwesterchen‹ keinesfalls zu geringschätzend beurteilen dürfen.18 Ich fasse das zuvor Gesagte zusammen: Textmaterial aus den Kollationen des Claus von Euskirchen ist in zwei zeitgenössischen Quellen aus den beiden Schwesternhäusern überliefert, in denen er Rektor war. Jede der beiden Handschriften repräsentiert eine Form von Hausüberlieferung, aber im einen Fall (Handschrift G) haben wir eine gepflegte Handschrift mit einzelnen Punkten, im anderen Fall (Handschrift B) neunzehn mehr oder weniger abgerundete Texte (plus zwei Exzerpte), die noch in der Handschrift redaktionell bearbeitet wurden. Tatsächlich handelt es sich hier um zwei sehr verschiedene Texte, was eine vergleichende Studie äußerst interessant macht. Sind die einzelnen Punkte in Handschrift G Exzerpte aus der Sammlung von Handschrift B? Oder gibt es keine Abhängigkeit zwischen den beiden Handschriften und handelt es sich um verschiedene Textüberlieferungen? Und sind in diesem Fall die verschiedenen Überlieferungen auf eine gemeinsame schriftliche Quelle zurückzuführen oder aber auf einen gemeinsamen mündliche Vortrag? Es ist sogar nicht a priori ausgeschlossen, daß es sich um eine völlig unterschiedliche Texttradition handelt; schließlich war Claus von Euskirchen Rektor von beiden Schwesternhäusern und hat wahrscheinlich in beiden Häusern Kollationen abgehalten. Beim Durchlesen der Texte wird ziemlich schnell deutlich, daß der Text der einen Handschrift nicht von jenem der anderen abhängig ist. Die Texte überschneiden sich nur wenig und enthalten jeweils viele Passagen, die nicht im anderen wiederzufinden sind. Es gibt also keine gegenseitige Abhängigkeit zwischen Handschrift G und Handschrift B. Wir können uns aber die Frage stellen, ob es eventuell eine gemeinsame Abhängigkeit gibt und beide Texte sich auf einen dritten Text beziehen, der nicht überliefert ist. Um diese Frage zu beantworten, betrachten wir die wenigen Passagen, die in beiden Handschriften vorkommen. Eine auffallende, lange Passage, die in beiden Kodices vorkommt, ist das Exempel vom Tyrannen, der die adelige Tochter gefangensetzt.19 Het was een enige dochter, die was seer edel, seer schone ende seer rijke. Hoer olders weeren gestorven, alsoe dat sij allene was ghebleven. Doe was daer eenre hande have man, dat was een wreet tyeran. Dese stont seer na dese schoene jonfer. Hij vensde hem ende belaefde hoer grote dinge ende vele wallusten ende genoechten alsoe dat sij ten leesten bedragen waert ende consentierde hem. (Hs. G, Ausg. BRINKERINK, Goede punten, S. 353) 18

In den Jahren 1484, 1490 und 1501 war Gerbrech Gruters mater des Buiskens-Hauses. Ihre Nachfolgerin war Aleyd Lamberts. Vgl. DUMBAR, Kerkelyk en wereltlyk Deventer [Anm. 5], Bd. 2, S. 25–26. 19 Hs. B, Kollation 7, fol. 70r–74v (Hier van scrivet die ca〈r〉tuser die dat boec vanden leven ons heren gemaect heeft een alte bequamen gelikenisse aldus); Hs. G, fol. 46v–51r (BRINKERINK, Goede punten [Anm. 1], S. 353–355).

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»Es war einmal eine einzige Tochter, die war sehr edel, sehr schön und sehr reich. Ihre Eltern waren gestorben, so daß sie alleine geblieben war. Es gab da einen wohlhabenden Mann, der ein grausamer Tyrann war. Diesen verlangte sehr nach der schönen Jungfer. Er schmeichelte ihr und versprach ihr große Dinge und viele Freuden und Vergnügen, so daß sie sich schließlich verführen ließ und ihm nachgab.« Het was een enige edel dochter eens groten, mechtigen coninges. Dese wert van hoeren olders verlaten. Dit hoerde een ridder dat een wreet tiran was, als hi na wal bewees an hoer. Dese quam tot hoer ende was seer vrendelic ende smeycte mit hoer ende lavede hoer grote dinge die hie bi hoer doen wolde, weert dat sie hem geloven wolde. Ende dat dede hi daer om want hi begeerde hoer guede ende hoer arfenisse te scanden te maken ende na sinen wille te gebruken, want hi hoverdich ende gierich was. Ende ten lesten bedroch hi sie mit schonen woerden, want hi was seer an dringende. Ten lesten, do hi al hoer rijcheiden ende hor guet onder hem gecregen hadde, want hi een boese tyeran was, toende hi sijn tieranscap ende sloech sijn hant daer boeslic in ende berovede sie van hoeren guede ende dede daer mede als hi wolde ende verdructe dese edel dochter te mael seer ende maecte al hoer guede te scanden. (Hs. B, fol. 70v–71r) »Es war einmal eine edle Tochter, das einzige Kind eines großen, mächtigen Königs. Diese wurde von ihren Eltern verlassen. Das hörte ein Ritter, der ein grausamer Tyrann war, wie er ihr später beweisen sollte. Dieser kam zu ihr und war sehr freundlich, er schmeichelte ihr und versprach ihr große Dinge, die er mit ihr vorhatte, wenn sie ihm glauben wollte. Dies tat er, weil er ihren Besitz und ihre Erbschaft zuschanden machen und nach seinem Sinn verwenden wollte, denn er war hoffärtig und gierig. Schließlich betrog er sie mit schönen Worten, denn er bedrängte sie sehr. Schlußendlich, als er alle ihre Reichtümer und ihr Gut in seinen Besitz bekommen hatte, weil er ein böser Tyrann war, zeigte er seinen wahren Charakter und griff schändlich zu und beraubte sie ihrer Güter und tat damit, was er wollte; er unterdrückte diese edle Tochter sehr und verpraßte all ihren Besitz.«

Wenn wir den Anfang der Geschichte vergleichen, sehen wir deutlich, daß es sehr wohl Übereinstimmungen gibt, aber auch charakteristische Unterschiede. Gerade diese Unterschiede zeigen, daß wir es mit unabhängigen Redaktionen der selben Geschichte zu tun haben. Darunter verstehe ich: die eine Redaktion ist nicht über eine schriftliche Quelle mit der anderen verwandt; die selbe Geschichte wurde zweimal aufgeschrieben. Die Übereinstimmungen machen deutlich, daß es sehr wohl eine gemeinsame Quelle gibt: eine mündliche Quelle, nämlich eine Kollation (eventuell unterstützt durch eine sekundäre, sehr verkürzte, stichwortartig notierte schriftliche Quelle). Der Rest des Exempels weist die selbe Mischung von Übereinstimmungen und auffallenden Unterschieden auf. Diese treffen wir ebenfalls in den wenigen anderen parallelen Passagen der beiden Handschriften an.20 Hier sind die Übereinstimmungen nicht so groß. Es ist nicht auszuschließen, daß man das Exempel aufgrund seiner erzählenden Form besser im Gedächtnis behalten konnte. Ein zweites Beispiel für parallele Passagen ist die Folgende: 20

U. a. die Hochzeit von Gott und der Seele: Hs. B, Kollation 5, fol. 36v–46r; Hs. G, fol. 20v–22r (BRINKERINK, Goede punten [Anm. 1], S. 246f.); die alten und die neuen Äpfel: Hs. B, Kollation 12, fol. 131r–133v; Hs. G, fol. 68v–69v (BRINKERINK, ebd., S. 366f.).

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Wi zullen den zueten kynde Jhesus een beddeken bereyden dat sachte is ende warm ende rustich. Een oetmoedich herte dat is een sachte bedde. Een god mynnende herte dat is een warm bedde. Een vredsem herte dat is een rustich bedde. Hier wil dat zuete kynt gerne op rusten. Mer een hoverdich, verkiert, wederspannich herte dat is een hart bedde. Een coelt herte vander mynnen gods dat is een coelt bedde. Een onvredsem herte dat is een onrustich bedde. Daer is quaet slapen op ende daer en wil dat zuete kynt niet op rusten. (Hs. G, fol. 91v–92r, Ausg. BRINKERINK, Goede punten, S. 381) »Wir werden dem süßen Kinde Jesus ein Bettchen bereiten, das weich, warm und ruhig ist. Ein bescheidenes Herz ist ein weiches Bett. Ein Herz, das Gott liebt, ist ein warmes Bett. Ein friedliches Herz ist ein ruhiges Bett. Hierauf will das süße Kind gerne ruhen. Aber ein hoffartiges, verkehrtes, widerspenstiges Herz ist ein hartes Bett. Ein Herz, das kalt ist von Gottesliebe, ist ein kaltes Bett. Ein unfriedsames Herz ist ein unruhiges Bett. Darauf ist schlecht schlafen, und darauf will das süße Kind nicht ruhen.« Als wi onse huus aldus schone gemaket, schone waren, gespiset ende verciert hebben, soe sal hi [= Christus] geerne tot ons comen ende bi ons blyven. Ende op dat wi hem lange bi ons moegen holden, soe laet ons hem oec bereiden een sachte, warm ende rustich beddeken, sonderlinge wanttet nu koelt is ende hi nu comende is als een cleyn teder kindeken die niet wal coelde ende wat herdes ende ongemakes verdragen en moegen. Dit beddeken des brudegoms, dat si onse herte, sal wesen sachte overmids oetmodicheit ende een cleyn snoede voelen toe hebben van ons selven. Dit beddeken sal oec wesen warm overmids minne, dat wi onsen lieven heren minnen ende vuerich ende devoet ende ynnich sin ende een minnich herte tot hem hebben. Dit beddeken sal oec wesen rustich overmids vrede, want een vresam herte ende dat over al den vrede pijnt te waren, dat is een rustich beddeken. Siet, als wi aldus pinen te crigen een oetmoedich, minnich, vredsam herte, soe bereide wi hem een sachte, warm ende rustich beddeken. Ende dan sal [sal] 〈hi〉 geerne tot ons comen ende bi ons bliven ende in ons ruste〈n〉. (Hs. B, Kollation 3, fol. 19v–20v) »Wenn wir unser Haus dann sauber gemacht und sauber gehalten, mit Speisen versehen und geschmückt haben, so wird er (= Christus) gern zu uns kommen und bei uns bleiben. Und auf daß wir ihn lange bei uns behalten mögen, so laßt uns auch ein weiches, warmes und ruhiges Bettchen für ihn bereiten, besonders weil es jetzt kalt ist und er als kleines zartes Kindchen kommt, das keine Kälte und nichts Hartes und Unbequemes verträgt. Dieses Bettchen des Bräutigams, das unser Herz sei, wird weich sein wegen unserer Bescheidenheit und wegen der bescheidenen Einschätzung, die wir von uns selbst haben. Dieses Bettchen wird auch warm sein aus Liebe, weil wir unseren lieben Herren lieb haben, feurig, demütig und innig sind und ein liebevolles Herz für ihn haben. Dies Bettchen wird auch ruhig sein aus Frieden, denn ein friedliches Herz, das mehr als alles andere den Frieden zu erhalten versucht, das ist ein ruhiges Bettchen. Seht, wenn wir also versuchen ein bescheidenes, liebendes, friedliches Herz zu bekommen, so bereiten wir ihm ein weiches, warmes und ruhiges Bettchen. Und dann wird er gerne zu uns kommen und bei uns bleiben und in uns ruhen.«

Die Schlußfolgerung, die wir aus den Übereinstimmungen und Unterschieden in den wenigen Parallelpassagen ziehen können, ist, daß die Kollationstexte von Claus von Euskirchen in Handschrift B und Handschrift G nicht voneinander abhängig sind und daß sie nicht einmal eine gemeinsame Abhängigkeit von einer unbekannten dritten schriftlichen Quelle aufweisen.

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Wir haben es also mit zwei unabhängigen Textüberlieferungen ohne gemeinsames schriftliches Fundament zu tun. Diese Schlußfolgerung wirft aber die Frage auf, wie dann die Überschneidungen erklärt werden können. Wenn wir die Parallelen zwischen den beiden Texten genau betrachten, müssen wir zum Schluß kommen, daß sie neben den Übereinstimmungen doch auch viele Unterschiede aufweisen. Kurzum, die Anzahl der Überschneidungen der beiden Texte ist sehr klein und auch innerhalb dieser Parallelen ist die Übereinstimmung nicht allzu groß. Es ist naheliegend, anzunehmen, daß die Überschneidungen auf die selben Kollationen zurückzuführen sind. In der Praxis würde das bedeuten, daß die Schwestern in einem der beiden Häuser zur Kollation zusammenkamen oder daß Claus von Euskirchen jeden Feiertag seine Kollation zweimal hielt. Dadurch, daß seine Kollationen an die liturgischen Lesungen des jeweiligen Feiertags gebunden sind, ist es ausgeschlossen, daß er die selbe Kollation eine Woche im einen Haus hielt und die Woche darauf im anderen. Er konnte allerdings eine bestimmte Kollation natürlich in einem darauffolgenden Jahr im anderen Haus halten. Wenn die beiden Textüberlieferungen teilweise auf dieselben Kollationen zurückzuführen sind, dann gingen die Redakteure anscheinend sehr selbständig vor, was keineswegs ausgeschlossen ist. Die Verschriftlichung von Kollationen ist in einigen Fällen eindeutig Schwestern aus der Zuhörerschaft des betreffenden Predigers zu verdanken, wie auch aus erzählenden Quellen ersichtlich wird. Liesbeth von Delft († 1423) in Diepenveen legte Kollationen von Johannes Brinckerick schriftlich fest. Ebenfalls in Diepenveen machten Alijt Bruuns (ca. 1450?) und Cecilia von Marick (= Maurik?) († 1503) Notizen anläßlich der Kollation. Im Meister-Geerts-Haus notierte Lutger Buderick († 1453) die Punkte, die Mette von Delden († 1452) ihr aus den Kollationen von Rudolf Dier von Muiden zitierte. Agnees von Engelen notierte die Kollationen von Bernard von Dinslaken.21 Heterologe Verschriftlichung ist hier also offensichtlich die Gewohnheit, worauf man wohl mit Nachdruck hinweisen darf, nachdem PAUL GERHARD VÖLKER und andere aufgezeigt haben, daß dies im allgemeinen selten vorkommt.22 Heißt das, daß die Schwestern ›gedächtnisstark‹ sind?23 Sicher ist, 21

Vgl. THOM MERTENS, Collatio und Codex [Anm. 6], S. 177–178; DERS., Postuum auteurschap. De collaties van Johannes Brinckerinck, in: Windesheim 1395–1995. Kloosters, teksten, invloeden (Middeleeuwse studies 12), hg. von A. J. HENDRIKMAN [u. a.], Nijmegen 1996, S. 85–97, bes. S. 87f. Weitere Beispiele aus dem Kloster Jericho in Brüssel, s. G. C. ZIELEMAN, Overleveringsvormen van middeleeuwse preken in de landstaal, Nederlands Archief voor Kerkgeschiedenis N.S. 59 (1978–1979), S. 11–20, bes. S. 14f. u. 17–19; DERS., Das Studium der deutschen und niederländischen Predigten des Mittelalters, in: Soˆ predigent etelıˆche. Beiträge zur deutschen und niederländischen Predigt im Mittelalter (GAG 378), hg. von KURT OTTO SEIDEL, Göppingen 1982, S. 5–48, bes. S. 17f.; DERS., De preek [Anm. 6], S. 11f. 22 PAUL GERHARD VÖLKER, Die Überlieferungsformen mittelalterlicher deutscher Predigten, ZfdA 92 (1963), S. 212–227; KURT RUH, Deutsche Predigtbücher des Mittelalters, in: DERS., Kleine Schriften, Bd. 2, S. 296–217, bes. S. 298f.; HANS-JOCHEN SCHIEWER, Spuren von Mündlichkeit in der mittelalterlichen Predigtüberlieferung. Ein Plädoyer für exemplarisches und beschreibendinterpretierendes Edieren, Editio 6 (1992), S. 64–79, bes. S. 68f. 23 Vgl. SCHIEWER, ebd., S. 65–69 (›Die gedächtnisstarke Nonne‹).

Ein Prediger in zweifacher Ausführung

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daß sich Moderne Devoten systematisch darin geübt haben, sich Punkte zu merken, wenn gesprochen oder vorgelesen wurde.24 Von einigen Schwestern wird erzählt, daß sie während der Predigt Aufzeichnungen auf Wachstafeln machten, was eine Kombination von Mit- und Nachschrift zur Folge hatte. Manchmal besprach man nach der Kollation gemeinsam die Punkte, die man sich gemerkt hatte; dies ist zumindest von einer Kollation von Jan Brugman OFM bekannt.25 Manchmal wurde aber auch das Material des Predigers verwendet. Eine Schwester aus dem Kloster Jericho in Brüssel redigierte Predigten des Beichtvaters dieses Klosters, Jan Storm, auf Basis von Rollen, Briefen und alten Heften, von der Hand des Predigers selbst.26 Wie ZIELEMAN aufgezeigt hat, ist es terminologisch besser, in solchen Fällen von wiederhergestellten Predigten (recomposita) zu sprechen. Es handelt sich hierbei dann allerdings um heterologe Verschriftlichungen, also um Verschriftlichungen durch jemand anderen als den Prediger, aber nicht völlig ohne sein Zutun. Es wird Material verwendet, das als Predigtvorlage gedient hat, und die Leichtigkeit, mit der die Schwestern der Fiktion der Predigt Gestalt geben, weist darauf hin, daß der Autor-Prediger hinter ihnen stand. Bei der Verschriftlichung von Predigten und Kollationen ist die Urheberschaft oft eine sehr komplexe Frage, wobei Prediger sowie einzelne Zuhörer und manchmal noch spätere Redakteure ihren Anteil an der Autorschaft haben.27 Alles weist darauf hin, daß Handschrift B, die wahrscheinlich noch zu Lebzeiten Claus von Euskirchens im Buiskens-Haus entstanden ist, eine autornahe Verschriftlichung und Überlieferung darstellt, die von Claus von Euskirchen mehr oder weniger ausdrücklich autorisiert ist. Alles in allem kann ein selbständiges Auftreten der Schwestern, die die Kollationen redigierten, als eine sehr annehmbare Erklärung für die Unterschiede und Parallelen zwischen den beiden Texten gelten. Aber wir müssen deswegen nicht andere mögliche Erklärungen ausschließen. Es ist möglich, daß Claus von Euskirchen seine Kollationen in beiden Schwesternhäusern hielt und dabei selbst eine gewisse Variation anbrachte. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, daß er gewisse Bilder und Motive mit ihren Erklärungen, die er schon einmal in einer Kollation verwendet hatte, später als Teil einer anderen Kollation noch einmal verwendete. Manchmal treffen wir nämlich andere Nebenmotive in den Parallelen an, was auf eine Wiederverwendung desselben Predigtmaterials in

24

Vgl. THOM MERTENS, Lezen met de pen. Ontwikkelingen in het laatmiddeleeuws geestelijk proza, in: F. P. VAN OOSTROM/FRANK WILLAERT, De studie van de Middelnederlandse letterkunde: stand en toekomst (Middeleeuwse Studies en Bronnen 14), Hilversum 1989, S. 187–200, bes. S. 191, Anm. 191; DERS., Texte der modernen Devoten als Mittler zwischen kirchlicher und persönlicher Reform, Niederdeutsches Wort 34 (1994), S. 63–74, bes. S. 66–69; DERS., Collatio und Codex [Anm. 6], S. 176f., bes. Anm. 77. 25 Vgl. Johannes Brugman: Verspreide sermoenen (Klassieke Galerij 41), hg. von A. VAN DIJK, Antwerpen 1948, S. XV u. S. 104, Z. 229–238. 26 Vgl. G. C. ZIELEMAN [Anm. 21]. 27 Vgl. THOM MERTENS, Postuum auteurschap [Anm. 21], bes. S. 93–96.

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einem anderen Kontext hinweisen könnte. Die Hinweise in diese Richtung sind allerdings nicht zwingend. Handschrift G gewährt uns dazu mit ihren einzelnen Punkten nicht genügend Einblick in den Kontext der parallelen Passagen. Ich fasse zum Schluß die Ergebnisse meiner Erkundungen noch einmal zusammen: Claus von Euskirchen war Rektor von zwei Häusern der Schwestern vom gemeinsamen Leben in Deventer. Aus jedem der beiden Häuser ist eine Handschrift mit ihren Kollationen überliefert, offensichtlich als eine Form von Hausüberlieferung. Die eine Handschrift überliefert die Kollationen in rund dreihundert einzelnen Exzerpten, die andere in Form von neunzehn mehr oder weniger abgeschlossenen Texteinheiten. Diese Handschrift weist einen autographischen Aspekt auf, indem die Schwester, die die Texte kopierte, sie offenbar auch sehr stark redigierte. Wo wir Überschneidungen der beiden Handschriften finden, wird deutlich, daß keine schriftliche Verwandtschaft vorliegt. Es handelt sich um zwei selbständige Verschriftlichungen von Kollationen von Claus von Euskirchen. Ein Vergleich der wenigen Überschneidungen, die es gibt, legt die Vermutung nahe, daß die Schwestern bei der Verschriftlichung und Wiederherstellung der Kollationen ihres Beichtvaters sehr selbständig vorgingen.

Anhang Die Handschriften der Kollationen des Claus von Euskirchen Hs. B: Den Haag, Museum Meermanno-Westreenianum, Cod. 10 E 48 Herkunft: Buiskens-Haus in Deventer (Schwestern vom gemeinsamen Leben), Ende 15./Anf. 16. Jh. 13,8 × 10,0 cm; Papier, IV + 290 + IV Bll. IIIr-IVv IVv–245v

246r 246r–287v

Inhaltsverzeichnis Kollationen Claus von Euskirchen Hier beghinnen suveerlike punten uut sommighen collacien onses eerweerdigen vaders here Clawes van Euskerke (Hier beginnen reine Punkte aus einigen Kollationen unseres ehrwürdigen Vaters Claus von Euskirchen): 19 Kollationen und 2 Exzerpte (ca. 76800 Wörter), nicht ediert. Inhaltsverzeichnis Kollationen Jasper von Marburg Hier beghinnen sommighe merclike punten uut sommighen collacien onses eerweerdighen vaders van heer Florens huys here Jasper van Marburch (Hier beginnen einige bemerkenswerte Punkte aus einigen Kollationen unseres ehrwürdigen Vaters aus dem Herr-Florens-Haus, des Herrn Jasper von Marburg): 3 Kollationen (ca. 13400 Wörter), nicht ediert.

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Beschreibung: P. C. BOEREN, Catalogus van de handschriften van het Rijksmuseum Meermanno-Westreenianum, ’s-Gravenhage 1979, S. 159f. Hs. G: Leeuwarden, Provinciale Bibliotheek van Friesland, ms. 686 Herkunft: Deventer, Meister-Geerts-Haus (Schwestern vom gemeinsamen Leben), Ende 15./Anf. 16. Jh. (nach 1483). 12,6 × 9,3 cm; Papier (2 Bll. Perg. nach fol. 252), III + 252 + II + III Bll. 1r–108v

Dit sijn goede punten vergadert uijtten colacien ons eersamen paters here Claus van Euskerken (Dies sind gute Punkte gesammelt aus einigen Kollationen unseres ehrwürdigen Vaters Claus von Euskirchen): 312 Punkte aus den Kollationen von Claus von Euskirchen (ca. 25700 Wörter)

Ausgabe: D. A. BRINKERINK (Hg.), Goede punten uit de collatie¨n van Claus van Euskerken (naar hs. no. 686 der Provinciale Bibliotheek van Friesland), Nederlandsch Archief voor Kerkgeschiedenis N.S. 3 (1905), S. 225–264 u. 353–395. 110r–252v

Lebensbeschreibungen von zwölf Modernen Devoten aus Deventer: Geert Grote, Florens Radewijns, Johannes Brinckerinck, Rudolf Dier von Muiden, Peter von Amsterdam, Amelius von Buuren, Lubbert ten Busche, Gerard Zerbolt von Zutphen, Hendrik Bruin, Jacob von Vianen, Johannes Kessel, Arnoldus von Schoonhoven.

Ausgabe: D. A. BRINKERINK (Hg.), Biographiee¨n van beroemde mannen uit den Deventer-kring, Archief van het Aartsbisdom Utrecht 27 (1901), S. 400– 423; 28 (1902), S. 1–37, 225–276, 321–343; 29 (1901), S. 300–302. Beschreibung: JOS M. M. HERMANS [u. a.], Gebeden- en getijdenboeken en andere devote handschriften in de Provinciale Bibliotheek van Friesland, Leenwarden 1987, S. 23–25.

Nachtrag Aktuellere Forschungsliteratur über mittelniederländische Predigtsammlungen von Beichtvätern, die durch die Zuhörerschaft, d. h. durch (Ordens-)Schwestern niedergeschrieben wurden: THOM MERTENS, Ghostwriting Sisters: The Preservation of Dutch Sermons of Father Confessors in the Fifteenth and the Early Sixteenth Century, in: Seeing and Knowing: Women and Learning in Medieval Europe 1200–1550 (Medieval Women: Texts and Contexts 11), hg. von ANNEKE B. MULDER-BAKKER, Turnhout 2004, S. 121–141. – THOM MERTENS, Relic or

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Strategy: The Middle Dutch Sermon as a Literary Phenomenon, in: Speculum Sermonis: Interdisciplinary Reflections on the Medieval Sermon (Disputatio 1), hg. von GEORGIANA DONAVIN/CARY J. NEDERMAN/RICHARD UTZ, Turnhout 2004, S. 293–314. – THOM MERTENS, The Sermons of Johannes Brugman OFM († 1473): Preservation and Form, in: Constructing the Medieval Sermon (Sermo 6), hg. von ROGER ANDERSSON, Turnhout 2007, S. 253–274. – PATRICIA STOOP, The Writing Sisters of Jericho: Authors or Copyists?, in: Constructing the Medieval Sermon, S. 275–308. – PETRONELLA STOOP, Schrijven in commissie. Middelnederlandse biechtvaderpreken uit het Brusselse regularissenklooster Jericho in hun literaire context (Dissertation Universität Antwerpen, 2009). Die Arbeit ist in der Reihe ›Middeleeuwse Studies en Bronnen‹ erschienen: PATRICIA STOOP, Schrijven in commissie. De zusters uit het Brusselse klooster Jericho en de preken van hun biechtvaders (ca. 1456–1510) (Middeleeuwse Studies en Bronnen 127), Hilversum 2013. – THOM MERTENS, De Middelnederlandse preek. Een voorbarige synthese, in: De Middelnederlandse preek (Middeleeuwse Studies en Bronnen 116), hg. von THOM MERTENS/PATRICIA STOOP/CHRISTOPH BURGER, Hilversum 2009, S. 9–66. – PATRICIA STOOP, Nuns as writers? On the Contribution of the Nuns of the Brussels Jericho Convent to the Construction of Written Sermons, in: Ein Platz für sich selbst. Schreibende Frauen und ihre Lebenswelten (1450–1700) / A place of their own. Women writers and Their Social Environments (1450–1700) (Medieval to Early Modern Culture/Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 13), hg. von ANNE BOLLMANN, Frankfurt a. M. 2010, S. 197–214. – PATRICIA STOOP, Sermon Writing Women. Fifteenth Century Vernacular Sermons from the Brussels Augustinian Convent of Jericho, in: Journal of Medieval Religious Cultures 38 (2012), S. 211–232. – PATRICIA STOOP, Nuns’ Literacy in 16th-Century Convent Sermons from the Cistercian Abbey of Ter Kameren, in: Nuns’ Literacies in Medieval Europe: The Hull Dialogue (Medieval Women: Texts and Contexts 26), hg. von VIRGINIA BLANTON [u. a.], Turnhout 2013, S. 293–312.

V

Prediger und Predigtpraxis

Britta-Juliane Kruse

»Sie erleuchtete viele durch das Wort Gottes«1 – Verkündigende Frauen und das Lehrverbot der Kirche

Nachdem ich einige Jahre lang Predigten von Priestern gelesen hatte, die als belehrende und erbauliche Schriften von den Nonnen des Dominikanerinnenklosters St. Nikolaus in undis in Straßburg bei Tisch gehört und in privater Lektüre gelesen wurden, interessierte mich die Frage, ob Frauen im Laufe der Kirchengeschichte nicht selbst das Wort ergriffen haben könnten, um anderen ihre Gedanken über die Heilige Schrift mitzuteilen. Die Ergebnisse, zu denen ich gelangt bin, stammen aus der Forschungsliteratur, die besonders seit Mitte der Sechziger Jahre entstand,2 häufig als Reaktion auf die Beschlüsse des 2. Vatikanischen Konzils (1962–1965). Wegen des begrenzten Rahmens habe ich mich auf ausgewählte Beispiele beschränkt, die stellvertretend für andere stehen können. Diese sind, um es hier bereits vorwegzunehmen, in einem Punkt vergleichbar: Frauen hatten besonders in Zeiten der Konsolidierung von Glaubensrichtungen die Chance, sich öffentlich in geistlichen Fragen zu äußern. Schon MAX WEBER bemerkte, daß Frauen in der Anfangsphase religiöser Erneuerungsbewegungen an Einfluß gewinnen und an diesen in hohem Maße beteiligt sind, während ihre Handlungsmöglichkeiten nach der »Stabilisierung und Institutionalisierung der religiösen Bewegung als Kirche«3 zurückgehen. War der Prozeß der Machtverteilung beendet, wurden sie daran erinnert, daß es sich für Frauen nicht gezieme, in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen. Für öffentliche Beiträge von Frauen zu religiösen Fragen lassen sich unterschiedliche Begriffe finden – gemeint sind Prophetie, Verkündigung, Predigt – deren Wahl diejenigen treffen, die sich darüber äußern. Daß damit eine Wertung vorgenommen wird, versteht sich. In der Forschungsliteratur werden die Begriffe uneinheitlich und manchmal zur Beschreibung derselben Situation synonym verwendet. Hinzu kommt die Schwierigkeit, zu rekonstruieren, wie die Frauen selbst ihre religiösen Äußerungen einschätzten, d. h. ob sie diese eher als Form der Eingabe durch eine höhere geistliche Instanz bewerteten bzw. vor 1

Zit. nach ANNE JENSEN, Thekla – die Apostolin. Ein apokrypher Text neu entdeckt (Frauen – Kultur – Geschichte 3), Freiburg i. Br. [usw.] 1995, S. 39 u. 94. 2 Die erste ausführliche Untersuchung zum Thema stammt von HAYE VAN DER MEER, Priestertum der Frau, Freiburg i. Br. 1969. 3 HEIDE WUNDER, »Er ist die Sonn, sie ist der Mond«. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, S. 238; sie bezieht sich auf MAX WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. von J. WINCKELMANN, 5. rev. Aufl. Tübingen 1976, S. 297f.

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anderen darstellten, als Ergebnis eines individuellen Überlegungs- und Erfahrungsprozesses oder vielleicht als Verbindung von beidem. Nach der vorherrschenden theologischen Sichtweise ist alles, was nicht von einer ordinierten Person von einer Kanzel zu einer Gruppe von Zuhörenden gesprochen wird, keine Predigt. Diese Anschauung ist das historische Produkt eines innerkirchlichen Entwicklungsprozesses. Die Autoren und Autorinnen der Forschungsliteratur wählen teilweise für die öffentliche oder private Weitergabe religiöser Inhalte durch eine Einzelperson die Bezeichnung ›Predigt‹. Ich habe mich für den Begriff ›Verkündigung‹ entschieden, weil dieser am weitesten gefaßt ist – werde aber im Laufe dieses Forschungsüberblicks die diffuse Begriffssituation nicht außer acht lassen.

Zur geistlichen Unterweisung durch Frauen bis zum offiziellen Lehrverbot der Kirche Thekla – Verkündigerin und Eheverweigerin »Dann stand Thekla auf und sagte zu Paulus: ›Ich gehe nach Ikonion‹. Paulus sagte: ›Gehe hin und lehre das Wort Gottes‹.«4 Diese Entgegnung muß für alle, die Paulus als denjenigen kennen, der Frauen das Redeverbot in der Kirche erteilte, überraschend klingen. Wie kam es zu diesem Gespräch? Thekla war, bevor sie als Erstmärtyrerin und Apostelgleiche in die Geschichte einging, eine junge Frau, die gerade heiraten sollte, als sie den Apostel Paulus die christliche Lehre predigen hörte. Sie lauschte ihm fasziniert mehrere Tage lang und vergaß darüber ihren Bräutigam. Als Paulus ins Gefängnis geworfen wurde, bestach sie den Türsteher mit Armband und goldenem Spiegel und gelangte in den Kerker, wo sie die Fesseln des Apostels küßte, so, wie es Maria Magdalena mit den Füßen Jesu getan hatte. Theklas Mutter forderte daraufhin den Statthalter auf, ihre gesetzlose Tochter zu verbrennen. Auf dem Scheiterhaufen breitete die Jungfrau ihre Arme in Kreuzesform aus und wurde von einem niedergehenden Gewitter gerettet. Paulus hatte für sie gebetet. Ihr Martyrium wurde fortgesetzt, denn bald sah sie sich in der Arena wilden Tieren gegenüber. Sie kam frei, weil die Tiere sie nicht angriffen und weil die anwesenden Frauen sich für ihre Freilassung einsetzten. Thekla wollte nun als Apostolin die christliche Lehre verbreiten. Sie taufte sich selbst und unterrichtete die Frau, bei der sie wohnte, im christlichen Glauben. Dann legte sie ein Obergewand nach Männerart an, machte sich auf die Reise nach Myra und suchte dort den inzwischen freigekommenen Paulus auf. Dieser war sehr beeindruckt von ihrer Glaubensfestigkeit und forderte sie auf, nun selbst die christliche Lehre zu verkünden. Sie kehrte in ihre Geburtsstadt Ikonion zurück, reiste dann nach Seleukia und erleuchtete viele durch das Wort Gottes, bevor sie eines sanften Todes entschlief. 4

Zit. nach JENSEN [Anm. 1], S. 39.

»Sie erleuchtete viele«

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Die Geschichte Theklas findet sich so, wie ich sie wiedergegeben habe, in den Apostelakten, einer heterogenen Sammlung apokrypher Schriften vom Ende des 2. und Anfang des 3. Jahrhunderts, die als Erbauungsliteratur rezipiert wurden. Die Theklaakten wurden von ANNE JENSEN übersetzt, kommentiert und analysiert.5 Thekla, die als Erstmärtyrerin (Erstzeugin) und Apostelgleiche eine herausragende Frauengestalt in der Frühzeit des Christentums war, wurde spätestens seit dem 5. Jahrhundert zu den Aposteln gezählt.6 Die lange Verdrängungsgeschichte ihrer Legende endete nach dem 2. Vatikanischen Konzil (1965) mit der Streichung ihres Namens aus Meßbuch und Martyrologium, dem offiziellen Heiligenkalender der römisch-katholischen Kirche.7 Einen frühen Hinweis auf die lokale Verehrung Theklas in Seleukia finden wir in einer Handschrift in Arezzo, die als einziges Exemplar das Itinerarium der Gallierin Egeria erhalten hat. Die Pilgerin Egeria reiste von 415–418 (oder zwanzig Jahre früher) von ihrem Heimatkloster in das Heilige Land, nach Ägypten, zum Sinai, nach Ephesos und Konstantinopel und gelangte dabei auch nach Seleukia – die Stadt heißt heute Ayatekla. Ihr Reisebericht mit dem Titel ›Peregrinatio ad loca sancta‹ ist eine der wichtigsten Quellen über die Liturgie und Frömmigkeit in der Ostkirche dieser Zeit.8 Paulus nennt in der sogenannten ›Grußliste‹ (Rm 16,1–16) die Namen von zehn Mitarbeiterinnen, die als Missionarinnen arbeiteten – an anderer Stelle spricht er auch von Mitkämpferinnen (Phil 4,2f.): Er erwähnt Phöbe, die im Dienst der Gemeinde von Kenchreä steht, seine Mitarbeiterinnen Priska und Aquila, sowie Maria, Tryphäna, Tryphosa und Persis, die im Dienste des Herrn keine Mühe gescheut hätten.9 Es läßt sich also ein Widerspruch konstatieren: Folgen wir einigen Versen der Bibel, dann erwähnt Paulus verschiedene Mitkämpferinnen bei der Verbreitung des christlichen Glaubens. Folgen wir hingegen dem Paulusbrief an die Korinther (I Cor 14,33b–36), der in der Kirchengeschichte, neben weiteren Argumenten, auf die ich noch eingehen werde, von grundlegender Bedeutung für den Ausschluß der Frauen vom Predigtamt war, dann wollte Paulus die Frauen in der 5

JENSEN [Anm. 1]. RUTH ALBRECHT, Das Leben der heiligen Makrina auf dem Hintergrund der Thekla-Traditionen. Studien zu den Ursprüngen des weiblichen Mönchtums im 4. Jahrhundert in Kleinasien (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 38), Göttingen 1986, S. 225. 7 JENSEN [Anm. 1], S. 7. 8 Vgl. H. KRAFT/B. KÖTTING, Aetheria (Egeria), LexMa I, Sp. 191f.; Die Pilgerreise der Aetheria (Peregrinatio Aetheriae), eingeleitet und erklärt von HE´ LE` NE PE´ TRE´ , übers. von KARL VRETSKA. Stift Klosterneuburg bei Wien 1958; FRANCO CARDINI, Egeria, die Pilgerin, in: Heloise und ihre Schwestern. Acht Frauenporträts aus dem Mittelalter, hg. von FERRUCCIO BERTINI, München 1991, S. 31–62; MARI´A-MILAGROS RIVERA GARRETAS, Orte und Worte von Frauen. Eine Spurensuche im europäischen Mittelalter, München 1997, S. 35–47; DENNIS RONALD MACDONALD, The Legend and the Apostle. The Battle for Paul in Story and Canon, Philadelphia 1983, S. 90– 96. 9 ROSEMARIE NÜRNBERG, »Non decet neque necessarium est, ut mulieres doceant«. Überlegungen zum altkirchlichen Lehrverbot für Frauen, Jahrbuch für Antike und Christentum 31 (1988), S. 57– 73, hier S. 58f. 6

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Gemeinde zum Schweigen zu bringen. Dort heißt es: »Wie in allen Versammlungen der Heiligen (so gilt auch bei euch): Die Frauen sollen in den Versammlungen schweigen, DENN: Nicht ist ihnen gestattet zu sprechen, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt. Wenn sie aber etwas lernen wollen, sollen sie im Haus die eigenen Männer fragen, DENN: Schändlich ist es für die Frau, in der Versammlung zu reden. Oder ist das Wort von euch ausgegangen? Oder ist es zu euch allein gelangt?«10 Die Lösung des Widerspruchs ist einfacher, als man meinen könnte: Wie GOTTFRIED FITZERS Untersuchung von 1965 überzeugend darlegt, können die biblischen Verse I Cor 14,34ff. als spätere Interpolation eingeschätzt werden. Nach seinen Befunden stammen sie nicht von Paulus, sondern sind höchstwahrscheinlich Glossen aus der 1. Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. Sie gehören also nicht in den ursprünglichen Text der Epheserbriefe, sondern sind erst nachträglich in den älteren Kontext eingefügt worden. Paulus formulierte in seinen Briefen nur wenige Verbote oder Gebote, er erteilt eher »Ratschläge an dritte Personen«.11 Wie kam es also zu der Entstehung dieser Bibelverse, die zu weitreichenden Konsequenzen in der Kirchengeschichte führten? Blicken wir auf die heute bekannte historische Situation in den frühchristlichen Gemeinden, so läßt sich folgendes über den Status von Frauen zusammenfassen: Im 1. und 2. Jahrhundert waren Frauen in den leitenden Funktionen der Diakonie, Caritas und Liturgie gleichberechtigt tätig. Wie in der Theklalegende berichtet, versammelten sich die Gemeindemitglieder in Privathäusern, sogenannten Hauskirchen, um dort den Gottesdienst abzuhalten und umherreisende Apostel predigen zu hören.12 Die Hauskirchen wurden oft von Frauen gegründet und unterhalten. Seit dem beginnenden 3. Jahrhundert ist ein Umstrukturierungsprozeß zu verzeichnen,13 der für die weiblichen Gemeindemitglieder nicht ohne Folgen blieb. Der Klerus organisierte sich nach dem Vorbild der Stadträte, was langfristig zu einer

10

Die Struktur von Wortlaut, Aufbau und Inhalt von I Cor 14,33b–36 sowie die Hervorhebungen habe ich übernommen aus: MAX KÜCHLER, Schweigen, Schmuck und Schleier. Drei neutestamentliche Vorschriften zur Verdrängung der Frauen auf dem Hintergrund einer frauenfeindlichen Exegese des Alten Testaments im antiken Judentum (Novum Testamentum et Orbis Antiquus 1) Göttingen 1986, S. 55; vgl. ebd., S. 54–60. 11 GOTTFRIED FITZER, »Das Weib schweige in der Gemeinde«. Über den unpaulinischen Charakter der mulier-taceat-Verse in 1. Korinther 14 (Theologische Existenz heute NF 110), München 1963, S. 11. 12 SUSAN HASKINS, Die Jüngerin. Maria Magdalena und die Unterdrückung der Frau in der Kirche, Bergisch Gladbach 1994, S. 96; KAREN JO TORJESEN, Als Frauen noch Priesterinnen waren, Frankfurt a. M. 41995, S. 40, 83–90; s. ELISABETH SCHÜSSLER-FIORENZA, Der Beitrag der Frau zur urchristlichen Bewegung, in: Traditionen der Befreiung. Sozialgeschichtliche Bibelauslegungen, Bd. 2, Frauen in der Bibel, hg. von WILLY SCHOTTROFF u. WOLFGANG STEGEMANN, München 1980, S. 60–89; MONIQUE ALEXANDRE, Frauen im frühen Christentum, in: Geschichte der Frauen, Bd. 1, Antike, hg. von GEORGES DUBY u. MICHELLE PERROT, dt. Ausg. von PAULINE SCHMITT PANTEL, Frankfurt a. M. [usw.] 1993, S. 451–490. 13 NÜRNBERG [Anm. 9], S. 66; TORJESEN [Anm. 12], S. 46.

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stärkeren Trennung von den Laien führte. Seit dem Beginn des 4. Jahrhunderts versammelten sich die Gläubigen nicht mehr in privaten Hauskirchen, sondern in der öffentlichen Basilika, dem ›Haus Gottes‹, in deren Zentrum der Bischof, um mit Origenes zu sprechen, der »Gemeinde«14 als Vater und Lehrer vorstand. Die Syrische Didaskalia, ein Handbuch der Kirchenordnung aus dem 3. Jahrhundert, schreibt fest, die Bekehrung der Heidenvölker sollte nun stets ordnungsgemäß, d. h. durch Männer vollzogen werden. Ziel der Kirchenordnung war es, »die Ämter der Disziplinierung, Evangelisierung, Unterweisung und Taufe in der Hand des Bischofs zusammenzuführen – diese waren in den vorhergehenden Jahrhunderten häufig von Frauen, besonders Witwen, ausgeübt worden.«15 Infolge der Verlagerung des Gottesdienstes aus dem privaten Raum in ein Gotteshaus wurde als gewichtiges Argument für den Ausschluß von Frauen vom Priesteramt die Tempelvorschrift aus Lv 15 wirksam, gemeint ist das Gesetz über das Verhalten bei unreinen Ausflüssen. Die angebliche Unreinheit der Frauen während der Menstruation ließ sie als nicht geeignet erscheinen, ein kirchliches Amt zu übernehmen, denn ein Priester sollte stets rein und heilig sein, um Opfer darbieten zu können. Als Prophetinnen genossen Frauen allerdings weiterhin Ansehen.16 Auch in den Häusern nahm der Mann nun wieder – den antiken Mustern entsprechend – die Rolle des Familienvorstandes ein, der Aufgaben und Pflichten verteilte, während den Frauen nun die Unterordnung empfohlen wurde.17 Sie sollten in der Öffentlichkeit Zurückhaltung üben und schweigen, d. h. sich weder in geistlichen Fragen äußern noch am Lehr- oder Predigtgespräch beteiligen. Die Lehre der Frau wurde nun gedanklich mit einem Autoritätsverlust des Mannes verknüpft (so wird es auch in I Tim 2,11f. formuliert).18 Es wurde auf die Hierarchie verwiesen, die in der Schöpfungsgeschichte festgelegt sei und das Argument der Schicklichkeit bemüht, das mit Vorstellungen über die weibliche Scham und das Erscheinen von Frauen in der Öffentlichkeit eng verknüpft ist.19 Eine Aufzählung von Zitaten der Patres, die sich im Zuge dieser Entwicklung äußerten, würde viele Seiten füllen. Ich greife nur einige Beispiele heraus: Das Bestreben des bedeutenden lateinischen Kirchenschriftstellers Tertullian (um 160 – um 220) zielte darauf, die festgelegten Geschlechterrollen der römischen Gesellschaft wieder ins allgemeine Bewußtsein zurückzuholen. Er sprach sich für eine weitreichende Begrenzung der weiblichen Handlungsspielräume aus:

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NÜRNBERG [Anm. 9], S. 68. HANS ACHELIS/JOHANNES FLEMMING, Die ältesten Quellen des orientalischen Kirchenrechts, 2. Buch, Die Syrische Didaskalia (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur Bd. 25, NF 10, Heft 2), Leipzig 1904; TORJESEN [Anm. 12], S. 57, Anm. 34, S. 149–153, S. 154, Anm. 21. 16 HASKINS [Anm. 12], S. 25. 17 So z. B. auch in der ältesten Haustafel in Col 3,18, NÜRNBERG [Anm. 9], S. 61. 18 Siehe dazu FITZER [Anm. 11], S. 37–39. 19 NÜRNBERG [Anm. 9], S. 59; TORJESEN [Anm. 12], S. 166–173. 15

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Diese sollten »nicht lehren, taufen, das Opfer darbringen noch ein männliches Amt, geschweige denn die Aufgabe des priesterlichen Dienstes«20 ausüben. Nach Origenes (um 185 – um 254) sollten die Frauen zu Hause die jungen Mädchen unterrichten, während sich die Unterweisung der Knaben für sie verbot, da es nicht schicklich sei, wenn »die Frau zur magistra des Mannes wird.«21 Gregorios von Nazianz d. J. (330–390) charakterisiert seine Mutter, die hl. Nonna (gest. 374),22 die schon seinen gleichnamigen Vater für das Christentum gewann (er wurde im Jahre 329 Bischof von Nazianz),23 einerseits als »Führerin und Wegweiserin« in religiösen Fragen.24 Trotzdem vertritt er die Auffassung, Frauen sollten das Heilige mit Stillschweigen ehren. Zu Hause seien sie aber nicht nur Gehilfinnen, sondern auch Führerinnen, die ihre Männer zu deren Besten unterwiesen.25 Johannes Chrysostomos (344/354–407) bezeichnete es als Verstoß gegen die Gemeindeordnung (disciplina), wenn Frauen das Wort ergreifen.26 Andererseits predigte er aber über Rm 16,7 und vertrat die Auffassung, die Werke und die Weisheit der dort von Paulus erwähnten Junia27 müßten groß gewesen sein, sonst hätte sie dieser nicht als Apostolin bezeichnet.28 Ambrosius (339–397), Bischof von Mailand und Kirchenlehrer, machte die »Einheit und Reinheit der Kirche zum Ziel seiner Arbeit und seines Lebens.«29 Er fand eine naturwissenschaftliche Begründung: Da das schwache Geschlecht nicht ausdauernd genug sei, wäre die verantwortungsvolle Tätigkeit des Predigens dem starken Geschlecht anvertraut worden.30 Der Kirchenlehrer Hieronymus (347–420) empfiehlt die Strategie der klugen Römerin Marcella, die sich besonders geschickt verhalten habe: Sie verstand es, ihre eigene Auffassung immer als die bereits bekannte eines Mannes auszugeben und sich damit als ewig Lernende darzustellen.31 Nach dem Wunsch der Kirchenväter sollten Missionsreisen nur noch von ihren Geschlechtsgenossen durchgeführt werden, um auszuschließen, daß das Ansehen Gottes Schaden nehme, weil die Heiden lachten und spotteten, wenn eine Frau zu ihnen spräche. 20

Tertullian: De virginibus velandis, hg. von EVA SCHULZ-FLÜGEL, Göttingen 1977, S. 134. ALBRECHT [Anm. 6], S. 232; s. HILDEGARD BORSINGER, Die Rechtsstellung der Frau in der katholischen Kirche, jur. Diss. Zürich 1930, S. 23f. 21 NÜRNBERG [Anm. 9], S. 68. 22 H. ENGBERDING, Nonna, LThK VII, Sp. 1026. 23 H. M. WERHAHN, Gregorius von Nazianz d. Ä, d. J., LThK IV, Sp. 1209. 24 Gregor von Nazianz: De vita sua, hg. v. CHRISTOPH JUNGCK, Heidelberg 1974, S. 56. ALBRECHT [Anm. 6], S. 222. 25 NÜRNBERG [Anm. 9], S. 68. 26 Ebd., S. 70. 27 Vgl. BERNADETTE BROOTEN, »Junia ... hervorragend unter den Aposteln« (Rm 16,7), in: Frauenbefreiung, hg. von ELISABETH MOLTMANN-WENDEL, München 1978, S. 148–151. 28 ALBRECHT [Anm. 6], S. 227, 230. 29 B. STÄBLEIN, Ambrosius, LThK I, Sp. 427–430, hier Sp. 428. 30 NÜRNBERG [Anm. 9], S. 70f. 31 ALBRECHT [Anm. 6], S. 231; NÜRNBERG [Anm. 9], S. 71.

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In der Didache, einem griechischen Text aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts, der die Lehre über die zwölf Apostel zum Inhalt hat, werden über diese hinaus noch missionierende Wandercharismatiker als Apostel bezeichnet. Um die apostolische Tätigkeit von Missionarinnen zu unterbinden, wurde ein anderes Argument angeführt, mit dem noch heute der Ausschluß von Frauen vom Priesteramt begründet wird: Jesus selbst habe mit den zwölf Aposteln nur Männer ausgewählt, um die Lehre zu verbreiten.32 Lukas bezieht in seinem Evangelium den Begriff »Apostel« enggefaßt auf die Jünger Jesu. Paulus hingegen bezeichnet alle Personen als Apostel, die Jesus persönlich begegneten (I Cor 9,1). Im Widerspruch dazu steht z. B. die Legende der hl. Nino, der in der Forschungliteratur ein historischer Kern zugesprochen wird: Demnach kann als gesichert gelten, daß diese in der ersten Hälfte des nachfolgenden 4. Jahrhunderts gen Osten zog und an der Südseite des Kaukasus die Heiden Georgiens missionierte. Genauso wie Thekla der Legende zufolge von Paulus zur Verkündigung aufgefordert wurde, erhielt Nino von ihrem Onkel, dem Patriarchen von Jerusalem, den Auftrag, andere im christlichen Glauben zu unterrichten. Nino, die taufte und lehrte, wird in der Überlieferung als »Apostel und Evangelist«, »Verkünderin des Sohnes Gottes« oder auch als »Leiterin«, »Lehrerin«, »Meisterin« bezeichnet.33 Im 4. Jahrhundert, in dem sich die hl. Nino auf Reisen begab, entwickelte sich die Kirche zu einer fest umgrenzten Institution: In der Frühkirche war es üblich gewesen, daß Priester heirateten. Im Jahre 305 n. Chr. wurde ihnen durch das Konzil von Elvira der Zölibat auferlegt, wenn sie im Amt bleiben wollten. In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts (das genaue Datum ist umstritten) verbot die Synode von Laodikeia, Frauen zu Priesterinnen oder Kirchenvorsitzenden zu weihen.34 Mit dem Lehrverbot ging ein Schreibverbot für Frauen einher, das dazu führte, das relativ wenige theologische Verfasserinnen bekannt sind. Anhand der Heiligenlegenden von Maria Magdalena und ihrer Schwester Martha läßt sich beispielhaft zeigen, daß sich im Widerspruch zum historischen Entwicklungsprozeß, der zu einem Ausschluß von Frauen vom Predigtamt führte, die Darstellung von Frauen, die als Apostolinnen und Predigerinnen vor das Volk traten, in der Literatur und Kunst manchmal erhalten hat. Diesem Widerspruch sind die folgenden Ausführungen gewidmet.

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IDA RAMING, Priestertum der Frau, in: Wörterbuch der feministischen Theologie, hg. von ELISABETH GÖSSMANN, ELISABETH MOLTMANN-WENDEL [u. a.], Gütersloh 1991, S. 328–330, hier S. 328. 33 ALBRECHT [Anm. 6], S. 223, 235; EVA MARIA SYNEK, Heilige Frauen der frühen Christenheit. Zu den Frauenbildern in hagiographischen Texten des christlichen Ostens (Das östliche Christentum NF 43), Würzburg 1994, S. 80–138. Vita der Nino, übersetzt von Gertrud Pätsch, Die Bekehrung Georgiens, Mokcevay Kartlisay (anonym), in: Bedi Kartlisa, Revue de Kartve´lologie 33 (1975), S. 288–337, hier S. 297, 303. 34 B. KÖTTING, Laodikeia, LThK VI, Sp. 793–795, hier Sp. 794; HASKINS [Anm. 12], S. 99.

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Maria Magdalena – Missionsreisende und Einsiedlerin Von verschiedenen Kirchenlehrern wurde eine literarische Verbindung zwischen der biblischen Maria Magdalena, Maria von Bethanien und der namenlosen Sünderin, die Jesus die Füße salbte und mit ihrem Haar trocknete, geschaffen. Aus deren Verschmelzung ging die literarische Gestalt der Maria Magdalena hervor.35 Dieser Prozeß ist in der Forschungsliteratur gut dokumentiert. Ihre Legende war den Gläubigen durch die Medien der christlichen Kunst und Literatur geläufig, und ihr Festtag, der 22. Juli, galt als einer der populärsten des Kirchenjahres.36 Wie war es möglich, daß die literarische Figur der Maria von Magdala durch das gesamte Mittelalter hindurch in Legenden als Frau dargestellt wird, die in Südfrankreich Heiden missionierte, obwohl hier ein eindeutiger Widerspruch zum kirchlichen Dogma bestand? Petrus Abaelard (1079–1142) nannte Maria Magdalena sogar »Apostel der Apostel« (Predigt über das Osterfest, Sermo 13 in die paschae, PL 178,485), ein Ehrentitel, der dieser Heiligen offenbar seit Hippolytus von Rom (um 170–235) zugesprochen wurde, weil sie den Jüngern als erste von der Auferstehung Jesu berichtet hatte.37 Das obere Bild einer Miniatur im Evangeliar Heinrichs des Löwen (171r) zeigt Maria Magdalena, die nach Ioh 20,11ff. den Auftrag Christi ausführt und den Aposteln, allen voran Petrus und Johannes, seine Auferstehung verkündet (vgl. Abb. 1). Der Benediktiner Honorius Augustodunensis (um 1080–1150/51) berichtet in einer Predigt zum Kirchenfest Maria Magdalenas, das diese von Christus als »Apostolin zu den Aposteln« gesandt worden sei.38 Ursprünglich bezeichnete der Begriff apostolos »eine Gruppe besonders hochgeschätzter Gläubiger, denen eine bestimmte Tätigkeit obliegt. Von hier mag das Urchristentum den Ausdruck zur Bezeichnung der Beauftragten entlehnt haben, der die Verkündiger des Evangeliums zunächst ohne Beschränkung benennt.«39 Heinrich Kalteisen, dessen Predigten die eingangs erwähnten Nonnen des Dominikanerinnenklosters St. Nikolaus in undis hörten und lasen, erklärt Maria Magdalena zur schatz frowe40 Jesu und nennt sie dessen bevorzugte Apostolin ˘

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Vgl. RENATE WIND, Maria aus Nazareth, aus Bethanien, aus Magdala. Drei Frauengeschichten, Gütersloh 21996, S. 45–67. 36 HASKINS [Anm. 12], S. 127, 162; ALCUIN BLAMIRES, Women and Preaching in Medieval Orthodoxy, Heresy, and Saints’ Lives, Viator 26 (1995), S. 135–152, hier S. 137–144, 146–149, 151. 37 ALBRECHT [Anm. 6], S. 226f.; HASKINS [Anm. 12], S. 73–75, 98f.; TORJESEN [Anm. 12], S. 20. 38 PL 172,981: »angelum videre meruit Dominusque resurgens primo omnium ei publice apparuit, eamque apostolam apostolis suis misit, ut sicut prima femina mortem viro traderet, ita nunc femina perhennem vitam viris nunciaret.« Vgl. Das Evangeliar Heinrichs des Löwen. Kommentar zum Faksimile, hg. von DIETRICH KÖTZSCHE, Frankfurt a. M. 1989, S. 227–230, hier S. 229 mit Anm. 563. Für den Hinweis auf diese Abb. danke ich meiner Kollegin Beate Braun-Niehr. 39 WALTER BAUER, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. von KURT ALAND u. BARBARA ALAND, 6. völlig neu bearb. Aufl. Berlin [usw.] 1988, Sp. 198, 200; HASKINS [Anm. 12], S. 69. 40 Berlin, SBB-PK, Ms. germ. qu. 189, 369r.

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und Zwölfbotin: Daz er sy˙ het gemaht einen apostelen vber die appostelen vnd zwoelfbotten. Also daz su´ waz ein zwoelfboettin vnd appostolin vber su´. Wan do su´ alle zwifelten vnd fluhen do stunt su´ vnd bleip stette by˙ ime.41 Mit welchen Worten wird nun in mittelalterlichen Legenden die apostolische Tätigkeit einer Frau beschrieben? Ich greife zwei Beispiele heraus: In einer Legende heißt es über Maria Magdalena: dese vrawe predigite als dy aposteln vnd bekarte ein gancz konigreich vnd den kon¯ig vnd sine vrawe.42 Es läßt sich also konstatieren, daß ihr Rang als Apostolin in dieser Handschrift des 15. Jahrhunderts unbestritten ist. In literarischen Texten wird also manchmal noch der Begriff ›Predigt‹ verwendet, auch wenn Frauen eigentlich nicht öffentlich predigen durften. Der Verfasser der zweiten Legende war sich dieses Widerspruchs offensichtlich bewußt und versucht, seinen Text dem zeitgenössischen theologischen Dogma anzupassen. Nach dieser Darstellung muß die Heilige, nachdem die Missionierung der südfranzösischen Heiden bereits erfolgreich abgeschlossen war, zu später Einsicht gelangt oder von anderer Seite aufgeklärt worden sein. Das Resultat war ihr Rückzug von der öffentlichen Tätigkeit: sente Pauel vorbot den vrauwin das se nicht predigen sulden / do ging sente Maria Magdalena in dy wustenunge.43 Ihre Verbannung in die Einsamkeit der Wüste und die damit einhergehende gewünschte Schweigsamkeit erfolgte nach dieser Darstellung als Reaktion auf das von mittelalterlichen Theologen gern zitierte vermeintlich paulinische Predigtverbot für Frauen. Dieser schickte sie wegen geschlechtsuntypischen Verhaltens – entsprechend einem heute noch gebräuchlichen Bild – in die Wüste. Neben Predigten und Legenden präsentieren uns auch bildliche Darstellungen44 die Heilige als Vermittlerin der christlichen Lehre. Die Verkündigung findet häufig im öffentlichen Kultraum, z. B. dem Tempel der Götzen von Marseille, oder unter freiem Himmel statt. Oft hält Maria Magdalena die Hände dabei wie ein Mann im Lehrgestus erhoben, während sie zu einer Gruppe von Zuhörern spricht (vgl. Abb. 2).45 In einem Beispiel aus der Buchmalerei, dem Albani Psalter, der um 1135 für Christina von Markyate angefertigt wurde, verkündet sie vor den Aposteln.46 41

Ebd., 371v. Berlin, SBB-PK, Ms. germ. fol. 1234, 42r; zu den Legenden vgl. MADELEINE BOXLER, »ich bin ein predigerin und appostlorin«. Die deutschen Maria Magdalena-Legenden des Mittelalters (1300–1550), Untersuchungen und Texte (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 22), Bern [usw.] 1996. 43 Berlin, SBB-PK, Ms. germ. fol. 1234, 42r. 44 Einen Überblick über die verschiedenen Typen der Darstellung der Heiligen bietet M. ANSTETTJANSSEN, Maria Magdalena, Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 7, Sp. 516–541. 45 Berlin, SBB-PK, Ms. germ. fol. 245, 75r (= Steinfelder Maria Magdalena-Legende), Edition des Legendentextes in BOXLER [Anm. 42], S. 385–408. 46 Er befindet sich heute in der Dombibliothek Hildesheim (Eigentum des Basilika St. Godehard). Vgl. die Abb. (ohne Nr.) in ROSEMARY RADFORD RUETHER, Frauenbilder – Gottesbilder. Feministische Erfahrungen in religionsgeschichtlichen Texten, Gütersloh 1987, S. 274 u. HASKINS [Anm. 12], Abb. 1. 42

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Auf zwei Beispiele möchte ich ausführlicher eingehen: Die Tafelmalerei auf dem Maria-Magdalenen-Altar aus der Burgkirche in Lübeck (heute im dortigen St. Annen-Museum) stammt von Erhart Altdorfer (vgl. Abb. 3–5). Dieser Doppelflügelaltar wurde 1519 von der Bruderschaft der Lübecker Schneider gestiftet, deren Schutzpatronin die Heilige war. Die Sonntagsansicht des Flügelaltars illustiert die sogenannte ›Meerfahrtlegende‹, deren Ursprung in der Provence liegt. Danach wurden die Geschwister Maria Magdalena, Martha und Lazarus mit einigen Freunden in einem steuerlosen Boot ausgesetzt, welches an der Küste bei Marseille strandete. Die Szenen aus der Legende sind in zwei Reihen angeordnet und können jeweils von links nach rechts betrachtet werden. Auf einer Bildtafel spricht Maria Magdalena zu einer Gruppe von Zuhörern, in deren Vordergrund das Fürstenpaar von Marseille steht, und kritisiert den Götzendienst. Die linke Hand der Heiligen rafft den Mantel über dem Festkleid mit großgemustertem Besatz aus Golddamast, die rechte weist, im Lehrgestus erhoben, auf die Gruppe. In die Darstellung der südfranzösischen Stadt im Hintergrund integrierte der Maler das Holstentor, welches noch heute das Erkennungszeichen Lübecks ist (vgl. Abb. 3).47 Auf dem nächsten Bild verabschiedet die Heilige das Fürstenpaar, welches per Schiff zur Pilgerreise nach Rom aufbricht (vgl. Abb. 4).48 Ein weiteres Bild zeigt Lazarus, den Bruder Maria Magdalenas und Marthas, im Ornat. Er kniet vor Maria Magdalena, die ihn vor ihrer Abreise nach Aix als Bischof von Marseille einsetzt (vgl. Abb. 5). Der Inhalt der Darstellung folgt den Vorgaben der Legenda aurea. Erst in den letzten Jahren konnten die Bilder des bisher verloren geglaubten rechten Flügels des Altars von KURT LÖCHER im Allen Memorial Art Museum, Oberlin/Ohio wiedergefunden werden. Eine weitere Tafel, auf der die Ankunft Maria Magdalenas und ihrer Begleiter in Marseille gezeigt wird, befand sich im Jahre 1943 im New Yorker Kunsthandel. Ihr Verbleib ist seitdem unbekannt. Aufgrund seiner Recherchen gelang KURT LÖCHER die Rekonstruktion der ursprünglichen Anordnung der Tafeln des Maria Magdalenen-Altars.49 Das zweite Exponat, das ich hier erwähnen möchte, ist ein Chormantel (M 25), der durch glückliche Umstände die Jahrhunderte in St. Marien in Danzig überstanden hat50 und heute zum Paramentenschatz des Lübecker St. Annen-Muse47

Vgl. BRIGITTE HEISE/HILDEGARD VOGELER, Die Altäre des St. Annen-Museums. Erläuterung der Bildprogramme, Lübeck 1993, S. 59–63, hier S. 62. 48 Die Fotos für die Abb. 3–6 wurden mir vom St. Annen-Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck zur Verfügung gestellt. Frau Dr. Hildegard Vogeler danke ich vielmals für ihr Entgegenkommen während meines Besuchs in Lübeck. 49 KURT LÖCHER, Ein wiedergefundener Flügel vom Maria Magdalenen-Altar der Lübecker Bruderschaft der Schneider, Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 73 (1993), S. 25–37, s. dort die Rekonstruktion des Flügelaltars auf S. 36; ders., Ein weiterer Flügel vom Maria Magdalenen-Altar der Lübecker Bruderschaft der Schneider, Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 74 (1994), S. 323–328. 50 Siehe dazu die kurze Einführung von WALTER MANNOWSKY, Der Kirchenschatz von St. Marien in Danzig, Danzig o. J. (ca. 1936).

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ums gehört. Der Chormantel aus Ferronnerie-Samt mit Atlasgrund ist in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Italien gefertigt worden. Seine Vorderseite verzieren zwei applizierte Streifen mit einer Stickerei aus Seiden- und Goldfäden, die wohl im 2. Viertel des 15. Jahrhunderts in Norddeutschland, möglicherweise in Danzig selbst, entstanden ist. Die Stickerei zeigt zehn Szenen aus der Maria-Magdalenen-Legende, von denen für den hier untersuchten Zusammenhang besonders folgende relevant sind: Eine Darstellung der Heiligen, die, ähnlich wie in dem bereits erwähnten Bildtypus der Buchmalerei, zu den Aposteln spricht. Zwei andere Szenen zeigen sie bei der Verkündigung und Lehre. Auf der einzigen farblichen Abbildung, die von einer Szene auf diesem Chormantel existiert, erscheint sie dem Fürstenpaar mahnend im Traum und warnt vor dem Zorn Gottes, der die Ungläubigen treffen wird (vgl. Abb. 6).51 Die Kunsthistorikerin SILKE TAMMEN fand heraus, daß die Darstellung Maria Magdalenas als Priesterin in einigen wichtigen Magdalenenzyklen nicht enthalten ist.52 Die häufig fehlende Kanzel als verfängliches Attribut in Zeiten des Predigtverbots für Frauen und die Darstellung einer begrenzten Zuhörerzahl bei der Unterweisung bezeichnet sie als »Entschärfungsstrategie«.53 Verkündigungsszenen sind, ihren Befunden zufolge, in der Tafelmalerei oftmals schlecht zu erkennen oder auf die »optisch und bildhierarchisch am niedrigsten angesiedelten Predellen oder die Hintergründe von Seitenflügeln ›verbannt‹« worden. In der Wandmalerei fehlen sie ganz.54 Bemerkenswert ist, daß es auch künstlerische Darstellungen der Gottesmutter Maria in Priestergewändern gibt, z. B. auf einem französischen Altargemälde für die Kathedrale von Amiens aus dem Jahre 1437. Nach CAROLINE WALKER BYNUM »wurde sie als Priester angesehen, da sie Gott einerseits bei der Darstellung im Tempel das Christuskind darbot, andererseits den Gläubigen Christus als Quelle der Erlösung geschenkt hatte.«55 Aus dem Vergleich von literarischen und künstlerischen Darstellungen von Maria Magdalena als Verkünderin der christlichen Lehre lassen sich folgende, wie ich finde, bemerkenswerte Schlüsse ziehen: Die Heilige wird in verschiedenen Medien als verdiente Apostolin bei der Heidenmissionierung gezeigt. In literarischen Texten wird ihr Verhalten, das dem Lehrverbot der Kirche für Frauen widerspricht, konform mit dem kirchlichen Dogma kommentiert oder durch den 51

Vgl. alte Abb. der Szenen in WALTER MANNOWSKY, Der Danziger Paramentenschatz. Kirchliche Gewänder und Stickereien aus der Marienkirche, Bd. 1, Berlin 1931, Tafel 36–39. 52 SILKE TAMMEN, »Einer Frau gestatte ich nicht, daß sie lehre«: Zur Inszenierung der weiblichen Stimme in der spätmittelalterlichen Kunst am Beispiel heiliger Frauen, in: Lustgarten und Dämonenpein. Konzepte von Weiblichkeit in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von ANNETTE KUHN u. BEA LUNDT, Dortmund 1997, S. 313–342, hier S. 327. 53 Ebd., S. 327f. 54 Ebd., S. 333f. 55 Vgl. Abb. 4.12 »Die Priesterschaft der Jungfrau« in: CAROLINE WALKER BYNUM, Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters, Frankfurt a. M. 1996, S. 182.

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Bericht abgeschwächt, sie habe nach einer aktiven Lebensphase das kontemplative Leben in der Wüste gewählt und sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. In der bildenden Kunst wird sie zwar häufiger bei der Verkündigung dargestellt, dieses geschieht allerdings verdeckt zwischen Buchdeckeln oder, der allgemeinen Aufmerksamkeit entzogen, auf schlecht sichtbaren Partien der Flügelaltäre. Der Konflikt um das Lehrverbot einerseits und die Darstellung von predigenden Frauen in Legenden andererseits wurde im 13. Jahrhundert zum Inhalt gelehrter Dispute, die folgende Lösung vorschlugen: Den weiblichen Heiligen wurde darin eine Sonderrolle im Vergleich mit anderen Frauen zugesprochen, weil sie vom Hl. Geist beauftragt und durch ihre Jungfräulichkeit zu diesem Amt berechtigt seien.56 Sie galten wie die mystischen Autorinnen als Sprachrohr der göttlichen Eingaben und waren somit als Verkündigerinnen legitimiert. Heute ist die Heilige, vor diesem Hintergrund sehr treffend, Namensgeberin der ›Maria von Magdala-Initiative‹, deren Ziel die Gleichberechtigung von Frauen in der Kirche ist.57 Martha – Drachentöterin und Hausfrau Die hl. Martha wurde in spätmittelalterlichen Darstellungen häufig auf die Rolle der Hausfrau und Dienerin festgelegt. Sie galt als weiblicher Gegenentwurf zu ihrer Schwester Maria von Magdala, die nach dem bereits erwähnten Verschmelzungsprozeß verschiedener Mariengestalten zum Bild der bekehrten Sünderin stilisiert wurde. Auf dem Florentiner Magdalenenzyklus von Giovanni da Milano, der um 1365 entstand, ist dieses Verhältnis (nach Lc 10,38–42) anschaulich wiedergegeben: Während Maria von Magdala zu Füßen Jesu sitzt und in sich gekehrt seinen Worten lauscht, steht Martha auffordernd und gerade aufgerichtet hinter ihr und weist ihre Schwester mit beiden Händen Richtung Küche. Dabei erfährt sie weder von dieser, noch von Jesus oder den anwesenden Jüngern und Lazarus Aufmerksamkeit.58 Eines der Attribute dieser Heiligen war übrigens der Kochlöffel.59 In Predigten können wir lesen, daß auch Martha, über ihre hausfraulichen Tätigkeiten hinaus, die christliche Lehre verkündet haben soll. Gott in seiner 56

TAMMEN [Anm. 53], S. 324. IDA RAMING, Frauenbewegung und Kirche. Bilanz eines 25jährigen Kampfes für Gleichberechtigung und Befreiung der Frau seit dem 2. Vatikanischen Konzil, Weinheim 1989, S. 117–123. 58 GERTRUD SCHILLER, Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. 1, Gütersloh 1966, S. 168 u. Abb. 451; GILES CONSTABLE, Three Studies in Medieval Religious and Social Thought, T. 1, The Interpretation of Mary and Martha, Cambridge 1995, S. 3–141, s. dort neben weiteren Abb. ebenfalls das Bild von Giovanni da Milano, S. 114, Abb. 11; vgl. MARTINA WEHRLI-JOHNS, Maria und Martha in der religiösen Frauenbewegung, in: Abendländische Mystik im Mittelalter, Symposion Kloster Engelberg 1984 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 7), hg. von KURT RUH, Stuttgart 1986, S. 354–367. 59 M. ANSTETT-JANSSEN, Martha von Bethanien, Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 7, Sp. 565–568, hier Sp. 566. 57

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Gnade habe sie beauftragt, Kranke zu heilen und selbst die obersten (heidnischen) Fürsten durch ihre Predigten zum christlichen Glauben zu bekehren: vnser herre der almechtig got der het sein gnad sand Martha gegeben, das sye dye sichen hailet vnd gesundt machet vnd das ire predige den oberisten fursten anvenckleich was vnd michel menig von ir wekert wart.60 In der Elsässischen Legenda aurea heißt es über sie: Do bredy¯ote sy vnd bekerte des volkes vil / dise Martha waz so wol gespreche daz aller menlich o gnade zu ir hatte.61 Doch nicht nur das: Martha erweckte einen Toten und besiegte wie der hl. Georg mit friedlichen Mitteln einen Drachen, der die Stadt Tarascon bedrohte (vgl. Abb. 7).62 Die Geschichte der späteren Vorsteherin eines Frauenkonvents soll ihre Dienerin Martilla festgehalten haben, die, folgen wir der Darstellung in der Legende, nach dem Tod der Heiligen predigend die Slowenen missionierte.63 Auch hier sehen wir also den Widerspruch, daß sich die literarische Darstellung dieser Heiligen in der Legende, die auch den Inhalt der mittelalterlichen Predigten beeinflußte, von der zeitgenössischen kirchengeschichtlichen Situation gravierend unterscheidet. Fazit: In beiden mittelalterlichen Legenden wird eine aktive, nach der hier gebrauchten Terminologie »predigende« Frau bei der Heidenmissionierung dargestellt. Bezieht man zeitgenössische Predigten ein, in denen weibliche Heilige als erfolgreiche Predigerinnen erwähnt werden, könnte man vermuten, daß die genannten Heiligen nicht als mögliche Identifikationsfiguren für Frauen galten, sonst hätte diese Vorgehensweise zur Kritik der zeitgenössischen Theologen führen müssen. Möglicherweise wurden sie aber auch zur Propagierung eines anderen, unmittelbaren Zugangs zu Gott funktionalisiert. Es ergibt sich die Frage, welche Möglichkeiten Frauen nach dem Inkrafttreten des offiziellen Lehrverbots hatten, wenn sie sich in der Öffentlichkeit zu kirchlichen Fragen äußern wollten. Sie wird anschließend anhand eines exemplarischen Überblicks beantwortet, der sich mit den Einflußmöglichkeiten von Frauen in der katholischen und protestantischen Kirche und in den Ketzerbewegungen befaßt.

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PHILIPP STRAUCH, Altdeutsche Predigten, in: ZfdPh 27 (1895), S. 148–203, hier S. 171. Für den Hinweis auf diese Predigt danke ich Christoph Fasbender. 61 Berlin, SBB-PK, Ms. germ. quart. 1490, 31vb. 62 Künstlerische Darstellungen von Martha als Drachentöterin waren bis zur Reformation verbreitet. Vgl. ELISABETH MOLTMANN-WENDEL, Die domestizierte Martha. Beobachtungen zu einer vergessenen mittelalterlichen Frauentradition, Evangelische Theologie 42 (1982), S. 26–37, hier S. 30. Auf dem linken Standflügel des Martha-Altares in der Nürnberger Kirche St. Lorenz wird die hl. Martha als Bändigerin des Drachens Tarasque gezeigt (vgl. Abb. 7). Anonymes Werk, Anfang 16. Jh. (erste Erwähnung 1517). 63 In der Elsässischen Legenda aurea ist zu lesen, sie sei nach Sizilien gefahren, um zu predigen: o »Marcilla sant Marthen magt die schreib dis leben vnd fur dar nach gan Cicilia vnd bredy¯ote da vb zehen iar«, Berlin, SBB-PK, Ms. germ. quart. 1490, 32 .

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»Nun höre und lerne, damit Du errötest«64 – Verkündigende Katholikinnen Das kanonische Recht (Kanon 57) verbot es den Frauen im Mittelalter, in der Versammlung zu lehren oder öffentlich zu ministrieren.65 Im 12. Jahrhundert gab es immer wieder die Forderung nach dem Recht für Laien, öffentlich zu predigen.66 ROLF ZERFASS kommt in seiner Untersuchung zu dem bemerkenswerten Ergebnis, »daß die mittelalterliche Laienpredigtbewegung in eine rechtliche Situation traf, in der die Möglichkeit der Laienpredigt grundsätzlich offenstand.«67 In dieser Zeit gestattete der Klerus den Laien die gegenseitige moralische Ermahnung (exhortatio), die sich auf Evangelien und Psalmen beziehen durfte. In erster Linie sollte es sich dabei allerdings um ein Vorrecht für männliche Laien handeln, außerdem für Beginen und Ehefrauen, um zur moralischen Besserung ihrer Ehemänner beizutragen.68 Nach Joachim von Fiore (gest. 1202) sollte zwischen dem persönlichen »guten Wort« und der amtlichen Predigt eine Unterscheidung getroffen werden: »vom amtlichen Predigtdienst sind Frauen und alle, die nichts von der Heiligen Schrift verstehen, ausgeschlossen.«69 Offiziell wurde den Frauen die Verkündigung also weiterhin verboten, mit Hinweis auf die hierarchische Ordnung der Geschlechter, die leichte Verführbarkeit der Frauen und deren unzureichende moralische Eignung für dieses Amt.70 Daß einige Frauen dieses Recht trotzdem für sich beanspruchten, zeigt z. B. die Weisung von Papst Honorius III., der im frühen 13. Jahrhundert die Bischöfe von Valence und Burgos beauftragte, einigen Äbtissinnen öffentliche Predigten zu verbieten.71 Die toskanische Heilige Margarita von Cortona (1247–1297) wurde im Laufe dieses Jahrhunderts als reisende Friedens- und Kreuzzugspredigerin verehrt,72 ebenso wie Clara von Montefalco (1268–1308).73 Die Franziskanerin Rosa von Viterbo (1233 – vor 1252) predigte mit päpstlicher Erlaubnis auch von der Kanzel und soll viele Sünder bekehrt haben.74 Katharina von Siena (1347–1380) erzählte ihrem Beichtvater Raimund von Capua von ihrem Wunsch, in die Wüste 64

Hildegard von Bingen an den Erzbischof von Mainz, zit. nach Tagesspiegel 128 Nr. 16 vom 12.10.1997. 65 RENE´ METZ, Le statut de la femme en droit canonique me´die´val. Recueils de la Socie´te´ Jean Bodin XII, »La Femme«, Brüssel 1962, S. 59–113. 66 EDITH ENNEN, Frauen im Mittelalter, 4München 1991, S. 117. 67 ROLF ZERFASS, Der Streit um die Laienpredigt. Eine pastoralgeschichtliche Untersuchung zum Verständnis des Predigtamtes und zu seiner Entwicklung im 12. und 13. Jahrhundert, Freiburg i. Br. [usw.] 1974, S. 23. 68 TAMMEN [Anm. 52], S. 319. 69 ZERFASS [Anm. 67], S. 48. 70 TAMMEN [Anm. 53], S. 314. 71 LARISSA TAYLOR, Soldiers of Christ. Preaching in Late Medieval and Reformation France, New York [usw.] 1992, S. 176. 72 Ebd. Auf der um 1300 entstandenen Altartafel, die sich heute im Diözesanmuesum in Cortona befindet, ist Margarita von Cortona im Mittelfeld stehend dargestellt; in der linken Hand hält sie den Rosenkranz, die rechte ist im Lehrgestus erhoben. Vgl. TAMMEN [Anm. 52], S. 318, Abb. 2. 73 TAYLOR [Anm. 71], S. 176; G. BARONE, Clara von Montefalco, LexMa II, Sp. 2124f. 74 TAYLOR [Anm. 71], S. 176.

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zu fliehen. Auch beschäftigte sie der Gedanke, die Kutte eines Dominikaners anzulegen, zu predigen und auf Missionsreise in fremde Länder zu gehen.75 Raimund von Capua berichtet in der Legende der hl. Katharina von Siena, also einem literarischen Text, dessen Historizität hinterfragt werden muß: »Ich habe erlebt, daß die Leute, Männer und Frauen, zu Tausenden herbeiströmten: Als ob eine unsichtbare Posaune das Signal geblasen hätte, stiegen sie von den Bergen herab und kamen aus ihren Dörfern rund um Siena hervor, um die heilige Bußschwester zu sehen und zu hören.«76 Über Angela von Foligno (1248/49–1309), die den Ehrentitel »Lehrmeisterin der Theologen« (Magistra theologorum) erhielt und als Prophetin angesehen wurde, schrieb ein anonymer Zeitgenosse: »Es widerspricht nicht der Ordnung seiner Vorsehung, wenn Gott zur Beschämung der Männer eine Frau zur Lehrerin macht, die meines Wissens nicht ihresgleichen auf Erden hat.«77 Dafür, daß ihre Verkündigungen himmlischen Ursprungs seien, sprach sich eine Kommission von acht franziskanischen Theologen aus.78 Elisabeth von Schönau (1129–1164) wendet sich in ihrer in der Forschungsliteratur so bezeichneten ›Ständepredigt‹ mit nüchternen Worten an die einzelnen gesellschaftlichen Stände.79 Der Titel verweist darauf, daß sie als Prophetin galt bzw. von ihren Zeitgenossen so gesehen wurde: »dies ist das Buch der Wege des Herrn, welches von dem Engel des höchsten Gottes verkündigt worden ist der Elisabeth, der Magd Christi und des lebendigen Gottes im fünften Jahre (1156) ihrer Heimsuchung, in welchem sie der heilige Geist heimgesucht hat zum Heile Aller, welche die väterlichen Ermahnungen Gottes mit herzlicher Danksagung annehmen.«80 Der Herausgeber der sogenannten ›Ständepredigt‹ beschreibt, auf welche Art Elisabeth von Schönau den zeitgenössischen Auffassungen zufolge der Inhalt der Verkündigung übermittelt wurde: »gewöhnlich erhielt sie in dem ersten Gesichte nur den Text ihrer Predigt kurz und bündig, 75

BERNHARD GERTZ, Mehr sage ich nicht. Die prophetische Kirchenkritik der Caterina von Siena, Communio 3 (1974), S. 132–148, hier S. 134. 76 Das Leben der heiligen Katharina von Siena (Legenda maior des Raimund von Capua), hg., eingeleitet u. übersetzt von A. SCHENKER, Düsseldorf 1965; s. KAREN SCOTT, Urban Spaces, Women’s Networks, and the Lay Apostolate in the Siena of Catherine Benincasa, in: Creative Women in Medieval and Early Modern Italy. A Religious and Artistic Renaissance, hg. von E. ANN MATTER u. JOHN COAKLEY, Philadelphia 1994, S. 105–119. 77 ULRICH KÖPF, Angela von Foligno, in: Mein Herz schmilzt wie Eis am Feuer. Die religiöse Frauenbewegung des Mittelalters, hg. von JOHANNES THIELE, Stuttgart 1988, S. 125–135, hier S. 125, 129. 78 PETER DINZELBACHER, Heilige oder Hexen? Schicksale auffälliger Frauen in Mittelalter und Frühneuzeit, München [usw.] 1995, S. 62f. 79 ROLF BEYER, Die andere Offenbarung. Mystikerinnen des Mittelalters, Wiesbaden 1996, S. 92– 95; Prof. NEBE (sic!), Die heilige Elisabeth und Egbert von Schönau, in: Annalen des Vereins für Nassauische Alterthumskunde und Geschichtsforschung, Bd. 8, unv. Nachdr. der Ausg. Wiesbaden 1866, Walluf bei Wiesbaden 1972, S. 157–292, hier S. 198–210; PETER DINZELBACHER, Die Offenbarungen der hl. Elisabeth von Schönau. Bildwelt, Erlebnisweise und Zeittypisches, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige, Bd. 97, St. Ottilien 1986, S. 462–482. 80 NEBE [Anm. 79], S. 198.

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welcher dann in nachfolgenden Gesichten näher ausgelegt wurde und zwar entweder so, dass der Engel aus freien Stücken sie tiefer in die Wahrheit einführte, oder so, dass sie sich aus eigenem Antrieb oder auf den Rath ihres Bruders (gemeint ist ihr Bruder, Abt Egbert von Schönau, der ihre Visionen aufschrieb, d. Verf.) und ihrer geistlichen Beistände weitere Aufschlüsse erbat.«81 Die einzelnen Visionen, die den Inhalt der ›Ständepredigt‹ bilden, hatte sie in den Jahren 1156/57: Sie beschreibt zehn verschiedene Wege, gemeint ist die Art und Weise, wie die Kontemplativen, Tätigen, Märtyrer, Verheirateten, Enthaltsamen, Prälaten, Verwitweten, Eremiten, Jünglinge und Kinder sich auf den Berg der himmlischen Seligkeit begeben können, auf dem ein Licht, die Klarheit des ewigen Lebens, leuchtet. Elisabeth von Schönau erteilt den Angehörigen der zehn Stände Verhaltensregeln, die sie sicher auf den Gipfel dieses Berges führen. Hildegard von Bingen (1098–1179), die Patronin der Sprachforscher, unternahm mehrere, in der Forschungsliteratur als ›Predigtreisen‹ benannte Fahrten und genoß als Kirchenlehrerin hohes Ansehen. Die Routen ihrer Reisen sind bekannt, die Texte einiger ihrer öffentlich gehaltenen Reden sowie Teile ihres umfangreichen Briefwechsels sind erhalten, so daß die Möglichkeit gegeben ist, genauere Aussagen über ihre Verkündigungstätigkeit zu machen. Da sich Frauen offiziell nicht schriftlich zu theologischen Fragen äußern sollten, entschuldigt sich die Äbtissin, ähnlich wie Mechthild von Magdeburg, dafür und bedauert ihr schlechtes Latein.82 Außerdem bezeichnet sie sich selbst in einer Demutsgeste als armselige Frauensperson (paupercula) und legitimiert damit den Umstand, daß sie öffentlich das Wort ergreift: »Ich furchtsame armselige Frau bin zwei Jahre hindurch sehr dazu gedrängt worden, dies (die Gerechtigkeit Gottes) vor Magistern, Doktoren und anderen Gelehrten an bedeutenden Orten, wo sie wohnen, persönlich vorzutragen.«83 Festzuhalten ist, daß Hildegard von Bingen nicht als Frau gesehen wurde, die in ihren Ansprachen ihre eigene Meinung mitteilte, sondern sie hatte einen Sendungsauftrag, galt als Verkünderin der göttlichen Eingaben, wurde so zum Sprachrohr Gottes und verstieß damit nicht gegen das Schweigegebot der Kirche.84 Sie selbst schreibt: »Die Worte, die ich ausspreche, kommen nicht von mir, sondern ich sehe sie in einer Schau, die ich von oben empfange«.85 Auf einer Miniatur des ›Liber divinorum operum‹ (Lucca, 13. 81

Ebd., S. 200f. EVA SCHIRMER, Mystik und Minne. Frauen im Mittelalter, Berlin 1984, S. 46. 83 Zit. nach HEIKE LEHRBACH, Katalog zur internationalen Ausstellung »Hl. Hildegard von Bingen 1179–1979« aus Anlaß des 800. Todestages der Heiligen. Haus »Am Rupertsberg«, BingenBingerbrück 15.9. – 21.10.1979, Bingen/Mainz 1979, S. 12. 84 JOAN CADDEN, Wissenschaft, Sprache und Macht im Werk Hildegards von Bingen: Feministische Studien 9 (1991), Nr. 1, S. 69–79. 85 Zit. n. Hildegardis ad Gvibertvm Monachvm, in: Hildegardis Bingensis Epistolarivm, Pars secunda XCI–CCLR, edidit L[IEVEN] VAN ACKER, Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis XCI A, Turnhout 1993, S. 258–265, hier S. 258. MARIATERESA FUMAGALLI/BEONIO BROCCIERI, Hildegard, die Prophetin, in: Heloise und ihre Schwestern, hg. von FERRUCCIO BERTINI, München 1991, S. 192–221, hier S. 200. 82

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Jahrhundert) ist die Inspiration der Heiligen durch Wellen dargestellt, die vom Himmel in ihren Kopf dringen. Sie hält mit Schreibtafel und Stift die göttlichen Eingaben fest.86 Folgerichtig wird sie in der Literatur häufiger als Prophetin bezeichnet. Nach Abaelard ist die Prophetin eine erklärende Vermittlerin. Er schreibt: »Prophezeien heißt sprechen und dabei die Bedeutung der Worte so gut verstehen, daß man sie erklären kann.«87 Ihr Selbstverständnis als geistliche Vermittlerin ist vergleichbar mit dem Katharinas von Siena, Birgittas von Schweden88 und Theresas von Avila. Hildegards theologische Schriften, speziell die in der Forschungsliteratur so bezeichneten Predigten, zeichnen sich durch Formulierungen aus, die sie als sehr glaubensstarke, resolute und realitätsbezogene Frau erscheinen lassen. Trotzdem hielt sie es für nötig, sich gegenüber möglicher Kritik von vornherein abzusichern: Es ist bekannt, daß die Äbtissin meistens auf den Plätzen vor den Kirchen zu Volk und Klerus sprach.89 Da sich der Vorgang des Predigens über das Betreten einer Kanzel definiert, was Frauen verboten war, vermied sie also den offenen Konflikt mit den Vertretern der Kirche, indem sie diesen Ort nicht betrat. Vergleichbar verhielt sich später Margery Kempe (gest. nach 1438), die auf den Versuch, sie unter Hinweis auf das Gebot des Paulus zum Schweigen zu bringen, entgegnete, sie betrete keine Kanzeln, predige also auch nicht.90 Ihre erste Reise (1158–1160) führte Hildegard von Bingen in den mainfränkischen Raum: Sie sprach öffentlich in Mainz, Wertheim, Würzburg, Kitzingen, Ebrach und Bamberg. Die langen Distanzen auf ihren Reisen legte sie, als eine Art ›Wanderprophetin‹,91 zu Pferd, zu Fuß oder auf Booten zurück.92 Im Jahre 1160 verließ sie erneut das Kloster Rupertsberg bei Bingen. Den Auftrag zur Gründung dieses Klosters (1174) hatte sie während einer Vision erhalten.93 Nun begab sie sich nach Trier, dann moselaufwärts nach Metz in Lothringen und weiter bis nach Krauftal.94 Nachdem sie ihren Zuhörern in Trier kräftig ins Gewissen geredet und diese vor dem feurigen Strafgericht gewarnt hatte, das sie ereilen würde, wenn sie die Sünden vergäßen und die Buße mieden, äußerten die in der Stadt ansässigen Geistlichen den Wunsch nach einer schriftlichen Fassung 86

Vgl. die Abb. in LEHRBACH [Anm. 83], Tafel 1. FUMAGALLI/BROCCIERI [Anm. 85], S. 214. 88 Vgl. KARI ELISABETH BØRRESEN, Birgitta of Sweden. A Model of Theological Inculturation, in: Women’s Studies of the Christian and Islamic Traditions. Ancient, Medieval and Renaissance Foremothers, hg. von KARI ELISABETH BØRRESEN u. KARI VOGT, Dordrecht [usw.] 1993, S. 277– 294. 89 BEYER [Anm. 79], S. 57. 90 DINZELBACHER [Anm. 79], S. 19, Anm. 28; s. The Book of Margery Kempe, hg. von SANFORD BROWN MEECH, London 1940, S. 27f. 91 DANIELLE BUSCHINGER, Hildegard de Bingen et autres pre´dicatrices allemandes me´die´vales, Speculum Medii Aevi 2 (1996), Heft 3, S. 13–26. 92 LEHRBACH [Anm. 83], S. 36. 93 ADELGUNDIS FÜHRKÖTTER, Hildegard von Bingen, 2Salzburg 1979, S. 20. 94 LEHRBACH [Anm. 83], S. 12. 87

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ihrer Pfingstansprache: »damit die Nachwelt künftighin sowohl die Rache Gottes als auch Seine uns erwiesene Barmherzigkeit schaue und erkenne, Daß Ihr (gemeint ist Hildegard von Bingen, d. Verf.) die wahrhaftige und geliebte Mitwisserin Seiner Geheimnisse seid.«95 1161–63 reiste die Benediktinerin von Boppard zum Kloster Marienberg bei Andernach, zur Benediktinerabtei Siegburg, nach Köln und von der Benediktinerabtei Werden in Westfalen wahrscheinlich bis nach Lüttich.96 In Köln kritisierte sie den Klerus, weil er sich nach ihrer Ansicht zu sehr in politisch-militärischen Fragen engagierte. Andererseits bezeichnete sie ihre Zuhörer als »geliebte Söhne«, eine Anrede, die eigentlich nur einem Bischof zugestanden hätte.97 Ihr Redetext ist erhalten, weil Philipp von Heinsberg, der spätere Erzbischof von Köln, den Wunsch nach einer schriftlichen Fassung davon äußerte. In seinem Schreiben an sie bekundet er seine nachhaltige Verwunderung über die Worte der Äbtissin: »Nachdem Ihr von uns gegangen waret – Ihr seid ja auf göttliches Geheiß zu uns gekommen und habt uns, wie Gott es Euch eingegeben, Worte des Lebens eröffnet –, waren wir von größter Bewunderung ergriffen, daß Gott in einem so zerbrechlichen Gefäß, im schwachen Geschlecht, solche Wunder seiner Geheimnisse wirkt...«.98 1163 stellte Kaiser Friedrich I. auf dem Hoftag in Mainz im Beisein Hildegards von Bingen eine Schutzurkunde für das Kloster Rupertsberg aus, in der sie als abbatissa bezeichnet wird. Es handelt sich um das einzige bekannte Zeugnis mit einer solchen Benennung in dieser Zeit.99 1170/71, auf ihrer letzten Reise nach Schwaben über Maulbronn, Hirsau, Kirchheim unter Teck und Zwiefalten, predigte sie nicht auf öffentlichen Plätzen, sondern in den dortigen Bischofskirchen.100 Festzuhalten bleibt, daß Hildegard von Bingen eine Ausnahmeerscheinung in ihrer Zeit war. Das Frauenbild der Theologen, z. B. der Kölner Dominikaner, trug zunehmend negativ konturierte Züge. Ein wichtiger Grund dafür war die im 12. Jahrhundert beginnende Rezeption der aristotelischen Schriften.101 Die Unterlegenheit der Frauen wurde nun biologisch begründet und zur wissenschaftlichen Lehrmeinung festgeschrieben.102 Mit deren größerer körperlichen Schwä95

Hildegard von Bingen. Briefwechsel, nach den ältesten Handschriften übersetzt und nach den Quellen erläutert von ADELGUNDIS FÜHRKÖTTER OSB, Salzburg 1965, S. 167. 96 Die Reiserouten Hildegards von Bingen werden beschrieben von BEYER [Anm. 79], S. 57, LEHRBACH [Anm. 83], S. 36f. 97 MONIKA KLAES, Hildegard von Bingen – reaktionär oder visionär, in: Mystik, Macht und Minne. Vorträge im Rahmen der Ausstellung »Die Frau im mittelalterlichen Rheinland«, Düsseldorf 1996, S. 47–66, hier S. 38; den Kölner Redetext vgl. in FÜHRKÖTTER (1965), S. 169–172. 98 FÜHRKÖTTER [Anm. 93], S. 168f. 99 LEHRBACH [Anm. 83], S. 12. 100 ERIKA UITZ/BARBARA PÄTZOLD/GERALD BEYEUTHER, Herrscherinnen und Nonnen, Frauengestalten von der Ottonenzeit bis zu den Staufern, Berlin 1990, S. 186; FUMAGALLI/BROCCHIERI [Anm. 85], S. 199. 101 UTE WEINMANN, Mittelalterliche Frauenbewegungen. Ihre Beziehungen zur Orthodoxie und Häresie (Frauen in Geschichte und Gesellschaft 9), Pfaffenweiler 21991, S. 42f. 102 ISNARD W. FRANK, »Femina est mas occasionatus«. Deutung und Folgerungen bei Thomas von Aquin, in: Der Hexenhammer. Entstehung und Umfeld des Malleus maleficarum von 1487, hg.

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che und Anfälligkeit seien geringere Verstandesleistungen und die mangelnde Immunität gegenüber negativen Einflüssen verbunden. Thomas von Aquin zufolge waren die Frauen deshalb eine beliebte Zielgruppe der Dämonen.103 Nach seiner Meinung eigneten sie sich nicht für eine »herausragende Stellung oder Führungsposition«.104

Weibliche Scham versus öffentlicher Auftritt – Frauen in häretischen Bewegungen Waldenserinnen Der besitzlose Wanderprediger Waldes ermutigte die Waldenserinnen, die mehr als fünzig Prozent seiner Anhänger ausmachten, zu einem apostolischen Leben in Armut und zur Verkündigung. Er schickte sie wie ihre Glaubensgenossen als Wanderpredigerinnen auf Reisen.105 Die Waldenser/innen beriefen sich im Widerspruch zum Lehrverbot für Frauen, das Paulus zugeschrieben wurde, auf den »höheren Gehorsam«, den sie Gott schuldeten.106 Die öffentliche Verkündigung war für sie ein Auftrag, den sie wie die Apostel von Christus erhalten hatten und der auf das Seelenheil der Zuhörer zielte.107 Nach ROLF ZERFASS standen sich das »autoritative Verkündigungsverständnis« der Kirche und das »ebenso anspruchsvolle Sendungsbewußtsein« der Waldenser unvereinbar gegenüber.108 Die Waldenser Brüder und Schwestern waren Laien, die keine theologische Bildung oder kirchliche Weihe wie die zeitgenössischen Kleriker erhalten hatten. Es gibt keine Belege dafür, daß sie im kirchlichen Gottesdienst verkündet hätten. Sie selbst vermieden den Begriff ›Predigt‹ für ihre öffentliche Verkündigung, die sie in den Augen der Kirchenvertreter der Häresie verdächtig machten.109 Waldenserinnen nahmen am Aufnahmeritus teil, tauften und spendeten das Altarsakrament.110 Die Mitglieder der waldensischen Bewegung kritisierten von PETER SEGL, Köln [usw.] 1988, S. 71–102; BRITTA-JULIANE KRUSE, Verborgene Heilkünste. Geschichte der Frauenmedizin im Spätmittelalter (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 5), Berlin [usw.] 1996, S. 226–229. 103 CHRISTOPH DAXELMÜLLER, Aberglaube, Hexenzauber, Höllenängste. Eine Geschichte der Magie, München 1996, S. 200f.; KLAES [Anm. 97], S. 35. 104 Dieses biologisch begründete Argument klingt noch in der ›Erklärung über die Zulassung von Frauen zum Priesteramt‹ aus dem Jahre 1977 an, s. TORJESEN [Anm. 12], S. 13; zu Thomas’ von Aquin Argumenten gegen eine öffentliche Verkündigung von Frauen vgl. BLAMIRES [Anm. 36], S. 145f. 105 PETER SEGL, Die religiöse Frauenbewegung in Südfrankreich im 12. und 13. Jahrhundert zwischen Häresie und Orthodoxie, in: Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit im Mittelalter, hg. von PETER DINZELBACHER u. DIETER R. BAUER, Köln [usw.] 1988, S. 99–116, hier S. 103–106. 106 ZERFASS [Anm. 67], S. 45. 107 AMEDEO MOLNA´ R, Die Waldenser. Geschichte und europäisches Ausmaß einer Ketzerbewegung, Freiburg i. Br. [usw.] 1993, S. 395f.; ZERFASS [Anm. 67], S. 63–67. 108 ZERFASS [Anm. 67], S. 66. 109 Ebd., S. 75f. u. S. 78f.

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die unchristliche Lebensweise der Kleriker und warfen diesen Korruption vor, akzeptierten aber die Hierarchie der katholischen Kirche und grenzten sich von den Auffassungen der Katharer ab.111 Es gibt Berührungspunkte zwischen den Idealen des Franziskus von Assisi und des Waldes: Die waldensischen Wanderprediger gingen zu zweit durch das Land, und auch Franziskus ermutigte seine Brüder zu zweit zu reisen. Beide sahen sich als geistliche, nicht als hierarchische Autoritäten und vermieden es, ihre Bewegung in einen organisatorischen Rahmen einzufügen. Die Kritik des Franziskus von Assisi und der Franziskaner an Kirche und Gesellschaft ging aber nicht so weit wie die der Waldenser/innen: Franziskus wurde kurz nach seinem Tod heiliggesprochen, Waldes hingegen exkommuniziert und seine Anhänger von der Inquisition verfolgt.112 Besonders der hohe Frauenanteil innerhalb dieser Bewegung war den Theologen suspekt: In seinem zwischen 1185 und 1188 entstandenen Kommentar zur Apokalypse polemisiert Gottfried von Auxerre gegen Waldenserinnen, die in der Öffentlichkeit das Wort ergriffen. Nach seiner Ansicht handelte es sich bei diesen um »predigende Huren«, denn »sie suchten sich nach ihren Predigten für beinahe jede Nacht neue Liebhaber.«113 Das erinnert an die Ermahnungen der Patres, die als höchstes Gut der Frauen ihre Scham ansahen, welche durch öffentliche Auftritte gefährdet werde. AMEDEO MOLNA´ R erwähnt, daß Adelige zwar kaum zu den Waldensern zählten, aber mit der Ketzerbewegung sympathisierten. Dies gilt insbesondere für adelige Frauen. Er nennt einige Beispiele: »Um das Jahr 1241 bekennt eine adelige Dame aus Coutas, daß sie sich öfter an Predigten der Waldenser beteiligt habe und ihren Dienst an notleidenden und kranken Nächsten als Antwort auf die Beichte bei einem Waldenser betrachte.«114 Katharerinnen In ihrem Schreiben an die Mainzer Prälaten warnte Hildegard von Bingen eindringlich vor dem Einfluß der Katharer/innen, die es darauf angelegt hätten, den katholischen Glauben zu schwächen.115 Die Umgehung des katholischen Lehrverbots für Frauen ist sicherlich ein Punkt, in dem dieses zutraf, denn formal waren beide Geschlechter in den Ketzerbewegungen gleichberechtigt. Trotzdem gibt es bemerkenswerte Unterschiede, die DANIELA MÜLLER zusammengefaßt hat: Die Katharerinnen unterichteten, ähnlich wie die Frauen im frühen Chris110

KASPAR ELM, Die Frau in Ordenswesen, Semireligiosentum und Häresie des 12. und 13. Jahrhunderts, Communio 11 (1982), S. 360–379, hier S. 375. 111 VALDO VINAY, Waldes, in: Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 3, Mittelalter I, hg. von MARTIN GRESCHAT, Stuttgart [usw.] 1983, S. 238–248, hier S. 240 112 Ebd., S. 246f. 113 SEGL [Anm. 105], S. 103. 114 MOLNA´ R [Anm. 107], S. 181f. 115 WEINMANN [Anm. 101], S. 100–110; DANIELA MÜLLER, »So angeln sie sich die Weiber und fangen sie in ihren Irrtum ein.« Katharerinnen im Rheinland, in: Lustgarten und Dämonenpein. Konzepte von Weiblichkeit in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von ANNETTE KUHN u. BEA LUNDT, Dortmund 1997, S. 263–282.

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tentum, andere Frauen in Privathäusern (hospicia). Die Hausgemeinden hatten dabei eine ähnliche Funktion wie in den oben erwähnten frühchristlichen Gemeinden.116 Bemerkenswert ist, daß in den Inquisitonsprotokollen für die Unterweisung im Glauben durch Katharerinnen nicht der Begriff ›Predigt‹ (predicatio) genannt wird, sondern es ist von einer ›Ermahnung‹ (monitio) die Rede. Trat hingegen ein Katharer vor ein öffentliches Publikum, wird die Unterweisung in Glaubensfragen grundsätzlich als ›Predigt‹ bezeichnet.117 Die Katharerinnen waren daher geschützter vor dem Zugriff der Inquisition, weil man ihnen die Häresie schwieriger als ihren reisenden, öffentlich predigenden Glaubensgenossen nachweisen konnte.118 Gern zitiert wird das Beispiel der redegewandten Katharerin Esclarmonde de Foix, die als Witwe die Geisttaufe (das ›consolamentum‹) erhielt, damit zur perfecta geweiht wurde und den gleichen Rang wie ein Katharer hatte. Als Vorsteherin einer Frauengemeinschaft nahm sie im Jahre 1207 in Pamiers an der Disputation zwischen Katholiken, Katharern und Waldensern teil. Etienne de la Mise´ricorde, einer der anwesenden Mönche, versuchte sie zum Schweigen zu bringen, weil ihm ihre Wortbeiträge mißfielen. Frauen gehörten nach seiner Ansicht ins Haus und sollten sich mit Handarbeiten beschäftigen. Er sagte zu ihr: »Setzen sie sich an ihren Spinnrocken, meine Dame, sie haben kein Recht, in solchen Versammlungen zu sprechen«.119 Merken Sie sich das Bild vom Spinnrocken, es wird später noch einmal vorkommen. Katharerinnen, die nach der Geisttaufe als ›perfecta‹ den Katharern gleichrangig waren, scheinen auf den ersten Blick seltener in Glaubensfragen das Wort ergriffen zu haben. Doch weist DANIELA MÜLLER auf die bedenkenswerte Möglichkeit hin, daß mit der Handlungsbeschreibung »und die Ketzer predigten« nach damaliger wie heutiger Sprachlogik Männer und Frauen gemeint sein können.120 In frühen Inquisitonsprotokollen findet sich häufiger der Hinweis, daß perfectae nach dortiger Terminologie besonders vor Frauen ›gepredigt‹ haben.121 Insgesamt scheint es auch in den Ketzerbewegungen die Tendenz gegeben zu haben, die Einflußmöglichkeiten der weiblichen Anhänger bei zunehmender Institutionalisierung der Häresien zu begrenzen: »An die Stelle großzügig gewährter Entfaltungsmöglichkeiten und relativ weitgehender Gleichberechtigung traten ›Klausurierung‹, ›Domestizierung‹, ›Subordination‹ und ›Einschränkung der 116

DANIELA MÜLLER, Frauen vor der Inquisition. Lebensform, Glaubenszeugnis und Aburteilung der deutschen und französischen Katharerinnen (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abt. Abendländische Religionsgeschichte 166), Mainz 1996, S. 67–69; SEGL [Anm. 105], S. 106. 117 MÜLLER [Anm. 116], S. 85; s. auch URTE BEJICK, Die Katharerinnen. Häresieverdächtige Frauen im mittelalterlichen Süd-Frankreich, Freiburg i. Br. [usw.] 1993. 118 MÜLLER [Anm. 116], S. 272. 119 SUZANNE NELLI, Esclarmonde de Foix, Cahiers d’e´tudes cathares 6 (1955/56), Heft 24, S. 195– 204, hier S. 200; s. ELM [Anm. 110], S. 374; SEGL [Anm. 105], S. 112; MÜLLER [Anm. 116], S. 62f. 120 MÜLLER [Anm. 116], S. 84f. 121 Ebd., S. 86.

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apostolischen Tätigkeit‹ – also dieselben Verengungen, die man als charakteristisch für die Entwicklung des weiblichen Ordenswesens bezeichnet hat.«122 Vilemina und Mayfreda LUISA MURARO rekonstruierte die Geschichte von Vilemina und Mayfreda, die ebenfalls der Häresie bezichtigt wurden.123 Blaˇzena Vilemina wurde um 1210 von Konstanze von Ungarn, der Königin von Böhmen und Frau Prˇemysls Ottokar I. (1198–1230), geboren. Ihre Schwester war die spätere hl. Agnes von Böhmen, Äbtissin des Klarissenklosters in Prag.124 Über Vileminas Leben als jüngere Frau ist wenig bekannt. Zwischen 1250 und 1260 traf sie mit ihrem Sohn in Mailand ein und blieb dort bis zu ihrem Tod im Jahre 1281.125 Sie war möglicherweise Begine, hatte engen Kontakt zu den Mönchen von Chiaravalle und war der Zisterzienserabtei als Tertiarin zugeordnet.126 In Mailand hatte Vilemina einen großen Kreis von Freunden und Anhängern aus den verschiedenen sozialen Gruppen um sich versammelt. Die Vilemiten trafen sich häufig in Privathäusern, um unterwiesen zu werden und sich im Gespräch über religiöse Fragen auszutauschen. Vilemina soll Wundmale wie Jesus aufgewiesen haben.127 Ihre Anhänger glaubten, in ihr »sei der Heilige Geist gegenwärtig und inkarniert«. Sie verehrten sie als weiblichen Gegenentwurf zu Jesus in physischer Wesensgleichheit.128 Vilemina selbst hatte es mehrmals von sich gewiesen, die Inkarnation des Heiligen Geistes zu sein.129 Nach dem Tod Vileminas übernahm ihre Nachfolgerin Mayfreda de Pirovano ihre Aufgaben. Das Jahr 1300 hatte für die Anhänger der spirituellen Bewegungen eine besondere Bedeutung, denn für den Jahrhundertwechsel wurde das Zeitalter des Heiligen Geistes erwartet. Die Wiedergeburt Vileminas war für den Pfingsttag 1300 prophezeit worden. Deshalb faßte Mayfreda einen Entschluß, den die Zeugenaussagen der Inquisitionsprotokolle genau beschreiben: Am 10. April, dem Ostertag, legte sie mit der Unterstützung von zwei Ordensschwestern, männlichen Diakonen und Subdiakonen die Gewänder eines Priesters an und führte, der katholischen Liturgie entsprechend, das Hochamt durch. Sie las 122

ELM [Anm. 112], S. 375; zum Thema vgl. SHULAMIT SHAHAR, Die Frau im Mittelalter, Hamburg 1983, S. 230–235. 123 LUISA MURARO, Vilemina und Mayfreda. Die Geschichte einer feministischen Häresie, Freiburg i. Br. 1987. 124 JAROSLAV POLC, Agnes von Böhmen 1211–1282. Königstochter, Äbtissin, Heilige (Lebensbilder zur Geschichte der böhmischen Länder 6), München 1989. 125 BEA LUNDT, Eine vergessene Premyslidenprinzessin. Neue Fragen und Forschungsergebnisse, Bohemia, Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 31 (1990), S. 260–269, hier S. 263f. 126 JUTTA TAEGE-BIZER, Der Heilige Geist in Gestalt einer Frau – eine Zukunftshoffnung?, in: Die Weiblichkeit des Heiligen Geistes. Studien zur Feministischen Theologie, hg. von ELISABETH MOLTMANN-WENDEL, Gütersloh 1995, S. 57–76, hier S. 60, 68. 127 LUNDT [Anm. 125], S. 265. 128 MURARO [Anm. 123], S. 29; TAEGE-BICER [Anm. 126], S. 63–66. 129 Ebd., S. 61, 72.

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die Messe und erhob die Hostie. Wo die Feier stattfand, wissen wir nicht.130 Extra für die Ostermesse waren neue, kostbare Altartücher und Decken gekauft worden. Die in den Inquisitionsprotokollen namentlich genannten Besucher der Messe verschwiegen, daß diese stattgefunden hatte. Erst am 2. September 1300 war die häretische Tat den Inquisitoren aus Informationen, die sie nach verschiedenen Verhören miteinander kombinierten, detaillierter bekannt. Zwischen dem 2. und 9. September 1300 wurden Mayfreda, Andreas Saramita und die exhumierten Gebeine Vileminas wegen des Tatbestandes der Häresie wahrscheinlich auf der Mailänder Piazza Vetra öffentlich verbrannt.131 Marguerite Pore`te Die Beginen verbreiteten ihre Lehren ebenfalls in der Öffentlichkeit: Als Reaktion darauf erließ der Kölner Erzbischof Heinrich von Virneburg deshalb ein Dekret, in dem es u. a. heißt, diese fielen den Predigern ins Wort, widersprächen deren Ansichten und versuchten auf diesem Wege, ihre Auffassungen unter das Volk zu bringen.132 Besonders bekannt wurde der Fall der Begine Marguerite Pore`te, die ein häretisches Buch, ›Le miroir des simples aˆmes‹133 verfaßte und dessen Lehren vor allem in Nordfrankreich öffentlich an Beginen und Begharden weitergab. Nachdem ihr Buch auf einem Platz in Valenciennes verbrannt worden war und sie sich weiterhin weigerte, ihre Ansichten zurückzunehmen, warf man sie in den Kerker. Im Jahre 1310 wurde ihr in Paris der Prozeß gemacht: 21 Theologen klassifizierten ihr Buch als häretische Schrift. Als Strafe für die Verbreitung ketzerischer Auffassungen war in dieser Zeit der Feuertod üblich – Marguerite Pore`te wurde als rückfällige Ketzerin am 31. Mai 1310 auf der Place de Gre`ve in Paris öffentlich verbrannt.134

Sendschreiben und Grabreden – Publizistinnen und Verkündigerinnen der Reformationszeit Inzwischen sind die Namen einer ganzen Reihe von reformatorischen Publizistinnen bekannt.135 Ich habe Schriften aus der frühen Reformationszeit von Ar130

MURARO [Anm. 123], S. 68f.; TAEGE-BICER [Anm. 126], S. 76. MURARO [Anm. 123], S. 109. 132 WEINMANN [Anm. 101], S. 227f.; HERBERT GRUNDMANN, Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik (Historische Studien 267), Darmstadt 21961, S. 338f. u. 434f. 133 Margareta Porete, Der Spiegel der einfachen Seelen. Wege der Frauenmystik, aus dem Altfranzösischen übertragen von LOUISE GNÄDINGER, Zürich [usw.] 1987. 134 KURT RUH, ›Le miroir des simples aˆmes‹ der Marguerite Porete, in: Verbum et Signum, Bd. 2, hg. von HANS FROMM [u. a.] München 1975, S. 365–387, hier S. 371. 135 ALBRECHT CLASSEN, Frauen in der deutschen Reformation. Neufunde von Texten und Autorinnen sowie deren Neubewertung, in: Die Frau in der Renaissance, hg. von PAUL GERHARD SCHMIDT (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 14), Wiesbaden 1994, S. 179–201. 131

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gula von Grumbach (1492 – um 1568) und Katharina Zell (1497–1562) ausgewählt.136 Aufgrund seiner Forschungen kommt ALBRECHT CLASSEN zu dem Ergebnis, daß gerade die Frühzeit der Reformation, besonders die Jahre 1523 und 1524, ideale Möglichkeiten für Frauen bot, die ihre theologischen Auffassungen schriftlich darlegen wollten. In dieser kurzen Zeit hielten Drucker und Verleger eine größere Anzahl von Texten aus der Feder von Frauen für druckwürdig. Danach wurde dieser Freiraum wieder begrenzt, der dem protestantischen Frauenbild widersprach, welches die vollkommene Hausmutter zum Idealbild weiblicher Entwicklungsmöglichkeiten stilisierte.137 Anhand schriftlicher Äußerungen Argulas von Grumbach läßt sich der innere Konflikt einer Frau ablesen, die eine fundierte Ausbildung erhielt, sich sehr für theologische Fragen interessierte und früh eine Anhängerin Luthers wurde. Als 1523 Arsacius Seehofer, ein Theologiestudent der Ingolstädter Universität, aufgrund seines Bekenntnisses zum Protestantismus starken Restriktionen ausgesetzt war, reagierte Argula von Grumbach, die sich vorher an das Schweigegebot gebunden gefühlt hatte:138 Sie adressierte ein langes, anschließend gedrucktes Sendschreiben an die Universität, das ihre fundierte Bibelkenntnis ausweist und in dem sie sich für Glaubensfreiheit und die Verbreitung des Gottesworts aussprach. Zunächst erhielt sie keine Antwort.139 1524 wurde ihr ein anonymes, später gedrucktes Gedicht in Knittelversen zugestellt. Ein Student verhöhnte darin den Sendbrief einer Frau, die sich anmaße, in eine Männerdomäne einzudringen. Ich biete Ihnen eine Kostprobe – erinnern Sie sich an die Empfehlung, die Esclarmonde von Foix erhielt, nämlich, an ihren Spinnrocken zurückzukehren: So stell ab dein Muet und guet Dunckel / und spinn dafuer an einer Kunckel / Oder strick hauben und wirck Borten / Ein Weyb solt nit mit Gottes worten / Stoltzieren und die Männer leren / Sonder mit Madalen zu hoeren.140 Der Frau wird also die klassische Betätigung der Textilherstellerin empfohlen, Maria Magdalena lediglich als Zuhörerin genannt. Daß die Spinnstuben ein Gesprächs- und Treffpunkt für Frauen waren, hatte der Theologiestudent nicht bedacht, die Legende Maria Magdalenas war ihm nicht bekannt. Trotzdem konnte er einen Erfolg verbuchen: Nach 1524 publizierte Argula von Grumbach keine theologischen Schriften mehr.

136

Vgl. die Artikel über Argula von Grumbach und Katharina Zell in: ROBERT STUPPERICH, Reformatorenlexikon, Gütersloh 1984, S. 90f. u. 224f.; BARBARA BECKER-CANTARINO, Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau und Literatur (1500–1800), Stuttgart 1987, S. 96–110; ALBRECHT CLASSEN, Woman Poet and Reformer. The 16th-Century Feminist Argula von Grumbach, Daphnis 20 (1991), S. 167–197; zu Publizistinnen der Reformationszeit vgl. Bausteine zu einer Geschichte des weiblichen Sprachgebrauchs. Forschungsberichte, Projektangebote, Forschungskontexte, Internationale Fachtagung Rostock 1993, hg. von GISELA BRANDT, Stuttgart 1994. 137 CLASSEN [Anm. 135], S. 187 u. 200. 138 ALICE ZIMMERLI-WITSCHI, Frauen der Reformationszeit, phil. Diss. Zürich 1981, S. 91. 139 Ebd., S. 91–95. 140 Zit. nach ebd., S. 96.

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Katharina Zell verteidigte nach ihrer Eheschließung mit dem Reformator Matthäus Zell in einem anschließend veröffentlichten Sendschreiben an den Straßburger Bischof die Priesterehe. Die fertig gedruckten Exemplare der Schrift wurden vom Straßburger Rat beschlagnahmt.141 Sie publizierte später andere theologische Schriften, die z. T. auch als Flugschriften kursierten.142 Zusammen mit ihrem Mann lud sie in ihr Haus die bekanntesten Reformatoren zu theologischen Gesprächen ein. Nach Luthers Auffassung geziemte es sich allerdings nicht für Frauen zu predigen, es sei denn, es handelte sich um eine Notsituation, dann könnten sie regieren, predigen oder taufen.143 Als Matthäus Zell 1548 starb, hielt seine Frau Katharina vor einer großen Menschenmenge die Grabrede für ihren Mann. Dieses Vorgehen sorgte für einiges Aufsehen, weil sie eine Frau war.144 Auch bei der Trauerfeier für ihre Freundin Elisabeth Hecklerin 1562 ergriff sie öffentlich das Wort und würdigte die Tote. Elisabeth Hecklerin war eine Anhängerin Kaspar Schwenckfelds gewesen, deshalb wollte keiner der Straßburger Pfarrer die letzten Worte für sie sprechen. Katharina Zell trug ihr Verhalten einen Verweis des Straßburger Rates ein, in dem ihr Anmaßung vorgeworfen wurde.145 In den nachfolgenden Jahren äußerte sich die »alte und langjährige Kirchenmutter«,146 wie sie sich selbst bezeichnete, immer wieder in theologischen Fragen und verfaßte unter anderem ein weiteres Sendschreiben an die Straßburger Bürgerschaft, eine Auslegung des Vaterunsers und Betrachtungen über zwei Psalmen.147 Aus der Geschichte der Täuferbewegung sind einige Fälle überliefert, in denen berichtet wird, daß Frauen – nach der dort gewählten zeitgenössischen Terminologie – öffentlich ›gepredigt‹ hätten. Es ist anzunehmen, daß theologisch interessierte Frauen es den Männern in dieser historischen Umbruchssituation gleichtun wollten. Als Verkünderinnen des göttlichen Wortes, wie die erwähnten mittelalterlichen Prophetinnen, werden sie sich kaum begriffen haben. In Nürnberg erhob sich am 28. März, dem Ostermontag des Jahres 1524, eine Frau in der Spitalkirche und begann zu predigen.148 Im gleichen Jahr predigten auch einige Lübeckerinnen in der Öffentlichkeit.149 Im österreichischen Windischgraz 141

LIESELOTTE VON ELTZ-HOFFMANN, Kirchenfrauen der frühen Neuzeit, Stuttgart 1995, S. 24–41, hier S. 30. 142 Ebd., S. 31; s. GABRIELE JANCKE, Publizistin – Pfarrfrau – Prophetin. Die Straßburger ›Kirchenmutter‹ Katharina Zell, in: Frauen mischen sich ein, hg. von PETER FREYBE, Wittenberg 1995. 143 MARION KOBELT-GROCH, Aufsässige Töchter Gottes. Frauen im Bauernkrieg und in den Täuferbewegungen (Geschichte und Geschlechter 4), Frankfurt a. M. [usw.] 1993, S. 153; CLASSEN [Anm. 135], S. 188. 144 Vgl. den erhaltenen Text der Grabrede: WALTER HORNING, Das Leichenbegängniß des Reformators M. M. Zell in Straßburg (nach bisher unbenützten Quellen), in: Beiträge zur Kirchengeschichte des Elsasses vom 16.–19. Jahrhundert 7 (1887), S. 49–79, 113–121. 145 ZIMMERLI-WITSCHI [Anm. 140], S. 89. 146 ELTZ-HOFFMANN [Anm. 148], S. 39. 147 Ebd., S. 40f. 148 Hans Denck und die gottlosen Maler von Nürnberg, hg. von D. THEODOR KOLDE, Beiträge zur bayerischen Kirchengeschichte 8 (1901), Heft 1, S. 6. 149 KOBELT-GROCH [Anm. 143], S. 150f.

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ergriffen Anhängerinnen des später hingerichteten Hans Has in Privathäusern und im Spital öffentlich das Wort und übten priesterliche Tätigkeiten aus. Genannt werden die feiste Fleischhackerin, die Kreutzerin und die Gallin. Katharina Kreutter, eine Gerbersfrau aus Mühlhausen, zelebrierte öffentlich die Messe. Nach ihrer Verhaftung im Jahre 1526 sagte sie aus, Heinrich Pfeiffer, der 1525 zusammen mit Thomas Müntzer vor den Toren Mühlhausens hingerichtet worden war, habe sie in der Lehre unterwiesen: »Sie sei es also vom Pfeiffer gelernt. Des hab sie sich also gehalten.«150 Die Frau des Caspar Teuscher, die zu den ›Zwickauer Propheten‹ gehörte, soll nicht nur an öffentlichen Plätzen, sondern einmal von einer Kanzel herunter gepredigt haben.151 1525 hielt in Mühlhausen die ›Goltschmeden‹ in Curt Schmedes Haus die Messe und predigte vor anderen Frauen.152 Die Tochter des Schneiders Georg Thom Berge ergriff im Gewölbe des Hauses von Bernhard Swerthen vor einer großen Volksmenge »mit wunderbarer Gewandtheit das Wort«.153 MARION KOBELT-GROCH fand heraus, wie in Württemberg Frauen behandelt wurden, die Wiedertäuferinnen bleiben wollten, während ihre Männer dem ›rechten Glauben‹ anhingen: Juristen und Theologen empfahlen in ihrem Gutachten zur Täuferordnung die bewährte Gepflogenheit, diese Frauen in ihrem Hause an eine Kette zu legen und von Ehemann und Amtspersonen beaufsichtigen zu lassen.154 Auch wenn Frauen in der Täuferbewegung theoretisch die gleichen Mitspracherechte wie Männer hatten, führten sie in der Praxis nur in seltenen Fällen Heiraten, Kommunionen oder die Taufe von Erwachsenen durch – wahrscheinlich weil die überkommenen Vorstellungen vom Redeverbot der Frauen weiterhin existierten.155

Ausblick Frauen sollen keine Priester werden, denn das ist den Männern vorbehalten. Jesus ist auch ein Mann gewesen. (Magdalena Brodar, Adelepsen) Die Frauen sollen die Männerkirche nicht in eine Frauenkirche verwandeln, sondern in eine Menschenkirche. Wenn Frauen zurückgestellt werden, nur weil sie weiblich sind und nicht die passenden Gene haben, dann ist das absolut unverantwortlich. (Anne Matner, Hannover)156

Werfen wir noch einen Blick in die Neuzeit. Wie die beiden oben wiedergegebenen Zitate aus Leserbriefen an die Zeitschrift ›Weltbild‹, die im Januar 1997 veröffentlicht wurden, zeigen, bietet das Thema ›Priestertum der Frau‹ weiterhin 150

Zit. nach KOBELT-GROCH [Anm. 143], S. 150, zu Heinrich Pfeiffer s. auch S. 147. Ebd. 152 GERHARD GÜNTHER, Müntzer und die Täufer. Zur Frage: Hat Müntzer die Glaubenstaufe praktiziert?, Mennonitische Geschichtsblätter 47/48 (1990/91), S. 38–48, hier S. 47, Anm. 17. 153 KOBELT-GROCH [Anm. 143], S. 159. 154 MARION KOBELT-GROCH, Frauen in Ketten. »Von widertauferischen weibern, wie gegen selbigen zu handlen«, Mennonitische Geschichtsblätter 47/48 (1990/91), S. 49–70. 155 KOBELT-GROCH [Anm. 143], S. 159 und 162. 156 Zitate aus Leserbriefen an die Zeitschrift ›Weltbild‹, Nr. 3 (1997), S. 11. 151

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Stoff für kontroverse Diskussionen. Die Schreiberin der ersten Meinungsäußerung argumentiert traditionell im Sinne des kirchlichen Dogmas, demgemäß nur Männer Priester werden können. Das zweite Beispiel verweist auf Tendenzen, dieses Dogma in Frage zu stellen und sich für eine Beteiligung von Frauen an der christlichen Verkündigung einzusetzen. Im Zusammenhang mit dem 2. Vatikanischen Konzils (1962–1965) kritisierten mehrere Theologinnen in Form von Konzilseingaben den Ausschluß der Frauen vom Priestertum und forderten öffentlich den Zugang zu allen Ämtern. Als Reaktion darauf veröffentlichte die Vatikanische Kongregation für die Glaubenslehre im Jahre 1977 die Erklärung ›Zur Frage der Zulassung von Frauen zum Priesteramt‹ (Inter Insigniores). Darin wurde die bisherige Ausschlußpraxis »aus Treue zum Vorbild des Herrn« mit Argumenten bekräftigt, von denen Ihnen besonders das erste bekannt vorkommen wird: »Jesus habe keine Frau unter die zwölf Apostel berufen.« Weiter hieß es, die apostolische Gemeinde sei dem Verhalten Jesu in der Folgezeit treu geblieben. Der Priester repräsentiere in seinen spezifischen Funktionen Christus, den Mann, er müsse deshalb männlichen Geschlechts sein. Männer und Frauen hätten verschiedene Dienste in der Kirche, die nicht vermischt werden dürften.157 Diese Argumentation wurde in zwei Apostolischen Schreiben zum Priestertum der Frau von Johannes Paul II. aus dem Jahre 1988 beibehalten. Patriarch Dimitrios I. formulierte 1989 in einem Rundschreiben im Namen der orthodoxen Amtskirche einen ähnlich abschlägigen Entscheid, in dem es heißt, die Weihe von Frauen zu Priestern oder Bischöfen sei unzulässig, da in der Nachfolge der Apostel jedes kirchliche Amt außer dem der Diakonin Männern vorbehalten sei.158 KARL RAHNER sieht im Ausschluß der Frauen vom Priesteramt hingegen das Ergebnis eines historischen Prozesses, der nicht für alle Zeiten Gültigkeit haben muß. Er schreibt: »Für das Verhalten Jesu und seiner Apostel genügt zur Erklärung das damalige kulturelle und gesellschaftliche Milieu, in dem sie handelten und so handeln mußten, wie sie gehandelt haben, ohne daß ihr Verhalten eine normative Bedeutung für alle Zeiten haben muß, also auch dann, wenn und soweit sich dieses kulturelle und gesellschaftliche Milieu wesentlich gewandelt hat. Daß das faktische Verhalten Jesu und der Apostel eine Norm göttlicher Offenbarung im strengen Sinn des Wortes impliziert, scheint nicht bewiesen zu sein. Diese Praxis (auch wenn sie lange und unangefochten bestand) kann durchaus als ›menschliche‹ Überlieferung verstanden werden, wie andere Traditionen in der Kirche, die einmal unangefochten gegeben waren, lange bestanden und dann doch durch einen gesellschaftlichen und kulturellen Wandel obsolet wurden.«159 157

IDA RAMING [Anm. 32], S. 328. Ebd., S. 329. 159 KARL RAHNER, Priestertum der Frau?, in: Stimmen der Zeit, Bd. 195, Freiburg i. Br. 1977, S. 291–301, hier S. 299. 158

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In den protestantischen Kirchen nimmt die Anzahl von Pfarrerinnen inzwischen zu. Ende der Achtziger Jahre hatten sie 11,9% der Pfarrämter inne. 1989 wurde in den USA, gegen den Widerspruch der römisch-katholischen und der orthodoxen Kirche, Barbara Harris zur Bischöfin geweiht. In Deutschland wurde im gleichen Jahr von der Synode des altkatholischen Bistums der Zugang der Frauen zum Priesteramt befürwortet. 1992 stimmte die anglikanische Kirche mit einer Mehrheit von zwei Stimmen der Priesterweihe von Frauen zu.160 Ende Juli, Anfang August 1997 wurde in Deutschland die Zulassung von Frauen zum Diakonat von Mitgliedern der katholischen Kirche erneut diskutiert. Zum Thema äußerte sich gegenüber der Presse u. a. HANS JOACHIM MEYER, der Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken. Er sprach sich für die »baldige Einführung eines Frauendiakonats in der katholischen Kirche« aus. »Die Diakonenweihe sei für ihn aber nur ein Schritt auf einem Wege, an dessen Ende das Priestertum für Frauen stehen müsse«, da die Stellung der Frau in der katholischen Kirche »absolut unbefriedigend« sei.161 Die Mitglieder der katholischen Kirche verehren zur Zeit 32 Kirchenlehrer, die sich durch Rechtgläubigkeit, Heiligkeit des Lebens oder eine hervorragende wissenschaftliche Leistung auszeichneten. 1970 erhob Papst Paul VI. Katharina von Siena und Teresa von Avila zu Kirchenlehrerinnen, am 19. Oktober 1997 wurde Therese von Lisieux von Papst Johannes Paul II. zur Kirchenlehrerin ernannt. Die Deutsche Bischofskonferenz setzt sich zur Zeit dafür ein, Hildegard von Bingen, die bisher allerdings noch nicht offiziell heiliggesprochen ist, mit diesem Titel zu ehren.162

Weitere Literatur zum Thema – ein Anspruch auf Vollständigkeit wird nicht erhoben: ARNOLD ANGENENDT, »Mit reinen Händen«. Das Motiv der kultischen Reinheit in der abendländischen Askese, in: Herrschaft, Kirche, Kultur. Beiträge zur Geschichte des Mittelalters, Festschrift für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag, hg. von GEORG JENAL, unter Mitarbeit von STEPHANIE HAARLÄNDER (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 37), Stuttgart 1993, S. 297–316. ULRICH ANDERMANN, Zur Erforschung mittelalterlicher Kanonissenstifte. Aspekte zum Problem der weiblichen vita canonica, in: Geistliches Leben und standesgemässes Auskommen. Adlige Damenstifte in Vergangenheit und Gegenwart (Kraichtaler Kolloquien 1), hg. vom KURT ANDERMANN, Tübingen 1998, S. 11–42. ULRICH ANDERMANN, Die unsittlichen und disziplinlosen Kanonissen. Ein Topos und seine Hintergründe, aufgezeigt an Beispielen sächsischer Frauenstifte (11.–15. Jh.), Westfälische Zeitschrift 146 (1996), S. 39–63, hier S. 41–45. 160

IDA RAMING [Anm. 32], S. 329f. Pressemitteilung Frankfurt a. M. (AP) vom 27.7.1997. 162 ROLAND KRABBE, Was ist ein Kirchenlehrer?, in: Weltbild, Nr. 21 (1997), S. 12f. 161

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ANNE BOLLMANN, »Apostolinne van gode gegeven«. Die Schwestern vom gemeinsamen Leben als geistliche Reformerinnen in der Devotio moderna, in: Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History, Festschrift für Berndt Hamm zum 60. Geburtstag, hg. von GUDRUN LITZ [u. a.], Leiden [usw.] 2005, S. 131–144, hier S. 142. THOMAS BRAKMANN, Ein Geistlicher Rosengarten. Die Vita der heiligen Katharina von Siena zwischen Ordensreform und Laienfrömmigkeit im 15. Jahrhundert. Untersuchungen und Edition, Frankfurt a. M. [usw.] 2011, hier Abb. 21, S. 337: Katharina von Siena unterweist vier Frauen (aus Paris, B.N., Ms. allemand 34, fol. 115r). ANDREW CAIN, The Letters of Jerome, Asceticism, Biblical Exegesis, and the Construction of Christian Authority in Late Antiquity, New York 2009. HANS FÖRSTER (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen II. Transitus Mariae. Beiträge zur koptischen Überlieferung. Mit einer Edition von P. Vindob. K 7589, Cambridge Add 1876 8 und Paris BN Copte 12917 ff. 28 und 29 (Die Griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte N.F. 14), Berlin [usw.] 2006, S. 186–207. CHRISTINE GERBER [u. a.] (Hg.), Unbeschreiblich weiblich? Neue Fragestellungen zur Geschlechterdifferenz in den Religionen, Theologische Frauenforschung in Europa 26, Berlin [usw.] 2011. ANDREA VERENA GLANG-TOSSING, Maria Magdalena in der Literatur um 1900. Weiblichkeitskonstruktion und literarische Lebensform, Berlin 2013. BRITTA-JULIANE KRUSE, Innere Einkehr, äußere Ordnung. Verhaltensregeln für Inklusen aus einem spätmittelalterlichen Rapiarium, in: Mertens lesen. Exemplarische Lektüren für Volker Mertens zum 75. Geburtstag, hg. von MONIKA COSTARD [u. a.], Göttingen 2012, S. 68–88, hier S. 77f. MICHEL LAUWERS, »Noli me tangere«. Marie Madeleine, Marie d’Oignies et les pe´nitentes du XIIIe sie`cle, Me´langes de l‘Ecole franc¸aise de Rome 104 (1992), pp. 209–268, hier S. 245–250. TANJA MATTERN, Literatur der Zisterzienserinnen. Edition und Untersuchung einer Wienhäuser Legendenhandschrift, Tübingen/Basel 2011, S. 270f. (Darstellung Maria Magdalenas als »Apostelin« auf dem Nonnenchor des Klosters Wienhausen). GISELA MUSCHIOL, Liturgie und Klausur: Zu den liturgischen Voraussetzungen von Nonnenemporen, in: Studien zum Kanonissenstift (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 24), hg. von IRENE CRUSIUS, Göttingen 2001, S. 129–148, hier S. 135–138. BARBARA NEWMAN, Die visionären Texte und visuellen Welten religiöser Frauen, in: Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern, hg. von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, und dem Ruhrlandmuseum Essen, München 2005, S. 104–117. JOHANNES SCHLAGETER OFM: Frauen im kirchlichen Amt? Stellungnahmen von Bonaventura und Johannes Duns Scotus sowie Kommentar und Bewertung, in: Wissenschaft und Weisheit. Franziskanische Studien zu Theologie, Philosophie und Geschichte 76 (2013), S. 40–59. ANDREA ROTTLOFF, »Stärker als Männer und tapferer als Ritter«. Pilgerinnen in Spätantike und Mittelalter (Kulturgeschichte der antiken Welt 115), Mainz 2007, hier S. 93–108. LUISE SCHOTTROFF [u. a.] (Hg.): Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 1998, S. 551, 747, 753, 797.

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GABY SIGNORI, Ohnmacht des Körpers – Macht der Sprache. Reklusion als Ordensalternative und Handlungsspielraum für Frauen, in: Frauen zwischen Anpassung und Widerstand. Beiträge der 5. Schweizerischen Historikerinnentagung (Schweizerische Tagung für Geschlechtergeschichte 5), hg. von REGULA LUDI [u. a.], Zürich 1990, S. 25–42, hier S. 28, 32 (apostolische Aktivitäten der Klausnerinnen). PETER STROHSCHNEIDER, Religiöses Charisma und institutionelle Ordnungen in der Ursula-Legende, in: Institution und Charisma, Festschrift für Gert Melville zum 65. Geburtstag, hg. von FRANZ J. FELTEN [u. a.], Köln [usw.] 2009, S. 571–588. VERA VON DER OSTEN-SACKEN, Jakob von Vitrys »Vita Mariae Oigniacensis«. Zu Herkunft und Eigenart der ersten Beginen, Göttingen 2010, hier S. 34f., 108, 158–165 (Verkündigung von Frauen). VIVIANA VANNUCCI, Maria Magdalena. Storia e iconografia nel Medioevo dal III al XIV secolo, Rom 2012. MAIKE WEISS/ALEXANDER WEISS, Giftgefüllte Nattern oder heilige Mütter. Frauen, Frauenbilder und ihre Rollen in der Verbreitung des Christentums, Münster 2005, hier S. 19– 47, 118–136. SUZANNE F. WEMPLE, Women in Frankish Society. Marriage and the Cloister, 500 to 900, Philadelphia 1996, hier S. 136–148.

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Abb. 1: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 105 Noviss. 2°, Evangeliar Heinrichs des Löwen, fol. 171r: »Maria Magdalena verkündet den Aposteln die Auferstehung Christi« (Io 20,11ff.).

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Abb. 2: Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. germ. fol. 245, fol. 75r: »Maria Magdalena predigt den Ungläubigen«.

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Abb. 3: St. Annen-Museum für Kunst- und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck, Maria Magdalenen-Altar der Lübecker Bruderschaft der Schneider: »Maria Magdalena predigt in Marseille vor dem Fürstenpaar und kritisiert den Götzendienst«.

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Abb. 4: St. Annen-Museum für Kunst- und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck, Maria Magdalenen-Altar der Lübecker Bruderschaft der Schneider: »Maria Magdalena verabschiedet das Fürstenpaar, das zu Schiff zur Pilgerfahrt nach Rom aufbricht«.

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Abb. 5: St. Annen-Museum für Kunst- und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck, Maria Magdalenen-Altar der Lübecker Bruderschaft der Schneider: »Maria Magdalena setzt vor ihrer Abreise nach Aix ihren Bruder Lazarus als Bischof ein«.

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Abb. 6: St. Annen-Museum für Kunst- und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck, Chormantel (M 25) aus dem Paramentenschatz: »Maria Magdalena erscheint dem Fürstenpaar von Marseille mahnend im Traum«.

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Abb. 7: Martha-Altar der St. Lorenz-Kirche in Nürnberg, anonym, frühes 16. Jh.: »Die heilige Martha bändigt den Drachen Tarasque«.

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Das Predigtwesen im Karmeliterorden Predigten in Handschriften aus dem Karmeliterkloster Boppard1

1. Die Karmeliter im Mittelalter Neben den Dominikanern, Franziskanern und Augustiner-Eremiten bildeten die Karmeliter im Mittelalter den vierten großen Bettelorden. Der Karmeliterorden entstand im späten 12. Jahrhundert im Heiligen Land. Kleine Gruppen von Einsiedlern aus Europa, die auf dem Berg Karmel lebten, erhielten um 1207 von Albert von Vercelli, Patriarch von Jerusalem (1206–1214) eine Regel, die ihre weitgehend anachoretische Lebensweise bestätigte. Der Berg Karmel hatte für diese Einsiedler eine besondere Bedeutung, da, der Überlieferung nach, der Prophet Elias hier als Einsiedler gelebt haben soll. Einsiedler, die der Regel des Albertus folgten, gab es nicht nur auf dem Berg Karmel, sondern auch in anderen Teilen des heutigen Israel, in Syrien und im Libanon.2 Als die Kreuzfahrer ihre Positionen während des 2. Viertels des 13. Jahrhunderts allmählich aufgeben mußten, konnten auch die Einsiedler auf dem Berge Karmel sich nicht länger behaupten. Sie zogen zunächst nach Cyprus und anschließend zum europäischen Festland. Als sie sich in Frankreich, Italien und Deutschland niederlassen wollten, bemerkten sie, daß eine anachoretische Lebensführung wegen des Erfolgs der inzwischen gegründeten Bettelorden nicht mehr zeitgemäß erschien. Unter der inspirierenden Leitung des aus England stammenden Prior-Generals Simon Stock (1245–1265) versuchten sie, sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Ihre Bemühungen blieben nicht ohne Erfolg. Im Jahre 1247 wurde ihre neue Regel vom Papst Innozenz IV. (1243–1254) 1

Vortrag, gehalten am 26. Juni 1995 am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin. Für Korrekturen und Anregungen danke ich meinem Kollegen Peter Jörg Becker recht herzlich. 2 Zu Frühgeschichte und Spiritualität des Karmeliterordens s. MAX HEIMBUCHER, Die Orden und Kongregationen der katholischen Kirche, Bd. 2, 3. großenteils neub. Aufl., München [usw.] 1933 (Nachdr. Aalen 1965), S. 54–84; MELCHIOR DE SAINTE-MARIE, Carmel, DHGE XI, Sp. 1070– 1104; H. J. SCHMIDT, Karmeliter, LexMa V, Sp. 998–1000; JOACHIM SMET/ULRICH DOBHAN, Die Karmeliten. Eine Geschichte der Brüder U. L. Frau vom Berge Karmel [1]. Von den Anfängen (ca. 1200) bis zum Konzil von Trient, Freiburg i. Br. [usw.] 1981, S. 15–98. Zur historischen Selbstdarstellung des Ordens s. KASPAR ELM, Elias, Paulus von Theben und Augustinus als Ordensgründer. Ein Beitrag zur Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung der Eremiten und Bettelorden des 13. Jahrhunderts, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im Späten Mittelalter, hg. von HANS PATZE (Vorträge und Forschungen 31), Sigmaringen 1987, S. 371–397, bes. 379–384; EMANUELE BOAGA, La storiografia carmelitana dei secoli XIII e XIV, in: The Land of Carmel. Essays in honor of Joachim Smet, O.Carm., hg. von PAUL CHANDLER u. KEITH J. EGAN, Rom 1991, S. 125–154.

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zugelassen und bestätigt. Diese Regel verwandelte einen Orden von Einsiedlern in einen Bettelorden. Nach dem Muster der Dominikaner und Franziskaner erhielten sie die Erlaubnis zu betteln, zu predigen, Niederlassungen in den Städten zu gründen, Kirchen zu bauen, seelsorgerische Aufgaben zu übernehmen und studia einzurichten. Auf diese Weise gingen sie in ganz Europa vor, wenn auch nicht so erfolgreich wie die Dominikaner und Franziskaner. Gegenüber diesen beiden Orden sind sie, wie die Augustiner-Eremiten, zu spät gekommen und verhältnismäßig klein geblieben. Obwohl Simon Stock bereits 1247 und 1253 die ersten Karmeliter an die Universitäten von Cambridge und Oxford sandte, spielten sie zwar eine gewisse Rolle in den theologischen Auseinandersetzungen des 13. und 14. Jahrhunderts, aber sicher keine so wichtige wie die Dominikaner und Franziskaner.3 Innerhalb des Ordens gab es eine ständige Tendenz zur Rückkehr zu den eremitischen Grundprinzipien, zu der auf dem Berge Karmel praktizierten Lebensweise. Es gab immer eine Minderheit, die meinte, daß man das Studium der Theologie und die Seelsorge besser den anderen Bettelorden überlassen sollte und daß die Karmeliter ein kontemplatives, schweigendes Leben führen sollten, auch in ihren städtischen Niederlassungen. Besonders in England haben einige Klöster versucht, sich in diese Richtung weiterzuentwickeln. Erst im 16. Jahrhundert hat sich diese Tendenz durchsetzen können, zunächst in Spanien, später im ganzen Orden. Unter dem Einfluß von Mystikern und Reformatoren wie Theresa von Avila und Johannes vom Kreuz ist der Karmeliterorden tatsächlich ein kontemplativer Orden geworden. Mystik und Meditation sind den Karmelitern heute sehr wichtig, weit wichtiger als Predigt, Unterricht und Forschung. Wer heute mediävistische Studien betreibt, begegnet auf seinem Weg zahlreichen Dominikanern und Franziskanern, aber nur selten Karmelitern.4

3

Die wichtigsten Karmeliter-Autoren des 14. Jahrhunderts werden behandelt in BARTHOLOMAEUS MARIA XIBERTA, De scriptoribus scholasticis saeculi XIV ex ordine Carmelitarum (Bibliothe`que de la Revue d’histoire eccle´siastique 6), Löwen 1931. Über die Stellung der Karmeliter an den Universitäten im Mittelalter s. FRANZ-BERNARD LICKTEIG, The German Carmelites at the Medieval Universities (Textus et studia historica Carmelitana 13), Rom 1981, passim. 4 JOACHIM SMET ist ein amerikanischer Karmeliter, der sich mit einer Monographie über die Geschichte seines Ordens um die Historiographie verdient gemacht hat (s. Anm. 2). Weitere Ordensangehörige, die in unserem Jahrhundert als Mediävisten tätig sind (oder gewesen sind), sind Rudolf van Dijk, Franz-Bernard Lickteig (s. Anm. 3), Titus Brandsma, E´lise´e de la Nativite´, Marie-Joseph du Sacre´-Coeur, Norbertus a Sancta Juliana, Benoit-Marie de la Sainte-Croix, Bartholomaeus Maria Xiberta (s. Anm. 3), Gabriel Wessels (s. Anm. 10 u. 41) und Gondulf Metsers.

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2. Studium und Lehre bei den Karmelitern im Deutschen Reich Die Karmeliterklöster im Deutschen Reich waren seit 1324 über drei Provinzen verteilt: Niederdeutschland (Alemania inferior), Oberdeutschland (Alemania superior) und Sachsen (Saxonia). Die Provinz Niederdeutschland, auf welche wir uns in diesem Beitrag beschränken werden, umfaßte etwa die heutigen Bundesländer Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Rheinland-Pfalz wie auch den nördlichen Teil von Baden-Württemberg, die Niederlande und Flandern. Innerhalb dieser Provinz gab es bis 1506 35 Klöster, mehr als die Hälfte davon im Mittelrheingebiet, in Flandern und in den westlichen Niederlanden. Die ältesten Niederlassungen dieser Provinz existierten in Köln (gegründet um 1252), Boppard (1265), Brüssel (1265), Frankfurt am Main (1265), Weinheim, Mecheln, Haarlem (alle vor 1270), Mainz, Speyer und Kreuznach (alle 1281).5 Das 14. Jahrhundert war in jeder Hinsicht die Blütezeit des Karmeliterordens. Führende Köpfe dieser Periode waren Gerhard von Bologna (um 1240/50–1317), Johannes Baconthorp (gest. um 1348), Sibert von Beek (um 1260/70–1332), Michael von Bologna (gest. 1400) und Johannes von Hildesheim (um 1310/20– 1375).6 Das 15. Jahrhundert, besonders die erste Hälfte, wird in der Historiographie des Ordens als eine Periode der Stagnation und der Vernachlässigung der Observanz betrachtet. Der Orden wuchs noch, aber langsamer als vorher. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gab es erfolgreiche Reformbemühungen in Norditalien, Frankreich und Flandern, aber die Klöster im Mittelrheingebiet ließen sich zu dieser Zeit noch kaum reformieren.7 Wie die Dominikaner und die Franziskaner hatten auch die Karmeliter ein ausgewogenes Unterrichtssystem aufgebaut. Im Jahre 1281 hatten sie ein studium in Paris gegründet, wohin die begabtesten Studenten aus jeder Ordensprovinz geschickt wurden, um Logik, Philosophie und Theologie zu studieren. Auch im Kölner Karmeliterkloster wurde 1294 ein studium eingerichtet. Im Laufe des zweiten Viertels des 14. Jahrhunderts wurden weitere studia in verschiedenen anderen Klöstern der niederdeutschen Provinz aufgebaut. Das studium in Köln wurde 1321 ein studium generale für die ganze Ordensprovinz, das 1391, nur drei Jahre nach der Gründung der Universität Köln, in die Universität inkorporiert wurde.8

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LICKTEIG, German Carmelites [Anm. 3], S. 31, 35–38 u. ‘Figure II’ (nach S. 111). Zur Geschichte der einzelnen Klöster s. HEINRICH HUBERT KOCH, Die Karmeliterklöster der Niederdeutschen Provinz, Freiburg i. Br. 1888. 6 Zu diesen Autoren u. ihren Werken s. SMET, Die Karmeliten [Anm. 2], S. 83–98; XIBERTA, De scriptoribus [Anm. 3], passim. 7 SMET, Die Karmeliter [Anm. 2], S. 83–98; JOACHIM SMET, Pre-Tridentine Reform in the Carmelite Order, in: Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen (Berliner Historische Studien 14; Ordensstudien 6), hg. von KASPAR ELM, Berlin 1989, S. 293–323. 8 Vgl. LICKTEIG, German Carmelites [Anm. 3], S. 27–34, 223–225, 228–231; SMET, Die Karmeliter [Anm. 2], S. 56–59.

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Ein junger, intelligenter Karmeliter studierte im Spätmittelalter zunächst einige Jahre im studium seines Klosters. Falls sein Kloster nicht über ein studium verfügte, wurde er in ein anderes Kloster innerhalb seiner Provinz versetzt. Die besten Studenten aus jedem studium gingen anschließend für drei Jahre nach Köln, und von Köln aus wurden einige Studenten nach Paris gesandt, um Theologie zu studieren. Den Doktortitel erwarben dort nur ganz wenige Karmeliter. Diejenigen, die in Köln oder Paris studiert hatten, gingen zurück in die Klöster ihrer Ordensprovinz, wo sie als cursor, lector sententiarum oder als lector theologiae tätig wurden.9 Aus dem Kreis der Lektoren wurden die Prioren und die übrigen Führungskräfte des Ordens rekrutiert.

3. Das Predigtwesen im Karmeliterorden Zu welchen Anlässen und für welches Publikum predigten die Karmeliter? Zum einen predigten sie ad populum. Das Generalkapitel vom Jahre 1399 bestätigte, daß jeder Karmeliter mindestens ein Jahr lang für die Gläubigen predigen sollte. Sie predigten ad populum in ihren Klöstern, aber auch in den Termineien und Pfarrkirchen im Umland.10 Die Predigt gehörte zur Seelsorge, genauso wie die Verabreichung der Sakramente. Es gibt sogar Berichte, daß Karmeliter auch Zyklen von Fastenpredigten ad populum gehalten haben. Auch die Karmeliterstudenten in Köln hatten die Verpflichtung, für das Volk zu predigen. Zu diesem Zweck gab es Verbindungen des dortigen Karmeliterklosters mit einigen Kölner Pfarrkirchen. Die gleiche Verpflichtung zur Predigt ad populum galt auch für die Lektoren. Wenn sie ihr Lektorat nicht verlieren wollten, mußten sie regelmäßig für das Volk predigen. In diesen Fällen geht es selbstverständlich um Predigten in der Volkssprache.11 Zum anderen predigten die Karmeliter ad clerum, für die eigenen Klosterangehörigen, nicht nur während der Konventsmessen, sondern auch als Teil der Aus- und Weiterbildung der Brüder sowie zur Belehrung und Erbauung. Eine besondere Rolle hatten auch hier die Lektoren, aber sie waren nicht die einzigen, die für ihre Mitbrüder predigten. Predigten ad clerum wurden im Prinzip auf lateinisch gehalten, aber eine Klausel in den Kapitelsakten, nach welcher Predigten dieser Art wenn möglich auf lateinisch gehalten werden sollten, verdeutlicht, daß dies nicht immer der Fall war.12 9

Der cursor war zuständig für den einführenden Bibelunterricht der Klosterangehörigen; der lector sententiarum lehrte über die vier Bücher der ›Sententiae‹ des Petrus Lombardus (das grundlegende Handbuch des theologischen Elementarwissens); der lector principalis (auch lector regens oder lector schlechthin genannt) war mit dem tiefergehenden Theologieunterricht und mit den disputationes in den Ordensstudia beschäftigt; s. dazu LICKTEIG, German Carmelites [Anm. 3], S. 53, 62–63, 69–71, 240–241. 10 Acta Capitulorum generalium ordinis fratrum B.V. Mariae de Monte Carmelo 1: Ab anno 1318 usque ad annum 1593, hg. v. GABRIEL WESSELS, Rom 1912, S. 123f. 11 LICKTEIG, German Carmelites [Anm. 3], S. 71f., 171 u. 289. 12 Ebd., S. 45 u. 63.

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Ein drittes, besonderes Publikum innerhalb der Provinz Niederdeutschland bildeten die Angehörigen der Kölner Universität. Die vier Bettelorden hatten die Universitätspredigten auf die Vigilien der wichtigen Feste des Kirchenjahres festgelegt und untereinander verteilt. Den Karmelitern waren die Vigilien von drei Marienfesten, und zwar Mariä Lichtmeß, Mariä Himmelfahrt und Mariä Geburt zugefallen. Diese Predigten wurden von für das Lektorat auszubildenden Karmeliterstudenten gehalten. Die Universitätspredigten waren für die dazu auserwählten Studenten sozusagen Teil des akademischen Curriculums.13 Wie wichtig diese Predigten für die predigenden Studenten einerseits und für die akademische Gemeinschaft andererseits waren, ist heute kaum einzuschätzen, aber man darf vermuten, daß die Prediger zu diesen Anlässen ihr Bestes gegeben haben.

4. Predigten in Handschriften aus dem Karmeliterkloster in Boppard Predigten ad clerum Das Karmeliterkloster in Boppard, eines der ältesten in der Provinz Niederdeutschland des Karmeliterordens, wurde 1265 gegründet. Aus den Akten des Provinzialkapitels ergibt sich, daß das Kloster 1430 33 Brüder zählte. In der Bibliothek waren in diesem Jahr 121 Bücher vorhanden. Im Jahre 1443, dreizehn Jahre später, war die Zahl der Bücher bis auf 148 angewachsen.14 Es ist nicht nachweisbar, ob in diesen Zahlen auch die Bücher, die den Brüdern in ihren Zellen aufbewahrten, inbegriffen sind. Wie in den übrigen Bettelorden üblich, konnten auch die Karmeliter Bücher, die sie selber geschrieben oder erworben hatten, oder Bücher, die sie für ihre Tätigkeit als Prediger oder Lehrer brauchten, dauernd bei sich behalten.15 Vermutlich geht es bei den in den Kapitelsakten genannten Zahlen nur um Bücher, die in der Klosterbibliothek vorhanden waren. Innerhalb der niederdeutschen Ordensprovinz lagen sowohl die Zahl der Bücher als der Ordensbrüder des Klosters Boppard leicht über dem Durchschnitt. Die Bibliotheken der Karmeliterklöster in Köln, Trier, Brüssel, Speyer und Mecheln waren jedoch erheblich größer.16 13

Ebd., S. 63, 102, 254 u. 262. HENRICUS G.J. LANSINK, Studie en onderwijs in de Nederduitse Provincie van de Karmelieten gedurende de middeleeuwen, Nimwegen 1967, S. 308f. 15 Vgl. KENNETH WILLIAM HUMPHREYS, The book provisions of the mediaeval Friars 1215–1400 (Safaho monographs, 1), Amsterdam 1964, passim. Daß die Bopparder Karmeliter tatsächlich Bücher für sich selbst schrieben und erwarben und daß sie Bücher verschenken oder testamentarisch vermachen konnten, belegen die einschlägigen Vermerke in den Handschriften; s. dazu E.A. OVERGAAUW, Johannes de Nova Domo de Moguntia und Siffridus de Nuremberga. Zwei freimütige Karmeliter als Bücherschreiber (1426–1438), in: Ex codicibus impressisque. Festschrift für Elly Cockx-Indestege, hg. von FRANS HENDRICKX [u. a.] Bd. 1. Leuven 2004, S. 165– 187. 16 Wie Anm. 14. Die Handschriftenbestände der mittelalterlichen Karmeliterbibliotheken der niederdeutschen Provinz sind noch wenig erforscht. Zu den Handschriften aus dem Kloster in Frank14

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Wieviele Handschriften und gedruckte Bücher bei der Aufhebung des Bopparder Klosters im Jahre 1802 vorhanden waren, ist nicht bekannt. Über die Zusammensetzung der Bibliothek zu dieser Zeit wissen wir überhaupt nichts. Wie zu Säkularisierungszeiten üblich, hatten die Bücher ein unsicheres Schicksal, bevor sie an ihren heutigen Aufbewahrungsort gelangten.17 Mit Sicherheit ist das eine oder andere gestohlen worden oder verloren gegangen. Heute kennen wir immerhin 75 mittelalterliche Handschriften aus der Bibliothek dieses Klosters. 67 davon, also weitaus die meisten, befinden sich im Landeshauptarchiv Koblenz, sechs in der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn und je eine in der Staatsbibliothek zu Berlin und in der Stadtbibliothek Nürnberg.18 Abgesehen von einigen liturgischen Codices geht es hier um theologische, juristische und philosophische Handschriften, meist Sammelhandschriften, fast alle auf Papier, fast alle aus dem späten 14. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts.19 Mit Ausnahme einer Reihe von Homilien sind die großen Kirchenväter überhaupt nicht vertreten.20 Von der vielbesprochenen Marianischen Frömmigkeit der Karmeliter sind keine Spuren in den Bopparder Handschriften nachweisbar. Nur wenige Texte stammen von hochmittelalterlichen, die meisten dagegen von spätmittelalterlichen Autoren. In nicht weniger als 31 der 67 Bopparder Handschriften in Koblenz (und in drei der sechs Handschriften in Bonn) furt/Main s. GERHARDT POWITZ/HERBERT BUCK, Die Handschriften des Bartholomaeusstifts und des Karmeliterklosters in Frankfurt am Main (Kataloge der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main 3,2), Frankfurt/Main 1974, S. XXVII-XXX u. 407–456 (Ms. Carm. 1-Ms. Carm. 38 Nr 1); zur Bibliothek von Hirschhorn s. UTE OBHOF, Zur Geschichte der Bibliothek des ehemaligen Karmeliterklosters Hirschhorn am Neckar, Bibliothek und Wissenschaft 27 (1994), S. 56–148 (nur wenige mittelalterliche Handschriften besprochen). 17 Zur Bibliothek des Bopparder Karmeliterklosters s. CHRISTINA MECKELNBORG, Die nichtarchivischen Handschriften der Signaturengruppe Best. 701 Nr. 1–190, ergänzt durch die im GörresGymnasium Koblenz aufbewahrten Handschriften A, B und C (Mittelalterliche Handschriften im Landeshauptarchiv Koblenz 1), Wiesbaden 1998, S. 11f. 18 Eine Liste der Bopparder Handschriften bietet SIGRID KRÄMER, Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters, Teil 1 (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, Ergänzungsband I, 1), München 1989, S. 95–97, Von den dort erwähnten Handschriften Koblenz, LHA (Landeshauptarchiv), Best. 701, Nr. 175, 218, 231 u. 246 ist die Bopparder Provenienz nicht gesichert. Von den ursprünglich acht Handschriften aus Boppard in der Universitätsbibliothek Bonn (sieben bei KRÄMER) sind zwei nicht mehr vorhanden (S 453 und S 746); zu den in Bonn aufbewahrten Handschriften s. Handschriftencensus Rheinland 2, hg. von GÜNTER GATTERMANN (Schriften der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf 18), Wiesbaden 1993, Nr. 107, 160, 165, 222, 224 u. 225. Die Handschrift Berlin, SBB-PK, Ms. lat. fol. 771 ist beschrieben in FRITZ SCHILLMANN, Verzeichnis der lateinischen Handschriften der Preussischen Staatsbibliothek zu Berlin. Bd. 3: Die Görreshandschriften, Berlin 1919, S. 197–198; die Handschrift Nürnberg, GNM, Hs 89356 in LOTTE KURRAS, Die deutschen mittelalterlichen Handschriften. T. 1: Die literarischen und religiösen Handschriften (Kataloge des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg 1, 1), Wiesbaden 1974, S. 122. 19 Mit ‘Sammelhandschriften’ werden hier sowohl kodikologisch einheitliche Handschriften, in welchen mehrere Texte enthalten sind, als auch Handschriften, die aus mehreren kodikologischen Einheiten (‘Faszikeln’) zusammengesetzt sind, verstanden. 20 Zu diesem Homiliar s. unten, S. 573. Die Werke der Kirchenväter sind, wie es scheint, in den heute noch erhaltenen Handschriftenbeständen aus Mendikantenbibliotheken überhaupt unterrepräsentiert.

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sind einzelne Predigten oder vollständige Predigtreihen überliefert. Außerdem finden wir an zahlreichen Stellen Exempel und Exempelsammlungen, Sprüche, Zitate und weitere Predigtmaterialien sowie Predigtentwürfe. Die Bopparder Handschriften gelangten im frühen 19. Jahrhundert in den Besitz des Königlichen Gymnasiums in Koblenz; sie werden seit 1908 als Depositum des Gymnasiums im dortigen Landeshauptarchiv (dem früheren Königlichen Staatsarchiv) aufbewahrt.21 Wie ist es nun mit der Predigtüberlieferung in den erhalten gebliebenen Handschriften des Karmeliterklosters in Boppard? Zunächst sind einige sehr beliebte Predigtreihen von Nicht-Karmelitern zu erwähnen, wie zum Beispiel die von Berthold von Regensburg, Conradus de Saxonia, Jacobus de Voragine, Jordanus von Quedlinburg, Martinus von Troppau, Peregrinus von Oppeln und Wilhelmus Peraldus.22 Für diese Predigtreihen verzeichnet das Repertorium von JOHANN BAPTIST SCHNEYER und KAEPPELIs Scriptores ordinis Fratrum Praedicatorum (für Autoren aus dem Dominikanerorden) mehrere hundert Handschriften.23 Ziemlich weit verbreitet waren auch die Predigtreihen, die nach ihrem Anfangswort gelegentlich einem (fiktiven) Paratus zugeschrieben wurden. Davon gibt es nach SCHNEYER 23 Handschriften. Von den Sermones, deren Verfasser mit dem Notnamen Sensatus bezeichnet wird, kennt SCHNEYER nicht weniger als 65 Handschriften. Von Johannes Contractus, dessen Predigten ebenfalls bei den Karmelitern in Boppard vorhanden waren, verzeichnet er 17 Handschriften. Von denen des Konrad von Brundelsheim (Soccus), Johannes Herolt (Discipulus), Johannes de Sancto Geminiano, Nicolaus de Aquaevillae, Stephanus Langton, Graeculus, Hugo de Prato Florido, Petrus Remensis und Thomas Brito sind jeweils einige oder sogar mehrere dutzend Codices bis in unsere Zeit erhalten geblieben.24 21

Im LHA Koblenz befinden sich knapp 200 mittelalterliche Handschriften, fast alle aus säkularisierten Klosterbibliotheken des Moselgebiets und vom Mittelrhein. Die erste Hälfte dieser Handschriften wurde 1988–1993 von CHRISTINA MECKELNBORG [Anm. 17] in der Staatsbibliothek zu Berlin bearbeitet, die übrigen Bände 1994–1998 vom Verfasser, ebenfalls in Berlin. 22 Berthold von Regensburg, ›Sermones de Communi sanctorum‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 194, 35r–122v; Conradus de Saxonia, ›Sermones de tempore‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 161, 149ra–160vb (einzelne Predigten); ders., ›Sermones de tempore, de sanctis et de communi sanctorum‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 244, 3r–336r; Jacobus de Voragine, ›Sermones de sanctis‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 161, 82r–99v (einzelne Predigten); ders., ›Sermones de tempore‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 252, 2r–295r; Jordanus von Quedlinburg, ›Sermones de tempore‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 243, 3r–351v; Martinus von Troppau, ›Sermones de sanctis‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 223, 154r–224r; Peregrinus von Oppeln, ›Sermones de sanctis‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 204, 107ra–150va; Wilhelmus Peraldus, ›Sermones de Epistolis dominicarum‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 254, 1ra–144ra; ders., ›Sermones de sanctis et de festis‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 262, 175ra–183vb (einzelne Predigten). 23 JOHANN BAPTIST SCHNEYER, Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters für die Zeit von 1150–1350 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 43, 1–11), Münster 1969–1990; THOMAS KAEPPELI, Scriptores Ordinis Fratrum Praedicatorum 1–3, Rom 1970–1980. 24 Conradus de Brundelsheim, ›Sermones de sanctis‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 184, 1ra–238rb; ›Sermones ‘Corduli’ super Evangelia dominicales‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 260, 3ra–16va

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Daß auch die Bopparder Karmeliter Handschriften mit diesen Predigten in ihrer Bibliothek aufbewahrten, ist also keineswegs überraschend und belegt nichts Wesentliches über ihre Spiritualität oder über das intellektuelle Niveau ihrer Ausbildung. Es handelt sich hier um homiletische Literatur, die eher für die private Lektüre oder das Studium genutzt wurde als zu Predigten im eigentlichen Sinne. Selbstverständlich konnten sie auch als Modell für die Predigten dienen, die die Karmeliter selber halten sollten. Neben diesen weit verbreiteten Predigtreihen besaßen die Bopparder Karmeliter auch einige seltener überlieferte Sermones. Sie besaßen, zum Beispiel, einzelne Predigten aus dem ›Speculum ecclesiae‹ des Honorius von Autun. SCHNEYER kennt davon nur sechs Handschriften.25 Zwölf Codices hingegen kennt KAEPPELI von dem ›Quadragesimale de flagellis peccatorum‹ des Florentiner Dominikaners Leonardus Statii de Datis, der auch in Boppard vertreten ist. Jede Fastenpredigt in dieser Reihe behandelt eine Sünde. Der Aufbau der Predigten ist scholastisch geprägt, Thomas von Aquin und Hugo von Sankt Viktor werden häufig zitiert.26 Verhältnismäßig wenig Handschriften, jeweils weniger als fünfzehn, sind von den ›Sermones de tempore et de sanctis‹ eines Ps.-Albertus Magnus27 und von den Adventspredigten des süddeutschen Franziskaners Konrad Bömlin erhalten geblieben.28 Sehr wenige Handschriften kennen wir von den Evangelienpredigten eines Cordulus (Notname).29 Aus dem Vorhandensein von Predigten der genannten Autoren läßt sich kaum etwas über das geistige Klima bei den Karmelitern in Boppard aussagen. Bemerkenswert ist jedoch, daß die meisten Autoren bereits gestorben waren, als (einzelne Predigten); Graeculus, ›Sermones de tempore‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 203, 1ra–98rb; Hugo de Prato Florido, ›Sermones communes, de virtutibus, de septem vitiis, in Symbolo fidei, in Decalogo praeceptorium‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 239, 1r–220v; einzelne Predigten des Johannes Contractus sind erhalten in den Handschriften Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 194, 200, 212 und 225; Johannes Herolt (Discipulus), ›Sermones super Epistolas dominicales‹: Bonn, ULB, S 730, 12r–145r; Johannes de Sancto Geminiano, ›Sermones Quadragesimales‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 224, 1r–194v; Nicolaus de Aquaevillae, ›Sermones dominicales et de diversis‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 212, 1ra–189vb; ders., ›Sermones dominicales‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 225, 2ra–298vb; ›Sermones ‘Parati’ de sanctis‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 200, 1r–94r; ›Sermones ‘Parati’ de tempore‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 191, 2r–161r; Petrus Remensis, ›Sermones de sanctis‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 212, 215ra–228vb (einzelne Predigten); Thomas Brito, ›Sermones de sanctis‹: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 181, 116rb– 182va. 25 Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 194, 150v–151v; Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 223, 382rb–383va. In beiden Fällen wurden die Predigten des Honorius von Autun in Reihen mit Predigten von verschiedenen weiteren Autoren aufgenommen. Vgl. SCHNEYER, Repertorium 2 [Anm. 23], S. 720– 733. 26 Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 196, 12r–134r; vgl. KAEPPELI, Scriptores [Anm. 23], Nr. 2838. 27 Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 200, 123r–135v; vgl. SCHNEYER, Repertorium 1 [Anm. 23], S. 114– 123. 28 Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 251, 1r–36r; in der Handschrift wird Bömlin als Karmeliter bezeichnet. Vgl. HEDWIG RÖCKELEIN, Zur handschriftlichen Überlieferung der Werke Konrad Bömlins, ZfdA 117 (1988), S. 155–157. 29 ‘Cordulus’: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 260, 3ra–16va; vgl. SCHNEYER, Repertorium 7 [Anm. 23], S. 604–611.

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die Bopparder Handschriften, die ihre Werke überliefern, entstanden sind. ›Aktuelle‹ Predigten sind kaum vorhanden, ebensowenig wie Predigten von Leitfiguren der Klosterreformbewegung. Die einzige, unvollständig erhaltene Reformpredigt ›Recedite‹ des Geert Groote bildet einen Ausnahmefall.30 Bemerkenswert ist ferner, daß viele der bisher genannten Predigtautoren aus dem südostdeutschen Raum, aus Schlesien und dem heutigen Österreich stammen und besonders in diesen Gebieten häufig abgeschrieben worden sind. Keiner von den genannten Predigtautoren stammt dagegen aus Westdeutschland, verschiedene aus Italien, aus Frankreich nur Stephanus Langton, Honorius von Autun und Petrus Remensis. Autoren aus dem Dominikanerorden sind auffallend gut vertreten, weit besser als die franziskanischen Autoren.31 An dritter Stelle, neben den sehr häufig und den verhältnismäßig selten überlieferten Predigtreihen, gibt es in den Handschriften aus Boppard Predigten von Autoren des Karmeliterordens, die nur oder fast nur in Handschriften aus Boppard erhalten geblieben sind. Darunter ist als erstes Beispiel ein anonymes Adventuale, eine Reihe von 27 Evangelienpredigten für die Zeit des Advents, zu erwähnen.32 Der Karmeliter Heinrich von Montabaur (Henricus de Monthabuyr oder Henricus de Monte Thabor) hat diese Reihe 1463, als er Lektor im Karmeliterkloster in Köln war, für sich abschreiben lassen.33 Diese Predigtreihe ist, soweit wir wissen, in keiner weiteren Handschrift überliefert. Ob Heinrich von Montabaur auch der Verfasser dieses Adventuale ist, ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden. Es sieht so aus, als ob diese Predigten für Klosterangehörige bestimmt waren, denn jede beginnt mit Fratres karissimi. An vielen Stellen gibt es Verweise auf bereits vorgetragene Predigten; dieser Befund impliziert die Anwesenheit eines Publikums, das imstande war, täglich eine Predigt zu hören. Der 30

Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 213, 14r–26r. Die Bopparder Handschrift, spätestens um 1390 entstanden, ist einer der ältesten Textzeugen der Predigt ›Recedite‹. 31 Nur wenn eine bestimmte geistige Tendenz in den aus einem bestimmten Kloster erhaltenen Handschriften überdurchschnittlich vertreten ist, wäre eine Aussage über das geistige Klima in diesem Kloster möglich; jedenfalls scheint größte Vorsicht geboten. Siehe dazu ANDREAS RÜTHER/HANS-JOCHEN SCHIEWER, Die Predigthandschriften des Straßburger Dominikanerinnenklosters St. Nikolaus in undis. Historischer Bestand, Geschichte, Vergleich, in: Die deutsche Predigt im Mittelalter. Internationales Symposium am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin vom 3.–6. Oktober 1989, hg. von VOLKER MERTENS u. HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 1992, S. 169–193, bes. S. 181–189; MONIKA COSTARD, Predigthandschriften der Schwestern vom gemeinsamen Leben. Spätmittelalterliche Predigtüberlieferung in der Bibliothek des Klosters Nazareth in Geldern, in: Ebd., S. 194–222, bes. S. 211–222. 32 Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 195, 35r–152v. Am Schluß: Amen. Hoc Adventuale scribi fecit frater Henricus Derbach de Monthabuyr. Anno Domini 1463 o, Colonie lector existens indignus, ad utilitatem presencium. 33 Henricus de Montabaur studierte 1439–1448 Logik, Philosophie und Theologie in Köln und Trier. Ab 1445 war er als cursor in mittelrheinischen Klöstern seines Ordens tätig; 1449 wird er erstmals als lector sententiarum (in Mainz) erwähnt, in den anschließenden Jahren als lector sententiarum oder lector principalis in weiteren Klöstern (s. LICKTEIG, German Carmelites [Anm. 3], S. 67–69). Er besaß wenigstens 23 Codices, die nach seinem Tode in die Bibliothek des Bopparder Karmeliterklosters gelangten; s. dazu MECKELNBORG, Die nichtarchivierten Handschriften [Anm. 17], S. 12.

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Verfasser zitiert Theologen wie Simon von Cassia und Petrus Berchorius, den letzten sehr häufig. Auch Valerius Maximus wird gelegentlich herangezogen, dieser Autor wohl in einer moralisierten Fassung. Wir dürfen davon ausgehen, daß Predigten dieser Art nicht für ein Laienpublikum gehalten wurden. Das gleiche trifft wohl für eine Reihe von Fastenpredigten zu, das sogenannte ›Quadragesimale viatoris‹, das derselbe Heinrich von Montabaur acht Jahre früher, im Jahre 1455, selber abgeschrieben hat.34 In der Überschrift heißt es Pro Quadragesima 1455, im Kolophon nennt er sich jetzt Lektor des Klosters in Boppard. Von diesem Quadragesimale kennen wir vier weitere Handschriften. Der Verfasser ist unbekannt; man hat vermutet, er sei ein Franziskaner (Antonius de Massa ?), aber die Argumente, die dafür ins Feld geführt wurden, sind nicht überzeugend. Es ist durchaus möglich, daß der Verfasser ein Karmeliter war. Auch hier gibt es zahlreiche Verweise auf patristische und scholastische Autoren, auch das ›Corpus iuris canonici‹ wurde öfter benutzt. Am Schluß mehrerer Predigten in dieser Reihe gibt es Quaestiones über das Thema der Predigt. Auch hier braucht man also nicht an ein nicht-klösterliches Publikum zu denken. Neben den beiden Handschriften mit dem anonymen Adventuale und dem ›Quadragesimale viatoris‹ gibt es zwei weitere Codices mit Predigten, die von Heinrich von Montabaur geschrieben wurden.35 Diese Codices enthalten je einige Dutzend kurze Predigtreihen, die mit wenigen Ausnahmen für einen kleinen Teil des Kirchenjahres bestimmt waren, wie zum Beispiel acht Predigten vom 2. Sonntag nach Trinitatis bis zum Fest der Heiligen Maria Magdalena (22. Juli) oder dreizehn Predigten vom Fest des Heiligen Johannes Evangelista (27. Dezember) bis zum 4. Sonntag nach Weihnachten. Am Ende vieler Predigten folgen lateinische Reimsprüche, Sprichwörter, Sentenzen, Exempel, Zitate aus Werken der Kirchenväter und Quaestiones, meist ohne Verweise auf und ohne direkten Bezug zu den vorangegangenen Predigten. Zusätzlich gibt es in einer dieser Handschriften eine lange Reihe von Bibelstellen für Fastenpredigten und einige weitere kurze, nichthomiletische Texte.36 Verschiedene der Predigtreihen in diesen Handschriften oder auch einzelne Predigten innerhalb dieser Reihen sind datiert oder lokalisiert. Einige Beispiele: Spire in summo 1458, wohl zu interpretieren als Predigten gehalten in Speyer, in summo altare im Jahre 1458. Zum anderen: 1462 Dominica tertia Colonie ad ortum. Zum dritten: Dominica nona post festum Trinitatis. De epistola. Colonie anno 1448 und als letztes: 1453. Bopardie. In die Trinitatis. Die vorgefundenen Datierungen der Predigtreihen liegen alle im Zeitraum 1445–1470. Den Datierungen der Wasserzeichen des benutzten Papiers zufolge wurden die Predigtreihen ohne Datierung ebenfalls in diesem Zeitraum geschrieben. Die Lokalisie34

Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 196, 177r–234v; zur Verfasserfrage s. ALOIS MADRE, Nikolaus von Dinkelsbühl. Leben und Schriften (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 40, 4), Münster 1965, S. 307f. 35 Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 197 u. 250. 36 Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 197, 158r–173v.

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rungen am Anfang der Predigtreihen und einiger einzelner Predigten verweisen alle auf Orte im Mittelrheingebiet, in welchen es eine Niederlassung der Karmeliter gab. Speyer, Boppard und Köln wurden schon erwähnt, dazu kommen Worms, Kreuznach und Weinheim.37 Bemerkenswert sind die zahlreichen Textstellen, die den ›Adnotationes super Lectiones in librum Sapientiae‹ des englischen Dominikaners Robert Holcot entnommen wurden. Wahrscheinlich hat Heinrich von Montabaur in diesen Handschriften seine eigenen Predigten aufgeschrieben. Er war Lektor in den Karmeliterklöstern in Köln und Boppard, vielleicht auch anderswo, aber über einen Zeitraum von mehreren Dezennien hat er, wie die Datierungen und Lokalisierungen der einzelnen Predigtreihen belegen, einige Wochen oder Monate in diesem, dann wieder in jenem Kloster seines Ordens verbracht und dort gepredigt. Entweder in Köln oder Boppard oder im Kloster, wo er gerade zu Hause oder als Lektor tätig war, hat er diese Predigten zu seinem eigenen Gebrauch redigiert. Nach dem Stil dieser Predigten zu urteilen, hat er immer ad clerum, für seine Mitbrüder, nicht ad populum gepredigt. Die Reimsprüche, Quaestiones, Sentenzen, Exempel und Bibelzitate am Ende vieler Predigten dienten wohl als Predigtmaterialien, um die einmal schriftlich fixierten Predigten, wenn nötig, zu neuen Anlässen erweitern zu können. Heinrich von Montabaur hat eine vierte Predigthandschrift geschrieben, die in der Universitätsbibliothek Bonn aufbewahrt wird. Diese Handschrift ist ein Homiliar für den liturgischen Gebrauch an Heiligenfesten, mehrheitlich zusammengesetzt aus den Evangelienpredigten des Gregorius Magnus, Augustinus, Beda und Hieronymus. Die meisten dieser Predigten sind auch in den Homiliaren des Früh- und Hochmittelalters überliefert, aber nicht in der hier vorliegenden Zusammensetzung.38 Ist dieses Homiliar eine eigens für den Karmeliterorden kompilierte, für den liturgischen Gebrauch angelegte Predigtsammlung?39 Im großen Repertorium von SCHNEYER sind die Karmeliter kaum vertreten. Von namentlich bekannten Autoren dieses Ordens kennt er nur eine einzige Predigt, eine Karfreitagspredigt des Johannes von Clarano, Bischof von Terraalba (1332– 1356).40 Dieser Befund bedeutet natürlich nicht, daß SCHNEYER schlecht gesucht hat oder daß er nicht imstande war, den Autor einer Predigtreihe als Mitglied des Karmeliterordens zu identifizieren. Es bedeutet nur, daß aus der Zeit vor 1350 37

Der einzige in den Überschriften der Predigten genannte Ort ohne bekannte Niederlassung der Karmeliter wäre St. Goar (Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 250, 50r). 38 Zu diesen Homiliaren s. RE´ GINALD GRE´ GOIRE, Home´liaires liturgiques me´die´vaux (Biblioteca degli ›Studi Medievali‹ 12), Spoleto 1980. 39 Bonn, ULB, S 319, 1r–237r. Die ersten sieben Homilien stammen alle aus den ›XL Homiliarum in Evangelia libri II‹ des Gregorius Magnus: I, 5; I, 4; I, 17; I, 18; II, 27; I, 17 (!) u. II, 35. Die Zählung der Homilien nach MIGNE, PL 76, Sp. 1075–1314. 40 SCHNEYER, Repertorium 3 [Anm. 23], S. 432; vgl. PAUL CHANDLER, The Lamentation of the Virgin: A Planctus Mariae Sermon by Michael Aiguani of Bologna, O.Carm., in: The Land of Carmel [Anm. 2], S. 209–229, hier S. 209–210.

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verhältnismaßig wenig Predigtreihen von Karmeliterautoren erhalten geblieben sind, und man darf vermuten, daß dies auch für die Zeit nach 1350 der Fall ist. Der Karmeliterorden war nun einmal viel kleiner und weniger bedeutend als die Orden der Dominikaner und Franziskaner. Dazu kommt, daß die Historiographie des geistigen und intellektuellen Lebens der Karmeliter vergleichsweise noch nicht so weit fortgeschritten ist. Ein hervorragendes Repertorium, wie das von KAEPPELI über die mittelalterlichen Autoren des Dominikanerordens oder das von ZUMKELLER über die der Augustiner-Eremiten, oder nur ein gutes Initienregister, wie das von MOHAN für Werke von franziskanischen Autoren, oder überhaupt Arbeiten dieser Art fehlen für die Karmeliter.41 Daraus ergibt sich, daß Predigtreihen von Karmelitern, die ohne Verfassernamen überliefert sind, nur gelegentlich ihren rechtmäßigen Autoren zugeschrieben werden können. Ein Glücksfall dieser Art ergab sich bei der Katalogisierung der Bopparder Handschriften. Eine anonyme Reihe ›Sermones de tempore‹ im neunten Band des Repertoriums von SCHNEYER ist auch, mit nur wenigen und unbedeutenden Abweichungen, in zwei Bopparder Handschriften überliefert.42 In der Überschrift der Predigtreihe in der jüngeren Bopparder Handschrift (datiert 1436) heißt es: Incipiunt sermones dominicales per annum vocati Arnaldini, quos compilivat frater Arnoldus Dei Gratia Galtelliensis episcopus, ordinis fratrum beatissime Dei Genitricis Marie de Monte Carmeli, sacre theologie lector. Im Kolophon derselben Handschrift wird diese Formel fast gleichlautend wiederholt.43 Die zweite, ältere Bopparder Handschrift, vermutlich um 1400–1420 von einem Karmeliter in Montpellier geschrieben, enthält nicht nur etwa dieselben Sermones de tempore (in einer gelegentlich abweichenden Anordnung), sondern auch mehrere Dutzend, demselben Verfasser zugeschriebene ›Sermones de sanctis‹.44 SCHNEYER kannte für diese Predigtreihe nur zwei, wie gesagt anonyme südeuropäische Handschriften, heute aufbewahrt in der Bibliothe`que Municipale von Toulouse und in der Bibliothek der Kathedrale von Pamplona.45 Der in den Koblenzer Handschriften genannte Verfasser, Arnoldus Galtelliensis episcopus, ist Arnaldus de Biscalis (oder: de Bessalis). Er war 1347–1368 Bischof von Galtelli, einem winzigen, heute nicht mehr bestehenden Bistum auf der Insel Sardinien. In dem in beiden Handschriften aufgenommenen Prolog zur Predigtreihe bezeichnet er sich als einen Angehörigen des Karmeliterordens.46 41

Zu KAEPPELI s. Anm. 23; ADOLAR ZUMKELLER, Manuskripte von Werken der Autoren des Augustiner-Eremitenordens in mitteleuropäischen Bibliotheken (Cassiciacum 20), Würzburg 1966; G.E. MOHAN, Initia Operum Franciscalium, Franciscan Studies 35–38 (1975–1978), jeweils mit gesonderter Paginierung. Für Autoren des Karmeliterordens verfügen wir nur über einen Schriftstellerkatalog vom Jahre 1752, ohne Initienregister und ohne Bezug auf die neuere Forschungsliteratur: COSMAS DE VILLIERS, Bibliotheca Carmelitarum, hg. von GABRIEL WESSELS, Rom 1927. 42 SCHNEYER, Repertorium 9 [Anm. 23], S. 611–616. 43 Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 204, 104r–238v; die zitierte Überschrift steht auf 104r. 44 Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 268, 4v, 6r–59r, 66r–151r. Weitere Predigten in dieser Handschrift stammen vermutlich ebenfalls von Arnaldus de Biscalis. 45 Toulouse, B.M. 876 u. Pamplona, Cabildo de la Catedral 48. 46 Zu Arnaldus de Biscalis s. P. RICHARD, Arnaldus de Episcopali, DHGE IV, Sp. 410.

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Wie die vorher besprochenen, Heinrich von Montabaur zugeschriebenen Predigten sind auch die des Arnaldus de Biscalis aus stilistischen Gründen als Predigten ad clerum, nicht als Predigten ad populum zu betrachten. Ob Arnaldus diese Predigten nun auf Sardinien, in Südfrankreich, in Spanien, im Mittelrheingebiet oder noch anderswo gehalten hat, könnte vermutlich nur eine eingehende Erforschung des Inhalts dieser Predigten aufklären. Noch eine weitere Predigtreihe konnte aufgrund von Angaben in einer Handschrift aus Boppard einem Mitglied des Karmeliterordens zugeschrieben werden. Es handelt sich wieder um ein Adventuale, eine Reihe von 21 Adventspredigten. Der Verfasser nennt sich in der Überschrift Michael Herbrant.47 Die gleiche Reihe ist auch in einer Handschrift der Stadt- und Landesbibliothek Kassel erhalten, einzelne Predigten im Historischen Archiv der Stadt Köln.48 ZUMKELLER und SCHNEYER hielten den Verfasser für einen Augustiner-Eremiten.49 Im Prolog der Handschrift aus Boppard bezeichnet er sich jedoch als Karmeliter: (...) quem exiguum sermonem divino adiutus presidio colligare proposui ad laudem Domini et Genitricis eius virginis Marie, matris et matrone Ordinis Fratrum Carmelitarum, quem sum ordinem professum (...). Aus historischen Quellen des Karmeliterordens wissen wir, daß Michael Herbrant 1385– 1386 in Wien und 1390–1391 in Köln studierte. Anschließend war er als lector Sententiarum im Kloster seines Ordens in Trier tätig.50 Am Ende des Kolophons der Bopparder Handschrift weist der Schreiber darauf hin, daß das vollständige Adventuale des Michael Herbrant sich dort befindet: Nota quod Adventuale istud non habetur hic complete et ex integro, quia de qualibet septimana dimissi sunt plures sermones brevitatis gratia. Si autem totum opus desideras, reperies in liberaria conventus Treverensis ordinis fratrum beatissime Dei Genitricis Marie.51 Auch die Adventspredigten dieses Verfassers wurden, dem Inhalt nach zu urteilen, für ein theologisch geschultes Publikum gehalten. Wie für die bisher besprochenen Predigten von Autoren des Karmeliterordens, muß man feststellen, daß es sich auch hier um Predigten ad clerum, nicht um Predigten ad populum handelt.

47

Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 202, 32r–83v. Kassel, UB, 2o Ms. theol. 17, 229ra–279rb: vgl. KONRAD WIEDEMANN, Manuscripta theologica. Die Handschriften in folio (Die Handschriften der Gesamthochschulbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel 1,1), Wiesbaden 1994, S. 22f.; Köln, StA, GB 4o 56, 33r–156v: vgl. JOACHIM VENNEBUSCH, Die homiletischen und hagiographischen Handschriften des Stadtarchivs Köln, 1: Handschriften der Gymnasialbibliothek (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln. Sonderreihe: Die Handschriften des Archivs 6,1), Köln/Weimar/ Wien 1993, S. 102f. 49 ZUMKELLER, Manuskripte [Anm. 41], Nr. 687; J[OHANN] B[APTIST] SCHNEYER, Wegweiser zu lateinischen Predigtreihen des Mittelalters (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen der Kommission für die Herausgabe ungedruckter Texte aus der mittelalterlichen Geisteswelt 1), München 1965, S. 258. 50 LICKTEIG, German Carmelites [Anm. 3], S. 296, 430 u. 444. 51 Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 202, 83v. 48

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Als letzter Autor aus dem Karmeliterorden ist hier Georgius de Novo Foro (aus Neumarkt) zu erwähnen. Eine Bonner Handschrift, datiert 1392–1393, enthält eine Reihe von theologischen Werken und Predigtmaterialien, die, nach den Überschriften und Kolophonen zu urteilen, nicht nur von ihm geschrieben, sondern auch verfaßt (oder kompiliert) wurden. Hinweise in bezug auf die Verfasserschaft von einigen kurzen grammatischen Traktaten in dieser Handschrift liegen dagegen nicht vor. An zwei, ursprünglich leer gebliebenen Stellen hat Georgius Predigten ad clerum nachgetragen, von denen man vermuten darf, daß er der Verfasser ist. Beide Predigten behandeln Textstellen aus Werken des Aristoteles.52 Universitätspredigten Bisher unbekannte Predigten ad clerum von Autoren des Karmeliterordens sind somit in den Bopparder Handschriften gut vertreten. Vorher wurde bereits angesprochen, daß in Köln studierende Karmeliter einige Male pro Jahr für die Studenten und Magister ihrer Universität predigen sollten. Die Karmeliter predigten an den Vigilien von drei bedeutenden Marienfesten, Mariä Lichtmeß, Mariä Himmelfahrt und Mariä Geburt. Ob sie immer n u r an diesen Festen Universitätspredigten halten durften, steht nicht fest. Aus den Angaben in den Kolophonen von verschiedenen Handschriften aus dem Karmeliterkloster in Boppard läßt sich schließen, daß diese im Karmeliterkloster in Köln geschrieben wurden. Außerdem haben mehrere Karmeliter, die als Schreiber oder als Vorbesitzer von Bopparder Handschriften auftauchen, im ordenseigenen Kölner studium oder an der Universität Köln studiert. Es wäre deshalb zu erwarten, daß wenigstens einige Kölner Universitätspredigten in den Handschriften aus Boppard erhalten geblieben sind. Nun könnte man im Prinzip alle anonym überlieferten Predigten für die drei genannten Marienfeste darauf untersuchen, ob nicht auf das universitäre Publikum angespielt wird oder ob dieses Publikum etwa direkt angesprochen wird. Es ergibt sich dabei jedoch ein methodologisches Problem. Wir wissen zwar, daß Karmeliterstudenten an den genannten Tagen gepredigt haben, aber nicht, ob sich das Thema ihrer Predigt auf das Marienfest des folgenden Tages bezog. Ebensowenig ist bekannt, ob es ein Merkmal von Universitätspredigten war, daß die Studenten und Magister direkt angeredet wurden. Mit diesen Überlegungen im Hinterkopf liegen zwei Gruppen von Predigten vor, von denen man vermuten darf, daß es sich hierbei tatsächlich um Universitätspredigten handelt. Es sind zunächst vier anonyme Predigten, zwei für das Fest von Mariä Lichtmeß (2. Februar) und jeweils eine für Mariä Himmelfahrt (15. August) und Mariä Empfängnis (8. Dezember). Es sind Predigten, die, soweit nachweisbar, nicht in anderen Handschriften vorliegen.53 Diese Predigten 52

Bonn, ULB, S 325, 243v u. 243r bzw. 248va–vb, 247v u. 248r. Georgius de Novo Foro war 1379 an der Pariser Universität immatrikuliert; s. LICKTEIG, German Carmelites [Anm. 3], S. 427. 53 Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 202, 168r–187v.

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sind länger als üblich. Rhetorisch betrachtet, wurden sie großzügig angelegt: Man trifft hier auf eine breit ausgesponnene Metaphorik, aber dagegen nicht auf eine übermäßig scholastisch anmutende Verteilung des Stoffes in immer kleinere Unterscheidungen. Dazu kommt, daß diese Predigten in der Handschrift vom Schreiber unabhängig von den übrigen dort erhaltenen Predigtreihen abgeschrieben wurden. Die anderen Reihen wurden, wie üblich, nach dem Kirchenjahr (per circulum anni) angeordnet. Der Teil der Handschrift, in welche die mutmaßlichen Universitätspredigten aufgenommen sind, wurde wohl im Zeitraum 1420–1430 im Karmeliterkloster in Köln geschrieben.54 Der Schreiber, Gerhard von Erkelenz, studierte 1422– 1423 und 1427–1431 an der Universität Köln. Später bekleidete er das Amt des lector im studium des Klosters seines Ordens in Düren.55 Beweise dafür, daß diese Predigten von Gerhard von Erkelenz als Universitätspredigten in Köln gehalten wurden, gibt es nicht. Dieser Gedanke ist eine Hypothese, die es verdienen würde, inhaltlich überprüft zu werden. Die zweite Handschrift, in welcher vermutlich Kölner Universitätspredigten erhalten sind, ist noch schlechter zu kontextualisieren als die erste. Sie enthält nur 54 Blätter und wurde, nach den Wasserzeichen zu urteilen, um 1450–1455 geschrieben. Der Schreiber nennt seinen Namen nicht.56 Auch hier finden wir Predigten für die Vigilien der Marienfeste, an welchen Karmeliterstudenten für die Kölner Universitätsangehörigen predigten: für die Vigilien von Mariä Lichtmeß, Mariä Himmelfahrt und Mariä Geburt.57 Alle Predigten werden in den Überschriften collatio genannt; wenn eine besondere Anrede da ist, lautet sie Reverendi magistri, patres, fratresque prestantissimi, Celeberrimi domini, magistri ceterique, Reverendi et percelebres domini, magistri ac patres oder ähnlich. Jede Predigt endet mit der Formel Indulgencias consuetas pronuncio vobis omnibus (an einigen Stellen sehr verkürzt). Die Predigten scheinen ohne Ausnahme sorgfältig redigiert zu sein. Die theologischen Aspekte der betroffenen Marienfeste spielen eine untergeordnete Rolle. Direkte Verweise auf die Stadt Köln oder auf den universitären Lehrbetrieb kommen, wie es scheint, nicht vor. Nach Köln weist lediglich ein Hinweis auf die Ablässe für die Wohltäter der Kölner Kirche, der ohne direkten Bezug auf eine der Predigten in die Handschrift eingetragen wurde.58 54

Unsere Datierung beruht im wesentlichen auf der Datierung der identifizierten Wasserzeichen. Das gleiche Papier, auf welchem die mutmaßlichen Universitätspredigten geschrieben wurden, wurde auch für den ersten Teil der Handschrift (fol 2r–19v) benutzt; dieser Teil wurde nach den Angaben im Kolophon 1431 im Karmeliterkloster in Köln geschrieben. 55 LICKTEIG, German Carmelites [Anm. 3], S. 445. Daß Gerhard von Erkelenz lector in Düren war, belegt ein Schenkungsvermerk des 15. Jahrhunderts in der hier besprochenen Handschrift: Conventui Boppardiensi ex parte venerabilis lectoris Durensis fratris Gerhardi de Erculentia (Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 202, 2r). Später schrieb er auch Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 228. 56 Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 302. 57 Für die Vigil von Mariä Lichtmeß: Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 302, 45v–49v u. 50r–54r; für die Vigil von Mariä Himmelfahrt: ebd., 25v–29r, 40r; für die Vigil von Mariä Geburt: ebd., 22r–25v, 30r–33v. 58 Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 302, 29v (Nachtrag der Schreiberhand).

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Die Handschrift enthält jedoch auch Predigten, die für andere als die Vigilien der genannten Marienfeste bestimmt waren. Die erste Predigt wurde am Fest des heiligen Apostels Andreas (30. Nov.) gehalten, andere auf die Vigil des Festes der Conceptio Mariae (7. Dez.), am Montag nach Sonntag Invocavit, am Freitag nach Sonntag Oculi, am Aschermittwoch und am Gründonnerstag.59 Es liegen uns keine Quellen vor, die belegen, daß die Karmeliter auch an diesen Tagen für die Kölner Universitätsangehörigen gepredigt haben. Bemerkenswert ist ferner, daß die Predigten auch hier nicht nach dem Kirchenjahr angeordnet sind; eine geschlossene Reihe bilden sie in keinem Fall. Wie bei den von Gerhard von Erkelenz geschriebenen Predigten handelt es sich hier w a h r s c h e i n l i c h um Universitätspredigten. Darauf deutet zum einen der enge Zusammenhang der Tage, an welchen diese Predigten gehalten wurden, mit den aus den Quellen bekannten Vigilien von Marienfesten, an welchen die Karmeliter für die Kölner Universitätsangehörigen predigen sollten. Zum anderen fällt die besondere Anrede der Predigten ins Auge, zum dritten die kodikologisch belegten Verbindungen der beiden hier besprochenen Handschriften mit Karmelitern in Köln. Wenn unsere Vermutung zutrifft, impliziert sie, daß die Karmeliter nicht nur an den drei genannten Vigilien von Marienfesten Universitätspredigten hielten. Predigten ad populum Die Karmeliter haben, wie bereits angesprochen wurde, nicht nur ad clerum und an der Universität Köln, sondern auch auf Deutsch ad populum gepredigt. Wenigstens zwei Karmeliter sind aus der Geschichte der volkssprachlichen Predigt bekannt. Der erste, Hane der Karmelit, lebte gegen Ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts im Kloster seines Ordens in Erfurt. Von ihm sind drei deutsche Predigten erhalten. Es geht in diesen Predigten nicht um schulmäßige Wissensvermittlung, sondern vor allem um die religiöse Verkündigung, um die mystische Verzückung und Gottesschau und um die Stufen und Zustände, die dazu führen. Die drei Predigten Hanes sind als Teil des ›Paradisus animae intelligentis‹ überliefert, einer mystischen Predigtsammlung aus dem Erfurter Dominikanerkloster, in welche auch 31 oder 32 Predigten Meister Eckharts aufgenommen wurden.60 Der zweite ist Friedrich der Karmeliter. Er war am Ende des 14. und am Anfang des 15. Jahrhunderts Prior des Wiener Karmeliterklosters und Mitglied der theologischen Fakultät der Stadt. Er schrieb das ›Buch von der himmlischen Gottheit‹, eine deutsche Auslegung des Prologs des Johannesevangeliums, in welcher die Zitate der auctoritates auf lateinisch aufgenommen wurden. In drei Handschriften dieses Werkes wurden deutsche Sonn- und Festtagspredigten hinzugefügt, die in einer Handschrift anonym, in den beiden anderen Handschriften 59 60

Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 302, 2r–5r, 6r–7v, 14r–16v, 16v–18v, 33v–37v u. 37v–40r. LAURI SEPPÄNEN, Hane der Karmelit, 2VL III, Sp. 429–431.

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unter seinem Namen erhalten sind. Ob diese Predigten tatsächlich der Feder Friedrichs des Karmeliters zu verdanken sind, ist umstritten.61 Deutsche Predigten sind jedoch in den Bopparder Handschriften nicht vertreten. Es ist dagegen wohl möglich, daß einige der lateinischen Predigten ursprünglich auf Deutsch gehalten wurden. Als Beispiele von Predigten dieser Art seien hier zwei, unserer Meinung nach sehr schöne Marienpredigten vorgeführt.62 Die erste war für das Fest der Verkündigung Mariä, die zweite für ein nicht genauer zu bestimmendes anderes Marienfest bestimmt. Die erste Predigt bespricht sehr ausführlich die Reaktionen von Maria und Joseph auf die Verkündigung. Irgendein scholastischer Argumentationsgang oder ein Ansatz von theologischer Tiefe sind nicht vorhanden. Stattdessen geht es in dieser Predigt um die Gefühle, um die Emotionen, die von der Verkündigung ausgelöst wurden. Auctoritates werden kaum namentlich zitiert, ihre Werke überhaupt nicht. Gelegentlich heißt es Doctores quedam dicunt oder Bernardus dicit oder Leo papa dicit. In der zweiten Predigt wird Maria mit einer Reihe von Edelsteinen verglichen. Noch weniger als in der ersten Predigt beruft sich der Prediger hier auf angesehene theologische Werke. Es ist kaum vorstellbar, daß die meist gut geschulten Karmeliter selber an Predigten dieser Art Gefallen hatten. Die meisten Predigten in den Handschriften aus Boppard, von welchen wir annehmen dürfen, sie seien von Karmelitern für ein Publikum von Ordensbrüdern gehalten, sprudeln vor Gelehrsamkeit und rethorischer Künstelei. Hier werden eher Laien oder halbgebildete Klosterschwestern angesprochen.63 Ein Argument dafür, daß diese beiden Marienpredigten vermutlich ursprünglich auf Deutsch gehalten wurden, liefert ein Reimgebet in deutscher Sprache, das in die erste Predigt aufgenommen wurde. Dieses Gebet ist Teil eines in der Predigt verarbeiteten Exempels über quedam nobilis domina, die täglich zu Maria betete. Das Gebet der Frau wird im Exempel vollständig zitiert. Die Anfangszeilen lauten: O Maria reyne maget / Myn sunden syn dyr geclaget.64

61

GISELA KORNRUMPF, Friedrich der Karmeliter, 2VL II, Sp. 948–950. Die Hinweise auf ›Hane der Karmelit‹ und ›Friedrich der Karmeliter‹ verdanke ich Frau Monika Costard. 62 Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 194, 15ra–19ra u. 19ra–22ra. Die schwierige Frage, ob eine Predigt in der Volkssprache gehalten wurde, bevor sie auf lateinisch niedergeschrieben wurde, muß von Fall zu Fall neu gestellt werden. Bemerkenswert sind dazu die Beobachtungen in BURKHARD HASEBRINK, Grenzverschiebung. Zu Kongruenz und Differenz von Latein und Deutsch bei Meister Eckhart, ZfdA 121 (1992), S. 369–398; s. auch NICOLE BE´ RIOU, Latin and the vernacular. Some remarks about sermons delivered on Good Friday during the Thirteenth Century, in: Die deutsche Predigt im Mittelalter [Anm. 31], S. 268–284. 63 Ob und in welcher Weise die mittelrheinischen Karmeliter an der Seelsorge in Frauenklöstern beteiligt waren, ist nicht bekannt. 64 Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 194, 18r/v. Dasselbe Exempel, ebenfalls mit dem deutschen (niederdeutschen) Reimgebet, allerdings nicht im Kontext einer Predigt, ist erhalten in der Handschrift Uppsala, UB, C 415c, 99r–102r; vgl. MARGARETE ANDERSSON-SCHMITT [u. a.], Mittelalterliche Handschriften der Universitätsbibliothek Uppsala. Katalog über die C-Sammlung 5: Handschriften C 401–550, Stockholm 1992, S. 73. Die in Uppsala aufbewahrte Handschrift stammt aus Nordwestdeutschland (Niederrhein?); sie entstand 1464–1467.

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In diesem Zusammenhang sei auf eine weitere, ebenfalls in Koblenz aufbewahrte Handschrift hingewiesen, die aus dem Dominikanerkloster in Koblenz stammt. Hier ist eine lateinische Predigt enthalten, in welche ein Fragment eines Weltgerichtsspiels aufgenommen wurde, das im Verfasserlexikon unter dem Artikel ›Koblenzer Weltgerichtsspiel‹ behandelt wird. Auch diese Predigt ist, dem Stil nach zu urteilen, ein Sermo ad populum, der wahrscheinlich ursprünglich auf Deutsch gehalten wurde, aber für die schriftliche Fixierung ins Lateinische übersetzt wurde.65

5. Schlußbemerkung Das Predigtwesen im Karmeliterorden ist noch wenig erforscht. Dieser Tatbestand hat seinen Grund in der verhältnismäßig schlechten Überlieferungslage der Werke von Karmeliterautoren und dem Rückstand der Forschung über die Ordensgeschichte. Die Erschließung der Handschriften aus dem Karmeliterkloster in Boppard erweitert unsere Kenntnisse in diesem Bereich, denn verschiedene, bisher unbekannte Predigtreihen von Karmeliterautoren sind ans Licht gekommen. Die Karmeliter haben, wie auch die Angehörigen der übrigen Bettelorden, im Spätmittelalter viel gepredigt. Sie predigten in der Volkssprache ad populum, auf Lateinisch ad clerum. Auserwählte Karmeliterstudenten der Universität Köln predigten, ebenfalls auf lateinisch, an den Vigilien bestimmter Marienfesten für die Studenten und Magister. Weitaus die meisten der erhaltenen Predigten in den Bopparder Handschriften wurden ad clerum gehalten, nur sehr wenige vermutlich auf deutsch ad populum, bevor (oder nachdem) sie schriftlich auf lateinisch festgehalten wurden. Die deutschsprachige Predigt ad populum hat im Spätmittelalter nicht viele Spuren hinterlassen. Deshalb verdient die volkssprachliche Überlieferung in lateinischen Texten größte Aufmerksamkeit. In den zahlreichen noch unzureichend oder überhaupt nicht bearbeiteten Handschriften des Mittelalters dürfen weitere deutsche und lateinische Kleinodien der mittelalterlichen Homiletik erwartet werden. Zu Anm. 21: Der zweite (und letzte) Band des Katalogs der mittelalterlichen Handschriften im Hauptarchiv Koblenz erschien 2002: Eef Overgaauw, Die nichtarchivischen Handschriften der Signaturengruppe Best. 701 Nr. 191–992 (Mittelalterliche Handschriften im Landeshauptarchiv Koblenz, 2), Wiesbaden 2002. Ein Katalog der mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Bonn ist in Bearbeitung. Beschreibungen dieser Handschriften (von Jürgen Geiß-Wunderlich) stehen in Manuscripta Mediaevalia (www.manuscripta-mediaevalia.de) zur Verfügung. 65

Koblenz, LHA, Best. 701, Nr. 193, 216r; vgl. Berner Weltgerichtsspiel, hg. von WOLFGANG STAMMLER (TspMA 15), Berlin 1962, S. 46f.; HELLMUT ROSENFELD, Sog. ›Koblenzer Weltgerichtsspiel‹, 2VL IV, Sp. 1278–1279.

Dorothea Walz

Die Predigten Konrads von Gelnhausen († 1390)1

Zur Person Konrads von Gelnhausen In der Kirchengeschichte des ausgehenden 14. und des 15. Jahrhunderts ist Konrad von Gelnhausen (ca. 1320/22 – 13. IV. 1390) keine unbedeutende Gestalt.2 Sein Name steht vor allem in Zusammenhang mit dem großen abendländischen Schisma, das 1378 mit der Wahl zweier Päpste – am 8. April Urban VI. in Rom und am 20. September Clemens VII. in Avignon – zustandekam und fast vier Jahrzehnte dauerte. Geboren wurde er ca. 1320/22 in Gelnhausen (Diözese Mainz) und studierte in Paris die Artes, zum erstenmal bezeugt ist er erst 1344 als Baccalaureus artium der Universität Paris, wo er noch im selben Jahr Licentiatus artium wurde. Vermutlich begann er unmittelbar danach, wie es üblich war, mit dem Studium der Theologie, das er jedoch zunächst nicht abschloß. Mit Pfründen reichlich gesegnet, war er seit 1347 Kanoniker am Wormser Dom, spätestens 1359 Kanoniker am Mainzer Stift Mariengreden, ebenso als solcher 1363 am Stift St. Johann in Lüttich. Spätestens 1378 erhielt er das angesehene Amt des Dompropstes von Worms. 1369 finden wir ihn in Bologna, wo er Kanonisches Recht studierte und dieses Studium ca. 1375 mit der Promotion beendete. Ende September 1378 treffen wir ihn erneut in Paris an, wo er an der Versammlung der Magistri teilnahm, die über die Wahl von Papst Clemens VII. und die Konsequenzen des Schismas berieten. Vor allem aber war er nach Paris gekommen, um sein Studium der Artes fortzusetzen, das er im November/Dezember 1378 als Magister artium abschloß.

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Dieser Beitrag beruht auf meiner Habilitationsschrift: Konrad von Gelnhausen, Dompropst von Worms und erster Kanzler der Universität Heidelberg († 1390). Neuentdeckte Autographe und Predigten, 1995 (Manuskript: Heidelberg, Neuphilologische Fakultät). Die Edition sämtlicher Predigten Konrads von Gelnhausen ist in Vorbereitung. 2 Zur Biographie Konrads von Gelnhausen in Auswahl: DAVID E. CULLEY, Konrad von Gelnhausen. Sein Leben, seine Werke, seine Schriften, Halle 1913; KARL HENGST, Konrad von Gelnhausen, NDB XII, Sp. 539; GEORG KREUZER, Konrad von Gelnhausen, 2VL V, Sp. 179–181, Nachtrag 2VL XI, Sp. 877f.; TILMANN SCHMIDT, Konrads von Gelnhausen Pfründenkarriere, ZKG 103 (1992), S. 293–331; DAGMAR DRÜLL-ZIMMERMANN, Konrad Sif(f)ridi von Gelnhausen, Heidelberger Gelehrtenlexikon (1386–1649), Berlin [usw.] 2002, S. 91f.; DOROTHEA WALZ, Konrad von Gelnhausen: Leben und Predigt, in: Schriften im Umkreis mitteleuropäischer Universitäten um 1400, hg. von FRITZ PETER KNAPP/JÜRGEN MIETHKE/MANUELA NIESNER, Brill [usw.] 2004, S. 20–39.

492 In die zweite Pariser Zeit fallen auch seine beiden Schriften mit der von ihm entworfenen ›konziliaren Theorie‹: die an den französischen König Karl V. gerichtete ›Epistola brevis‹ vom 31. VIII. 13793 und die sowohl an Karl V. von Frankreich als auch an König Wenzel von Böhmen und an den Pfälzer Kurfürsten Ruprecht I. adressierte ›Epistola concordiae‹ vom Mai 1380.4 In beiden Werken hatte er die auf der Versammlung der Pariser Magistri im September 1378 bereits mündlich vorgetragenen Vorschläge zur Beendigung des Schismas systematisch ausgearbeitet: Beiden Päpsten sei der Gehorsam zu versagen; nur ein Generalkonzil könne die Papstfrage klären und die Einheit der Kirche wieder herstellen. Bemerkenswert ist die Rolle, die Konrad den weltlichen Herrschern zuteilte: In Krisenzeiten – und eine solche liege vor – sei es ihre Pflicht, die Kirche zur Einheit zurückzuführen. Dabei beruft er sich auf das Recht des Notstands, das in Zeiten der necessitas eintrete und das sonst geltende positive Recht außer Kraft setze.5 Die beiden ›Epistolae‹ sind somit aufschlußreiche Zeugnisse für den erstaunlich freien Begriff von Kirche im 14. Jahrhundert, wie er uns hier begegnet. Wenn auch Konrads Konzeption nicht als neu zu betrachten ist, sondern bereits von politischen Denkern des 14. Jahrhunderts wie Marsilius von Padua, Wilhelm Ockham und anderen formuliert wurde, liegt doch sein Verdienst darin, als Kanonist die vorgefundenen Theorien auf die aktuelle Situation angewandt zu haben. Somit darf er zurecht als Begründer der breiten Konziliarismusbewegung gelten, die schließlich mit dem Konstanzer Konzil (1414–1418) und der Wahl Papst Martins V. am 11. November 1417 Erfolg hatte. Darüber hinaus war Konrad von Gelnhausen für die Geschichte der Universität Heidelberg bedeutend, deren Gründung bekanntlich eine der Konsequenzen des Schismas war. Denn während sich die deutschen Fürsten für Urban VI. als Papst aussprachen, erkannte Frankreich – und damit auch die Universität Paris – bereits im November 1378 Clemens VII. an. Diese Lage führte dazu, daß 1382 den deutschen Studenten an der Pariser Universität das Promotionsrecht verweigert wurde, was zur Folge hatte, daß diese in Scharen die Stadt verließen. Ihre Vertreibung war für Kurfürst Ruprecht I. von der Pfalz Anlaß, ein landeseigenes studium nach dem Vorbild der Pariser Universität zu gründen, was er 3

HANS KAISER, Der kurze Brief des Konrad von Gelnhausen, Historische Vierteljahrschrift 3 (1900), S. 379–394. 4 Die Epistola concordie Konrads von Gelnhausen, hg. von FRANZ BLIEMETZRIEDER, in: DERS., Literarische Polemik zu Beginn des großen abendländischen Schismas (Publikationen des Österreichischen Historischen Instituts in Rom 1), Wien/Leipzig 1910, S. 111–146. 5 Zu Konrads Kirchenbegriff in Auswahl: FRANZ BLIEMETZRIEDER, Das Generalkonzil im großen abendländischen Schisma, Paderborn 1904, S. 39–203; FRIEDRICH MERZBACHER, Wandlungen des Kirchenbegriffs im Spätmittelalter. Grundzüge der Ekklesiologie des ausgehenden 13., des 14. und des 15. Jahrhunderts, Zs. der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 39 (1953), S. 274–361, bes. S. 327–330; JÜRGEN ZIESE, Konzilstheoretiker, in: Respublica Christiana. Politisches Denken des orthodoxen Christentums im Mittelalter, hg. von PETER VON SIVERS (Geschichte des politischen Denkens 1506), München 1969, S. 135–161, bes. S. 139– 142.

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mit der Einwilligung Urbans VI. 1386 in seiner Residenzstadt Heidelberg verwirklichte. Dazu wurde Konrad von Gelnhausen in seiner Funktion als Dompropst von Worms – Heidelberg gehörte damals zum Bistum Worms – als erster Kanzler der Universität nach Heidelberg berufen.6 Neben seinem Kanzleramt lehrte Konrad von Gelnhausen dort auch Kirchenrecht und Theologie und starb hochangesehen am 13. April 1390. Nach seinem Tod hinterließ er der jungen Universität außer der stolzen Summe von eintausend Gulden, die zum Bau eines Studienkollegs bestimmt waren, vor allem seine vorzügliche Privatbibliothek, aus der die Universitätsbibliothek erwuchs. Obwohl von seinen der Universität vermachten Büchern nur noch ein Bruchteil erhalten ist,7 sind wir dank des überlieferten ersten Heidelberger Bibliotheksinventars von 1396 über den Umfang und Inhalt seiner Büchersammlung recht gut informiert.8 Dieser Bücherkatalog führt nicht nur eindrucksvoll den weiten Bildungshorizont des Gelehrten vor Augen, sondern nennt auch eigene Werke: einen ›Hoheliedkommentar‹,9 ›Quaestiones zu den Sentenzen des Petrus Lombardus‹,10 weitere theologische ›Quaestiones‹ zu nicht genannten Tex6

Zu den Beziehungen Konrads von Gelnhausen zu Ruprecht I. von der Pfalz, einem entschiedenen Parteigänger Urbans VI., s. GERHARD RITTER, Die Universität Heidelberg. Ein Stück deutscher Geschichte, Bd. 1: Das Mittelalter (1386–1508), Heidelberg 1936, Nachdr. ebd. 1986, S. 51 u. 58. Ein Exemplar seiner ›Epistola concordiae‹ mit einer Widmung hatte Konrad auch dem Kurfürsten geschickt; es ist die prachtvolle Handschrift Citta` del Vaticano, Biblioteca Apostolica, Cod. Pal. lat. 592, beschr. von ARNOLD BÜHLER, in: Bibliotheca Palatina. Katalog zur Ausstellung vom 8. VII – 2. XI. 1986, Heiliggeistkirche Heidelberg, hg. von ELMAR MITTLER [u. a.], Heidelberg 4 1986, Textband S. 57f. (B 8.4), Abb. im Bildband S. 37. Zur Vorgeschichte der Universität Heidelberg s. RITTER, ebd., S. 11–68. 7 Die meisten Bücher Konrads von Gelnhausen kamen bereits in den folgenden Jahrzehnten des 15. Jhs. abhanden. Diejenigen, die bis 1622 in Heidelberg erhalten blieben, gelangten 1622/23 als Bestandteil der berühmten Heidelberger Bibliotheca Palatina in den Vatikan. Von sämtlichen Büchern Konrads konnten jedoch nur noch fünf Handschriften nachgewiesen werden. Zu ihrer Beschreibung und zur Geschichte der Bibliothek Konrads von Gelnhausen siehe WALZ [Anm. 1]. 8 Der 1396 begonnene und bis 1432 fortgesetzte Bibliothekskatalog ist im 1. Band der Heidelberger Universitätsmatrikel überliefert: Heidelberg, Universitätsarchiv, A–702/1, 126r–144v, hg. von GUSTAV TOEPKE, Die Matrikel der Universität Heidelberg von 1386 bis 1662, Bd. 1, Heidelberg 1884, S. 655–670. Die Bücher Konrads von Gelnhausen sind 130v–134r verzeichnet und umfassen 211 Titel, wobei etliche in Sammelhandschriften zusammengefaßt waren, s. TOEPKE, ebd., S. 655–665 (Nr. 1–215). 9 Beschrieben als: Item exposicio super cantica canticorum, in papiro de manu sua scripta. 2 o folio ›omni fragilitati‹, penultimo ›chorales invitat‹, TOEPKE [Anm. 8], S. 659, Nr. 93. Der einzige Hinweis, daß es sich um ein eigenes Werk Konrads handelt, ist die im Katalog für diesen Sachverhalt häufige Formulierung de manu sua. Zur Identifikation von Katalogeintrag und dem betreffenden Buch dienten die dictiones oder principia foliorum genannten Anfangsworte der zweiten und vorletzten Recto-Seite. Die auf diese Weise beschriebene Handschrift ist nicht mehr erhalten, jedoch, als Codex unicus, eine kalligraphische Abschrift: Citta` del Vaticano, Biblioteca Apostolica, Cod. Pal. lat. 77, 1r–123ra vom Beginn des 15. Jhs. Den noch unedierten Text paraphrasierte und kommentierte kurz HELMUT RIEDLINGER, Die Makellosigkeit der Kirche in den lateinischen Hoheliedkommentaren des Mittelalters (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 38), Münster 1958, S. 357–359. 10 Beschrieben als: Item alique questiones scripte manu prepositi forme quas legit circa sentencias, in papiro [...], s. TOEPKE [Anm. 8], S. 659, Nr. 84. Vom Verbleib der Handschrift ist nichts bekannt.

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ten,11 und schließlich auch Predigten, die, den zitierten principia foliorum zufolge, nicht mehr erhalten sind.12 Darüber hinaus betätigte sich Konrad von Gelnhausen auch als Dichter eines Sequenzenzyklus auf das heilige Kaiserpaar Heinrich und Kunigunde, das in Worms eine besondere Verehrung genoß.13 Außer den beiden genannten ›Epistolae‹ und einem weiteren kurzen Brief vom 18. VII. 1379 an den Kanzler König Karls V. von Frankreich, Philippe de Me´zie`res,14 waren Konrads Werke bisher nicht durch Ausgaben zugänglich. Dieser Umstand bestimmte auch das entsprechend schiefe Bild von Konrads literarischer Tätigkeit, die, stellvertretend, DAVID E. CULLEY in seiner Biographie über Konrad von Gelnhausen zusammenfaßte: »Sein Verdienst beruht allein auf zwei kurzen Abhandlungen [d. h. der ›Epistola brevis‹ und der ›Epistola concordiae‹].«15 Diese Fehleinschätzung über den Umfang von Konrads literarischem Werk ist schon allein durch den Bücherkatalog von 1396 zu korrigieren. Doch nicht genug der Irrtümer: Lediglich aufgrund der beiden ›Epistolae‹ sieht CULLEY in Konrad von Gelnhausen den »bescheidenen und zurückgezogenen Heidelberger Professor, der nie gewandt mit der Feder war und die lateinische Sprache immer schwerfällig schrieb«.16 Gerade die hier vorzustellenden lateinischen Predigten, aber auch die Heinrichs- und Kunigundensequenzen zeigen, daß Konrads Werke in thematischer, formaler, sprachlicher und stilistischer Hinsicht weitaus differenzierter einzuschätzen sind als bisher angenommen. Gleichzeitig sind die Predigten und Sequenzen Beispiele dafür, daß wohl noch manches Werk Konrads von Gelnhausen unidentifiziert in den Handschriften verborgen ist und seiner Entdeckung harrt.

Die Predigthandschrift Vat. Pal. lat. 991 Unter den wenigen Handschriften, die aus dem Vermächtnis Konrads von Gelnhausen an die Universität Heidelberg noch erhalten sind, befindet sich auch die heute in der Vatikanischen Bibliothek aufbewahrte Sammelhandschrift Vat. Pal. lat. 991, im folgenden bezeichnet mit B. In dem erwähnten Bücherkatalog der

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Beschrieben als: Item quedam questiones de manu sua, in papiro, incomplete [...] und Item alie questiones de manu sua, eciam incomplete [...], s. TOEPKE [Anm. 8], S. 657f., Nr. 44 u.45. 12 Beschrieben als: Item quidam sermones, in pap〈iro〉, de manu sua, 2 o folio ›merito ergo‹, penultimo ›quo ad sermones in quibus‹, s. TOEPKE [Anm. 8], S. 657, Nr. 41. 13 DOROTHEA WALZ, Konrad von Gelnhausen und die Heiligen Heinrich und Kunigunde. Mit Edition des Sequenzenzyklus in Vat. Pal. lat. 991, in: Palatina Studien. 13 Arbeiten zu Codices Vaticani Palatini latini und anderen Handschriften aus der alten Heidelberger Sammlung, hg. von WALTER BERSCHIN (Miscellanea Bibliothecae Vaticanae V; Studi e Testi 365), Citta` del Vaticano 1997, S. 329–358 mit Abb. 60 u. 61. 14 LUDWIG SCHMITZ, Ein Brief Konrads von Gelnhausen aus dem Jahre 1379, Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und für Kirchengeschichte 9 (1895), S. 186–189. 15 CULLEY [Anm. 2], S. 31. 16 Ebd., S. 31.

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Universität von 1396 wird sie unter Konrads Büchern folgendermaßen beschrieben:17 Item in uno libro ligato in coreo viridi habentur hec per ordinem: [1] auctoritates loyce veteris et noue (1r–38v: Marsilius von Padua, ›Auctoritates Aristotelis‹); [3] item materie libri sentenciarum secundum ordinem alphabeti (fol. 50r–110r: Alphabetische Stichwortkonkordanz zu den ›Sentenzen‹ des Petrus Lombardus); [2] quedam visiones beate Brigide (39r–45r: Birgitta von Schweden, ›Revelationes‹, VII,12–15; I,10); [4] consolaciones theologie (112r–139v: Johannes von Dambach, ›De consolatione theologiae‹); [5] item sex sermones (140r–158r: Konrad von Gelnhausen, Bologneser Predigten von 1385–1387); [6] et alia parva (d. h. weitere, kleinere Texte Konrads von Gelnhausen, darunter: fol. 45v–47v: Sequenzenzyklus auf die Heiligen Heinrich und Kunigunde; fol. 160r–162v: ›Collatio‹ zur Promotion im kanonischen Recht, Bologna, ca. 1375 (Predigt 1); [7] 164r–166r: Über die Ungültigkeit einer Indulgenz des Johanniterordens, verfaßt 1388). 2 o folio ›afficitur enim‹, penultimo ›excommunicacionis‹.18

Die zuletzt genannten principia foliorum der 167 Blätter (+ 2 Vorsatzblätter) umfassenden Papierhandschrift (Maße: 21,5 × 15–15,5 cm) stimmen tatsächlich mit der Handschrift B überein: Blatt 2r beginnt mit den Worten afficitur enim und das vorletzte Blatt 166r mit excommunicacionis, so daß dadurch die Provenienz der Handschrift Konrads von Gelnhausen gesichert ist. Auch das Inhaltsverzeichnis auf dem Vorsatzblatt der Handschrift selbst, av (Abb. 6), stimmt mit dieser Auflistung von 1396 überein: Jn isto libro continentur infrascripti / [1] Primo auctoritates nobiles loyce veteris et noue et phisice tam animalis quam materialis et metaphisice / [2] Jtem quedam visiones domine Brigide de Swecia / [3] Jtem materie libri sentenciarum secundum ordinem alphabeti / [5,1] Jtem sermo de sancto Dominico (140r–143v: Bologna, 4. VIII. 1385; Predigt 69) / [5,2] Jtem sermo de natiuitate virginis (144r–146v: Bologna, 8. IX. 〈1385〉; Predigt 70) / [5,3] Jtem sermo de sancto Clemente (147r–149v: Bologna, 23. XI. 1385; Predigt 71) / [5,4] Jtem sermo de natiuitate Christi (150r–151v: Bologna, 25. XII. 1385; Predigt 72) / [5,5] Jtem sermo de passione Christi (152r–155r: Bologna, 20. IV. 1386; Predigt 73) / [5,6] Jtem sermo de annunciacione virginis (156r–157r: Bologna, 25. III. 1387; Predigt 74). – Es folgen zwei weitere, nicht datierte und lokalisierte Predigtautographe Kon-

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Im folgenden sind der Eintrag im Bücherkatalog von 1396 und das Inhaltsverzeichnis der Handschrift Vat. Pal. lat. 991, fol. av, aufeinander bezogen, wobei die einander entsprechenden Texte in eckigen Klammern durchnumeriert sind. 18 TOEPKE [Anm. 8], S. 659, Nr. 87–92. Beschreibung der Handschrift bei WALZ [Anm. 1]; ferner DOROTHEA WALZ, Die historischen und philosophischen Handschriften der Codices Palatini Latini in der Vatikanischen Bibliothek (Vat. Pal. Lat. 921–1078), hg. von VEIT PROBST u. KARIN ZIMMERMANN (Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg 3), Wiesbaden 1999, S. 122–126.

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rads: 157v zu einem Passionssonntag, vermutlich 15. III. 1388 (Predigt 75); 158r/v zu einem Karfreitag, vermutlich 27. III. 1388 (Predigt 76) / [6] Jtem collacio in doctoratu / [7] Jtem declaracio contra indulgenciam hospit〈alium〉.

In unserem Zusammenhang sind vor allem die unter [5] genannten sermones von Bedeutung, die, im Unterschied zu der wenige Jahre später erfolgten Katalogisierung, hier einzeln aufgelistet sind. Daß Konrad sogar selbst der Autor jener sermones ist, geht aus der Überschrift zu Beginn der ersten in B enthaltenen Predigt [5,1], 140r (Abb. 1) hervor, der einzigen eigenen Namensnennung des Wormser Dompropstes überhaupt im Zusammenhang mit seinen Predigten: Veni, Jhesu bone. Anno lxxxv. Jn die beati Dominici et in ecclesia eiusdem Bononie Conradi prepositi Wormaciensis. Pie lector, ora pro eo.

Die Zuweisung der übrigen in dieser Handschrift überlieferten Predigten ist nur durch die Paläographie von Konrads Schrift möglich, für die diese Überschrift den Schlüssel zum Vergleich darstellt: Demnach dürfen die 140r–158r enthaltenen Predigten, die alle von derselben Hand geschrieben sind, als Autographe Konrads von Gelnhausen gelten. Entsprechend kann auch das Inhaltsverzeichnis av Konrads Hand zugewiesen werden.

Die Predigthandschrift Vat. Pal. lat. 606 Eine zweite Handschrift mit autographen Predigten Konrads von Gelnhausen stellt die Vatikanische Handschrift Vat. Pal. lat. 606 dar, im folgenden mit A bezeichnet. Sie besteht aus zwei voneinander unabhängigen, erst im Vatikan zusammengesetzten und foliierten Teilen, die beide aus der Heidelberger Bibliotheca Palatina stammen, wobei nur Teil II (53r–222v) zum Nachlaß Konrads von Gelnhausen an die Heidelberger Universität gehört. Im Bibliothekskatalog von 1396 wird sie folgendermaßen charakterisiert: Jtem in vno volumine: tractatus de jurisdictione papali et imperiali (fol. 53r–79v: Tholomaeus von Lucca, ›Determinatio compendiosa de iurisdictione imperii‹); postea quedam de materia scismatis (81r–86r: Konrad von Gelnhausen (?), ›De divisione et translatione imperii‹); 3 o tractatus Landolffi de jurisdictione imperij (fol. 86v–94r: Landolfus de Columna, ›Tractatus de statu et mutatione imperii‹); 4 o aliqua dicta fratris dicti Bonagracia de iurisdictione papali et imperiali (Konrad von Gelnhausen, Exzerpt aus ›De iurisdictione papali et imperiali‹ des Bonagratia von Bergamo); item tractatus magistri Henrici de Hassia de consecracione episcoporum tempore currentis scismatis (104v–111v: Heinrich von Langenstein, ›De consecratione episcoporum tempore illius scismatis‹); vltimo lectura legis ciuilis de sentenciis, que pro eo, quod interest, proferuntur (fol. 114r–120r: Cino da Pistoia, ›Lectura Codicis‹, VII,47); 2 o folio ›quod ingestis‹, penultimo ›ne spiritus tamen‹.19 19

TOEPKE [Anm. 8], S. 661, Nr. 157–162.

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Von den genannten principia foliorum trifft nur das erste 54r zu (quod in gestis beati Gregorij scribitur); offensichtlich war die Papierhandschrift (Maße: 21 × 14–15,5 cm) 1396 noch umfangreicher als heute. Von Predigten Konrads von Gelnhausen ist aus diesem Verzeichnis nichts zu erfahren. Der zu dieser Handschrift wenig ausführliche Katalog der PalatinaHandschriften von HENRY STEVENSON JR. (1886) erwähnt immerhin anonyme »Sermones de tempore et de sanctis«.20 Wiederum durch Schriftvergleich mit den autographen Predigten in B konnte auf 124r–132r, 136v, 138r–159r, 163r– 168v, 175v–176v, 178r–182v, 184r–213r, 218r und 220v eine große Anzahl lateinischer Predigten festgestellt werden, die sämtliche als Autographe Konrads von Gelnhausen zu betrachten sind.21 Im heutigen Zustand ist die Lagenanordnung gestört. Über ihre ursprüngliche Reihenfolge sind wir jedoch durch Konrad selbst informiert, der die einzelnen Lagen, außer der ersten und letzten, jeweils unten auf der ersten Recto-Seite in arabischen Ziffern durchgezählt hat. In Konrads originaler Anordnung und mit der heutigen Blattzählung verteilen sich die für die Predigten relevanten Lagen bis zur ungezählten letzten Lage folgendermaßen: 8: 150r–157v (Quaternio); 9: 124r–137v (Septenio); 10: 158r–171v (Septenio); 11: 172r–183v (Senio); 12: 184r–191v (Quaternio); 13: 192r–211v (Decenio); 14: 138r–149v (Senio); ungezählte letzte Lage: 212r–221v (Quinio).

Die ›Collatio‹ zur Promotion im kanonischen Recht: Erste Predigt Konrads von Gelnhausen Im Inhaltsverzeichnis der Handschrift B, av (Abb. 6) zählt Konrad von Gelnhausen nach den sechs Bologneser Predigten auch eine collatio in doctoratu auf. Darunter ist die in B, 160r–162v (Abb. 4 von 160r) enthaltene, einzige nicht autographe Predigt Konrads zu verstehen. Sie stellt die in einer gepflegten Bastarda geschriebene Reinschrift nach dem nicht mehr vorhandenen Autograph dar und wurde nach dem 25. III. 1387 (Predigt 74; letzte der sechs datierten Bologneser Predigten) und vor dem 13. IV. 1390 (Tod Konrads von Gelnhausen) vermutlich von einem Auftragsschreiber für Konrad angefertigt. Dem Inhalt nach ist sie jedoch Konrads erste Predigt überhaupt. Es handelt sich um seine universitäre offizielle Collatio anläßlich seiner Promotion im kanonischen Recht in Bologna, denn im Text bittet Konrad um die Verleihung der 20

HENRICUS STEVENSON IUNIOR, Codices Palatini Latini Bibliothecae Vaticanae, Bd. 1 [= Vat. Pal. lat. 1–920], Rom 1886, S. 211. 21 Beschreibung der Handschrift bei WALZ [Anm. 1].

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Doktorinsignien, nämlich um Buch, Ring und Birett sowie um den Friedenskuß und Segen, und rühmt seine Lehrer, nämlich den Sohn (?) des berühmten Bologneser Kanonisten Johannes Andreae de Sancto Hieronymo († 1348), Hieronymus de Sancto Hieronymo,22 und vor allem den bedeutendsten Juristen Bolognas der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts, Johannes von Legnano († 1383).23 Die Collatio ist Bestandteil des streng geregelten Promotionsverfahrens in Bologna, das aus der privaten, eigentlichen Prüfung und der anschließenden öffentlichen, prunkhaften Schauprüfung (conventus) besteht.24 Jener conventus, vergleichbar mit der heutigen Antrittsvorlesung, war eine kostspielige Angelegenheit, verpflichtete er doch den Doktoranden zu festgesetzten Geldbeträgen für die an der Promotion beteiligten Magistri, darüber hinaus zu einem Bankett, Handschuhen, Süßigkeiten und anderen Geschenken für die übrigen Magistri und Mitstudenten. Eine Prozession geleitete den Kandidaten von seiner Wohnung zur Kathedrale San Pietro, dem Schauplatz des conventus. Dort hielt der Kandidat seine Collatio, an die sich eine Schaudisputation über ein festgelegtes Thema aus seinem Fach anschloß. Nach der Disputation bekam der Doktorand die licencia docendi verliehen, ferner die Doktorinsignien und wurde auf den Lehrstuhl, die cathedra, gesetzt. Mit dem Friedenskuß und dem Segen wurde der frisch promovierte Doktor entlassen. Dem äußeren prunkhaften Rahmen entspricht auch Konrads Collatio, die sich weniger durch gedankliche Tiefe als vielmehr durch zur Schau gestellte Gelehrsamkeit mit einer Unmenge an kanonistischen Zitaten auszeichnet. Als sprachlich preziöse Einleitung dient eine metrische, aus akatalektischen trochäischen Tetrametern bestehende Oratio.25 Biographische Daten über Konrads Studium in Bologna existieren kaum; bekannt ist nur, daß er vom 8. IX. 1369 – 13. I. 1370 Prokurator der deutschen Nation war.26 Wenig wahrscheinlich ist, daß er erst 1369 mit dem Studium begann und sofort in das wichtige Amt des Prokurators gewählt wurde. Da das Studium der Kanonistik in der Regel sechs Jahre dauerte, kommt als spätester Termin für Konrads Promotion und damit auch für die Collatio das Jahr 1375 in Frage. 22

A, 162v: A vobis vero domino et patre meo domino Jeronimo de sancto Jeronimo, qui omni genere duxistis de claro sangwine michi viri domini Johannis Andree, ›qui in vita sua suffulsit domum et in diebus suis corroboravit templum‹ (Sir 50,1). 23 A, 162r: A vobis igitur patre et domino meo singularissimo domino Johanne de Lignano incomparabili utriusque iuris doctore, qui ›quasi stella matutina in medio nebule et quasi luna plena in diebus suis lucet [...]‹ (Sir 50,6). 24 Über die Promotionsriten in Bologna im 14. Jahrhundert unterrichten detailliert die Statuten von 1317–1347, Die Statuten der Juristen-Universität Bologna vom Jahr 1317–1347, hg. von HEINRICH DENIFLE, in: Archiv für Litteratur- und Kirchengeschichte des Mittelalters 3 (1887), S. 196– 397; s. auch HASTINGS RASHDALL, The Universities of Europe in the Middle Ages, hg. von F. M. POWICKE u. A. B. EMDEN, Oxford 1936, Bd. 1, S. 224–229; OLGA WEIJERS, Terminologie des universite´s au XIIIe sie`cle (Lessico Intellettuale Europeo 39), Rom 1987, S. 373–378 u. PETER WEIMAR, Bologna. B.: Die Rechtsschule von Bologna, LexMa II, Sp. 374–381, bes. 380f. 25 Siehe WALZ, Heinrich und Kunigunde [Anm. 13], S. 340. 26 ERNESTUS FRIEDLÄNDER/CAROLUS MALAGOLA, Acta Nationis Germanicae Universitatis Bononiensis, Berlin 1887, S. 132f.

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Charakteristik der Predigtautographe Konrads Schrift ist die gegen 1360/70 aufkommende jüngere gotische Buchkursive, die in der Regel als hastige cursiva currens ausgeführt ist.27 Kalligraphie ist in seinen Predigtautographen nicht angestrebt. Zahlreiche Abkürzungen erschweren dem heutigen Leser das Verständnis. Besonders biblische und kanonistische Zitate werden stark abgekürzt und oft nur mit den Anfangsbuchstaben gekennzeichnet: Für Konrad genügten diese Hinweise, denn er kannte sie auswendig. So findet man beispielsweise in der Predigt 27 (A, 131, Zeilen 5/6; Abb. 2) die rätselhafte Buchstabenfolge pl es et de ca in de sta t as e p, hinter der sich pulchra es et decora, carissima in deliciis, statura tua assimilata est palmae (Ct 7,6f.) verbirgt. Konrads Predigtautographe waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern für den eigenen Hausgebrauch und vermitteln einen Einblick in die Studierstube des vielbeschäftigten Gelehrten und Predigers. Schon auf den ersten Blick wird deutlich, daß es sich bei den Predigten in den Handschriften A und B keinesfalls um Abschriften handeln kann, sondern um die originalen Texte des Autors, die im allgemeinen als notizenartige Entwürfe zu bezeichnen sind. Sie lassen nur wenig rhetorischen Ornat erkennen und bieten nur die wichtigsten inhaltlichen Informationen, das bloße ›Predigtgerüst‹. Nur die wenigsten sind vollständig ausgearbeitet und abgeschlossen mit einem durch ein Amen oder eine liturgische Formel erkennbaren Ende. Als eine solche Ausnahme ragt die erste Bologneser Predigt (Predigt 69; Abb. 1) hervor, die sich auch vom äußeren Schriftbild als sehr sorgfältig und gleichmäßig geschrieben auszeichnet und nur wenige Korrekturen enthält. Die Mehrheit der Predigten dagegen ist fragmentarisch und unvollendet. Nicht wenige brechen bereits nach wenigen Zeilen ab. Insgesamt reicht die Spannweite hinsichtlich des Umfangs von acht Manuskriptseiten bei der längsten Predigt (Predigt 69) bis zu nur vier Zeilen bei der kürzesten Predigt (Predigt 4). Die meisten Predigten sind ihrer äußeren Form nach dadurch charakterisiert, daß sie zahlreiche Korrekturen von Konrads Hand am Rand und innerhalb der Zeilen aufweisen, ferner Einfügungen von zum Teil recht umfangreichen Passagen, deren Bezug zum Text durch diakritische Zeichen hergestellt ist. Der Schrift- und Zeilenspiegel fällt im allgemeinen sehr uneinheitlich aus. Nicht selten sind die Predigten durch Leerräume durchbrochen, die Konrad von Gelnhausen für Ergänzungen und Nachträge vorsah. Ein Beispiel für diesen Werkstattcharakter ist Konrads Predigt 29 (A, fol. 158r–159r) vom 24. VIII. 1384 zum Fest des hl. Bartholomäus mit dem Predigtthema Bene omnia fecit (Mt 7,37). Hier wird deutlich, daß Blatt 158r (Abb. 3) zunächst nur auf der oberen Hälfte der Seite bis Zeile 21 beschrieben war (cum ex caritate): Um nämlich die Fortsetzung des Textes, 158v (fertur in dileccionem dei et proximi), anzuzeigen, fügte Konrad später verte hinzu. Die untere Seiten27

Ausführliche paläographische Analyse von Konrads Schrift bei WALZ [Anm. 1]

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hälfte wurde nachträglich gefüllt, und zwar mit einer mittelhochdeutschen versifizierten Introductio und einer ebensolchen Divisio,28 die die Übersetzungen der entsprechenden lateinischen Teile in der oberen Seitenhälfte darstellen, und mit einer Textergänzung, markiert durch ein diakritisches Zeichen. Die lateinische Introductio (Zeilen 3–6) lautet: Beatus apostolus Bartholomeus, quantum in se fuit, voluntatem suam diuinis beneplacitis conformem effecit, orbem terrarum decencius exemplis, prodigiis atque signis refecit ac victoriosum triumphum contra carnem, mundum et demones perfecit, ergo: Bene omnia fecit.

Der lateinischen Introductio entspricht die deutsche Übersetzung in der Mitte der Seite: Sant Bartolomeus hat genczlich sinen willen gots willen gemacht vndertan o vnd alles zitlich gut vnd wollust durch got abgescheiden vnd getan, vnd kunden dem fleische, dem bosen luden vnd dem difeln menlich widerstan, darumm ist billich von im gesprochen: Er hat alle ding wol getan.

Ebenso verhält es sich mit der lateinischen Divisio (Zeile 15): Jn quibus verbis communiter tria (korrigiert aus: duo) innuuntur, que in quolibet viatore pro salute consequenda requiruntur,29 videlicet: perfeccio voluntatis ordinate, quia: bene vniuersalitas bonitatis accepte: omnia et consumacio operacionis inchoate: fecit.30

Die deutsche Wiedergabe der lateinischen Divisio lautet im Anschluß an die deutsche Introductio: Jn den worten mag man merken zwei (korrigiert aus: drii) ding, di notdurftig sint zu dem ewigen leben: dez willen ordentlicheit vnd guder werke volkummenheyt.

Während die lateinische Divisio entsprechend dem Thema Bene omnia fecit noch dreigliedrig aufgebaut war, entschloß sich Konrad in der nachgetragenen deutschen Version zu nur zwei Gliedern, wie auch die Korrektur aus drii zeigt. Es handelt sich somit nicht um einen Auslassungsfehler der Übersetzung, sondern um eine zweite Fassung der Predigt, denn je nach der Anzahl der in der 28

Die Predigten Konrads von Gelnhausen sind nach dem streng scholastischen Predigtschema, das in den scholastischen Predigttraktaten des 13. und 14. Jahrhunderts wie der ›Ars concionandi‹ Pseudo-Bonaventuras (13. Jh.) beschrieben wurde, aufgebaut: Anrufung – Predigtthema – Introductio – Divisio – Tractatio – Conclusio, wobei die Terminologie bei den einzelnen Predigttheoretikern variiert. Die Termini ›Introductio‹ und ›Divisio‹ sind bei Konrad mehrfach bezeugt; sie stellen die Teile der Predigt dar, die in der Regel besonders kunstvoll gestaltet sind, oft auch in Versen. Nur eine der 77 Predigten stellt keine Themapredigt dar, sondern eine Homilie (Predigt 9). Zur Struktur und Logik der Predigten Konrads von Gelnhausen s. WALZ [Anm. 1]. 29 qui [...] requiruntur: über der Zeile ergänzt. 30 fecit auf Rasur.

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Divisio angekündigten Glieder wurden auch in der sich anschließenden Tractatio entweder zwei oder drei Teile exegetisch behandelt. Ein weiteres Beispiel, das den Schreibprozeß Konrads illustriert, stellt die Predigt 27 (A, 131r; Abb. 2) vom 15. VIII. 1384 zum Fest Mariae Himmelfahrt mit dem Predigtthema Veni, coronaberis (Ct 4,8) dar. Sie ist zwar bis zum Ende ausgeführt, enthält aber auch die typischen Ergänzungen an den Rändern, die sogar noch auf die linke, im übrigen leere Seite der Handschrift (130v) ausgedehnt sind: Dort befindet sich die nachträglich in Form eines Begriffsschemas angebrachte Introductio der Predigt. Aber auch zu dieser Fassung existiert eine Variante, denn die aus nur wenigen Zeilen bestehende, undatierte Predigt 28 mit dem Thema Veni in terram (Gn 12,1) auf der folgenden Seite, 131v, wird von Konrad am Rand bezeichnet als alia introduccio thematis. Auch bei der unvollständigen Predigt 21 zum Thema Io 6,59 handelt es sich um Vorarbeiten zu der Fronleichnamspredigt 22 mit demselben Predigtthema. Bemerkenswert ist, daß 21 ebenfalls eine deutsche Introductio enthält. Handelt es sich dabei jeweils um zwei verschiedene Predigten oder um zwei verschiedene Entwürfe für eine und dieselbe tatsächlich gehaltene Predigt? Wurden die mit deutschen Ergänzungen und Nachträgen ausgestatteten Predigten auf deutsch oder auf lateinisch gehalten oder einmal lateinisch und das andere Mal auf deutsch? Über diese Fragen läßt sich nur spekulieren; wie die Entwürfe tatsächlich in die Praxis umgesetzt wurden, entzieht sich weitgehend unserer Kenntnis. Wenngleich eine Mehrfachverwendung der Predigten nicht ausgeschlossen ist, ist doch zu beachten, daß ein Großteil der Predigten datiert und lokalisiert ist. Damit wird der Frage nach der variablen Verfügbarkeit der Predigten als Material für mehrere Gelegenheiten immerhin eine historische Dimension verliehen. Hinsichtlich der Vortragssprache ist weiterhin zu beachten, daß außer den erwähnten Predigten 21 und 29 auch die Predigten 3–5, 14, 24, 26, 36, 55, 58, 62 und 65 mehr oder weniger umfangreiche deutsche Partikel enthalten, die eine mündliche Ausführung auf deutsch nahelegen. Von diesen enthält die Eßlinger Predigt 24 ausdrücklich den Zusatz ad populum. Dies erlaubt die vorsichtige Schlußfolgerung, daß auch die Predigten 9 und 48 (beide Wormser Liebfrauenstift), die auch ad populum ausgezeichnet sind, aber keine deutschen Partikel aufweisen, ebenfalls auf deutsch gehalten wurden. Aufschlußreich sind hierfür Konrads eigene Lokalisierungen: Von den genannten ›deutschen‹ Predigten fanden die Predigten 5 im Frankfurter Jungfrauenkloster St. Katharina, einer Versorgungsstiftung für Bürgertöchter, 62 bei den Wormser Minoriten, 65 bei den (Wormser?) Dominikanern und 21 (bzw. 22) in der Wormser Pfarrkirche St. Johannes statt; neben dem erwähnten Wormser Liebfrauenstift wurden auch die ›deutschen‹ Predigten in weiteren Stiftskirchen vor Stiftskanonikern gehalten, nämlich im Frankfurter Bartholomäusstift (4) und im Mainzer Stift Mariengreden (26); außerdem predigte Konrad auch im Wormser Dom auf deutsch (3; 14; 29; 55; 58?), in der Predigt 3 sogar ausdrücklich in curis prepositure, d. h. in

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seiner Eigenschaft als Dompropst vor dem Domkapitel. Ob sich daraus zwingend ergibt, daß alle übrigen Predigten, die den Minoriten (30; 46), Dominikanern (20; 31; 66) und Dominikanerinnen (2; 52), Pfarrgemeinden (12), verschiedenen Stiftskanonikern (11; 16–18; 25; 40; 41; 48; 53; 63) und Domkirchen (13; 15; 19; 29; 32; 33; 37; 38; 64) auf deutschem Gebiet galten, ebenfalls auf deutsch gehalten wurden, muß offen bleiben. Als sicher wird man nur annehmen dürfen, daß Konrads universitäre Predigten in lateinischer Sprache stattfanden.

Datierung der Predigten Fast alle Predigten Konrads von Gelnhausen sind, dem scholastischen Predigtschema entsprechend, von einer Anrufung eingeleitet,31 mit der meistens Jesus, aber auch Maria um Anwesenheit und Beistand gebeten werden. Die Anrufung in Konrads Predigten hat gleichzeitig die Funktion einer Überschrift. Die schlichteste Anrufungsformel ist Veni, Ihesu; oft begegnet sie jedoch in erweiterter Form, die bereits ein Hinweis auf die Occasio der betreffenden Predigt sein kann: Veni, bone (piissime; amabilis) Ihesu; Veni, consolator; Veni, redemptor; Veni, Ihesu cum matre (an Marienfesten); Veni, rex clementissime (zum Fest des hl. Clemens); veni, doctor doctorum (zum Fest des hl. Thomas von Aquin) usw. Darüber hinaus können in der Überschrift die Datierung und Lokalisierung der Predigt enthalten sein. Selbst wenn manche Entwürfe nur aus wenigen Zeilen bestehen, wird doch ausnahmslos das Predigtthema genannt, mit dem jede Predigt beginnt. Das Kriterium für eine Einheit stellt somit deren Thema dar. Auf diese Weise werden beispielsweise die Predigten 21 (A, 124r/v) und 22 (A, 125r–126r) mit jeweils demselben Thema als zwei verschiedene Einheiten behandelt. Von sämtlichen 77 Predigten, wie sie in den Handschriften A und B als erkennbare Einheiten vorliegen, ist der überwiegende Teil von Konrad selbst auf irgendeine Weise datiert, sei es durch die Angabe des jeweiligen Festtages, z. B. in die sancti Martini (Predigt 12); feria sexta in quadragesima (Predigt 36); in vigilia pentecostes (Predigt 48); Veni, tria et una deitas (Indiz für den Dreifaltigkeitssonntag; Predigt 49); Dominica 16 (Predigt 52); sei es, daß nur das Jahr der Predigt genannt ist, z. B. 83 (1383; Predigt 37); oder sei es im günstigsten und glücklicherweise auch häufigsten Fall, daß sowohl das Jahr als auch die Occasio angegeben sind, z. B. ... cum sancto tuo Bartholomeo 78 (Predigt 3); Dominica prima ... 82 (Predigt 24); In cena domini ... 83 (Predigt 43). Fehlt die Angabe des Sonn- oder Festtages, ist man zur Ermittlung der Occasio allein auf das Predigtthema angewiesen. Hierbei stößt man jedoch schnell auf Ungereimtheiten, denn auch in den Fällen, in denen das genaue Datum mit dem Jahr genannt ist, wird man feststellen, daß die Lektionen, aus denen das 31

Ausnahmen sind: Predigt 7, 8, 44 und 75.

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Thema gewählt ist, oft nicht mit dem genannten Tag im Kirchenjahr übereinstimmen, gemessen am vortridentinischen ›Missale Romanum‹ oder dem ›Rationale divinorum officiorum‹ Wilhelms Duranti, dem liturgischen Handbuch des späten Mittelalters. Es stellt sich heraus, daß Konrad von Gelnhausen den Meßritus der Mainzer Kirche, d. h. seiner Erzdiözese, zu der auch das Bistum Worms gehörte, befolgte. Vor allem in der unterschiedlichen Verteilung der Lektionen im Kirchenjahr, die gerade für die Ermittlung der Predigtthemen von Belang sind, bestehen die auffälligsten Abweichungen des Mainzer vom römischen Ritus; sie betreffen die Epistel- und Evangelienperikopen der Advents- und Fastenzeit sowie die Evangelienperikopen der Nachpfingstzeit.32 Wenn Konrad beispielsweise in der Predigt 16 (A, fol. 154r–155r) das Evangelium Lc 21,25–33 zugrundelegt mit der Überschrift: 81 dominica secunda aduentus que est concepcionis dies virginis, stimmen seine Angaben mit dem Mainzer Missale zum 2. Adventssonntag, der darüber hinaus im Jahr 1381 auf den 8. Dezember fällt (Conceptio Mariae), überein. Dagegen sieht das ›Missale Romanum‹ zum 2. Adventssonntag die Evangelienperikope Mt 11,2–10 vor. Nach dem Mainzer Missale lassen sich auch die übrigen in der Mainzer Erzdiözese gehaltenen Predigten, deren Sonnoder Festtag nicht genannt wird, nach dem Predigtthema datieren. Um eine lückenlose Chronologie herzustellen, bleiben dennoch zahlreiche Predigten ohne Jahresangabe übrig, zu deren Datierung man lediglich auf die Anordnung in den Handschriften angewiesen ist. Unter Berücksichtigung der gestörten Reihenfolge der Lagen in A33 ergeben sich auch nach deren Korrektur Probleme, die eine Chronologie rein nach der handschriftlichen Anordnung verbieten. Zweifellos beginnen die Predigten in A mit den von Konrad bezeichneten Lagen 10 (Predigten 2–5; Jahrgang 1378), 11 (die Pariser Predigten 6–8; Jahrgang 1379) und 12 (Predigten 9–13; Jahrgang 1380), bevor sich die Lagen 8 (Predigten 14–19; Jahrgang 1381) und 9 (Predigten 20–28; Jahrgang 1382) chronologisch anschließen. Auch innerhalb der Lagen treten Unstimmigkeiten auf, z. B. in Lage 9, deren dem Datum nach erste Predigt auf die letzte Seite der Lage plaziert wurde (Predigt 20), die übrigen jedoch, dem Datum nach späteren, auf den freigelassenen Seiten davor. Dies erlaubt weitere Rückschlüsse auf die Arbeitsweise Konrads von Gelnhausen: Offensichtlich arbeitete er zeitlich in Gruppen und an mehreren Predigten gleichzeitig. Hierbei bieten sich vor allem die kürzeren an, um als Lückenfüller zwischen längere Predigten eingefügt zu werden.

32

HERMANN REIFENBERG, Messe und Missalien im Bistum Mainz seit dem Zeitalter der Gotik (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 37), Münster/W. 1960, S. 36–38 u. 52–56. 33 Siehe oben, S. 497.

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Die Predigten in chronologischer Reihenfolge Nach Abwägung sämtlicher genannten Datierungsfragen und handschriftlichen Probleme ergibt sich folgende Chronologie: 1. B, 160r–162v: ›Collatio‹ zur Promotion. Bologna, Kathedrale San Pietro, 8. Sonntag nach Pfingsten, ca. 1375. Die Datierung beruht auf dem Predigtthema Lc 16,6 aus dem Evangelium Lc 16,1–6 (in ewangelio dominice currentis) vom 8. Sonntag nach Pfingsten (›Missale Romanum‹). 2. A, 163r–164r: In octaua assumpcionis Libenow 78. Liebenau bei Worms, Dominikanerinnenkloster, 22. VIII. 1378 (Mariae Himmelfahrtsvigil). Predigtthema: Ct 4,8. 3. A, 164v–165v: Veni, bone Ihesu, assis cordi meo cum sancto tuo Bartholomeo 78, in curis prepositure. Worms, Dom St. Peter, 24. VIII. 1378 (Fest des hl. Bartholomäus). Predigtthema: Lc 22,26 aus dem Evangelium Lc 22,24–30 (in ewangelio hodierno) des Commune sanctorum pro apostolo sive apostolis. 4. A, 166r–167v: In ecclesia sancti Bartolomei, prima post Egidij 78. 〈Frankfurt〉, St. Bartholomäus-Stift, 5. IX. 1378. Das Fest des hl. Egidius findet am 1. IX. statt; der darauffolgende Sonntag ist im Jahr 1378 der 5. September und gleichzeitig der 12. Sonntag nach Pfingsten. Predigtthema: Mc 7,37 aus dem Evangelium Mc 7,31–37 (in ewangelio dominicali) vom 12. Sonntag nach Pfingsten (Mainzer Ritus). 5. A, 168r/v: In monasterio sancte Katharine Frankfordie vigilia natiuitatis 78 virginis graciose. Frankfurt, Jungfrauenkloster St. Katharina, 7. IX. 1378. Predigtthema: Prv 8,32 aus der Epistel Prv 8,22–35 (in epistola festiuitatis presentis) zum Fest Mariae Geburt. 6. A, 175v–177v: Dominica quinta post pentecostem ad celestinos, 79. Paris, Cölestinerkloster, 10. VII. 〈1379〉. Predigtthema: Lc 5,11 aus dem Evangelium (in ewangelio hodierno) vom 5. Sonntag nach Pfingsten (nach Mainzer Ritus). 7. A, 178r–179r: Dominica nona post pentecostem apud celestinos, 79. Paris, Cölestinerkloster, 7. VIII. 1379. Predigtthema: I Cor 10,12 aus der Epistel 10,6–13 (in epistola hodierna) vom 9. Sonntag nach Pfingsten. 8. A, 179v–182v: In vigilia assumpcionis apud sanctum Victorem Parisius 79. Paris, Kloster St. Victor, 14. VIII. 1379. Predigtthema: Lc 16,6 aus dem Evangelium Lc 16,1–9 (in ewangelio dominice currentis). Die Mariae Himmelfahrtsvigil fällt 1379 mit dem 10. Sonntag nach Pfingsten zusammen. Nach dem römischen Ritus wird Lc 16,1–9 jedoch am 8., nach Mainzer Ritus nach dem 9. Sonntag nach Pfingsten gelesen. Offensichtlich befolgte Konrad hier den Pariser Meßritus, demzufolge die Perikope erst am 10. Sonntag nach Pfingsten gelesen wird.34 34

DENISE BLOCH/MARIE-PIERRE LAFFITTE/JACQUELINE SCLAFER, Bibliothe`que Nationale: Cata-

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9. A, 184r–186r: Dominica 14 ad nostram dominam Wormacie 80 ad populum. Worms, Liebfrauenstift, 26. VIII. 1380. Predigtthema: Lc 17,17 aus dem Evangelium Lc 17,11–19 vom 14. Sonntag nach Pfingsten (Mainzer Ritus). 10. A, 186v–190r: Ad clerum in synodo anno 80. Worms, Diözesansynode, Sonntag 26. VIII. (oder in der laufenden Woche) 1380. Predigtthema: Lc 17,14 aus dem Evangelium Lc 17,11–19 (in ewangelio dominicali) vom 14. Sonntag nach Pfingsten (Mainzer Ritus). 11. A, 191v: Ad canonicos Moguntinos in die sancti Victoris 80. Mainz (vermutlich im Kanonikatsstift Mariengreden, wo Konrad eine Pfründe besaß und mehrmals dort predigte), 10. X. 1380 (Fest des hl. Victor von Xanten). Predigtthema: Mt 22,2 aus dem Evangelium Mt 22,1–4 (in ewangelio dominicali) des vorausgehenden 20. Sonntags nach Pfingsten (7. X. 1380; Mainzer Ritus). 12. A, 190r/v: In die sancti Martini in ecclesia sancti Lamperti Wormacie. Worms, Pfarrkirche St. Lambert, 11. XI. 1380. Predigtthema: Io 6,14 aus dem Evangelium Io 6,5–14 (in ewangelio dominice hodierne) vom 25. Sonntag nach Pfingsten (Mainzer Ritus). Das Fest des hl. Martin fällt 1380 mit dem 25. Sonntag nach Pfingsten zusammen. 13. A, 191r: In die Katharine in ecclesia Wormaciensi 80. Worms, Dom St. Peter, 25. XI. 1380 (Fest der hl. Katharina von Alexandrien). Predigtthema: Prv 31,31 aus der Epistel Prv 31,10–31 des Commune sanctorum de pluribus virginibus. 14. A, 150r–152r: Dominica vltima, Wormacie in maiori 81. Worms, Dom St. Peter, 24. XI. 1381. Predigtthema: Io 6,5 aus dem Evangelium Io 6,5–14 vom letzten Sonnten nach Pfingsten (Mainzer Ritus). 15. A, 152v–153v: Dominica prima aduentus in maiori. Worms, Dom St. Peter, 1. XII. 〈1381〉. Predigtthema: Rm 13,12 aus der Epistel Rm 13,11–14 vom 1. Advent. 16. A, 154r–155r: 81 dominica secunda aduentus, que est concepcionis dies virginis. Mainz, Stift Mariengreden, 8. XII. 1381. Die Lokalisierung erfolgt nach der Angabe des Sygelo von Oppenheim in A, ar (siehe unten, S. 515). Predigtthema: Lc 21,28 aus dem Evangelium Lc 21,25–33 (in ewangelio hodierno) vom 2. Advent (Mainzer Ritus). Im Jahr 1381 fällt der 2. Adventssonntag mit dem Fest Mariae Empfängnis zusammen. 17. A, 155v–156r: Ibidem dominica 3. Mainz, Stift Mariengreden (siehe Predigt 16), 15. XII. 〈1381〉. Predigtthema: Mt 11,10 aus dem Evangelium Mt 11,2–10 vom 3. Advent. 18. A, 156r–157r: Dominica 4 aduentus ibidem. Mainz, Stift Mariengreden (siehe Predigt 16), 22. XII. 〈1381〉. Predigtthema: Io 1,19 aus dem Evangelium Io 1,19–28 vom 4. Advent (Mainzer Ritus).

logue ge´ne´ral des manuscrits latins. Tables des tomes III a` VI, Deuxie`me partie: Table des Incipit N-Z; Lemmes bibliques, Paris 1983, S. 1166: ››usage parisien‹‹.

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19. A, 157r/v: In die natali ... in maiori 81. Worms, Dom St. Peter, 25. XII. 1381. Predigtthema: Io 1,14 aus dem Evangelium Io 1,1–14 des Hochamts am Weihnachtsfest. 20. A, 136v: In Spiris in domo predicatorum 82, de dedicacione. Speyer, Dominikanerkloster St. Peter und Paul, 23. III. 1382 (Passionssonntag).35 Predigtthema: Gn 28,17 aus dem Introitus des Kirchweihfestes.36 21. A, 124r/v: Undatierte Vorarbeiten für 22 mit demselben Predigtthema Io 6,59. 22. A, 125r–126r: Infra octauam sacramenti in sancto Johanne 82. Worms, Pfarrkirche St. Johannes Baptista, Fronleichnamsoktav 6.–12. IV. 1382. Predigtthema: Io 6,59 aus dem Fronleichnamsevangelium Io 6,56–59. 23. A, 126v–127v: Keine Lokalisierung (dem Inhalt zufolge ein Mönchskonvent), keine Datierung (vermutlich wie 22: 6.–12. VI. 1382). Predigtthema: Rt 2,14; dem Inhalt nach stellt der Text ebenfalls eine Fronleichnamspredigt dar.37 24. A, 131v–132r: In Eßlingen dominica prima ad populum 82. Eßlingen, 8. VI. 1382. Predigtthema: I Io 4,19 aus der Epistel I Io 4,8–12 (in epistola hodierna) vom 1. Sonntag nach Pfingsten. 25. A, 128r/v: In diuisione apostolorum Frankfordie in sancto Bartholomeo. Frankfurt, Stift St. Bartholomäus, 15. VII. 〈1382〉 (Fest Divisio Apostolorum). Predigtthema: Lc 5,10 aus dem Evangelium Lc 5,1–11 (in ewangelio dominicali) vom 5. Sonntag nach Pfingsten (Mainzer Ritus). 26. A, 129v–130v: Moguncie sexta feria secunda augusti anno 82 in ecclesia gloriosissime virginis ad gradus. Mainz, Stift Mariengreden, 8. VIII. 1382. Predigtthema: Phil 2,9 aus der Epistel Phil 2,5– (bzw. 8–) 11 (in epistola de sancta cruce et sindone dominica, que sextis feriis venerantur), die an den Kreuzesfesten und an jedem Freitag gelesen wird, wie es hier der Fall ist. Mit der Angabe sexta feria · ij · augusti ist der zweite Freitag im August gemeint, d. h. im Jahr 1382 am 8. VIII. 27. A, 131r: Veni, piissime Ihesu cum matre, quam assumpsisti, Heidelberge 82. Heidelberg, 15. VIII. 1382 (Fest Mariae Himmelfahrt). Predigtthema: Ct 4,8.38 35

Zur Weihe der 1264 begonnenen Ordenskirche der Dominikaner in Speyer am Passionssonntag 1308 s. FRANZ XAVER REMLING, Geschichte der Abteien und Klöster im jetzigen Rheinbayern, Teil II, Neustadt 1836, S. 189 u. LUDWIG STAMER, Kirchengeschichte der Pfalz, T. 2, Speyer 1949, S. 15f. 36 BLOCH/LAFFITTE/SCLAFER [Anm. 34], S. 1131. 37 Nicht im Perikopenkanon der Messe enthalten. Beispiel einer Fronleichnamspredigt über das Thema Rt 2,14 bei Johannes von Aragon, s. JOHANN BAPTIST SCHNEYER, Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters für die Zeit von 1150–1350, Bd. 3 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 43), Münster/W. 1971, S. 310. 38 Beispiele ebd., Bd. 1, 1969, S. 622; Bd. 2, 1970, S. 238, 403, 625; Bd. 4, 1972, S. 767 belegen, daß Ct 4,8 häufig als Predigtthema für Mariae Himmelfahrt verwendet wird.

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28. A, 131v: Predigtthema: Gn 12,1. Konrads Randnotiz Alia introduccio thematis legt nahe, daß es sich um eine Variante zu 27 handelt. 29. A, 158r–159r: In die Bartolomei Moguncie in ecclesia maiori 82. Mainz, Dom St. Martin, 24. VIII. 1382 (Fest des hl. Bartholomäus). Predigtthema: Mc 7,37 aus dem Evangelium Mc 7,31–37 (in ewangelio dominice hodierne) vom 12. Sonntag nach Pfingsten (Mainzer Ritus), der 1382 mit dem Fest des hl. Bartholomäus zusammenfällt. 30. A, 198r/v: In ecclesia minorum dominica tercia aduentus 82. 〈Worms?〉, Minoritenkloster, 14. XII. 1382. Predigtthema: Mt 11,10 aus dem Evangelium Mt 11,2–10 vom 3. Adventssonntag (Mainzer Ritus). 31. A, 199r/v: Ad predicatores dominica ultima aduentus 82. 〈Worms?〉, Dominikanerkloster, 21. XII. 1382. Predigtthema: Phil 4,4 aus der Epistel 4,4–7 vom 4. Adventssonntag. 32. A, 200r/v: In die innocencium in maiore39 82. Worms, Dom St. Peter, 28. XII. 1382 (Fest der unschuldigen Kinder). Predigtthema: Mt 2,13 aus dem Evangelium Mt 2,13–18 zum Fest der unschuldigen Kinder. 33. A, 201r–202r: In maiori 83. Worms, Dom St. Peter, 4. I. 1383 (Namen-Jesu-Fest). Predigtthema: Lc 2,21 (Evangelium des Namen-Jesu-Festes). 34. A, 202r–203r: In die epiphanie 83. Keine Lokalisierung 〈Worms?〉, 6. I. 1383 (Erscheinungsfest). Predigtthema: Mt 2,11 aus dem Evangelium Mt 2,1–12 zum Erscheinungsfest. 35. A, 192r/v: Keine Lokalisierung 〈Worms?〉, 2. II. 〈1383〉 (Fest Mariae Lichtmeß). Predigtthema: Lc 2,22 aus dem Evangelium Lc 2,22–32 zum Fest Mariae Lichtmeß. 36. A, 193r: Feria sexta in quadragesima. Keine Lokalisierung 〈Worms?〉, 6. II. 〈1383〉. Predigtthema: Mt 5,48 aus dem Tagesevangelium Mt 5,43–6,4 vom Freitag nach Aschermittwoch. 37. A, 193v–194r: 83 in maiore. Worms, Dom St. Peter, 8. II. 1383 Predigtthema: Mt 4,11 aus dem Evangelium Mt 4,1–11 vom 1. Fastensonntag (›Invocavit‹). 38. A, 194v–195r: Feria tercia post oculi 83 in maiore. Worms, Dom St. Peter, 24. II. 1383. Predigtthema: Mt 18,15 aus dem Tagesevangelium Mt 18,15–22 vom Dienstag nach dem 3. Fastensonntag (›Oculi‹). 39. A, 195r/v: Feria quarta post letare 83. Keine Lokalisierung 〈Worms? Frankfurt?〉, 4. III. 1383. Predigtthema: Io 9,11 aus dem Evangelium Io 9,1–38 vom Mittwoch nach dem 4. Fastensonntag (›Laetare‹). 39

Sic! Neben der (korrekten) Ablativform maiori verwendet Konrad auch gern (außer hier in den Predigten 37, 38 und 64) die seit der Karolingerzeit verbreitete Form maiore.

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40. A, 203v–204r: Feria sexta post letare in sancto Bartolomeo. Frankfurt, St. Bartholomäus-Stift, 6. III. 〈1383?〉. Predigtthema: Io 11,44 aus dem Tagesevangelium vom Freitag nach dem 4. Fastensonntag (›Laetare‹). 41. A, 204v–205r: Sabbato post letare. Frankfordie. Frankfurt, 〈St. Bartholomäus-Stift?〉, 7. III. 〈1383?〉. 42. A, 205v–206r: In die palmarum Alczeie 83. Alzey (Bistum Worms),15. III. 1383. Predigtthema: Mc 11,1 aus dem Evangelium Mc 11,1–10 vom Palmsonntag (Mainzer Ritus). 43. A, 197r/v: In cena domini in ecclesia virginis Wormacie 83. Worms, Liebfrauenstift, 19. III. 1383. Predigtthema: I Cor 11,28f. aus der Tagesepistel I Cor 11,20–32 zum Gründonnerstag. 44. A, 206v–207r: Keine Lokalisierung, 15.–21. III. 〈1383〉 (Karwoche). Da die Überschrift in der Handschrift abgeschnitten ist, bezieht sich die Datierung einzig auf die Plazierung in der Handschrift zwischen Predigt 43 und 45. Predigtthema: III Rg 22,30. 45. A, 207v: In die pasche Heidelberge 83. Heidelberg, 22. III. 1383 (Ostersonntag). Predigtthema: Mc 16,7 aus dem Evangelium Mc 16,1–7 zum Ostersonntag. 46. A, 208r/v: De annunciacione Heidelberge ad minores. Heidelberg, Minoritenkloster, 25. III. 〈1383〉 (Fest Mariae Verkündigung). Predigtthema: Lc 1,38 aus dem Evangelium Lc 1,26–38 zum Fest Mariae Verkündigung. 47. A, 209r–210v: Feria tercia post quadragesimam in synodo episcopali. Worms (Diözesansynode), 〈29. III. 1383?〉 (Weißer Sonntag?). Predigtthema: Io 20,19 aus dem Evangelium Io 20,19–31 (in ewangelio dominice currentis) zum Weißen Sonntag sowohl nach Mainzer als auch nach römischem Ritus. Andererseits wird dort am Dienstag nach Quadragesima das Evangelium Mt 21,10–17 gelesen. Der Weiße Sonntag 29. III. 1383 läßt sich besser in die handschriftliche Folge der Predigten einreihen, so daß Konrads eigene Angabe hier als unstimmig betrachtet werden muß. 48. A, 196r: In vigilia pentecostes apud virginem ad populum. Worms, Liebfrauenkirche, 9. V. 〈1383〉. Predigtthema: Io 14,18 aus dem Evangelium Io 14,15–21 (in ewangelio hodierno) der Pfingstvigil. 49. A, 196v–197r: Veni, tria et vna deitas illuminatiua wultus tui super nos. 〈Worms?〉, 17. V. 〈1383〉 (Dreifaltigkeitssonntag). Predigtthema: Rm 11,33 aus der Epistel Rm 11,33–36 zum Dreifaltigkeitssonntag (Mainzer Ritus). 50. A, 138r–139r: In sinodo 83. Worms (Diözesansynode), 30. VIII. (bzw. in der folgenden Woche) 1383. Predigtthema: Gal 6,10 aus der Epistel Gal 5,25–6,10 (in epistola dominicali) vom 15. Sonntag nach Pfingsten.

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51. A, 139v–141r: In sinodo episcopali die sequenti. Worms (Diözesansynode), 1. IX. (bzw. in der folgenden Woche) 〈1383〉. Predigtthema: Mt 6,33 aus dem Evangelium Mt 6,24–33 vom 15. Sonntag nach Pfingsten (Mainzer Ritus). 52. A, 141v: Dominica 16 Libenau. Liebenau bei Worms, Dominikanerinnenkloster, 6. IX. 〈1383〉 (wie Predigt 53). Predigtthema: Eph 3,17 aus der Epistel Eph 3,13–21 vom 16. Sonntag nach Pfingsten. 53. A, 142r/v: In sancto Martino. Worms, St. Martinsstift, 6. IX. (bzw. in der folgenden Woche) 〈1383〉 (wie Predigt 52). Predigtthema: Lc 71,6 aus dem Evangelium Lc 7,11–16 vom 16. Sonntag nach Pfingsten (Mainzer Ritus). 54. A, 143r/v: Sexta post natiuitatem virginis Frankfordie 83. Frankfurt, 11. IX. 1383. Fest Mariae Geburt: 8. IX., der folgende Freitag fällt im Jahr 1383 auf den 11. IX. Predigtthema: Sap 8,3 aus der Epistel Sap 8,1–4 des Commune sanctorum de pluribus virginibus. 55. A, 144r/v: In maiori 18 dominica 83. Worms, Dom St. Peter, 20. IX. 1383. Predigtthema: Mt 22,37 aus dem Evangelium Mt 22,34–46 vom 18. Sonntag nach Pfingsten (Mainzer Ritus). 56. A, 145r/v: Keine Lokalisierung 〈Worms?〉, 11. X. 〈1383〉. Predigtthema: Eph 6,11 aus der Epistel Eph 6,10–17 vom 21. Sonntag nach Pfingsten. 57. A, 144v: Dominica die Luce 83. Keine Lokalisierung 〈Worms?〉, 18. X. 1383 (Fest des hl. Lukas). Predigtthema: Mt 18,23–35 aus dem Evangelium Mt 18, 23–35 vom 22. Sonntag nach Pfingsten (Mainzer Ritus), der 1383 mit dem Lukasfest zusammenfällt. 58. A, 142v: Keine Lokalisierung 〈Worms?〉, 25. X. 〈1383〉. Predigtthema: Mt 22,21 aus dem Evangelium Mt 22,15–21 vom 23. Sonntag nach Pfingsten (Mainzer Ritus). 59. A, 146v: Keine Lokalisierung 〈Worms?〉, 1. XI. 〈1383〉 (Allerheiligen). Predigtthema: Mt 5,12 aus dem Evangelium Mt 5,1–12 zum Allerheiligenfest. 60. A, 147r/v: Keine Lokalisierung 〈Worms?〉, 3. I. 〈1384〉 (Namen-Jesu-Fest). Predigtthema: Lc 2,12 (Evangelium des Namen-Jesu-Festes). 61. A, 212r: Keine Lokalisierung 〈Worms?〉, 6. I. 〈1384〉 (Erscheinungsfest). Predigtthema: Mt 2,11 aus dem Evangelium Mt 2,1–12 zum Erscheinungsfest. 62. A, 212v: Dominica secunda post octauam 84 ad minores. 〈Worms?〉, Minoritenkloster, 24. I. 1384. Predigtthema: Rm 12,21 aus der Epistel Rm 12,16–21 vom 3. Sonntag nach Erscheinung.

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63. A, 145v: In vigilia purificacionis 84 in nostra domina Wormacie. Worms, Liebfrauenstift, 1. II. 1384. Predigtthema: Mt 8,24 aus dem Evangelium Mt 8,23–27 (in ewangelio dominicali) vom 3. Sonntag nach Erscheinung. Das Fest Mariae Lichtmeß (2. II.) fällt 1384 auf einen Dienstag; der vorausgehende Sonntag ist der 3. Sonntag nach Erscheinung. 64. A, 213r: In septuagesima in maiore 84. Worms, Dom St. Peter, 7. II. 1384. Predigtthema: Mt 20,8 aus dem Evangelium Mt 20,1–6 vom Sonntag Septuagesima (›Circumdederunt‹). 65. A, 148r: Ad predicatores dominica secunda 84. 〈Worms?〉, Dominikanerkloster, 6. III. 1384. Predigtthema: Mt 15,22 aus dem Evangelium Mt 15,21–28 des 2. Fastensonntags (›Reminiscere‹). 66. A, 148v: In die Thome de Aquino ad predicatores 84. 〈Worms?〉, Dominikanerkloster, 7. III. 1384 (Fest des hl. Thomas von Aquin). Predigtthema: Io 8,21–29 vom Montag nach dem 2. Fastensonntag, der 1384 mit dem Thomas-Fest zusammenfällt. 67. A, 145r: Keine Lokalisierung 〈Worms?〉, 9. III. 〈1384〉. Predigtthema: Mt 20,16 aus dem Tagesevangelium Mt 20,17–28 vom Mittwoch nach dem 2. Fastensonntag. 68. A, 218r: Keine Lokalisierung, 〈1384–1389〉 (Palmsonntag). Von der Anordnung in der Handschrift (nächste Predigt: 77) können alle Palmsonntage von 1384–1389 in Betracht kommen. Predigtthema: Phil 2,8f. aus der Epistel Phil 2,4–11 vom Palmsonntag. 69. B, 140r–143v: Anno lxxxv. In die beati Dominici et in ecclesia eiusdem Bononie. Bologna, Kloster San Domenico, 4. VIII. 1385 (Patroziniumsfest des hl. Dominikus). Predigtthema: Mt 7,17 aus dem Evangelium Mt 7,15–21 (in ewangelio dominice precedentis). Im Jahr 1385 fiel das Dominikus-Fest auf einen Freitag; der vorausgehende Sonntag ist der 9. nach Pfingsten, an dem weder nach Mainzer noch nach römischem Ritus die betreffende Perikope gelesen wird.40 70. B, 144r–146v: In die nativitatis virginis gloriose. In ecclesia katedrali sancti Petri Bononie post vesperas. Bologna, Kathedrale San Pietro, 8. IX. 〈1385〉. Predigtthema: Lc 16,24 aus dem Evangelium Lc 16,19–31 (in ewangelio dominice precedentis). Der dem Fest Mariae Geburt vorausgehende Sonntag ist der 14. Sonntag nach Pfingsten. Auch hier stimmt die Evangelienperikope mit keinem der Riten überein. Die Angabe post vesperas und die Anrede Reverendi patres et domini (so auch in 1) legen nahe, daß es sich um eine universitäre ›Collatio‹ handelt. 71. B, 147r–149v: In die sancti Clementis in collegio Hispanorum 85 Bononie. Bologna, Collegio di Spagna, Kapelle San Clemente,41 23. XI. 1385 (Patroziniumsfest des hl. Clemens). 40

Mainz: 8. Sonntag nach Pfingsten; Missale Romanum: 7. Sonntag nach Pfingsten, s. REIFENBERG [Anm. 32], S. 56. 41 KONRAD RÜCKBROD, Universität und Kollegium. Baugeschichte und Bautyp, Darmstadt 1977, Abb. 18–19 u. S. 49f.

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Predigtthema: Prv 31,26 aus der Epistel Prv 31,10–26 des Commune sanctorum de pluribus virginibus.42 72. B, 150r–151v: In sancto Dominico in die natiuitatis domini 85. Bologna, Kloster San Domenico, 25. XII. 1385 (Weihnachten). Predigtthema: Lc 2,11 aus dem Evangelium Lc 2,1–14 (in ewangelio hodierno) der 1. Messe zum Weihnachtsfest. 73. B, 152r–155r: In die parasceue Bononie in collegio Hispanorum. Bologna, Collegio di Spagna, Kapelle San Clemente, 20. IV. 〈1386〉 (Karfreitag). Predigtthema: Io 19,16 aus der Karfreitagspassion Io 18,1–14. 74. B, 156r–157r: In annunciacione ad sanctum Michaelem de Bosco 87. Bologna, San Michele in Bosco, 25. III. 1387 (Fest Mariae Verkündigung). Predigtthema: Lc 1,28 aus dem Evangelium Lc 1,26–38 zum Fest Mariae Verkündigung. 75. B, 157v: Keine Lokalisierung, 〈15. III. 1388?〉. Wahrscheinlich sind die Predigten 75 und 76 noch 1388 entstanden, da der in der Handschrift folgende Text Konrads gegen Privilegienmißbrauch bei den Johannitern (B, fol. 164r–166r) vom Jahr 1388 datiert. Predigtthema: Io 8,47 aus dem Evangelium Io 8,46–59 zum Passionssonntag (›Iudica‹). 76. B, 158r/v: Keine Lokalisierung, 〈27. III. 1388?〉 (Karfreitag). Predigtthema: Io 18,1 aus der Karfreitagspassion Io 18,1–14. 77. A, 220v: Infra leccionem apocalipsis in vigilia ascensionis 89. Keine Lokalisierung, 26. V. 1389. Predigtthema: Apo 21,20 (Brevierlesung).

Predigttagebücher Der private Charakter, der die nicht für die Öffentlichkeit vorgesehenen, notizenhaften und bisweilen ungeordneten Predigtautographe in den Handschriften A und B kennzeichnet, sowie die Tatsache, daß es Konrad wichtig erschien, die meisten Predigten zu datieren und zu lokalisieren, machen sie zu einem biographischen Dokument. Man kann daher die beiden Handschriften als ›Predigttagebücher‹ bezeichnen. Ein derartiges aus Predigten bestehendes Tagebuch, vielleicht sogar das unmittelbare Vorbild für Konrad von Gelnhausen, stellt das ›sermon-diary‹ des Erzbischofs von Armagh und Primas von Irland, Richard Fitzralph (Richardus Armachanus; ca. 1295 – 20. XII. 1360), dar:43 Konrad hatte einzelne Predigten 42 43

BLOCH/LAFFITTE/SCLAFER [Anm. 34], S. 1137. AUBREY GWYNN, The Sermon-Diary of Richard Fitzralph, Archbishop of Armagh, Proceedings of the Royal Irish Academy 44, Section C (1937–1938), S. 1–57; Portrait Fitzralphs bei KATHERINE WALSH, A Fourteenth Century Scholar and Primate: Richard FitzRalph in Oxford, Avignion and Armagh, Oxford 1981.

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Fitzralphs für sich kopiert.44 Im Unterschied zu Konrads Predigten sind diejenigen Fitzralphs in mehreren Handschriften überliefert, von denen aber keine das Autograph ist. Doch waren auch sie nicht zur Veröffentlichung, sondern zum persönlichen Gebrauch bestimmt.45 Wie bei Konrad sind die einzelnen Predigten im allgemeinen datiert, lokalisiert, bisweilen mit Angabe des jeweiligen Auditoriums versehen, und dienen, in chronologische Reihenfolge gebracht, für einen bestimmten Zeitraum als biographisches Material zum Leben des bedeutenden Kirchenmannes.46 An das spätmittelalterliche Predigttagebuch sind nicht die gleichen Kriterien anzulegen wie an das moderne Tagebuch: Weder schildert und kommentiert es das Alltagsgeschehen, noch wird autobiographisch das eigene Leben verzeichnet, noch werden innerste Regungen und Empfindungen preisgegeben, wenngleich das Mittelalter all dies in anderen literarischen Formen kennt, beispielsweise als Chronistik, als Reisebericht, als Autobiographie in der Tradition von Augustins ›Confessiones‹, als religiöse ›Meditatio‹. Vielmehr könnte man das Predigttagebuch als ein geistliches Itinerar bezeichnen. Es hält die einzelnen Stationen des Lebens fest, die durch die Predigten verkörpert werden: von Kirche zu Kirche, von Sonntag zu Sonntag. Nicht die säkulare, reale Zeit soll durch sie repräsentiert werden, sondern die liturgische Zeit der sich von Jahr zu Jahr wiederholenden Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. So geht das individuelle Leben im Zyklus des Kirchenjahres auf.47

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Citta` del Vaticano, Bibliotheca Apostolica, Cod. Pal. lat. 378, 130r–143r: ›Sermo Nemo vos seducat contra mendicantes‹, London, St. Paul’s Cross, 12. III. 1357, vgl. GWYNN [Anm. 43], S. 55, Nr. 68; 154r–160v: ›Replicatio Quia in proposicione nuper facta contra mendicantes‹, vgl. GWYNN, S. 57; 191v–205r: ›Propositio Nolite iudicare‹, Avignon vor Papst Innozenz VI., 8. XI. 1357, vgl. GWYNN, S. 57, Nr. 91. Alle drei Predigten Fitzralphs stellen weitere Autographe Konrads dar. Die Handschrift ist eine der fünf noch erhaltenen Handschriften Konrads von Gelnhausen, s. WALZ [Anm. 1]. 45 GWYNN [Anm. 43], S. 18. 46 Weitere Beispiele für datierte und lokalisierte lateinische Predigten stellen auch die in dem hier folgenden Beitrag vorgestellten Predigten Heinrich Tokes (†1454) dar, s. HILDEGUND HÖLZELRUGGIU, Der Prediger dr. theol. Heinrich Toke, S. 523–543, bes. S. 527f. Jene sind zwar auch als Unikate (allerdings in Abschrift), jedoch disparat innerhalb einer Sermones de tempore-Sammelhandschrift zwischen den Predigten anderer Autoren bzw. in beliebiger Kompilation überliefert. Um von einem Predigttagebuch sprechen zu können, scheint die Überlieferung zu wenig Anhaltspunkte zu bieten. 47 In dieser Hinsicht bestehen sogar Parallelen zu dem spätantiken ›Itinerarium Egeriae‹ (um 400 n. Chr.), dem Pilgerbuch der Nonne Egeria von der Reise nach Palästina, das diese in Briefform für ihre Mitschwestern zu Hause verfaßte: Auch hier ist das Biographische der biblischen Geschichte untergeordnet, die in zyklischer Form Station für Station nachvollzogen wird, s. LEO SPITZER, The Epic Style of the Pilgrim Aetheria, in: DERS., Romanische Literaturstudien 1936– 1956, Tübingen 1959, S. 871–912, im Anschluß daran WALTER BERSCHIN, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Bd. 1 (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 8), Stuttgart 1986, S. 160f.

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Biographische Ergebnisse Die autographen Predigten Konrads von Gelnhausen decken in unterschiedlicher Dichte den Zeitraum vom 22. August 1378 bis zum 26. V. 1389, also bis wenige Monate vor seinem Tod, ab. Sie bedeuten somit wichtige Quellen zu Konrads Biographie. Nach den bisher bekannten Zeugnissen verloren sich nach dem Mai 1380, wo er noch durch die ›Epistola concordiae‹ in Paris nachzuweisen ist, seine Spuren, die erst mit der Gründung der Universität Heidelberg weiter verfolgt werden konnten. Die Herausgeber der Pariser Universitätsakten, HEINRICH DENIFLE und E´MILE CHAˆ TELAIN, nahmen an, Konrad habe im Zuge der allgemeinen Auswanderungswelle der deutschen Studenten aus Paris die Stadt verlassen,48 und CULLEY vermutete sogar, Konrad habe die Interimszeit bis zu seiner Immatrikulation in Heidelberg im Wintersemester 1387/88 an der Universität Prag verbracht.49 Durch die Predigten erfahren wir, daß er sich spätestens ab 26. VIII. 1380 (Predigt 9) bis mindestens Februar 1384 (letzte exakte Datierung und Lokalisierung: Predigt 64) kontinuierlich im ober- und mittelrheinischen Raum um Worms aufhielt, wobei der Radius von Heidelberg, Speyer, bis Eßlingen im Süden und bis Frankfurt und Mainz im Norden reicht. Vom 4. VIII. 1385 bis 25. III. 1387 treffen wir ihn nach seinem Studium ein weiteres Mal in Bologna an, wie die Predigten 69–74 bezeugen. Nun findet auch die merkwürdige Tatsache, daß sich Konrad erst am 14. XII. 1387 in Heidelberg immatrikulierte,50 wo er doch bereits in der am 23. X. 1385 von Papst Urban VI. ausgestellten Stiftungsbulle für die Universität Heidelberg zu ihrem ersten Kanzler bestellt wurde,51 ihre Erklärung. Demnach konnte er erst nach dem 25. III. 1387 in Heidelberg eintreffen und sich erst zu Beginn des folgenden Wintersemesters dort immatrikulieren. Auch die Pariser Zeit ab Ende September 1378 bis spätestens August 1380 (26. VIII. 1380: Predigt 9 in Worms) wird durch die drei 1379 dort gehaltenen Predigten 6–8 näher beleuchtet (10. VII. 1379 und 7. VIII. 1379 im Cölestinerkloster; 14. VIII. 1379 im Kloster St. Victor). Exakt zwischen die beiden im Cölestinerkloster gehaltenen Predigten fällt Konrads Brief vom 18. VII. 1379 an Philippe de Me´zie`res, in dem er ihn um Unterstützung seiner via concilii bei König Karl V. von Frankreich bittet.52 Wie aber war Konrad mit dem einfluß48

HENRICUS DENIFLE/AEMILIUS CHATELAIN (Hg.), Chartularium Universitatis Parisiensis, Bd. III, Paris 1894, Nachdr. Brüssel 1964, S. 581, Nr. 1634 u. S. 584, Nr. 1640. 49 CULLEY [Anm. 2], S. 22, Anm. 2 u. S. 23f. 50 Immatrikulationseintrag im 1. Band der Heidelberger Universitätsmatrikel [Anm. 8], 10r, von der Hand des damaligen Rektors Marsilius von Inghen: Item venerabilis dominus Conradus, prepositus Wormaciensis, canchelarius hic huius alme vniuersitatis; nichil dedit. Am Rand hervorgehoben: Doctor in theologia, s. TOEPKE [Anm. 8], S. 25. Seltsamerweise wird Konrad hier nur als promovierter Theologe genannt und nicht als promovierter Dekretist, obwohl er in Heidelberg Theologie und Kirchenrecht lehrte. 51 EDUARD WINKELMANN, Urkundenbuch der Universität Heidelberg, Bd. 1, Heidelberg 1886, Nr. 2. 52 Siehe oben Anm. 14.

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reichsten Mann um Karl V. bekanntgeworden, um sich in einer so ernsten und folgenschweren Angelegenheit vertraulich an ihn wenden zu können? Die Verbindung zu ihm stellte gerade jenes Cölestinerkloster in Paris dar, das Konrad, dem Brief an Philippe zufolge, besonders schätzte, und dort traf er im Sommer 1379 wohl auch Philippe de Me´zie`re, dessen Vorliebe für die Cölestiner, die zu den strengsten Orden zählten, bekannt war.53

Die Beichte Sygelos von Oppenheim OP: Zeugnis für Konrads Predigttätigkeit Das nur noch als Fragment erhaltene Vorsatzblatt a der Handschrift B enthält, außer dem bereits erwähnten, von Konrad geschriebenen Inhaltsverzeichnis auf der Verso-Seite die Beichte eines Sygelo von Oppenheim vom 13. XII. 1382. Das Datum ist aus Konrads Predigten zu rekonstruieren; die übrigen Angaben erfahren wir aus der von Konrad selbst geschriebenen Überschrift ar: Confessio fratris Sygelonis de Oppinheim ordinis predicatorum facta in die assumpcionis virginis in ecclesia predicatorum Moguntinorum multitudine populi copiosa.

Es schließt sich in der frühen, manierierten Bastarda Sygelos der mittelhochdeutsche (rheinfränkische) Text der Beichte (ar/v; Abb. 5–6) an: Lieben lud vnd ir lieben kint allesamt, die hie vnde auch nit hie sint, virsteet myne wort vnd recht. An vnsir lieben frauwen tage, als sie enphangen wart, der genant ist Concepcio Marie, nehist an dem selben tage eyn iar waz in dem aduent, predigete der erbar herre her o o Conrad dumprobst zu Wormsz (korrigiert aus Mencze), meister der heilgen schrieft, o vnd auch darnach me zu vnsir lieben frauwen 〈zu〉 Mencze ... – ... wolle got darumme o ruwe, bichte, beszerunge gebin.

Wie wir aus der Beichte erfahren, war Sygelo von Oppenheim Dominikanerbruder in Mainz; noch 1399 ist er dort als Konventsmitglied bezeugt.54 Daß es sich bei der confessio um eine Beichte handelt, geht aus den Schlußworten wolle got darumme ruwe, bichte, beszeruonge gebin hervor. In welchem Verhältnis Sygelo zu Konrad von Gelnhausen stand, ob Konrad sein Beichtvater war, ist nicht bekannt. Jedenfalls scheint der Wormser Dompropst für ihn eine Autorität gewesen zu sein, wie man aus dem ehrerbietigen Stil der Beichte schließen darf. Sicher ist nur, daß Sygelo für Konrad als Schreiber tätig war, denn die in derselben Handschrift B, fol. 39r–45r enthaltenen ›Revelationes‹ der Birgitta von Schweden sind seiner Hand zuzuweisen. 53

Lesenswerte, wenn auch in Einzelheiten stark korrekturbedürftige Porträts von Philippe de Me´zie`res bei NICOLAS JORGA, Philippe de Me´zie`res (1327–1405) et la croisade au 14e sie`cle (Bibliothe`que de l’E´cole des hautes E´tudes 110), Paris 1896 u. JOHAN HUIZINGA, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, deutsche Ausgabe nach der 5. niederländischen Auflage 1941 hg. von KURT KÖSTER, Stuttgart 1965, 111975, bes. S. 252–255. 54 GABRIEL M. LÖHR, Der Dominikanerorden und seine Wirksamkeit im mittelrheinischen Raum, Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 4 (1952), S. 120–156, hier S. 131.

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Nach Konrads Tod 1390 immatrikulierte sich Sygelo am 13. X. 1391 als Baccalaureus der Theologie an der Universität Wien.55 Anschließend treffen wir ihn noch einmal von 1394 bis 1402 als Professor der Theologie an der Universität Köln an.56 Die von Sygelo erwähnte Predigt des Wormser Domprostes Konrad an Mariae Empfängnis in der Stiftskirche Unserer Lieben Frau zu den Staffeln (Mariengreden) in Mainz, wo Konrad seit 1363 Propsteioffizial war, ist sogar unter den Predigtautographen Konrads erhalten: Es ist die Predigt 15 vom 8. XII. 1381 (A, 154r–155r). Da diese als ein Jahr zurückliegend geschildert wird, ergibt sich als Datum für Sygelos Beichte der 8. XII. 1382. Die sich in der Handschrift A unmittelbar anschließenden Predigten 16 und 17 vom 3. und 4. Advent 1381 sind summarisch nur mit ibidem lokalisiert, d. h. auch sie fanden im Mainzer Stift Mariengreden statt, womit Sygelos Angabe in der Beichte vnd auch darnach me bestätigt wird. Der Wert dieser unscheinbaren Beichte liegt darin, daß sie das einzige zeitgenössische Zeugnis für Konrads Predigttätigkeit darstellt. Offensichtlich galt er als ein prominenter Prediger mit großem Zulauf, was aus der Angabe Sygelos von Oppenheim multitudine populi copiosa hervorgeht. Von seinem Ruhm zeugt auch die stattliche Anzahl der auswärtigen Predigten, die Konrad als Gast außerhalb der Orte hielt, denen er durch seine Ämter und Kanonikate verpflichtet war. Sie reichen sogar bis nach Paris und Bologna. Daß Konrad in Bologna, wo er promoviert wurde, großes Ansehen genoß, wird auch daran deutlich, daß er an den Hochfesten des Kirchenjahres (Mariae Geburt und Verkündung, Weihnachten, Karfreitag: Predigten 70 und 72–74) und den dortigen Patrozinien, nämlich zum Fest des hl. Clemens in die Kapelle San Clemente des namhaften Collegio di Spagna, des ältesten Studienkollegs in Bologna (Predigt 71) und zum Patrozinium des hl. Dominikus nach San Domenico, der berühmten Grablege des Ordensgründers (Predigt 69), zur Predigt eingeladen wurde.

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Die Matrikel der Universität Wien, Bd. 1: 1377–1450 (Publikationen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. 6.1. Quellen zur Geschichte der Universität Wien 1), Graz/Köln 1954–1956, zum 13. X. 1391. 56 HERMANN KEUSSEN, Die Matrikel der Universität Köln (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 7,1), Bd. 1, Bonn 21928, S. 60*, Nr. 12.

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Dorothea Walz

Abb. 1: Citta` del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Pal. lat. 991 (B), 140r: Konrad von Gelnhausen, erste der sechs Bologneser Predigten, 4. VIII. 1385 (Autograph).

Die Predigten Konrads von Gelnhausen

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Abb. 2: Cod. Vat. Pal. lat. 606 (A), 131r: Konrad von Gelnhausen, Predigt zu Mariae Himmelfahrt, Heidelberg, 15. VIII. 1384 (Autograph).

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Dorothea Walz

Abb. 3: Cod. Vat. Pal. lat. 606 (A), 158r: Konrad von Gelnhausen, Predigt zum Fest des hl. Bartholomäus, Dom zu Worms, 24. VIII. 1382 (Autograph).

Die Predigten Konrads von Gelnhausen

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Abb. 4: Cod. Vat. Pal. lat. 991 (B), 160r: Konrad von Gelnhausen, ›Collatio‹ zur Promotion im kanonischen Recht, Bologna, ca. 1375; Reinschrift eines anonymen Auftragsschreibers, Heidelberg, 1388–1390.

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Dorothea Walz

Abb. 5: Cod. Vat. Pal. lat. 991 (B), ar: Beichte Sygelos von Oppenheim, Zeuge für Konrads Predigttätigkeit. Überschrift von der Hand Konrads von Gelnhausen.

Die Predigten Konrads von Gelnhausen

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Abb. 6: Cod. Vat. Pal. lat. 991 (B), av: Inhaltsverzeichnis der Handschrift (Autograph Konrads von Gelnhausen). Genannt werden Konrads sechs Bologneser Predigten und seine ›Collatio‹.

Hildegund Hölzel-Ruggiu

Der Prediger dr. theol. Heinrich Toke

Der Titel dieses Aufsatzes läßt zunächst eine rein personengeschichtliche Darstellung vermuten. Es wird der Blick aber auch über die Person Heinrich Tokes hinaus auf größere Zusammenhänge gelenkt werden. Die Überschrift dieses Beitrags umfaßt drei Komponenten: Den Prediger, den an der Universität ausgebildeten Theologen und die Person Heinrich Toke. Die Daten zu den ersten beiden Komponenten sind schnell genannt: Im Jahr 1425 wurde die Stelle des ersten Dompredigers in Magdeburg geschaffen, die erstmals Heinrich Toke innehatte, nachdem er seit 1406 an den Universitäten Erfurt und Rostock studiert und gelehrt hatte. Seine universitäre Laufbahn beendete er im Februar 1426 mit der Promotion zum Doktor der Theologie der Universität Erfurt. Heinrich Toke kann ich hier nur in groben Zügen vorstellen:1 Er stammte aus einer Bremer Kaufmannsfamilie, die in der Person seines Bruders Hermann in die Ratsherrenschicht Einlaß fand. Die Verbindung zu seiner Heimatstadt, in der Heinrich Toke ein weiteres Domkanonikat besaß, hielt er zeit seines Lebens aufrecht. Nach seinem Studium war jedoch Magdeburg seine vorwiegende Wirkungsstätte. Hier widmete er sich neben seinen Aufgaben als Domprediger in erster Linie der Kirchenreform in der Erzdiözese. Die Teilnahme am Basler Konzil in den Jahren 1432–1436/38 – und zwar in Vertretung des Magdeburger Erzbischofs – erforderte eine lange Abwesenheit von Magdeburg und die Unterbrechung seiner dortigen Predigttätigkeit. Während seiner Konzilszeit gehörte Heinrich Toke vier Gesandtschaften an, die eine Einigung mit den Hussiten erzielen sollten. Für seine Zeitgenossen lag in dieser Mitwirkung an dem Ausgleich der Kirche mit den Hussiten die größte Bedeutung Heinrich Tokes. Heute hat er in der Forschung seinen größten Bekanntheitsgrad aufgrund seines Einschreitens gegen die Wallfahrten nach Wilsnack in den 40er und zu Beginn der 50er Jahre des 15. Jahrhunderts.2 Sein Leben, das im Juli 1454 sein Ende fand, war geprägt von dem Wunsch und dem Streben nach der Reform der Kirche und nach der Wiedererlangung ihrer Einheit. Dies äußert sich in seinem Handeln 1

Ausführlicher vgl. HILDEGUND HÖLZEL, Toke, Heinrich, 2VL IX, Sp. 964–971, sowie DIES., Heinrich Toke und der Wolfenbütteler ›Rapularius‹ (MGH-Studien und Texte 23), Hannover 1998. 2 Vgl. HARTMUT BOOCKMANN, Der Streit um das Wilsnacker Blut. Zur Situation des deutschen Klerus in der Mitte des 15. Jahrhunderts, Zs. für Historische Forschung 9 (1982), S. 385–408, mit der dort angeführten Literatur.

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Hildegund Hölzel-Ruggiu

ebenso wie in seinen Schriften – neben den Predigten sind hier besonders Traktate, Reden und der Wolfenbütteler ›Rapularius‹ zu nennen. Dabei ist zu bemerken, daß die literarische Produktion Heinrich Tokes eng mit seinem aktiven Handeln verknüpft ist. Seine Schriften sind keine rein theoretischen Erwägungen. Meist läßt sich der Entstehungsgrund und die praktische Verwendung der einzelnen Schriften ermitteln; sie sind sozusagen aus seinem Leben gegriffen. Ein besonderes Anliegen ist es für ihn, den Bildungsstand der Geistlichen zu heben und ihren moralischen Lebenswandel zu bessern – ideellen Maßstab und Realität, Worte und Taten in Einklang zu bringen –, damit der Klerus seine Vorbildfunktion für die Laien ausüben und die ihm auferlegte Verantwortung für die Laien erfüllen kann. Darin liegt für Heinrich Toke gewissermaßen das Kernstück der Kirchenreform. Fügt man nun die drei Komponenten – Heinrich Toke, den Prediger und den theologischen Doktor – in Kenntnis der Fakten wieder zusammen, so öffnen sich dem Blick des Betrachters zwei Themenkomplexe: Erstens das Amt bzw. die Aufgaben, die Heinrich Toke als Prediger übernahm, und zweitens, die Predigten, mit denen er sein Amt bzw. seine Aufgaben ausfüllte. Zunächst zu dem ersten Themenkomplex, der die Lektur am Magdeburger Dom und die Gesandtschaften zu den Hussiten betrifft: Bereits im Vorfeld des Basler Konzils waren Versuche unternommen worden, eine friedliche Lösung der Auseinandersetzung mit den Hussiten herbeizuführen. Eine der treibenden Kräfte dabei war der brandenburgische Kurfürst Friedrich I., der enge Kontakte zu Heinrich Toke unterhielt und Unterstützung bei diesem fand. Heinrich Toke war also mit dem Problem vertraut. Bei der ersten Zusammenkunft der Basler und der hussitischen Gesandten in Eger eröffnete Heinrich Toke am 9. Mai 1433 die Verhandlungen mit einer Predigt zum Thema Pax vobiscum,3 die nach Aussagen Johannes’ von Ragusa bei den Hussiten Zustimmung und Gefallen fand.4 Und auch, nachdem am 18. Mai die Verhandlungen erfolgreich zu Ende geführt waren und der Salvusconductus – also das freie und sichere Geleit für die Hussiten zum Basler Konzil – ausgehandelt war, übernahm es Heinrich Toke, in Antwort auf seine hussitischen Vorredner die abschließenden Worte an die Gesandten beider Parteien zu richten. Es ist uns leider nicht überliefert, was er hier vortrug, aber Johannes von Ragusa hat in seinem ›Tractatus de reductione Bohemorum‹ bewegt Zeugnis von der Wirkung seiner Worte gegeben: Memoratus vero magister Henricus mellifluo suo et solito eloquio ipsis in verbo virtutis taliter respondit, quod multi ex nobis et eis tunc 3

Überliefert in Eichstätt, Universitätsbibliothek, cod. st 274, 1r-v, Melk, Stiftsbibliothek, cod. 940 (215[E 5]), 96r–98r, Prag, Bibliothek des Nationalmuseums, cod. XIV E 2 (Nr. 3477), 204r–205v, Wien, ÖNB, cod. 4975, 29v–34r u. cod. 4176, 110r–111v. Eine Edition des Textes wird von der Verfasserin vorbereitet, die bei den Monumenta Germaniae Historica erscheinen wird. 4 Vgl. Monumenta conciliorum generalium seculi decimi quinti [im folgenden: MC], Wien 1857– 1935, I, S. 217.

Der Prediger dr. theol. Heinrich Toke

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praesentibus cordibus dilatatis in dulcissimas ut videbatur resolvebantur lacrymas.5 Diese beiden Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, weshalb Heinrich Toke für die Hussitengesandtschaften ausgewählt wurde: Zum einen war sicherlich ausschlaggebend, daß er bereits vor dem Konzil an den Versuchen, eine friedliche Lösung der Auseinandersetzung zu erreichen, beteiligt war. Zum anderen aber zeigt die Eröffnung und die Beendigung der Verhandlungen durch den Sprecher Heinrich Toke, daß ihm ein hohes Maß an diplomatischem Gespür, seinen Worten eine große Überzeugungskraft zugemessen wurde. So nimmt der Einfluß Heinrich Tokes bei den Gesandtschaften ab, sobald es um die Erörterung der dogmatischen Gegensätze geht. Als es jedoch während der Verhandlungen in Basel zu einem Protest der Hussiten kommt, ist es wiederum Heinrich Toke, der einen beschwichtigenden Einfluß auszuüben vermag.6 Die Betrauung Heinrich Tokes mit Predigten an exponierten Stellen der Verhandlungen mit den Hussiten und in Basel liegt also in seiner Person und in seiner Art zu predigen begründet, die die Zuhörer beeindruckte und die eine entspannende Wirkung erzielte. Nun zu dem Amt, das Heinrich Toke in Magdeburg übernahm: Der Erzbischof, der Propst, der Dekan und das Kapitel der Magdeburger Kirche waren mit der Bitte an Papst Martin V. herangetreten, das nächste freiwerdende Domkanonikat für einen Doktor, Lizentiaten oder Bakkalar der Theologie zu reservieren. Dieser Bitte entsprach Martin V. am 11. September 1425.7 Die Aufgaben des Inhabers dieser Pfründe sollten sein, suis leccionibus et evangelice veritatis eloquio hac divini peroracione verbi clerum et populum ibidem in fide radicare et instruere. Theologische Unterweisung des Klerus und Predigt vor dem Volk waren die Aufgaben des Amtsinhabers, Belehrung und Erbauung. Aus einer kopial überlieferten Quelle, die die Rechte und Pflichten des Dompredigers näher definiert, geht hervor, daß er von den Aufgaben, die die übrigen Domherren übernehmen mußten, befreit war, damit er genügend Zeit hatte, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Zweimal in der Woche hatte er Vorlesungen in den für die Unterweisung bestimmten Schulen zu halten. Wenigstens zwölfmal pro Jahr mußte er vor dem Volk predigen; dabei durften keine reformbedürftigen Zustände im Klerus vor dem Volk zur Sprache gebracht werden, wohl aber in den theologischen Vorlesungen.8 Durch diese Bestimmungen wird deutlich, daß man zum einen die Predigt als festen Bestandteil des kirchlichen Lebens sichern wollte. Zum anderen versuchte man, auf den Inhalt der Predigten einzuwirken: Die Freistellung des Predigers von anderen Aufgaben und die Voraussetzung der universitären theologischen Ausbildung zielten darauf hin, die Predigt auf ein bestimmtes Niveau anzuheben. Außerdem sollte die Aufhetzung des Volkes durch den Prediger ausgeschlossen werden. 5

Ebd., S. 219. Vgl. ebd., S. 281, 304f., sowie Concilium Basiliense, hg. von JOHANNES HALLER [u. a.], Nachdr. der Ausgabe Basel 1896–1936, Nendeln/Liechtenstein 1971, II, S. 338. 7 Vgl. Magdeburg, Landeshauptarchiv, Cop. 26, 116r–v. 8 Vgl. ebd., 117r–118r. 6

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Bevor erörtert wird, wie Heinrich Toke dieses Predigeramt ausfüllte, soll der Blick für einen Moment von Heinrich Toke und Magdeburg abgelenkt werden. War die Errichtung der Prädikatur in Magdeburg ein singuläres Phänomen? JULIUS RAUSCHER hat bereits 1908 eine ausführliche Darstellung über die Prädikaturen in Württemberg vor der Reformation veröffentlicht.9 Eine erste Prädikaturstiftung hat er 1398 am Hl.-Geist-Spital in Ulm feststellen können, eine zweite in Biberach vor dem Jahr 1422, ebenfalls am Hl.-Geist-Spital. In den nächsten 100 Jahren sind an mehr als 40 Stifts- und Pfarrkirchen in Württemberg Prädikaturen gestiftet worden. Da das Präsentationsrecht für die Pfründe oft beim Rat der jeweiligen Stadt lag, muß man in diesem Prädikaturboom einen Versuch und die Möglichkeit der Stadträte sehen, auf das kirchliche Leben der Stadt Einfluß zu nehmen. In der Anzahl der Predigttage und anderem mehr unterscheiden sich diese Prädikaturen von derjenigen in Magdeburg. In einer Hinsicht aber entsprechen sie sich: Die Voraussetzung für die Inhaber der Prädikaturen war hier wie dort das Theologiestudium an einer Universität. Es ist also deutlich zu erkennen, daß ein gewisser Standard der Predigt gesichert werden sollte. Für die nördlicheren Gebiete Deutschlands ist keine städtische Prädikatur bekannt. Dennoch ist hier die Magdeburger Prädikatur ebenfalls keine singuläre Erscheinung. Bereits auf dem dritten Laterankonzil war die Anstellung eines Magisters zur Unterweisung der Schüler und Kleriker an jeder Kathedralkirche vorgeschrieben worden.10 Auf dem vierten Lateranum wurde diese Forderung auf die Metropolitankirchen beschränkt.11 Tatsächlich fand diese Bestimmung Verwirklichung am Dom zu Lübeck. Dort hatte sich bereits im 13. Jahrhundert ein Doktor oder Bakkalar der Theologie im Kapitel fest etabliert.12 Im 15. Jahrhundert trat zu der theologischen Unterweisung des Klerus die Predigt vor dem Volk zu den Aufgaben dieses Kanonikers hinzu – daher werden diese Pfründen auch meist als Lekturen und nicht als Prädikaturen bezeichnet. In Hamburg wurde durch die testamentarische Verfügung des Magister Johannes Vritze, der 1408 verstarb, eine Lektur am Dom begründet, deren erste drei Inhaber Luder Meistermann, Heinrich von Geismar und Johannes Holt ihre Doktortitel in Erfurt erworben hatten.13 Heinrich von Geismar und Heinrich Toke kannten sich nachweislich seit ihrer Studienzeit aus Erfurt. Beide gehörten zu den ersten Professoren der Universität Rostock nach ihrer Eröffnung im Jahr 1419. Au9

JULIUS RAUSCHER, Die Prädikaturen in Württemberg vor der Reformation. Ein Beitrag zur Predigt- und Pfründengeschichte am Ausgang des Mittelalters, Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde (1908), S. 152–211. 10 Vgl. Conciliorum oecumenicorum decreta, hg. von GIUSEPPE ALBERIGO [u. a.], Freiburg i. Br. 1962, Conc. Lat. III, 18, S. 220. 11 Vgl. Constitutiones concilii quarti Lateranensis, hg. von ANTONIUS GARCI´A Y GARCI´A (Monumenta iuris canonici, Ser. A = Corpus Glossatorum 2), Vatikanstadt 1981, 11, S. 59,12–14. 12 Vgl. EDUARD MEYER, Geschichte des Hamburgischen Schul- und Unterrichtswesens im Mittelalter, Hamburg 1843, S. 58. 13 Vgl. ebd., S. 362.

Der Prediger dr. theol. Heinrich Toke

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ßerdem verband sie ein freundschaftliches Verhältnis, wie aus dem Testament des Heinrich von Geismar von 1431 hervorgeht, in dem er Heinrich Toke als familiarissimus meus amicus bezeichnet hat.14 Heinrich Toke wurde hier zum Testamentsvollstrecker einiger Buchlegate bestimmt, unter anderem auch für das Fragment eines Kommentars zum Johannesevangelium, den Johannes Scharpe verfaßt hat. Dieser Johannes Scharpe wiederum war in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts Lektor am Dom zu Lübeck. Es bestehen also auch in Norddeutschland Prädikaturen und die Inhaber dieser Pfründen stehen in z. T. engem Kontakt miteinander. Die Gründung einer weiteren Prädikatur, derjenigen am Bremer Dom, ging ebenfalls auf Heinrich Toke zurück. Auf seine Veranlassung hin wurde seine dortige Pfründe nach seinem Ableben für einen an einer Universität ausgebildeten Theologen reserviert, dessen Aufgaben gleichfalls die Unterweisung des Klerus und die Predigt vor dem Volk waren.15 Im Jahr 1430 stiftete der brandenburgische Kurfürst Friedrich I., dessen Kontakt zu Heinrich Toke bereits erwähnt wurde, eine Prädikatur an St. Gumpert in Ansbach.16 Auch diese Stiftung ist möglicherweise von Heinrich Toke beeinflußt worden. Am Magdeburger Dom trat durch die testamentarische Stiftung des Domherrn Heinrich der Oven (gest. 1439) ein zweiter Domprediger zur Unterstützung des Lector primarius an dessen Seite.17 Es ist also in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine Belebung der Predigt auf dem Niveau universitärer Ausbildung der Prediger zu beobachten, die in Norddeutschland an die Kathedral- und Metropolitankirchen gebunden ist und mit der Unterweisung des Klerus gekoppelt wird. Wie füllte nun Heinrich Toke seine Aufgaben als Prediger an der Magdeburger Domkirche aus? Zur Beantwortung dieser Frage werden in erster Linie 19 Predigten herangezogen, die, von einer Hand geschrieben, in einem heute in Kopenhagen aufbewahrten Codex gesammelt sind.18 Vor jeder Predigt ist in der Handschrift vermerkt, in welchem Jahr und an welchem Tag Heinrich Toke die jeweilige Predigt in Magdeburg gehalten hat. Neben dieser Datierung und Lokalisierung ist diesen kurzen Bemerkungen oft 14

Ebd., S. 377. Vgl. dazu Heinrich Toke, Rapularius, B 63, ed. HILDEGUND HÖLZEL-RUGGIU [MGH-Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 17], Hannover 2002, S. 124f., sowie Bremisches Urkundenbuch VI, hg. von HERMANN ENTHOLT, Nachdr. der Ausgabe Bremen 1940–1943, Osnabrück 1980, Nr. 20, S. 20–23. 16 Vgl. ADOLF BAYER, S. Gumberts Kloster und Stift in Ansbach. Beiträge zum 1200jährigen Gedenken 748/1948 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, 9. Reihe, 6), Würzburg 1948, S. 182f. 17 Vgl. GOTTFRIED WENTZ/BERENT SCHWINEKÖPER, Das Erzbistum Magdeburg (Germania Sacra, Die Bistümer der Kirchenprovinz Magdeburg), Berlin/New York 1972, 1.1, S. 151 u. 358f. 18 Kopenhagen, Kongelige Bibliothek, GKS 73 Fol., 180ra–228va. Vgl. auch Catalogus codicum latinorum medii aevi bibliothecae regiae Hafniensis, hg. von ELLEN JØRGENSEN, Kopenhagen 1923–26, S. 131. 15

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auch zu entnehmen, ob Toke vor einem Publikum von Geistlichen oder Laien sprach. Er predigte an folgenden Tagen über folgende Themen: 1. (undatiert) – ad clerum: Pax huic domui (Mt 10,13; Lc 10,5), 180ra–181vb; 2. 1425, 24. 8. / S. Bartholomeus – ad populum: Qui maior est vestrum, fiat sicut minor (Lc 22,26), 208va–211va; 3. 1425, 8. 9. / Nativitas Marie – ad populum: Liber generacionis Ihesu Cristi (Mt 1,1), fol. 189rb–190vb; 4. 1425, 21. 9. / S. Mattheus – ad populum: Sequere me! (Mt 9,9; Mc 2,14; Lc 5,27), 211va–213ra; 5. 1425, 23. 9. / Ostensio reliquiarum, sequens dies post festum sancti Mauricii – ad populum: Ipsorum est regnum celorum (Mt 5,3; Mt 5,10), fol. 213ra–214ra; 6. 1426, 3. 3. / Dominica ›Oculi‹ – ad populum: Ambulate in dileccione! (Eph 5,2), 214ra–216va; 7. 1426, 17. 3. / Dominica ›Iudica‹ – ad populum: Si veritatem dico vobis, 〈quare〉 non creditis michi? (Io 8,45), 216va–218vb; 8. 1426, 25. 3. / Annunciacio Marie – ad populum: Missus est angelus (Lc 1,26), 218vb–220ra; 9. 1426, 1. 4. / Feria secunda pasche – ad populum: Surrexit dominus vere (Lc 24,34), fol. 220ra–221rb; 10. 1426, 20. 5. / Feria secunda pentecostes – ad populum: Si quis diligit me, sermonem meum servabit (Io 14,23), 221rb–224ra; 11. 1426, 9. 6. / Dominica post octavam corporis Cristi – ad populum: Homo quidam fecit cenam magnam (Lc 14,26), fol. 224ra–228va; 12. 1426, 29. 6. / Ss. Petrus et Paulus – ad populum: Hii sunt due olive (Apo 11,4), 201va–204vb; 13. 1426, 2. 7. / Visitacio Marie – ad populum: Quasi oliva speciosa (Sir 24,19), 204vb–205vb; 14. 1426, 25. 7. / S. Iacobus – ad clerum: Calicem quidem meum bibetis (Mt 20,23; Mc 10,39), 205vb–208va; 15. 1426, 18. 10. / S. Lucas – in sinodo: Labora! (II Tim 4,5), 181vb–185ra; 16. 1427, 27. 4. / Dedicacio templi, octava pasche: Vidi civitatem (Apo 21,2), 194rb– 198ra; 17. 1428, 11. 4. / Octava pasche: Vidi civitatem (Apo 21,2), 198ra–201vb; 18. 1428, 31. 5. / Feria secunda post octavas pentecostes – in synodo: Non noverunt patrem neque me (Io 16,3), 185ra–189rb; 19. 1450, 8. 9. / Nativitas Marie: Liber generacionis Ihesu Cristi (Mt 1,1), 190vb– 194rb.

Diese 19 Predigten – wie auch die meisten anderen Predigten Heinrich Tokes – sind also vor einem Publikum vorgetragen worden. Sie stellen kein Produkt rein literarischer Beschäftigung dar, sondern sind aus einem bestimmten Anlaß verfaßt worden. Weitere sieben Predigten, die den Verfassernamen Heinrich Tokes tragen, sind in einer Lüneburger Handschrift überliefert.19 In ihrem Aufbau gleichen sie den in Kopenhagen überlieferten Predigten. 19

Lüneburg, Ratsbibliothek, cod. theol. Fol. 105, 203ra–207vb: Nativitas Cristi (2 Predigten), 255ra– 257ra: Conversio Pauli, 267vb–270rb: Cathedra Petri, 273ra–275vb: Cathedra Petri, 367vb–370vb: S. Michael, 380va–383va: Omnes sancti. Vgl. auch Handschriften der Ratsbücherei Lüneburg II,1, hg. von IRMGARD FISCHER, Wiesbaden 1972, S. 213–217.

Der Prediger dr. theol. Heinrich Toke

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Vier Predigten Heinrich Tokes stehen in Verbindung mit Visitationen in Klöstern der Magdeburger Erzdiözese.20 Diese Predigten sind so kurz (durchschnittlich ein Blatt pro Predigt im Oktavformat der Handschrift), daß die überlieferten Texte möglicherweise nur ein Konzept für die Predigten darstellen. In ihrem Aufbau gleichen sie den Magdeburger Predigten, allerdings wird deutlich, daß das Publikum im monastischen Bereich zu finden ist. Die Predigten Heinrich Tokes sind ausnahmslos in lateinischer Sprache überliefert, ihr Vortrag in Basel21 und bei den Hussitenverhandlungen22 sowie vor den Erfurter Universitätsmitgliedern23 erfolgte sicherlich ebenfalls auf Latein. Für die Magdeburger Predigten ist eine Unterscheidung zu treffen. Die Einleitung zu der Predigt vom 31. 5. 1428 vermerkt ausdrücklich, daß Heinrich Toke die Worte in synodo latine (185ra) vorgetragen hat; ad populum hat er dagegen ohne Zweifel auf Deutsch gepredigt. Die einzigen deutschen Worte, die in seinen Predigten überliefert sind, beinhalten eine volkstümliche Erklärung von Emmaus (Lc 24,13) bei der Auslegung des 24. Kapitels des Lukasevangeliums als en make us – diese Deutung zieht er heran, um die Zuhörer zum einträchtigen Leben miteinander zu ermahnen (Predigt am 1. 4. 1426, 221rb). Das en make us erklärt er in der lateinisch verfaßten Predigt mit den Worten: Hoc est: Fac nos concordes. Er rechnete also damit, daß ein Leser die niederdeutschen Worte nicht verstand. 20

Köln, Stadtarchiv, cod. W* 16, 241r–246r; vgl. auch JOACHIM VENNEBUSCH, Die theologischen Handschriften des Stadtarchivs Köln 5 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, Sonderreihe V,5), Köln/Wien 1989, S. 9–16. 21 Er hielt in Basel Predigten über folgende Themen: Am 14. 2. 1432 über Ecce, angeli accesserunt (Mt 4,11), überliefert in Douai, Tomus III, Ms. 198, 294r–299v, Innsbruck, UB, cod. 175, 55v–61v, vgl. auch WALTER NEUHAUSER, Katalog der Handschriften der UB Innsbruck (Veröffentlichungen der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters, Reihe II,4,2; Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Denkschriften 214), Wien 1991; Klosterneuburg, Stiftsbibl., cod. 516, 112v–122r und cod. 640, 39r–44v, und Köln, Stadtarchiv, GB fo123, 224v–230v und 327r–334v; am 29. 6. 1436 über Qui sunt hii, qui ut nubes volant? (Is 60,8), überliefert in Basel, Universitätsbibliothek E I 1I, 482r–488r und A III 17a, 173r–183r, Köln, Stadtarchiv GB fo 123, 281r–290v, München, Staatsbibliothek, Clm 22372, S. 132–140, München, Universitätsbibliothek, 4o MS 32, 83r–94v und Wolfenbüttel, HAB, cod. Guelf. Helmst. 542, 90v –98v; vgl. auch OTTO VON HEINEMANN, Die Helmstedter Handschriften (Katalog der H-A-B Wolfenbüttel 2), Nachdr. Frankfurt a. M. 1965; am 2. 12. 1436 Ecce, rex tuus venit (Mt 21,5), überliefert in Wien, ÖNB, cod. 4160, 278r–285v; vgl. auch Tabulae codicum manu scriptorum in bibliotheca Palatina Vindibonensi asservatorum III, Wien 1869, S. 186f. Eine Edition der Texte wird von der Verfasserin vorbereitet, die bei den Monumenta Germaniae Historica erscheinen wird. 22 Heinrich Toke predigte am 9. 5. 1432 in Eger über Pax vobiscum, vgl. Anm. 3; am 20. 5. 1433 in Prag über Io 16,24 und Iac 1,17, überliefert in Krakau, Biblioteka Jagiellon´ska, cod. 414, 95v–98v, gedruckt MC I [Anm. 4], S. 390–395; am 6. 11. 1433 in Prag über Sit vobiscum pax (II Io 3), gedruckt MC I [Anm. 4], S. 476–484. Eine Edition der Texte wird von der Verfasserin vorbereitet, die bei den Monumenta Germaniae Historica erscheinen wird. 23 Am 3. 2. 1426 hielt er in Erfurt eine Predigt über Viderunt oculi mei salutare tuum (Lc 2,30), überliefert in Bamberg, SB, cod. theol. 172 (Q V 14), 73v–80v; vgl. auch FRIEDRICH LEITSCHUH/ HANS FISCHER, Katalog der Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Bamberg I, Bamberg 1895–1906, S. 751f.

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Es ist aufgrund der Überlieferung nicht zu entscheiden, ob Heinrich Toke bei seinem Vortrag direkt aus der lateinischen Vorlage übersetzte oder ob ihm eine deutsche Fassung der Predigt vorlag. Aber es gibt doch Hinweise, daß Vortrag und Verfassen bzw. schriftliche Überlieferung als zwei verschiedene Dinge aufgefaßt werden müssen. In einigen der in Magdeburg gehaltenen Predigten greift Heinrich Toke auf Inhalte und Aussagen früherer Predigten zurück. In der Mehrzahl dieser Fälle wählte er dort eine Formulierung, die sowohl die schriftliche Fixierung (scribere) als auch den mündlichen Vortrag (sermonem facere) umfaßt, also etwa: (...) quod scripsi in sermonem, quem feci anno (...) (die Predigten vom 8. 9. 1425, 190vb; vom 21. 9. 1425, 213ra; vom 29. 6. 1426, 204ra und 204va; vom 2. 7. 1426, 205va). In zwei Predigten (vom 17. 3. 1426, 218va und vom 25. 3. 1426, 219va–b) benutzt er nur die Bezeichnung scripsi, in der Predigt vom 18. 10. 1426 (182rb) erscheint nur eine Form von facere in einer partizipialen Konstruktion (sermone facto), die durch Adjektive, Pronomen und präpositionelle Bestimmungen erweitert ist und in einem Relativsatz steht – diese Konstruktion hat vielleicht aus stilistischen Gründen auf eine Verbindung mit scribere verzichten müssen. Es wäre waghalsig, aus diesen Formulierungen die Existenz zweier Fassungen der Predigten herauslesen zu wollen – eine Fassung für seinen eigenen Vortrag, eine andere Fassung zum Lesen oder als Anleitung bzw. zum Vortrag für einen anderen Prediger. Dennoch halte ich diese Beobachtung für bemerkenswert im Hinblick auf das Verhältnis von Verfassen und Vortrag. In dieser Hinsicht sind zwei weitere Predigten Heinrich Tokes aufschlußreich, die er im Juni und Dezember 1436 in Basel gehalten hat.24 Hier fehlen in der Überlieferung die Zitatangaben aus der Bibel, die Zitate werden lediglich durch Hinweise eingeleitet wie ut dixit Iohannes, secundum Iohannem und ut in evangelio Iohannis. Lediglich die Zitatangaben aus dem Corpus iuris canonici sind hier vollständig genannt. Überlicherweise sind in den Texten, die unter dem Namen Heinrich Tokes überliefert sind, Zitate meist fast vollständig mit Autornamen, Werktitel und sogar mit Kapitel angeführt. Außerdem sind in den beiden Baseler Predigten alle Zahlen – mit Ausnahme der wenigen genannten Zitatangaben – ausgeschrieben. Für den mündlichen Vortrag eines lateinischen Textes empfiehlt es sich, Zahlen auszuschreiben, da die Übertragung der Ziffern in die lateinische Sprache eine Unsicherheit für den Sprecher bedeutet. Diese Beobachtungen legen die Vermutung nahe, daß uns in den beiden Basler Sermones die Fassungen vorliegen, die Heinrich Toke den Konzilsteilnehmern vorgetragen hat. Und noch etwas wird deutlich: Für das Zitieren von Bibelstellen mußte Heinrich Toke nicht nachschlagen – wohl aber für die genaue Angabe des Kapitels eines Bibelzitates. Bei den Zitaten aus dem Kirchenrecht sprechen die genauen Angaben und Zitate dafür, daß er diese Stellen nicht auswendig kannte.

24

Vgl. Anm. 21.

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Man darf damit wohl annehmen, daß beim Vortrag der übrigen Predigten – das gilt ebenso für einen Vortrag von Reden oder Traktaten – die genauen Zitatangaben unterblieben und nur ein Hinweis auf die Quelle gegeben wurde. Anderenfalls wäre das Textverständnis auch sehr erschwert worden; müßte man doch stellenweise hinter jedem Satz eine Zitatangabe erwarten, die den inhaltlichen Fluß unterbricht. Genaue Zitatangaben – also Texte mit Fußnotencharakter – dienten nur einem Leser oder Benutzer des geschriebenen Textes als Belegstelle. Für die Magdeburger Predigten Heinrich Tokes ist also zu vermuten, daß sie nach ihrem mündlichen Vortrag bearbeitet wurden, um sie anderen Predigern oder Lesern nützlich zu machen. Dabei wurden die Quellenangaben vervollständigt, der niederdeutsche Ausdruck erklärt und vielleicht erst jetzt der Text ins Lateinische übertragen. Wir wissen somit nicht genau, was Heinrich Toke tatsächlich in Magdeburg gepredigt hat, aber die lateinische Überlieferung seiner Predigten ist die einzige Quelle, die uns über die Ausgestaltung seines Predigeramtes Auskunft gibt. Es ist kaum zu vermuten, daß die Predigten bei der schriftlichen Fixierung und Überarbeitung inhaltlich verändert wurden; jedenfalls offenbart sich ein solch starker Eingriff bei der Lektüre nicht. Man kann wohl annehmen, daß die lateinisch überlieferten Texte mit den teilweise in deutscher Sprache vorgetragenen Predigten in Inhalt und Aufbau übereinstimmten. Der Auswahl der Predigten Heinrich Tokes, die in Kopenhagen und Lüneburg überliefert sind, ist zu entnehmen, daß er nur an hohen kirchlichen Feiertagen, an Marien- und Apostelfesttagen gepredigt hat. Die Sermones in der Lüneburger Handschrift sind nach dem Kirchenjahr geordnet und die Predigten Heinrich Tokes erscheinen an dem jeweiligen Heiligentag neben den Predigten anderer Autoren.25 Die Kopenhagener Handschrift scheint manchmal einer chronologischen Ordnung zu folgen (die Predigten am 21. und 23. September 1425, 189rb– 190vb; die Predigten am 3., 17. und 25. März, sowie am 1. April 1426, 214ra– 221rb), die aber nicht stringent eingehalten wird.26 Die Auswahl ist vermutlich nach Belieben ohne erkennbares Schema des Kompilators der Predigtsammlung getroffen worden. Die Predigten Heinrich Tokes sind mit Ausnahme einiger Basler Predigten27 nur ein einziges Mal überliefert. Möglicherweise hat eine umfassende Sammlung von Predigten Heinrich Tokes nie existiert, da er sie nicht zur schriftlichen Verbreitung, sondern nur für seinen mündlichen Vortrag von der Kanzel herab konzipierte und verfaßte. Die Predigten in Magdeburg folgen alle in etwa dem gleichen Schema: Zu Beginn steht die Invocatio – In nomine domini nostri Ihesu Cristi, amen. Sodann nennt Heinrich Toke das Thema, das er mit wenigen Ausnahmen der Evangelienperikope des Tages, an dem die Predigt gehalten worden ist, entnahm. Um die Gnade des Heiligen Geistes oder Gottes zu erlangen, wendet sich Heinrich 25

Vgl. Anm. 19. Vgl. oben, S. 528. 27 Vgl. Anm. 21. 26

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Toke dann Maria zu. In etwa der Hälfte der 19 Predigten folgt an dieser Stelle ein kurzer Exkurs über Maria, in der die Gottesmutter z. B. als oliva (Predigt vom 29. 6. 1426, 201va) allegorisiert wird; diese Exkurse versuchen, eine Verbindung zwischen Maria und dem Thema herzustellen. Mit der Aufforderung, das Ave Maria gemeinsam zu sprechen, endet die Einleitung. In der Disposition gliedert Heinrich Toke seine Predigten meist in zwei, selten in drei Hauptteile. Bei der Zweiteilung fällt der zweite Teil oft wesentlich kürzer aus als der erste, bei der Dreiteilung kann der dritte Teil auch ganz entfallen, da er nur einen Rückgriff auf frühere Predigten darstellt. In einer seiner zweiteiligen Predigten hat er selbst folgende Untergliederung getroffen, die ebenfalls auf viele seiner übrigen Sermones zutrifft: Duo erunt articuli principales: Primus de thematis probacione sive bona introduccione, 2 us de eiusdem divisione et nostra emendacione (201va). Es gibt also zwei Hauptabschnitte: Der erste ist eine Darlegung/Deutung des Themas und eine Beweisführung dieser Deutung – der Teil, der zum Thema hinführt; der zweite Abschnitt ist die Schlußfolgerung daraus und dient der Besserung der Zuhörer. Mit anderen Worten: Der erste Teil beantwortet die Frage: Was bedeutet das Thema?, der zweite: Was lernen wir für uns daraus? – Hier: Sensus litteralis und allegoricus – dort: Sensus moralis und anagogicus. Zuweilen untergliedert Heinrich Toke die Predigten auch nur in die Bestandteile des Themas, z. B. in der Predigt vom 3. 3. 1426: Ambulate in dileccione! Der erste Teil handelt de nostra ambulacione, der zweite Teil de sancta dileccione (214va). Die Deutung der einzelnen Wörter des Themas nimmt den größten Raum ein. Manchmal stellt Heinrich Toke eine Beziehung zum jeweiligen Heiligentag oder zur gegenwärtigen Zeit im Kirchenjahr, wie z. B. in der zuletzt erwähnten Predigt zum Fasten (215vb), her. Fast nie geht er über die Nennung des Themas hinaus auf den Kontext der Perikope ein – vermutlich weil die Lesung und eine Erläuterung der biblischen Geschichte der Predigt vorausging. Kirchenkritik bleibt in den ad populum gehaltenen Predigten entsprechend den Vorschriften seines Amtes ausgespart. Die Länge des Vortrags betrug zwischen ca. 20 und 60 Minuten. Exempla entnimmt er nur der Bibel, sehr selten greift er auf Begebenheiten zurück, die bei den Kirchenvätern oder bei Aristoteles überliefert sind. Anekdoten oder kleine Geschichten aus der Alltagswelt findet man in seinen Predigten nicht. In einem einzigen Fall, in der Predigt vom 17. 3. 1426 (217va), erzählt er die Allegorie vom Aufstand der Körperglieder gegen den Magen, wie sie uns aus Livius (›Ab urbe condita‹ II,32) bekannt ist – Heinrich Toke hat hier seine Quelle leider nicht angegeben. Die Predigten, die Heinrich Toke vor dem Volk gehalten hat, weisen viel nachdrücklicher Gliederungsmerkmale auf als die vor dem Klerus vorgetragenen Sermones – besonders immer wieder numerische Einteilungen. Das Thema wird in einzelne Wörter zerlegt, die in verschiedenen Deutungsmöglichkeiten beschrieben und untergliedert und jeweils mit einem oder mehreren Bibelzitaten

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oder biblischen Personen exemplifiziert werden. Hilfreich zur Seite stehen Heinrich Toke dabei immer wieder allgemein gebräuchliche Gliederungsschemata und Kataloge wie z. B. die sieben Hauptsünden. Die Predigten Heinrich Tokes entsprechen in ihrer Auslegungsweise seinen Kommentaren zu Schriften des Aristoteles,28 in denen ebenfalls kurze Aussagen oder einzelne Wörter des aristotelischen Textes in verschiedenen Deutungsmöglichkeiten ausgelegt, untergliedert und mit Beispielen und Zitaten aus anderen Werken des Aristoteles den Studenten der ersten Semester in der Universität Erfurt nahegebracht wurden. Seine Predigten sind somit als scholastische Predigten zu bezeichnen, als dessen spezifische Merkmale JOHANN BAPTIST SCHNEYER das »Definieren, Dividieren, Argumentieren, Exemplifizieren, Kontrahieren«29 bezeichnet hat. Seine Predigten entbehren dabei aber jeder dogmatisch-scholastischen Spitzfindigkeit und haben nur die moralische Belehrung und Erbauung, die Stärkung der christlichen Tugenden – eine Lebensanleitung – zum Ziel. Wie unterscheiden sich die übrigen Predigten Heinrich Tokes von den Magdeburgern? Entsprechend den Zuhörerkreisen betrachte ich bei der Beantwortung dieser Frage die in Erfurt, in Basel und in Böhmen gehaltenen Predigten gesondert.30 Die Predigt, die Heinrich Toke am 1. Februar 1426 in Erfurt vorgetragen hat,31 steht vermutlich im Zusammenhang mit seiner Promotion. Seine Zuhörer waren Universitätsangehörige und Geistliche. Die auffälligsten Unterscheidungsmerkmale zu den Magdeburger Predigten befinden sich zu Beginn und gegen Ende der Predigt. Nach der Invokation und der Nennung des Themas Viderunt oculi mei salutare tuum (Lc 2,30) folgt hier eine Captatio benevolentiae, mit der Heinrich Toke sein Auftreten vor diesem Publikum und seine Worte über ein solch heiliges Thema wie die Jungfrau Maria in besserem Licht erscheinen lassen will. Zitate aus Werken von Augustin, Hieronymus, Anselm und Bernhard unterstützen ihn dabei. Auch hier schließt die Einleitung mit der Aufforderung, gemeinsam das Ave Maria zu sprechen. Der Aufbau der Predigt folgt dem bereits bekannten Schema: 1. die Erklärung des Themas – hier besonders des salutare – und 2. die moralische Schlußfolgerung daraus: Das richtige Erkennen und Genießen des Guten, das zum salutare führt. Hierfür zieht er erneut mehr als zehn Zitate aus der Patristik und der Antike heran, um seine Aussagen 28

Überliefert sind Heinrich Tokes Kommentare zu ›De anima‹, ›De mundo‹, zur Ökonomie und zur Politik des Aristoteles, ein ›Tractatus sophistrie‹ (Leipzig, UB, cod. 1374) sowie ein Kommentar zur ›Nikomachischen Ethik‹ (Berlin, SBB-PK, Ms. lat. qu. 356, 1ra–117vb). 29 JOHANN BAPTIST SCHNEYER, Geschichte der katholischen Predigt, Freiburg i. Br. 1969, S. 131. 30 In der Literatur sind die in Basel und Böhmen vorgetragenen Predigten Heinrich Tokes oftmals als Reden bezeichnet worden. Es war zunächst eine Schwierigkeit, zwischen Reden und Predigten zu unterscheiden. Ich habe schließlich als Reden diejenigen Schriften von meinen Betrachtungen ausgeschlossen, die sich nahezu ausschließlich auf kirchenpolitische Ereignisse beziehen und nicht in erster Linie der Erbauung dienen. 31 Vgl. Anm. 23.

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zu untermauern und auch, um sich seinem gebildeten Publikum als würdiger Prediger zu erweisen. Daran schließt sich eine ganze Reihe von Bibelzitaten an, die nahezu unverbunden nebeneinander stehen und mit denen er seinen Worten gleichsam noch mehr Kraft zu verleihen versucht. Ähnlich wie in den Magdeburger Predigten, die dem Klerus vorgetragen wurden, werden die Gliederungsmerkmale im Text zwar erwähnt, aber nicht besonders betont. Die Erfurter Predigt ist auch etwas länger. Die in Böhmen gehaltenen Predigten32 sind geprägt von der doch recht brisanten politischen Lage. Der Sprecher mußte hier seine Zuhörer, die dogmatische, politische und militärische Gegner waren, überzeugen, ohne daß er belehrend wirken oder gar einen Vorwurf der Häresie unterschwellig anklingen lassen durfte. Die Struktur dieser drei Predigten ist eher erzählend. Sie sind etwas umfangreicher als die Magdeburger Predigten. Gliederungsmerkmale finden sich kaum. Textübernahmen aus Werken der Patristik sind sehr kurz und belaufen sich auf eine Anzahl von drei bis vier Zitaten pro Predigt. Die Bibelzitate sind dagegen zum Teil umfangreicher, das Thema wird immer wieder in den Text der Predigt aufgenommen. Entsprechend der historischen Situation enthalten die Predigten auch längere kirchenpolitische Passagen. Thematisch kreisen sie besonders um die pax und die unio ecclesiae; an die Stelle der Belehrung tritt hier die Vermittlung von Hoffnung, Freude und Optimismus. Die Predigten, die Heinrich Toke in Basel gehalten hat,33 enthalten alle drei am Beginn eine Captatio benevolentiae, zu der er sich anscheinend genötigt fühlt, sobald sich theologisch gebildete Personen unter seinen Zuhörern befinden. Seine Rechtfertigung erklärt er dabei unter anderem durch den Heiligen Geist, der durch den Prediger spricht. Aber auch diese Predigten bauen das gemeinsam gesprochene Ave Maria in ihre Einleitung ein – es ist also ein fester Bestandteil der Predigten Heinrich Tokes, den er nur in Böhmen mit Rücksicht auf die Hussiten hat entfallen lassen. Die Wortdeutung des Themas bleibt das wichtigste Prinzip seiner Vorgehensweise. Die Gliederung hebt Heinrich Toke nicht so deutlich hervor wie in den Magdeburger Predigten. Die Struktur ist eher erzählend wie in den Sermones, die er in Prag und Eger gehalten hat. Der Vortrag der Konzilspredigten dürfte einen Zeitraum von ein bis zwei Stunden in Anspruch genommen haben. Die Predigt vom Februar 1434 ist geradezu gespickt mit Bibelzitaten. Auf einigen Seiten sind mehr als 20 Belegstellen in den Text eingeflochten. Die Anzahl der Zitate aus der Patristik ist dagegen hier sehr gering. Die Predigt an Peter und Paul 1436 führt eine ganze Reihe von Belegen aus dem Kirchenrecht an. Diese Quelle benutzt Heinrich Toke auch in den Magdeburger Predigten, die er vor dem Klerus gehalten hat, allerdings in geringerem Umfang. Andere 32 33

Vgl. Anm. 22. Vgl. Anm. 21.

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Schriften Heinrich Tokes belegen ebenfalls, daß er das Corpus iuris canonici nur zitierte, wenn er vor einem Publikum von Geistlichen sprach, in besonders großem Umfang in seiner ›Antrittsrede‹, in Magdeburg,34 in der er sich dem Domkapitel gegenüber, das aus Adligen und Juristen bestand, durch die Beschreibung eines Bildungsadels und seine tiefe Kenntnis des Kirchenrechts als ebenbürtig erzeigen wollte. Die Basler Predigten enthalten auch kirchenpolitische Passagen. In allen drei Predigten läßt Heinrich Toke die personifizierte Kirche als seinen Dialogpartner auftreten. Die ecclesia führt dabei Klage über ihren Zustand; Aufgabe des Predigers ist es, auf diese Klage zu reagieren und die Kirche zu trösten. Ihr Trost kann nur in der Besserung ihres Zustandes bestehen – das ist die Aufgabe der Konzilsteilnehmer, woran der Prediger seine Zuhörer gemahnt. Seine Predigten nehmen dabei Bezug aufeinander. In der Adventspredigt vom Jahr 1436 klagt die Kirche schließlich ihren Dialogpartner an: Er habe Besserung versprochen, die nicht eingetreten sei. Man spürt aus dieser Predigt heraus die Enttäuschung Heinrich Tokes über den Verlauf des Konzils, das er bald nach dieser Predigt zunächst erst einmal verließ. Größten Optimismus dagegen läßt die Predigt vom 14. Februar 1434 verspüren, die er den Konzilsteilnehmern nach der Rückkehr von der zweiten Prager Gesandtschaft vortrug. Dort waren am 30. November 1433 die Prager Kompaktaten bestätigt worden, die eine Anerkennung der vier hussitischen Glaubensartikel beinhalteten. Der Ausgleich mit den Hussiten schien damit gelungen, die unio ecclesiae einen enormen Schritt vorangekommen zu sein. Es ist erstaunlich, in welchem Maße Heinrich Toke Betroffenheit bei der Lektüre seiner Predigten verspüren läßt, auch wenn der Text zu einem großen Teil aus Bibelzitaten besteht. Welche Wirkung Heinrich Toke bei seinen zeitgenössischen Zuhörern zu erzielen vermochte, habe ich vorhin dargelegt. Die Predigten Heinrich Tokes bieten die Auslegung eines Bibelzitates. Seine Vorgehensweise entspricht dabei seiner universitären, scholastischen Ausbildung. In der Komposition, in der Struktur, in der Auswahl seiner Zitate sowie in seiner Intention – Belehrung, Erbauung, Ermahnung – richtet er sich ganz nach seinem Publikum. Die Situation, in der er spricht, spielt also eine große Rolle. Die uns überlieferten Schriften sind dabei vielleicht nicht identisch mit der vorgetragenen Predigt, auch wenn man wohl davon ausgehen kann, daß Aufbau, Inhalt, Wahl der Exempel und Zitate den gehaltenen Predigten entsprechen. Uns heutigen Lesern der Predigten und lateinischen Schriften des 15. Jahrhunderts erscheinen die Texte aufgrund der vielen eingeflochtenen Zitate wenig originell, eher langweilig und auch schwer lesbar. Für die Menschen der damaligen Zeit lag darin aber wohl ein besonderer Reiz. Seine theologisch gebil34

Die collacio magistri et doctoris Hinrici Token, quam fecit in introitu ad lecturam suam in ecclesia Magdeburgensi ist überliefert in Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 83,5 Aug., 238ra– 248va.

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deten Zeitgenossen haben Heinrich Toke hinsichtlich seiner Predigten und Äußerungen Überzeugungskraft35 theologisches Verständnis,36 Beredsamkeit,37 Gefälligkeit seiner Worte,38 das Vermögen, seine Zuhörer im Innersten zu bewegen,39 Rücksichtnahme auf Verletzlichkeit und Meinung anderer40 und eine besonders häufige Aufnahme von Bibelzitaten41 bestätigt. Er entsprach mit seinen Worten wohl in hohem Maße den formellen und inhaltlichen Anforderungen, die an eine gute Predigt gestellt wurden, vermochte mit einer großen Einfühlsamkeit den Ansprüchen des Publikums gerecht zu werden und erfüllte die Voraussetzungen, die er selbst in seinen Schriften mehrfach als wichtigstes Prinzip für einen guten Prediger formuliert hat, Worte und Taten in Einklang zu bringen.

Anhang Es folgt nun der Abdruck zweier kleiner Predigten Heinrich Tokes, die er am 21. und 23. September 1425 in Magdeburg vorgetragen hat, nach der Handschrift Kopenhagen, Kongelige Bibliothek, GKS 73 Fol., 211va–214ra:42 Sequentem sermonem fecit idem 〈sc.: Henricus Toke〉 in die sancti Mathei in ecclesia Magdeburg〈ensi〉 ad populum anno domini 1425: 〈I〉n nomine domini nostri Ihesu Cristi, amen. S e q u e r e m e [Mt 9,9; Mc 2,14; Lc 5,27], ita scribitur Mat. 9 c., Marci 2o et Luce 5o et legitur in ewangelio hodierno. Ad impetrandam sancti spiritus graciam devote salutemus virginem Mariam dicentes voce angelica: Ave, Maria! Multiplex est sequi: Quoddam iniquitatis, aliud dampnositatis, 3m utilitatis et tum 4 felicitatis. De primo, Proverbiorum 7o: Statim eam sequitur quasi bos ductus ad victimam et quasi agnus lasciviens et ignorans, quod ad vincula stultus / (211vb) trahatur [Prv 7,22]. Et 2e Petri 2o: Multi sequuntur eorum luxurias [II Pt 2,2]; et infra: Secuti viam (Kop.: Sicuti via) Balaam ex Bosor, qui mercedem iniquitatis amavit [II Pt 2,15].

35

Vgl. MC I [Anm. 4], S. 217. Vgl. MC I [Anm. 4], S. 449. 37 Vgl. ebd. 38 Vgl. MC I [Anm. 4], S. 217 u. 219. 39 Vgl. MC I [Anm. 4], S. 219. 40 Vgl. MC I [Anm. 4], S. 371. 41 Vgl. MC III [Anm. 4], S. 183. 42 Abbreviaturen werden aufgelöst. In runden Klammern innerhalb des Fließtextes stehen im Anschluß an das betreffende Wort bzw. die betreffende Passage: 1. textkritische Bemerkungen, 2. bei Emendationen der Wortlaut der Kopenhagener Handschrift (Sigle: Kop.) und werden Blattbzw. Spaltenwechsel gekennzeichnet. Bibelstellen werden in eckigen Klammern nachgewiesen. In spitzen Klammern stehen Addenda: 1. Endungen, die aus den Verkürzungen in der Hs. nicht ersichtlich sind, 2. nicht ausgeführte Initialen, 3. erläuternde Herausgeberzusätze. 36

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De 2o: Infernus sequebatur eum [Apo 6,8]; Apoc. 6o: Eum scilicet, qui sequitur mores dampnatorum; hunc, ne valeat retrocedere, sequitur infernus, ut semper cum hiis in inferno maneat, quorum hic vitam diligebat. De 3o, Act. 12: Circumda tibi vestimentum tuum et s e q u e r e m e ! [Act 12,8] De 4to, Apoc. 4to: Hii sequuntur [Apo 14,4]. Dimissis primis duobus sequamur modo 3o, ut ad 4tum veniamus. Qui igitur hic vixit virtuose et iam in patria regnat gloriose, hic merito poterit dicere: S e q u e re me! 2o: Qui est verissima via ducens in finem optimum, hic racionabilius potest vocare dicens: S e q u e r e m e ! Sed dominus Ihesus est via iuxta illud: Ego sum via [Io 14,6]; Iohannis 14; est eciam finis; Apocalypsis primo: Ego sum alpha et o, principium et finis [Apo 1,8]. 3o: Qui omne tenebrosum illuminat, hic recte clamat: S e q u e r e m e ! Sed Cristus est huiusmodi; Iohannis 8: Qui sequitur me, non ambulat in tenebris [Io 8,12]. 4o: Dux exercitus bene dicit: S e q u e r e m e ! ad quemlibet de plebe. Cristus autem est dux; Mat. 2o: Ex te enim exiet dux, qui regat populum meum Israel [Mt 2,6], quod originaliter trahitur ex propheta Michee quinto [vgl. Mi 5,2]. Iudicum 9: Sequebatur ducem, qui portavit in humero suo ramum, id est crucem [vgl. Idc 9,48f]. Quinto: Principalis dominus convenienter inducit suum armigerum dicendo: S e q u e r e m e [I Sm 14,12], quemadmodum fecit Ionathas; primi Reg. 14. Cristus autem est principalis dominus, qui dixit: Vos vocatis me: Magister et domine; et bene dicitis; sum etenim [Io 13,13]; Iohannis 13. Nos autem sumus armigeri, quia: Milicia (Kop.: Militi) est vita hominis super terram [Iob 7,1]; Iob 7o. Sexto: Quilibet pastor et animalium nutritor recte clamat ad animal, quod nutrit: S e q u e r e m e ! Solent enim bestie nutritorem suum sequi; Tobie 6o: Profectus est Tobias et secutus est eum canis [Tb 6,1], sed / (212ra) Cristus est, qui nutrit nos. Unde dixit: Ego sum pastor bonus [Io 10,14]; Iohannis X. Septimo: Quicumque valet servum suum securare existentem in periculo, hic pie vocat eum dicens: S e q u e r e m e , ut ego defendam te! Sed quilibet nostrum hic est in periculo; Ecclesiastes 9: Nescit homo, an odio vel honore dignus sit [Ec 9,1]. Cristus autem omnipotens est. Ideo in ipso pacem habebimus; Iohannis 17: In mundo pressuram habebitis, in me vero pacem [Io 16,33]. Ipse est regula, de qua Apostolus ad Gal. 6o: Quicumque hanc regulam secuti fuerint, pax super illos [Gal 6,16]. Octavo: Quicumque est maxime diligendus, hic ad se valeat trahere. Potest suadere dicens: S e q u e r e m e ! Cristus autem verus amicus est, quia: Omni tempore diligit, qui amicus est [Prv 17,17]; Proverbiorum 17. Ipse eciam erga nos maiorem caritatem habuit, quia: Maiorem hac dileccionem nemo habet, quam ut animam suam ponat quis pro amicis suis [Io 15,13]; Iohannis 15 capitulo. Hunc sequamur, ut apprehendamus exemplo Apostoli dicentis: Sequor autem, si quomodo apprehendam [Phil 3,12]; ad Vilipenses.

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3o quapropter racionabiliter dominus Ihesus dixit Matheo et unicuique nostrum verba, que premisi in themate: S e q u e r e m e ! Sic consuevit dominus apostolos vocare. Sic vocavit Petrum et Andream: Venite post me! [Mt 4,19] – quod idem est, quod: S e q u e r e m e ! –, Mat. 4o. Sic Philippum; Iohannis primo: S e q u e r e m e ! [Io 1,43] Sic adolescentem: Veni et s e q u e r e m e ! [Mt 19,21] Mat. 19. Post passionem suam Petrum, cui dixit: Tu m e s e q u e r e ! [Io 21,19] Iohannis 21. Notanter dicit dominus: Sequere! Nam peccatores non sequuntur eum, sed quidam eorum eque incedunt volentes esse similes altissimo ut Lucifer: Ero similis altissimo [Is 14,14]; Ysaie 14. Hii sunt superbi. Alii contra deum incedunt tamquam contra inimicum. Hii sunt invidi et irati: Cucurrit adversus deum erecto collo [Iob 15,26]; Iob 15 capitulo. Qui enim alteri vult auferre bona, que deus contulit, utique contra deum incedit. Alii dominum precedunt, ut gulosi et luxuriosi, qui hic et in futuro volunt esse in deliciis; precedunt gloriam, quia delectaciones / (212rb) anticipant quas post labores (!). Alii boni habebunt, quia: Per multas tribulaciones oportet nos intrare in regnum celorum [Act 14,21]; Act. 14. Alii cupiunt undique circuire; hii sunt avari, quia nulla una via contenti, sed omnes modos temptant, per quos lucrum habere sperant; Psalmo XI: In circuitu impii ambulabant [Ps 11,9]. Alii infra dominum iacent, ut mortui, nec se movere curant. Hii sunt accidiosi, contra quos sapiens: Usquequo piger dormis [Prv 6,9]; Proverbiorum 6o et 24 [vgl. Prv 24,33f]. Nos autem, karissimi, non sic, sed sequamur dominum nostrum Ihesum Cristum dicentes ei verba, que habentur Mat. 8 et Luce 9o: Sequar te, quocumque ieris [Mt 8,19 u. Lc 9,57]. Non tardemus, sicud ille, cui dixit dominus: S e q u e r e m e [Lc 9,59], respondit: Domine, permitte me primum sepelire patrem meum [Mt 8,21 u. Lc 9,59]; Mat. 8 et Luce 9o. Nec sicud alter: Sequar te, domine, sed primum permitte michi renunciare hiis, qui domi sunt [Lc 9,61], Luce 9o; sed cito sito sequamur, ut hodie Matheus, de quo legitur, ubi supra, thema: Surgens secutus est eum [Mt 9,9]; et sicud Petrus et Andreas, de quibus Mat. 4o: At illi continuo relictis retibus secuti sunt eum [Mt 4,20]; et sicud Iacobus et Iohannes frater eius, de quibus ibidem: Illi autem statim relictis retibus et patre secuti sunt eum [Mt 4,22]. Non est igitur expectandum, quia periculum est in mora. Non sequamur eciam a remotis sicud Petrus, qui sequebatur dominum a longe [Mt 26,58]; Mat. 26. A longe sequitur, qui temporalibus nimium implicatur. Nec sequamur involuntarie, ut qui cogitur, sed voluntarie; Ieremie 17: Non sum turbatus te pastorem sequens [Ier 17,16]. Nec sequamur modicum, sed semper et perseveranter, ut qui peregrinos conducunt usque ad leucam vel citra et tunc revertitur et tunc revertuntur sicud Orpha, que osculata est socrum suum (Kop.: suam) et reversa [Rt 1,14]; Ruth primo. Sic est peccator, quia: Sicud canis, qui (Kop.: iterat sentenciam suam; Proverbiorum 26, quod allegat; gestrichen) /

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(212va) revertitur ad vomitum suum, sic imprudens, qui iterat stulticiam (Kop.: sentenciam) suam [Prv 26,11]; Proverbiorum 26, quod allegat beatus Petrus; 2e Petri 2o [vgl. II Pt 2,22]. Nos igitur non sic, sed cito, prope, voluntarie, perseveranter et omnino vere sequamur dominum, quia dominus est, et: Si dominus est, sequimini illum usquequo claudicatis in duas partes [III Rg 18,21]; 3ii Reg. 18. Sequamur igitur dominum, quia: Gloria magna est sequi dominum [Sir 23,38]; Ecclesiastici 23o. Ipse enim vocavit unumquemque dicens: S e q u e r e m e ! Que fuerunt verba in principio sermonis proposita et sic introducta. In quibus verbis duo tanguntur: Primo operacio partilis continuanda, 2o persona singularis a nobis imitanda; primum ibi: S e q u e r e , 2m ibi: M e , quod est singularis persone. Quantum ad primum: Dominus vocans discipulos continue precessit et semper laboravit, quousque spiritum emisit. Ideo dicens: S e q u e r e ! Voluit nos similiter in hac vita procedere de (Kop.: de in) virtute in virtutem [Ps 83,8], quia secundum beatum Greg.:43 In via dei non progredi regredi est. Ideoque: Non desistatis, sed, quo cepistis, eatis! Quia, nisi dominum Ihesum secuti fueritis, numquam ad idem hospicium, quo habitat, pervenietis. Sed dicenti (Kop.: dicens): Doce me utilia ad sequendum dominum me vocantem! respondeo, quod tria iuvant ad sequendum: Primum recognicio sive visio, 2m est vestigium sive pedis impressio, 3m est odoris diffusio et eius percepcio. De primo dicit Greg. omelia 2a: Confestim vidit et sequebatur eum [Mc 10,52].44 Sic enim habetur Mat. 20 de cecis duobus illuminatis: Confestim viderunt et secuti sunt eum [Mt 20,34]; et Marci X de uno ceco: Confestim vidit et sequebatur eum in via [Mc 10, 52]: Videt et sequitur, qui bonum, quod intelligit, operatur. Videt autem et non sequitur, qui bonum intelligit, sed bene operari contempnit.45 Iohannis 6o: Sequebatur eum multitudo magna, quia videbat signa, que faciebat [Io 6,2]. De 2o Danielis 14 [vgl. Dn 14,18–20]: Deprehendit sacer- / (212vb) dotes per vestigia eius. Sic dominum sequamur per vestigia eius. In hoc enim vocati estis, quia Cristus passus est pro nobis vobis relinquens exemplum, ut sequamini vestigia eius; Iob 13: Vestigia eius secutus est [Iob 23,11]. O, quot bona vestigia habemus! Primo patriarchas, 2o prophetas, 3o dominum per se, 4o apostolos eius, 5o ipsorum vices gerentes papas, archiepiscopos, episcopos et sanctissimos martires et confessores, 6o doctores et prelatos, 7o varias religiones in subsidium clericorum supervenientes. Nolite igitur causari contra superiores, qui redarguendo illos accusatis vosmetipsos. Nam iuxta merita subditorum disponitur prelatorum; Iob 34: Qui facit regnare ypocritam propter peccata populi [Iob 34,30]. 43

Vgl. Gregorius, Homilia in Evangelia I, 10, 7; CC 141, S. 71. Gregorius, Homilia in Evangelia I, 2, 8, 123; CC 141, S. 17. 45 Gregorius, Homilia in Evangelia I, 2, 8, 123–126; CC 141, S. 17. 44

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De 3o videmus, quod canes per odorem invenit comparem suum. Ascendit enim in montem aperiens nares ad omnem partem et per odorem querit comparem et invenit; Ieremie 2o: Onager assuetus in solitudine in desiderio anime sue attrahit ventum amoris sui [Ier 2,24]. Sic per odorem devocionis et bone (Kop: bone et) fame nostre dominum querentes reperiemus. Sic et vos, karissimi, odorastis famam et opinionem ac devocionem sanctorum patrum, clericorum, laicorum et principum predecessorum vestrorum, quanta devocione ecclesias fundaverunt, beneficia instituerunt (Kop.: instatuerunt) et omnem universaliter clerum venerati sunt. Recordamini, queso, quid egerit Constantinus imperator, qui et clamide suo clericum peccantem voluit occultare!46 Recogitetis magnifica opera Caroli magni imperatoris erga ecclesiam et clerum, similiter circa illam civitatem eiusdem principis devocionem47 et presertim magni Ottonis imperatoris huius ecclesie fundatoris.48 Et iam – heu! – per oppositum! Et bonorum clericorum vitam denigrant propter unius exemplum trufatoris, in cuius exemplum alii decem probi possent allegari, quia igitur precessores copiosos habemus. / (fol. 213ra) Sequamur domino sic iubente: S e q u e r e m e ! Et tantum de primo. Quantum ad 2m tangitur persona singularis a nobis imitanda. Est enim imitandus dominus Ihesus precipiens et discipulus eius exequens. Potest igitur dicere non solum dominus, sed eciam sanctus Matheus et quilibet bonus: S e q u e r e m e ! Sed diceres: Ad quid me vocat? Respondeo, quod primo et principaliter ad duo, videlicet ad penitenciam et ad humilitatem insequendam. Penitenciam dominus docuit, quam eum facere non decuit: Qui peccatum non fecit, nec inventus est dolus in ore eius [I Pt 2,22]; prime Petri 2o. Discipulus vero penitenciam egit et predicavit, humilitatem autem dominus exercuit et docuit et omnibus sequendam precepit. Tractaturus igitur de humilitate premittenda sunt quedam de penitencia. Oportet enim, ut prius mala displiceant et eradicentur et tunc bona superseminentur. De penitencia autem satis scripsi in primo sermone meo ad populum, quem feci in die conversionis sancti Pauli, qui sic incipit: Penitenciam agite!49 Et de humilitate incepi in sermone, quem in proximo die sancti Bartholomei feci, ubi tunc dimisi.50 Ista igitur de locis illis capta complebunt istum articulum, et tantum de 3o principali, amen.

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Ein Beleg für diese Legende konnte nicht ausfindig gemacht werden. Auch den ›Gesta archiepiscoporum Magdeburgensium‹ zufolge hat Karl der Große die christliche Religion in Magdeburg besonders gefördert (ed. WILHELM SCHUM, MGH SS 14, S. 377). 48 Nach der Überwindung einiger Widerstände wurde im Jahr 968 auf Betreiben Kaiser Ottos I. das Erzbistum Magdeburg begründet. Vgl. dazu GEORG SELLO, Dom-Altertümer, Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 26 (1891), S. 110–112. 49 Diese Predigt ist nicht überliefert. 50 Die Predigt hielt Heinrich Toke am 24. 8. 1425 in Magdeburg. Er sprach über das Thema: Qui maior est vestrum, fiat sicut minor (Lc 22,26); überliefert in Kopenhagen, vgl. oben, S. 528. 47

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Sequentem sermonem feci 〈sc. Henricus Toke〉 in die sequenti post festum sancti Mauricii, scilicet in ostensione reliquiarum51 in ecclesia Magd〈eburgensi〉 ad populum anno domini MoCCCCoXXV etc.: 〈I〉n nomine domini nostri Ihesu Cristi, amen. I p s o r u m e s t r e g n u m c e l o r u m [Mt 5,3 u. 5,10]; Mat. 5o et legitur hodie in ewangelio de presenti festo. Pro impetracione gracie spiritus sancti dicite devote mecum: Ave, Maria! I p s o r u m e s t r e g n u m c e l o r u m ; quia ipsorum relictum est, quero: Quorum? Respondeo: Ipsorum, qui me sequuntur; ego enim penitencam docui; similiter, qui meum apostolum Matheum sequuntur – ut premisi in 3o articulo precedentis sermonis,52 quem, quia tunc non dixi, nunc resumo. / (213rb) 2o quorum est regnum celorum? Respondeo: Pauperum spiritu et humilium, de quibus in presentis thematis inicio: Beati pauperes spiritu, quoniam i p s o r u m e s t r e g n u m c e l o r u m [Mt 5,3]. Respondeo: Doctorum et verbum dei predicancium. Nam: Qui fecerit et docuerit, hic magnus vocabitur in regno celorum [Mt 5,19]; Mat. 5o. 4to quorum est regnum? Respondeo: Martirum, ut in presentis ewangelii fine, quod legitur hodie in hoc glorioso singulariter huius loci festo. Nam habetur ibi: Beati, qui persecucionem paciuntur propter iusticiam, quoniam i p s o r u m e s t r e g n u m c e l o r u m [Mt 5,10]. Item 4or modis se exercuerunt gloriosissimi milites, Mauricius et ceteri socii eius, quorum festa hodie colimus et reliquias venerandas ostendimus. Erat enim primo penitens, 2o humiles, 3o cesarem et alios et eciam seipsos mutuo docentes nostram fidem intrepide predicantes, 4o martirium et ultimum supplicium pro Cristo et iusticia sustinentes. Bene igitur assumpsi pro themate in festo eorum: I p s o r u m e s t r e g n u m c e l o r u m . Et tantum de primo. In quibus verbis, quia 4or: tanguntur, dimissis duobus ultimis dicam de primis tactis: Primus enim punctus oritur ex 3o articulo sermonis precedentis,53 ubi persona singularis non vocavit, quam sequi tenemur. Dominus, scilicet Ihesus, et apostolus eius, hii vocant – sed ad quid? Ad penitenciam, inquam. Videamus primo de domino, ubi hoc notabile estimo, quod dominus in sermone suo primo penitenciam predicavit; Mat. 4o: Exinde cepit Ihesus predicare et dicere: Penitenciam agite! [Mt 4,17] Sic fecit finis legis Iohannes baptista; Mat. 3o: In diebus illis venit Iohannes baptista predicans in deserto Iudee et dicens: Penitenciam agite! [Mt 3,1f.] Consimiliter fecit inicium legis nove vicarius Ihesu 51

Der Heilige Mauritius war der Patron der Magdeburger Erzbischofskirche. Seine Reliquien waren von Otto I. der Kirche übergeben worden. Unter anderem gehörte auch die Fahne des Heiligen zum Magdeburger Kirchenschatz, die Karl der Große in seinen Schlachten mit sich geführt haben soll. Der Hinweis auf Karl den Großen und Otto I. in der vorangehenden Predigt (ähnliche historische Bezüge fehlen sonst in den Predigten Heinrich Tokes) sind daher vielleicht durch das bevorstehende Fest motiviert. Das Mauritiusfest mit der Heiltumsweisung am folgenden Tag war für Magdeburg das bedeutendste Fest im Kirchenjahr und zog viele Fremde in die Stadt. Vgl. dazu SELLO [Anm. 48], S. 138f. u. 175–182. 52 Vgl. die vorangehende Predigt, die hier in engen Bezug zur gegenwärtigen Predigt gesetzt wird. 53 Vgl. die vorangehende Predigt.

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Cristi, qui verum est utriusque legis inicium; / (213va) hic recepto spiritu sancto in sermone suo primo querentibus Iudeis et dicentibus: Quid faciemus, viri fratres? Petrus ait: Penitenciam agite! [Act 2,37f.] Act. 2o. Ideo: Penitenciam agite, quia sic faciendum est. Regnum celorum vim patitur per penitentes et violenti rapiunt illud [Mt 11,12]; Math. XI. 2o Consideremus discipulum eius Matheum, qui similiter dicere potuit unicuique nostrum: Sequere me penitenciam agendo sicud ego. Est enim Matheus apostolus et plures alii positus in exemplum penitencie, ut et nos similiter faciamus nec desperemus, sed veniam impetremus. Procedant ergo peccatores, sed facti penitentes: David adulter (Kop.: aulter) et homicida, quia uxorem Urie contra legem cognovit et virum eius occidi procuravit; 2i Reg. XI [vgl. II Sm 11,1ff.]. Sed penituit 2i Reg. 12 dicente Nathan: Non recedat a te gladius [II Sm 12,10] et cetera. Respondit David: Peccavi domino; et audire meruit: Transtulit quoque dominus peccatum tuum, non morieris. Verum tamen quoniam blasfemare fecisti inimicos nomini domini [II Sm 12,13f.] et cetera. Idem in vanitate cordis sui excessit numerans populum; 2i Reg. 24 [vgl. II Sm 24,1ff.]. Sed ibidem sequitur de penitencia eius: Percussit autem cor David eum, postquam numeratus est populus et dixit David ad dominum: Peccavi in hoc facto, sed preccor (Kop.: peccator), domine, ut transferas iniquitatem servi tui, quia stulte egi nimis [II Sm 24,10]. Supervenit Gad dicens verbum domini: Trium tibi datur opcio [II Sm 24,12]. Et sequitur: Inmisitque dominus pestilenciam in Israel et mortui sunt ex populo a Dan usque ad Bersabee LXX milia virorum [II Sm 24,15]; ibidem. 2us est Ezechias rex elevatus in corde suo ostendit omnia nunciis regis Babilonie; 4 Reg. 20 et 2i Paralipomenon 32 [vgl. IV Rg 20,13ff. u. II Par 32,27ff.], sed penituit ad verbum Ysaie dicens: Bonus est sermo domini, quem locutus est: / (213vb) Sit tantum pax et veritas in diebus meis [IV Rg 20,19]; 4i Reg. 21. 3us est Manasses rex, qui gravissime peccavit ut 4i Reg. 2 (in der Kopenhagener Handschrift folgt hinter der Ziffer 2 eine Lücke) et 2i Paralipomenon 33 [vgl. IV Rg 21,1ff. u. II Par 33,1ff.]. Sed ibi additur in Paralipomenon: Egit penitenciam valde coram deo patrum suorum [II Par 33,12]. 4tus est Nabugodonosor valde superbus; Danielis 4o [vgl. Dn 4,34]. Sed post penam penituit et glorificavit deum celi, qui gradientes in superbia potest humiliare [Dn 4,34]; ibidem. 5tus est rex Ninive, qui penituit et non periit, ut Ionas dixit; Ione 3o [vgl. Ion 3,6ff.]. 6tus est filius prodigus, qui, cum substanciam suam consumpsisset luxuriose, reconsiliatus est patri recognoscens errorem et penitens; Luce 15 [vgl. Lc 15,11ff.]. Sic et proculdubio pater, qui plus misericors est quam pater terrestris, parcit penitentibus fillis suis iuxta illud Mat. 7o: Si ergo vos, cum sitis mali, nostis bona data dare filiis vestris, quanto magis pater vester, qui in celis est, dabit bona penitentibus se [Mt 7,11].

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Ecce sex penitentes ante tempus Cristi secundum humanitatem. Accedant alii sex: Primus est Matheus apostolus et ewangelista; Mat. 9, Marci 2o et Luce 5o [vgl. Mt 9,9ff.; Mc 2,14ff.; Lc 5,27ff.]; 2us Maria Magdalena, Luce 7o [vgl. Lc 7,37ff.]; 3us Zacheus, Luce 19 [vgl. Lc 19,2ff.]; quartus Petrus, Mat. 26, Marci 14, Luce 22 et Iohannis 18 [vgl. Mt 26,33ff.; Mc 14,29ff.; Lc 22,31ff.; Io 18,16ff.]; 5tus est latro dicens in cruce: Domine, memento mei, cum veneris in regnum tuum [Lc 23,42], Luce 23; 6tus est Paulus, Act. 9 [vgl. Act 9,1ff.], qui supra modum persecutus est ecclesiam dei; ad Gal. primo [Gal 1,13]. Ecce, exempla penitencie! Unde Greg., omelia 20 ewangeliorum: Qui multos a suis iniquitatibus iam sanatos aspicimus, quid aliud quam superne misericordie pignus tenemus?54 Idem, omelia 25: Ecce, omnipotens ubique oculis nostris, quos imitari debeamus, obicit, ubi exempla sue misericordie opponit. Mala iam displiceant vel experta. Libenter obliviscitur omnipotens deus, quod nocentes fuimus, paratus est penitenciam nostram nobis ad innocenciam deputare. Inquinati post / (214ra) aquas salutis renascamur ex lacrimis.55 Hec ille ibi. Peniteamus igitur exemplo nominatorum, quod si adhuc duri sumus. Rogemus hos sanctos patronos, quorum hodie reliquie ostendentur. Creditis, quod inter tot non unum reperietis, qui vobis velit – quia valet – graciam impetrare. Nolite, queso, diffidere, sed quemlibet eorum vobis nominandorum devote rogate, ut impetret graciam vobis a domino deo nostro! Advertamus, queso 3o, qualiter ad penitendum inducamur, unde sic: Quocumque homo se verterit, inductiva (Kop.: inductam) penitencie invenit: Videat sursum ad gaudia celi, que perdidit; deorsum ad supplicia, que meruit ante; ad mortem, ad quam minus paratus est, et ad iudicium horribile, quod timebit; retro ad peccata preterita, que fecit, et tempora, quorum multa inutiliter expendit; dextrorsum ad presentes prosperitates, quam breves, quam mobiles, quam fallaces sunt, propter que iram dei sibi thezaurisavit; sinistrorsum ad presentes adversitates, quam cito transeunt, quam gloriose, quam utiles, quam dulces, quas spernendo se indignum gracia dei fecit; intra ad defectus proprios, quot, quanti et qualiter reputandi sint; extra pericula huius mundi, quam faciliter nos illaqueare possint. Hec omnia diligenter considerata sunt penitencie inductiva. Et tantum de isto puncto principali. Quantum ad ult‹imum›: Quod ipsorum, scilicet humilium, sit regnum celorum, expedit iam incipere vicinius de humilitate et primo valet totum, quod prescripsi in sermone, quem feci in die sancto proximo beati Bartolomei per totum articulum 2m,56 amen.

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Gregorius, Homilia in Evangelia I, 20, 15, 401–403; CC 141, S. 169. Ebd., Homilia 25, 10; Sp. 1196. 56 Vgl. die Predigt Heinrich Tokes vom 24. 8. 1425. Er sprach über das Thema: Qui maior est vestrum, fiat sicut minor (Lc 22,26); überliefert in Kopenhagen, vgl. oben, S. 528. 55

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Register der Handschriften und Frühdrucke

Augsburg, Universitätsbibliothek – Cod. II.1.2° 176 189 – Cod. III.1.2° 36 22, 33 Bamberg, Staatsbibliothek – Msc. Hist. 153 304, 326–328, 333, 335, 338, 342, 345f. – Msc. Theol. 172 529 Basel, Universitätsbibliothek – Cod. A III 17a 529 – Cod. A VI 38 327 – Cod. E I 1l 529 – Cod. G2 II 58 325 Berlin, Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz – Ms. germ. fol. 245 443, 466 – Ms. germ. fol. 1234 443 – Ms. germ. qu. 189 442 – Ms. germ. qu. 192 304, 326 – Ms. germ. qu. 296 288 – Ms. germ. qu. 1134 55, 73 – Ms. germ. qu. 1490 447 – Ms. germ. oct. 69 372 – Ms. lat. fol. 771 478 – Ms. lat. qu. 356 533 Bonn, Universitätsbibliothek – Cod. S 319 483 – Cod. S 325 486 – Cod. S 453 478 – Cod. S 730 480 – Cod. S 746 478 Brüssel, Königliche Bibliothek – ms. 643–44 380–384, 389, 391–393, 395–397 – ms. 2283–84 383f., 389, 391–393 – ms. 19549 412 – ms. II 6644 386 – ms. IV 124 404f., 408f., 411, 414, 417

Deventer, Stadsarchief en Athenaeumbibliotheek – Cod. I 49 386 Douai, Stadtbibliothek, Ms. 198 529 Eichstätt, Universitätsbibliothek – Cod. st 274 524 Einsiedeln, Stiftsbibliothek – Cod. 629 323 Engelberg, Stiftsbibliothek – Cod. 124 383 – Cod. 141 372 Frauenfeld, Thurgauische Kantonsbibliothek – Cod. Y 75 303 Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek – 4° Patr. Lat. 2446/15 107 – 8° Patr. Lat. 2446/5 106 Graz, Universitätsbibliothek – Ms. 1035 55, 57 Heidelberg, Universitätsarchiv – A–702/1 493 Heidelberg, Universitätsbibliothek – Cpg 24 22 Innsbruck, Universitäts- und Landesbibliothek – Cod. 175 529

Kalamazoo (Michigan), Waldo Library, Western Michigan University, Dom Edmond Obrecht Collection – MS 18 412 Kalocsa, Kathedralbibliothek – Ms. 629 44 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek – Cod. Donaueschingen 115 331 Cambridge (Mass.), Harvard College Li– Cod. Donaueschingen 116 331 brary/Houghton Library – Cod. Donaueschingen 179 326 – MS Ger 74 70 – Cod. Donaueschingen 189 326 – Cod. Donaueschingen 295 191 Den Haag / ’s-Gravenhage, Museum Meer– Cod. St. Peter pap. 21 320, 327, 333, manno-Westreenianum 337–340, 342f. – Cod. 10 E 48 423–431

546 Kassel, Universitätsbibliothek / LMB – 2° Ms. theol. 17 485 Klagenfurt, Landesarchiv – Cod. GV 6/7 129 Klosterneuburg, Stiftsbibliothek – Cod. 516 529 Koblenz, Landeshauptarchiv – Best. 701 Nr. 161 479 – Best. 701 Nr. 175 478 – Best. 701 Nr. 181 480 – Best. 701 Nr. 184 479 – Best. 701 Nr. 191 480 – Best. 701 Nr. 193 490 – Best. 701 Nr. 194 479f., 489 – Best. 701 Nr. 195 481 – Best. 701 Nr. 196 480, 482 – Best. 701 Nr. 197 482 – Best. 701 Nr. 200 480 – Best. 701 Nr. 202 485, 486f. – Best. 701 Nr. 203 480 – Best. 701 Nr. 204 479, 484 – Best. 701 Nr. 212 480 – Best. 701 Nr. 213 480f. – Best. 701 Nr. 218 478 – Best. 701 Nr. 223 479f. – Best. 701 Nr. 224 480 – Best. 701 Nr. 225 480 – Best. 701 Nr. 228 487 – Best. 701 Nr. 231 478 – Best. 701 Nr. 239 480 – Best. 701 Nr. 243 479 – Best. 701 Nr. 244 479 – Best. 701 Nr. 246 478 – Best. 701 Nr. 250 482f. – Best. 701 Nr. 251 480 – Best. 701 Nr. 252 479 – Best. 701 Nr. 254 479 – Best. 701 Nr. 260 479f. – Best. 701 Nr. 262 479 – Best. 701 Nr. 268 484 – Best. 701 Nr. 302 487f. Köln, Historisches Archiv der Stadt – Best. 7002 (GB 2°) 75 405 – Best. 7002 (GB 2°) 123 529 – Best. 7002 (GB 2°) 130 406 – Best. 7002 (GB 2°) 196 405 – Best. 7004 (GB 4°) 37 405 – Best. 7004 (GB 4°) 56 485 – Best. 7004 (GB 4°) 85 405 – Best. 7004 (GB 4°) 100 405

Register der Handschriften und Frühdrucke – – – – – – –

Best. 7004 (GB 4°) 108 405 Best. 7004 (GB 4°) 118 406 Best. 7004 (GB 4°) 128 405 Best. 7004 (GB 4°) 134 405 Best. 7004 (GB 4°) 153 405 Best. 7004 (GB 4°) 155 405 Best. 7004 (GB 4°) 166 405, 407f., 411–414, 416f., 420 – Best. 7004 (GB 4°) 169 405 – Best. 7004 (GB 4°) 194 405 – Best. 7004 (GB 4°) 242 405 – Best. 7004 (GB 4°) 249 405 – Best. 7008 (GB 8°) 40 405 – Best. 7008 (GB 8°) 41 405 – Best. 7008 (GB 8°) 53 405 – Best. 7008 (GB 8°) 54 405 – Best. 7008 (GB 8°) 58 406 – Best. 7008 (GB 8°) 60 405 – Best. 7008 (GB 8°) 61 405 – Best. 7008 (GB 8°) 70 405 – Best. 7008 (GB 8°) 76 405 – Best. 7008 (GB 8°) 77 405 – Best. 7008 (GB 8°) 83 405 – Best. 7008 (GB 8°) 84 405 – Best. 7008 (GB 8°) 87 405 – Best. 7008 (GB 8°) 92 405 – Best. 7008 (GB 8°) 96 405 – Best. 7008 (GB 8°) 113 405 – Best. 7008 (GB 8°) 122 405 – Best. 7008 (GB 8°) 126 405 – Best. 7008 (GB 8°) 144 405 – Best. 7008 (GB 8°) 145 405 – Best. 7008 (GB 8°) 149 405 – Best. 7008 (GB 8°) 152 405 – Best. 7008 (GB 8°) 155 405 – Best. 7020 (W*) 16 529 Königsberg, Staats- und Universitätsbibliothek – Hs. 898 → Warschau, NB, Cod. 8097 III Kopenhagen, Königliche Bibliothek – GKS Cod. 73,2° 527, 531, 536–543 Krakau, Biblioteka Jagiellon´ska – Berol. Ms. germ. qu. 484 142f. – Cod. 414 529 Kremsmünster, Stiftsbibliothek – Cod. 243 46 Leeuwarden, Provinciale Bibliotheek – ms. 686 422–431

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Register der Handschriften und Frühdrucke Leiden, Universitätsbibliothek – BPL 2231 407, 414 Leipzig, Universitätsbibliothek – Ms. 1374 533 London, British Library – MS Add. 10287 412 – MS Arundel 365 151 – MS Harley 45.11 152 – IB.23583 148 London, Vicotria and Albert Museum, National Art Library – MSL 1810/1955 165 Lüneburg, Ratsbücherei – Ms. Theol. 2° 105 528, 531 Magdeburg, Landeshauptarchiv – Rep. Cop. 26 525 Melk, Stiftsbibliothek – Cod. 705 190 – Cod. 940 524 – Cod. 1865 190 München, Bayerische Staatsbibliothek – Cgm 248 56, 61 – Cgm 531 325–327 – Cgm 784 56f., 73 – Cgm 830 55, 57, 72f. – Cgm 1151 191 – Clm 3941 70 – Clm 7455 250 – Clm 7553 250 – Clm 7819 365 – Clm 22372 529 München, Universitätsbibliothek – 4° Cod. ms. 32 529 Nijmegen, Provinciebibliothek van de Jezuieten Berchmanianum – MS 12 B I 412 Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum – Hs. 89356 478 Nürnberg, Staatsarchiv – Rep. 2 a, Nr. 953 (alt: V 94/1, Nr. 3255) 201 – Rep. 2 a, Nr. 267 (alt: V 89/1, Nr. 2067) 202 – Rep. 2 b, Nr. 2139 328 – Rep. 2 c, Nr. 209 201 – Rep. 8, Nr. 65 201 – Rep. 59 (Salbücher), Nr. 1 196, 202 – Rep. 59 (Salbücher), Nr. 2 196

Nürnberg, – Cent. – Cent. – Cent. – Cent. 216 – Cent. – Cent. – Cent.

Stadtbibliothek IV, 16 204 IV, 29 213 IV, 30 204 IV, 33 203f., 206f., 212, 214– IV, 79 212f. V, 5 204 VII, 25 213

Oxford, Bodleian Library – Ms. Bodley 744 148 – Ms. Laud. misc. 317 23 Paris, Nationalbibliothek – Cod. lat. 17341 8 Pommersfelden, Gräflich Schönbornsche Schloßbibliothek – Cod. 120 299, 306–311, 321, 326, 328, 333, 335–345 Prag, Archiv der Prager Burg / Bibliothek des Metropolitankapitels – Cod. O 38 54 Prag, Nationalbibliothek – Cod. IX.A.4 54 Prag, Nationalmuseum – Cod. XIV E 2 (Nr. 3477) 524 Rom, Vatikanstadt, Bibloteca Apostolica Vaticana – Cod. Pal. lat. 77 493 – Cod. Pal. lat. 592 493 – Cod. Pal. lat. 606 496–511, 515, 517f. – Cod. Pal. lat. 991 494–497, 499, 502, 505, 510f., 514, 516, 519–521 Salzburg, Stiftsbibliothek Nonnberg – Cod. 28 D 2 191 – Cod. 28 D 4 191 Salzburg, Stiftsbibliothek St. Peter – Cod. b V 40 56 Soest, Stadtbibliothek – Cod. 33 371, 374 Solothurn, Zentralbibliothek – Cod. S 451 325 Stockholm, Königliche Bibliothek, – Cod. A 190 181–184, 187f. – Cod. A 191 182, 188

548

Register der Handschriften und Frühdrucke

Straßburg, National- und Universitätsbibliothek – ms. 2929 347, 358, 361, 366, 368, 370, 372, 375, 376 Straßburg, Stadtbibliothek – Cod. A 100 369 – Cod. B 174 370 Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek – Cod. HB I 15 365

Wien, Erzbischöfliches Diözesanarchiv, Bestand Domkapitel – Inventar der Reliquienschatzkammer No. 1 (Abschrift No. 2) 50 Wien, Österreichische Nationalbibliothek – Cod. 3050 45, 49f. – Cod. 3054 185 – Cod. 3746 187 – Cod. 4176 524 – Cod. 4160 529 – Cod. 4353 183f. – Cod. 4354 183, 188 – Cod. 4480 405 – Cod. 4975 524 – Cod. Ser. nova 3616 36f., 44, 46–48, 50, 52 – Cod. Ser. nova 12827 341 Wien, Schottenkloster – Cod. 97 50 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek – Cod. Guelf. 83.5 Aug. 2° 535 – Cod. Guelf. 542 Helmst. 529 – Cod. Guelf. 105 Noviss. 2° 465

Thorn, Universitätsbibliothek – Rps 28/III → Warschau, NB, Cod. 8097 III Uppsala, Universitätsbibliothek – Cod. C 415c 489 Utrecht, Universitätsbibliothek – Ms. 3 L 6 406–408, 412, 414, 417 – Ms. 1027 383 – Ms. 1586 404, 407–409, 411–414, 418f. Venedig, Biblioteca Nazionale Marciana, – Ms. Marc. Lat. Z. 92 147 Warschau, Nationalbibliothek – Cod. 8097 III 307f. – Cod. lat. chart. Q.I. 168 54 Wien, Bibliothek des Dominikanerklosters – Cod. 177/144b 183, 186f., 189

Zürich, Schweizerisches Landesmuseum – Cod. LM 26117 300f. Zürich, Zentralbibliothek – Cod. Rh 159 300

Namen- und Werkregister

Der Lemmaansatz orientiert sich an dem Gebrauch des Verfasserlexikons (2VL) bzw. des Lexikon des Mittelalters (LexMa). Biblische Namen sowie die Namen von Heiligen, bei denen es sich nicht um historische Personen handelt, finden sich im Sachregister. Abaelard 442, 451 ›Ad Herennium‹ 30 Adam von Dryburgh (Scotus) 83 Aegidius Romanus 253 Ælred von Rievaulx – Sermones 78, 339–341 Aetheria → Egeria Agnes von Engelen 428 Agnes von Böhmen, Hl. 456 Agnes von Österreich, Königin von Ungarn 357 Agricola, Johannes 259 Alanus ab Insulis 28, 285f., 289 – ›Summa de arte praedicatoria‹ 285 Albericus Londoniensis (Philosophus) 96 Albert von Vercelli 473 (Ps.-)Albertus Magnus 2, 6, 9, 89, 168, 244, 246f., 249, 253, 301, 336, 350, 353, 357, 359, 361, 473 – ›Sermones de tempore et de sanctis‹ 480 Albrecht, Graf von Hohenberg 304f., 355 Albrecht V., Herzog von Österreich 50 Albrecht, Graf von Wertheim, Bischof von Bamberg 197, 200 Alexander III., Papst 151 Alexander von Hales 45 Altdorfer, Erhart 444 Amelius von Buuren 431 Andreae de Sancto Hieronymo, Johannes 498 Angela von Foligno 449 Anne von Ramschwag 302 Anselm von Canterbury 258, 533 Antoninus Florentinus (Antonino Pierozzi) 89 Antonius de Massa 482 Argula von Grumbach 457f. Aristoteles 16, 45, 62, 248, 294, 532f. Arnaldus de Biscalis (de Episcopali) 484f. Arnoldus von Schoonhoven 431 ›Augsburger Drittordensregel‹ 21

›Augsburger Klarissenregel‹ 21 (Ps.-)Augustinus 2, 13, 45, 58, 64f., 82, 140, 209, 246, 249, 265f., 283, 305, 412, 483 – ›Confessiones‹ 76, 512 – ›De civitate dei‹ 220 – ›Doctrina christiana‹ 282 – ›Enarrationes in Psalmos‹ 74, 81 – Epistula 75 – Expositiones 80 – Sermones 74, 77–79 Aurifaber, Johannes 262f. Avicenna 248 Bach, Johann Sebastian 257 ›Bairisches Homiliar‹ 129 Bake, Alijt 379–397, 415 – ›Boexken vander passien‹ 389, 397 – ›De lessen van Palmzondag‹ 397 – ›De louteringsnacht van den actie‹ 387, 397 – ›De memorie der passien ons Heren‹ 380, 392 – ›De trechter en de spin‹ 397 – ›De weg der victorie‹ 387, 389, 397 – ›De weg van de ezel‹ 388, 397 – ›De vier Kruiswegen‹ 391 – ›Mijn beghin ende voortganck‹ 390 ›Baumgarten geistlicher Herzen‹ 21 Beda Venerabilis 209, 320, 333, 483 – ›Homiliae‹ 219 Beham, Hans Sebald 257 Benedikt XII., Papst 354, 371 Berchorius, Petrus 482 (Ps.-)Bernhard von Clairvaux 2, 12, 45, 63, 140, 188, 209, 237f., 245–254, 310, 314, 320, 322–324, 380, 386, 397, 408, 410, 414 – Sermones 82, 86, 218–220, 243, 248f., 254, 411 – ›Tractatus de interiori domo [...]‹ 76 Bernhard von Dinslaken 428

550 Bernardinus von Siena 89 Bruder Berthold – ›Rechtssumme‹ 36, 39 Berthold von Moosburg 173 Berthold von Regensburg 21–33, 266 – Klosterpredigten 21 – Predigt ›Von dem heˆren kriuze‹ 304 – ›Rusticanus de Communis‹ 24 – ›Rusticanus de Sanctis‹ 24, 28, 266 – ›Sermones de Communi sanctorum‹ 479 Bischoff, Johannes 48–50, 287f. – Predigten 50 Boccaccio, Giovanni 96–100, 105, 115 – ›Genealogia deorum gentilium‹ 96, 114 Böckeler, Nikolaus 370f. Bömlin, Konrad 480 Bonagratia von Bergamo – ›De iurisdictione papali et imperiali‹ 496 (Ps.-)Bonaventura 209, 253–255, 408 – ›Ars concionandi‹ 500 – ›De triplici via‹ 60 – ›Sentenzenkommentar‹ 255 Bonifatius VIII., Papst 149 Bonifatius IX., Papst 194 Brant, Sebastian – ›Narrenschiff‹ 90–93, 95, 97 ›Breviarium Romanum‹ 129 Brigitta von Schweden 451 – ›Revelationes‹ 372, 495, 514 Brinckerinck, Johannes 401, 406, 421f., 431 ›Bruchstücke aus Wackernagels Altdeutschen Predigten‹ 142, 145 Brugman, Jan 429 Bruin, Hendrik 431 Bruuns, Alijt 428 Bucer, Martin 263, 270 ›Buch der Rügen‹ 287 Buderick, Lutger 428 Busch, Johannes – Liber de viris illustribus‹ 414

Namen- und Werkregister Cecilia von Marick 428 Chre´tien de Troyes – ›Clige`s‹ 152 Christina von Markyate 443 Cicero 283, 294 Cino da Pistoia – ›Lectura codicis‹ 496 Clara von Montefalco 448 Clara Anna von Hohenburg 302f., 306, 329 Claus van Euskerken 401f., 421–432 Clemens I., Bischof von Rom 141, 502, 511, 515 Clemens VII., Papst 491f. Coci, Johannes – Collationes 406 Conrad von Grünberg 405 ›Corpus iuris canonici‹ 149, 482, 530, 535 Costers, Jacomijne 341 Contractus, Johannes 479 – Sermones 480 Cordulus (Notname) 480 Cranach, Lucas 262–264 Cruciger, Caspar 271f.

David von Augsburg 21, 55, 57, 408 ›De septem septenis‹ 53f. ›Der Heiligen Leben‹ 304, 326, 328 Derrida, Jacques 17 ›Deutschenspiegel‹ 21 Dickens, Charles 35 – ›Pickwick Papers‹ 35, 51 ›Didache‹ 441 Dier van Muiden, Rudolf 399, 422, 428, 431 Dietmut von Lindau 319 Dietrich von Apolda 355 Dietrich von Freiberg 168, 350 Dietrich von Gotha – ›Leipziger Predigtsammlung‹ 288 Dietrich, Veit 271 Dimitrios I., Patriarch 461 (Ps.-)Dionysios Areopagita 5, 8–15, 17, 58, 140, 245, 255, 352, 354, 358f., 364, 380 – ›De caelesti hierarchia‹ 8, 10f. Caesarius, Bischof von Arles 411f. – ›De divinis nominibus‹ 8, 10f., 74 Caesarius von Heisterbach 284f., 304–306, – ›De mystica theologia‹ 8, 10 408 Dirc van Herxen 399–420 – ›Dialogus miraculorum‹ 304 – ›Devota exercicia‹ 404 Cassiodor 58

Namen- und Werkregister

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Friedrich I., Kaiser, deutscher König 452 – Kollationalia 399–420 Friedrich VI. (I.), Burggraf von Nürnberg u. Dumbar, Gerhard 421 erster Markgraf von Brandenburg 197– Duranti, Guillelmus d. Ä. 47, 50 199, 524, 527 – ›Rationale divinorum officiorum‹ 47, Friedrich III. der Weise, Kurfürst von Sach503 sen 239f., 242 Dürer, Albrecht 92, 262, 274 Friedrich III. von Aufsess, Bischof von Dürr, Wolfram 194–196 Bamberg 197 Friedrich der Karmelit 488f. Ebendorfer, Thomas 48, 187 – ›Buch von der himmlischen Gottheit‹ – ›De quinque sensibus‹ 184 488 Ebner, Margaretha 356f., 373 Friedrich Wilhelm I., Herzog von SachsenEck, Johannes 263 Weimar 271 Eckhart von Hochheim (Meister Eckhart) 1–18, 53, 56, 68, 74, 155–180, 329, 347, Fuchs, Ludwig 364f. 358, 360–364, 369, 371, 374, 380, 383, Fulgentius 96, 100 – ›Mythologiae‹ 96 385, 395, 415, 488 – ›Opferstockpredigt‹ 175 Gazaeus, Alardus 75 – ›Pariser Quaestionen‹ 7 Geiler von Kaysersberg, Johannes 89–124, – ›Reden der unterscheidunge‹ 158 235, 258, 263, 287, 293 – Sermones (lat.) 156 – ›Das buo ch Arbore humana‹ 100 – s. auch ›Paradisus anime intelligentis‹ – ›Der seelen Paradiß‹ 106 Edward of Westminster 149 – ›Narrenschiff‹-Predigten 89–124 Egeria 437, 512 – Predigt ›Has im Pfeffer‹ 101 – ›Peregrinatio ad loca sancta‹ 437, 512 – Predigt ›Passion [...] geteilt in stückes Eggaert, Jan 386, 393 weiß eins süßen Lebkuo chen‹ 101 Elisabeth von Schönau 449f. – Predigt über die ›Buo lnarren‹ 89–124 – ›Ständepredigt‹ 449f. Gerhard von Bologna 475 ›Elsässische Legenda aurea‹ 447 Gerhard von Erkelenz 487f. Elsbeth von Oye 3, 299f., 318, 329 Gerhard von Lüttich Elsbeth von Stoffeln 318 – ›Liber de preparatione cordis‹ 405 Elsbeth von Villingen 302, 319f. Gerson, Johannes 89, 182, 234f., 237f., Engerlin, Petrus 371 245, 416, ›Epistola de vita et passione domini nostri‹ – ›Ars moriendi‹ 100 414 ›Gesta archiepiscoporum MagdeburgensiErasmus von Rotterdam um‹ 540 – ›Ecclesiastes‹ 286 ›Gesta Romanorum‹ 82, 84, 103 ›Es was ain kunek‹ 196 Giovanni da Milano 446 Esclarmonde de Foix 455, 458 ›Glossa ordinaria‹ 209 Etienne de la Mise´ricorde 455 Gottfried Babion 129 ›Evangeliar Heinrichs des Löwen‹ 442 Gottfried von Auxerre 454 Gottfried von Mengen 372 Fabri, Felix 365 Graeculus 479 – ›Historia Suevorum‹ 365 – ›Sermones de tempore‹ 480 Fitzralph, Richard 511f. Gregor I. der Große, Papst 28, 45, 47, 63, Fleischmann, Albrecht 193–231 94, 109, 138, 140, 209, 212, 282–288, Fluk von Pfullendorf, Johannes 186f., 189 293–295, 400, 405, 408, 410f., 414, 483, Folz, Hans 95, 112 539, 543 – ›Beichtspiegel‹ 89, 95, 112 – ›Homiliae in Evangelia‹ 64, 79, 85, Fournier, Jacques → Benedikt XII., Papst 539, 543 Franziskus von Assisi 454

552 – ›Homiliae in Ezechielem‹ 83, 410 – ›Moralia in Iob‹ 47, 94, 410 – ›Regula (Cura) Pastoralis‹ 28, 282, 284 – ›XL Homiliarum in Evangelia libri II‹ 483 Gregor IX., Papst – ›Extravagantes‹ 149 Gregor X., Papst 149 Gregor von Nazianz 440 Gregor von Nyssa 10 Gregor von Rimini 253 Gregorius de Novo Foro (von Neumarkt) 486 Grote, Geert 399f., 403, 405, 408, 411, 415, 422, 431 – ›Contra focaristas‹ 400 – ›Propositum‹ 411 Grüninger, Hans (Johannes) 107, 122f. Gruters, Gerbrech 425 Guilelmus Peraldus 46, 151, 479 – Sermones 479 – ›Summa de vitiis et virtutibus‹ 46

Namen- und Werkregister

Heinrich von Schaffhausen 309, 311–314, 325–327, 337, 339–343 Heinrich von Virneburg 457 Heinrich von Wolfach 370 Heinzelin von Konstanz 304–306 – ›Von den zwein sanct Johansen‹ 304, 329f. Helinand von Froidmont 83 Hermann IV. von Hessen, Erzbischof von Köln 241 Herbrant, Michael 485 Herolt, Johannes 479 – ›Sermones super Epistolas dominicales‹ 480 Herp, Hendrik – Collationes 406 Hermann von Minden 308 Heyme, Rochus 411 Hieronymus 71, 85, 101, 104, 209, 440, 483, 533 – ›Ad Rusticum‹ 103, 119 Hieronymus de Sancto Hieronymo 498 Hildegard von Bingen 448, 450–452, 454, 462 Haller, Heinrich 286 – ›Liber divinorum operum‹ 450 – Übersetzung der ›Hieronymus-BrieHilduin, Abt von St. Denis 9 fe‹ 286 Hiltalinger von Basel, Johannes 371 Hane der Karmelit 488 Hippolyt von Rom 442 Hartmann von Aue 32 ›Hochalemannische Predigten‹ 325, 331 – ›Erec‹ 32 ›Hoffmannsche Sammlung‹ 132, 134f., Has, Hans 460 142, 145 ›Haupts Predigtbruchstücke‹ 142, 145 Holcot, Robert Hecklerin, Elisabeth 459 – ›Adnotationes super Lectiones in liHeinburgin, Geri 319 brum Sapientiae‹ 483 Heinrich II. von Klingenberg, Bischof von Holt, Johannes 526 Konstanz 309 Honorius III., Papst 448 Heinrich der Oven 527 Honorius Augustodunensis 129 Heinrich van Herxen 403 – ›Speculum ecclesiae‹ 480 Heinrich von Friemar Honover, Heinrich – ›De IV instinctibus‹ dt. 55f. – ›Magisterium Christi‹ 54 Heinrich von Geismar 526f. ›Hortus sanitatis‹ 98f. Heinrich von Konstanz 302 Hrabanus Maurus 209 Heinrich von Langenstein 46, 69, 182, Hugo de Prato Florido 479 187, 235, 251, 253, 496 – Sermones 480 – ›De consecratione episcoporum [...]‹ Hugo de Vaucemain 354 496 Hugo von Konstanz (von Schaffhausen) Heinrich von Montabaur 481–483, 485 306–308, 311, 316–318, 329 Heinrich von Nördlingen 356f., 373 Hugo von St. Viktor 9, 43, 248, 408–410, Heinrich von Rübenach 204 480 Heinrich von St. Gallen – ›Didascalicon‹ 409, 412 – ›Marienleben‹ 334

Namen- und Werkregister Hugo von Staufenberg 308 Humbert von Romans 28, 261, 285 – ›Liber de eruditione praedicatoria‹ 28, 285 – ›Liber de instructione officialium OFP‹ 285 Hus, Johannes 200 ›In agro dominico‹ (Bulle) 1, 6, 369 Innozenz III., Papst 154, 349–351, 357 – ›De quadripartita specie nuptiarum‹ 349 Innozenz IV., Papst 473 Innozenz VI., Papst 512 ›Innsbrucker Osterspiel‹ 27 Isabella von Bayern (Isabeau de Bavie`re), Königin von Frankreich 198 Isidor von Sevilla 59, 95, 209, 410 – ›Commentarius in Deuteronomium‹ 111 – Sentenzen 409 Jacob van Vianen 431 Jacobus de Fusignano 284 – ›Ars praedicandi‹ 284 Jacobus de Voecht 403 Jacobus de Voragine 25, 27, 151, 304, 310, 322, 479 – Sermones de sanctis 479 Jacques de Vitry 28 Jakob von Paradies (Jakob von Jüterbog) 89 Jan van Leeuwen 159, 380, 393 Jan van Ruusbroec 391–393 Jasper von Marburg 422–424, 430 Joachim von Fiore 448 Johann von Dorsten 246 Johann von Neumarkt – ›Hieronymus-Briefe‹ 310 Johannes XXII., Papst 1 Johannes Baconthorp 475 Johannes von Bolsenheim 372 Johannes von Capestrano 257, 274 Johannes Chrysostomus 41, 140, 209, 321 Johannes von Clarano 483 Johannes von Dambach – ›De consolatione theologiae‹ 495 Johannes Duns Scotus 253 Johannes Geuss 186 Johannes Gallensis (John of Wales, Jean de Galles) 284

553 Johannes von Hildesheim 475 Johannes von Indersdorf 55f. Johannes von Kastl 286 Johannes vom Kreuz 474 Johannes von Mainz 354 Johannes von Paltz 233–255, 338 – ›Coelifodina‹ 241–252, 255 – ›Die Himmlische Fundgrube‹ 239– 254 – Sermones (lat.) 243 Johannes von Ragusa 524 – ›Tractatus de reductione Bohemorum‹ 524 Johannes de Ripa 234 Johannes de Rupella 150 Johannes von Salisbury 53 Johannes de S. Geminiano 479 – ›Sermones Quadragesimales‹ 480 Johannes Sarracenus 9, 74 Johannes von Schoonhoven 405 Johannes Scotus Eriugena 9, 341 Johannes von Staupitz 237, 258 Johannes von Tepl – ›Ackermann aus Böhmen‹ 95 Johannes de Turrecremata (Juan de Torquemada) 364 – ›Meditationes‹ 365 Johannes Paul II., Papst 461f. Jordaen, Willem 382 – ›De mystieke mondkus‹ (›De oris osculo‹) 382, 391f., 397 Jordanus von Quedlinburg 379f., 382, 385–391, 394, 396f., 479 – ›Meditationes de passione Christi‹ 386, 390 – ›Opus postillarum‹ 386, 397 – ›Sermones de tempore‹ 479 Jost von Mähren 198f. Kalteisen, Heinrich 442 Karl (I.) der Große, König der Franken 540f. Karl V., König von Frankreich 492, 494, 513f. Karlstadt, Andreas 264 Katharina von Siena 448, 451, 462 Keiperin, Klara 203f Kempe, Margery 451 Kessel, Johannes 431 ›Klosterneuburger Bußpredigten‹ 129

554

Namen- und Werkregister

– ›Sententiae‹ 148, 234, 258, 476, 495 Lubbert ten Busche 431 Lubberts van Hattem, Jan 406 Ludolf von Saxonia – ›De remediis contra tentationes spirituales‹ 416 – ›Vita Jesu Christi‹ 334 Ludwig (I.) der Fromme, Kaiser 9 Ludwig IV. der Bayer, Kaiser 355 Luther, Martin 257–276, 295, 458 – ›Adventspostille‹ 261, 269 – ›Deutsche Messe‹ 270 – Dreikönigspredigt 1521 267 – ›Fastenpostille‹ 179 – ›Festpostille‹ 270 – ›Hauspostille‹ 271, 274 – ›Kirchenpostille‹ 261, 263, 270, 273– 275 – Predigt auf den 2. So. n. Epiph. 1519 264 – ›Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle‹ 267 – Predigt von den guten Werken 263 – Sermo auf den 9. So. n. Tr. 1522 271 – ›Sermon von dem Elichen Stand‹ Lambert von Rees 422 261, 275 Lamberts, Aleyd 425 – ›Sermo de poenitentia‹ 260 Lamprecht von Brunn, Bischof von Bam– ›Sermo de triplici iustitia‹ 260 berg 194, 197 – ›Sermo de virtute excommunicatioLandolfus de Columna nis‹ 260 – ›Tractatus de statu et mutatione impe– ›Sermo von der würdigen Empfahung rii‹ 496 [...]‹ 266 Lang, Johann 260 – ›Sommerpostille‹ 270f. Langton, Stephen 479, 481 – Stephanuspredigt 261, 270 ›Leipziger Sammlung‹ 127, 130–133, 135, – ›Torgauer Predigt‹ 272 142, 145, 290 – Vaterunser-Auslegung 268 Leonardus (Statii) de Datis – ›Weihnachtspostille‹ 269f. – ›Quadragesimale de flagellis peccatoMalkaw, Johannes 370f., 373 rum‹ 480 ›Manuale parochialium‹ 285 Leonis, Johannes 327 Margaretha von Kenzingen 373 Leubing, Konrad 200 Margareta, Herzogin von Braunschweig›Liber XXIV philosophorum‹ 11 Lüneburg 268 ›Liber de causis‹ 11 Margareta von Cortona 448 Lignano, Johannes von 498 Margareta Porete 1, 457 Lisbeth von Delft 428 – ›Le miroir des simples aˆmes‹ 457 Livius Margarete von Ypern 372 – ›Ab urbe condita‹ 532 Marienwerder, Johannes 194 Locher, Jakob 92 Marquard von Lindau 56f., 157 Lochner, Johann 200 – ›Eucharistie-Traktat‹ 55 Lombardus, Petrus 209, 249, 254 ›Koblenzer Weltgerichtsspiel‹ 490 Konhofer, Conrad 202 Konrad von Brundelsheim 479 – Sermones 479f. Konrad von Gelnhausen 491–521 – ›De divisione et translatione imperii‹ 496 – ›Epistola brevis‹ 492, 494 – ›Epistola concordiae‹ 492–494, 513 – ›Hoheliedkommentar‹ 493 – ›Quaestiones [...]‹ 493 Konrad von Liebenberg 309, 311, 325, 333, 339, 344 Konrad von Preußen 373 Konrad von Sachsen 479 – Sermones 479 Konrad von Soltau 194 Konrad von Würzburg – ›Der Welt Lohn‹ 63 Konstanze von Ungarn, Königin von Böhmen 456 Krauter, Albert 196 ›Kuppitschsche Sammlung‹ → ›Millstätter Sammlung‹

Namen- und Werkregister ›Marquard Biberli-Legendar‹ 325f. Marsilius von Inghen 513 Marsilius von Padua 492 – ›Auctoritates Aristotelis‹ 495 Martin V., Papst 492, 525 Martin von Amberg 286 Martin von Mainz 370 Martin von Troppau 479 – ›Sermones de sanctis‹ 479 Mascov, Georg 529 Matthäus von Krakau 194 ›Mauritius-Traktat‹ 286 Mayfreda de Pirovano 456f. Mechthild von Magdeburg 300, 327, 335, 450 – ›Das fließende Licht der Gottheit‹ 301 Meistermann, Luder 526 Melanchthon, Philipp 267 Merswin, Rulman 366–369, 373, 393 – ›Bannerbüchlein‹ 368 – ›Briefbuch‹ 367–369 – ›Büchlein von den vier Jahren seines anfangenden Lebens‹ 366 – ›Buoch von den drien durchbrüchen‹ 368, 383 – ‹Neunfelsenbuch‹ 368f., 392f. Mette von Delden 428 Meyer, Johannes 303, 329, 364f., 372f. – ›Buch der Reformacio Predigerordens‹ 303, 329 – ›Liber de illustribus viribus‹ 365, 372 Michael II. Psellos, byzantinischer Kaiser 9 Michael von Bologna 475 Michael von Cesena 355 ›Millstätter Sammlung‹ 135–137, 140, 142f., 145 ›Missale Romanum‹ 503 Mosellanus, Petrus 264 Müntzer, Thomas 460 Neumeister, Eduard 257 Nicolaas van Duvendyc 393 Nicolaus de Aquavilla 151, 479 – Sermones 480 Nider, Johannes 54, 61, 89 – ›Die vierundzwanzig goldenen Harfen‹ 54, 60 Nietzsche, Friedrich 273

555 Niklasin, Kunigund 203f., 212f. Nikolaus von Basel 370 Nikolaus von Dinkelsbühl 48, 50, 57, 61, 181–192 – ›De sacramentis‹ 189 – Eucharistiepredigten 188 – ›Lectura Mellicensis‹ 189 Nikolaus von Dinkelsbühl-Redaktor 56, 181–192 – ›Jahrespredigten‹ 181f., 184–186, 188–190 – ›Tractatus octo‹ 182, 184–186, 188, 190f. Nikolaus von Frauenfeld 355f. Nikolaus von Gorran 187 Nikolaus von Löwen 366–368, 372 Nikolaus von Lyra 45, 248 – ›Postilla‹ 209 ›Oberaltaicher Sammlung‹ 133–135, 142, 145 ›Ötenbacher Schwesternbuch‹ 1, 3, 299 Origines 141, 209 Otther, Jacob 91f., 124 Otto I. der Große, Kaiser 540f. Ottokar (Otakar) I. Prˇemysls, König von Böhmen 456 Oude Scute, Wilhelm 400 Ovid 99 – ›Remedia amoris‹ 104, 121, 265 Paep, Albert 403 ›Paradisus anime intelligentis‹ 7f., 11–14, 164, 488 Passauer Anonymus 326 Paul VI., Papst 462 Pauli, Johannes 91f., 94f., 98–101, 103, 106f. Peraldus, Wilhelmus 479 Peraudi, Raimund 239f., 245 Peregrinus von Oppeln 28, 479 – ›Sermones de sanctis‹ 479 Peter von Amsterdam 422, 431 Petri, Adam 268f. – ›Sic et non‹ 62 Petrus von Corvaro 355 Petrus Damiani 313, 337f. Petrus (Johannis) Olivi 370f. Petrus Riga (Remensis) 479–481 – ›Sermones de sanctis‹ 480

556 Petrus de Sancto Benedicto 147 Peuger, Lienhart 190 Peuntner, Thomas 50, 181–183, 187, 191f., 235, 292 – ›Büchlein von der Liebhabung Gottes‹ 182, 191, 292 Pfeiffer, Heinrich 460 Pfefferhart, Ulrich 305 Pfefferhartin, Adelheit 302, 319 Pfinzing, Sebald 199 Philipp von Heinsberg 452 Philippe de Me´zie`res 494, 513f. Plautus 98 – ›Cistellaria‹ 98, 115 ›Plenar des Adam Petri‹ 268 Plinius 99 Poach, Andreas 271 Poliander, Johann 267 ›Predigt vom heiligen Geist‹ 53–87 ›Das Predigtbuch des Priesters Konrad‹ 136, 139f., 143, 289f. Proklos 9, 173

Namen- und Werkregister Ruprecht, deutscher König 197f. Ruprecht I., Pfalzgraf bei Rhein 492f.

Sachs, Hans 257 Sampach, Agnes 328 ›St. Katharinentaler Schwesternbuch‹ 302f., 305, 308, 319 ›St. Pauler Predigten‹ 130, 132, 142f., 145 Sauer, Konrad 194–196 Scheuerin, Margareta 204 Scheurl, Christoph 259 ›Schlägler Bruchstücke‹ 290 Schoenefeld, Eylard 363 Schretz, Heinrich 364 ›Schürebrand‹ 367 Schürstab, Erhard 199 ›Schwabenspiegel‹ 21 Schwenckfeld, Kaspar 459 Seehofer, Arsacius 458 Seneca – ›Epistula ad Lucilium‹ 292 Sensatus (Notname) 479 Seuse, Heinrich 18, 54–57, 248, 255, 329, 331–374 ›Quadragesimale viatoris‹ 482 – ›Büchlein der ewigen Weisheit‹ 347, Quintilian 30, 102, 294 349, 354, 359, 362, 372 – ›Institutio oratoria‹ 102 – ›Büchlein der Wahrheit‹ 347, 358, 361f. Radewijns, Florens 405, 411, 414, 422, – ›Exemplar‹ 331–374 431 – ›Großes Briefbuch‹ 362, 372 – ›Tractatulus devotus‹ 411, 414 – ›Horologium sapientiae‹ 248, 356– Ranulphe de la Houblonnie`re 28 361, 365, 369, 372, 414 Rather, Bischof von Verona 284 – ›Vita‹ 347–349, 357–366,369, 371– Raymund von Capua 371, 448f. 373 ›Regula Benedicti‹ 80 ›Si dominum‹ 196 Richard von Mediavilla 148 Sibert von Beck 475 Richard von St. Viktor 248, 255, 291, Sigismund, Kaiser 197–199, 202 380 Simon von Cassia 209, 212, 251f., 482 ›Ridderboec‹ 382, 391, 395 – ›Gesta Salvatoris [...]‹ 209f., 225 Ris, Heinrich 364 Simon von Ruckersberg 47f. Robert von Basevorn 286 – ›Moralia in Iob‹ dt. 47f. – ›Forma praedicandi‹ 69 Soest, Jakob 371, 374 Robert Grosseteste 9 ›Solothurner Legendar‹ 325f. Rodolphus de Gravia – ›E tractatu Basilii de vita solitaria ex- Sonderlants, Hille 381 Spalatin, Georg 242 cerpta‹ 416 ›Speculum ecclesiae deutsch‹ 127, 129, Rörer, Georg 270–272 132–135, 142, 145 Rosa von Viterbo 448 ›Speculum exemplorum‹ 258 Roth, Stephan 270f., 274 ›Speculum historiale‹ 258 Rudolf von Klingenberg 308, 311–313, ›Speculum humanae salvationis‹ 46 323

Namen- und Werkregister ›Speculum virginum‹ 344 Stainreuter, Leopold 235 Stagel, Elsbeth 360f., 365, 372 Stephan von Landskron 235 – ›Die Hymelstrasz‹ 269 Stock, Simon 473f. Stöckel, Wolfgang 263 Storm, Jan 429 Surgant, Ulrich – ›Manuale curatorum‹ 258, 286 Sygelos von Oppenheim 514f., 520

557 Ülin von Rottenburg, Konrad 186, 189 Ulrich von Pottenstein 44–50, 185, 187, 190, 235, 245 – Credo-Auslegung 49f. – Dekalog-Auslegung 44, 235 Urban VI., Papst 195, 370, 491f., 513

Valerius Maximus 482 Veghe, Johannes 401 Vergil – ›Aeneise‹ 117 Vilemı´na Blazˇena 456 Tauler, Johannes 18, 56f., 155, 160, 168– Vinzenz von Beauvais 310, 312, 323 180, 213, 258, 356, 367–369, 380–384, ›Vitaspatrum‹ 60, 85, 361, 369 Volkmaier, Peter 199 391–396 ›Von den drıˆn fragen‹ 396 ›Taulers Bekehrung‹ 55 Vritze, Johannes 526 Terenz 95 – ›Eunuchus‹ 94, 110 Waldes, Petrus 453 Tertullian 439f. Texery, Bartholomäus 215 Waleys, Thomas Thekla 436–438, 441 – ›Modus componendi sermones‹ 286f. Theobaldi, Ulrich 371 Wanckel, Johannes 271 ›Theologia deutsch‹ 259 Wenzel, König von Böhmen 492 Theresa von Avila 451, 462, 474 Wickgram, Peter 91 The´re`se von Lisieux 462 Wilhelm (Begarde) 363 Tholomaeus von Lucca Wilhelm von Auvergne 285 – ›Determinatio compendiosa de iuris- Wilhelm von Ockham 492 dictione imperii‹ 496 Wilhelm von Paris 45, 209 Thomas von Aquin 2, 9, 36, 45, 93–95, Wilhelm von St. Thierry 412 103, 105, 110f., 209, 252f., 258, 301f., – ›Epistola ad fratres de monte dei‹ 353, 355, 359, 364, 453, 480, 502, 410f. 510 Wimpfeling, Jakob 184 – ›In quattuor libros Sententiarum‹ 62, Winterin, Anna 204f., 213 78 Wolfram von Eschenbach – ›Summa theologiae‹ 39, 93, 108f., – ›Willehalm‹ 339 119, 149, 255 Zacharias, Papst 140 Thomas von Cantimpre´ 408 ›Zeichen des Johannes‹ 320–322, 331 Thomas von Cobham 28 Zell, Katharina 458f. – ›Summa de arte praedicandi‹ 28 Zell, Matthäus 459 Thomas a Kempis 399, 405, 408, 411 Zerbolt von Zutphen, Gerard 408, 411– Thomas de Lisle (Thomas Brito) 479 413, 415, 431 – ›Sermones de sanctis‹ 480 – ›De libris teutonicalibus‹ 412 Thomasin von Zerklære 53 – ›De reformatione virium animae‹ 411 – ›Der Welsche Gast‹ 53 – ›De spiritualibus ascensionibus‹ 411, Toke, Heinrich 523–543 415 – Kommentare 533 – ›Super modo vivendi‹ 412 – ›Tractatus sophistrie‹ 533 Zirgerin, Adelheid 319 ›Tößer Schwesternbuch‹ 308, 319, 365 ›Totius vitae spiritualis summa‹ mndl. 395 ›Züricher Predigten‹ 136, 139 ›Zwoller Predigten‹ 400 Totting von Oyta, Heinrich 194, 235

Sachregister

Abgeschiedenheit (abegescheidenheit) 164, 176, 317, 360, 367 Abendmahl → Eucharistie Ablaß 239–241 – Ablaßbrief 364 – Ablaßpredigt(en) 240f. – Ablaßstreit 268 abrenuntiatio diaboli 142 Absalom 31 actio – contemplatio s. auch vita contemplativa – vita activa 176, 386f. Admont – Benediktinerkloster 129 Adressaten → Zielgruppe/Zielpublikum Agnes, Hl. – Predigt auf A. 311, 315, 327 Allegorese/Allegorie 67, 96, 101f., 268, 273, 313, 334, 344–346 – Aufstand der Körperglieder 532 – Choralkunst als Frömmigkeitspraktiken 65 – Civitas-Allegorie 355f. – Dingallegorien 97 – Gott als Hauswirt 38, 40 – griechische Mythologie 95f. – heilsgeschichtliche Allegorese 97 – Maria als Buch/Pergament 345 – Maria als oliva 532 – Mythenallegorese 97 – Johannes Ev. als Adler 361, 367 – Johannes Ev. als Kellermeister 344 – Personifikationsallegorie 96 – Rose als Christus 211 – Venus 95–100, 105 – Vorgangsallegorien 97 – die Welt als Buch 59f. – Widderallegorie 355 – Zahlenallegorese 49 Alzey 508 Amandus s. auch Johannes Evangelista 349, 351f., 354, 364 Amersfoort – Tertiarissenkonvent St. Agatha 406–408 Amiens – Kathedrale 445

Analogielehre 16–18 Anna, Hl., Mutter Mariens 338 – Anna Selbdritt 348 ›anfangender‹ Mensch → Dreistufenweg Ansbach – Stiftskirche St. Gumbert 202, 527 Armut, evangelische/willige Armut 3, 317–319, 453 Armutsfrage 354 Armutsgebot 329 artes liberales 53–87 artes praedicandi 27f., 57, 69, 128, 156, 206, 282, 284 Artusroman 33 Askese 3, 18, 60, 311, 316–318, 394 Auditionen 302, 319, 329 Aufstiegsmodell 10, 12–15, 60, 165, 363 Augsburg – als Druckort 269 – Franziskanerkonvent 21 – Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra 57, 61 Augustiner-Eremiten 258, 473f., 484 Autographe 499, 515 Autoritätenzitate s. auch Dicta 57f., 62f., 209, 211, 223, 235, 245, 249, 252f., 265, 273, 295, 310, 321 Avemaria 532–534 – Auslegung 412 Bamberg 193–195, 199, 309, 327f. – Bistum 196f. – Domkapitel 195 – Stiftskirche St. Jakob 195, 202 – Stiftskirche St. Stephan 202 Basel 172, 201, 365 – Dominikanerkonvent 354, 356 – Klarissenkonvent Gnadental 327 – s. auch Konzilien, Konzil von Basel Beginen(bewegung) 3, 14, 168, 173, 359, 362, 369, 448, 456f. Beichtanleitung 185 Beichte 38, 176, 514f. Beichtvater/-väter 176, 240, 329f., 356, 360, 367, 373, 392, 401f., 406, 429–431, 448, 514

560 Benediktiner(orden) 366 – Reformklöster 57, 61, 65, 70 Bettelorden → Mendikanten Bibelverständnis Luthers 261 Biberach – Heilig-Geist-Spital 526 Bigamie 149, 152 Bildersprache 281, 286, 334 Bildkatechese 138 Bingen – Benediktinerinnenkloster Rupertsberg 451f. Bodenseeraum 305, 308f., 323, 326, 328, 330, 348 – Dominikanerinnenkonvente 329 Bologna 491, 497f., 515 – Collegio di Spagna 510f., 515 – Kathedrale San Pietro 504, 510 – Kloster San Domenico 510f., 515 – San Michele in Bosco 511 Boppard – Karmeliterkloster 473, 475, 477–481, 483 Brabant 392f. Brandenburg 239 Brautmystik 147f., 316, 318, 348f. Bremen – Dom 527 Brüssel 392 – Karmeliterkloster 477 – Kloster Jericho 428f. Buch der Natur 167 Buchdruck 262, 268, 274 Buße 25f., 268, 451

Sachregister

Danzig 445 Delft – Fraterhaus 406 descensus ad inferos 27, 272 detractio 36, 39f., 42, 44, 46 Deventer 422, 430f. – Brandes- und Kestkens-Haus 422 – Buiskens-Haus 421–423, 430 – Herr-Florens-Haus 402f., 421f., 430 – Lamme-von-Diesen-Haus 422 – Meister-Geerts-Haus 402, 421f., 428, 431 Devotio moderna 379, 392, 394, 399–401, 403, 405, 410–412, 415, 421f. Dicta s. auch Autoritätenzitate 209, 402, 404, 415 Diepenveen (bei Deventer) 428 – Windesheimer Chorfrauenkloster 381, 386 Dießenhofen – Dominkanerinnenkonvent St. Katharinental 299–331 Disputation 62, 65f., 498 Dominikaner(orden) 155f., 174f., 285, 293, 323, 355, 357, 361, 392, 473f., 481, 484, 502 – deutsche Dominikanerschule 350, 353 – Dominikanerinnen 2f., 175, 300, 308, 320, 324, 330, 502 – Dominikanerstammbäume 365 – Generalkapitel zu Maastricht (1330) 355 – Generalkapitel zu Brügge (1336) 354 – Generalkapitel zu Siena (1462) 365 Cambridge – Literaturproduktion 309, 329f. – Universität 474 – Novizen 354, 361 Christus-Johannes-Gruppe(n) 301f., 314, – Observanz(bewegung) 61, 204, 214f., 344, 348, 350, 357, 361 300, 303, 327–330, 347–375 Clara, Hl. 328 – Ordensprovinz Saxonia 7 collatio s. auch Kollationen 212, 215, 223, – Ordensprovinz Teutonia 307 400, 402f., 487, 497f., 504, 510 – Ordensstudien 355 Colmar – Provinzialkapitel zu Löwen (1324) – Inquisitionsgefängnis 370 307 compilatio 326, 331 – Provinzialkapitel zu Speyer (1392) connubium spirituale 348–352 371 Corpus-Christi-Fest 355 Dreistufenweg 60, 71, 358–362, 366–368 correpcio 400 Drittordensschwestern 168, 359, 401 cura animarum 283 Düren cura monialium 3, 308, 324, 329, 331, – Ordensstudium der Karmeliter 487 350, 362, 406, 489

Sachregister Eckhart-Philologie 162 Eger 201, 524, 534 Eggolsheim 193f. – Pfarrkirche St. Martin 194 Ehe s. auch connumbium spirituale 148, 150 – Annulierung 153 – mit Blutsverwandten 153f. – Symbolik 148–152, 154, 357 – Unauflösbarkeit 154 – Vollzug 150–152 Ehelehre 349f., 357 Ehepredigt(en) 147–154 Einheit – das Eine (ÏΕν) 9 – des Werks bei Eckhart 157f. – des Werks bei Tauler 171f. – eschatologische unio 350 – eucharistische unio 349 – unio ecclesiae 534f. – unio mystica 6, 10, 12–14, 18, 151, 300, 315, 318, 358, 361, 381 – unio spiritualis 349 Elisabeth, Mutter Johannes’ Bapt. 316 Engelberg – Benediktinerabtei 372 Erfurt 7, 210, 240, 526 – Dominikanerkonvent 6, 158 – Erfurter Zeit Eckharts 15 – Karmeliterkloster 488 – Universität 243, 523, 529, 533 Ernestiner 260 Euskirchen 421 Ekstasis 10f., 13 Elsaß 300, 348 – Dominikanerinnenkonvente 364 Elsegem – Frauenkloster 384, 393 Emanationslehre 9, 11f., 14, 352f. Emmerich – Fraterhaus 414 Engel 127, 136–141 – Engelschöre 138–140 – Engelsturz 140 – Erzengel 138–141 – Schutzengel 137, 140 – Wesen der Engel 140 Engelslehre 140 Epiphanias 127–135, 141

561 Erbauung 235f., 253, 255, 476, 525, 533 Erbauungsliteratur 48–50, 57, 234f., 239– 242, 253, 269, 354, 437 Eros als Agape 10 Erzgebirge 240 Eßlingen 506, 513 Eucharistie/Eucharistiefeier 140, 142, 186, 188f., 266, 284, 337, 344, 350, 353, 356 – Häufigkeit des Empfangs 189 Eucharistiefrömmigkeit 354, 356f. eucharistische Hochzeit 360 Eva, Stammmutter 251 Evangelienharmonie 132 Evangelistensymbole 71f. Exempelsammlungen 63, 258, 265, 408, 413f., 479 Exempla 41f., 45, 60, 63f., 402, 408, 412f., 479, 482f., 489, 532, 535 – Ägist 104f. – Davids Harfenspiel 66f. – Edelfrau 489 – ›Frau Welt‹ 63f., 67 – Johannsen-Streit 304 – Kristallfeuer als Zeichen geistl. Läuterung 60 – St. Bernhard und der Jünger 77 – Tyrann 425f. – Vogel Strauß 272 Fiktionalität 11, 16, 32f., 363, 366, 373 Florilegien 210, 246 Forchheim 193 Frankfurt/M. 198, 475, 507, 509, 513 – Bartholomäusstift 501, 504, 506, 508 – Kloster St. Katharina 501, 504 Franziskaner(orden) 7, 473f., 481f., 484, 502 Frauen 236 – als Predigerinnen 435–471 – Ausschluß vom Predigeramt 441 – Ausschluß vom Priesteramt 441, 461 – Lehrverbot 445, 447, 453f., 460 – Predigtverbot 443, 445 Frauenfrömmigkeit 348 frauenmystische Literatur 300 Frauenklöster 3–5, 162, 300, 362, 373 – oberrheinische F. 299, 331 – rheinische F. 6 Freiberg/Sachsen 240 Freiburg/Uechtland 370

562 Freising 305 Frenswegen – Augustiner-Chorherrenstift 404f., 407f. Frömmigkeitsdidaxe 309 Frömmigkeitsmodelle 17, 311, 318, 328, 330 Frömmigkeitspraktiken 3f., 249f., 252 Frömmigkeitstheologie 182, 237f., 251, 254f.

Sachregister

Habsburger 357 Häresie, häretisch 1f., 18, 355, 453, 455– 457, 534 Häresie des Freien Geistes 364, 368–371, 374 Hamburg – Dom 526 Heidelberg 506, 508 – Franziskanerkloster 508 – Ketzerverbrennungen 370 – Universität 492–494, 496, 513 Gaesdonck Heilige Sippe 338f. – Augustiner-Chorherrenstift 407 Heilsmittel 210 Gebet 29f., 66f., 134, 140f., 210, 247, Heldensagen 236 250f., 410 Helmstedt – Reimgebet 252, 255, 489 – Chronik 240 Gehorsam 137, 258, 316, 318f., 329, 381, Herodes 31, 134, 317 453, 492 Hochzeitsymbolik 350f., 357, 359f., 426 Geistliches Spiel 27 Hochzeit zu Kana 131–133, 314, 350 Gelassenheit 175f., 358, 361, 367–369, Hohenberg, Burg bei Spaichingen 305 388 Homiletik 258, 272f., 282, 284f., 288–290, Gelnhausen 491 293f., 490 Gent Homiliar 129, 401, 407, 478, 483 – Frauenkloster Galilea 379, 381–383, Hulsbergen 386–388, 390, 392f. – Fraterhaus 406 Glaubensbekenntnis 142, 323 Hussiten 189, 200f., 523–525, 529, 534f. Gnade 10f., 13, 241, 243, 245, 251, 353f., Hussitenkriege 200 356, 361 Gouda illitterati s. auch Laien, simplices 54, 127, – Fraterhaus 402, 406 138, 192 Gottebenbildlichkeit 245, 248f. – Selbstpastoration 192 Gotteserkenntnis 233, 236, 238, 312, 315, Illuminationslehre 350, 357 361 imitatio Christi 318 Gottesgeburt in der Seele 12, 14, 17 Ingolstadt ›Gottesfreund vom Oberland‹ 367 – Universität 458 ›Gottesfreund(e)‹/›Gottesfreundbewegung‹ Inquisition 1, 363, 370f., 374, 412, 454– 173, 348, 352, 354, 356f., 359, 362, 456 367f., 370, 372f., 392f. Intellectus-Lehre 7, 350 ›Gottesfreundliteratur‹ 366, 368f. Interdikt 354, 356f. Gottesfreundschaft 369 Investiturstreit 37 Gottesschau s. auch visio beatifica 136, Jakobus d. Ä. 488 – Predigt auf J. d. Ä. 311 Graduale von St. Katharinental 300f., 350 Johannes Baptista 328, 341 Gregorianische Reform 153 – Beichtvater 373 Groenendaal, Kloster 391–393 – Holzplastik 302 Den Haag – Jungfräulichkeit 315 – Museum Meermanno-Westreenia– Legende 340 num 423 – Predigten auf J. Bapt. 311, 315f. Haarlem Johannes Evangelista 310, 328, 334–346 – Karmeliterkloster 475 – Beichtvater 373

Sachregister – Jungfräulichkeit 311, 335, 340 – Predigten auf J. Ev. 311 – sponsa/sponsus des Hohenlieds 344 – Vita 310 Johannesexegese 348, 350, 357, 361 Johannes-Kompendien (Johannes-Libelli) 310–313, 318f., 321, 325–328, 330–346 Johannsen-Devotion 299–331, 349, 373 Johannsen-Streit 304, 306, 373 Jungfräulichkeit 311, 314f., 335, 340, 446

563 – Regieanweisungen 406 Klausur 329, 381, 393, 455 Kleriker 72, 149, 236 – als Zielgruppe für volkssprachl. Predigten 45, 71 – sacerdotes simplices 242 – verheiratet 149 Klingnau 356 Klosterdisziplin 172, 175 Klosterfrauen s. auch Nonnen 161, 168, 178, 304, 330, 367, 489 Klosterreform 54, 61, 481 Kommunikationsmodelle 27, 68, 71, 163, 166 Kontemplation 301, 311f., 316, 340f., 353, 385, 387 Kontroverstheologie 45 Konstanz 197, 256, 304f., 309, 364 – Bistum 323, 355 – Dominikaner(konvent) 299, 350 – Heinrichs-Werkstatt 350 – Seuse-Kult 364 – Terminierbezirk 324 Konzilien s. auch Synoden – Generalkonzil 492 – Konzil von Laodikea (ca. 364) 441 – Konzil von Rom (745) 140 – Konzil von Arles (813) 285 – 3. Laterankonzil (1179) 526 – 4. Laterankonzil (1215) 140, 153, 285, 526 – 2. Konzil von Lyon (1274) 149 – Konzil von Vienne (1311–1312) 371 – Konzil von Konstanz (1414–1418) 200, 492 – Konzil von Basel (1431–1449) 186, 200f., 523–525, 529f., 535 – 2. Vatikanisches Konzil (1962–1965) 435f., 461 Konziliarismus 492 Krankenölung 244 Krakau 210 Kreuzfahrer 473 Kreuznach – Karmeliterkloster 475, 483 Kurie (römische K.) 195–197, 199, 354f.

Karmel 473 Karmeliter(orden) 473, 475 – Generalkapitel von 1399 476 – Klosterbibliotheken 477 – Predigtwesen 490 – Provinzen 475 Kärnten 197 Karolingische Reform 153, 282 Katharer(innen) 454f. Ketzerbewegung 447, 454f. Kirchenjahr 210, 442, 477, 515, 532 Kirchenkritik 532 Kirchen- und Ordensreformen (des 14. u. 15. Jh.) s. auch Dominikaner, Observanzbewegung 182, 192, 354, 415, 475, 481, 523f. Koblenz – Dominkanerkonvent 490 Köln 2, 7, 172f., 371, 393, 421, 476, 485f. – Benediktinerinnenkonvent SS. Machabaeorum 162 – Dominikaner(konvent) 5, 371, 452 – Dominikanerinnenkonvent St. Gertrud 172f. – Frauenklöster 161f. – Karmeliterkloster 475, 477, 481, 483, 487 – Kreuzherrenkonvent 405–407, 416 – studium generale der Dominikaner 162 – studium generale der Karmeliter 475 – Universität 475, 477, 485, 487, 515 – Zisterzienserinnenkonvent Mariengarten 162 Königsfelden 357 Laien s. auch illiterati, simplices 25, 42f., Kollationen s. auch collatio 206, 402, 406, 45, 49f., 72, 127f., 138, 141, 148, 173, 408f., 413, 421–431 187, 233, 236, 243, 256, 268, 288, 368, – Verschriftlichung 428 370, 403, 412, 415, 439, 448, 453, 482, Kollationalia 402f. 489, 523

564 – Handschriftenbesitz von Laien 187, 190 Laienbrüder/-schwestern 71, 127, 359, 407, 413, 415 Laienkelch 188f. Laienunterweisung 48, 191 Laster 25–27, 46, 92, 105 – filia luxuriae 95 – luxuria 94, 100–103, 105f. – stultitia 95 – Wollust 101 Lasterbaum 46 Lasterkataloge 46 Latein und Volkssprache 1f., 24–29, 45– 48, 127–129, 135f., 141, 156–161, 171, 183–187, 234, 242f., 245–252, 259f., 263, 267, 269–271, 275, 289, 304, 380, 401, 403f., 406–408, 414, 476, 488–490, 500–502, 529–531 Lazarus von Bethanien 316 Legendare 319, 325f. Lehrgespräch 31 Leidensmystik 318, 329 Leipziger Disputation 1519 268 Lichtenstein, Schloß 365 Liebenau – Dominikanerinnenkonvent 504, 509 Literalität 51 Liturgie s. auch Predigt, liturgischer Ort 38, 127, 129f., 133–136, 140f., 428 liturgisches Jahr → Kirchenjahr Löwen – Augustiner-Chorherrenstift Martinstal 411 Lucifer 138, 140f., 370 Lübeck 363, 459 – Dom 526f. Lüttich 198 – Stift St. Johann 491 Magdeburg 523, 525–527, 529f., 535 – Dom St. Mauritius 524, 527, 541 – Kirchenschatz 541 Mailand – Piazza Vetra 457 – Zisterzienserabtei Chiaravalle 456 Mainz 513f. – Dom St. Martin 507 – Karmeliterkloster 475 – Kirchenprovinz 371

Sachregister – Mainzer Hoftag 1163 452 – Stift St. Maria ad gradus 491, 501, 505f., 515 ›Manesse-Kreis‹ in Zürich 309 Maria BMV 250f., 334–346 – cancellaria 342 – Jungfräulichkeit 335, 340 Maria von Bethanien 316 Maria Magdalena s. auch Maria von Bethanien 328, 387, 442–447, 465–471 Maria Salome 339 Martha von Bethanien 316, 446f., 471 – Drachentöterin 446, 471 Mecheln – Karmeliterkloster 477 Medingen – Dominikanerinnenkonvent 356 Meditation 252, 404, 410, 415, 474 Meditationsanleitungen 414f. Meersburg 355 Meißen 239 Melk – Benediktinerabtei 235 Melker Reform 57, 61, 65, 72, 366 Memorialbücher 366, 368f., 373 Memorialzeichen 71f. Mendikanten 154, 285, 287, 301, 370, 473f., 477, 490 Merkverse 70 Messe/Meßfeier 127, 140, 142, 164, 257, 414, 457 Metaphern/Metaphorik 148, 208, 281 – Bergbaumetaphorik 241, 243 – Braut-und-Bräutigam 318 – Ehemetapher 148, 150 – Emanationsmetaphorik 342 – Flußmetaphorik 342 – Herzmetapher 351, 354 – Jagdmetaphorik 25 – Lichtmetaphorik 134 – Mutterschaft 341 – Spinnenmetapher 389 – Trichtermetapher 389 Michael, Erzengel 139, 141 militia Christi 352 Millstatt – Benediktinerkloster 129 Minnedidaxe 311, 313, 316 Minnenarren 92 Minnethematik 313, 324

565

Sachregister Minoriten → Franziskaner Mönche 236, 246, 387 monastische Lebensform 311 monastische Reformbewegungen → Klosterreform monastische Theologie 233, 236–238, 246, 254 Montpellier 484 moralisatio 97 Mühlhausen 460 Muslime 239 Mystagogie 313 Mystik s. auch Brautmystik, Leidensmystik 17, 57, 379–381, 385, 393, 474 Mystikerinnen 3 mystische Biographie 18 mystische Meditation der Leiden Christi 243f. mystische Theologie 3f., 236, 238 Mythologie 92f., 106 Negative Theologie 10, 12f., 16f., 362 Neuplatonismus 9f., 350 Niederrheingebiet 393 nomen mysticum 352 Nonnen s. auch Klosterfrauen 187, 236, 341, 360f., 387 Nonnenklöster → Frauenklöster Novellistik 295 Novizen 156, 158, 354, 361, 404 Nürnberg 193f., 197f., 200, 210, 240, 259, 309, 327 – Buch- und Literaturmarkt 202 – Dominkaner(konvent) 204, 488 – Dominikanerinnenkonvent St. Katharina 203f., 212–215, 223, 327 – Klarissenkonvent 204, 327f., 330 – Pfarrkirche/Pfarrei St. Sebald 193– 197, 199–203, 271 – Pfarrkirche St. Lorenz 195–197, 200, 202, 447, 471 – Patrizier 193 – Rat der Stadt 193–195, 199–201, 328, 330 – Spitalkirche 459 – Tiergärtnertor 199 Oberrhein 299f., 331, 369 Obrigkeit 41–42 Oralität siehe auch Schriftlichkeit – Mündlichkeit 51, 161

Ordenseintritt 151f. Ostkirche 437 – Liturgie 437 Ostmitteldeutscher Raum 210 Oxford – Universität 474 Palmsonntagsprozession 218 Paradiesbrunnen 313 Paränese 106, 133, 208, 210 Paris 159, 233, 304f., 457, 476, 513, 515 – als Druckort 269 – Cölestinerkloster 504, 513f. – Dominikanerkonvent 8 – Kloster St. Victor 504, 513 – Ordensstudium der Karmeliter 475 – theologische Fakultät 234 – Universität 235, 486, 491f. Pariser Magisterien Eckharts 7f., 14, 159 Passion Christi 247, 249, 252, 254 Passionsharmonie 246 Passionsliteratur 414 Passionsmeditation 241, 243, 246–249, 252, 254, 404 Patristik 140, 282, 334, 350, 533f. pax ecclesiae 534 Pelikan 360 Personifikation 100, 102, 535 – ecclesia 535 Perchtoldsdorf (Niederösterreich) 186 Pforzheim – Dominkanerinnenkonvent 204 philosophia spiritualis 350f. Physiologus 305 Plenarien mit der Glosse 258, 293 Poppenreuth – Pfarrkirche St. Peter 195f. Postillen 269 – Funktion 269–271 Prädikaturen 201, 526f. Prag 193f., 210, 534 – Universität 194, 513 das Predigen 155 – Berufung zum Predigen 155, 166, 175f., 293 Prediger 155f., 164f., 179, 211 – Aufgaben 211 – Predigeramt 156, 174, 176, 179f., 258, 437 – Predigerrolle 33, 165

566 – Sebstapostrophe 30–33 Predigerkritik 281, 287, 293 Predigerorden → Dominikaner(orden) Predigt s. auch Kollationen – ad clerum 476, 483, 485f., 488, 490, 528, 534 – ad populum 289, 476, 485, 488–490, 501, 525, 527–529, 532 – ad status 25, 147, 287, 293 – Akt des Predigens 156 – Authentizität 91 – Beichtväterpredigten 176, 240, 329f., 401f., 406, 429f. – Buchpredigt 274 – Frühe deutsche Predigt 127–146, 143 – Funktion der Predigt 166, 211 – Gattung 165 – Gebrauchsfunktion 4, 17, 26, 215, 287, 293 – Gelehrtenpredigt 183 – Generalkapitelspredigten 401 – Grobianismen 273 – Hausüberlieferung 422, 425, 430 – Heiligenpredigten 286f., 309 – Kanzelpredigt 22, 181f., 265, 268, 270, 272, 276, 531 – Kirchenjahreszyklen 38f., 171, 185, 203f., 211f., 269f., 402, 423, 482, 488, 503, 512, 531, 541 – Klerikerschelte 25, 293 – Konzilspredigten 200, 533–535 – Lesepredigt(en) 22–24, 49, 157, 161, 169, 176, 215, 239 – liturgischer Ort 23, 39 – Muster-/Modellpredigten 128, 136, 147, 187, 258, 260, 480 – Ordenspredigt 331 – Ort der Predigt 72, 142 – Predigt als Diskurs 32, 37, 67–69, 72, 95, 105, 293 – Predigtentwürfe 239, 479 – Predigtereignis 265 – Predigtexzerpte 402, 409, 422f., 430 – Predigtmaterial 91, 160, 190, 258, 422, 425, 429, 479, 483, 486, 501 – Predigtnachschriften 161, 205f., 215 – Predigtsituation 209, 264 – Predigtvorbereitung 177, 270, 323 – Quelle(nverwendung) 45, 89, 91, 93, 106, 129, 173, 182f., 186–190, 192, 205, 209f., 242, 290

Sachregister – – – – –

Reihenpredigten 183f., 266 Schriftpredigt 48 Themenpredigten 191 Überlieferung 143, 205, 309, 479 Universitätspredigt(en) 183, 187, 477, 486–488, 502 – volkssprachige Predigt 171, 207, 234, 236, 284, 401, 476 – Vorlagen 46, 48, 90, 92, 105f., 128, 141, 183, 186f., 190, 192, 209, 289, 294, 306, 429, 530 – Vulgarismen 273 – als Wissensvermittlung 177 Predigten Eckharts 4 – Berufung zum Predigen 155, 166, 175 – Kölner Predigten 163 – Performanz 161 – Predigtprogramm 163f. – Predigtverständnis 164 – Rückverweise 158, 160 – Selbstzitate 157, 160 Predigten Luthers – ›Dienstpredigten‹ 260 – ›Gastpredigten‹ 260 – Literarisierung 264, 267 – Mitschriften 267 – Musterpredigten 275 – Predigtpraxis 262, 294 – Predigttätigkeit 259 – Programmpredigten 272 – Reihenpredigten 266 – Verschriftlichung 259, 267, 275 Predigttagebücher 511f. Protestantismus 257, 458 Prozeß gegen Meister Eckhart 1, 15, 362, 371 Publikum s. auch Rezipienten 41, 54, 60, 65, 69f., 72, 105f., 127, 158–161, 163, 165f., 168f., 171, 173, 179f., 181, 190– 192, 200, 205, 208, 211, 233, 240, 243, 259f., 288, 313, 331, 335, 339, 386–388, 413, 455, 476f., 481f., 485f., 489, 528f., 533–536 – Klosterpublikum 172 – Lesepublikum 191 – Massenpublikum 152, 154, 274 – Publikumsapostrophe 21–33, 46, 168, 208, 486 – Zuhörerschaft Taulers 172, 178

Sachregister Quadrivium 64, 70 quaestio → Scholastik, scholastische quaestio

567

– scholastische Psychologie 94 – scholastische quaestio 149, 233, 239, 243, 252, 482f. – scholastischer Wissenschaftsbetrieb Rechtspraxis 61 233 Refektorium 401 – sic et non 252 Reformation 42, 269, 275, 293, 457–460, Schriftlichkeit – Mündlichkeit s. auch Ora526 lität 23, 27, 33, 46, 48, 53, 65, 72, 161, Reformkonzilien von Konstanz und Basel 177, 261, 263, 266, 274f., 309, 326, 331 → Konzilien Schuldbekenntnis 142 Reimgebet 489 ›Schule von Chartes‹ 53 Reimsprüche 483 Schwestern vom gemeinsamen Leben 401, Rezipienten 67, 70, 143, 179, 208, 233f., 421, 430 236, 242, 248f., 253, 308 Schwesternviten 317–319 Rom 198 – Literarizität 308 Rooklooster, Augustiner-Chorherrenstift Sebald, Hl. – Laienbrüderstatuten 415 – Kult 196 Rostock – Legenden/Vita 196 – Universität 523, 526 Seelenkräfte 244, 247 – memoria 248f. Sachsen 239, 259, 265 Seelenlehre Eckharts 12 Sakramente s. auch Beichte, Eucharistie, – vünkelıˆn 12, 173 Krankenölung, Taufe 150, 210, 249, Seelenlehre Olivis 371 284, 291, 295, 337, 350f., 358, 453, 476 Seelsorge s. auch cura animarum, cura moSakramentsverständnis Luthers 266 nialium 3, 33, 53f., 72, 190, 356, 372, Sakramentsverwaltung 149, 476 421, 474, 476 Salzburg Selbstkasteiung 133, 316f., 329 – Benediktinerinnenkonvent St. Peter Seleukia 436f. 57, 61 Sentenzen s. auch Sprichwörter 93, 415, St. Denis 9 483 St. Gallen Sermo praescriptus 259 – Dominikanerinnenkonvent St. KathaSieben Gaben des Heiligen Geistes 206, rina (am Brühl) 309 317 St. Goar (am Rhein) 483 Siena 364 Sardinien 483, 485 Silberbergbau 240 Satanas → Lucifer simplices s. auch illiterati, Laien 2, 182 Scheyern Söflingen – Benediktinerkloster 57, 61 – Klarissenkonvent 365 Schisma 491f. – Seuse-Kult 365 Schlicht spekulative Theologie 4, 150, 173, 338, – Pfarrei in Schlicht 195 346, 361, 383 Schneeberg (Ort in Sachsen) 240, 249, Speyer 199, 482f., 513 252 – Dominikanerkonvent St. Peter und Schönensteinbach Paul 506 – Dominkanerinnenkonvent 300, 303, – Karmeliterkloster 475, 477 327, 372f. Spiritualität 8, 14, 45, 480 Scholastik 105f., 233f., 236–238, 252f., Sprecherrolle 23, 28, 30, 32f. 254 Sprichwörter, Sprichwortsammlungen s. – scholastische Homiletik 294 auch Sentenzen 97, 102, 265, 482 – scholastische Predigt 211, 500, 502, Spruchdichtung 295 533

568 Stände 45 Ständedidaxe 287 Ständekritik 27 Stein am Rhein 305 Stoa 294 Straßburg 2, 8, 172, 369–371, 392f. – als Druckort 91f., 107, 122–124, 269, 386 – Beginenverfolgungen (1374) 369 – Dominkaner(konvent) 356, 368–370 – Dominikanerinnenkonvent St. Nikolaus in undis 304, 326, 435, 442 – Dominikanerinnenkonvente 372 – Inquisitionsprozeß 370f. – Johanniterkomturei zum Grünen Wörth 347, 366, 368–370, 372–374 – Münster 91, 99 – Patrizier 373 – Rat der Stadt 459 – Reuerinnenkonvent St. Maria Magdalena 106 Stundengebet 243, 252, 390 Sünde(n) – Erbsünde 246, 249 – Gedankensünde 293 – Hauptsünden 46, 185, 533 – Todsünden 43, 105f. – Wollust 94 Sündenfall 247–249 Synoden – Synode von Elvira (ca. 305) 441 – Synode von Aachen (789) 140 – Synode von Friaul (791) 285 – Synode von Hohenaltheim (916) 285 – Diözesansynode von Verona (966) 284 – Synode von Pont-Audemer (1279) 149 Täuferbewegung 459 Taufe/Taufsakrament 140, 320, 350 Tegernsee – Benediktinerkloster 57, 61 Text im Text 168 Thekla, apokryphe Apostolin 436–438 Thüringen 239 Tischlesung 212–215, 223, 401 Töß (bei Winterthur) – Dominikanerinnenkonvent 308 Tonsur 149

Sachregister Topos/Topoi 281f., 292, 294, 306, 313 – Boten-Topos 290f., 294 – Johannsen-Streit 304, 330 – Worte und Werke 281–295 Torgau 240 Tränen 103, 251 Trier – Karmeliterkloster 477, 485 Trinität 210, 213, 361 Trivium 64, 70 Tropologese 97 Türken 239 – Krieg gegen die Türken 239 Tugend(en) 25, 106, 134, 210, 317, 319, 321, 407, 414, 533 – des Esels 388 – Klostertugenden 381 – ›Konvent der Tugenden‹ 178 – Liebe 134 Tugendkatalog 319 Tugendlehre 311 Typologie 132f. – Eva-Maria 251 Ulm 364 – Dominikanerkonvent 364–366 – Heilig-Geist-Spital 526 – Seuse-Kult 364–366 – Ulmer Exil Seuses 365 Ungarn 198 unio → Einheit Utrecht 381, 399 – Utrechter Klerus 400 Valenciennes 457 Vaterunser 268, 323 – Auslegung 268, 412, 459 Venedig 198 Venus 92, 95–100, 105 Verlobung 151 Vereinigung Christi mit der Seele 151 Vermittlungsstrategien 188, 192 via mystica 361f. Vierfacher Schriftsinn 349 – sensus litteralis 67, 532 – sensus allegoricus 532 – sensus anagogicus 532 – sensus moralis 67, 532 – sensus spiritualis 53, 67 Vilemiten 456

Sachregister

569

Villingen 305 Wittenberg 268 visio beatifica 136, 313, 329 – als Druckort 269 Visionen/visionäres Schauen 3, 262, 302, – Augustinerkloster 257 306, 312, 316, 318f., 329, 337, 344–349, Worms 493f., 505, 508–510, 513 351, 353, 357–360, 415, 450f. – Bistum 503 vita contemplativa – vita activa s. auch – Dom St. Peter 491, 501, 504–507, contemplatio – actio 293, 316, 341, 509f. 350, 359, 367, 387, 474 – Dominikanerkonvent 507, 510 Viten- und Offenbarungsliteratur 329 – Franziskanerkonvent 507, 509 Volksbildung 181, 183 – Karmeliterkloster 483 Volkssprache 1, 40, 47f., 53f., 70, 141, – Liebfrauenstift 501, 505, 508, 510 158, 191, 314, 401, 403, 412 – Pfarrkirche St. Johannes Bapt. 501, 506 Waldenser(innen) 453f. – Pfarrkirche St. Lambert 505 Wartburg 262, 264 – Stift St. Martin 509 Weinheim Würzburg – Karmeliterkloster 475, 483 – Stift Neumünster 202 Werkgerechtigkeit 178 Wunden Christi 243, 245, 247, 249f. Wiblingen – Seitenwunde Christi 249 – Benediktiner 366 Wilsnack Zevenborren – Wallfahrten 523 – Kloster 401 Windesheimer Reformkongregation 379– Zielgruppe/Zielpublikum s. auch Publi381, 393f., 401 kum 54, 59, 69, 127, 187, 189, 236f., – Frauenkonvente 384, 390 324 – Generalkapitelspredigten 401 Zölibat 399, 441 Wien 233, 485 Zürich 309 – Bürger 190 – Benediktinerinnenstift Fraumünster – Collegium ducale 183 355 – Domkirche St. Stephan 186 – Dominikanerinnenkonvent Ötenbach – Dominikanerinnenkonvent St. Lauren365 zien 186 – Terminierbezirk 324 – Karmeliterkloster 488 Zwolle – Universität 61, 69, 181f., 186, 515 – Augustiner-Chorherrenstift Agnieten›Wiener Schule‹ 44–50, 54, 190, 192, berg 405 235 – Fraterhaus St. Gregorius 399, 402– Windischgraz 459 406, 408, 414 Winterthur 355 – Schwesternhäuser 421

Abkürzungsverzeichnis

Das Abkürzungsverzeichnis verzeichnet nur solche Abkürzungen, die weder in den einzelnen Aufsätzen aufgelöst werden, noch im Abkürzungsverzeichnis des ersten Bandes des 2VL, S. XI-XXIV, Berücksichtigung finden. AfEK

Archiv für Elsässische Kirchengeschichte, 1926–1943.

CETEDOC

Library of Latin Texts – Series A (=LLT–A). Database for the Western Latin Tradition (k. A. über das erste Erscheinungsjahr, ständige Erweiterung und Aktualisierung der Dateien durch das »Centre Traditio Litterarum Occidentalium« unter Leitung von PAUL TOMBEUR, Turnhout).

DW I

Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke, hg. i. A. der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke, 1. Band: Meister Eckharts Predigten (Pr. 1–24), hg. u. übers. von JOSEF QUINT, Stuttgart 1957.

DW II

Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke, hg. i. A. der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke, 2. Band: Meister Eckharts Predigten (Pr. 25–59), hg. u. übers. von JOSEF QUINT, Stuttgart 1971.

DW III

Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke, hg. i. A. der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke, 3. Band: Meister Eckharts Predigten (Pr. 60–86), hg. u. übers. von JOSEF QUINT, Stuttgart 1976.

DW IV,1

Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke, hg. i. A. der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke, 4. Band, Teilband IV,1: Meister Eckharts Predigten (Pr. 87–105), hg. u. übers. von GEORG STEER, Stuttgart 2003.

DW IV,2

Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke, hg. i. A. der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke, 4. Band, Teilband IV,2: Meister Eckharts Predigten (Pr. 106ff.), hg. u. übers. von GEORG STEER, Stuttgart 2003ff.

DW V

Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke, hg. i. A. der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke, 5. Band: Meister Eckharts Traktate, hg. u. übers. von JOSEF QUINT, Stuttgart 1963.

EW 1

Meister Eckhart. Werke I: Predigten, hg. und komment. von NIKLAUS LARGIER (Bibliothek des Mittelalters 20), Frankfurt a. M. 1993.

FMSt

Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster, 1967ff.

IASL

Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur, 1976ff.

LCI

Lexikon für christliche Ikonographie. 8 Bde., begr. von ENGELBERT KIRSCHBAUM, hg. von WOLFGANG BRAUNFELS, Freiburg i. Br. [usw.] 1968–1976.

572

Abkürzungsverzeichnis

LEXER I-III

MATTHIAS LEXER, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde., Leipzig 1872–1878.

LexMA

Lexikon des Mittelalters. 10 Bde., München u. Zürich 1977–1998 (Bde. 1–9), München 1999 (Bd. 10).

LiLi

Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 1971ff.

LW V

Meister Eckhart, die deutschen und lateinischen Werke, hg. i. A. der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die lateinischen Werke. 5. Band: Opera Parisiensia. Tractatus super oratione dominica, hg. und übers. von BERNHARD GEYER, JOSEF KOCH und ERICH SEEBERG. Responsio ad articulos sibi impositos de scriptis et dictis suis. Acta Echardiana, hg. und kommentiert von LORIS STURLESE, Stuttgart 2007.

MEJb

Meister-Eckhart-Jahrbuch, hg. im Auftrag der Meister-Eckhart-Gesellschaft, 2007ff.

OGS

Oxford German Studies, 1965ff.

RDK

Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, begründet von OTTO SCHMITT (†), hg. vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte München, 1937ff.

RJKG

Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte, 1982ff.

Sermo

Sermo. A series of studies on patristic, medieval, and Reformation-era sermons, hg. von ROGER ANDERSSON, 2006ff.

TTG

Texte und Textgeschichte, begründet von Kurt Ruh, hg. von Klaus Grubmüller [u. a.], 1980ff.

TRE

Theologische Realenzyklopädie. 36 Bde., hg. von GERHARD MÜLLER, HORST BALZ, GERHARD KRAUSE, Berlin 1976–2004.

2

VL

Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 14 Bde, hg. von KURT RUH und BURGHARD WACHINGER, Berlin/New York 1978– 2008.

WA

Martin Luthers Werke. 120 Bände, hg. von der Komission zur Herausgabe der Werke Martin Luthers, ab Band 64 herausgegeben im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Weimar 1883–2009.

WA TR

D. Martin Luthers Werke. Tischreden. 6 Bde., Weimar 1912–1921.