Ärztliche Praxis und sozialer Raum im 17. Jahrhundert: Johannes Magirus (1615–1697) [1 ed.] 9783412511968, 9783412511197

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Ärztliche Praxis und sozialer Raum im 17. Jahrhundert: Johannes Magirus (1615–1697) [1 ed.]
 9783412511968, 9783412511197

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Sabine Schlegelmilch

ÄRTZLICHE PRAXIS UND SOZIALER RAUM IM 17. JAHRHUNDERT JOHANNES MAGIRUS (1615–1697)

Sabine Schlegelmilch

ÄR ZTLICHE PR A XIS UND ­S OZIALER R AUM IM 17. JAHRHUNDERT Johannes Magirus (1615–1697)

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Titelholzschnitt der von Johannes Magirus verfassten Schreibkalender aus den Jahren 1650–1654. © Stadtarchiv Altenburg. © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Lindenstraße 14, D-50674 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin Einbandgestaltung  : Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Michael Rauscher, Wien

ISBN 978-3-412-51196-8

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Johannes Magirus (1615–1697) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28 31 51 62 73

Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Überlegungen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der Gelehrte . . 1.2 Der Hofmann. . 1.3 Der Astrologe . . 1.4 Der Arzt. . . . .

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2. Die Arztpraxis. . . . . . . . . . 2.1 Drei Orte, drei Praxen . . . . 2.2 Die Praxis im Kontext.. . . . 2.3 Die Patientenschaft . . . . . . 2.4 Das Einkommen des Arztes. .

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. 89 . 90 . 98 . 114 . 130

3. Die ärztliche Praxis . . . . . . 3.1 Behandlungsschritte.. . . . 3.2 Methoden der Diagnostik. . 3.3 Therapeutische Praxis . . . .

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4. Praxis-Wissen . . . . 4.1 Wissen erwerben . . 4.2 Wissen anwenden . . 4.3 Wissen weitergeben .

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5. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Anhang  : Edierte Quellentexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Text 1  : Ankündigung des mathematisch-praktischen Kollegs in Berlin, 1646 .. Text 2  : Ankündigung des medizinisch-mathematisch-praktischen Kollegs in Berlin, 1646 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Text 3  : Nicolaus Peucker  : Biographisches Gedicht auf Johannes Magirus. . . .

293 293 299 307

6

Inhalt

Text 4  : Observatio  : Beobachtung einer Himmelserscheinung im Jahr 1648. . . 310 Text 5  : Eine handschriftliche Gelehrtenbibliothek (D. Magiri manuscripta) .. 311 Text 6  : Besoldung der Bediensteten der Brandenburgischen Hofapotheke (nach 1652).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . Frankfurt/Oder und erste Studien (1616).. Peregrinatio Academica (1637–1640). . . . Berlin (1641  ?–1650) . . . . . . . . . . . . Zerbst (1651–1656).. . . . . . . . . . . . Marburg (1656–1697) . . . . . . . . . . .

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Abbildungsverzeichnis.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Tafelteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Quellen- und Literaturverzeichnis . 1 Archivalien. . . . . . . . . . . . 2 Gedruckte Quellen. . . . . . . 3 Sekundärliteratur. . . . . . . .

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Personenegister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

Vorwort

Die vorliegende Monographie ist das Ergebnis eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten dreijährigen Projekts, das im Jahr 2009 seine Arbeit aufnahm. Grundlage und gleichsam Eintrittstür in die zuweilen etwas fremd anmutende Welt des Johannes Magirus waren dabei seine Aufzeichnungen – sein Diarium, seine Loci Communes, seine Notizbücher –, die Michael Stolberg wenige Jahre zuvor in der Universitätsbibliothek Marburg aufgefunden hatte. Ihm, der die Relevanz dieses Fundes erkannte, das Projekt entwarf und schließlich auch leitete, gebührt mein Dank – nicht nur für fachkundige Unterstützung und das Auffinden noch weiteren Quellenmaterials, sondern auch dafür, daß er die Offenheit besaß, für die Bearbeitung seines Projektes über Fachgrenzen hinweg nach Eignung und Befähigung für dieses Thema zu suchen. Ich darf mich glücklich schätzen, daß mir nach meiner Dissertation nun schon zum zweiten Mal das Vertrauen entgegengebracht wurde, in einem Gebiet jenseits meiner ursprünglichen Qualifikation zu arbeiten und meinen Horizont zu erweitern. Desweiteren möchte ich mich bei Ulrich Rasche bedanken, der das Projekt bereits sieben Monate lang bearbeitet hatte, bevor ich es übernahm. Er stellte den Konnex zwischen den aufgefundenen Handschriften und dem Kalenderschreiber Johannes Magirus her und unternahm eine gründliche Auswertung der Kalender  ; seine Ergebnisse hat er mir ohne Vorbehalte und vorbildlich aufgearbeitet für meine eigene Forschung überlassen. Diese wiederum wurde mir sehr erleichtert durch all die Kollegen und Kolleginnen, die ich in den halbjährlichen Treffen unseres Projektverbundes »Ärztliche Praxis (17.– 19. Jahrhundert)« mit ihren Projekten kennenlernen durfte  ; der Einstieg in ein fremdes Gebiet könnte kaum besser gelingen, als wenn man sich ohne eigenes Zutun gleich in ein so großes Team von auskunftswilligen Fachleuten integriert findet. Die zusätzlich von der Deutschen Forschungsgemeinschaft genehmigten Gelder für eine gemeinsame Ausstellung »Praxiswelten« hat die enge und sehr inspirierende Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus den medizinhistorischen Museen erbracht, aus der sich bis heute immer wieder neue Fragestellungen und Projekte entwickeln. Wie das Quellenverzeichnis zeigt, sind zahlreiche Bibliotheken und Archive daran beteiligt gewesen, das Puzzle Magirus zu einem Bild zusammenzusetzen. Ich danke allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die sich bemüht haben, mich bei meiner Suche zu unterstützen. Besonders hervorheben möchte ich hierbei Bernd Reifenberg, der als Leiter der Historischen Bestände der Universitätsbibliothek Marburg in eben diesen immer wieder nach Magirus’ obskuren Kleindrucken oder Büchern aus seinem Besitz gesucht hat  ; außerdem Iruta Völlger, die mir die Arbeit in der wertvollen alten Bibliothek des Francisceums in Zerbst ermöglicht hat  ; schließlich Ursula Schreiber, die mit wenig Mitteln, aber idealistischem Engagement den großen Schatz des Stadtarchivs Altenburg betreut, darunter etwa 3700 Schreibkalender, unter denen sich auch Magirus’ gesamte Produktion befindet.

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Vorwort

An die Erwähnung der Schreibkalender muß sich umgehend der Dank an Klaus-Dieter Herbst anschließen, der die Kalenderforschung im letzten Jahrzehnt durch seine Projekte entschieden vorangetrieben hat  ; der Teilnahme an seinen großen Kalendertagungen in Altenburg (2011) und Jena (2017) hat dieses Buch entscheidende Impulse zu verdanken. In diesem Kontext ist dann auch Richard Kremer zu danken, der mich an einem Morgen der Altenburger Tagung mit der Information überraschte, er habe aus Neugier über Nacht die Daten aller (!) Magirus-Kalender durchgerechnet und die zugrundeliegenden Ephemeriden-Tafeln identifiziert. Die Fertigstellung eines Buches ist bekanntlich nicht mit dem Abschluß des Schreibprozesses erreicht. Ich hatte den Vorteil, auf die kluge und offene Kritik gleich mehrerer zählen zu können  : Alexander Pyrges zerpflückte auf scharfsinnig-direkte Art mein Methodenkapitel (was diesem gut bekam)  ; von Stephanie Neuner und Marion Gindhart, die jeweils zwei meiner Kapitel lasen, erhielt ich nicht nur präziseste Korrekturen, sondern fachkundige Anmerkungen einmal aus (medizin)historischer, einmal aus philologisch-wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive. Meine Kollegin Karen Nolte rückte einige meiner Ergebnisse zum 16. und 17. Jahrhundert in die richtige Perspektive, indem sie mir als Quell ewig sprudelnden Wissens Themen und Konzepte des 19. Jahrhunderts nahebrachte, die mir Kontinuitäten und Brüche in der weiteren Entwicklung des Beobachteten deutlich machten. Schließlich danke ich meiner wissenschaftlichen Hilfskraft Theresa Sanzenbacher, die nicht nur die mühselige Korrektur auch der Quellentexte in beiden Sprachen zuverlässig und präzise erledigte, sondern mich darüber hinaus bei der Auswertung der handschriftlichen Aufzeichnungen Johann Heinrich Bossens unterstützte. Zuletzt danke ich dem wichtigsten Menschen in meinem Leben, Ulrich Schlegelmilch  ; wofür, weiß er am besten.

Einleitung

Eine Praxis läßt sich nicht beschreiben, ohne sich mit dem zu befassen, der sie ausübt. Folglich stellt jede einzelne Arztpraxis ebenso ein Individuum dar wie der Arzt, an den sie gebunden ist, und so verhält es sich auch mit der Praxis von Johannes Magirus  : Sie repräsentiert zunächst eine von vielen individuellen Auslegungen des ärztlichen Praktizierens seiner Zeit.1 Um für einen bestimmten Untersuchungszeitraum überhaupt beurteilen zu können, »was in der üblichen ärztlichen Praxis gängig war und was die Ausnahme«,2 also tatsächlich die Praxis einer bestimmten Zeit zu charakterisieren, bedürfte es zunächst einer belastbaren Menge solch individueller Fallstudien, mittels derer dann eine epochenspezifische Typologie und definierende Merkmale von Arztpraxen erarbeitet werden könnten. Dafür wäre es allerdings nötig, zunächst eine größere Breite von handschriftlichen Quellen auszuwerten, die direkt aus dem Praxisalltag der betreffenden Ärzte stammen.3 Hier begegnet bereits das erste Problem in der Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung  : Denn meist wurde die Praxis frühneuzeitlicher Ärzte anhand gedruckter Fallberichte oder gar medizinischer Fachliteratur rekonstruiert, das Modell gleichsam als Protokoll gelesen.4 Als ein typisches Beispiel sei hier Barbara Dudens gleichwohl wegweisende 1 Johannes Magirus’ Lebenszeit (1615–1697) erstreckte sich beinahe über das ganze 17. Jahrhundert. Die Aussagen, die ausgehend von seinen Aufzeichnungen im Rahmen dieser Untersuchung getroffen werden, blicken deswegen zwar mitunter auf Entwicklungen des vorhergehenden 16. Jahrhunderts zurück, beziehen sich jedoch schwerpunktmäßig auf das 17. Jahrhundert, in dem Magirus lebte. Diese zeitliche Begrenzung auf das 16. und 17. Jahrhundert liegt auch zugrunde, wenn zur Benennung charakteristischer Umstände verallgemeinernd von »frühneuzeitlichen« Ärzten etc. die Rede ist  ; vieles von dem hier für die ärztliche Praxis Beobachteten besitzt zwar auch noch Gültigkeit für weite Teile des 18. Jahrhunderts, jedoch differenziert sich die medizinische Theorie in diesem Jahrhundert zunehmend aus. 2 Dinges (2008), S. 28. 3 S. Hess/Schlegelmilch (2016), S. 17  ; 33–38. 4 Diese Forschungslage ist vor allem dem Umstand geschuldet, daß Praxistagebücher lange Zeit kaum Aufmerksamkeit erfahren haben  : »Before 1990, such sources had occasionally been analysed in studies on individual physicians but no systematic survey of these sources had ever been undertaken and the evidence for the individual physicians was mostly fragmentary or second-handly.« (Stolberg/Dinges [2016], S. 3). Für das Gebiet des Alten Reiches beschränken sich die wenigen älteren Publikationen, die auf Praxistagebücher des 16. Jahrhunderts eingehen, auf eine kurze Charakterisierung der Quelle, nehmen inhaltlich aber höchstens Bezug auf prominente Patienten  : s. König, Klaus G.: Der Nürnberger Stadtarzt Dr. Georg Palma (1543–1591) (Stuttgart 1961), hier bes. S. 54–58  ; Assion, Peter/Telle, Joachim  : Der Nürnberger Stadtarzt Johannes Magenbuch, in  : Sudhoffs Archiv 56 (1972), S. 353–420, hier S. 375–89  ; 397–98. Für das 18., besonders aber das 19. Jahrhundert liegen inzwischen einige Studien vor  : s. einen Überblick bei Hess/Schlegelmilch (2016), S. 12–14  ; s. außerdem die Analysen der Arztpraxen von Johann Christoph Götz (1688–1733), Johann Friedrich Glaser (1707–1789), Conrad

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Einleitung

Studie zur Praxis des Arztes Johannes Pelargius Storch aus Eisenach (1681–1751) genannt, die auf dessen achtbändigem Lehrwerk zu »Weiberkrankheiten« beruht. Dudens primäres Interesse bestand darin, das genuine Körperverständnis der in den Fallgeschichten begegnenden Patientinnen faßbar zu machen  ; daß deren Aussagen schon beim Aufschrieb einer selektiven Protokollierung unterlagen und durch die gezielte Überarbeitung des Materials zu Lehrzwecken einer weiteren (ärztlichen) Überformung unterworfen waren,5 bleibt ein ungelöstes methodisches Problem, das folglich auch die Aussagen zu Storchs Praxis selbst betrifft.6 Ein weiteres Beispiel liefert Ingo Wilhelm Müllers Monographie zu Friedrich Hofmann (1660–1742), die die »ärztliche Praxis« sogar im Titel trägt,7 aber im Wesentlichen das Bild wiedergibt, das Hofmann selbst in seinen programmatischen Publikationen, allen voran der Medicina rationalis, von vorbildhafter Praxis entwirft. Sie verbleibt ansonsten, wie viele andere Publikationen, auf der Ebene einer Darstellung von Krankheitstheorien. Solche Systematisierungen sind zwar nicht hoch genug zu schätzen, will man einen ersten Zugang zu medizinischer Terminologie und Körpermodellen bestimmter Epochen erlangen,8 sie sagen uns aber nichts über den tatsächlichen ärztlichen Alltag.9 Wie Michael Stolberg außerdem zeigen konnte, relativieren viele handschriftliche Zeugnisse die Ergebnisse solcher allein auf publizierte Quellenkorpora gestützter Forschung, ja sie widerlegen sie teilweise sogar.10 Heinrich Fuchs (1803–1855), Gottfried Wachter (1776–1861), Caesar Adolph Bloesch (1804–63), Franz von Ottenthal (1847–1899) und Friedrich von Bönninghausen (1828–1910) in dem Sammelband »Medical Practice, 1600–1900. Physicians and their Patients«  : Dinges/Jankrift u. a. (2016).   5 S. Duden (1991), S. 7. Zu diesem Transformationsprozeß, der bei gedruckten Quellen aus dem Umfeld ärztlicher Praxis stets methodisch berücksichtigt werden muß, s. Stolberg (2013b), S. 489  ; Hess/ Schlegelmilch (2016), S. 25–27.   6 Eine solche Aussage ist z. B., daß Storch bei über der Hälfte seiner Fälle nur eine Verordnung vornimmt (eine lehrbuchkonforme Reaktion auf einen vorgestellten Fall)  : s. Duden (1991), S. 114.   7 »Iatromechanische Theorie und ärztliche Praxis«  : s. Müller (1991).   8 Hier sind die präzisen Überblickswerke von Karl Eduard Rothschuh besonders hervorzuheben.   9 Das hier beschriebene methodische Problem beschränkt sich nicht auf die deutsche Forschung  : s. z. B. die Studie von Joan Lane zur »Medical Practice of Shakespeare’s Son-in-Law« (Lane 1996), die im Wesentlichen einen Realienkommentar zu Halls gedruckten Observationes bietet  ; der Einleitung ist außerdem zu entnehmen, daß das diesem Druck zugrunde liegende (erhaltene) Manuskript selbst bereits eine Auswahl der Fälle darstellt, die von Hall als »choysest« und darum publikationstauglich zusammengestellt wurden (s. S. xxviii). Aus quellenkritischer Sicht müssen ihre einleitenden Bemerkungen zu Halls Praxis (s. S. xiii–xlii) somit unter Vorbehalt gelesen werden. Marco Bresadola wiederum trifft Aussagen über »Patients, Physicians, and Diseases in Marcello Malpighi’s Medical Practice« (Bresadola 2011) auf der Basis gedruckter Konsiliarkorrespondenz, also einem Briefwechsel mit Patienten, die Malpighi nicht persönlich getroffen hatte und deren Leiden er auf der Basis einer schriftlichen Beschreibung analysierte  ; hier findet sich, wenig überraschend, auch wieder die Annahme vom ohnehin körperfernen Arzt (s. folgende Anmerkung). 10 S. Stolberg (2013a), S. 91–92 zu dem aus gedruckten Quellen extrapolierten und hierdurch in der Forschung etablierten Mythos, eine körperliche Untersuchung der Patienten habe durch frühneuzeitliche Ärzte nicht stattgefunden.

Einleitung

Der Alltagspraxis direkter genähert haben sich – für das frühneuzeitliche England – bislang Michael MacDonald, der die über 37 Jahre laufenden Aufzeichnungen des Arztes Richard Napier (1559–1634) unter dem Aspekt einer spezifischen Symptomatik (madness) analysierte,11 des weiteren Lauren Kassell, die zwei Jahre aus den handschriftlichen Aufzeichnungen des Astrologen Simon Forman (1552–1611)12 auswertete, sowie schließlich Brian Nance, der die achtzehn Bände handschriftlicher Ephemerides des hugenottischen Arztes Théodore Turquet de Mayerne (1573–1655) hinsichtlich dessen Vorgehen bei Diagnostik, Prognose und Therapie untersuchte.13 In Zusammenschau mit Hugh Trevor-Ropers posthum publizierter umfangreicher Biographie Mayernes14 findet sich hier der beste Ausgangspunkt für einen internationalen Vergleich ärztlicher Praxis im 17. Jahrhundert. Für das Gebiet des Alten Reiches in der Zeit vor 1700 liegen jedoch kaum Publikationen vor. Sie beschränken sich auf einige Kapitel in Urs Gantenbeins Darstellung des Chemiaters Angelus Sala (1576–1637)15 sowie Michael Stolbergs Einzelstudien zum Geschehen am Krankenbett, die v. a. auf den umfangreichen Aufzeichnungen des böhmischen Arztes Georg Handsch (1529–1578  ?), u. a. während dessen Ausbildung in Padua, basieren.16 Hinzu kam in jüngster Zeit noch eine schmale medizinische Dissertation, die allerdings die Praxis des Arztes Petrus Kirstenius (1577–1640) allein auf der Basis eines Rezepttagebuchs (ohne Diagnosen oder Fallbeschreibungen) untersucht.17 Der geschilderte Befund mag angesichts der großen Zahl an Publikationen zu einzelnen Ärzten des 16. und 17. Jahrhunderts zunächst erstaunen. Es finden sich hier jedoch selten Arbeiten, die nicht primär einen biographischen Ansatz und/oder eine Positionsbestimmung einzelner Ärzte im Fachdiskurs verfolgen. Sie stellen entweder einen Arzt in 11 MacDonald wählte hierfür einen qualitativen wie quantitativen Zugriff  ; auch wenn die knapp 2000 Fälle, die er unter dem Oberbegriff »madness« zusammenfasste, nur einen Teil der Aufzeichnungen ausmachen, vermitteln die statistischen Auswertungen der Fälle und ihre Kontextualisierungen mit z. B. familiären Hintergründen oder religiösen Sichtweisen der Zeit einen umfassen Eindruck der Thematik  : MacDonald  ; Michael  : Mystical Bedlam  : Madness, Anxiety and Healing in SeventeenthCentury England (Cambridge 1981). 12 S. Kassell (2005), hier bes. Kap. III (The Casebooks)  ; die Praxistagebücher Richard Napiers und Simon Formans sind im Rahmen eines noch andauernden Editionsprojekts online einsehbar  : The Casebooks Project – A digital edition of Simon Forman’s & Richard Napier’s medical records 1596–1634  : http://www.magicandmedicine.hps.cam.ac.uk/ (letzter Zugriff  : 12.12.2017). 13 Nance (2001) analysiert zudem die verzeichneten Krankheiten auch in Bezug auf ihren sozialen Kontext (s. S. 134  : »prevalence of illnesses regarded as courtier’s diseases«). 14 S. Trevor-Roper (2006). 15 S. Gantenbein (1992)  ; die Studie zielt nicht primär auf Salas alltägliche Praxis, kommt aber am Rande anderer Fragestellungen auf sie zu sprechen. 16 S. Stolberg (2013a) zur körperlichen Untersuchung  ; zu Handsch s. bes. (2014a) zur praktischen Ausbildung junger Ärzte in Padua  ; (2015b) zur Arzt-Patientenkommunikation. Die umfangreichen Aufzeichnungen des Arztes Handsch stellen eher allgemeine Notizbücher als eigentliche Praxistagebücher dar und entziehen sich so in ihrer Vielfalt einer systematischeren Auswertung von alltäglichen (repetitiven) Strukturen. 17 S. Ofenhitzer (2017).

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Einleitung

lokalgeschichtlicher Perspektive dar, wobei sie ihn, zum Zwecke städtischer Identitätsstiftung, mit anderen Honoratioren seiner Zeit oder mit bis heute überdauernden Orten in Beziehung setzen,18 oder sie versuchen, ihn in universitäts- oder wissenschaftsgeschichtlicher Sicht in die Welt der Academia einzuordnen, indem sie – wie Müller (s. o.) – die Krankheitstheorie erläutern, die er öffentlich vertrat.19 All diese Arbeiten sind durchaus wichtig für die Kontextualisierung einer Praxis in ihrer Gesamtheit – ihre gesellschaftliche Einbettung, ihre ökonomische Verfaßtheit, ihre theoretische Ausrichtung –, sie sparen aber gewöhnlich ihren tatsächlichen Kern, den ärztlichen Behandlungsalltag, in all seinen Bedingungen und Anforderungen, seinen Routinen und Abläufen aus. Die wesentliche Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung besteht somit darin, eben diesen durch das Handeln eines Arztes strukturierten Praxis-Alltag anhand seiner eigenen Aufzeichnungen sichtbar zu machen, gleichzeitig aber auch zu zeigen, wie sehr die so Konturen gewinnende Praxis mit den komplexen Strukturen von Staat und Gesellschaft im Alten Reich verwoben war. Versteht man die Praxis im Ganzen als ein Gebilde, das sich mit seiner Umwelt in einem steten, dynamischen Austausch befindet, müssen ortsspezifische Strukturen unweigerlich auf die Gestalt dieser Praxis zurückwirken  ; sie ist eng verflochten mit den vor Ort etablierten Obrigkeiten, Ämtern und Institutionen und deren Regeln, Ritualen und Zuständigkeiten. Diese Bedingtheit belegen nicht nur zahlreiche Fallstudien, die lokale Konflikte analysiert und kontextualisiert haben,20 sie wird besonders deutlich im Ländervergleich. In England beispielsweise versuchten im 17. Jahrhundert Ärzte der kontroversen helmontianischen Medizin dadurch Einfluß zu verschaffen, daß sie deren Ausübung mit einer moralischen Selbstverpflichtung zur Armenfürsorge verknüpften21 – im Reichsgebiet dagegen, in dem die Städte spätestens seit dem 16. Jahrhundert die Versorgung von Armenpatienten geregelt hatten, indem sie sie zur Pflicht eines bestallten Stadtarztes machten,22 wäre einer solchen Diskussion von vornherein der Boden entzogen gewesen. In Italien, wohin viele Medizinstudenten aus dem Reichsgebiet pilgerten, um dort die praktische Ausbildung zu erhalten, die in ihrer Heimat an den Universitäten noch nicht vorgesehen war, nahmen auch Ärzte chirurgische Eingriffe vor.23 Wieder zu Hause, sahen sich die nun so ausgebildeten jungen Praktiker mit dem Problem konfrontiert, daß das Ausüben der Chirurgie im Reichsgebiet allein der Chirurgenzunft zugebilligt war, sie gegenüber ihrer Erfahrung in Italien also in der praktischen Aus18 S. als Vertreter dieser Tradition Schulze (1920) und Schnurrer (1997). 19 S. z. B. Probst (1968)  ; Bröer (1996). Als exemplarisch für die »Arztgeschichte« kann Brechthold (1959) gelten, der in seiner Biographie des Arztes Heinrich Wolff eine Mischung aus lokalgeschichtlichen Aspekten (Nürnberg), Gelehrtengeschichte (berühmte Korrespondenzpartner) und Medizingeschichte (Heinrich Wolffs Eintreten für den Paracelsismus) bietet. 20 S. zuletzt Kinzelbach (2017b). 21 S. Wear (2000), S. 355. 22 S. Kinzelbach (1995), S. 310–11  ; Schilling/Schlegelmilch/Splinter (2011), S. 100–01  ; Schlegelmilch (2017). 23 S. Klestinec (2010), S. 44  ; Schlegelmilch (2017).

Einleitung

übung ihrer Fähigkeiten obrigkeitlichen Beschränkungen unterlagen.24 In beiden Ländern schließlich, England wie Italien, lagen schon früh medizinische Publikationen in der Landessprache vor, in England (mit seinen gerade einmal zwei Universitäten) sogar fast ausschließlich. Medizinisches Wissen wurde dadurch in einer Weise popularisiert – und damit einer potentiellen wie tatsächlichen Patientenschaft zur Selbstbildung zugänglich –, wie es im Reichsgebiet mit seiner von der Universitätskultur geprägten Medizin nicht der Fall war.25 Schon diese wenigen Beispiele machen deutlich, daß Aussagen über die Tätigkeit anderer frühneuzeitlicher Ärzte, die außerhalb der Reichsgrenzen praktizierten, nicht ohne Weiteres auf das Reichsgebiet übertragbar sind,26 obschon man angesichts der vorhandenen Forschung glauben könnte, die Ärzteschaft sei sich allerorten recht ähnlich gewesen. Dieser Eindruck resultiert jedoch wiederum daraus, daß die Mehrzahl der Darstellungen Publikationen gelehrter Ärzte auswerten, die sich dort in der Auswahl ihrer Themen und in ihrem Auftreten ganz bewußt als Mitglieder einer extraterritorialen respublica litterarum stilisierten.27 Darüber, wie sich deren tatsächlicher Alltag als praktische Ärzte vor Ort abspielte, wissen wir noch immer sehr wenig.28 Natürlich war auch der Professorensohn und studierte Arzt Johannes Magirus ein Gelehrter. Jedoch erlaubt in seinem Fall die breite Überlieferung sowohl gedruckter wie auch handschriftlicher Quellen, ein umfassenderes Bild eines nicht nur publizierenden, son24 S. Schmitz (1982), S. 22–23  ; Brockliss/Jones (1996), 103)  ; Klestinec (2010), S. 45. 25 In der Volkssprache publizierende Autoren verteidigten sich hier im 17. Jahrhundert noch in den Vorworten ihrer Werke prophylaktisch gegen den Vorwurf, Geheimnisse der Ärzte zu verraten  ; s. z. B. die Apologie Bartholomäus Zorns aus dem Jahr 1673 in Kap. 4.3.1. 26 Bereits Brockliss/Jones (1996), S. 6 erwähnen in diesem Zusammenhang die oft auch sichtverstellende Dominanz der englischen Forschung  : »Suffice it to say that, from a Continental perspective, the fecundity and brilliance of research on England has helped both to enlighten but also to obscure our understanding of early modern medicine tout court. The English case has frequently been taken as representative of European developments despite the fact that many of English society’s most impressive features […] were only partially or distortedly reproduced on the Continent.« – Die wesentliche zu praktizierenden Ärzten in England, Italien und Frankreich erschienene Forschungsliteratur versammelt Stolberg (2014a), S. 635 Anm. 8. Die Schwerpunkte dieser nicht auf das Reichsgebiet bezogenenen Forschung liegen im Wesentlichen bei der Frage nach der Aufteilung des »medical marketplace« unter akademischen Ärzten und anderen Heiltätigen (s. z. B. Pelling/Webster [1979]  ; Wear [1989]) und der Untersuchung epistemologischer Konzepte wie der ab dem 16. Jahrhundert in gedruckten Fallsammlungen auftauchenden »experience« als Resultat von »practice« (s. z. B. Wear, Andrew  : Explorations in Renaissance Writings on the Practice of Medicine, in  : Wear/French u. a. [1985], S. 118– 45  ; Siraisi [2001]  ; Pomata [2010]). Daneben stehen Untersuchungen, die in bereits erwähnter Manier die theoretische Ausrichtung eines praktizierenden Arztes rekonstruieren  : s. z. B. Baader, Gerhard  : Jacques Dubois as a Practitioner, in  : Wear/French u. a. (1985), S. 146–54  ; Bresadola (2011). 27 S. Kienig (2007), S. 302–03. 28 So auch Stolberg (2014), S. 635  : »Historians have so far paid very little attention, however, to the actual practical exercise of medicine on an everyday basis and to the various practical skills a physician had to master at the bedside.«  ; ebenso Stolberg/Dinges (2016), S. 1  : »To this day, we know remarkably little, however, about the daily lives and routines of typical, ordinary physicians.«  ; Nance (2001), S. ix.

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dern auch praktizierenden Arztes des 17. Jahrhunderts im Alten Reich zu entwerfen  : vom Erlernen, Auf- und Ausbauen einer eigenen Praxis über ihre gesellschaftliche Einbettung und ökonomische Tragfähigkeit bis hin zu ihrer Funktion als Ort des Behandelns, des Wissensgewinns und der Wissensvermittlung.

Quellen Das Quellencorpus ist verhältnismäßig groß und vielfältig.29 Den Ausgangspunkt und Kern der Untersuchung bildet Johannes Magirus’ Praxistagebuch, sein Diarium, das er im November 1647 begann und bis April 1656 führte.30 Es enthält Aufzeichnungen aus seiner Zeit in Berlin, in Zerbst und wenige Einträge aus Marburg. Die hier abgebildeten Ortswechsel machen die Quelle besonders wertvoll, da die Einträge erlauben, Rückschlüsse auf den Einfluß äußerer Faktoren auf die Praxis zu ziehen. Doch auch abgesehen von dieser Besonderheit unterschiedlicher Abfassungsorte stellt das Diarium eine wichtige Quelle dar, da es sich um ein direkt aus der täglichen Praxis hervorgegangenes Manuskript handelt und für das 17. Jahrhundert noch kein gleichartiges Dokument aus dem Alten Reich systematisch bearbeitet wurde. Da deswegen für viele Ergebnisse eine Einordnung nicht möglich schien, wurde zum Vergleich eine Teilauswertung des ebenfalls als Manuskript vorliegenden, zeitlich parallelen Praxistagebuches des Arztes Johann Heinrich Bossen aus Helmstedt (1620–1673) vorgenommen.31 Der Nachlaß des Johannes Magirus in der Marburger Universitätsbibliothek besteht neben dem Diarium aus einem fast 700 Seiten starken Band handschriftlicher Loci Communes,32 vier Notizbüchern, deren Inhalt Magirus’ Interessen in ihrer ganzen Bandbreite abbildet,33 und einem Buchkatalog, der nach Magirus’ Tod erstellt wurde und der 29 An dieser Stelle werden nur die von Johannes Magirus selbst verfaßten oder an ihn adressierten Dokumente besprochen  ; zu den restlichen für diese Untersuchung herangezogenen Quellen s. das beigefügte Quellenverzeichnis. 30 Das 620 Seiten umfassende Manuskript wird heute in der Abteilung »Historische Bestände« in der Universitätsbibliothek Marburg aufbewahrt  ; eine genauere Beschreibung der Quelle bei  : Dinges, Jankrift u. a. (2016), S. 303. 31 Bossens Manuskript liegt in einem Umfang von ca. 2000 Blatt in drei gebundenen Folianten in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen vor (2 Cod. Ms. Meibom 151–153). Es umfasst 22 Jahre (1650–1672), von denen für die vorliegende Untersuchung nur einzelne ausgewertet wurden (s. Kap. 2.3.2 und Kap. 3, Einleitung). Eine Gesamtauswertung ist geplant. 32 UBM, Ms. 97. An den mit einem vorangestellten alphabetischen Register ausgestatteten Loci wird besonders deutlich, daß sich Magirus für sein Diarium der Aufzeichnungspraxis der Gemeinplatzsammlungen bediente  ; zu Inhalt und Struktur dieser Loci s. auch Schlegelmilch (2013), bes. S. 189–96  ; Stolberg (2013c), S. 42, 48–50 (mit Abb.)  ; Hess/Schlegelmilch (2016), S. 27–28. 33 UBM, Ms. 95  : eine von Magirus’ zweitem Schwiegervater Samuel Czaplinius angefertigte Mitschrift einer Vorlesung des Petrus de Spina aus dem Jahr 1616, deren freie Seiten Magirus für den zweiten Teil seiner Geschichte des englischen Königshauses nutzte (der erste Teil befindet sich am Ende des

Quellen

die in den Besitz der Universitätsbibliothek übergehenden Restbestände seiner Bibliothek auflistet.34 Anhand verstreuter Einzeldatierungen läßt sich erschließen, daß außer dem von einer anderen Hand verfaßten Katalog alle hier genannten Manuskripte aus der gleichen Zeit stammen wie das Diarium, also aus den Jahren zwischen 1648 und 1656.35 Warum sich in Magirus’ Nachlaß gerade diese Auswahl aus diesem Zeitraum erhalten hat (sie allein wird auch im besagten Katalog verzeichnet), ist nicht mehr zu klären.36 An handschriftlichen Quellen liegen zudem aus den Beständen verschiedener Archive und anderer Bibliotheken 31 Briefe von bzw. an Johannes Magirus selbst vor.37 Magirus publizierte zwar relativ viel, aber stets nur in kleinem Format. Seine gedruckten Schriften waren hauptsächlich auf den Unterricht ausgerichtet und/oder gingen aus diesem hervor  : Es handelt sich im einzelnen um sechs kleine Handbücher zur Fortifikation, Geometrie, Astronomie und den Physica, fünf ausführliche Beschreibungen seiner Kollegien sowie sechs Dissertationen, bei denen er als Praeses fungierte.38 Diese Diarium  ; ab S. 620 rückläufig bis S. 541, Schriftspiegel um 180° gedreht)  ; Ms. 103  : Exzerpte zur chinesischen Sprache, zu religiösen Themen und mythischen Königinnen  ; Ms. 391  : Mehrere zusammengebundene Schriften, darunter Kometenbeobachtungen, ein Kalender von 1634, ein astrologischer Traktat, alles versehen mit handschriftlichen Notizen  ; Ms. 392  : Neben eingebundenen Druckseiten auch Notizen zu Universitätsangelegenheiten, Exzerpte zur hessischen Geschichte und theologischen Fragen, Briefabschriften, astronomische Berechnungen, eine ramistisch strukturierte hebräische Grammatik. 34 UBM, Ms. 664, mit Bleistift eingetragene Datierung »1697«. Daß es sich bei dem 240 Titel umfassenden Katalog nicht um die gesamte Bibliothek des Johannes Magirus handeln kann, zeigt die Tatsache, daß z. B. gerade von den Werken Daniel Sennerts, dessen Namen Magirus unentwegt im Munde führte, nur noch einzelne Bände vorhanden sind und daß außerdem mehrere im Diarium häufig zitierte Werke gänzlich fehlen. Es ist anzunehmen, daß ein Teil der Bücher von den Erben zu Geld gemacht wurde, denn der Katalog zeigt einen Restbestand von auffällig vielen zu Magirus’ Marburger Zeit bereits veralteten Werken aus dem 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts und Kleinschriften. Wohin die Bibliothek im einzelnen verstreut wurde, ist nicht mehr nachvollziehbar  ; ein Band wenigstens ging zurück in seine Heimatstadt Frankfurt/Oder und liegt heute, mit Magirus’ Besitzeintrag, in der Universitätsbibliothek Wrocław  : http://www.bibliotekacyfrowa.pl/dlibra/docmetadata  ?id=26085 (letzter Zugriff  : 12.12.2017). 35 Lediglich Ms. 392 enthält zusätzlich Notizen, die bis in die 1690er Jahre hinaufführen. 36 Neben dem Katalog existiert in einer Akte des hessischen Geheimen Rates eine Liste mit D. Magiri Manuscripta  : Zu welchem Zweck sie angefertigt wurde, ist nicht mehr ersichtlich. Sie nennt neben den erhaltenen Handschriften elf weitere Bände Loci Communes (davon zwei in Folio, sieben wie die erhaltenen in Quart und einen in Duodez, der mit Ms. 103 identisch sein könnte)  ; drei weitere Diaria in Quarto und eines in Duodez  ; vier Bände Mathematica in Quarto, die eine Vielzahl einzelner Traktate enthalten, u. a. zu Themen der Geschichte, Ethik und Politik  : s. Anhang, Text 5. 37 Zu den besitzenden Institutionen s. das Quellenverzeichnis. Hier nicht aufgelistet ist ein Brief von Johannes Magirus an Philipp Müller (Ratsschulbibliothek Zwickau, ZZZ IV 5, Johannes Magirus an Philipp Miller [  !], Zerbst, IX. Kal. Mai. 1654), der 2011 im Bestand nicht mehr auffindbar war. 38 S. zu den hier besprochenen gedruckten Quellen das Quellenverzeichnis. Die Dissertationen werden als eigenständige Texte des Johannes Magirus gewertet, da die Statuten der Universität Marburg festlegten, daß der Präses die Thesen selbst ausformulierte  : s. Ulrich Rasche  : Die deutschen Universitäten und die ständische Gesellschaft. Über institutionengeschichtliche und sozialökonomische Dimen-

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Schriften besitzen für die vorliegende Untersuchung einen hohen Quellenwert nicht nur im Hinblick auf die Fachgeschichte der behandelten Einzelgebiete selbst. Sie gewähren auch Einblick in die Prinzipien und Methoden der damaligen Wissensvermittlung sowie Magirus’ Verständnis der medizinischen Mathematik, der Mathesis Medica. Sie werden ergänzt durch die noch erhaltenen Vorlesungsverzeichnisse aus Magirus’ Marburger Zeit. Die Werke anderer Autoren, die Magirus neu herausgab, zielten ebenfalls auf ein studentisches Publikum  : Er aktualisierte Daniel Sennerts Methodus medicinam discendi durch eine Kommentierung und machte sie dadurch letztlich zu einer Anleitung für das Medizinstudium bei ihm selbst  ; die Teilausgabe von Abdias Trews Nucleus Astrologus, die sich auf dessen Text zum Nativitätenstellen beschränkte, gab seinen Studenten eine Rechtfertigung dessen an die Hand, was er sie lehrte  ; mit seiner Übersetzung von Frans van Schotens Trigonometrie sowohl ins Deutsche wie ins Lateinische machte er einen Grundlagentext für seinen eigenen Mathematikunterricht zugänglich.39 Daneben veröffentlichte Magirus 26 Jahre lang, von 1646 bis 1672, einen Jahreskalender mit astronomischen Berechnungen (»Alter und Neuer Schreib-Calender«) sowie eine astrologische Jahresvorschau (»Prognosticon Astrologicum«). Von 1670 bis 1672 steigerte er seinen jährlichen Ausstoß um einen zusätzlichen Kalender (»Pest- und ansteckender kranckheiten Cur- wie auch Tugendt-Calender«), der ebenfalls von einer Vorschau begleitet wurde (»Prognosticon und Practica«). Über die in diesen Reihen veröffentlichten Texte versuchte Magirus, ein breites Publikum zu erreichen und über seine Vorstellungen von Medizin und Astrologie, aber auch über den Wert von Chymie und Diätetik zu belehren. Diese inzwischen vollständig digital vorliegenden Reihen40 bieten als Quelle nicht nur Einblicke in Magirus’ Praxis (oder wie er sie gesehen haben wollte), sondern bilden durch die zahlreichen Widmungstexte auch das höfische Beziehungsgeflecht ab, innerhalb dessen der Arzt seine Etablierung betrieb. Die Breite und Vielfalt dieser Quellenbasis erlaubt eine Analyse ganz unterschiedlicher – und sich genau darum zu einem insgesamt recht vollständigen Bild der ärztlichen Praxis fügender – Aspekte.

Methodische Überlegungen Der Titel dieser Monographie benennt mit »Praxis« und »Raum« bereits die beiden Konzepte, an denen sich diese Untersuchung methodisch ausrichtet.41 Gerade die Kombinasionen von Zeugnissen, Dissertationen und Promotionen der Frühen Neuzeit, in  : Müller, Rainer A. (Hg.)  : Bilder – Daten – Promotionen. Studien zum Promotionswesen an deutschen Universitäten der frühen Neuzeit (Stuttgart 2007), S. 150–273, hier S. 190 mit Anm. 97. 39 Die lateinische Version erfuhr verschiedene Auflagen bis ans Ende des Jahrhunderts  : s. Quellenverzeichnis. 40 http://zs.thulb.uni-jena.de/servlets/solr/find  ?qry=Magirus+ (letzter Zugriff  : 12.12.2017). 41 Als Beispiel einer früheren Operationalisierung raumtheoretischer Überlegungen für ein medizinhistorisches Themenspektrum vgl. den Sammelband »Medikale Räume«  : Eschenbruch/Hänel/Unterkir-

Methodische Überlegungen

tion praxeologischer und raumtheoretischer Überlegungen erweist sich als sehr hilfreich für die Beschreibung dessen, was uns in den vorliegenden Quellentexten als ein zunächst sehr breites Themenspektrum entgegentritt und sinnvoll gebündelt sein will. Denn der große Anteil an Ego-Dokumenten im analysierten Corpus birgt die Gefahr, unbewußt die Engführung aller Informationen im Stile älterer Forschung zu wiederholen, allein auf die Konstruktion einer Figur hin, die wegbereitend für einen nicht näher definierten Fortschritt der Medizin verstanden werden kann. Zielführend kann folglich nur eine Perspektive sein, die von einer reinen Akteurzentriertheit abrückt. »Die Rede von der niedergelassenen Arztpraxis ist ein feststehender Terminus«, stellt Christiane Schachtner in ihren einleitenden Worten zu einer Definition des Begriffes »Praxis« fest und rekurriert damit auf eine – für den deutschsprachigen Raum – spezifische Alltagserfahrung der Gegenwart, auf die sich ihre eigene Untersuchung dann auch bezieht.42 Dieser in unsere Gegenwart eingebettete Sprachgebrauch unterscheidet sich jedoch sehr von dem der Frühen Neuzeit. Die zeitgenössischen Quellen dokumentieren, daß der Begriff der Praxis im Verlauf der Jahrhunderte offensichtlich eine erhebliche Umdeutung bzw. Neubesetzung erfahren hat, deren Hintergründe wohl einen aufschlußreichen Forschungsgegenstand der historischen Semantik, v. a. im europäischen Vergleich, darstellen dürften.43 Wenn Johannes Magirus in seinen Texten davon sprach, daß er bei einem »vornehmen Practico die Praxin lernet«44 oder auch seinen Lehrer Sennert zitiert, ein junger Arzt müsse erst die »Praxin« beobachten, bevor er selbst zu praktizieren beginne,45 so verwendete er den Begriff stets handlungsorientiert, niemals in der Bedeutung einer geographisch verortbaren Größe. »Praxis« muß ausgehend vom Sprachgebrauch der zeitgenössischen Quellentexte also zunächst verstanden werden als das Handeln eines Arztes, und zwar im Sinne einer Summe aller von ihm im Kontext einer Behandlung ausgeübten Praktiken.46 Die auffällige Abweichung im heute etablierten, umgangssprachlichen Gebrauch – »Praxis« also als fester Ort, zu dem sich Kranke begeben, weil (nur) dort ihre medizinische Versorgung praktiziert wird – führt umgehend zur Frage nach dem ihm zugrunde liegenden Raumbegriff  : Nach raumtheoretischer Terminologie wäre diese heutige cher (2010)  ; hinsichtlich einer praxeologischen Perspektive auf Arztpraxis s. die als Beitrag zum breiten Spektrum an »Praktiken der Frühen Neuzeit« angelegte Vorstudie zum Folgenden  : Schlegelmilch (2015). 42 Schachtner (1999), S. 25. Schachtner interviewte Ende der 1990er Jahre Ärzte und Ärztinnen in Deutschland mit der Zielsetzung, aus ihren Schilderungen des Patientenkontakts die Genese ärztlicher Praxis zu beschreiben (S. 13)  ; sie kam zu dem Ergebnis, daß sie das ihnen begegnende Krankheitsgeschehen mittels lebensweltlicher Metaphern strukturieren, um das Vorgefundene versteh- und behandelbar zu machen (S. 18). 43 S. auch Dinges/Stolberg (2016), S. 1. 44 S. Zitat in Kap. 4.1.1., Amsterdam (1639–1640). 45 S. Zitat in Kap. 4.1.1., Thorn & Wittenberg (1631–1635). 46 Schachtner beantwortet die Frage »Wie konstituiert sich ärztliche Praxis  ?« ebenfalls mit einer solchen Engführung auf einen von Arzt und Patienten definierten Handlungsraum, beschränkt sich bei der Beschreibung des Handelns aber auf das metaphorische Sprechen  : s. Schachtner (1999), S. 13.

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»Arztpraxis« ein absoluter Raum, ein sogenannter container.47 Michel de Certau betonte zwar in seiner Abhandlung zu »Praktiken im Raum«, daß solch ein verorteter Raumbegriff auch dem Handeln einen Platz einräumen müsse  : »Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.« Gleichwohl kam aber auch seine Definition nicht ohne eine physisch festgelegte Räumlichkeit aus.48 Wenn die frühneuzeitliche Praxis nun aber keinen solchen festen Ort kennt, sich nicht »niederläßt«, wie kann man sie theoretisch greifen  ? Ich möchte das hier vorgestellte ärztliche Handeln mit einem Raumbegriff verbinden, wie Pierre Bourdieu ihn unter der Bezeichnung »sozialer Raum« definiert hat49 und Martina Löw ihn im Hinblick auf eine stärker »handlungstheoretische Konzeption« weiterentwickelte.50 Die bei Löw stärker zutage tretende Schnittstelle mit der praxeologischen Perspektive51 halte ich für wichtig  ; die wesentliche Frage besteht letztlich darin, ob man bei der Beschreibung eines Gegenstandes jeweils der Rolle von Akteuren und Gütern oder aber der konkreten Interaktion zwischen diesen in sozialen Prozessen mehr Bedeutung zumessen möchte. Diese wahlweise Akzentuierung ist nicht als arbiträr zu verstehen, sondern verhindert gerade bei der Betrachtung von »Praxis« innerhalb der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft eine zu einseitige Darstellung. »Ärztliche Praxis« kann nicht ausschließlich als Beschreibung des ärztlichen Be-Handelns verstanden werden, sondern muß in einem erweiterten Verständnis ärztlichen Handelns das soziale Handeln des Arztes in seiner Gänze betrachten. Gerade für die hier betrachtete Zeit nämlich, die in hohem Ausmaß von einem gottgewollt-hierarchischen Verständnis von Gesellschaft ausging und demgemäß gleichermaßen ritualisierte Standeskonventionen im Bereich der Repräsentation hervorbrachte,52 mußte soziales Verhalten in seiner Gesamtheit auf die ärztliche Praxis zurückwirken. Ein Arzt des 17. Jahrhunderts, der an den Sonntagen nicht zur Predigt erschien, keine standeskonforme Kleidung trug und Honoratioren und/oder Landesherren nicht huldigte, wäre vermutlich, unabhängig von seinem tatsächlichen Können, nicht sehr erfolgreich gewesen.53 Seine Akzeptanz als Arzt hing gleichermaßen von gesellschaftlicher wie von professioneller 47 Zur Geschichte und Definition des »absolutistischen« Raumbegriffs s. Löw (2001), S. 24–30, 63. Im Folgenden wird der Begriff der »Arztpraxis« gebraucht, wenn kontrastierend auf die heutige Wahrnehmung rekurriert werden soll, »Ärztliche Praxis« dagegen steht immer im Kontext des sozialen Raums. 48 S. De Certau, Michel  : Praktiken im Raum (1988), Wiederabdruck in  : Dünne/Günzel (2006), S. 343–53, hier bes. S. 345 mit konkretem Beispiel  : »So wird zum Beispiel die Straße, die der Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwandelt.« 49 S. hierzu v. a. die gleichnamige Vorlesung »Sozialer Raum und ›Klassen‹«  : Bourdieu (21991). 50 S. Löw (2001), S. 132. 51 Die hier vorgelegte Untersuchung orientiert sich hinsichtlich praxeologischer Fragestellungen hauptsächlich an den Grundlagentexten von  : Reckwitz (2003)  ; Reichardt (2007)  ; Füssel (2011)  ; Alkemeyer (2013), Freist (2013). 52 S. Füssel (2011), S. 37  ; ders. (2015), S. 130–33. 53 S. Dülmen (21999), Bd. 2, S. 184 zu gesellschaftlichen Darstellungskonventionen der Frühen Neuzeit  ; s. auch Freist (2015), S. 158  : »Nicht der Anspruch auf Zugehörigkeit führt zur Teilhabe und Anerkennung […], sondern die erfolgreiche performative Verkörperung und Ausführung sozialer Praktiken […]«.

Aufbau der Darstellung

Kompetenz ab, da anders als heute, wo durch die Differenzierung von Beruf und Freizeit ein unverbundenes Nebeneinander sozialer Beziehungen zweier Lebenswelten möglich ist,54 die Praxis des Arztes stets unter dem Einfluß all seiner Gruppenbezüge stand. »Skillful performances«55 in verschiedenen Bereichen waren nicht in dem Ausmaß voneinander zu trennen, wie es heutzutage der Fall ist  : Höfisches Benehmen (oder Fehlverhalten) konnte über Erfolg und Mißerfolg einer Praxis entscheiden, konfessionelles Bekenntnis über den Praxisort. Bei der Konzentration auf das eigentliche ärztliche Handeln (im Sinne einer Ausübung medizinischer Be-Handlung) ist dann wieder eine verstärkt praxeologische Perspektive sinnvoll – zum einen, da schon die Natur des hier ausgewerteten Quellentextes, eines Praxistagebuchs, diese Schwerpunktsetzung einfordert, zum anderen, da eine praxeologische Betrachtungsweise bezüglich des Wissens, das hinter diesem ärztlichen Handeln steht, die etablierte Dichotomie von Theorie und Praxis überwinden kann.56 Dieser Ansatz scheint sinnvoll, um von der üblichen Darstellung eines Mediziners zu der eines Arztes zu gelangen.

Aufbau der Darstellung Die vorliegende Untersuchung zielt somit darauf, Johannes Magirus, einen praktizierenden Arzt des 17. Jahrhunderts, als ein mit seiner Umwelt auf vielfache Weise interagierendes Mitglied der vormodernen Gesellschaft zu beschreiben, statt ihn im Stile älterer Studien als souveränen Vollstrecker medizinischer Theorie zu glorifizieren. Folgende theoretische Schwerpunktsetzungen leiten dabei in den einzelnen Kapiteln die Darstellung entlang zentraler Begriffe der Praxis- und Raumtheorie  : Kapitel 1  : Johannes Magirus (1615–1697) Pierre Bourdieu definierte den sozialen Raum vorrangig als einen Raum von Positionen, die einzelne Akteure einnehmen können, da sie über bestimmte Kapitalien verfügen.57 Der wichtigste Aspekt an dieser Beschreibung ist, daß zugleich mehrere Akteure in den Blick genommen werden, deren Beziehungen zueinander relational sind.58 Um diesen 54 S. Clark (2006), S. 6–7 zu der Verschiebung der Grenzen von Privatheit und Öffentlichkeit in der Zeit der Aufklärung  ; s. auch Dülmen (21999), Bd. 2, S. 116  ; Brändle/Greyerz u. a. (2001), S. 4  ; Daston/ Sibum (2003), S. 3. 55 Zu diesem Begriff s. Reckwitz (2003), S. 290  : »Eine Praktik – sei es eine der administrativen Verwaltung oder der künstlerischen Tätigkeit – ist immer als eine ›skillful performance‹ von kompetenten Körpern zu verstehen«  ; Kompetenz bemißt sich hierbei daran, in welchem Ausmaß eine Handlung für die soziale Umwelt verständlich und sinnvoll ist  : s. ebd. 56 S. Reckwitz’ Kritik an der »Intellektualisierung« von sozialen Räumen, die größtenteils durch alltägliches, inkorporiertes Handlungswissen gestaltet werden  : Reckwitz (2003), S. 291  ; s. auch Schachtner (1999), S. 26. 57 S. Bourdieu (21991), S. 10–11  ; zum Begriff des Kapitals s. u. (zu Kapitel 2). 58 S. Löw (2001), S. 156.

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methodischen Vorteil nicht von vornherein zu verspielen, wird im ersten Kapitel zwar vorrangig eine Positionsbestimmung des einen Akteurs Johannes Magirus vorgenommen (da die vorhandene Quellenlage dies konkret ermöglicht), dies geschieht jedoch bewußt nicht in der Form eines chronologischen Lebenslaufs, der letztlich im Stil älterer Arzt-Biographien die vorhersagbaren Stationen eines vermeintlich zielstrebig verfolgten akademischen Lebens in der Frühen Neuzeit nachzeichnen würde.59 Vielmehr wird die ständische Gesellschaft der Frühen Neuzeit in Anschluß an Marian Füssel als »relationale Gesellschaft« verstanden und auch sichtbar gemacht, indem nämlich mit dem Fokus auf soziales (Aus-) Handeln die große Zahl an autoreferentiellen Texten, die Johannes Magirus verfaßte, als Produkt einer spezifischen, auf andere Akteure des sozialen Raums ausgerichteten Praktik verstanden wird60 – Johannes Magirus schrieb sich, im wahrsten Sinne des Wortes, eine soziale Position zu. Die Ergebnisse der Autobiographieforschung zu frühneuzeitlichen Ego-Dokumenten scheinen einen solchen Ansatz geradezu zu fordern, denn sie verweisen darauf, daß es für Individuen der voraufgeklärten Zeit offensichtlich charakteristisch war, das eigene Selbst über das schriftliche Formulieren von Gruppenbezügen zu konstruieren.61 In Magirus’ Fall lassen sich mit der Gelehrtenwelt, dem Fürstenhof und der durch ihre Tätigkeit definierten Gruppe der Kalendermacher gleich drei solcher Bezugssysteme62 herausarbeiten, gegenüber denen er so um die Akzeptanz seiner gesellschaftlichen Identität rang  ;63 erst diese Akzeptanz ermöglichte ihm schließlich seine Positionsbestimmung auch als Arzt.64 In diesem Kontext scheint der Vorschlag der neueren Bourdieu-Forschung bedenkenswert, hinsichtlich des Auftretens einer Person und ihres Interagierens mit anderen Akteuren des sozialen Raums von einem dominanten »Grundhabitus« auszugehen (in Magirus’ Fall  : der Gelehrte) und sodann von sekundären Habitus, die nur in bestimmten Relationen zum Tragen kommen (hier  : Hofmann  ; Astrologe).65 Der Habitus des frühneuzeitlichen Arztes würde sich entsprechend zusammensetzen aus dem Grundhabitus des 59 Die innerhalb der verschiedenen Kapitel behandelten biographischen Informationen sind zur zusätzlichen Orientierung in einem tabellarischen Lebenslauf im Anhang zusammengeführt. 60 S. Buschmann (2013), S. 139  : »Autobiografische Quellen als soziale Praxis zu begreifen, würde dann gar nicht bedeuten, sie als unmittelbare Repräsentationen menschlicher Auffassungen und Einstellungen zu lesen, sondern den Akt des Schreibens als gesellschaftliches Handeln im Kontext sozialer Netzwerke zum Gegenstand der Beobachtung zu machen«  ; zu diesem Vollzug von sozialer Konstruktion »in actu« s. Reichardt (2007), S. 47  ; Füssel (2015), S. 118. 61 S. die Darstellung der Diskussion in der Einführung zu Kapitel 1. 62 Übersetzt in Bourdieus Terminologie wäre von »Feldern« zu sprechen  : zum Begriff des Feldes s. u. (zu Kapitel 3). 63 Zu eben diesem »Ringen«, wie es bei Johannes Magirus zu beobachten ist, s. Bourdieu (21991), S. 19. 64 Dieser von Magirus aus der Wahrnehmung sozialer Beziehungsnetze und konkreter Wissensbestände konstruierte medikale Raum stellt hinsichtlich der Raumkonstitution eine »Syntheseleistung« dar  : s. Löw (2001), S. 159. 65 S. Saalmann, Gernot  : Die Positionierung von Bourdieu im soziologischen Feld, in  : Rehbein, Boike/ ders./Schwengel, Hermann (Hg.)  : Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen. Probleme und Perspektiven (Konstanz 2003), 41–57, hier bes. S. 56.

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Gelehrten und jeweils individuell verschiedenen anderen Habitus, die er situativ stärker oder schwächer in den für ihn relevanten sozialen Beziehungen zum Ausdruck brachte. Kapitel 2  : Die »Arztpraxis« Während sich das erste Kapitel schwerpunktmäßig mit den Akteuren des sozialen Raumes und ihrer Interaktion auseinandersetzt, wird im zweiten Kapitel eine Ergänzung des Modells um die ebenfalls wichtigen räumlichen Einflußfaktoren Ort und Kapital vorgenommen. Martina Löw betont, daß auch bei einem primär handlungszentrierten Raumverständnis (wie es im ersten Kapitel zum Tragen kommt) der physisch reale Ort nicht gänzlich vernachlässigbar ist, ja sogar als einflußnehmender Faktor selbst an der Raumkonstitution beteiligt ist.66 Daß eine frühneuzeitliche »Arztpraxis« keinen festgelegten Wirkort kannte, bedingt, daß das ärztliche Handeln überall dort, wo es ausgeübt wurde, zeitweise eine »Arztpraxis« aus einem bereits vorhandenen Ort schuf, also ihn im Sinne einer Foucault’schen Heterotopie temporär umwandelte  : Die Stube wurde im Krisenfall zum Krankenzimmer.67 Die Gesamtheit all dieser Krankenzimmer, die sich über einen für den jeweiligen Arzt bewältigbaren Handlungsradius verteilten, konstituierte eine dezentrale »Arztpraxis«, wie sie für die Frühe Neuzeit charakteristisch war.68 Die Interdependenz von Ort und Raum zeigt sich ebenfalls als wichtiger Faktor, betrachtet man nun Johannes Magirus’ verschiedene Praxisorte, und mit welchem Erfolg (oder auch Mißerfolg) er die Etablierung seiner Position dort, in Interaktion mit Akteuren vor Ort, vollziehen konnte  : Wenn bspw. ein dominanter Kollege vor Ort alle potentiellen Patienten band, mußte er für eine Erweiterung seiner Praxis an einen anderen Ort ausweichen  ; hatte er sich mit den Ratsherren einer Stadt angelegt, mußte er dort seine Praxis aufgeben, auch wenn sie lukrativ war  ; war die Iatromathematik ein Alleinstellungsmerkmal seiner ärztlichen Behandlung, mußte er sich einen Ort mit der Klientel suchen, die dieser ärztlichen Leistung Relevanz zumaß – und sie bezahlen konnte. An dieser Stelle rückt in den Blick, was Löw unter Güter subsumiert und Bourdieu in verschiedenen Erscheinungsformen als Kapital (zuweilen auch  : Machtmittel) bezeichnete.69 Zunächst ist hier seine feinere Differenzierung verschiedener Kapitalarten 66 S. Löw (2001), S. 272  : »Die Konstitution von Raum bringt systematisch Orte hervor, so wie Orte die Entstehung von Raum erst möglich machen.« 67 S. Focault, Michel  : Von anderen Räumen (1967)  : »Heterotopien besitzen die Fähigkeit, mehrere reale Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen.« (zitiert nach Dünne/Günzel [2006], S. 324). Ein weiteres Beispiel für die temporäre Existenz eines medikalen Raumes zeigt Andreas Golob  : Schule und Gesundheit im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, in  : Eschenbruch/Hänel/Unterkircher (2010), S. 81–106. 68 Für andere Gegenstände der Medizingeschichte mag hingegen die feste Verortung und damit eine Priorisierung des absoluten Raumbegriffs ein geeigneteres Beschreibungsmodell sein  : s. Bremberger, Bernhard  : Sanitätsbaracken, Polenstationen und Ausländerkrankenhäuser. Orte der Ausgrenzung erkrankter ausländischer Zwangsarbeiter, in  : Eschenbruch/Hänel/Unterkircher (2010), S. 65–80. 69 S. Bourdieu (21991), S. 10–11.

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hilfreich,70 um die in hohem Maße auf Repräsentationsarbeit ausgerichtete frühneuzeitliche Gesellschaft in ihren Ausdrucksformen faßbar zu machen  :71 daß es, wie bereits im ersten Kapitel exemplarisch zu sehen ist, soziales Kapital gab wie einen bekannten Familiennamen (Magirus)  ;72 kulturelles Kapital wie habituelles (Akademiker-)Verhalten oder einen Doktortitel  ;73 symbolisches Kapital wie Standesehre oder die Aussage eines Gelehrtenporträts74 – oder eben auch (und dies ist bei aller Analyse des Symbolcharakters von Praktiken und Gütern nicht zu vernachlässigen) die ›harten‹ Prämissen ständischer Existenz, die ökonomischen Ressourcen, deren Akquisition und Einsatz in diesem Kapitel einer genaueren Betrachtung unterzogen werden.75 Die ärztliche Praxis im Sinne einer »organisational and economic unit of the health care system«76 war erst dann erfolgreich, wenn sie dem praktizierenden Arzt nicht nur ein Überleben, sondern eine angemessene ständische Repräsentation ermöglichte.77 Denn ein Arzt wurde nicht nur als Arzt identifiziert, weil er in »skillful performances«78 gegenüber dem Behandelten den wissenden Gebrauch von Instrumenten demonstrierte, sondern auch, weil er andere, standesgemäße Besitztümer handhabte,79 die ihn als einen Heiltätigen aus dem Gelehrtenstand kennzeichneten.80 Diese konnten in enger Verbindung mit dem ökonomischen Vermögen seiner Praxis stehen, aber als »Ausdrucksformen des Lebensstils« auch unabhängig davon zu präsentieren sein.81 Zu trennen sind all diese Kapitalformen nicht  ; sie sind den Ak-

70 Löw faßt die verschiedenen Kapitalarten Bourdieus unter dem Begriff »soziale Güter« zusammen (bestehend aus »materiellen Gütern« und »symbolischen« Gütern)  : s. Löw (2001), S. 153. Sie verallgemeinert dementsprechend Bourdieus Beschreibung des sozialen Raumes – »Die soziale Stellung eines Akteurs ist […] zu definieren anhand seiner Stellung innerhalb der einzelnen Felder, das heißt innerhalb der Verteilungsstruktur der in ihnen wirksamen Machtmittel« (Bourdieu [21999], S. 10) – zu »Raum ist eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern«  : s. Löw (2001), S. 154. 71 S. Weller (2011), S. 15–16  ; Füssel (2015), S. 130–33. 72 Zum Begriff des sozialen Kapitals s. Bourdieu (2015), S. 63–69  ; einen »berühmten Familiennamen« bezeichnet er als »ererbtes Sozialkapital«  : ebd., S. 67. 73 Zum Begriff des kulturellen Kapitals s. Bourdieu (2015), S. 53–63  ; der Habitus wäre als »inkorporiertes« Kulturkapital zu verstehen (ebd., S. 56), der Doktortitel als »institutionalisiertes« (ebd., S. 61). 74 Symbolisches Kapital wird verstanden als sozial »wahrgenommene und als legitim erkannte Form« der anderen Kapitalarten, »gemeinhin als Prestige, Renommee, usw. bezeichnet«  : s. Bourdieu (21991), S. 11. 75 S. Füssel (2011), S. 44  : »[…] der frühneuzeitliche Gelehrte lebte nicht nur vom symbolischen Kapital, das sein Talar gewährt, sondern auch von einem Gehalt oder einer guten Heiratspolitik usw.«. 76 Dinges/Stolberg (2016), S. 1. 77 S. die Definition der Subsistenzökonomie bei  : Sokoll (2011), S. 1–7, hier S. 5. 78 S. Anm. 55. 79 S. Weller (2011), S. 8. 80 S. Füssel (2009), S. 248–60  ; s. auch Freist (2015), S. 170–71  : »Im Umkehrschluss führen falsche Gebrauchsweisen oder eine Verweigerung der Dinge, sobald diese Teil routinisierter Handlungsverläufe geworden sind, zu Irritationen bis hin zu Nichtanpassungen im sozialen Feld oder zur Subversion.« 81 Füssel (2011), S. 32.

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teuren stets zugleich notwendig.82 Exemplarisch wird Bourdieus Vorstellung der zwischen ihnen immerwährend ablaufenden Kapitalumwandlung83 in diesem Kapitel in die relativierende Betrachtung des in der medizinhistorischen Forschung wirkmächtigen Konzepts vom »medikalen Markt« eingebracht  : Nicht nur der ökonomische Aspekt verdient hier Beachtung, sondern mindestens in gleichem Ausmaß der Kampf um soziale Identität (Bewahrung der Standesgrenzen) sowie kulturelles Kapital und dessen Institutionalisierung (höhere Stellung der akademischen Ärzte gegenüber unstudierten Heiltätigen). Kapitel 3  : Die »Ärztliche Praxis« Die ersten beiden Kapitel entwickeln entlang der Kernbegriffe der Raumtheorie Akteur – Kapital  – Relation – soziales Handeln – Ort eine Beschreibung des sozialen Kosmos, in den die »Ärztliche Praxis« eingebettet ist. Dagmar Hänel und Alois Unterkircher stellen nun für medikale Räume, gleichermaßen mit Blick auf alle beteiligten Akteure, fest  : »Medikale Räume fordern bestimmte Verhaltensweisen und unterdrücken andere.«84 Dieses Kapitel benennt mit Magirus’ diagnostischem und therapeutischen Handeln solche Verhaltensweisen, die den hier untersuchten medikalen Raum (nämlich den, der durch sein Praktizieren entsteht) strukturieren. Dabei diktiert die Quellenlage,85 daß fast ausschließlich das Handeln des ärztlichen Akteurs sichtbar gemacht werden kann und nur in Einzelfällen und flüchtig ein (Re-)Agieren der Be-Handelten aufscheint. Die theoretische Schwerpunktsetzung verschiebt sich damit gleichsam automatisch hin zu einer mehr praxeologischen Perspektive auf das vorliegende Material  : Nun geht es um den »repetitiven Alltag«,86 um Routine und das ihr innewohnende, inkorporierte Handlungswissen,87 das Know-how.88 Routine wiederum kann nur als Spiegel des von ihr Abweichenden festgestellt werden.89 Magirus’ Aufzeichnungen, die seine alltägliche Praxis dokumentieren, 82 S. Bourdieu (2015), S. 50. 83 S. Bourdieu (2015), S. 70–75. 84 Hänel, Dagmar/Unterkircher, Alois  : Zur Verräumlichung des Medikalen, in  : Eschenbruch/Hänel/ Unterkircher [2010], S. 7–20, hier S. 12  ; vgl. Löw (2001), S. 163  : »Die Räume zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin sind geregelt.« 85 Das Kapitel basiert auf einer genauen Analyse des von Johannes Magirus hinterlassenen Praxistagebuches und seinem Pendant aus der Hand des Arztes Johann Heinrich Bossen (s. u.). 86 Löw (2001), S. 161. 87 Bei Bourdieu (2015), S. 59 »inkorporiertes Kulturkapital«  ; bei Löw (2001), S. 161 »praktisches Bewußtsein«. 88 S. Reckwitz (2003), S. 289  : »Die Praxistheorie begreift die kollektiven Wissensordnungen der Kultur nicht als ein geistiges ›knowing that‹ oder als rein kognitive Schemata der Beobachtung, auch nicht allein als die Codes innerhalb von Diskursen und Kommunikationen, sondern als ein praktisches Wissen, ein Können, ein know how, ein Konglomerat von Alltagstechniken, ein praktisches Verstehen im Sinne eines ›Sich auf etwas verstehen‹«. 89 Zum Begriff der Abweichung (in Abgrenzung zu dem der Veränderung) s. Löw (2001), S. 185  ; die praxeologische Definition von sozialer Praxis beinhaltet beides, »die Mischung aus Gewohnheit und Reflexion, aus Repetitivität und kultureller Innovativität bezeichnet die Verwicklung menschlicher Handlungen« (Reichardt [2007], S. 48).

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umfassen zwar mit knapp siebeneinhalb Jahren eine Zeitspanne, die repetitive Muster als solche erkennen läßt, es zeigte sich jedoch gleichzeitig bei einer ersten Auswertung, daß bereits seine Ortswechsel deutliche Veränderungen in seinem Handeln bedingten. Daher war es notwendig, diese Quelle mit einer gleichartigen – dem Praxistagebuch eines anderen Arztes aus dem Alten Reich derselben Zeit (Johann Heinrich Bossen, 1620– 1673)90 – sowie der Norm gedruckter medizinischer Fachliteratur zu kontrastieren, um zum einen herausarbeiten zu können, welche Praktiken überhaupt – mit Blick nicht nur auf diesen einen Arzt, sondern das Handeln von Ärzten im untersuchten Zeitraum an sich – als routiniertes bzw. abweichendes Handeln bezeichnet werden dürfen  ; zum anderen, wie sich die tatsächliche ärztliche Praxis zu der von den normativen Texten postulierten Handlungsroutine verhält.91 Was ein Arzt tat, was er unterließ, wie oft er etwas tat, ob und wie er sein Handeln im Lauf der Zeit modifizierte – erst in dieser Zusammenschau verschiedener Quellen lassen Frequenz, Präsenz bzw. Fehlen bestimmter ärztlicher Praktiken die individuelle Struktur der jeweiligen Praxis hervortreten.92 Bei der Umsetzung medizinischer Theorie in die praktische Handhabung von Objekten (Instrumenten wie Harnglas, Blutschale etc.)93 und den zielführenden Umgang mit kranken Personen (Anamnese, Therapie) stand der Arzt dabei stets auf spezifische Weise in Interaktion mit seiner Umwelt, die ihn dementsprechend als kompetenten Vertreter seines Faches wahrnahm.94 Mitgedacht muß bei der Beschreibung dieser Strukturen des medikalen Raumes die Möglichkeit konkurriender Positionierungen hinsichtlich anderer Räume des sozialen Kosmos sein  : 95 Ein Kranker mag in einem von ärztlichem Handeln dominierten Raum in einem Abhängigkeitsverhältnis zum behandelnden Arzt stehen, dessen durch spezifisches Wissen bedingte (Macht-)Position spiegelt sich jedoch auf gesellschaftlicher Ebene nicht zwangsläufig identisch wider, sollte der Kranke etwa ein akademischer Kollege oder ein

90 S. die wesentlichen Informationen zu Johann Heinrich Bossen und seinem Praxistagebuch, den Ephemerides, am Beginn des Kap. 3. 91 Untersuchungen zu anderen Themen der Frühen Neuzeit haben bereits die Diskrepanz von Norm und Praxis aufgezeigt  : s. Füssel (2015), S. 121. 92 Zur »strukturierenden Kraft« gerade des gewohnheitsmäßigen Handelns s. Reckwitz (2003), S. 294  ; Reichardt (2007), S. 47. 93 Die praxeologische Perspektive will die »Marginalisierung von Artefakten« aufheben  : s. Reckwitz (2003), S. 285  ; Alkemeyer (2015), S. 64. 94 Zur Subjektivierung durch wissendes Handeln im Bezug auf Mensch und Ding s. Reckwitz (2003), S. 290  ; Freist (2013), S. 161–62. Gerade im Hinblick auf die ärztliche Praxis und den sie bestimmenden Umgang mit verschiedenerlei Körpern – lebendigen wie dinghaften – trifft der von der praxeologischen Forschung verwendete Begriff der »skillful performance« zu  : s. Schlegelmilch (2015), S. 101–07. Zum Aspekt einer sich gleichermaßen auf Menschen wie gegenständliche Welt beziehenden Interaktion in der ärztlichen Praxis s. auch Schachtner (1999), S. 30. 95 Bourdieu bezeichnet verschiedene Räume des sozialen Kosmos (Mikrokosmen) auch als Dimensionen (Bourdieu [21991], S. 11) oder Felder  : s. die Zusammenfassung bei Füssel (2005), S. 194.

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einflußreicher Fürst sein. Es zeigt sich hier, inwieweit auch die von Bourdieu formulierte Autonomie parallel existierender Mikrokosmen als relativ zu verstehen ist.96 Kapitel  4  : Praxis-Wissen Hinsichtlich Bourdieus apodiktischer Feststellung »Verkörpertes Kulturkapital bleibt immer von den Umständen seiner ersten Aneignung geprägt«97 bleibt bislang die Frage offen, wie das ärztliche Know-how im 17. Jahrhundert denn eigentlich angeeignet wurde. Praktiken der Wissensorganisation in Lese- und Schreibprozessen sind für die Frühe Neuzeit wiederholt untersucht worden  ;98 aber wie muß man sich die Aneignung von Handlungswissen vorstellen, für das mitunter nicht einmal eine Übersetzung in eine normative Theorie vorlag  ? Das sich auf Handlungsebene als nicht mehr reflektierte Routine ausdrückende, unbewußte Wissen darum, wie ein Arzt bspw. eine Körperstelle betasten mußte, ein Uringlas gegen das Licht hielt oder wie er ein formal korrektes Rezept ausschrieb, deutet auf einen ärztlichen Habitus, der ebenso wenig wie jeder andere aus dem Nichts entstand.99 Es mußte auch hier einen Sozialisationsraum geben, in dem er unter Anleitung und in Imitation erlernt werden konnte. Diese Vermittlungssituation stellte das Kernkonzept klinischer Lehre dar, wie sie frühneuzeitliche Medizinstudenten im Rahmen ihrer als ständisches Ritual etablierten peregrinatio academica an ausländischen Universitäten suchten. Die vorliegende Quellenlage erlaubt es, die Überschneidung gesellschaftlicher, gelehrter und ärztlicher Sozialisation während Magirus’ eigener akademischer Reise sichtbar zu machen  ; eine Besonderheit ist, daß in seinem Fall die Umwandlung einer spezifischen Prägung, die er in diesem Kontext in den Niederlanden erhielt, in einen Innovationswillen gegenüber den in seinem ursprünglichen Sozialisationsgebiet (Altes Reich) etablierten Strukturen beobachtet werden kann, mit dem Ziel einer Institutionalisierung von auf ärztliches Know-how ausgerichteter Lehre. Der Untersuchung der praxisorientierten Kollegien, die Magirus im Gebiet des Alten Reiches anbot, muß deswegen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden  : Zum einen perpetuierten sie als eigener Sozialisationsraum der nächsten Generationen junger Ärzte den ärztlichen Habitus, zum anderen begegnen hier außergewöhnlich deutlich die Reflexion und Aufwertung von Alltagspraktiken.

96 S. Füssel (2011), S. 38. 97 Bourdieu (2015), S. 57. 98 S. z. B. Blair, Ann  : Reading strategies for coping with information overload ca 1550–1700, in  : Journal of the History of Ideas 64 (2003), S. 11–28  ; Krämer, Fabian  : Ein papiernes Archiv alles jemals Geschriebenen. Ulisse Aldrovandis Pandechion Epistemonicon und die Naturgeschichte der Renaissance, in  : NTM – Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin N.S. 21/1 (2013), S. 11–36  ; Stolberg (2013c). 99 Füssel (2015), S. 122 weist zu Recht darauf hin, daß »die allermeisten empirischen Habitusgeschichten den Habitus in seiner fertigen, gewissermaßen ausgebauten Form« beschreiben, obwohl man hinsichtlich dessen Genese stets von einer »gelernten Lebensweise« (Algazi 2007) ausgehen sollte.

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Eng mit dieser Vermittlung von Handlungswissen ist die Frage verbunden, wie eben dieses Wissen überhaupt entstand. Handlungstheoretische Modelle betonen, wie bereits erwähnt, die Auflösung der Dichotomie von Theorie und Praxis in der Beschreibung eines Handlungswissens, das im ärztlichen Tun noch dazu in einer besonderen Form des »wissenden Könnens«, einer technē, vorliege.100 Jedoch verbleiben Studien, wenn von historischer ärztlicher Praxis die Rede ist, oft auf der Ebene einer Wiedergabe von Krankheitstheorien. Praxis wirkt dann wie ein nicht faßbarer Raum, in dem sich Theorie auf irgendeine mysteriöse, sich einer näheren Beschreibung entziehenden Weise von selbst materialisiert.101 Am Beispiel einer spezifischen ärztlichen Praktik aus Magirus’ Handlungsrepertoire, der Blutschau, läßt sich dagegen entwickeln, wie der Arzt medizinische Theorie in ein diagnostisches Verfahren übersetzte, das in verschiedener Hinsicht auch der Konstruktion seiner ärztlichen Identität diente. Auch hier wird wieder die Funktion des Habitus als Handlungsscharnier zwischen Praxis und Struktur sichtbar  ;102 er ist bei der Betrachtung von Wissensgenese unbedingt zu berücksichtigen. Denn als inkorporiertes Verhaltensschema leitete er nicht nur das Vorgehen des Arztes in Behandlungssituationen und bei gesellschaftlichen Auftritten, sondern ebenfalls bei dessen vermeintlich wissenschaftlich-objektiver Erkenntnisarbeit. Der Umgang mit empirischem Erfahrungswissen, der experientia, war von den unbewußten Wahrnehmungs- und Deutungsschemata des ärztlichen Habitus geleitet, wie sie Ludwik Fleck als »Denkstil« beschrieb.103 Ausgehend von all diesen Überlegungen basiert diese Monographie auf dem folgenden Denkmodell  : Die »Ärztliche Praxis« der Frühen Neuzeit, hier exemplarisch für das 17. Jahrhundert vorgeführt, generiert und strukturiert einen medikalen Raum, in dem der Arzt als Akteur aufgrund seines kulturellen Kapitals (medizinisches Fach- und Handlungswissen) eine gegenüber den Patienten dominante Position vertreten kann. Die Positionen, die die Akteure in diesem Mikrokosmos einnehmen, sind jedoch nie identisch mit denen, die sie in anderen Räumen ihrer sozialen Welt einnehmen, wo sich andere Kapitalverteilungen manifestieren (der Arzt als Bittsteller bei Hofe  ; der Patient als Fürst). Diese anderen Räume können mit konkreten Verortungen korrelieren (anderer Praxisort), müssen es aber nicht (Standesregeln). Ihr Einfluß auf den medikalen Raum fordert von dem frühneuzeitlichen Arzt eine partielle Übertragung von Regeln aus einem Raum in den anderen, ärztliches Handeln ist auch unter diesem Aspekt soziales Handeln. Dementsprechend sind ärztlicher Habitus und die Habitus anderer gesellschaftlicher Räume nicht scharf voneinander abzugrenzen, obgleich der ärztliche Habitus als für das Praktizieren 100 Schachtner (1999), S. 26  ; 61. 101 S. Schachtner (1999), S. 61. 102 Die beiden Bezugspunkte sind bereits in Bourdieus frühester Definition des Habitus als »­ Erzeugungsund Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen« enthalten  : Bourdieu, Pierre  : Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (Frankfurt/M. 1979), S. 165. 103 So schon Füssel (2005), S. 193.

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unabdingbares inkorporiertes Handlungswissen gleichwohl eines eigenen Sozialisationsraums (peregrinatio  ; klinische Lehre) bedarf, in dem Erfahrungen gemacht werden können, die im ärztlichen Alltag zur Gewohnheit werden müssen.

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1. Johannes Magirus (1615–1697)

Johannes Magirus sprach gern über sich selbst. Er hinterließ der Nachwelt aufgrund dieser Mitteilungsfreude einen großen Fundus autoreferentieller Information, deren zeitlicher Bezugsrahmen fast das gesamte 17. Jahrhundert umspannt. Der größte Teil dessen, was man nach heutigem Forschungsstand über ihn wissen kann, findet sich in seinen eigenen Texten, beruht also auf Selbstzeugnissen, meist in Form von Kalendertexten und Widmungsbriefen, von denen einige auch autobiographischen Charakter besitzen.1 Ein Quellenbefund dieser Art ist naturgemäß zweischneidig. Zum einen gewährt er einen umfangreichen Einblick in Magirus’ Aktivitäten und Beziehungsnetze  ; zum anderen aber nur in das, worin er Einblick gewähren, und in der Perspektive, unter der er es betrachtet haben wollte. Vergleichsquellen anderer Provenienz, die Magirus’ Selbstdarstellung korrigieren könnten, fehlen größtenteils. Die von ihm verfassten Texte denken die Öffentlichkeit, an die er sie richtet, stets mit  ; abgesehen also vom schieren Umfang der in diesem Fall vorliegenden Information gleicht die Situation in etwa der, als wollte man sein Leben allein auf der Grundlage einer Leichenpredigt darstellen, die den Werdegang des Verstorbenen exemplarisch vorstellt,2 wie es in der Frühneuzeitforschung oft genug auch geschieht. Die auf Magirus gehaltene Leichenpredigt, und damit seine zum Lebensende hin »offizielle« Vita, ist im übrigen trotz der inzwischen weit vorangeschrittenen Erfassung dieser Quellengattung nicht mehr auffindbar.3 Sie hätte wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit die bereits vielfach erzählten Stationen eines frühneuzeitlichen Akademikerlebens nachgezeichnet  : Johannes Magirus wurde am 27.11.1615 in Joachimsthal geboren, als Sohn des Tobias Magirus, Professor der Logik an der Viadrina, und der Anna Krumcrüger, Tochter des Bürgermeisters von Angermünde. Er wurde von Privatlehrern unterrichtet, besuchte von 1631 bis 1635 das Gymnasium Illustre in Thorn, studierte danach ein Jahr in Wittenberg 1 Einige wenige dieser Quellentexte müssten nach der Sprachregelung der jüngeren AutobiographieForschung freilich eher als Ego-Dokumente denn als Selbstzeugnisse betrachtet werden (zur Definition s. Krusenstjern [1994], S. 469–70  ; [1999], S. 145–46  ; s. dagegen aber Amelang [2007], bes. S. 130–31  ; Velten [2010] 46–48). Zu ihnen gehört ein ausführliches biographisches Gedicht, das Johannes Magirus zwar nicht selbst geschrieben, dessen Inhalt er aber dem Verfasser vorgegeben und das er in einer eigenen Publikation abgedruckt hat  : s. Anhang, Text 3  ; hierzu  : Schlegelmilch (2012), S. 405–08. Daneben stehen zahlreiche biographische Einzelinformationen, die Magirus nicht um ihrer selbst willen, sondern im Kontext wissenschaftlicher Beweisführung anführte  ; Krusenstjern schließt solche Äußerungen ausdrücklich aus den Selbstzeugnissen aus  : s. Krusenstjern (1994), S. 464. 2 Die Parallele zwischen den Viten-Texten der Leichenpredigten und dem autobiographischen Schreiben, wie Magirus es praktiziert, ist tatsächlich insofern gegeben, als diese Viten meist noch zu Lebzeiten von den später Verstorbenen zusammengestellt wurden  : s. Krusenstjern (1999), S. 141. 3 Daß es eine Leichenpredigt gab, erwähnt Strieder, Friedrich Wilhelm (1788), Bd. 8, S. 220 (»Franz Phil. Webers Trauer- und Klag-Gedancken über s. Tod«).

Johannes Magirus (1615–1697)

Medizin und Mathematik und begab sich dann von 1637 bis 1639 auf eine Studienreise, die ihn in die Niederlande, nach Frankreich und England führte. Ab 1642 praktizierte er in Berlin, 1651 wurde er Stadtarzt und Professor der Mathematik und der Physica am Gymnasium Illustre in Zerbst, und 1656 erhielt er schließlich einen Ruf an die Universität Marburg, wo er erst die Professuren der Mathematik und Geschichte, dann ab 1661 eine Professur der Medizin innehatte. Er wurde zudem Leibarzt der dortigen Landesherrin und Geheimer Rat und starb schließlich am 11.2.1697 in Marburg. Dieser biographische Rahmen ließe sich mit Detailinformationen aus Magirus’ eigenen Texten leicht zu einer ausführlichen chronologischen Darstellung seines Lebenslaufes ausbauen.4 Sie würde, wie viele solcher Biographien, die erratisch überlieferten Begebenheiten aus dem Leben eines Menschen nacherzählen und im Wesentlichen deskriptiv bleiben. Das Ziel dieser Darstellung besteht jedoch darin, sich der Person des Johannes Magirus auf anderem Weg und damit tatsächlich zu nähern. Dies ist kein leichtes Unterfangen angesichts des grundsätzlichen Vorbehalts, daß das schreibende Ich immer eine persona darstellt und eingedenk der Probleme, die der Begriff der »Individualität« für die Frühe Neuzeit ohnehin birgt.5 Meist wird er mit Denkweisen des Gefühlsbewußtseins und der Selbstreflexion verbunden, die ihrerseits ein Erbe erst der Aufklärung darstellen.6 Gabriele Jancke lieferte in ihrer Beschreibung der Autobiographie als einer sozialen Praxis einen methodischen Ansatz, der Individualität gerade nicht in der Bestimmung eines klar abgegrenzten, unabhängigen, die eigenen Handlungen im Bezug auf die umgebende Welt reflektierenden Selbst entdecken möchte. Vielmehr erklärte sie eben diese umgebende Welt zum Teil des frühneuzeitlichen Individuums  : »Frühneuzeitliche Menschen [werden] gerade als Individuen erst fassbar, wenn sie im Gegenüber zu Anderen und mit ihren sozialen Beziehungen wahrgenommen werden.«7 James S. Amelang, der autobiographische 4 S. den tabellarischen Lebenslauf des Johannes Magirus im Anhang dieser Monographie, der alle aus den Quellen rekonstruierbaren Details zusammenführt. 5 Anna Echterhölder beschreibt das Verhältnis von persona und Individualität anhand von Nachrufen auf Naturwissenschaftler (Schattengefechte. Genealogische Praktiken in Nachrufen auf Naturwissenschaftler (1710–1860) [Göttingen 2012], S. 35)  : »Bei der scientific persona geht es um die Suche nach denjenigen Arten oder Kategorien von Verhaltensmustern, wie sie sich in den Gravitationsfeldern von Institutionen und gültigen sozialen Regelsystemen formieren – nicht um die Darstellung von kernhafter, ontologisch gekoppelter Individualität«  ; s. außerdem zum Unterschied zwischen der heutigen und der frühneuzeitlichen Bedeutung von persona  : Daston/Sibum (2003), S. 2–3, sowie zur komplexen persona des Gelehrten in der Frühen Neuzeit und ihrer Außendarstellung  : Algazi (2007), S. 111–15  ; s. schließlich Jancke (2007), S. 14–18. 6 S. Brändle/Greyerz u. a. (2001), S. 4, zum Prozeß der Psychologisierung als einem Phänomen des 18. Jahrhunderts  : ebd., S. 20–24  ; s. auch Krusenstjern (1999), S. 144  ; John Jeffries Martin  : Myths of Renaissance Individualism (Basingstoke/New York 2006), S. 8. 7 S. Jancke, Gabriele  : Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum (Köln/Weimar/Wien 2002), hier S. 10–14 (Zitat  : S. 14)  ; s. auch dies. (2007), S. 21  : »Festzuhalten ist […], daß es gerade die männlichen und insbesondere die gelehrten Verfasser waren, die sich selbst in sozialen Beziehungen darstellten und im Verhältnis zu anderen definierten«.

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Johannes Magirus (1615–1697)

Texte einmal nicht von Akademikern, sondern von Handwerkern der Frühen Neuzeit untersuchte, kam zu dem bemerkenswerten Ergebnis, daß sich diese beiden in der Forschung stets separat behandelten Gruppen in ihrem Schreiben kaum unterschieden. Seine Beobachtungen zu ihren Selbstzeugnissen ähneln denen Janckes  ; auch er stellt fest, daß es ein charakteristischer Wesenszug des frühneuzeitlichen Individuums zu sein scheint, sich in erster Linie über seine Zugehörigkeit zu der umgebenden Umwelt zu definieren  :8 How personal are these documents  ? At first glance, the balance of content lies more in circumstance than self, with the outer rather than the inner life. […] To be sure, most early modern texts write less about the self than around it.

Dies sind wesentliche Einsichten, will man eine »Person« des 17. Jahrhunderts faßbar machen  : Ein »Selbst«, wie es in seiner Unabhängigkeit von der Gesellschaft für uns nach den Werten der Aufklärung positiv besetzt ist, galt dem 17. Jahrhundert als asozial, wenn nicht gar als Werk des Teufels.9 Wenn also für das frühneuzeitliche Individuum seine soziale Umwelt den dominierenden Faktor für die Definition des eigenen Ich darstellt, kommt man ihm wohl am nächsten, wenn man ernst nimmt, als was es gegenüber dieser Umwelt erscheinen möchte (und als was nicht). Ein solcher Ansatz bedeutet, die vorhandenen Quellen nicht primär unter dem Was erzählt er abzuhandeln, sondern den Fokus eher auf das Warum und, wohl am wichtigsten, das Wem zu legen. Inwieweit also erfüllte Johannes Magirus von außen an ihn herangetragene Erwartungshaltungen – oder forderte sie heraus  ? Wie wollte er von welchen Gruppierungen wahrgenommen werden  ? Welches Bild ergibt sich, wenn man die an ganz verschiedene Adressaten gerichteten Texte und ihre Wirkabsicht auf Magirus zurückprojiziert und sie in seiner Person wieder zusammenführt  ? Auf diesem Weg wird schnell deutlich, daß es Johannes Magirus nicht daran gelegen war, sich (nur) als Arzt im heutigen Sinne, also als Träger professionellen Wissens, sichtbar zu machen. Er definierte seine Person über verschiedene Kompetenzen, die ihrerseits aber wieder untrennbar mit seinem Arzt-Sein verschränkt waren. Diese Interdependenz macht auch seine spezifische Art des kommunikativen Handelns zu einem Teil seiner ärztlichen Praxis. Allein schon die sechs Texte, mit deren gleichzeitiger Publikation er im Jahr 1646 zum ersten Mal an die Öffentlichkeit trat und die hier zuerst vorgestellt werden, spiegeln 8 Amelang, James S.: The Flight of Icarus. Artisan Biography in Early Modern Europe (Stanford [CA] 1998), S. 123 (Zitat)  ; auch Jan Peters stellt eine »uns fremde, ›genossenschaftliche‹ Realisierung von Individualität« in bäuerlichen Selbstzeugnissen der Frühen Neuzeit fest  : Peters, Jan  : Wegweiser zum Innenleben  ? Möglichkeiten und Grenzen der Untersuchung popularer Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit, in  : Historische Anthropologie 1 (1993), S. 235–49, hier S. 247. 9 S. Sawday, Jonathan  : Self and Selfhood in the Seventeenth Century, in  : Porter, Roy (Hg.)  : Rewriting the Self  : Histories from the Middle Ages to the Present (London 1997) 29–48, hier S. 30. Das Einfügen in die Gemeinschaft mußte öffentlich durch Einhalten der entindividualisierenden Kleiderordnung gemacht werden  : »Seinen Stand zu verbergen, galt nicht als Bescheidenheit, sondern als Betrug«  : Dülmen (21999), Bd. 2, S. 184.

Der Gelehrte

in ihren vielfältigen Adressatenbezügen und Selbstdefinitionen die Einbettung seiner Person in ein ganzes Netz interagierender gesellschaftlicher Akteure. Im Folgenden wird es um die Frage gehen, wie mit der Gelehrtenwelt, dem Fürstenhof und den Verfechtern der Astrologie drei konkret zu benennende Adressatenkreise das Selbstverständnis des Johannes Magirus bestimmten, wie er um ihre Akzeptanz warb und inwiefern seine ärztliche Praxis in dieses Werben und Akzeptiert-Werden eingebettet war.

1.1 Der Gelehrte Die Mehrzahl der Heiltätigen, mit denen sich die Forschung bislang befasst hat, waren Gelehrte. Ihre gewaltige papierne Hinterlassenschaft und der daraus abgeleitete Eindruck ihrer dominanten Rolle im Heilwesen steht dabei in umgekehrter Relation zu ihrer tatsächlichen Bedeutung für die Gesundheitsversorgung der breiten Bevölkerung.10 Die in eben dieser Überlieferung breit dokumentierten Konflikte – um ständisch definierte Zuständigkeiten und vermeintliche Rechts- und Ehrverletzungen – führen in ihrer Aufarbeitung gewöhnlich zu Darstellungen, in denen der gelehrte Arzt mit nicht-akademischen Heiltätigen kontrastiert wird.11 Oft stellt sich bei Lektüre der Quellen der Eindruck einer rechthaberischen Empörung auf Seiten der akademischen Ärzte ein, die es in Fragen der Heilung und Gesundheit einfach per se besser wissen wollten und ihre Kenntnisse für »wahr« gegenüber den »falschen« der anderen hielten. Ihre Wertung durch die traditionelle medizinhistorische Forschung (oft auch von Medizinern betrieben) war lange eine positive, verquickten sich doch gegenwärtige standespolitische Interessen und Überzeugungen leicht mit einer die eigene Position affirmierenden Lesart der Vergangenheit, in der frühere akademische Kollegen heldenhaft gegen die Unvernunft der Welt kämpften.12 Man muß sich vor Augen halten, daß all den Konflikten zwischen gelehrten und handwerklich ausgebildeten Heiltätigen, von denen uns die Quellen berichten, eine – vermutlich ungleich größere – Anzahl undokumentierter Fälle friedlicher, wenn nicht gar kollegialer und produktiver Zusammenarbeit entgegenstand.13 Genauso wichtig ist es aber auch zu erfassen, daß selbst dann sehr verschiedene Lebenswelten und -verständnisse aufeinanderprallten. Ein gelehrter Arzt zu sein hieß, daß der dem Arzt-Sein vorgängige Habitus des Gelehrten mit all seinen reflektierten wie unreflektierten Verhaltensweisen sich mit diesem vermengte und in der Folge Teil eines ärztlichen Habitus wurde. Dieser 10 S. Jütte (1991), S. 19  ; Kinzelbach (1994), S. 289, 295  ; Stolberg (1998), S. 67  ; zu den papiernen Spuren der Gelehrten s. Nelles (2000), S. 55. 11 So analysiert bspw. Annemarie Kinzelbach einen nicht nur verbal, sondern sogar materiell ausgetragenen Konflikt, in dem ein Arzt den Schauzettel eines Chirurgen zerriß  : s. Kinzelbach (2017b). 12 S. hierzu Stolberg (1998), S. 70  ; Schlegelmilch (2017), Abschnitt  : Academic training and practical knowledge. Zu dem differenzierteren Blick der jüngeren Forschung, u. a. auch mittels des Konzepts des »medical marketplace« s. auch Kap. 2.2.2. 13 S. Kinzelbach (1994), S. 290.

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mag unterschiedlich stark ausgeprägt gewesen sein, auch je nachdem, ob der jeweilige Arzt eine universitäre Laufbahn anstrebte, die bestimmte Verhaltensweisen noch verstärkte. Handwerkschirurgen, Hebammen und andere Heiltätige lernten ihre Berufe grundständig, meist in ihren Familien und ohne vorgängiges Studium.14 Aber alle frühneuzeitlichen Ärzte hatten zuerst das Studium der artes absolviert – sie waren bereits Gelehrte, bevor sie zu Ärzten wurden.15 1.1.1 Der gelehrte Habitus

Wer im Frühjahr 1646 die in Berlin (vielleicht an der Kirchtür)16 aushängenden Anschläge musterte, stieß dort auf die Ankündigung von Privatunterricht. Auf einem engbedruckten Blatt warb hier ein gewisser Johannes Magirus wortreich für ein Collegium Practicum Mathematicum, das er im Verlauf des kommenden Jahres in Berlin abzuhalten beabsichtigte. Er bezeichnete sich in der Kopfzeile des Anschlags dabei selbst als Berliner Mathematiker und Arzt. 17 Was mir an restlichem Leben bleibt, werde ich mit Heilen, Lesen, Lehren, Schreiben verbringen, eingedenk dessen, daß ein Leben ohne die Wissenschaft der Tod ist, daß der Mensch nichts oder sicher nur sehr wenig weiß, daß es ungeheuerlich ist, was er nicht weiß. Außer den Sinus-Tafeln des Franciscus Schoten, die ich ins Deutsche und Lateinische übersetzt habe, und jährlichen Kalendern habe ich bislang nichts veröffentlicht (in diesen tadle ich eher die eitelsten Fehler der Medizin und Astrologie als daß ich irgendeinen Ruhm erstrebe – so leicht dies wäre, so lästig auch durch die Schmähungen der Mißgünstigen)  ; demnächst werde ich aber mein Handbuch herausgeben, einen mathematischen Wegweiser, ein höchst vollkommenes Werk über die Architektur, eine Kosmographie unseres Vaterlandes, ein [Werk über] mathematische Medizin und einige Zenturien ›Curationes‹ auf Latein, was alles schon in Angriff genommen ist und, wenn Jehova die Kraft und die Gesundheit gewährt, beizeiten erscheinen wird.18 14 Zur Ausbildung der Chirurgen s. Jütte (1991), S. 20. 15 S. Kap. 1.2.3. 16 Vgl. die Beschreibung Felix Platters über seinen ersten Unterrichtstag  : Platter, Felix  : Tagebuch (Lebensbeschreibung) 1536–1567, hrsg. von Valentin Lötscher (Basel/Stuttgart 1976), S. 303  : »Den 21 julii, alß ich am suntag zevor an die kirchthüren anschlachen loßen, ich wurde läsen, fieng ich im collegio in aula medicorum an zeläsen […]«. 17 »Johannis Magiri D. medici et mathematici Berolinensis Collegii Mathematici Practici […] epistolica Declaratio«  : s. Magirus, Johannes (KB2), (KB3). 18 Magirus, Johannes (KB2), Bl. A2v  : »meam quod restat, Medendo, legendo, docendo, scribendo, vitam procudo, memor eam sine literis [sic] mortem esse, Hominemq[ue] nihil aut certe perparum scire, immane, quantu[m] esse enim, quod nescit. Praeter Tabulas Sinuum Francisci Schoten Germanice & Latine redditas, & Calendaria anniversaria (quibus potius errores Medicinae & Astrologiae taxo vanissimos, quam gloriam ullam, ut re facillima, ita scommatibus malevolorum nimis quam obnoxia, ambio) nil hactenus dedi, proxime Manuale daturus meum, Scipione[m] Mathematicum, Opus Architectonicum

Der Gelehrte

Das zitierte Blatt überliefert uns die früheste Selbstdarstellung des jungen Magirus, die wir besitzen, gewissermaßen eine erste Visitenkarte.19 Er war zu diesem Zeitpunkt 31 Jahre alt, hatte seine akademische Ausbildung mit einer dreijährigen Reise ins Ausland abgeschlossen und praktizierte nun schon seit fünf Jahren in Berlin. Der Text zeigt sein Bemühen, sich gegenüber den Lesern, d. h. auch potentiellen Teilnehmern des beworbenen Kollegs, als ein in der und für die Gelehrtenrepublik, die res publica litterarum, lebender, unermüdlich nach Erkenntnis strebender Gelehrter zu präsentieren. Die Trias der akademischen Beschäftigungen (Lesen, Lehren, Schreiben) stellte hierbei einen Topos der Gelehrtencharakterisierung dar, den stilbildend schon Luther verwendet hatte.20 Sie evoziert ein Bild rastloser akademischer Tätigkeit, das Magirus mit dem Eingeständnis menschlichen Nicht-Wissens motivierte, womit er wiederum in beiläufiger Gelehrsamkeit auf die sokratische Lehre und damit auf seine eigene humanistische Bildung verweisen konnte.21 Das Heilen (medendo) aber, mit dem er die Aufzählung seiner Tätigkeiten eröffnet, gerät angesichts der im Folgenden aufgezählten Pläne beinahe schon in den Hintergrund, stünden nicht am Ende seiner Vorhaben noch die geplanten Curationes, die Publikation von Heilerfolgen. Angesichts des ausdrücklichen Hinweises, er werde sich für dieses medizinische Werk der Sprache der Gelehrten, der lingua Latina bedienen, kann man sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, als werde auch diese Beschäftigung eher dem Bereich der akademischen Tätigkeiten des Lesens, Lehrens und Schreibens zuzuordnen sein, das Heilen also vornehmlich in den geschriebenen Kuren (Curationes) stattfinden. Wen versuchte Johannes Magirus mit diesem Text zu erreichen  ? Der Aushang selbst sowie ein textidentisches Doppeloktavblättchen sind auf Latein verfaßt  ; es existiert jedoch ein inhaltlich ähnlicher Text auch noch auf Deutsch, ebenfalls in Form eines Doppeloktavblättchens,22 sowie eine gekürzte Version (ebenfalls auch auf Deutsch) auf der letzten Seite des Prognosticon, das Johannes Magirus im gleichen Jahr (als Auftakt seiner 26-jährigen Kalenderreihe) erstmals veröffentlichte.23 Auffälligerweise fehlt in den deutschen Versionen das gelehrte Selbstporträt. absolutissimum, Cosmographiam patria [sic], Mathesin Medicam & aliquot Curationum centurias Latina lingua, quae iam omnia affecta, suo, si Jehova vitam et valetudinem dederit, parebunt tempore.« 19 Magirus’ Erstveröffentlichung, der erwähnte kleine Oktavdruck der Sinustabellen (s. Quellenverzeichnis), enthält keine Vorrede oder andere Wortmeldung des Autors. 20 Luther verwendete ihn, um das intensive Bemühen um das wahre Wort Gottes zu charakterisieren  : s. u. a. Streiff, Stefan  : Novis linguis loqui  : Martin Luthers Disputation über Joh 1,14 »verbum caro factum est« aus dem Jahr 1539 (Göttingen 1997), S. 140 mit Anm. 72. 21 Magirus läßt hier beiläufig die lateinische Übersetzung der platonischen Apologie anklingen  : »Qua quidem in re plurimam reperiunt turbam hominum aliquid se scire putantium, cum aut nihil sciant aut perparum […]«  ; s. Ficino, Marsilio (1567), S. 321. 22 S. Magirus, Johannes (KB1). Der deutsche Text stellt keine Übersetzung dar, kündigt aber dieselben Inhalte an. 23 Johannes Magirus veröffentlichte von 1646 bis 1672 jedes Jahr einen »Alten und Neuen Schreibkalender« mit zugehörigem astrologischem Prognosticon, von 1670–1672 parallel einen »Pest- und ansteckender Kranckheiten Cuhr-Calender«  : s. Herbst (2008), S. 122. Ein in Breslau gedruckter »Neuer und Alter

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Zusätzlich zu diesen genannten Texten ist auch noch die Beschreibung eines auf Medizin und Mathematik ausgerichteten Kollegs (Collegium Medicum Mathematicum & Practicum) auf uns gekommen, ebenfalls von 1646, das Magirus ausschließlich auf Latein angekündigt zu haben scheint.24 Die Textgestaltung dieses kleinen Druckes wiederum erinnert, mit seiner hohen Belegdichte in den Marginalien, auf den ersten Blick eher an ein zeitgenössisches wissenschaftliches Werk als an eine Unterrichtsbeschreibung.25 All diese unterschiedlichen Kollegankündigungen von 1646 – drei auf Latein, zwei auf Deutsch – zeigen augenfällig, daß Johannes Magirus zu Beginn seiner Etablierungsbestrebungen bereits »zweigleisig« fuhr, d. h. verschiedene Zielgruppen für seinen Unterricht ins Auge gefaßt hatte und sich deren jeweiligen Erwartungshaltungen anpaßte. Die deutschen Texte weisen in die Richtung des kurfürstlichen Hofes – hiervon soll später die Rede sein. Die lateinischen Texte inklusive des Gelehrtenporträts dagegen deuten auf die universitäre Sphäre  : »[…] denn das, was die Gelehrten des traditionellen universitären Fächerkanons überwiegend, wenn nicht ausschließlich taten, kreiste um Notate, Handschriften und Drucke. Es galt, sie auszuwerten, um auf dieser Grundlage einen weiteren Text zu kompilieren und zu edieren – dann kam es darauf an, diesen revidierten Text den Kollegen wie Adepten, darunter Studenten, zu kommunizieren.«26 Mit diesen Worten fassen Alf Lüdtke und Reiner Prass den Kern gelehrter Praxis in der Frühen Neuzeit zusammen, und genau dies ist es, was in den Kollegankündigungen beschrieben wird.27 Stutzig macht allerdings, daß Magirus diese Privat-Kollegien, die gewöhnlich Komplementärveranstaltungen zu öffentlichen Vorlesungen an den Universitäten darstellten (zumal in der Medizin), in Berlin anbot, wo es zu seiner Zeit noch keine solche Universität gab. Es scheint, als habe er versucht, universitäre Strukturen um seine Person herum aufzubauen, soweit dies ohne institutionelle Bindung möglich war und gewissermaßen den Professor zu geben, obwohl er keine Professur hatte. Dies betrifft nicht nur die Kollegien, sondern auch, daß offensichtlich Studenten bei ihm wohnten, wie es in einem Professorenhaushalt üblich war  : Thomas Pancovius (1622–1665), später Leibarzt des Großen Kurfürsten und Verfasser eines Kräuterbuches (Herbarium Portabile, 1656), widmete Magirus in dessen Kalender von 1649 als Math[eseos] & Med[icinae] Stud[iosus] ein Gedicht und charakterisierte in der Unterschrift ein typisches Lehrer-Schüler-Verhältnis  : Er bezeichnete Magirus dort als seinen »großen Gönner« (fautor magnus) und »treuesten Lehrer« (manuductor fidelissimus), sich selbst als ein früheres Mitglied seines Haushaltes (σύνοικος).28 Schreibkalender« legt nahe, daß es eine gesonderte Ausgabe der Kalender für die katholischen Gebiete gab  : s. die entspr. Anm. von Herbst, http://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_jpvolume_00082968 (letzter Zugriff  : 12.12.2017). Zur Ankündigung des Kollegs s. Herbst (2009), S. 218–19. 24 Magirus, Johannes (KB4). 25 S. die Edition von KB4  : Anhang, Text 2. 26 Lüdtke, Alf/Prass, Reiner  : Einleitung, in  : dies. (Hg.)  : Gelehrtenleben. Wissenschaftspraxis in der Neuzeit (Köln/Weimar/Wien 2008), S. 1–29, hier S. 4. 27 S. dazu im einzelnen Kap. 4.3.1. 28 Magirus, Johannes (1649a), Bl. A2v.

Der Gelehrte

Abb. 1  : Widmungsgedichte eines Berliner Arzt-Kollegen, des Professorenvaters und der Medizin­ studenten. Johannes Magirus  : Alter und Neuer Schreibkalender auff das Jahr […] 1649, Bl. A2v–A3r.

Das Fehlen des universitären Umfeldes konnte jedoch, bei allem Willen zur Selbstinszenierung, von Magirus als einzelnem Akteur nicht ohne Weiteres kompensiert werden. Gelehrte waren, wie alle anderen sozialen Gruppen, stets auf andere angewiesen, die sie in ihrem Habitus bestätigten, gewissermaßen soziale Komplizen.29 Neben Pancovius traten in demselben Kalender dementsprechend noch weitere Dedikanten auf, die ihrerseits als Medizin-Studenten der Universität von Frankfurt/Oder identifiziert werden können.30 Sie hielten sich offensichtlich in Berlin auf, besuchten Magirus’ Kollegien und erstatteten ihm seinen Unterricht nicht nur finanziell,31 sondern auch in der unter den humanistisch ausgebildeten Gelehrten üblichen Währung, mit affirmierenden Preisgedichten (s. Abb. 1). Die Frankfurter Studenten trugen durch dieses gelehrte Ritual ihren Teil zu Magirus’ Etablierung bei.32 Es ist wohl kein Zufall, daß wir die erste Nachricht über Magirus’ erfolgreiches ärztliches Wirken in Berlin in einem Brief finden, der nicht an ihn gerichtet war, also nicht nach Berlin ging, sondern ebenfalls nach Frankfurt/Oder – dem Ort, aus dem seine Schüler anreisten. 29 S. auch Algazi (2003), S. 13  : »Neither could such a habitus be maintained and reproduced without others to sustain it. Self-fashioning required active accomplices […].«  ; zu der »wechselseitigen Anerkennung der in diese Praktiken verwickelten Akteure« s. Buschmann (2013), S. 147. 30 S. Schlegelmilch (2012), S. 407. 31 S. Kap. 2.4.3. 32 S. Schlegelmilch (2012), S. 406–07.

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1.1.2 Gelehrte Väter – gelehrte Söhne

Am 11. Februar 1648 verfasste Christoph Coler (1602–1658), Professor am Gymnasium in Breslau, ein Empfehlungsschreiben für einen seiner jungen Zöglinge, Christopher Blümel, und schickte es an einen Kollegen an die Viadrina  : Aus diesem Grund bitte und beschwöre ich Dich bei unserer gemeinsamen Beschäftigung mit den Musen und dem Genius Deiner offensichtlichen und allen gezeigten Menschlichkeit, daß Du Dir Gedanken machst für den jungen, armen und bislang aufgrund seines Alters und Umgangs in der Handhabung der Dinge unerfahrenen Menschen, und ihn, soviel nur möglich, Deinem äußerst vortrefflichen Sohn empfiehlst, der in Berlin, wie ich höre, die ärztliche Praxis unter großer Wertschätzung seines Namens und zum öffentlichen Wohl der Bürgerschaft ausübt, damit er vielleicht mit irgendeiner freien Unterkunft oder der Wohltat einer Erziehung versorgt werden kann.33

Adressat des Schreibens war Tobias Magirus (1586–1652), Johannes Magirus’ Vater. Dieser war 1615 als konfessionell zuverlässiger Gelehrter vom Konrektorat des Gymnasiums in Joachimsthal auf eine Professur an der Universität in Frankfurt/Oder berufen worden,34 der Stadt, in der Johannes Magirus aufgewachsen und von wo er schließlich 1641, im Alter von 26 Jahren, nach Berlin gegangen war. Tobias Magirus hatte in Frankfurt zuerst die Professur der Logik inne, trat diese aber 1625 an seinen Bruder Joachim ab und übernahm dafür in der Medizinischen Fakultät die Professur der Naturkunde (Physica).35 Daß Coler ihn und nicht seinen Sohn direkt kontaktierte (was nach den Briefkonventionen der respublica litterarum auch ohne eine persönliche Bekanntschaft mit Johannes Magirus durchaus möglich gewesen wäre), zeigt, welchen Einfluß der etablierte Vater aus der Ferne auf den Wirkort seines Sohnes ausübte. Offensichtlich war er es, der die Medizinstudenten, die er in der Physica unterrichtete, aus Frankfurt/Oder nach Berlin schickte, damit sie dort bei Johannes Magirus Kollegien besuchten. Dieses Beziehungsgeflecht bilden auch 33 BUWr, Ms. M 1571, Bl. 68v–70v  : Christoph Coler an Tobias Magirus, Breslau, 11.2.1648, hier Bl. 69v–70r  : »Quamobrem a te p[er] communia Musarum commercia et Genium obviae et omnibus expositae humanitatis tuae oro et obtestor, ut hominis adulescentis pauperis et adhuc rerum gerendarum pro aetate et usu imperiti aliquam rationem habeas, eumque Excellentissimo tuo filio Berolini, ut audio, praxim medicam cum egregia nominis sui existimatione et bono civitatis publico exercenti, quantum fieri possit, commendes, quo forte ipsi aliquo liberali Hospitio aut Paedagogiae beneficio prospici possit.« 34 Zur Schlüsselrolle sowohl des Joachimsthaler Gymasiums wie der Frankfurter Universität im Kontext der reformierten Konfessionalisierung s. Winter, Agnes  : Das Gelehrtenschulwesen der Residenzstadt Berlin in der Zeit von Konfessionalisierung, Pietismus und Aufklärung (1574–1740) (Berlin 2008), S. 124–25. 35 Die ausführlichste Vita des Tobias Magirus findet sich bei  : Becman (1707), S. 264–67  ; zu Joachim Magirus, der 1631 Frankfurt/Oder verließ und eine Predigerstelle in Danzig übernahm, s. ebd., S. 267. Zur gesamten Familie Magirus s. außerdem (Beyer 2010).

Der Gelehrte

die bereits erwähnten Widmungsgedichte des Kalenders von 1649 in ihrer Anordnung ab (s. Abb. 1)  :36 denn den poetischen Eulogien der Studenten gehen zwei Distichen des Tobias Magirus voran, in denen der Vater seinen erfolgreichen Sohn direkt anspricht  : Während du eine Stellung erstrebst, ohne Pomp und Intrige, / beklagst du, mein Sohn, die viele Kritik  ? Gutes wird alles zerpflückt  ; dies ist die Tollheit der Zeit  ; / Tu’ entweder nichts, oder tu’s schlecht, und die Kritik bleibt aus.37

Es ist zu vermuten, daß die lateinische Ankündigung des Collegium Mathematicum Practicum, von der bereits die Rede war, als Plakat auch an der Viadrina aushing. Unter dem in dieser Ankündigung abgedruckten Text finden wir das Gedicht ein zweites Mal, allerdings ohne die ersten beiden Verse. Aber auch ohne die Sohnesanrede dürfte es vor Ort in Frankfurt/Oder kein großes Rätsel gewesen sein, wer sich hinter dem Verfasserkürzel T.M.P.P.P.A.P. verbarg  : Tobias Magirus Pater Professor Publicus Academiae Physicae.38 Um seinen Gelehrtenhabitus in Berlin in der geschilderten Art und Weise inszenieren zu können, war die familiäre Verbindung nach Frankfurt für Johannes Magirus ein bedingender Faktor. Erst daß sein Vater eine Professur an der von den brandenburgischen Kurfürsten als reformierte Universität geförderten Viadrina innehatte, ermöglichte es ihm, gewissermaßen eine Dependance des gelehrten Betriebes in Berlin zu installieren. Das Renommee seines Vaters Tobias Magirus, der nicht nur in der Medizinischen Fakultät lehrte, sondern als Verfasser foliantenstarker Werke in der Tradition der Exzerptsammlungen in der Gelehrtenwelt bereits etabliert war, stützte seinen Namen. Aus diesem Grund ist der Inhalt des einmal halb, einmal ganz verwendeten Gedichtes eigentlich auch gleichgültig, es stellte vielmehr ein topisches Element dar, mit dem auf den bekannten Vater verwiesen werden konnte. Johannes Magirus war dabei nicht der einzige, der in der Phase seiner Etablierung auf familiäre Beziehungen zurückgriff. Im 17. Jahrhundert, als das Studium bereits in vielen Familien der adeligen wie bürgerlichen Stände zu einer kaum noch außergewöhnlichen Etappe des Lebenslaufes geworden war, konnte eine wichtige Komponente der Selbstinszenierung als Gelehrter sein, sich gleichsam in Nachahmung adeliger Traditionen als Sproß eines bereits anerkannten Vaters zu präsentieren und damit auch die Übertragung dieser Fähigkeiten zu implizieren.39 Thomas Bartholin (1616–1680), nur ein Jahr jünger als Ma-

36 Über die Abbildung von Beziehungsgeflechten um Johannes Magirus in der Anordnung solcher Widmungen s. auch Schlegelmilch (2012), S. 410. 37 Magirus, Johannes (1649a), A2v  : lateinischer Originaltext s. Abb. 1, linke Seitenmitte. 38 Magirus, Johannes (KB3). 39 Bereits in der frühen Geschichte der deutschen Universität spielten diese familiären Zuschreibungen eine wichtige Rolle, s. hierzu Schwinges, Rainer Christoph  : Universität, soziale Netzwerke und Gelehrtendynastien im deutschen Spätmittelalter, in  : Frank Rexroth (Hg.)  : Zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter (Ostfildern 2010), S. 47–70, hier S. 68.

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girus und nach dessen Aussage sein Studiengenosse in Amsterdam und Leiden,40 veranlasste 1645, noch während seiner Studienreise, eine Neuausgabe der Institutiones Anatomicae seines bekannten Vaters Caspar Bartholin (1585–1629). Dabei wurde dem Leser nicht nur auf dem Titelblatt mitgeteilt, daß die Ausgabe auf Betreiben des Sohnes Thomas Bartholin (ab Auctoris filio Thoma Bartholino) entstand, es erwartete ihn auch ein pompöser Kupferstich (s. Abb. 2). Er zeigt den jungen Bartholin über einem Distichon, das in ihm seine Vorfahren feiert, sowie von einem Schriftband umgeben, das einen Namenszusatz enthält, mit dem er nicht nur die Widmung des Werkes überschrieb, sondern ebenfalls die Vorrede, und zu guter Letzt diese auch noch unterzeichnete  : Casp[aris] F[ilius].41 Johannes Magirus ging, wenn auch ohne Prunkausgabe, nach demselben Schema vor. Auch er verwendete das Patronymikon, um seine Abstammung von der Gelehrtenschaft ins Gedächtnis zu rufen  ; der Verweis auf seine Abkunft ist mitunter sogar bei der Aufzählung seiner wissenschaftlichen Qualifikationen zu finden  : Joannes Magirus, M[edicinae] U[triusque] D[octor] Philosophus & Matthem[aticus] [  !], Tobiae F[ilius].42 Kay-Peter Jankrift und Ruth Schilling betonen das soziale Kapital von Familiennamen und -netzwerken als einflußreichen Faktor der Etablierung von Arztpraxen bis weit in das 19. Jahrhundert hinein43 – in Magirus’ Fall ermöglichte der Ruf seines Vaters ihm nicht nur, als Nachwuchsgelehrter in Berlin Fuß zu fassen, sondern damit auch, dort erfolgreich zu praktizieren, da, wie noch zu sehen sein wird, sein mathematisch-medizinischer Unterricht, die Hofgesellschaft und seine ärztliche Praxis untrennbar miteinander verwoben waren. Die Gelehrtheit des Vaters prägte die Texte des Sohnes. Kennzeichen aller von Johannes Magirus verfassten Manuskripte und gedruckten Texte ist die selbst für damalige Publikationen überbordende Belegdichte. Zahlreiche Marginalien rahmen hier nicht nur den Text, sie durchdringen ihn auch bisweilen aus schierer Platznot.44 Die hierfür benötigten Lesefrüchte organisierte Johannes Magirus in vielen Bänden von loci communes, für deren Anlegen sein Vater selbst in dem von ihm veröffentlichten Werk Polymnemon, seu Florilegium locorum communium einen instruktiven Text verfaßt hatte.45 Mag Johannes 40 S. Magirus, Johannes (1672), S. 93–94. In diesem Druck sind zwei Lagen mit den gleichen Seitenzahlen versehen worden, wodurch die Seiten 91–96 zweimal vorhanden sind. Die angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf das erste Blatt, das als Lage E2 gekennzeichnet ist (es folgt auch hier fälschlicherweise noch ein ebensolches zweites). 41 S. Bartholin, Caspar (1645), Bl. 1v, 2r, 3v und 6v. Der rechte untere Teil des Schriftbands zeigt die Aufschrift T[homae] Finck[ii] Nep[os] und verweist damit auf Bartholins Großvater mütterlicherseits, der bis 1654 Dekan des College of Physicians war  : s. Rose, Hugh James  : A New General Biographical Dictionary, vol. 3 (London 1841), S. 261–62. 42 Magirus, Johannes (1653b), Bl. A3v  ; s. auch Magirus, Johannes (1651b), Bl. A3r  ; Coppenius, Johannes (1652), Bl. C3a. 43 Jankrift/Schilling (2016), S. 134  : »The family ties generally provided the basic social capital available to the physician on entering the medical market«. 44 S. die zwei Abbildungen aus Magirus’ Prognosticon von 1650 und seiner Pestschrift  : Schlegelmilch (2016a), S. 163. 45 S. Magirus, Tobias (1629), Introductio. Zu Magirus’ loci communes s. Schlegelmilch (2013)  ; Stolberg

Der Gelehrte Abb. 2  : Porträt des Thomas Bartholin in den von ihm neu edierten Institutiones Anatomicae seines Vaters.

Magirus auch ganz eigene Interessen und Unterrichtsmethoden entwickelt haben, so spiegelt sich doch in seinem nicht nachlassenden Bestreben, Anknüpfungspunkte an medizinische Inhalte in den verschiedensten Wissensgebieten zu suchen (s. Abb. 3),46 ebenfalls die Gestalt des Vaters, der von Zeitgenossen als »lebende Bibliothek und wandelndes Museum« (Bibliotheca quaedam animata & Museum ambulans) bezeichnet wurde.47 Tobias Magirus, 1586 geboren, entsprach dem Gelehrten-Ideal des Polyhistors, dessen spezifische (2013c), S. 48–50. 46 Die chinesischen Schriftzeichen in UBM, Ms. 103, Bl. IIv–IIIr zeigen Magirus’ Interesse u. a. an anderen Deutungen des Sternenhimmels  ; so notiert er sich, welche Planeten welchen chinesischen Elementen entsprachen (Erde, Wasser, Feuer, Holz, Metall), exzerpierte aber auch die chinesischen Zeichen für »Schmerzen« und Verweise auf medizinische Inhalte. Eine vereinzelte Namensnennung (»Neuhoff«) und verstreute Seitenzahlen erlauben die Identifizierung seiner Quelle, einen gedruckten Bericht  : s. Neuhof, Johann (1666). Sein Interesse für Sinica steht wohl auch in Bezug zum brandenburgischen Hof  : s. Keller, Helga  : Die chinesischen Bücher der Bibliothek des Großen Kurfürsten, in  : Giersberg, Hans-Joachim/Meckel, Claudia/Bartoschek, Gerd (Hg.)  : Der Große Kurfürst  : 1620–1688  : Sammler, Bauherr, Mäzen  : Katalog d. Aust. Potsdam, 10.7.–9.10.1988, Neues Palais in Sanssouci (Potsdam 1988), S. 56–59. 47 Becman (1707), S. 265.

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Gelehrsamkeit in einer Kumulation von Wissensplätzen bestand, die er bei Bedarf abrufen und in gelehrte Rede gießen konnte.48 Johannes Magirus, der dieses väterliche Ideal kopierte, wirkte gegen Ende des 17. Jahrhunderts, wie manch einer seiner Zeitgenossen, schon etwas aus der Zeit gefallen.49 Es ist in seinem Fall auffällig, daß er die Rückbindung an den erfolgreichen Vater, anders als Bartholin, weit über den Zeitraum der eigenen Etablierung hinaus kultivierte. Noch 1691 – sein Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits seit 25 Jahren tot – beschwor Johannes Magirus in einem Brief an Karl von Hessen-Kassel sein Bild erneut herauf. Um dem Fürsten Geld für die Anschaffung von Medikamenten für Armenkranke abzuringen, erzählte er ihm eine Geschichte, in der er sein gegenwärtiges ärztliches Handeln mit dem prägenden Einfluß des Vaters begründete  :50 da ich An[n]o 1640 kurtz nach Hl. drey Könige in dem grössten frost undt tieffesten Schnee nach Frankfurt an der Oder aus frankreich, Engelland, Holland etc. zu meinem S. Vater Tobiae Magiro P.P.O. daselbsten ankommen, hat derselbe den Tomum 1 Praxeos Sennerti genommen und uff das erste ledige Blatt folgendes mit eigener hand geschrieben  : Praecepta Hippocratica […] [es folgen auf Latein fünf Zitate aus den hippokratischen Schriften mit Quellenangabe, Eigenschaften des guten Arztes betreffend] Hernach da er Anno 1649 umb Ostern tödlich kranck wahr, hat er mich lassen zu sich kommen und nach dem es sich mit ihm gebessert und ich wieder behend anher nach Berlin zurückreisen wolte, hat er unter anderm zu mir diese worte gesaget  : Wirstu dich der armen annehmen und sie umbsonst curiren, so wird dich gott zeitlich und EWig seegnen, wirstu es aber nicht thun, so wird er dich zeitlich und ewig verlassen  ; diese seind seine letzte worte gewesen, dar nach der Zeit habe ich ihn nicht mehr gesehen, viel weniger gesprochen, dan ich hernach Anno 1650 nach Zerbst beruffen worden, welcheß XIV meilen hinter berlin, daß ich also XXIV meilen von ihm entfernet ihn nicht mehr besuchen können  ; er hat es auch nicht begehret, sondern herauf mit brieffen mich erquicket.

Auf den ersten Blick schildert die Szene v. a. eine religiös-moralische Ermahnung des Sohnes durch den Vater  : Es ist Pflicht des Arztes als eines rechtgläubigen Christenmenschen, 48 So die Beschreibung bei Becman (1707), S. 265  : »Physicam amplexus fuit, in legendis vero simul, quae Ingenii eius felicitas erat, omne genus Scriptoribus, Graecis & Latinis, Theologis & Philosophis, Oratoribus, Poetis, Philologis, ne JCtis quidem & Medicis exclusis, adeo assiduus, ut quaecumque res incideret aut offerretur ad tractandum, de ea vel ex tempore vel paulum meditatus acute & copiose cumque splendore verborum diceret scriberetque, tanquam ex secretiori Musarum adyto rerum pondera & dictionis ornamenta depromens.« 49 Zur Verankerung des zugrunde liegenden Konzepts in der antiken Rhetorik und der Wandlung des Begriffes bis zum 18. Jahrhundert s. Jaumann, Herbert  : Was ist ein Polyhistor  ? Gehversuche auf einem verlassenen Terrain, in  : Studia Leibnitiana 22 (1990), S. 76–89, bes. S. 79–80. 50 S. Johannes Magirus an Karl von Hessen-Kassel  : Kassel, 23.5.1691/93 (HStAM, Bestand 5, Nr. 206  ; unter www.aerztebriefe.de/id/00036400  ; Zugriff  : 15.1.2017), S. 3–4.

Der Gelehrte

Abb. 3  : Magirus’ Exzerpt chinesischer Schriftzeichen zu Planeten- und Himmelserscheinungen. UBM, Ms. 103, Bl. IIv–IIIr.

den Armen zu helfen. Die – für den später nicht mehr nach Frankfurt/Oder zurückkehrenden Johannes Magirus – letzten Worte des Vaters, nämlich die Aufforderung zu Abkehr von Reichtum und Zuwendung zu den Armen, basieren allerdings, in gut humanistischer Tradition, auf einem antiken Text, den Praecepta Hippocratis (nicht etwa der Bibel). Tobias Magirus schreibt in der entworfenen Szene, offensichtlich auswendig, die ihm sinnfälligen lateinischen Zitate auf das Vorsatzblatt eines medizinischen Standardwerkes, das er in großer Selbstverständlichkeit aus dem eigenen Bücherregal zieht, und vergißt dabei auch den jeweils korrekten Stellenbeleg nicht. Die Übergabe des aus der väterlichen Bibliothek stammenden Foliobandes inklusive der handschriftlichen Probe väterlicher Gelehrsamkeit an den jungen Johannes, der 1640 mit der Studienreise gerade seine Studien (mit einem Doktortitel) abgeschlossen hat, versinnbildlicht die translatio eruditionis von einer Generation auf die nächste.51 Rechtgläubigkeit trifft auf humanistische, enzyklopädische 51 Zudem war die Übergabe eines Buches gewöhnlich auch Teil des Promotionsrituals, s. Füssel (2006), S. 180–86  ; Johannes Magirus evozierte mit diesem Element gewissermaßen den akademischen Ritterschlag, die Doktorwürde  : s. ebd., S. 109.

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Gelehrsamkeit – mit dieser fiktiven (?) Geschichte52 charakterisierte Johannes Magirus in der Figur des idealisierten Vaters die Eigenschaften, die er für sich selbst lebenslang in Anspruch genommen wissen wollte. Die Bilder von Vater und Sohn verschmelzen zu einer überzeitlichen Darstellung von medizinischer Gelehrsamkeit. 1.1.3 Die Gelehrten als ständisch-korporative Gruppe

Das Prognosticon des Jahres 1671 widmete Magirus der ganzen Professorenschaft der Frankfurter Viadrina. Er selbst war zum Zeitpunkt dieses erinnernden Rückblicks bereits 56 Jahre alt und inzwischen als Professor an der Medizinischen Fakultät der Marburger Universität fest etabliert.53 Seinen Widmungsbrief eröffnete er mit einem Zitat aus dem Werk des Valerius Maximus, nach dem menschliches Leben ohne das Geben und Empfangen von Freundschaftsdiensten kaum möglich sei und derjenige diesen Austausch nicht würdige, der nicht angemessenen Dank ausspräche.54 Hiermit ist die Absicht des nun folgenden Textes erklärt  : Er sollte als quid pro quo gegenüber der adressierten Gruppe verstanden werden, mit der Magirus den interuniversitären Austausch pflegte. Die rituelle Danksagung für eine hier nicht genauer genannte Gunstbezeugung (beneficium) erfolgte, aus heutiger Sicht vielleicht eigentümlich, in Gestalt eines autobiographischen Abrisses  : Welchen Exempeln wir dann billig folgen sollen, wann dann nicht allein den Meinigen, sondern auch mir in specie von der löblichsten Universität zu Franckfurt an der Oder viel gutes wiederfahren, also ist auch billich, solches Danckbarlich zu Rühmen und zu Loben, denn ich in meiner Kindheit, da ich kaum ein Jahr alt, alsbald mit meinem seeligen Vatter, weiland Professore daeselbsten nach Franckfurt kommen, welcher mir dann so bald ich ein wenig erwachsen, getreue und fleissige Praeceptores gehalten, welche mich so weit gebracht daß ich im XVI. Jahr meines alters die Hebreische, Griechische und Lateinische sprachen die Gramatica, Logica, Rhetorica, Arithmetica, Geometria und Sphaerica gekont, dazu dann auch was die Mathematica betrifft, Herrn Benjamin Ursinus Seel. weiland wohlbestellter Professor daselbsten fleissig geholffen, dem ich gedachte fundamenta zu dancken habe. Nach dem hernach mich der Krieg in Preussen getrieben, ich auch ferner zu Wittenberg der Artzeneykunst und Mathesi obgelegen, und wider An. 1636 nach Franckfurt kommen, 52 Der autobiographische Rahmen steht nicht in Widerspruch zum fiktiven Erzählen  : s. Velten (2010), S. 61  : »Tatsächlich jedoch handelt es sich nicht immer um Strategien des Fingierens, sondern um Angaben zur Lebensgeschichte, die den Verfassern zum Zeitpunkt der Niederschrift als wahr erschienen.«  ; der Autor führt als Beispiel die fiktive Familienkonstruktion in der Autobiographie des Erasmus von Rotterdam an. 53 Zur Rolle der Erinnerung bei der Konstruktion retrospektiver Lebensläufe s. Velten (2010), S. 52–53, sowie Kap. 4.3.3. 54 Magirus, Johannes (1671b), Bl. A2r  : »Dandi & accipiendi beneficii commercium sine quo vix vita hominis consistit, perdit, quisquis bene merito parem referre gratiam negligit.«

Der Gelehrte

hat mir die löbliche Universität daselbsten nicht allein gerne und willig zugelassen Mathematica Collegia zuhalten, sondern auch die Professionem Matheseos angetragen, weilen aber damals noch kein beständiger Friede, ich ferner in Franckreich, Niederland und Engeland meine Studia continuiren und verbessern wollen, habe ich mich der Orten begeben, und ferner der Artzneykunst und der Mathesi obgelegen, und da ich von dannen widerumb Anno 1641 angelanget, hat mir gedachte berühmte Universität nicht allein wiederumb erlaubet Collegia Mathematica zu halten, sondern auch die Professionem Medicam und Mathematicam freundlichst angetragen, welche aber ich nicht angenommen, weilen der Ort noch sehr verwüstet, auch vom Feinde noch besetzet, zu geschweigen der Ehre und Freundschafft die mir noch neulich von etlichen fürnehmen Herrn Professoribus daselbsten erwiesen, welche grosse Ehre, Freundschafft und hohe Beförderung, ich dann mein Lebetage nicht vergessen, sondern auch billich in dieser Dedication rühmlich gedencken und ausbreiten wollen, werde auch biß in das Grab aller Orten E. Magnif. und Excellentz solches nachrühmen und auff alle Gelegenheit zuverschulden nicht unterlassen.55

Ohne Wissenschaft kein Leben – dem Diktum seiner Kollegankündigung gemäß56 beginnt der junge Johannes Magirus auch in diesem Text erst dann zu existieren, sobald er »ein wenig erwachsen« ist, d. h. lesen und schreiben kann.57 Das Erlernen der septem artes, der Besuch der Universität, erste Lehrtätigkeit in Frankfurt sowie das Angebot einer Professur, eine Peregrinatio academica zur Vertiefung der Studien durch drei Länder, gefolgt vom Angebot gleich zweier Professuren  : Dies sind die wesentlichen Stationen des akademischen Lebenslaufs, den Magirus den Frankfurter Professoren unterbreitete.58 Inzwischen selbst Professor der Medizin, machte er den akademischen Lehrern der Universität seiner Heimatstadt das Kompliment, ihm die Rahmenbedingungen geboten zu haben zum Erwerb aller Qualifikationen, die er benötigte, um einer von ihnen zu werden.59 Sein Dank besteht in der Widmung eines weitverbreiteten Kalenders, der die Universität in Gestalt des Frankfurter Professorenkollektivs als einen Ausbildungsort bewirbt, dessen Möglichkeiten er selbst nach eigenen Worten in idealer Weise genutzt hat. Diese Botschaft war auf den Kalenderleser gerichtet  ; den Professoren von Frankfurt/Oder bedeutete der Text eine Geste, die wechselseitigen Konsens über Stand und Sozialisation ausdrückte und 55 Magirus, Johannes (1671b), Bl. A2v–A3r. 56 S. Kap. 1.1.1. 57 Wie es charakteristisch für autobiographische Texte der Frühen Neuzeit ist, thematisiert Magirus die Jugend nur im Hinblick auf »jene Lebenszeit, in der die Einübung einer gesellschaftlichen Rolle und einer Geschlechterrolle stattfindet und gegebenenfalls Kulturtechniken […] angeeignet werden«  : Brändle/Greyerz (2001), S. 7–8  ; zur formelhaften Erwähnung der frühkindlichen Erziehung s. auch Schmitz (2002), S. 240. 58 S. zur Rolle des Bildungsweges in autobiographischen Texten Gelehrter Velten (2010), S. 54. 59 S. Füssel (2006), S. 109  : »Der Titel eines Magisters oder Doktors war in erster Linie nicht Zeichen seiner wissenschaftlichen Qualifikation, sondern Zeichen seiner Standeszugehörigkeit bzw. seiner Aufnahme in einen Kreis ständisch bevorrechtigter Personen.«

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Abb. 4 a  : Cyriacus Lentulus, Professor der Philosphischen Fakultät (1620  ?–1678). Universität Marburg. Abb. 4b  : Johannes Magirus, Professor der Medizinischen Fakultät (1615–1697). Universität Marburg. Abb. 4c  : Johann Georg Crocius, Professor der Theologischen Fakultät (1629–1674). Universität Marburg.

somit eine Gruppenidentität affirmierte, an der Magirus wiederum in seiner Eigenwahrnehmung partizipierte.60 Visualisiert wurde diese Gruppenidentität nicht nur in den rituellen Zeremonien der frühneuzeitlichen Universitätskultur, sondern auch in deren symbolischen Objekten wie bspw. dem Gelehrtenporträt. Auch Johannes Magirus erhielt ein solches (s. Abb. 4b), ein 60 S. Füssel (2006), S. 418.

Der Gelehrte

Ölgemälde, nachdem ihm 1660 die Professur der Medizin an der Universität Marburg verliehen worden war. Allein sagt das Bild nicht sonderlich viel aus. Magirus trägt ein keckes französisches Bärtchen und ansonsten den üblichen sackartigen Gelehrtenmantel. Stellt man das Gemälde jedoch in den Kreis der übrigen Professorenporträts – hier ist Magirus gerahmt von den Kollegen der Philosophischen und Theologischen Fakultät seiner eigenen Amtszeit (Abb. 4a  ; 4c) – gewinnt die Konformität eine eigene Bedeutung, sie wird erkennbar als Merkmal des gemeinsamen Status und Kennzeichen sozialer Distinktion. Die aus heutiger Sicht weitgehend fehlende Individualität ist dabei nicht auf ein Defizit eines einfallslosen Künstlers zurückzuführen, sondern die Absicht eines professionellen Malers, der die gesellschaftlichen Codes beherrschte.61 Die Professorenschaft der Viadrina, die Magirus mit seinem akademischen Lebenslauf kollektiv affirmierte, dürfte in ähnlicher Uniformität von den Wänden der Frankfurter Aula geblickt haben – wie in allen Universitäten.62 Dem Betrachter sagte Johannes Magirus’ Porträt in etwa  : »Unter uns Professoren hier bin ich der Mediziner«. 1.1.4 Was der Gelehrte nicht erwähnt

Interessant ist für unser Gelehrtenporträt aber auch, was Johannes Magirus nicht mitteilte. Denn auch das Ausblenden gewisser Lebensbereiche bedeutet gleichermaßen Grenzziehungen, die ihn als erzählende Person definieren.63 Schon in Magirus’ autobiographischer Dankesnote64 wurde der Phase der Kindheit vor der einsetzenden Sozialisierung als zukünftiger Gelehrter keine Bedeutung zugesprochen  ;65 der Umzug im Säuglingsalter nach Frankfurt/Oder bot lediglich die Gelegenheit daran zu erinnern, daß der gelehrte Vater Tobias Magirus damals eine Professur übernahm. Fast nirgendwo in Magirus’ Schriften findet sich seine eigene Familie erwähnt, außer in einigen wenigen Briefen, in denen sie aber nicht um ihrer selbst willen thematisiert wird. 66 Besäßen wir nicht die Kirchenbü61 Tatsächlich zeichnete der Maler des Magirus-Porträts, Johann Peter Engelhardt, außer für die abgebildeten drei noch für 35 weitere Professorenporträts verantwortlich, mit denen er von der Universität beauftragt wurde  : s. Schnack, Ingeborg  : Beiträge zur Geschichte des Gelehrtenporträts (Hamburg 1935), S. 26–29  ; 36  ; zur Kodierung von Status in solchen Darstellungen s. Walter (2008), S. 53–54. 62 Auch nicht-universitäre Bildungseinrichtungen wie die illustren Gymnasien konnten solche Bildergalerien ihres Lehrkörpers besitzen  ; ein Beispiel ist das Gymnasium Illustre in Zerbst, wo Johannes Magirus selbst lehrte  : s. das Porträt von Marcus Friedrich Wendelin, Magirus’ Rektor, bei Münnich (1960), S. 72 mit Abb. 63 Zu den »themes emphasized or silenced« als wichtigen Hinweisen auf soziale Identität s. Amelang (2007), S. 138. 64 S. Kap. 1.1.3. 65 Algazi (2007), S. 111 nennt »die frühe Reglementierung der Kindheit« entscheidend für die soziale Reproduktion der Gelehrtenfamilien. 66 In einem Brief teilt Magirus seiner Landesfürstin untertänig die Geburt seines Sohnes Wilhelm mit  : Johannes Magirus an Hedwig Sophie von Hessen-Kassel  : Marburg, 22.10.1670 (UB–LMB, 2° Ms. Hist. litt. 4  ; Regest [S. Schlegelmilch] unter  : www.aerztebriefe.de/id/00020875  ; letzter Zu-

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cher der Gemeinden, denen er an den verschiedenen Orten angehörte, wäre sein bürgerliches Leben für uns eine Leerstelle – obwohl er zweimal verheiratet war und insgesamt neun Kinder hatte.67 In mehreren Beiträgen hat Gadi Algazi in den letzten Jahren das häusliche Umfeld der frühneuzeitlichen Gelehrten untersucht und dabei detailliert deren Abschottungsstrategien gegenüber einer sie vermeintlich belästigenden Alltagswelt herausgearbeitet. Eine Voraussetzung hierfür war die »akademische Endogamie«, d. h. daß junge Gelehrte, sobald sie einen Abschluß vorweisen konnten, Töchter anderer Gelehrter heirateten, die durch ihr Aufwachsen in einem Gelehrtenhaushalt bereits entsprechend sozialisiert waren.68 Diesem im 17. Jahrhunderts bereits fest etablierten Schema, der akademischen Variante der »geschlossene[n] Heiratskreise sozialer Inzucht«,69 folgte auch Johannes Magirus, der 1643 als erste Frau Dorothea, die Tochter des brandenburgischen Hofpredigers Johannes Bergius heiratete, eines Bekannten der Familie.70 Seine zweite Frau war die Tochter eines Arztes, was, genauso wie die Ehe mit der Witwe eines Arztkollegen, eine gängige Verbindung war.71

griff  : 12.12.2017)  ; ein fast textidentischer Brief desselben Datums an den im Ausland weilenden Wilhelm VII. von Hessen-Kassel findet sich unter derselben Signatur. In einem anderen Schreiben erfahren wir von der Schwangerschaft seiner Frau nur deshalb, weil sie – was er einem Kollegen im fachlichen Austausch unkommentiert mitteilt – unbeschadet größere Mengen Sauerwasser getrunken hat  : s. Johannes Magirus an Johann Daniel Horst, Marburg, 12.10.1660 (UBF, Senckenbergarchiv, Ms. 332, unpag.; Regest [M. Stolberg/S. Schlegelmilch] unter  : www.aerztebriefe.de/id/00018126  ; letzter Zugriff  : 12.12.2017)  ; s. hierzu Schlegelmilch (2016a), S. 164. 67 S. hierzu die Angaben in der tabellarischen Biographie. 68 Algazi (2007), S. 111  : »Ihre Frauen suchten Gelehrte unter den Töchtern von Kollegen oder Lehrern, deren relativ bescheidenes Heiratsgut sein Gegenstück in dem Einkommen ihrer gelehrten Männer fand, die von Familiensalären abhingen. Im Gegenzug fanden die kulturellen Kompetenzen der Gelehrtentöchter ihre gebührende Anerkennung bei ihren künftigen Ehemännern  ; denn die frühe Sozialisation in Gelehrtenhaushalten ermöglichte es den Frauen, an der Reproduktion des Gelehrtenhabitus teilzunehmen.«  ; s. auch Algazi (2003), S. 25 zu den Gelehrten als »intermarrying group of their own«. 69 S. die Untersuchung von Mitgau, Hermann  : Geschlossene Heiratskreise sozialer Inzucht, in  : Rössler, Hellmuth (Hg.)  : Deutsches Patriziat 1430–1740. Büdinger Vorträge 1965 (Limburg/Lahn 1968), S. 1–25  ; vgl. Schmitz (2002), S. 65–87, der entsprechende geschlossene Heiratskreise im Berlin des 17. Jahrhunderts auch für die Familien von Kammergerichtsadovkaten festgestellt hat. 70 Johannes Bergius war Professor der Theologie an der Viadrina, als Tobias Magirus dort seinen Lehrstuhl bezog  ; beide gehörten bis zu Bergius’ Weggang nach Berlin (1624) also demselben Professorenkollegium an  ; s. Becmann (1707), S. 135  ; Thadden (1959), S. 176. Dorothea Bergius’ Onkel väterlicherseits, Conrad Bergius, und Johannes’ Onkel väterlicherseits, Joachim Magirus, wurden zudem am 17.3.1624 in Frankfurt/Oder gemeinsam zu Predigern ordiniert  : s. Hering, Daniel Heinrich (1784), S. 52. Dorotheas Schwester heiratete sechs Jahre später (1649) Friedrich Becmann, der nach Joachim Magirus als ein weiterer Professor für Logik an der Viadrina lehrte – der Umkreis der Viadrina bildete also einen ganz eigenen Heiratsmarkt, wie es auch bei anderen Universitäten der Fall war. 71 S. Walter (2008), S. 38.

Der Gelehrte

Zu den Eigenheiten, die Gelehrte kultivierten und die deren Frauen dann ertragen mußten (oder vielleicht auch begrüßen durften), gehörte der völlige Rückzug aus dem familiären Bereich in das von Alltagssorgen befreite, räumlich separierte und zutrittsreglementierte Studierzimmer.72 Hier fand die gelehrte Arbeit statt, gerade in der Stille der Nacht, die insbesondere auch von Ärzten gerne zur bevorzugten Zeit des Lesen und Denkens, ihrer lucubrationes,73 nach einem anstrengenden Arbeitstag stilisiert wurde.74 Magirus erste Frau, Dorothea Bergius, war bereits in einem Haushalt aufgewachsen, von dessen Vorstand, ihrem Vater, voller Anerkennung berichtet wurde, man habe »ihn allezeit, auch bis zu Mitternacht, über Büchern« angetroffen.75 Somit verwundert auch die Zeitangabe nicht – »Sonnabends ümb zwey uhr in der nacht« –, mit der Johannes Magirus demonstrativ einen Brief versah, um seinen Fürsten, Johannes IV. von Anhalt-Zerbst, davon zu unterrichten, daß er sich in seiner beruflich so wichtigen nächtlichen Denkarbeit empfindlich gestört fühlte  :76 Wan ich dan gleichwohl bey tage meinen Patienten, deren auch unterschiedliche fürnehme in Berlin seind, aufwarten, auch anitzo für seiner Churfürstl. Durchlauchtigkeit und die Hertzogin von Braunschweig gantz rare und noch niemals adhibirte medicamenta aussinnen mus, und ich (weil sie weder mich noch den Herrn Rectorem scheuen, sondern auf diese maas uns vielmehr schimpfen, ausspotten und agiren) befürchten mus, sie möchten die zukünftige nacht es eben also treiben, und ich also von dem Saufteuffel, so sie besoffen, von meinen guten gedanken und laboribus abgehalten werden möchte, […] [so erbittet Magirus nun das Einschreiten des Fürsten, Erg. d. Verf.].

An den »guten Gedanken und labores«, die ihm nur eine ungestörte Nachtarbeit erlaubte, ließ Magirus nicht nur seine Patienten, sondern auch die Leser seiner Publikationen teilhaben. Was sie lasen, entstammte der zeitenthobenen Welt der Studierstube, die Familie, Alltag und Pflichten tatsächlich ausschloß.77 Das Ausblenden der Alltagswelt, wie es oft auch in der Korrespondenz der respublica litterarum zu beobachten ist, ist als Abbild einer idealisierten Schreibsituation zu verstehen – gerade wenn also Johannes Magirus über pri-

72 S. Algazi (2007), S. 112  ; Schmotz (2012), S. 61. 73 Erasmus von Rotterdam gab seinen 1527 erschienenen Übersetzungen des Johannes Chrysostomos sogar das nächtliche Arbeiten als Titel  : Lucubrationes. 74 S. noch die Beschreibung der nächtlichen Denkstunden bei Christoph Wilhelm Hufeland in  : Hess/ Schlegelmilch (2016), S. 11  ; s. auch Velten (2010), S. 57. 75 S. Thadden (1959), S. 178. 76 Johannes Magirus an Fürst Johannes VI. von Anhalt-Zerbst, Zerbst, 3.6.1654 (AGIZ, Akten des Gymnasium Illustre, Briefwechsel 1649–1696  ; Regest [S. Schlegelmilch] unter  : www.aerztebriefe.de/ id/00011539  ; letzter Zugriff  : 12.12.2017) sowie Schlegelmilch (2011), S. 24–25. 77 S. Algazi (2007), S. 112.

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vate Dinge nicht schrieb, nahm er den Leser mit in sein Allerheiligstes, sein auch auf den Titelblättern der Kalender abgebildetes Gelehrtenzimmer.78 Während das hier beschriebene Verhalten eher allen Gelehrten gemein war, findet sich in Magirus’ Schriften aber auch noch eine zweite Leerstelle, die ganz individuell mit seiner Biographie zu tun hat. Sie ist auffällig, weil sie eigentlich nicht zu dem bisher gezeichneten Bild paßt. Wir besitzen gleich mehrere (auto)biographische Passagen über Magirus’ Studienzeit  ; sie lesen sich wie ausführlichere Varianten idealer Ausbildungswege in zeitgenössischen Leichenpredigten. In diesen wird meist, als wesentliche Etappe der Gelehrtenkarriere und gleichzeitige Prämisse einer dann folgenden Heirat, das Erreichen des Doktortitels thematisiert. Beinahe zeitgleich mit Magirus studierte z. B. in Wittenberg der Arzt Ägidius Strauch (1610–1643)  ; er ging von dort ebenfalls ins Ausland und kehrte genauso wie Magirus zu Beginn der 1640er Jahre promoviert nach Hause zurück. In seiner Leichenpredigt – er starb bereits drei Jahre nach seiner Rückkehr – finden wir auch seine Promotion erzählt  : Weil nun die fürtrefflichen Herren Medici daselbst albereit seine stattliche Qualitäten wußten im rigoroso examine, und andern darbey ublichen tentaminibus, solche zum Uberfluß noch mehr verspüreten, so waren Sie alle frewdig un(d) willich darzu, Ihn seiner Bitte zu gewähren, und haben Ihm den 7. Aprilis 1639. mit einhelligen Schluß, großen Ehrn und Solennitêten, den gradum Doctoris öffentlich ertheilet, wie sein erlangtes Zeugnüs mit mehrern bezeuget und ausweiset.79

Etwas in dieser Art wäre nun auch in Magirus’ (auto)biographischen Texten zu erwarten. Denn wie das oben bereits besprochene Schreiben an die Professorenschaft der Viadrina80 und gleichfalls die noch zu besprechende Widmung seines Fortifikationsbuches an den Großen Kurfürsten81 zeigt, war ihm offensichtlich sehr daran gelegen, seinen akademischen Werdegang zu dokumentieren. Auch ein umfangreiches biographisches Gedicht ist erhalten, das die Stationen seiner Ausbildung bis zu seinem Wirken in Berlin in den 1640er Jahren ausführlich erzählt.82 Hier ist v. a. der Teil interessant, in dem beschrieben wird, wie er nach Abschluß seiner Studienreise durch die Niederlande wieder in seine Heimatstadt Frankfurt/Oder zurückkehrte, von der er dann nach Berlin wechselte  : Was hast du dir vor Ehre // zu Franckfurt beygelegt, mit Himmelslauffes Lehre und dann mit deiner Cur  : Die Bürgerschafft ist dir // von Hertzen huld, und liebt deßwegen auch in ihr // 78 S. Kap. 3.2.7. 79 Hoë von Hoënegg, Matthias (1643), Bl. D4r  ; vgl. auch Schnurrer (1997) zu der Leichenpredigt auf Josaphat Weinlin (1601–1662). 80 S. Kap. 1.1.3. 81 S. Kap. 1.2.1. 82 S. Kap. 4.1.2.

Der Gelehrte

den Stamm, von dem du kömmst. Du werest da geblieben, // sofern dich nicht der Krieg und Unruh weggetrieben // so Franckfurt stets betraff.83

Magirus hatte also, so lernen wir aus diesen Zeilen, bereits in Frankfurt die Iatromathematik gelehrt und auch praktiziert, verließ die Stadt dann aber wieder wegen des noch anhaltenden Kriegsgeschehens. Genauso schilderte er es auch den Frankfurter Professoren 22 Jahre später, nämlich daß sie ihm 1641 »die Professionem Medicam und Mathematicam freundlichst angetragen, welche aber ich nicht angenommen, weilen der Ort noch sehr verwüstet, auch vom Feinde noch besetzet«.84 Die bis 1644 andauernde Belagerung Frankfurts wäre dabei tatsächlich ein plausibler Grund für sein Verhalten.85 In allen drei Texten sowie in einer weiteren noch zu besprechenden Widmung,86 wird von diesem schließlichen Wechsel von Frankfurt/Oder nach Berlin erzählt – seltsamerweise wird jedoch, und hierin besteht die genannte Leerstelle, in keinem der Texte in irgendeiner Weise, trotz langer Schilderung der Auslandserfahrung v. a. in den Niederlanden, der so wichtige akademische rite de passage, die Promotion, erwähnt. Magirus schwieg sich hier vermutlich bewußt aus. Das Dekanatsbuch der Medizinischen Fakultät der Viadrina enthält nämlich für den Oktober 1640, die Zeit seines Weggangs aus Frankfurt/Oder, einen interessanten Eintrag  : Und auch das soll nicht verschwiegen werden, daß während dieses Dekanats Herr Dr. Johannes Magirus, Sohn des hochberühmten und hervorragenden Mannes, des herausragenden Philosophen und Philologen Tobias Magirus, aus Frankreich zurückgekehrt ist, wo er zum Doktor der Medizin promoviert worden ist, und sich gegen das erste Statut unserer Fakultät die Freiheit genommen hat, hier zu praktizieren. Nach Bekanntwerden dieses Sachverhalts wurde ihm bedeutet, vom Betreiben der Praxis abzusehen, bis er die Erlaubnis der medizinischen Fakultät dafür erhalten habe. Als er das hörte, ging er weg nach Berlin, um sein Glück dort zu suchen  ; wir wünschen ihm Gelingen und Erfolg.87 83 Magirus, Johannes (1650b), Bl. A2v  ; zum vollständigen Wortlaut des Gedichts s. Anhang, Text 3  ; zur Einordnung s. Kap. 4.1.2.: Leiden (1637–1639). 84 S. Kap. 1.1.3. 85 Frankfurt/Oder war bis 1644 in immer kürzerer Abfolge wechselweise von kaiserlichen, schwedischen und schließlich brandenburgischen Truppen besetzt, büßte einen Großteil seiner Einwohner und seine Stadtmauern ein  : s. Plage, Felix  : Die Einnahme der Stadt Frankfurt a. d. Oder durch Gustav Adolf, König von Schweden am 3. April 1631. Nach älteren Berichten bearbeitet (Frankfurt an der Oder 1931), S. 30–42. Berlin befand sich zu dieser Zeit allerdings auch nicht in einem besseren Zustand  : s. Kap. 2.3.1. 86 s. Kap. 1.2.1. 87 BLHA, Rep. 86, Nr. 21, S. 56–57  : »Nec illud silentio praetereundum durante hoc decanatu Dn. D. Johannem Magirum, clarissimi atque excellentissimi viri Dni. M. Tobiae Magiri Philosophi et Philologi eximii filium, ex Gallia, ubi in Doctorem Medicinae promotus fuit, domum reversum, medicinam practicam hic exercendi contra primum nostrae [Facultatis] statutum, sibi licentiam sumpsisse. Re postmodum cognita, indicatum illi est, ut abstineret a praxi donec ad eam acciperet licentiam a Facul-

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Magirus hatte also in Frankreich seine Promotion absolviert, die von der Medizinischen Fakultät seiner Heimatstadt nicht akzeptiert worden war – denn die Statuten sahen vor, daß ein nicht in Frankfurt promovierter Arzt für die Genehmigung zu praktizieren eine Summe zahlen sollte, die den addierten Prüfungskosten von Licentiat und Doktorat vor Ort entsprach (35 fl.), und noch dazu pro loco respondieren sollte.88 Vielleicht gab es darüber hinaus sogar noch weitere Konflikte mit der Medizinischen Fakultät.89 Aus diesem Grund verließ Magirus Frankfurt/Oder. Daß aber ein Sohn nicht nur der Stadt, sondern zudem noch des berühmten Tobias Magirus, eines Professors an derselben Universität, deren Aufforderung zur akademischen Qualifikation nicht nachkam, sondern in eine andere Stadt auswich, war nichts, was man gegenüber den verschiedenen Adressaten der autobiographischen Texte erwähnen konnte. Allenfalls die Promotion an einer wohlbeleumdeten ausländischen Universität hätte diesen Makel vielleicht überdecken und eine vertane Chance der Viadrina auf einen renommierten Mediziner betonen können – aber in Leiden wurde Magirus nicht promoviert und es ist sehr wahrscheinlich, daß die von ihm gewählte Universität nicht sehr bekannt war oder, vielleicht noch schlimmer, zu den »Doktorschmieden« zählte, von denen es schon im 16. Jahrhundert hieß  : »Accipimus pecuniam et mittimus stultos in Germaniam«.90 Dort zu promovieren bedeutete nicht zwangsläufig, daß man die Fachkenntnisse für die Promotion an einer renommierten Universität nicht besessen hätte. Vielmehr deutet Magirus’ Aussage,

tate Medicorum. D. iste audiens Berolinum recessit, fortunam suam ibi experturus, quam secundam et fecundam ipsi apprecamur.« 88 Nach der Quellenedition von Reh, Paul  : Die Facultätsstatuten und Ergänzungen zu den allgemeinen Statuten der Universität Frankfurt a. O. (Breslau 1900), S. 41  : »Placuit, ut doctor noviter promotus in hac achademia [  !] det pro receptione ad Facultatem medicam et ad Concilium facultatis 6 aureos. In alia autem universitate promotus volens hic assumi ad practicam et medicam facultatem pro dispensacione [  !] det tantum, quantum doctor medicine hic promotus exposuerit pro licenciatura et doctoratu, et sunt 35 fl., et respondeat honorifice pro loco.« Die Regelung, daß ein Arzt, der in einer Universitätsstadt praktizieren wollte, auch dort promoviert sein (oder ein vergleichbares Ritual durchlaufen) haben sollte, war nicht nur im Gebiet des Alten Reiches, sondern auch in anderen europäischen Ländern üblich  : s. Trevor-Roper (2006), S. 42–43  ; De Ridder-Symoens (2010), S. 50. 89 S. Kap. 4.3.3. 90 »Wir nehmen das Geld und schicken Dummköpfe nach Deutschland«  : zitiert nach De Ridder-Symoens, Hilde  : Mobility, in  : Ruegg/dies. (Hg.) (1996), S. 416–447, hier S. 433  ; die Autorin ergänzt zu diesem Zitat  : »It was common practice to sell degrees at the Universities of Orléans, Bourges, Angers, Caen, Reims and Orange to mention only the universities most frequent to foreigners.« S. auch Cunningham, Andrew  : The Bartholins, the Platters and Laurentius Gryllus  : the peregrinatio medica in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in  : Grell, Ole Peter/Cunningham, Andrew/Arrizabalaga, Jon  : Centres of Medical Excellence  ? Medical Travel and Education in Europe, 1500–1789 (Farnham/ Burlington 2010) 3–16, hier S. 9 zu Angers  : »The university of Angers, for instance, provided many Protestant English medical men with their degrees, but no one would even think of going there to learn medicine  !«

Der Hofmann

nach dem ich mich nun eine weile in Holland auffgehalten, hat der Krieg mein geliebtes Vaterland also verwüstet, das mir alle Mittel entgangen seynd, und hab ich also nothwendig müssen zu Leyden Collegia Mathematica horis succisivis eine weile halten91

darauf hin, daß er aufgrund der andauernden Kriegshändel in Frankfurt/Oder keine finanzielle Unterstützung mehr von zu Hause bekam und deswegen knapp bei Kasse war. Eine Promotion war jedoch immer mit Kosten verbunden und gerade in Leiden recht teuer, weshalb viele der dort studierenden jungen Männer für die Promotion nach Nordfrankreich auswichen. Im Jahr 1671 jedenfalls, als Johannes Magirus den Professoren der Viadrina schrieb, man habe ihn ja schon vor 30 Jahren an ihrer Universität zum Medizinprofessor berufen wollen, war der Vorfall der ausländischen Promotion und verweigerten Praxis-Lizenz bereits lange in den Akten der Universität verschwunden. Magirus konnte sich nun nachträglich in die Geschichte der gelehrten Viadrina, der Universität seines Vaters, als dessen angedachter Nachfolger einschreiben  ;92 der Rang der Adressaten, der inzwischen auch sein eigener war, ließ keinen Zweifel mehr an der nur durch den Krieg stockenden Karriere des gelehrten Arztes.

1.2 Der Hofmann Die Nähe Berlins zu Frankfurt/Oder und damit zu seinem bekannten Vater war, wie gesehen, für Johannes Magirus von großem Vorteil. Aber nicht nur in dieser Hinsicht war sein Wirkort strategisch geschickt gewählt. So weltfern sich Gelehrte auch immer inszenieren mochten, so waren Patronagebeziehungen für ihr Fortkommen doch stets von erheblicher Bedeutung, sie waren »nach oben und nach unten in hierarchische Beziehungen eingebunden«.93 Dies war schon deshalb der Fall, da die Hochschulen und illustren Gymnasien mehrheitlich fürstliche Gründungen waren und die Landesherren in Anspruch nahmen, die Besetzung der Lehrstühle zu bestimmen, zu beeinflussen oder zumindest als letzte Instanz abzusegnen. Die Universität Frankfurt/Oder stand dabei schon aufgrund ihrer räumlichen Nähe stärker im Blickfeld des brandenburgischen Hofes in Berlin/Cölln als die Universität in Königsberg. Hegte also Johannes Magirus Hoffnungen, 91 Magirus, Johannes (CP), Brief an den Leser (unpag). 92 S. auch Kap. 4.3.3. Daß ein Professorensohn seinem Vater in die gleiche Universität nachfolgte, wäre für die Frühe Neuzeit nicht ungewöhnlich gewesen  ; zu solchen »Familienuniversitäten« s. Jähnig, Bernhard  : Die Königsberger Universitätsprofessoren im 17. Jahrhundert, in  : Kulturgeschichte Ostpreußens in der frühen Neuzeit (Tübingen 2001) 337–73, hier bes. S. 346  ; s. auch Castan (1999), S. 180–81  ; Clark (2006), S. 242  ; Schmotz (2012), S. 21–22. Zeitweise waren sogar zwei Magiri, Tobias und sein Bruder Joachim, gleichzeitig Professoren an der Viadrina  : s. Kap. 1.1.2. und Clark (2006), S. 268–69. 93 S. Jancke (2007), S. 13  ; 29 (Zitat).

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doch noch an der Universität seines Vaters und in seiner Heimatstadt Fuß zu fassen, war es wohl nützlich, seinem Fürsten persönlich bekannt zu sein. 1.2.1 Ein Bewerbungsschreiben für den Fürsten

Nicht nur in seinem Schreiben an die Professorenschaft der Viadrina94 erzählte Johannes Magirus seinen Werdegang. Der Adressat des folgenden Textes gehörte diesmal nicht der akademischen Gemeinschaft an  ; es war Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620–1688), dem Magirus 1646 sein Handbuch zum Festungsbau, das Compendium Fortficatorium, widmete. Ihm schilderte er seine Ausbildung mit erkennbar anderer Gewichtung als seinen Studenten und den Professoren  : Nach dem mein Vater D. Tobias Magirus Professor zu Franckfurt gesehen, das Ich in meiner Jugend ein grosses belieben zur Medicina und Mathesi getragen, hat er mich zu dieser desto eher gehalten, weil er wol verstanden, daß sie das Ingenium zu andern studiis nicht allein capabel machte, sondern auch einem Medico sonderlich nötig währe, derowegen hat er mich im XII. Jahr meines Alters zum Herrn Ursino Professore zu Franckfurt und Churfl. Mathematico gethan, von welchem ich auch innerhalb dreyen Jahren die Arithmeticam, Geometriam und Cosmographiam, welche dann zur Medicin nötig zu wissen seyn, begriffen habe  ; Nach dem ich aber meiner studiorum halben nach Thoren ins Gymnasium bin geschickt worden, und nicht allein in meinem Vaterlande gesehen, wie die Kayserlichen solches mit allerley Schantzen befestigten, sondern auch sahe, daß man die Stadt Thorn Fortificirte, habe ich mir es einen schimpf zu seyn geachtet das ich die Fortification nicht auch können sollte, und mich also auch etwas darauff geleget, und dem Vestungs-Baw mit fleiß zu gesehen, auch hernach zu Wittenberg solches continuiret, nach dem ich aber gesehen, daß es mir hin und her mangelte, habe ich mich fünff Jahr hernach zu dem OberWachtmeister Cunitz Sr. Churfl. Durchl. zu Brandenburg Ingenieur nach Cüstrin begeben, und bey demselben eine weile mich auffgehalten, auch von demselben allerley feine Handgriffe erlernet  : so bald ich aber wiederumb nach Franckfurt kommen, bin ich von den studiosis daselbsten gebeten worden, ich möchte doch ein Collegium Mathematicum halten, welches ich dann auch gethan, und ist in grosser frequentz der Studiosorum die Cosmographie und die Fortification von mir gelesen worden  ; Ob ich gleich solche nicht zu dem Ende gelernet, das ich sie profitieren, sondern nur mich damit belüstigen wolte. Weil es mir aber hin und her in der Medicina noch sehr fehlete, hab ich mich auff die berühmte Universität Leyden begeben, da solche Kunst nebst Padua in Europa am meisten floriret, und weil gerade damaln die Belägerung Breda fürging, hab ich auch solcher eine weile beiwohnen wollen, alß der nicht content war gemahlete Batterien, Gallerien, Minen, contraminen, und Retrenchemente gesehen zu haben, Sondern solche re ipsa gern sehen wolte, nach dem ich mich nun eine weile in Holland auffgehalten, hat der Krieg mein geliebtes Vaterland also 94 S. Kap. 1.1.3.

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verwüstet, das mir alle Mittel entgangen seynd, und hab ich also nothwendig müssen zu Leyden Collegia Mathematica horis succisivis eine weile halten, (dabey ich doch der Medicina niemaln vergessen) und zwar solang, biß ich Mittel bekommen, da ich dann die Mathesin wiederum etliche Jahr an einander habe ruhen lassen, und desto fleissiger daselbsten, zu Amsterdam, im Haag, und in Engelland und Franckreich der Medicin obgelegen […].95

Hatte Magirus gegenüber den Professoren besonders betont, daß er bis zum »XVI. Jahr meines alters die Hebreische, Griechische und Lateinische sprachen, die Grammatica, Logica, Rhetorica, Arithmetica, Geometria und Sphaerica gekont« (s. o.), sind die wesentlichen Komponenten hier um die Sprachausbildung gekürzt und auf das Mathematische reduziert. Demnach stellte die Mathematik – so der Text in einer für die frühneuzeitliche Autobiographie üblichen Topik – die eigentlich wesenhafte Neigung des jungen Johannes Magirus dar.96 Wir erfahren zusätzlich, daß Magirus in Thorn das Gymnasium besucht hat,97 wobei das Wesentliche an diesem Besuch zu sein scheint, daß er dort die Befestigung der Stadt studierte – ebenso wie während seines Studiums in Wittenberg98 und bei einem Besuch in Küstrin. Nach kurzem Aufenthalt in Frankfurt/Oder, wo Magirus (hier stimmt die Schilderung mit der für die Kollegen wieder überein) Mathematikunterricht erteilte, begab er sich nach eigenen Worten nach Leiden, um seine medizinischen Kenntnisse auszubauen. Anders aber als in Peuckers biographischem Gedicht, in dem Magirus’ medizinische Ausbildung in den Niederlanden recht detailliert beschrieben wird,99 gilt sein Hauptaugenmerk hier der Schlacht von Breda (1637), bei der er die Befestigungsanlagen vor Ort in Augenschein nahm und dabei fast von einer Kanonenkugel getroffen worden wäre.100 Das Medizinstudium wird danach nur kurz über einige geographische Stationen evoziert – und ist damit auch abgeschlossen.

 95 Magirus, Johannes (CP), Brief an den Leser (unpag).  96 S. Douglas, Richard M.: Talent and Vocation in Humanist and Protestant Thought, in  : Rabb, Theodore K./Seigel, Jerrold E. (Hg.)  : Action and Conviction in Early Modern Europe. Essays in Memory of E. H. Harbison (Princeton [NJ] 1969) 261–98, S. 261–62  : »While claiming that the individual should define his work and place in the world in conformity with his inherent capacities (ingenium, natura, indoles, solertia, aptitudo, inclinatio, facultas, complexio corporis), the humanists implicitly defended a principle of utility resting upon the belief that the welfare of the commonwealth depends upon the existence of self-determined members, each of whom has chosen the course of life which best suits him or which he most enjoys pursuing.«  97 Johannes Magirus immatrikulierte sich am 5.6.1631 am Thorner Gymnasium  : s. Nowak/Tandecki (1997), S. 95.  98 Johannes Magirus immatrikulierte sich am 25.6.1635 an der Universität Wittenberg  : s. Weissenborn (1934), S. 389.  99 S. Kap. 4.1.2. 100 S. Magirus, Johannes (1669b), Bl. A3v  : »[…] mit was für grosser Gefahr meines Lebens ich diese Mathesis begriffen, in dem ich in der damals fürgehenden Belagerung Breda, in welcher ich bald in der Englischen Galleria mit einem Stück wäre erschossen worden […].«

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Mathematiker mit Kompetenz im Festungswesen und medizinischen Kenntnissen  : Gegenüber dem Fürstenhof verschieben sich die Akzentuierungen der Selbstdarstellung merklich. Die Mathematik nimmt breiteren Raum ein als die Medizin und scheint die eigentliche Visitenkarte des »Hofmannes« Magirus zu sein.101 Es dürfte kein Zufall sein, daß er dem Kurfürsten gegenüber Benjamin Ursinus (1587–1633) als seinen Lehrer in der Mathematica erwähnt, diesmal nicht nur – wie gegenüber den Professorenkollegen – als Professor, sondern auch als Hofmathematicus. In der zweiten Hälfte der 1640er Jahre konkurrierten in Berlin nachweislich verschiedene Mathematiker um diese Anstellung bei Hofe.102 Schließlich wurde nur ein Jahr nach Erscheinen des Compendium Fortficatorium Christian Otter (1598–1660) für die nicht unwesentliche Summe von 1000 Talern bestallt  ;103 er erhielt gleichzeitig an der Universität Königsberg die Professur für Mathematik.104 Otter war älter als Magirus und schon mehr gereist  ; allerdings überschneidet sich die Vita beider Männer auffällig, was ihre Aufenthalte in den Niederlanden angeht  : Sie waren zur selben Zeit in Leiden, auch Otter unterrichtete dort bereits (nämlich mathematisch-praktische Kollegien), und auch er publizierte 1646 einen Druck zur Fortifikation.105 Ab dem Jahr 1642 wurde zudem ein anderer Mathematiker, der nicht näher bekannte Christoph Friedrich Schmidt, wiederholt als Landmesser des gesamten kurfürstlichen Territoriums bestallt.106 Vor diesem Hintergrund darf man also den Lebenslauf, den Magirus dem Kurfürsten in seiner Widmung unterbreitete, wohl durchaus als ein Bemühen um eine Anstellung verstehen – nicht als Arzt, sondern als dem Hof assoziierter mathematicus. Flankiert wurde diese Bewerbung vor Ort von den bereits vorgestellten Kollegienankündigungen in Berlin sowie deren verkürzter Version in Magirus’ Schreibkalender des gleichen Jahres 1646, den er aber nicht dem Kurfürsten, sondern – wohl um die Information effektiv zu streuen – dessen Oberkämmerer, Geheimen Rat und Oberkommandierenden der brandenburgischen Festungen, Konrad von Burgsdorff, widmete.107 Zur selben Zeit machte er mit dem Schreibkalender auch überregional Werbung und verwendete sein Compendium Fortificatorium, mit einem anderen Titel und einer anderen Widmung versehen, auch gleich noch als Verlobungsgeschenk für einen anderen Hof.108 In dieser Version wurde das Buch dann dem Brautpaar Wilhelm VI. von Hessen101 Zur Abgrenzung des Hofmannes gegenüber dem negativ besetzten Bild des parasitären »Höflings« s. Müller, Rainer A.: Der Hofmann, in  : Michael Schwarze (Hg.)  : Der neue Mensch – Perspektiven der Renaissance (Regensburg 2000), S. 181–207. 102 Auch andere zu dieser Zeit erscheinende Fortifikationsschriften wurden in diesem Kontext gesehen  : s. Schierer, Heinz  : Die Befestigung Berlins zur Zeit des Großen Kurfürsten (Berlin 1939), S. 12. 103 Christian Otter wurde sogar zusätzlich zu dem bereits in brandenburgischen Diensten stehenden Johann Georg Memhardt (1607–1678) bestallt  : S. Buck (1764), Zweyte Abtheilung, S. 249–56. 104 S. Opgenoorth (1971), S. 172. 105 Ragnetanus (= Otter, P. Christian) (1646). 106 S. Bonin (1981), S. 9  ; auch Schmidt sollte bei Bedarf Pläne für Fortifikationsvorhaben vorlegen, wie seine Bestallung zeigt  : s. ebd., S. 253–54. 107 S. Kap. 1.3.1. 108 Dem Landgrafen von Hessen widmete Magirus das Werk als Janua Architectonicae Militaris (s. Quel-

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Kassel und seiner zukünftigen Frau, Hedwig-Sophie von Brandenburg, der Schwester des Großen Kurfürsten, zu Füßen gelegt.109 Auch der hessische Fürst wurde daran erinnert, daß sein Vater »allezeit gelehrte Mathematicos gehalten« habe  ; die gemeinsamen Erfahrungen in den Niederlanden, die Magirus in der Widmung an den Kurfürsten heraufbeschwor, wurden hier ersetzt durch die Erwähnung der Namen einiger adeliger Untertanen Wilhelms, deren Söhne Magirus in Leiden in seinen Collegia Mathematica unterrichtet hatte. Es war schließlich diese Umwidmung seines Fortifikationsbuches und der Kontakt nach Hessen, der sich später für ihn auszahlen sollte.110 1.2.2 Präsenz und Protektion

Daß Johannes Magirus sich nach seinem Medizinstudium nicht als Arzt, sondern letztlich als Festungsarchitekt bei Hofe bewarb, mag aus heutiger Sicht ungewöhnlich wirken. Die hier zu erkennende berufliche Flexibilität stellt jedoch für seine Zeit keinen Einzelfall dar. Sofern ihre Ausbildung nicht nach dem akademischen Abschluß übergangslos in die universitäre Lehre mündete, bildeten für Mediziner Stadt und Hof die wesentlichen Orientierungspunkte für den Einstieg in ein Berufsleben als Arzt. Die Bestallung mit festem Gehalt, entweder als Stadt- oder als Hof- oder Leibarzt, bildete dabei vielleicht ein erstrebenswertes Fernziel, war aber für den Neuankömmling meist noch ein ganzes Stück außer Reichweite. In Städten eröffneten Ärzte meist zuerst eine Praxis, mit der sie sich vor Ort bekannt machten  ; bei Gelegenheit übernahmen sie städtische Ämter – und dies durchaus nicht nur im medizinischen Bereich – und verharrten in Wartestellung, bis sich die nächste Karrierechance durch die sich im städtischen Umfeld ergebenden Kontakte entweder in ihrer oder einer anderen Stadt eröffnete.111 In Residenzstädten verdoppelten sich die Chancen auf ein Amt  : So gründete bspw. Salomon Reisel (1625–1701) im Jahr 1654 seine erste Praxis im saarländischen Ottweiler, der Residenzstadt der Grafen von Nassau, und wurde bereits ein Jahr später als Hofarzt berufen.112 So schnell wie in Reisels Fall ging es jedoch gewöhnlich nicht  ; bei Hof waren die Etablierungsprozesse ähnlich langwierig wie in der Stadt. Was Anton Schindling für junge Adelige feststellt, galt ebenso für Akademiker, die sich ein Hofamt erhofften  : »Für die Erlangung solcher […] Karrierechancen lenverzeichnis). Auch andere Autoren verwendeten als Strategie zur Karrierebildung ein Werk mehrfach, s. Gindhart, Marion  : Erhard Weigels pro-loco-Disputation in Jena über den Kometen von 1652. Ein Paradigma für die Polyfunktionalität frühneuzeitlicher Disputationen, in  : Sdzuj, Reimund B./Seidel, Robert/Zegowitz, Bernd (Hg.)  : Dichtung – Gelehrsamkeit – Disputationskultur. Festschrift für Hanspeter Marti zum 65. Geburtstag. (Wien/Köln/Weimar 2012), S. 482–510, hier 486–90. 109 S. Magirus, Johannes (IAM), Bl. (*)ii r. 110 S. Kap. 1.4.3. 111 Zu den Karrierestrategien der Stadtärzte des 16. und 17. Jahrhunderts im Gebiet des Alten Reichs s. Schlegelmilch (2017). 112 S. Bröer (1996), S. 28–29.

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war die Protektion durch den Fürsten und als Voraussetzung dafür die häufige Präsenz an seinem Hofe erforderlich.«113 Johannes Magirus nahm nach seinem Weggang aus Frankfurt 1641 seinen Wohnsitz erst einmal in Berlin.114 Das Hofpersonal jedoch wohnte in Cölln, in der Nähe des Schlosses  ; die räumliche Nähe bzw. Distanz zur fürstlichen Residenz war Zeichen sozialer Distinktion.115 Magirus war also sichtlich noch nicht bei Hofe angekommen und mußte dessen Aufmerksamkeit zuerst erringen. Seine serielle Kalenderproduktion ab der Mitte der 1640er Jahre bildet die damals den Hof bestimmende Präsenzgesellschaft ab, ohne diese explizit beschreiben zu wollen.116 Die auch hier zu findenden Para-Texte scheinen dabei als Textform geradezu symptomatisch für die eingangs beschriebene, für die Frühe Neuzeit charakteristische Art der Selbstdarstellung zu stehen. Magirus definierte sich hier selbst über die Personen, deren Beistand er nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Realität benötigte. Wie eine genauere Analyse der Widmungsreden und -gedichte der Kalender ergeben hat,117 kreiste er dabei stets um die beiden von Schindling genannten Pole  : Präsenz und Protektion.118 Er richtete zunächst seine Widmungsreden in den jährlich erscheinenden Drucken an verschiedene hochrangige Hofangehörige und betonte, wie sehr er sich bereits bestehender Gunst erfreue (und hoffe, weiter erfreuen zu können), inszenierte sich also als bereits bei Hofe eingeführt.119 Gerne zeichnete er sich als hoftauglichen Gelehrten, der die Kunst der sprezzatura beherrschte, der dem bildungsbezogenen Darstellungsbedürfnis des Adels angepaßten Gesprächsführung über wissenschaftliche Inhalte, oder, wie er sie selbst nannte, »gnädigste Discurse«.120 Erneut kommt sein Vater Tobias Magirus ins Spiel, der offensichtlich nicht nur in seiner akademischen Gelehrtheit, sondern auch in seiner Ausrichtung auf den brandenburgischen Hof ständischen 113 Schindling (2001), S. 249. 114 Sein genauer Wohnort ist unbekannt. Er unterschrieb seine Kollegankündigungen in Berlin und die Widmungsreden seiner Kalender jedoch stets mit der Ortsangabe »Berlin« und differenzierte auch bei seinen Patienten zwischen den beiden Städten Cölln und Berlin. 115 S. Schindling (2001), S. 250–51. 116 Vgl. zu diesem Echo der Gesellschaftsstrukturen in frühneuzeitlichen Gelegenheitsdrucken, Briefen und religiösen Schriften Kienig (2007), S. 302  : »Doch war die frühneuzeitliche Gesellschaft nach wie vor eine (obschon veränderte) Präsenzgesellschaft, in der zwar immer mehr an öffentlicher und politischer Kommunikation im Medium des Drucks erfolgte, diese Kommunikation aber auf Formen der Anwesenheit bezogen blieb.« 117 S. Schlegelmilch (2012). 118 Magirus steht damit exemplarisch für Christian Kienigs Beobachtung einer verschriftlichten Präsenzgesellschaft in den Texten des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit  : s. Kienig (2007), S. 302. 119 S. ebd., S. 398–400  ; s. auch Jancke (2007), S. 28. 120 Zu hoftauglicher Konversation s. McAllister, James W.: Die Rhetorik der Mühelosigkeit in der Wissenschaft und ihre barocken Ursprünge, in  : Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig (Hg.)  : Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert (Berlin 2006), S. 154–75. Zu Magirus’ »gnädigsten Discursen« und ähnlichen verbalen Kniefällen vor den Angehörigen verschiedener Adelshäuser s. Schlegelmilch (2012), S. 400–01.

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Vorbildcharakter besaß. Wenn Johannes Magirus sich für die Protektion nicht nur seiner selbst, sondern bereits seines Vaters bedankte, evozierte er eine generationenübergreifende Verbundenheit des Hofes mit seiner Familie – wie es im übrigen beinahe zeitgleich (1644) auch sein Vater in einer handschriftlichen Widmung seines neuesten Buches an den Großen Kurfürsten tat. Tobias Magirus betonte dort, daß schon der Vater des Kurfürsten sowie der Kurfürst selbst während seiner Jugendzeit die Mitglieder der Familie Magirus wohlwollend betrachtet hätten  : Embrassez sire le nom de magirus, de la clemence et douceur, dont le Tres-haut et Trespuissant Prince feu vostre Pere, et vostre altesse mesme dés l’enfance en a accoustumée […]121

Auf welche kurfürstlichen Wohltaten sich diese Aufforderung bezog, ist im einzelnen nicht mehr rekonstruierbar, an dieser Stelle aber auch nicht wichtig. Sowohl Tobias Magirus wie auch sein Bruder Joachim, Johannes’ Onkel, widmeten dem Hause Brandenburg mehr als einmal panegyrische Danksagungen.122 Joachim Magirus versah persönlich den Gottesdienst für die Fürstenkinder, Friedrich Wilhelm und Hedwig-Sophie, während ihres mehrjährigen Aufenthalts in Küstrin.123 Ein erhaltener Brief des nur neunjährigen Kurprinzen Friedrich Wilhelm an seinen Vater Georg Wilhelm, in dem er persönlich für Joachim Magirus eintritt, der ihm ein Buch gewidmet hatte,124 zeigt  : Die Familie Magirus war bei Hof bekannt. Umso bezeichnender ist es, daß der junge Johannes Magirus zwar offensichtlich von der reformierten Hofgesellschaft wohlwollend aufgenommen,125 aber beileibe nicht umgehend von seinem Fürsten mit einem Amt versehen wurde. Hierfür hätte sein Vater wenigstens selbst ein landesherrliches Amt bekleiden müssen.126 Ebenso wie die Ärzte in den Städten versuchte also auch Magirus, durch aktive Präsenz die Aufmerksamkeit der 121 SBPK, Autogr. I,1769  : Tobias Magirus an Friedrich Wilhelm von Brandenburg, [Frankfurt/Oder] [1643]. Der handschriftliche Brief auf Französisch war dem ursprünglichen Widmungsexemplar eingeleimt  ; im Buch selbst ist dieselbe Widmungsrede auf Latein abgedruckt  : s. Magirus, Tobias (1644), Bl. )( 3a [sic  !]. 122 S. z. B. die gedruckten Glückwünsche (vota) der Brüder anlässlich Georg Wilhelms Übernahme des Lehens Preußen aus der Hand des polnischen Königs  : Aditalia vota (1621). Joachim Magirus unterzeichnete hier als fürstlicher Stipendiat (Electoralis stipendiarius). 123 Ab ihrem siebten Lebensjahr wurden die Kinder für mehrere Jahre in Küstrin erzogen, da Berlin kein sicherer Aufenthaltsort mehr war  : zu dieser Zeit s. Opgenoorth (1971), S. 23–27, zu Joachim Magirus’ Rolle S. 24. 124 S. Opgenoorth (1971), S. 26. 125 Die konfessionelle Anbindung war eine wichtige Komponente seiner Etablierung  ; Magirus war Mitglied der reformierten Domgemeinde, die im Wesentlichen durch das Hofpersonal gebildet wurde, während die Stadtbevölkerung Berlins dem lutherischen Glauben anhing  : s. Schlegelmilch (2012), S. 396. 126 S. Schmitz (2002), S. 128.

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Obrigkeit zu erlangen. Neben seinem dauerhaften Bemühen vor Ort waren seine diversen Drucke hierbei ein probates Mittel, auch den zeitweise abwesenden Fürsten auf sein Handeln hinzuweisen. 1.2.3 Von einem Hof zum anderen

Zurück zu Magirus’ Bewerbung als Fortifikateur. In der Stadt wie am Hof mußte, wer Fuß fassen wollte, seine eigene Nützlichkeit beweisen.127 Diese wurde nicht unbedingt nur in den Fähigkeiten gesehen, auf die sich der jeweilige Studienabschluß an einer der höheren Fakultäten bezog. Jeder frühneuzeitliche Arzt hatte, genau wie ein Jurist oder Theologe, ein vorgeschaltetes Studium der artes durchlaufen müssen, um sich danach auf sein Fach spezialisieren zu können. Manch einer sprach dann später, abhängig von seiner jeweiligen Lebenssituation, anderen Formen des gelehrten Auftretens den gleichen Wert oder sogar Priorität vor der des medizinischen Experten zu. Ärzte bedienten sich dabei ihrer allgemeineren akademischen Bildung, um in bestimmten (nicht-medizinischen) Kreisen Akzeptanz oder gar ein Auskommen zu finden. Der junge Arzt Philipp Bech (1521–1560) bspw. bestritt sein Einkommen vornehmlich mit dem Erstellen von Vorworten und Indices für die Publikationen Basler Druckereien.128 Es finden sich neben Elias Kuntschius (1509–1566) und seinem gleichnamigem Sohn (1566–1623),129 Johannes Posthius (1537–1597)130 und Petrus Lotichius (1528–1560) zahlreiche Mediziner, die sich über den prestigeträchtigen, da kaiserlich verliehenen Titel eines poeta laureatus profilierten, der im besten Fall genutzt werden konnte, um kulturelles in soziales Kapital zu verwandeln.131 Der böhmische Arzt Georg Handsch (1529–1578  ?) listete in seinem privaten Tagebuch gleich eine ganze Reihe Berufe auf, zu denen sein Universitätsstudium ihn in seinen Augen befähigte, wobei neben der Tätigkeit des medicus gleichermaßen die eines arithmeticus, grammaticus, musicus, organista und auch Stadtschreibers stand  ; er ebnete sich schließlich durch seine Gedichte erfolgreich den Weg in einen Prager Humanistenzirkel, woraus ihm nicht nur finanzielle Vorteile, sondern sogar ein Adelstitel erwuchsen.132 127 S. Jancke (2007), S. 28. 128 S. Philipp Bech an Joachim Camerarius I., Basel, 15.3.1556 (Erlangen, UB, Trew Bech Nr. 3  ; Regest [S. Schlegelmilch] unter  : www.aerztebriefe.de/id/00000225  ; Zugriff 23.11.2016). 129 S. Kaczorowski, Włodzimierz  : Elias Kuntschius und sein Sohn Elias – zwei Oppelner Ärzte und Dichter, in  : Kosellek, Gerhard (Hg.)  : Oberschlesische Dichter und Gelehrte vom Humanismus bis zum Barock (Bielefeld 2000), S. 329–38, hier S. 333  ; 336. 130 Karrer, Klaus  : Johannes Posthius (1537–1597). Verzeichnis der Briefe und Werke mit Regesten und Posthius-Biographie (Wiesbaden 1993), S. 73. 131 S. auch Füssel (2006), S. 420  : »Die Währung des gelehrten Feldes bestand in Wissen, dessen Produktion und Distribution in ständischen Rang transformiert werden konnte.«  ; s. auch Mertens (2006), S. 137. Zahlreiche Beispiele für Mediziner, die die laurea besaßen, finden sich auch bei Flood, John L.: Poets Laureate in the Holy Roman Empire. A Bio-Bibliographical Handbook. 4 Bde. (Berlin u. a. 2006). 132 S. Stolberg (2015a), S. 41–42  ; (2017).

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Mit zunehmender Etablierung der Territorialstaaten rückten auch die Fähigkeiten der Gelehrten in den Blick, die nicht dem typischen Bild der Humanisten-Philologen zuzuordnen sind, die bei Hofe als Redner, Poeten und Stilisten den sich entfaltenden Majestätsästhetizismus nährten.133 Die Fächer des Quadrivium fanden nun ebenfalls Anwendung, in der Tätigkeit von Astrologen, praxisbezogenen Mathematikern (z. B. bei der Fortifikation, Landvermessung und Kartenerstellung) und Historiographen134 und waren als Beschäftigung für humanistisch gebildete Gelehrte längst nicht mehr verpönt wie noch zu Beginn der Renaissance.135 Zahlreiche Mediziner verdingten sich in diesen Bereichen  : Der Arzt Andreas Hildebrand (1581–1637) betätigte sich bspw. nicht nur literarisch, sondern erstellte neben seiner medizinischen Betätigung auch Genealogien für das pommersche Fürsten- und das schwedische Königshaus sowie eine historisch-biographische Beschreibung Pommerns  ;136 Josaphat Weinlin (1601–1662) und Michael Hirschfelder (?–1602) bauten Orgeln in Rothenburg ob der Tauber bzw. Breslau  ;137 Jacob Mosanus (1564–1616) betreute für Moritz von Hessen-Kassel nicht nur den Bau eines Labors für chymische Experimente, sondern auch den einer Backstube und eines Tennisplatzes,138 und mit einer ähnlichen Inspektorenarbeit für fürstliche Bauvorhaben wurde auch der Leibarzt Hermann Wolff (1560–1619) betraut.139 In Berlin selbst zerbrach sich einige Jahre nach Magirus’ Weggang sein früherer Kollege, der Leibarzt Martin Weise (1605– 133 S. Mertens (2006), S. 151  ; s. zu den aulici poetae auch Schirrmeister, der den Nutzen von Poesie und Rhetorik für die Höfe behandelt (u. a. am Beispiel des studierten Mediziners Joachim Vadian)  : Schirrmeister, Albert  : Quid cum aula poetae  ? Dichter, Redner oder Historiker  : Formen humanistischer Bildung am Hof und ihre Protagonisten, in  : Paravicini, Werner/Wettlaufer, Jörg (Hg.)  : Erziehung und Bildung bei Hofe. 7. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Veranstaltet in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Celle und dem Deutschen Historischen Institut Paris, Celle 23. bis 26. September 2000 (Stuttgart 2002), S. 235– 47. 134 S. Henry (32008), S. 25–26. Zur Historiographie als Merkmal der Höfe s. Schindling (2001), S. 253. Die Geschichtsschreibung für die Herrscherhäuser bedurfte aufgrund der zu erstellenden Chronologien nicht nur literarischer Fähigkeiten und antiquarischer Kenntnisse, sondern auch mathematischer Berechnungen. Zu den mit dem Absolvieren der septem artes (trivium und quadrivium) ganz allgemein einhergehenden Kompetenzen der Ärzte s. Stolberg (2015a), S. 40. 135 S. Bergdolt, Klaus  : Naturwissenschaften und humanistisches Selbstverständnis, in  : Maissen/Walther (2006), S. 103–24, hier S. 124. 136 S. Aurnhammer, Achim  : Andreas Hiltebrand – ein pommerscher Dichterarzt zwischen Späthumanismus und Frühbarock, in  : Kühlmann, Wilhelm/Langer, Horst (Hg.)  : Pommern in der Frühen Neuzeit (Tübingen 1994), S. 199–225, hier S. 208. 137 S. zu Weinlein  : Schnurrer (1997), S. 87  ; zu Hirschfelder  : Aumüller, Gerhard/Brück, Helga/Bittcher, Ernst  : Die Compenius-Orgel der Predigerkirche Erfurt. Die Familie Cumpenius/Compenius und der mitteldeutsche Orgelbau im 17. Jahrhundert, in  : Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 73 [N.F. 20] (2012), S. 185–207, hier S. 188. 138 Jacob Mosanus an Moritz von Hessen-Kassel, Ziegenhain, 11.11.16  ?  ? (HStAm, Best. 17 I, Nr. 5093  ; Regest [U. Schlegelmilch] unter  : www.aerztebriefe.de/id/00021383  ; letzter Zugriff  : 12.12.2017). 139 S. Moran, Bruce  : The Alchemical World of the German Court. Occult Philosophy and Chemical Medicine in the Circle of Moritz of Hessen (1572–1632) (Stuttgart 1991), S. 69.

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1693), den Kopf über den Bau eines kurfürstlichen Labors.140 Resümierend läßt sich sagen  : Medizin zu studieren hieß, auch noch für das 17. Jahrhundert, nicht selbstverständlich, seine zukünftige Haupttätigkeit beschränkt auf die medizinische Praxis zu sehen  : »[…] physicians were perceived and perceived themselves as medical men much less exclusively than today. Their self-fashioning, their social standing and even their careers as medical practitioners, were based on, and reflected to a considerable degree, their mastery of a wide range of scholarly skills.«141 All die hier aufgeführten Beispiele illustrieren, daß diese Aussage Michael Stolbergs nicht nur für die Stadt, sondern auch für den Hof galt.142 In diesen Kontext sind Johannes Magirus und seine Werbung für die eigenen mathematischen Fähigkeiten einzuordnen. Aus der Beliebigkeit der frühneuzeitlichen, allesamt um Gunst werbenden Widmungsreden hebt die seine (in seinem Compendium Fortificatorium) die offensichtlich genaue Kenntnis persönlicher Erlebnisse des Kurfürsten heraus. Der diesem Abschnitt (Kap. 1.2.) vorangestellte Text aus seiner Feder nennt, wie schon angemerkt, Stationen aus Johannes Magirus’ Leben, die in den anderen seiner autobiographischen Notizen nicht zu finden sind. Alle haben primär mit Mathematik und Fortifikation zu tun, aber hinter der Schilderung steckt noch mehr. Küstrin, Leiden, die Schlacht von Breda – überall dort hätten Widmungsempfänger und Widmender sich persönlich treffen können,143 es sind zudem Orte, an denen der damalige Kurprinz Friedrich Wilhelm seiner nachweislichen Leidenschaft für die Fortifikation nachging,144 da der brandenburgische Hof sich in hohem Maße für die im niederländisch-spanischen Krieg gewonnenen Erkenntnisse der niederländischen Schule interessierte.145 Geschickt evozierte Magirus eine Vertrautheit zwischen seinem Fürsten und sich selbst, indem er ihm gegenüber lokalisierbare biographische Gemeinsamkeiten aufrief. Wie bei den bereits erwähnten Widmungen an die einflussreichen Hofangehörigen läßt sich auch hier beobachten, wie sich Johannes Magirus Nähe zum Hof zuschrieb. Letztlich war aber das, was Magirus anbot, nicht an einen spezifischen Hof gebunden. Tatsächlich war es dann auch nicht der Kurfürst in Berlin, sondern der Hof zu HessenKassel, von dem er den Auftrag erhielt, seine mathematischen Kenntnisse in eine Territorialgeschichte einzubringen.146 Die Schwester des Kurfürsten wurde dort Landesfürstin 140 S. Schlegelmilch (2013), S. 201. 141 Stolberg (2017), Introduction. 142 S. auch O’Malley (1970), S. 90. 143 Friedrich Wilhelm von Brandenburg verbrachte während seiner Jugend sieben Jahre in Küstrin (1624–1634)  ; über seinen regelmäßigen Kontakt mit Johannes Magirus’ Onkel Joachim dort s. o.; Magirus’ Aufenthalt in Leiden überschneidet sich mit dem des Kurprinzen, die Schlacht von Breda besuchte auch dieser persönlich  : s. Opgenoorth, S. 50. Obwohl es bislang keinen Beleg hierfür gibt, geht die ältere Literatur deswegen selbstverständlich davon aus, daß Magirus und der spätere Kurfürst sich dort kennengelernt haben. 144 S. Opgenoorth, S. 39  ; 42. 145 S. Bonin (ND 1981), S. 5. 146 Johannes Magirus schrieb Johann Caspar von Döringenberg im Dezember 1663, um ihn um eine Interzession für seine Berufung als Geschichtsprofessor zu bitten  ; als Qualifikation nannte er un-

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und hielt den engen Kontakt mit ihrem Bruder in Berlin,147 und auch Magirus stand weiterhin mit dem Hof in Berlin in Verbindung.148 Innerhalb dieses HohenzollernNetzwerks erreichte Magirus nach seiner Berufung nach Marburg die erstrebte offizielle Anbindung an den Hof  : Hier wurde er nicht nur Leibarzt, sondern auch Geheimer Rat, reiste im Auftrag des Herrscherhauses und bot weiterhin neben seiner medizinischen Lehrtätigkeit mathematische Kollegien an.149 Rudolf Schmitz zeigte sich in seiner Studie über Die Naturwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg belustigt über Magirus’ breite Auslegung der Mathematik in diesen Kollegien,150 wie sie in den Vorlesungsankündigungen zu finden ist, so z. B. für das Sommersemester 1670  : Privat wird er abhalten seine Kollegien über Arithmetik, Taktik, Geometrie, militärische und zivile Architektur, Optik, Stereometrik, Astronomie, Astrologie, Chronologie, Geographie, Mechanik, in welchen er unter anderem lehrt, hydraulische Maschinen zu konstruieren, in die Höhe zu fliegen, Holz zu sparen, tiefe Gräben zu überwinden, unter Wasser zu fahren und zu laufen, ohne Wind Schiffe, ohne Tiere Wagen zu fahren, kunstreich Uhren zu bauen, ohne Gefahr zu schwimmen, kunstreich Wasser auszuschöpfen und umzuleiten, schwerste Lasten kunstreich zu heben, ohne bäuerliche Werkzeuge Getreide zu dreschen, mit geringer Mühe Berge zu versetzen, Gehör und Augen zu schärfen und andere Wunderdinge […]151 ter anderem, man habe ihm »zur revisioni Historiae Hassiae Winckelmanni deputiret«  : UAM, Best. 305o (Nachträge II), Nr. 154, Bl. 29v. Er vermerkte diesen Auftrag ebenfalls in einem seiner Notizbücher  : »factus sum Professor Historiae et Mathematicus et posthaec Commissarius Historiae Hassiacae recidendae et quidem ab utraque domo tam Casselana quam Darmstadiana«  : UBM, Ms. 392, Bl. 33r  ; zu Magirus’ Mitwirkung an dem Werk s. auch  : Fuchs, Thomas  : Traditionsstiftung und Erinnerungspolitik. Geschichtsschreibung in Hessen in der Frühen Neuzeit (Kassel 2002), S. 294. 147 S. Puppel (2004), S. 243. 148 Magirus konnte sich noch 34 Jahre nach seinem Fortgang aus Berlin Bücher aus der dortigen Hofbibliothek für seine Tätigkeit als Geheimer Rat schicken lassen  : s. Johannes Magirus an den Leiter der Kurfürstlichen Bibliothek  : Cölln, 09.01.1684 (New York, David Eugene Smith Historical Collection, Magirus, Regest [M. Stolberg] unter  : www.aerztebriefe.de/id/00016129  ; letzter Zugriff  : 12.12.2017). 149 S. Kap. 1.4.3  ; 2.4. 150 S. Schmitz (1978), S. 98  : »Hermelink/Kaehler bezeichneten ihn zwar als ›Polyhistor alten Schlages‹  ; in Wirklichkeit machten die Naturwissenschaften an der Philippina mit Magirus einen Schritt bis an die Grenzen des Mittelalters zurück. Unter seinen Schriften findet sich keine, die dieses Urteil zu korrigieren vermöchte.« 151 UBM, VIII A 1167e#, SS 1670  : »Privata autem sua Collegia Arithmetica, Tactica, Geometrica, Architectonica militaria & civilia, Optica, Stereometrica, Astronomica, Astrologica, Chronologica, Geographica, Mechanica, quae inter alia Hydraulicas machinas construere, alta petere, lignis parcere fossas profundissimas trajicere, sub aqua navigare, ambulare, sine ventis naves, sine vivis bestiis currus promovere, horologia artificiosa fabricare, sine periculo natare, aquas artificiose ex haurire,

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Er verkannte dabei freilich, daß es sich bei Magirus’ vielfältigen mechanischen und hydraulischen Projekten um (theoretische) Entwürfe für die sogenannte »gemischte« Mathematik handelte, wie sie typisch für die Erfinder seiner Zeit waren  : Isaac Newton arbeitete in den 1660er Jahren an genau solchen »strange inventions«.152 Im übrigen hielt Magirus auch keine Kollegien über Drachen, Schlangen, Engel und Teufel (wie Schmitz es verstand),153 sondern vielmehr über Täuschfeuer in Gestalt dieser Wesen, die zur Ablenkung und auch Zerstörung in feindliche Lager geschleudert werden sollten. All dies muß stets gelesen werden als ein Angebot an den Hof, sich als Träger spezieller Kenntnisse (gerade im Kriegsfall) nützlich zu machen. Es mag auf den ersten Blick etwas größenwahnsinnig erscheinen, wenn Johannes Magirus 1672 in einem Brief an den hessischen Hof auch noch verkündet, er »gedenke die lan also navigabel zu machen, das man von hessen mit beladenen Schiffen in den Rein und Weser stewren kann und negotiren«.154 Dies war aber wohl nicht die Wahrnehmung seiner Zeitgenossen, deren Fortschrittsoptimismus durch erfolgreiche Projekte wie den Müllroser Kanal (eine Verbindung zwischen Oder und Elbe über die Spree) befeuert wurde, den Friedrich Wilhelm von Brandenburg nur vier Jahre zuvor fertiggestellt hatte und der seinem Land einen deutlichen ökonomischen Vorteil verschafft hatte.155

1.3 Der Astrologe Magirus’ an die gelehrte Welt gerichtete Schreiben dienten in hohem Maße der eigenen Selbstvergewisserung, dieser exklusiven Gruppierung anzugehören  ; sein Werben gegenüber den Fürsten macht zugleich den Wunsch deutlich, zusätzlich zu einem Mitglied der Hofgesellschaft aufzusteigen. Die Texte, die er als Herausgeber seiner Jahreskalender schrieb, sind von einer auffällig anderen Sprechhaltung geprägt. Hier geht es nicht um den Anschluß an eine Gruppe, sondern um die Verteidigung der Zugehörigkeit zu einer solchen  :156 den Astrologen. ducere, gravissima artificiose tollere, sine rusticis flagellis frumenta excutere, montes levi negotio transportare, auditum & oculos acuere, aliaque mirabilia docet […]«. 152 S. Findlen (Cambridge 2000), S. 233–34  ; s. auch den Ausblick am Ende dieses Bandes. 153 S. Schmitz (1978), S. 203. 154 Johannes Magirus an Unbek., Marburg, 3./13./23.4.1674 (HStAM, Best. 19b, Nr. 1930, Bl. 86r  ; unter  : www.aerztebriefe.de/id/00036406  ; Zugriff  : 09.08.2017). 155 S. Rachel, Hugo  : Wasserwege und Schiffahrt zur Zeit des Großen Kurfürsten, in  : Brandenburgische Jahrbücher 11 (1938), S. 17–27, hier S. 19  ; vgl. auch Salloch, Sabine  : Das hessische Medizinalwesen unter den Landgrafen Wilhelm IV. und Moritz dem Gelehrten. Rolle und Wirken der fürstlichen Leibärzte (Diss. med. Marburg 2006), S. 51 zur Schleusenbautätigkeit des Leibarztes Moritz’ von Hessen-Kassel, Hermann Wolff, an der Werra (zugehörige Quellentexte unter  : www.aerztebriefe.de, Schlagwort  : Wasserbau). 156 Es handelt sich bei den Astrologen tatsächlich um eine »Gruppe« in Bourdieus Sinn  : s. Bourdieu (21991), S. 13  ; Gelehrten- und Hofwelt wären eher als eigene Felder zu bezeichnen.

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Wer zu Magirus’ Lebzeiten das Studium der Sterne betrieb, fand sich unweigerlich in eine der zentralen Kontroversen des 17. Jahrhunderts involviert. Diese war jedoch, obschon oft auch von Gelehrten geführt, nicht mit anderen fachinternen Auseinandersetzungen vergleichbar, da in der frühneuzeitlichen Gesellschaft gleichzeitig auch ein populäres Wissen über und damit ein weiteres Interesse an der Thematik existierte. Hierin war die Astrologie mit der Heilkunde vergleichbar, über spezifische Inhalte ja auch mit dieser verbunden. Gerade der in diesem Gebiet stattfindende, langwierige Ablösungsprozeß der Astronomie von einer astrologischen Auslegung ihrer Ergebnisse wurde von der Forschung gerne als paradigmatisch für eine scientific revolution157 und wegbereitend für die Frühaufklärung gewertet.158 Er begleitete das gesamte Jahrhundert und somit auch Johannes Magirus, dessen Lebenszeit immerhin 82 Jahre dieses Jahrhunderts umfaßte. Ganze 26 Jahre veröffentlichte er seine Ansichten zum Nutzen der Astrologie in Jahreskalendern, den nach der Bibel meistverbreiteten Druckerzeugnissen der Frühen Neuzeit.159 Er fand sich damit als Kalendermacher nicht nur in einer fakultäten- und universitätsübergreifenden Gelehrtengruppe – Kalender wurden von Universitätsprofessoren der Medizin, Theologie und Mathematik ebenso wie von praktizierenden Ärzten, Pfarrern und Astronomen ohne institutionelle Bindung geschrieben –, sondern auch neben studiertem Adel, Beamtenschaft und Dienstpersonal und, so legen zeitgenössische Quellen nahe, mitunter gleichrangig neben unstudierten Verfassern.160 Brendan Dooley schlug deshalb für diese inhomogene Gruppe astrologisch Tätiger die vom Bildungsstand unabhängige Sammelbezeichnung »heavenly practitioners« vor.161 Ähnlich heterogen wie seine Verfasser war auch die Leserschaft dieses Massenmediums.162 Nach deren Informationsbedürfnis und Schreibtraditionen ausgerichtet,163 besaßen die »Schreibkalender«, unabhängig von ihrem Verfasser, einen vorgegebenen Aufbau.164 Johannes Magirus mußte sich also als Kalendermacher einer festgelegten Ge157 158 159 160 161 162

Schneider (1997), S. 175  ; S. Shapin (1998), S. 42–44  ; Osler (2000), S. 6. S. Rutkin (2008), S. 541  ; Herbst (2010), bes. S. 20. S. Tersch (2008), S. 17–18  ; Eamon (2014), S 163–67. S. Herbst (2008), S. 207  ; Tersch (2008), S. 19. S. Dooley (2014), S. 247. Tersch (2008), S. 19  : »Die Überlieferung spricht dafür, dass der Kalender im Zentrum eines größeren Austauschverhältnisses zwischen professionellen Schreibern und Laien stand, zu denen Bauern ebenso wie Fürstinnen gehören konnten«  ; s. auch Herbst (2010), S. 143. 163 S. Tersch (2008), S. 11. 164 Herbst (2010), S. 178  : »Jeder große Schreibkalender war zweigeteilt in ein Kalendarium und in einen zweiten Teil, meistens als Prognostikum oder Praktika, mitunter aber auch als ›Anderer Theil‹ bezeichnet. Das Kalendarium beinhaltete vor allem Monatstafeln (auf den Verso-Seiten) und die diesen gegenüberliegenden Schreibseiten, die seit dem zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts zunehmend mit zusätzlichen Texten gefüllt wurden. Der zweite Teil brachte die ausführlichen astrologischen Mutmaßungen in den traditionellen Kapiteln ›Von den Jahreszeiten‹, ›Von den Monaten‹, ›Von den Finsternissen‹, ›Von Krieg und Frieden‹, von ›Gesund- und Krankheiten‹, ›Von Frucht- und Unfruchtbarkeit‹.«

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staltung seiner Publikation unterwerfen, Texte reglementierter Länge und – idealerweise – allgemeinverständlicher Art liefern und dabei noch so weit den Erwartungen auch seiner unstudierten Leser entgegenkommen, daß seine Kalender einem Verlag verkäuflich erschienen und gedruckt wurden. Man möchte meinen, dies sei nicht unbedingt die Art von Publikation, die für einen Gelehrten attraktiv sein könnte. Abgesehen freilich von dem finanziellen Aspekt, der sicher nicht zu vernachlässigen war,165 stellt sich also die Frage  : Was – und damit auch  : Wen – wollte Johannes Magirus mit seinen Kalendern erreichen  ? 1.3.1 Vom Nutzen der Astronomie

Was nun ihren grossen Nutz angehet, so kan derselbe mit wenigen nicht beschrieben werden, ich will ihn nur ein wenig berühren, die Astronomi giebt uns die gewisse Größe der Jahr, Zeit und Stunden, sie ist ein Fundament der Chronologi und Historien, und können selbige ohne diese nicht bestehen, sie machet uns Sonnen und Monduhren, sie weiset uns die gute Landkarten zu machen, und der Oerter longitudines und latitudines zu finden und recht zu ordnen, sie weiset den Schiffern den Weg in der See und den Ort, wo sie schiffen […] Andere Nutzen in der Theologia und Medicina wohl zu geschweigen  : In solcher Kunst nun […] habe ich mich auch von Jugend auff geübet und bisher in der Medicin auch nützlich gebrauchet, auch mit einem Stücklein derselben anietzo meinem geliebten Vaterlande dienen und auff dessen Horizont und Landes-Gelegenheit einen Calender, so den Astronomischen und natürlichen Fundamenten gemäß were schreiben wollen.166

Mit dieser Widmung an Konrad von Burgsdorff stellte sich Magirus 1646 in seinem ersten Prognosticon als neuer Kalendermacher vor. Der Adressat war nicht schlecht gewählt für Werbung in eigener Sache  : Konrad von Burgsdorff (1595–1652), kurfürstlich-brandenburgischer Oberkämmerer und gleichzeitig Oberkommandeur der Festungen der Mark Brandenburg, insbesondere Oberhauptmann von Küstrin, galt intern als ein enger Vertrauter des Großen Kurfürsten.167 Wie in den vorhergehenden Abschnitten bereits deutlich und auch an anderer Stelle schon gezeigt wurde,168 verstand es Johannes Magirus vorzüglich, die Kalender als praktisches Medium der Selbstdarstellung zu nutzen. Die Wirkung einer solchermaßen ständeübergreifend wahrgenommenen, weit verbreiteten und jährlich neu zu gestaltenden Werbefläche hätte eine Widmung in einem einmalig erscheinenden Buch nie entfalten können. Man muß die verschiedenen Publikationsformate, derer sich Johannes Magirus im Jahr 1646 bediente, nebeneinanderstellen – die Widmungsrede an den Großen Kur165 166 167 168

S. Kap. 2.4.3. Magirus, Johannes (1646b), Bl. A1v–A2r. S. Opgenoorth, S. 86  ; 96. S. Schlegelmilch (2012).

Der Astrologe

fürsten in seinem Buch zum Festungsbau, die Ankündigungen der praktisch-mathematischen Kollegien (teilweise im Kalender, teilweise im Einzeldruck) und die oben zitierte Widmung an Konrad von Burgsdorff im Prognosticon –, um vollends zu erkennen, wie geschickt sie miteinander verzahnt sind. Sie legten gleichermaßen ein Netz um den Hof  : Das Buch sprach den Fürsten direkt an und offerierte ihm Festungsbaukünste  ; die mathematischen Kollegien warben um junge Adelige, Offiziere und höfisches Dienstpersonal  ; die Kalenderwidmung schließlich erklärte dem Vertrauten des Fürsten, wie wichtig die Astronomie war für Dinge, die ihn landesbezogen wohl auch interessieren durften  : Landkarten, Historie, Schiffahrt. Der Bezug auf das brandenburgische Territorium wurde dabei nicht nur bereits auf dem Titel des Prognosticon hergestellt (»Auff die Lande Brandenburg, Pommern und Lausitz, vornehmlich aber auf den berlinischen Horizont mit allem Fleiß gestellet durch Johannem Magirum«), sondern in der Widmung erneut angesprochen  : Der Kalender sei, als Dienst am Vaterland, »auff dessen Horizont und LandesGelegenheit« gerichtet. Kalender aber für ein bestimmtes Territorium zu stellen, war gewöhnlich die Aufgabe des Hofmathematicus.169 Auch Benjamin Ursinus, von dem bereits die Rede war, Magirus’ Lehrer in seinen Jugendjahren und ehemals brandenburgischer Hofmathematicus, hatte eben einen solchen Kalender für das brandenburgische Territorium herausgegeben.170 Magirus selbst begründete in einem späteren Jahrgang seines Kalenders seine Tätigkeit damit, daß seit dem Tod der beiden Frankfurter Mathematikprofessoren Origanus (1628) und Ursinus (1633) keine Kalender für sein »Vatterland« mehr erhältlich gewesen seien.171 Wieder scheint also zwischen den Zeilen das Amt des Hofmathematicus (mit Professur in Frankfurt/Oder) verhandelt zu werden. Magirus ging gewissermaßen in Vorleistung, indem er eine Aufgabe erfüllte, die er gerne offiziell (und damit bezahlt) hätte haben wollen im Auftrag seines Fürsten.172 Konrad von Burgsdorff 169 S. Bauer (1989), S. 97. Ephemeriden und Tafeln boten zwar schon auf Jahre im Voraus berechnete Grunddaten, der Bezug der dort verzeichneten Planetenpositionen auf ein bestimmtes Territorium mußte jedoch durch Anwendung bestimmter Formeln, die die Koordinaten des Landes berücksichtigten, angepaßt werden  ; s. Eamon (2014), S. 171. 170 M. Benjaminis Ursini Der Churfürstlichen Brandenburgischen Durchleuchtigkeit Mathematici Alter und Neuer Schreibkalender Dieses Jahrs nach Christi Geburt MDCXXIV […] Mit aller Planeten Lauff, Witterung und Erwehlungen  : neben einem genugsamen Prognostico, Gestellet auff die Chur und Mark Brandenburg, sonderlich aber auff die Residenzstädte Cölln an der Sprew und Berlin und die umbliegende Länder. Berlin  : Runge [1623]. Derzeit nur für dieses Jahr nachweisbar  : s. Herbst (2008), S. 156. 171 S. Magirus (1651b), B. A2v  : »[…] weil nach Absterben der Fürstl. Mathematicorum Origani und Ursini niemand in diesem meinem Vatterland gefunden, welcher demselben zu gut Calender verfertigte, also habe ich in diesem demselben schuldige Dienste leisten wollen […].« 172 Ähnlich verfuhr Johannes Kepler, als er Jakob I. seine Harmonice mundi widmete – »Es kommt der Eindruck auf, als hätte Jakob I eine Weltharmonik bei Kepler bestellt, ohne sie zu bestellen. Allein der Intuition Keplers scheint es geschuldet zu sein, dieses Bedürfnis zu antizipieren.«  : Bauer, Katrin  : Der andere Kepler – vom Aufstieg eines frühneuzeitlichen Gelehrten mit Hilfe der Astrologie (Diss. Nürnberg 2014  ; online  : https://opus4.kobv.de/opus4-fau/files/5165/DissertationKatrinBauer.pdf  ; Zugriff  : 15.1.2017), S. 23.

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war auf diesen Umstand nun auf jeden Fall hingewiesen, als er sich kurze Zeit nach Erhalt des ihm gewidmeten Kalenders, in dem unter anderem auch Unterricht in niederländischer Fortifikation angekündigt war, mit seinem Fürsten über die Verbindung zu den Niederlanden im Gespräch befand.173 Auffällig ist, wie sehr die Sternenkunde im zitierten Text auf das Mathematische reduziert wird – sie scheint eher im Dienste der gemischten Mathematik zu stehen (eigentlich wird sie mit all deren Gebieten in Beziehung gesetzt, außer der Mechanik) als sich mit den Sternen selbst zu beschäftigen. Dies weist bereits auf ein Dilemma hin, in dem sich Johannes Magirus von Anbeginn seiner Kalenderproduktion an befand  : Die Beschäftigung mit der »seriösen« Sternenkunst, der Astronomie, bedingte die Auseinandersetzung mit ihrem nicht immer gut »närrischen Töchterlin«,174 der Astrologie. Der durchschnittliche Kalenderleser erwartete gerade astrologische iudicia, Orientierungshilfen im Alltag wie die Festlegung guter und schlechter Zeiten zum Pflanzen und zu medizinischer Behandlung, die Warnung vor unglückverheißenden Tagen, Unwettern und Seuchen sowie Voraussagen zu politischen Entwicklungen, insbesondere Kriegsgefahr.175 All dies wollte man aus den Konstellationen der Planeten abgeleitet wissen, und jeder Kalendermacher sah sich genötigt, hier Stellung zu beziehen. 1.3.2 Die Verteidigung der Astrologie

Um Magirus’ Sicht der Astrologie nachvollziehen zu können, muß noch vorausgeschickt sein, daß es bis weit ins 17. Jahrhundert keine wirkliche Dichotomie zwischen Astronomie (als einer Beschäftigung der Gelehrten) und Astrologie (als einem »Aberglauben« der Ungebildeten) gab.176 Beide Fächer wurden gleichermaßen an der Universität gelehrt  ;177 H. Darrel Rutkin verweist hier besonders auf den weitgehend unbekannten Aspekt des »astrologizing Aristotelianism«.178 Obwohl sich bereits mit dem Ende des 15. Jahrhunderts eine vielköpfige Gegnerschaft der Astrologie formiert hatte – als bekannteste Vertreter gelten Marsilio Ficino (1433–1499) und Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) –,179 war für das Gebiet des Alten Reiches viel ausschlaggebender, daß sie mit Philipp Me173 Opgenoorth, S. 160. Im selben Jahr, als der Kalender erschien, reiste Burgsdorff im Auftrag des Kurfürsten in die Niederlande, um bei dem Prinzen von Oranien um dessen Tochter zu werben. 174 So nennt Johannes Kepler die Astrologie in seinem Werk Tertius interveniens  : zitiert nach Gindhart (2006), S. 164. 175 Zu den in den Prognostica behandelten Themen s. auch Tersch (2008), S. 25–26  ; Eamon (2014), S. 169. 176 Eamon (2014), S. 149  : »Astrology and astronomy were seen as sister disciplines commanding equal respect.« 177 Eamon (2014), S. 145–50  ; Dooley (2014), S. 234  ; Kalff (2015), S. 147–48. 178 S. Rutkin (2008), S. 541. 179 S. Müller-Jahncke (1985), S. 208–26, bes. S. 211–23  ; Rutkin (2008), S. 547–48  ; auch Hirai, Hiro  : The New Astral Medicine, in  : Dooley (Hg./2014), S. 267–86, hier S. 267–68. Eamon (2014), S. 147 sieht in Picos Schrift die wirkmächtigste  : »His influential treatise was the most sweeping critique of

Der Astrologe

lanchthon einen starken Fürsprecher besaß.180 Noch Magirus bezog sich in seinen Kalendern vereinzelt auf dessen affirmierende Aussagen zur prognostischen Astrologie.181 Melanchthon war es auch, der die Rolle der Astrologie als Teilgebiet der an den protestantischen Universitäten gelehrten Physik und damit auch der Medizin noch stärkte.182 Die Kontroversen zwischen Befürwortern und Gegnern der Astrologie im Verlauf des 16. Jahrhunderts hier nachzuzeichnen, ist nicht nötig.183 Magirus’ eigene Worte verdeut­ lichen, daß er als Kalendermacher in der Mitte des 17. Jahrhunderts von Beginn an glaubte, sich gegen Angriffe verteidigen zu müssen. Indem er sich dabei explizit Peter Crüger (1580–1639) anschloß (s. folgendes Zitat), der in seinen Kalendern bereits die Vorhersagbarkeit der Jahreswitterung angezweifelt hatte,184 stellte er sich in die zu diesem Zeitpunkt noch junge Tradition der »reformierten Astrologie« und damit in Nachfolge Johannes Keplers, dessen Schüler und späterer Korrespondenzpartner Crüger gewesen war. Kepler hatte 1610 mit seiner konziliatorischen Schrift Tertius interveniens versucht, »einen rationalen Kompromiß zwischen traditioneller Astrologiegläubigkeit und radikaler Astrologieskepsis« herzustellen.185 Er gestand dabei den Tierkreiszeichen keinen Einfluß mehr auf die sublunare Welt zu, sondern konzentrierte sich ausschließlich auf die Konstellationen der Planeten, womit für ihn »Allein die Wirkung der planetarischen Lichteinstrahlung auf die entsprechend disponierte menschliche Seele […] ein solides physikalisches und geometrisches Datum, das den Astrologen zu allgemeinen Prognosen berechtigte«, darstellte.186 Diese Definition der Planetenkräfte, deren Intensität (abhängig von ihrer Position zueinander) Kepler als verschieden stark annahm, erlaubte es weiterhin, Nativitäten, also Geburtshoroskope, zu stellen und somit auch die jeweilige zum Zeitpunkt der the foundations of astrology.« Die Astrologen wurden wegen ihres Einflusses auf die Herrscherhäuser auch von den Juristen angefeindet  : s. Brosseder (2004), S. 51–53. 180 S. Bauer (1999), S. 346–52  ; Müller-Jahncke (2002), S. 177–78  ; Gindhart (2006), S. 206  ; Barnes (2016), S. 139–49. 181 S. z. B. Magirus, Johannes (1655b), Bl. C2r  : »Welchem dann abermahl ein grosser Zeuge, nemlich Philippus Melanchthon beystimmet, in dem er also schreibet  : Eventus fortuiti referentur 1. ad Deum, 2. ad Angelos pios, 3. ad malos Spiritus, 4. ad temperamenta & vanas inclinationes a stellis ortas, 5. ad suos cuiusque mores, 6. ad materiae fluxibilitatem. Und ferner  : Nec tantum valetudinis signa sunt illustria in stellis, sed etiam inclinationum felicium aut infelicium in artibus aut aliis actionibus, quae naturae hominum familiares sunt, ut in assequendis fastigiis honorum, in praeliando, in periculis vitae &c.«  ; s. auch Eamon (2014), S. 191. 182 S. Bauer (1999), S. 347–49. 183 S. den ausführlichen Überblick bei Müller-Jahncke (2002), S. 135–259  ; s. auch Barnes (2016), S.131–39. 184 S. »Crüger, Peter«, in  : Herbst, Klaus-Dieter  : Biobibliographisches Handbuch der Kalendermacher von 1550 bis 1750. (http://www.presseforschung.uni-bremen.de/dokuwiki/doku.php?id=crueger_ peter  ; letzter Zugriff  : 12.12.2017). 185 Bauer (1989), S. 104. 186 Bauer (1989), S. 103. Zu Keplers Reformastrologie s. auch Rutkin (2008), S. 550, der sie beurteilt als »every bit as radical a move in astrology as his rejection of uniform circular motion in the realm of mathematical astronomy«  ; s. auch Gindhart (2006), S. 163–68  ; s. Gaab (2011), S. 263–66.

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Geburt formierte menschliche Disposition und diesbezüglich die Auswirkungen verschiedener Konstellationen auf eben diese zu bestimmen.187 Sie sollte jedoch gleichzeitig die spekulative Astrologie mit ihren oft detailfreudigen Aussagen über weltliche Belange wie Liebesglück, politische Händel oder gar Kriegsverläufe als Aberglauben entlarven. Das Schwierige daran war nun für den Kalendermacher, daß die Prognostica zu einem großen Teil von gerade diesen Themen bestritten wurden, und, wie Magirus’ eigenen Worten zu entnehmen ist, die Leser die Kalender, wenn »nicht viel rotes, und hinten an kein Prognosticon« enthalten war, nicht kauften  :188 Was sich Herr Crügerus S. vornehmer Mathematicus zu Danzig beklaget hat, daß er mit Furcht und Sorgen zum Calenderschreiben kommen, das kan ich auch wol gewiß sagen, denn die Leute so wunderlich seyn, daß sie uns auslachen, wenn wir mit der Vorsagung des Gewitters und anderer Dinge nicht zutreffen, und in Calendern hin und her nicht viel rotes, und hinten an kein Prognosticon haben, so kauffen sie den Calender nicht wie solches gemeldter Herr Crügerus an seinem Calender erfahren […] Weil ich aber nicht vorwitzigen Leuten oder Spottvögeln, sondern dem Vaterlande zu Dienst und Nutz […] Calender schreibe, so lasse ich mich das auch nicht irren, hoffe auch, daß solches Werck verständigen Leuten auch angenehm seyn werde, die das wissen, daß dieses das geringste Theil meiner Studien sey […].189

Da er selbst Kalender und Nativitäten verfaßt hatte, war Johannes Kepler also die maßgebliche Autorität, wollte man als »heavenly practitioner« (s. o.) die Vereinbarkeit von »fortschrittlich«-wissenschaftlicher, da mathematisch formulierter Physica mit weiterhin gültigen astrologischen Prämissen demonstrieren. Allerdings zeigte er sich selbst so frustriert über die anhaltende Kritik an seinen Kalenderschriften, daß er deren Publikation schließlich einstellte.190 Dies war der Stand der Dinge, als der junge Johannes Magirus in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Sternenkunde bei Benjamin Ursinus lernte – der selbst in persönlichem Austausch mit Johannes Kepler stand und in seinen Schriften, und damit vermutlich auch gegenüber seinem jungen Schüler, gerne seine Gespräche mit dem berühmten Kollegen zitierte.191 Keplers »reformierte« Astrologie und vermittelnde Haltung, die Ermahnung, sich einerseits ganz rational jeglicher spekulativer Judizialastrologie 187 S. Gindhart (2006), S. 168–70. 188 Das »Rote«, das Magirus hier anspricht, sind die – abweichend vom Resttext – rot gesetzten Piktogramme für Holzhacken, Schröpfen etc. im Kalenderteil eines jeden Monats, mit denen die günstigen Tage für die jeweilige Unternehmung gekennzeichnet waren. 189 Magirus, Johannes (1646b), Bl. A2v. Ähnlich defensive Passagen kehren in den Kalendertexten immer wieder. 190 S. Tersch (2008), S. 17. 191 S. z. B. Ursinus, Benjamin (1619), Bl. B4r  : »Als ich aber vor 10. Jahren in Herrn Kepleri kundschafft kommen zu Prage, habe ich ihn erst recht in acht genommen, unnd weiß mich zuerinnern, das Herr Keplerus schon damaln gesaget […]«.

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zu enthalten, aber andererseits nicht gleich »das Kindt mit dem Badt auß[zu]schütten«,192 sprich  : jegliche Astrologie zu verdammen, beeinflußte Magirus nachhaltig, wie er noch 1666, ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen des Kepler’schen Werkes Tertius interveniens, selbst schreibt  : So weit gemeldter Kepler sel. dessen Lehre ich deswegen zugethan, weil er die Astrologiam von den chaldeischen, arabischen, griechischen, römischen und dergleichen Greueln und kindischen Fratzen für andern zimlich gesäubert, gebrauche mich auch gerne seiner eigenen Worte, weil seine herrliche Bücher, insonderheit sein Tertius Interveniens, aphorismi Astrologici, scriptum Astrologicum contra Röslinum und dergleichen nicht mehr umb Geld zu bekommen seynd, und wol werth wären, daß sie wider auffgeleget würden.193

Mit der hier erwähnten »Säuberung« der Astrologie von »abergläubischen« antiken Konzepten,194 über die er noch 1661 einen seiner Studenten disputieren ließ und mit der er danach sogar noch auf dem Titel eines seiner Prognostica warb,195 begründete Johannes Magirus 1658 die zeitgemäße Wissenschaftlichkeit »seiner« Astrologie  : […] wie ich solches nicht aus Abgöttischen und Aberglaubischen, sondern aus natürlichen Gründen ausgeführet habe  ; habe meine Astrologiam durch den Ofen der Heiligen Schrifft, Medicinae, Metaphysicae, Physicae, Ethicae und Politicae durchgehen lassen und geläutert nach dem Spruche deß Apostels  : Prüfet alles, und das Gute behaltet. Nehme mich auch dessen nicht an, was etwan dieser oder jener wider die Astrologiam schreibet oder redet  : A

192 Diese vielzitierte Warnung ist im Titel des Kepler’schen Tertius Interveniens (1610) enthalten  : »Das ist Warnung an etliche Theologos, Medicos und Philosophos, sonderlich D. Philippum Feselium, daß sie bey billicher Verwerffung der Sternguckerischen Aberglauben nicht das Kindt mit dem Badt außschütten/und hiermit ihrer Profession unwissendt zuwider handlen«. 193 Magirus, Johannes (1666b), Bl. B1v. 194 Die »Säuberung« der antiken Astrologie stellte wie das humanistische Unterfangen, die klassischen medizinischen Texte von ihren arabischen Einflüssen befreien zu wollen, ein Postulat bereits des 16. Jahrhunderts dar  : s. Dooley (2014), S. 238  ; die »Säuberung« im Kepler’schen Sinne allerdings, wie Magirus und andere Astrologen des 17. Jahrhunderts sie verfochten, bestand in dem Versuch, die antiken Theorien durch das neue Modell einer geometrisch begründeten Astrologie vollständig zu ersetzen. Ich danke Marion Gindhart für den Hinweis auf diese wichtige Unterscheidung. 195 S. Magirus, Johannes (DISP2)  ; der Titel von (1670b) lautet  : Gründliches Und von vielen Chaldäischen, Arabischen und andern Fabeln gesaubertes Prognosticon vom Gewitter, Frucht und Unfruchtbarkeit, Gesund = und Kranckheit, Krieg und Frieden auf das Jahr nach der heilsamen Geburt unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi M.DC.LXX. Wie auch Desselben vier Jahreszeiten und Täglicher, Wochentlicher und Monatlicher Witterung insonderheit. Nicht ohne sonderbare Mühe und grossem (!) Fleiß aus den besten, neuesten, gewissesten und in der Natur gegründeten Fundamenten Gott dem Herrn zu Ehren und dem lieben Nächsten zu Nutz ausführlich und nachdencklich gestellet Durch Johannem Magirum, D. Nürnberg  : Christoph Endter [1669].

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particulari ad universale non valet consequentia, und kan menschliche authoritet nicht viel beweisen, die Experientz aber hergegen, ist ein locus Demonstrativus […].196

Die erwähnten »natürlichen« Gründe sollten daraufhin hinweisen, daß Magirus seine Voraussagen auf die physikalischen Einflüsse der Planeten gründete, wie sie Kepler und in dessen Nachfolge Abdias Trew (1597–1669), der letzte große Verfechter der Astrologie, postuliert hatten.197 Letztlich ist die Astrologie so als Teil einer Astro-Physik nach zeitgenössischem Verständnis zu verstehen.198 Von anderen als physikalisch begründbaren Prognosen wollte Magirus nichts wissen  : Die übrigen Erwehlungen in willkürlichen Wercken, als von Kleider anziehen, und dergleichen, weil es Kindisch und mit deß Menschen willkürlicher Eigenschaft streitet, werden billich von uns als Aberglaubisch übergangen. Balduin. cas. conscient. l.3.c.6. Kepler §.112.&117.93.199

Gerade die letzten beiden Zitate vermitteln wieder den Eindruck, hier äußere sich der Gelehrte Magirus in einer wissenschaftlichen Debatte. Jedoch darf auch dann der Publikationsort nicht aus den Augen geraten  : Er äußerte sich hier in Kalendertexten, deren Leser ein Laienpublikum darstellten. Diesem vermittelte er  : Es ist richtig, auf die Analyse der Sterne zu vertrauen (wie es ein jeder tut, der einen Kalender und ein Prognosticon kauft) – allerdings muß es sich dabei um wissenschaftlich fundierte Astrologie handeln. Diese Argumentationsstrategie klingt bekannt  : Magirus überträgt hier die Abgrenzungspolemik, wie sie Ärzte gewöhnlich gegenüber anderen Heiltätigen gebrauchten,200 auf ein anderes Gebiet. Allerdings ist die Situation nicht ganz die gleiche, denn er kann hier den Schulterschluß mit seinen akademischen Kollegen nicht voraussetzen  : Viele Ärzte hielten nichts von Astrologie, und man sucht entsprechende Berechnungen in ihren Aufzeichnungen vergeblich.201 Wie vor ihm bereits Kepler und Trew,202 war es auch Magirus’ Ziel, die populären Kalender zu nutzen, um gerade dort, wo seine Leser die neuesten Blicke in die Zukunft erwarteten, diese über ihre in seinen Augen irrationalen Erwartungen (und damit auch Ängste) zu belehren.203 Diese Zielsetzung einer adressatenbezogen nützlichen Belehrung fügt 196 Magirus, Johannes (1658b), Bl. D2v–D3r. 197 S. Gaab (2011), S. 275–78. 198 S. Kap. 4.1.3. 199 Magirus, Johannes (1655a), Bl. D4v. 200 S. Kap. 2.2.2. 201 So auch bei dem Arzt Heinrich Bossen (1620–1673), dessen Praxistagebücher in Kapitel 2 und 3 als Vergleichsquelle herangezogen werden. 202 S. Bauer (1989), S. 112  ; Tersch (2008), S. 17  ; Herbst (2010), S. 82–84  ; 114–17. 203 Diese Belehrungsversuche finden sich nicht nur in deutschsprachigen Kalendern (s. Herbst [2010]), sondern auch z. B. in England  : s. Eamon (2014), S. 168–71.

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sich mit anderen seiner Bemühungen zu einem größeren Ganzen.204 Klaus-Dieter Herbst, der eine breite Auswahl von Schreibkalendern aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts hinsichtlich der dort diskutierten Positionen zur Astrologie analysiert hat, will in Johannes Magirus deswegen auch einen exemplarischen Vertreter frühaufklärerischer Denkmuster sehen.205 Er stellt fest, daß Magirus, wenn er sich letztlich auch nicht von der Praxis astrologischer Prognosen lösen wollte, im Laufe der Jahre bereit war, seine Ansichten zum Teil zu revidieren.206 Johannes Magirus wendete also sein in den Kalendern vertretenes Postulat, als alleinige Mittel der Erkenntnis ratio et experientia gelten zu lassen,207 ebenso an sich selbst wie an seine Leser und rückte allmählich von einigen seiner anfänglichen Überzeugungen ab. Es wäre spannend gewesen, diesen Prozeß des Um- und Neudenkens über das Jahr 1670 hinaus noch weiter zu verfolgen. In diesem Jahr erfuhr seine Kalenderproduktion allerdings eine Krise  ; es geschah, was Kepler zu Beginn des Jahrhunderts bereits als seine eigene Befürchtung formuliert hatte  : Der gelehrte Unterweisungswillen, den Magirus mittels der Kalenderproduktion verfolgte, kollidierte so nachhaltig mit den Erwartungen seiner Leserschaft und damit seines Verlegers, daß es zum Konflikt und schließlich zum Abbruch seiner Kalenderproduktion kam.208 1.3.3 Das Scheitern der Astrologie

1670 begann Johannes Magirus, parallel zu seinem bewährten Kalendermodell zusätzlich einen Pest- und ansteckender Kranckheiten Cur- wie auch Tugendtkalender zu veröffentlichen. In der Eröffnungsadresse des zugehörigen Prognosticon von 1671 findet sich die folgende Beschwerde des Kalendermachers, der in seiner Absicht, ein neues, verbessertes Kalendermodell vorzustellen, schlichtweg von seinem Verleger ausgebremst worden war  : Nachdem Ihre Kays. Maiestät dem Churfürstlichen Maintzischen Directorio des H. Römischen Reiches ein Decret gnädigst insinuieren lassen, die Verbesserung des Calenders 204 S. Kap. 4.3.3. 205 Herbst (2010), S. 11 definiert das Frühaufklärerische an diesen Denkmustern als kritische Haltung gegenüber etablierten Autoritäten auf der Basis eigener, »vernünftiger« Überlegungen  ; für Johannes Magirus hebt er als besonderes Merkmal hervor, daß dieser als Mittel gegen den »Aberglauben« den Unterricht in der Volkssprache sah  : ebd., S. 16–17  ; s. hierzu auch Kap. 4.3.1. 206 Bzgl. der Kalendertexte aus den Jahren 1654 und 1670, in denen es zwei von vielen Publikationen begleitete Sonnenfinsternisse gab, kommentiert er (2010), S. 160–61  : »Das Beispiel von Magirus ist von besonderem Interesse, da sich hier bei einem einzelnen Kalendermacher zu dessen Lebzeiten der Wandlungsprozeß in der Ansicht über die Finsternisse ablesen läßt. Noch Mitte der 1650er Jahre breitete er seine Mutmaßungen über astrologische Wirkungen der Finsternisse in seinen Kalendern ohne große Abstriche aus. Im Kalender von 1656 können dann erste Zweifel herausgelesen werden und um 1670 fehlen die Finsternisdeutungen bzw. sie werden ganz allgemein und nach Maßgabe der Alten (Peter Crüger, Brahe, Kepler) vorgebracht.« 207 S. Kap. 4.1.3. 208 Vgl. zur selben Entwicklung bei Kepler  : Tersch (2008), S. 17.

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betreffend, als habe ich am vorigen Jahr einen Kunst-Calender geschrieben, solchen seiner Kayserl. Maiestät unterthänigst und gehorsamlichst dediciret, und nebenst den gewöhnlich Alten, Neuen und Römischen Kalendern den ältesten Calender des Noahs Moysis, der Griechen, der Ärzte (mensem penodicum [lies  : periodicum]) und des Dionysii Mathematici in Aegypte[n] Calend[er] beygefüget, weil aber mein Herr Verleger gesehen, daß solche Künste vom gemeinen Mann [erg.: nicht geschätzt werden], der die meinste [  !] CalenderKunst nicht gesucht, sondern vielmehr dieselbe häuffig abgehen [d. h.: die Kalender häufig verkauft werden  ; Anm. d. Verf.], die fein toll ins Gelach hinein schwätzen, den Sternen Würckungen antichten, so sie doch nit haben, und sich mit Macht angemasset haben, vom unschuldigen Him[m]el zu fabuliren, was sie gewolt, als hat er alle gedachte Calender und auch den Aegyptischen ausgelassen […].209

Der Alte und Neue Schreibkalender auff das Jahr […] MDCLXX, auf den sich die Beschwerde bezieht, zeigt zwar wirklich die Widmungsrede an Leopold I., in dem der neue Kalender beschrieben wurde,210 die angekündigten, in komparatistischer Methode aufbereiteten Kalenderversionen, an denen der Vorteil einer anderen Kalenderrechnung gezeigt werden sollte, sind in diesem Druck aber nicht zu finden. Den Grund nennt Magirus uns selbst. In den vergangenen 25 Jahren seit der Veröffentlichung seines ersten Kalenders 1646 seien die Leute nicht klüger geworden  ; worüber er damals geklagt hatte, treffe noch immer zu  : Der Markt wolle die gewohnten astrologischen Spekulationen, eben »viel rotes«. Der Verleger, der daran interessiert war, das gut gehende Kalendergeschäft nicht durch gelehrte Experimente zu gefährden,211 hatte daraufhin Magirus’ Texte zwar gedruckt, die Kalenderseite mit den astronomischen Berechnungen aber ersetzt  ; man erkennt im Jahrgang 1670 eine von allen anderen Kalendern abweichende Tabellengestaltung. Da Magirus seine Kompetenz immer besonders in der genauen Berechnung aller Planetenaspekte etc. sah – »wann ich auch gleich keine Satztaffeln hätte, wollte es auch wol noch richtiger und geschwinder treffen als andere« –,212 muß ihn der Druck seines Kalenders mit fremden Berechnungen besonders getroffen haben. Dies sollte jedoch nicht der letzte Konflikt zwischen Magirus und seinem Verleger gewesen sein. Christof Endter hatte, wie er dem Rat von Nürnberg später darlegte, im Rahmen der Herbstmesse 1671 in Frankfurt/Main ein Schreiben an seinen Marburger Kalendermacher geschickt, in dem er ihm mitteilte, dass seine kalender insgemein der zeit gar schlecht abgingen, so gar dass auch in Schweden, Polen und Niederland nit einiger verschluss damit sei, mit damit ausdrücklich angehängter

209 Magirus, Johannes (PK 1671b), Bl. A4v. 210 Magirus, Johannes (1670b), Bl. A2r–A3r. 211 Kalender machten einen großen Teil im Angebot der Buchmessen aus  : s. Eamon (2014), S. 166–67. 212 Magirus (1651b), Bl. B3r.

Der Arzt

erinnerung, damit innen zu halten bis dem herrn deswegen von Nürnberg aus wiederum möge zugeschrieben werden.213

Offenbar hatte Johannes Magirus aber gar nicht daran gedacht »innen zu halten«, sondern unverdrossen einen Kalender für 1673 produziert und zum Druck nach Nürnberg geschickt  ; dies wissen wir, da Christof Endter sich nicht vor vollendete Tatsachen stellen ließ, den Kalender nicht druckte und Magirus darauf »satisfaction« verlangte.214 Er konnte diesen Anspruch nicht durchsetzen  ; die Kalender von 1672 blieben die letzten aus seiner Produktion. Mit der Einstellung der Kalender aus seiner Feder werden die Quellen seltener, anhand derer wir Johannes Magirus in seinem Kampf für seine »reformierte Astrologie« verfolgen können. Im Wintersemester 1676 wird im Vorlesungsverzeichnis noch angekündigt (in der Philosophischen Fakultät), er werde »zur Astrologie übergehen, die Babylonische in die Schranken weisen, die wahre und reformierte aber darlegen«, 215 gut anderthalb Jahre später, im Sommersemester 1678, noch einmal ausführlicher, er werde »die reformierte und von jedem Täuschwerk und heidnischem Aberglauben gereinigte Astrologie lehren, die chaldäische aber und die ägyptische sowie deren Anhänger in die Schranken weisen und von Grund auf vernichten«.216 Bis zu seinem Ausscheiden aus der aktiven Lehrtätigkeit mit dem Wintersemester 1682 kündigte er dann nur noch zweimal Vorlesungen an, die auch über die Astronomia handelten, jedoch ohne Zusätze und Erklärungen. Insgesamt läßt sich Johannes Magirus’ Verhältnis zur Astrologie charakterisieren als gleichzeitig gekennzeichnet von Umdenken und Verhaftung, von Zweifel und Überzeugung. Er scheint auch in dieser Hinsicht exemplarisch für das 17. Jahrhundert, das Paul Münch deswegen als das »Jahrhundert des Zwiespalts« bezeichnete.217

1.4 Der Arzt Daß der Arzt Johannes Magirus in dieser Darstellung zuletzt thematisiert wird, ist nicht etwa einer Hierarchisierung der Gruppenzugehörigkeiten geschuldet. Vielmehr möchte 213 Zitiert nach  : Diefenbacher/Fischer-Pache (2003), S. 121, Nr. 784E. 214 S. Diefenbacher/Fischer-Pache (2003)  ; Magirus betrieb die Rechtssache auch nach Endters Tod noch weiter  : s. ebd., S. 122–23, Nr. 793. 215 UBM, VIII A 1167e#, WS 1676  : »[…] ad Astrologiam transibit, Babylonicam refutabit veram & reformatam autem explanabit.« 216 UBM, VIII A 1167e#, SS 1678  : »[…] Astrologiam Reformatam & ab omni Idolatria ac superstitione Ethnica purgatam docebit, Chaldaicam autem & Aegyptiacam ipsius asseclas refutabit & funditus destruet.« 217 S. Münch (1999), S. 165  : »Das Bewußtsein der Neuzeitlichkeit gründete auf realen Veränderungen, doch die ausgeprägte Janusköpfigkeit, das Neben- und Gegeneinander des Alten und Neuen, blieb als Wesensmerkmal des ›zwiespältigen‹ Jahrhunderts erhalten.«

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ich zeigen, daß eben jener Arzt Magirus, wie er aus den Quellen zu (re-)konstruieren ist, ohne all die bereits dargestellten Gruppenbezüge nicht existieren würde – genauso wenig wie der Universitätsprofessor Magirus ohne den Hof, der Mathematiker-Astrologe ohne die Gelehrtenwelt, der Hofmann ohne die Sternenkunde. Die (öffentliche) Person Johannes Magirus vereinte all diese Aspekte und Bezüge auf sich und konnte auch nur durch diese facettierte Identität in dem von ihr gewählten Umfeld erfolgreich sein. Natürlich gab es im 17. Jahrhundert auch Ärzte, die sich nicht primär nach einem Hof orientierten, Ärzte, die keine Astronomie trieben, ja vielleicht sogar Ärzte, die ihre Gelehrtheit nicht als primär identitätsstiftend empfanden. Deren Umfeld wurde wiederum aus der Schnittmenge anderer sich überlappender Kreise gebildet, zu denen sie sich zugehörig zählten (oder zählen wollten). Obwohl die Anzahl politischer, religiöser und sozialer Gruppierungen, die für dieses Beschreibungsmodell relevant sind, für die Frühe Neuzeit begrenzt ist, ergeben sich so doch für jeden Arzt spezifische Schnittmengen, mittels derer er in seinem individuellen Handeln ein wenig faßbarer wird. 1.4.1 Der »richtige« Arzt

Johannes Magirus benutzte seine ohnehin an ein astrologisch interessiertes Publikum gerichteten Kalenderpublikationen auch zur Selbstdarstellung als astrologisch versierter Arzt und damit als Werbung für seine ärztliche Praxis. Dies gilt für all seine Kalendertexte, v. a. aber für die Zeit seiner Etablierung in den 1640er Jahren.218 In seinen ersten vier Schreibkalendern ist ein fortlaufender Traktat zu finden, der zusammen insgesamt einen Umfang von ca. 46 Druckseiten im Oktavformat umfasst. Die Thematik dieses »discurses« nahm auf den werbenden Kalendertiteln mit jedem Jahr mehr Platz ein. Während sich der 1646er Kalender hier noch mit dem Hinweis begnügte, er sei auf den Berliner Horizont gestellt,219 und den Inhalt nicht erwähnte (der Kalendertext selbst eröffnete mit der Überschrift  : »Historischer und Medizinischer Discurs von der Quacksalber Natur und Eigenschafft«),220 prangten in den folgenden drei Jahren schon diese Ankündigungen auf dem Titel  : Aus Astronomischen und natürlichen Grunde, auch der gelahrtesten Astrologorum Erfahrung, mehr als nach den gemeinen Regeln gestellet […] ferners mit Continuation der Historischen Beschreibung der Quacksalber […], auch schönen Astronomischen Fragen, in welchen die rechte und wahre Sternenkunst, nebenst der Falschen iederman für Augen gestellet wird […] [1647],

218 S. hierzu Schlegelmilch (2012), S. 403–05. 219 S. Kap. 1.3.1. 220 S. Magirus, Johannes (1646a), Bl. A3r.

Der Arzt

Aus Astronomischen und natürlichen Gründen gestellet […] und mit Entdeckung der Ursachen, umb welcher willen heutiges Tages so wenig Leute von den Medicis curiret, hergegen aber so viel entweder gar hingerichtet oder ja jämmerlich verderbet werden, (da dann sonderlich der zauberischen Bosheit, und der Chymischen Tyranney, etlicher Apoteker und Krancken Wärterinnen Fürwitz und andere Fehler nicht vergessen wird), vermehret, mit dem wahren Gebrauche der Sternkunst in der Erwehlung der Artzney=mittel verbessert […] [1648], Warhaffter Spiegel Der wahren und falschen Aerzte, In welchen ein iedweder, der sich für einen Arzt ausgiebet, billich zuvor von den Patienten, ehe sie ihm ihren und der ihrigen Leib und Leben vertrauen, gespiegelt werden soll. Aus den warhafften Philosophischen, Medicinischen, Chymischen und Mathematischen Gründen gestellet [1649].221

Immer geht es um »wahr« und »falsch«, um das Aufdecken von Betrug und Scharlatanerie in allen Bereichen der Medizin (Chymie, Astronomie, ärztlichem Handeln im Ganzen). In all diesen Texten wird eine Negativ-Folie verfehlten Handelns, Aberglaubens und Nichtwissens entworfen, vor der eine eigene Deontologie ärztlichen Idealverhaltens sukzessiv Konturen erhält. Durch das Einflechten persönlicher Erfahrungswerte, der experientia – Usus zeitgenössischer medizinischer Fachliteratur – verschmilzt der in den Texten konstruierte Idealarzt mit ihrem Verfasser. Dies wird besonders deutlich im Kalendertext von 1648, der in Form eines Gesprächsspiels gehalten ist und in dem in einem der fiktiven Gesprächspartner, Christianus, leicht das Alter Ego des Verfassers erkannt werden kann, wenn dieser von »meinem Calender« u. ä. spricht.222 Indem Johannes Magirus seine Leser umfassend über die notwendigen Kenntnisse eines Arztes unterrichtete und seitenweise Kritik an diesbezüglichen Verfehlungen übte, schrieb er sich Zeile für Zeile – vor den Augen potentieller Patienten – selbst ärztliche Autorität zu. 1.4.2 »Sternenkunst« und Medizin

Nicht genug damit, daß schon seine Kalendertexte die Leser ausgiebig belehrten, ergänzte Magirus sie in den Prognostica noch mit erörternden Passagen zu Fragen wie  : »Was ists denn für eine Kunst oder Wissenschaft, die man Mathematicam nennet  ?« oder  : »Was dann die Astronmie sey oder die Sternenkunst  ?« oder eben  : »Ob ein Medicus auch die Astrologiam wissen müsse  ?«.223 Er ließ seine Leser damit gewissermaßen auf dem Papier eine Disputation erleben, in der ein Hochschullehrer (er) eine wesentliche Frage zur Disposition stellte und dann für das Publikum eine Zusammenfassung der Antworten – in

221 Magirus, Johannes (1647a), Bl. A1r  ; (1648a), Bl. A1r  ; (1649a), Bl. A1r. 222 Magirus, Johannes (1649a), Bl. C3r  ; D2r. 223 Magirus, Johannes (1647b), Bl. A3v  ; A4v  ; (1646b), Bl. B4v.

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seinem Sinne – bot.224 Angesichts seiner bereits erläuterten Haltung zur Astrologie ist die durchweg positive Antwort auf jegliche Frage nach einem Nutzen der Astrologie keine große Überraschung. Ein Arzt sei kein Arzt, wenn er die Astrologie nicht beherrsche, lesen wir  ; undenkbar sei es, Krankheiten umfassend zu begreifen ohne astrologische Kenntnisse. Um seine Aussagen zu untermauern, bemühte er, wie viele Iatromathematiker, neben allen möglichen zeitgenössischen Autoren auch immer wieder das antike Doppelgestirn der Medizin, die auch im 17. Jahrhundert noch schwer wiegenden Autoritäten Hippokrates und Galen  :225 Eben diese Wissenschaft recommendiret auch den Medicis Galenus in lib. I Hipp. De morbis ves. Da er saget, wer da die Astronomi nicht weiß, dem wil ich nicht verbergen, daß er dem Hippocrati nicht gehorche, welcher ihn darzu vermahnet hat, und saget eben an demselben Orte, daß ein iedweder Medicus an dem Orte, da er practiciren wird, der vornembsten Sternen Auff- und Untergang wissen müsse, ja eben derselbe Galenus wil haben, daß ein Medicus auch eine Nativitet stellen könne und solcher sich bey seinen Patienten gebrauchen […]226

Magirus weist auf eine Jahrtausende überspannende Tradition medizinischer Astrologie hin, die über die griechischen Ärzte noch weiter in die Vergangenheit reiche, bis hin zu den Ägyptern, den nach platonischem (und zeitgenössischem) Urteil ersten Wissensträgern.227 Sogar die Bezeichnung der Ärzte in der eigenen Gegenwart – physici – gründe auf dieser Tradition  : Haben also die Aerzte in Aegypten recht und wol schon vor Christi Geburt daran gethan, daß sie nebenst der Artzneykunst die Astrologiam gelernet, damit sie aus Betrachtung des Gestirns, was zu erwarten, sich erkundigen und demselben fürkomen konten  ; und die solches thaten, nannten sie IatroMathematicos, ja der hochgelehrte Mann Bodinus helt darfür, daß es auch darher komme, daß man die bestelten Medicos in den Städten Physicos heißet,

224 S. Hoye, William  : Die mittelalterliche Methode der Quaestio, in  : Herold, Norbert/Kensmann, Bodo/Mischer, Sibille (Hg.)  : Philosophie  : Studium, Text und Argument (Münster 1997), S. 155– 78, hier S. 165  ; zu den tatsächlichen Disputationen, die Johannes Magirus später als Professoren in Marburg abhalten ließ s. Schlegelmilch (2016a). 225 S. Dick (1946), S. 302  : »By the 17th century, medical starcraft was under fire as useless, even criminal, practice  ; but in the eyes of those who referenced authority, the fortress stood undamaged.« 226 Magirus, Johannes (1646b), Bl. C1r. 227 Zum positiven Ägyptenbild der Humainisten s. Gindhart, Marion  : Bildschrift im Kontext. Die Hieroglyphica-Übersetzung Johannes Herolds (Basel 1554), in  : Kipf, Klaus/Robert, Jörg/Toepfer, Regina (Hg.)  : Humanistische Antikenübersetzung und frühneuzeitliche Poetik in Deutschland (1450–1620) (Berlin 2017) [i. Dr.].

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Abb. 5  : Doppelseite aus  : Altes und Neues Prognosticon Astrologicon […] Des M.DC.LXI. Jahres, Bl. B2v–B3r.

weil sie der Physic (dazu dann diese Wissenschaft gehöret) sollen wol erfahren und gelehret seyn.228

Es ist schwer, an dieser Stelle einen Eindruck von den immer wiederkehrenden, seitenfüllenden Vorträgen über den Nutzen der Astrologie für die Medizin zu vermitteln, die v. a. in den Prognostica zu finden sind. Der abgebildete Text (Abb. 5) steht exemplarisch für viele gleichartige  : Nach Erläuterungen zu den letzten Tagen im Jahr (im Dezember prognostizierte Magirus offensichtlich für den 1., 29. und 30. einflußreiche Konstellationen) beginnt eine typische Erörterung dessen, was die Nativitäten für die Menschen und ihre Krankheiten alles leisten können (erneut unter Anführung Keplers). Sie steigert sich allmählich über aufzählende Namenskaskaden von Befürwortern der Astrologie hin zu einem Opitz-Gedicht über Narren (in denen nach Magirus’ Vorarbeit leicht die Kritiker der Astrologie erkennbar werden). Auf Latein zitierte Autoritäten belegen, daß auch »hochgelehrte« Menschen die Astrologie für unabdingbar (in Großbuchstaben  : necessariam) halten.229 Man muß sich während des Quellenstudiums immer wieder verdeutlichen, daß für die damaligen Leser zwischen der Lektüre der einzelnen Prognostica jeweils ein Jahr lag, oder sie sogar eher spontan, nach Angebot, Preis oder ansprechendem Titelblatt, nicht aber unbedingt nach Verfasser, ihren jährlichen Kalender kauften. Erst dann tritt der dominie228 Magirus, Johannes (1652b), Bl. A2r–v. 229 Magirus, Johannes (1661b), Bl. B2v–B3r.

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rende Eindruck ermüdender Redundanz hinter die angestrebte Wirkung zurück, nämlich in jeder Ausgabe erneut und auf engstem Raum durch einen kompakt belehrenden Text den jeweiligen, vielleicht in diesem Thema noch unerfahrenen Leser zu überzeugen, wie nützlich von einem verständigen Arzt gestellte Nativitäten sind. Zu diesem Zweck führte Magirus auch immer wieder Beispiele aus seiner eigenen Praxis an, die bestätigten, daß die von ihm errechneten Konstellationen tatsächlich Menschen krank machen konnten. Er erzählte seinen Lesern, daß solche nicht zu leugnenden Erfahrungen selbst die skeptischsten seiner Kollegen auf den richtigen Weg gebracht hatten  : […] ja es finden sich noch täglich Medici, welche für diesem, nicht geglaubet, daß die Sternen in und bey der Gesundheit und Kranckheit der Leute kräftig wären, nach dem sie aber befunden, und erfahren haben, daß es sich also verhalte, daß sie es nunmehr auch glauben, und haben wir an diesem Orte, nach dem Julio deß 1659. Jahres ein Exempel gehabt, eines Patienten, bey welchem man der Gestirn Wirckung ganz kräftig mercken können.230

Margaret Osler formulierte als eine wichtige Fragestellung bezüglich oft widersprüchlich scheinender Tendenzen innerhalb der scientific revolution  : »Why were particular figures attracted to one tradition or another  ?«231 Für Johannes Magirus und die Astrologie wenigstens läßt sich diese Frage beantworten. Für ihn war ein Arzt ohne Astrologie nicht vorstellbar. Es ging ihm folglich um mehr als eine wissenschaftliche Debatte, wenn er sich zu immer neuen Verteidigungen dieser Kunst aufschwang. Klaus-Dieter Herbst hat zwar, wie bereits ausgeführt (s. o.), darauf hingewiesen, daß Magirus mit den Jahren von Teilen seiner Überzeugungen abließ. Ich möchte aber behaupten, daß es primär sein ArztSein war, das ein noch radikaleres Umdenken verhinderte. Das Eingestehen eines eigenen »Aberglaubens« – und in Konsequenz eine totale Abkehr von der Astrologie – hätte die Auslöschung seiner über lange Zeit propagierten und v. a. internalisierten ärztlichen Identität zur Folge gehabt. In den Kalendern kämpfte somit auch nicht der Kalendermacher um seine Leserschaft, sondern der Arzt um seine eigene Glaubwürdigkeit. Interessanterweise weist H. Darrel Rutkin darauf hin, daß sich die Astrologie in der Medizin länger als in allen anderen Fächern gehalten zu haben scheint.232 Magirus steht hier exemplarisch für viele Ärzte im 17. Jahrhundert, die sich nicht von der Astrologie lösen wollten oder konnten. Warum auch  ? Die Körper der Patienten mußten für sie oft unzuverlässige, schwer lesbare Informationsträger gewesen sein, die Planeten dagegen, deren unveränderbares Kreisen sogar in Tabellen schwarz auf weiß erfassbar war, gaben dem ansonsten Unverständlichen Sinn.233 Zudem hatten über Jahrhunderte die Erfah230 Magirus, Johannes (1661b), Bl. B1v. 231 Osler (2000), S. 7. 232 S. Rutkin (2008), S. 557. 233 S. auch Kap. 3.2.7. zum konkreten Nutzen der Astrologie für den Arzt in seiner Beziehung zu den Patienten.

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rungen unzähliger Menschen die Gesetzmäßigkeiten der Astrologie scheinbar bestätigt, und gerade in dieser Kollektiverfahrung, kumulierter experientia, begründete sich doch für ihre Befürworter ihre Wissenschaftlichkeit.234 Noch dazu gewährte die unauflösbare Verschränkung mit der Astronomie ein mathematisches Moment, das im »Zeitalter der Mathematisierung« auch dem neuen Postulat berechenbarer Wahrheiten genügte.235 Wir begegnen dem charakteristischen Element des Kuhn’schen Paradigmas  : Daß ein wissenschaftliches Modell Risse bekommt, diese aber mit großem Aufwand geschlossen werden, indem man innerhalb des akzeptierten Systems Lösungen findet, die die Prämissen desselben nicht gefährden.236 Genauso blieb in der Frühen Neuzeit, trotz kritischer Stimmen, über lange Zeit ein Konsens gewahrt, nämlich darüber, daß die Sterne bestimmte Eigenschaften (wie den Einfluß auf die sublunare Welt) einfach besaßen. Galileis Entdeckung der Sonnenflecken und die sich daraus entspinnende Debatte, was diese wohl seien – denn auf der Sonne als nach Aristoteles reinstem Planeten, im Äther des unveränderlichen superlunaren Raumes, konnte es ja keine plötzlichen Verunreinigungen geben  ! –,237 zeigt, welches Deutungspotential solche Prämissen freisetzen konnten. Die Medizin zeigte solche Beharrungstendenzen gar nicht nur mit Blick auf die Astrologie, sondern auch insgesamt hinsichtlich des mit ihr verschränkten Aristotelismus. Einzelne Lehrstühle führten dessen Verbindlichkeit noch im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts in ihren Statuten. Aus diesem Grund kam es auch zu Magirus’ Zeit zum Konflikt der Marburger Universität mit einem seiner Kollegen, Johann Jacob Waldschmidt (1644–1689), der überzeugter Cartesianer war und seine Studenten über Themen wie den Medicus Cartesianus oder den Chirurgus Cartesianus (beides 1687) disputieren ließ.238 Erhellend für das bisher Erläuterte ist wiederum, daß auch eine unter seinem Vorsitz gehaltene Disputation Astrologus Medicus (1681) zu finden ist, in der der Einfluß der Sterne auf den Mikrokosmos des Körpers beschrieben wird. Waldschmidt versuchte offensichtlich, cartesianische Physik an die Stelle der aristotelischen zu setzen, aber die Astrologie beizubehalten, ganz ähnlich wie der englische Arzt Richard Meat in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der genau dasselbe mit der Newton’schen Physik probierte.239 Daß die Sterne keinen Einfluß auf den Körper des Menschen haben sollten, war für viele Mediziner offensichtlich nicht hinnehmbar. Sie neigten eher dazu, mit großem Aufwand neue physikalische und physiologische Modelle an das Paradigma zu adaptieren als Fra234 Vgl. Dooley (2014), S. 233  : »It [i.e. astrology] seemed to conform to observations and experiences accumulated over time. Its methods were the methods of all knowledge-gathering  ; one could say, it corresponded to the cognitive ›style‹ of the time. It used an experiential, not an experimental approach  ; and as such it belonged to Renaissance science and only partly to ours.«  ; s. auch Kap. 4.1.3. 235 S. den Ausblick am Ende dieses Bandes. 236 S. Kap. 4.1.3. mit Anm. 101. 237 S. Freedberg, David  : The Eye of the Lynx. Galileo, His Friends, And the Beginning of Modern Natural History (Chicago 2002), S. 117–32. 238 S. Schlegelmilch (2016a), S. 158. 239 S. Rutkin (2008), S. 555–56  ; weitere Beispiele bei  : Brosseder (2004), S. 304–05.

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gen zuzulassen, die dieses zerbrechen mußten. Sabine Kalffs These, daß »der allmähliche Niedergang astromedizinischer Praktiken im Verlauf des 17. Jahrhunderts auch aus der fortschreitenden Komplexität der Verfahren resultierte, die das Wissensgebiet so elitär gestalteten, bis es sich selbst den meisten Medizinern verschloss, sofern sie nicht begnadete Mathematiker waren«,240 scheint, zumal vor diesem Hintergrund, nicht tragfähig. Wäre es geglückt, die Iatromathematik weiterhin auf einer mehrheitlich als gültig akzeptierten physikalischen Theorie fußen zu lassen, wie sie vormals die aristotelische Physik geliefert hatte,241 wäre eine Ausdifferenzierung des Verfahrens wohl eher als Zeichen der Professionalisierung angesehen worden. Sie hätte zu einer weiteren Spezialisierung innerhalb des Berufsstandes geführt. Nicht die Komplexität der Methodik, sondern das Aufgeben der physikalischen Prämisse bedingte den Niedergang der Iatromathematik. 1.4.2 Mächtige Patientenschaft

Magirus’ lebenslangem Eintreten für die Astronomie und das astrologisierende Arzttum nur Karrieregründe und finanzielles Interesse zu unterstellen, wäre eine zu einseitige Deutung. Sie würde seinem Bemühen, der sich ständig aktualisierenden Debatte zu folgen und seine eigenen Gedanken auch zu hinterfragen, nicht ausreichend Rechnung tragen. Trotzdem muß festgehalten werden, daß Iatromathematiker eine gehobene Klientel bedienten und ihr Auskommen oft im Umkreis der Höfe fanden. Nicht umsonst nennt Rutkin die Astrologie ein »key instrument in a courtier’s toolkit«.242 Der Hofastrologe oder Hofmathematicus hatte eine lange Tradition an den europäischen Fürstenhöfen, wo Fragen der Gesundheit, von Geburt und Tod stets eng verknüpft waren mit Fragen der Macht, des Machterhalts oder auch Machtverlusts.243 Es ist daher nicht ungewöhnlich, daß Magirus in seinem Kalendertext »Ob ein Medicus auch die Astrologiam wissen müsse  ?«244 sofort auch auf bestimmte Kundschaft zu sprechen kam  : Ja, es sollen die Medici, so hohen Potentaten, Fürsten und Herren, an deme viel gelegen, auffwarten wollen, derselben Personen ihre Nativiteten stellen, und dann Jährlich die Revolutiones, directiones, Bansitus [Druckfehler, lies  : transitus], Ecklipses [  !] in acht nehmen, damit man ein waches Auge haben könne und vorstehenden Kranckheiten mit guter Diete und andern Mitteln vorkommen möge, weil sonderlich solche viel besser als alles ander Glück und Unglück nebenst dem Temperament aus den Nativiteten zu sehen seynd.245

240 Kalff (2015), S. 141. 241 S. Clark (1999), S. 435  ; 440 zum aristotelischen Verständnis des Äther als Grundlage astraler Wirkung. 242 Rutkin (2008), S. 549. 243 S. Bauer (1989)  ; Brosseder (2004), S. 30–50. 244 S. Kap. 1.4.2. 245 Magirus, Johannes (1646b), Bl. C1r.

Der Arzt Abb. 6  : Von Johannes Magirus gezeichnetes Horoskop für Markgraf Ernst von Brandenburg, 1642. GStA PK, BPH, Rep. 32, V 46, Bl. 85r.

Da von seinen Diarien nur das vierte erhalten ist und dieses erst im Jahr 1647 einsetzt, ist das erste schriftliche Zeugnis ärztlichen Handelns, das wir von Johannes Magirus besitzen, sein Gutachten anläßlich des Todes des Markgrafen Ernst von Brandenburg im Jahr 1642. Der Markgraf war ein schwieriger Patient, da offensichtlich in einem psychischen Ausnahmezustand gefangen, einer »perturbation des gemüths«  : Er zeige »Phantasey und ungleiche Reden«, liege entweder totenstill oder sei »furiosisch«, wobei er Leute schlage, so daß man ihn »mit tüchern binden und von starcken leuten halten lassen müsse[n]«. Die Ärzte dokumentierten das ungewöhnliche Verhalten des Markgrafen und gleichzeitig ihre eigene Hilflosigkeit  : »Sie [d. h. seine Durchlaucht] sehen einen nach dem anderen an, befehlen aber nichts, sie heißen oder verbieten nichts. Von Medicamentis kan man Ih. fürstl. Gn. wenig, undt solches mit müh, und list nur beybringen.« Berichte an den Geheimen Rat von Seiten der Leibärzte Martin Weise und Christopher Maius (1605–1653) 246 hierüber setzen in den Akten am 6. September 1642 ein.247 Der zusammenfassende Bericht über das Verhalten des Patienten an den darauffolgenden Tagen, gibt bereits als 246 Zu den Leibärzten Maius und Weise s. Bahl (2000), S. 75  ; zu Weise s. außerdem Kap. 2.1.2 und 2.3.3. 247 S. GStAPK, BPH. Rep 32, V 46, Bl. 13r–91r  : Akte über die Krankheit und den Tod des Markgrafen

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behandelnde Ärzte Maius, Weise und einen neu hinzugezogenen dritten Arzt an  : Johannes Magirus.248 Bemerkenswert ist, daß nach dem Tod des Markgrafen gerade der jüngste Arzt und Neuankömmling in Berlin das Gutachten über dessen Erkrankung schreiben durfte.249 Dieses Gutachten wurde an die Medizinische Fakultät in Königsberg zur Prüfung geschickt und enthielt neben der Beschreibung der Krankheit, einem Sektionsbericht und einer abschlägigen Beurteilung, es könne sich um einen Giftanschlag gehandelt haben, auch eine Nativität des Markgrafen mit zugehöriger Zeichnung (s. Abb. 6). Magirus erklärte hier, daß der Graf nachweislich durch die bei seiner Geburt vorherrschende Konstellation ein Melancholicus gewesen sei, ihn diese Veranlagung bei vorliegenden ungünstigen Umwelteinflüssen auch zur Manie prädestiniert habe, er aber letztlich an einem aus der Melancholie hervorgehenden Organversagen gestorben sei. Es ist gut möglich, daß Magirus’ besondere Qualifikation als Iatromathematicus den Ausschlag gab, daß er das Gutachten verfassen durfte, da er mit dem Stellen der Nativität den Verdacht, der prominente Patient sei vergiftet worden, durch eine erweiterte Expertise ausräumen konnte. Für den jungen Arzt war dies eine dankbare Aufgabe  : Mit seinem Gutachten wurde er nicht nur von der Königsberger Fakultät und damit von etablierten Fachkollegen, sondern ebenfalls vom Hof wahrgenommen, und das auch nicht nur, weil er eine politisch brisante Frage hatte klären helfen. Denn er schickte zusätzlich sein Gutachten, eigenhändig ins Deutsche übersetzt und von einem Kondolenzbrief begleitet,250 an die Mutter des Verstorbenen, Markgräfin Eva Christina von Brandenburg, wodurch er sich einer der gehobenen Hofgesellschaft angehörigen Person als iatromathematisch geschulter Arzt vorstellte. Daraus mochten Aufträge für das Stellen weiterer Nativitätshoroskope für die noch Lebenden erwachsen – den Bedarf der »hohen Potentaten, Fürsten und Herren« hatte Magirus nach seinen eigenen Worten ja durchaus im Blick (s. o.). Offensichtlich wurde er nach diesem Gutachten auch bereits als ausreichend etabliert angesehen, um heiraten zu können  : Seine Hochzeit mit Dorothea Bergius erfolgte nur ein knappes Jahr später.251 In dem erhaltenen Diarium ist neben bloßen Notizen zu Geburtsdaten und bestimmten Planetenkonstellationen bei einzelnen Patienten nur eine Nativitätsskizze samt zugehöriger Zeichnung zu finden, die aber auch gleich wieder in höchste Kreise weist (s. Abb. 7). Magirus hielt auch nach seinem Weggang lebenslang Kontakt zum brandenburgischen Hof in Berlin. So beschäftigte er sich auch 1654, während seiner Zeit in Zerbst, gründlich

Ernst von Brandenburg  ; die Berichte der Ärzte hier ab Bl. 33r., die zitierten Passagen auf Bl. 33v– 39r. 248 S. ebd., Bl. 36v. 249 S. ebd., Bl. 81r–86v  : »Iudicium de morbo, causis eius et morte Illustrissimi Domini Ernesti principis«. 250 S. SBPK, Ms. boruss. qu. 81  : Johannes Magirus an Markgräfin Christina von Brandenburg  : Berlin, 26.9.1642. 251 S. Kap. 1.1.4. Zu den Bedingungen einer Eheschließung in der Frühen Neuzeit s. Münch (1999), S. 41.

Der Arzt Abb.  7  : Magirus’ Entwurf einer Nativität für Luise Henriette von Brandenburg, 1654. UBM, Ms. 96, S. 500.

mit der Schwangerschaft der Kurfürstin Luise Henriette.252 Im Rahmen seiner Ratgebertätigkeit schrieb er offensichtlich Konsilien253 und erstellte in diesem Zusammenhang auch die Nativität der Kurfürstin, um seinen Überlegungen deren naturgegebene Konstitution zugrunde legen zu können. Er beschrieb ihr Temperament als warm und trocken, also von der gelben Galle bestimmt, sah bei Saturn- und Jupiter-Einfluß die Gefahr von Leber- und Milzobstruktionen, bei einem Sextil von Saturn und Mond einen drohenden Katarrh.254 Was manchem heute fremd, wenn nicht befremdlich, erscheint, nämlich der Gedanke, daß alles Irdische in (oft nur erahnbaren) Zusammenhängen und darüber hinaus in noch größeren Einflußsphären verhaftet ist, war gerade in der Hofkultur, die die eigenen 252 S. UBM, Ms. 96, S. 498–506 (Mai/Juni 1654  : Serenissima duc Electorissa). 253 S. ebd., S. 502–05  : Magirus rät in der Frage eines Aderlasses bei Schwangeren zur Vorsicht und weist darauf hin, daß stets die Körperkräfte der betreffenden Frau zu berücksichtigen seien (wobei er hinsichtlich der Kurfürstin nicht genug Informationen habe) und man dem Foetus nicht die Nahrung nehmen dürfe. Gegen einen leichten Aderlaß mit der gebotenen Vorsicht sei nichts einzuwenden  ; käme es dann zum Abort, läge das nicht am Aderlaß, sondern an der Schwere der behandelten Krankheit. 254 UBM, Ms. 96, S. 512 (o. D.: pro tempore conceptionis Seren[issimae] Electr[icis]).

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Machthaber in dieses über den einzelnen Menschen hinausreichende Beziehungsnetz eingebettet sah, akzeptiertes Weltbild. In einem Brief schrieb Johannes Magirus, ebenfalls im Jahr 1654, er müsse »für seine Churfürstl. Durchlauchtigkeit und der Hertzogin von Braunschweig gantz rare und noch niemals adhibirte medicamenta aussinnen«, nachdem er Ende April den beiden Damen persönlich in Berlin aufgewartet habe.255 Eben letztere, die Herzogin Sophie Elisabeth von Braunschweig-Wolfenbüttel, hatte ihrerseits nur zwei Wochen vor diesem Kontakt mit Magirus, nämlich am 13. April 1654, zum 76. Geburtstag ihres Ehemanns, Herzog August von Braunschweig-Wolfenbüttel, ein dreitägiges Bankett organisiert. Dies soll hier nur deswegen Erwähnung finden, da die als musikalisch hochbegabt bekannte Herzogin zu diesem Anlaß eine Maskerade inszenierte, während derer sie den Fürsten in einer Art allegorischen Triumphzugs von ihrem Gemach aus durch seinen Palast führte. Sie selbst war dabei verkleidet als die »Natur«, während verwandte adelige Frauen und Männer die »vier Complexiones« (Melancholicus, Phlegmaticus, Cholericus und Sanguineus) und die sieben Planeten darstellten, die das Fürstenpaar in wohl choreographiertem Auftritt begleiteten, wobei jeder tanzende Planet von eigenen Instrumenten begleitet wurde. Nachdem dem Geburtstagskind durch Merkur eine Glückwunschadresse der »Natur« verlesen worden war, wurde der Fürst bei seinem Bankett von deren Vasallen bedient, zu denen sich nun auch noch Allegorien der fünf Sinne gesellten. Anschließend führte die »Natur« den Fürsten zurück in ihr persönliches Gemach.256 Ob nun also die Herzogin mit ihrem Temperamente-und-Planeten-Ballett die vermeintlich gottgewollte Position ihres Ehemannes im kosmischen Geschehen ästhetisierte oder Magirus den Lauf der Planeten berechnete, um das Temperament eben dieser Herzogin zu bestimmen und »niemals adhibirte medicamenta auszusinnen« – beides gründete auf einer Weltsicht, auf deren Prämissen die Akteure für ihre jeweilige Didaxe ohne jeden Rechtfertigungszwang zurückgreifen konnten.257 Die Verhaftung der politischen Machtansprüche in dieser spezifischen Weltdeutung, wie sie in Braunschweig so kunstvoll inszeniert wurde – und wie sie übrigens auch Magirus selbst formulierte, der die »schöne Harmonia der himmlischen Policey« von Sonne und Planeten in Analogie zu der irdischen, den Herrschern und ihren

255 AGIZ, Briefwechsel 1649–1696  : Johannes Magirus an Fürst Johannes VI. von Anhalt-Zerbst  : Zerbst, 3.6.1654. 256 Vgl. die Beschreibung dieses Festaktes bei  : Berns, Jörg Jochen  : Trionfo-Theater am Hof von Braunschweig-Wolfenbüttel, in  : ders. (Hg.)  : Höfische Festkultur in Braunschweig-Wolfenbüttel, 1590–1666  : Vorträge eines Arbeitsgespräches der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel anläßlich des 400. Geburtstages von Herzog August von Braunschweig und Lüneburg (Amsterdam 1982), S. 663–710. Zu dem didaktischen Impetus solcher Aufführungen s. Meise, Helga  : »tanzten den ganzen Tag«. Der höfische Tanz als Didaxe und Botschaft, in  : Morgen-Glantz 12 (2002), S. 208–30. 257 Vgl. auch Gabriel Tzschimmers Festbeschreibung, bei der ein Treffen von hohen Potentaten mit Planetenkonstellationen gleichgesetzt und dementsprechend als gefährlich oder nützlich gedeutet wird  : s. Völkel, Markus  : Gabriel Tzschimmers Durchlauchtigste Zusammenkunft und die Überführung von höfischer Repräsentation in Gelehrsamkeit, in  : Zedelmaier, Helmut/Mulsow, Martin  : Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit (Tübingen 2001) 221–48.

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Räten, sah258– macht vielleicht verständlich, warum die Iatromathematik an den Höfen zum einen überhaupt und zum anderen so lange ihre Klientel fand. Magirus konversierte sein Leben lang nicht nur mit verschiedenen Fürsten über den Einfluß der Gestirne auf die sublunare Welt,259 er war auch weiterhin als Nativitätensteller gefragt. Fast dreißig Jahre nach der Aufwartung bei der Herzogin von Braunschweig finden wir ihn noch 1682 in einem Brief dienstwillig versichern, er habe sich »Eur. Fürstl. Durchl. gnädigsten Befehl nachkommend an die Nativität gemacht undt auch, Gottlob, glücklich außgeführet«  ; die besagte Durchlaucht, in diesem Fall Marie Amalie von Hessen-Kassel, bekundete dann auch in einem Antwortbrief für die »gehabte bemühung […] fleißigen Dank zu erstatten« und wünschte ihm für noch viele Jahre Gesundheit und Wohlstand.260 Um neuer wissenschaftlicher Debatten willen die Astrologie zu verwerfen, hätte auch bedeutet, solche Klientel zu verlieren  : Adelige, die einem Wohlstand wünschten, waren mit Sicherheit nicht die schlechteste Kundschaft. 1.4.3 Arzt – und Professor der Medizin

Bisher wurde die Religion als identitätsstiftender Faktor noch nicht angesprochen. Der Grund hierfür ist, daß Johannes Magirus sich zu diesem Thema nicht so positionierte, daß er sich in Bezug auf irgendeine theologische Frage in besonderer Weise geäußert oder gar die konfessionellen Verwerfungen des 30-jährigen Krieges kommentiert hätte. Natürlich spickte er seine Texte ebenso wie mit gelehrten so auch mit Bibel-Zitaten, wobei die den Arztberuf legitimierenden loci communes nicht zu kurz kamen.261 Jedoch gehörte er bereits zu einer Generation von Kalendermachern, für die nicht mehr die ursprünglichen Positionen der Lutheraner und Calvinisten hinsichtlich der Astrologie262 entscheidend waren, 258 S. Magirus, Johannes (1660b), Bl. A2v–A3r. 259 Gerade die Widmungen seiner Kalenderschriften an hochstehende Persönlichkeiten nahm Magirus immer wieder zum Anlaß, sich als versierter Gesprächspartner in für den Adel interessanten Themen zu zeigen, so z. B. in Bezug auf Landgraf Hermann von Hessen-Rotenburg (»Wann dann seine fürstl. Durchl hochseligsten Andenckes eine geraume Zeit und zwar etliche Jahr nacheinander biß an seinen Tod mit mir von gedachter Wirkunge der Sternen, so wol mündlich als schrifftlich (wie auch eine ziemliche Menge seiner gnädigtsten Handschreiben solches darthun) conversiret, welches dann ohne grosse Belustigunge und Erforschunge der Geheimnissen der Natur nicht abgangen […]  : 1664b, Bl. A2v–A3r) oder Erzbischof Johann Philipp von Mainz (»Es ist bey mir noch in frischem Gedächtniß der gnädigste und sinnreiche Discurs, welchen Euer Churfürstl. Gnaden, da ich deroselben zu Mainz unterthänigst auffwartete, gehalten, da unter andern auch von Calendern und Kräfften deß Gestirns von Euer Churfürstl. Gn. hochverständige Reden geführet seynd […]«  : 1665b, Bl. A2r). 260 Beide Schreiben befinden sich in der folgenden Akte  : HstAM, Bestand 4a, Nr. 59/14  : Briefwechsel der Landgräfin Maria Amalie mit dem Prof. und Leibarzt Joh. Magirus (1682). 261 Hier v. a. vor allem wiederkehrend das Lob des Arztes als eines von Gott eingesetzten Helfers  : Sirach 38, 1 und 12–14. 262 S. Barnes (2016), S. 182–214.

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sondern allein, ein Selbstverständnis als »Christliche Astrologi, die Gottes Ehr und Gewissen in acht nehmen« glaubhaft zu machen.263 In deren Augen war alles, was am Himmel geschah, Zeichen Gottes und ermöglichte dem Menschen, der es lesen konnte, Einblick in dessen Willen  : Und alsdann muthmassen verständige Astrolog, daß wie der allerhöchste Gott von Ewigkeit her, alle Dinge, wie sie nach einander stehen, vorhergesehen, als werde er auch in der ersten Erschaffung des himmlischen Uhrwercks also seine Räder gestellet haben, daß die grossen Finsternissen und Aspecten eben zu den Zeiten, da er solche Händel wil erfolgen lassen, einfallen, und gleich einem himlischen Wecker allemal ein Zeichen, daß abermal die grosse Stunde neuer Händel verhanden, von sich geben müssen  : welches denn scheinet der Verstand zu seyn, der göttlichen Rede, daß die himlischen Liechter sollen scheiden Tag und Nacht, und geben Zeichen und Zeiten. Crugerus.264

Eine solche »christliche Astrologie« war für Höfe jeder Konfession vertretbar  ; ja gerade in Marburg, wohin Magirus schließlich wechseln sollte, zeigte der reformierte Hof schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts starkes Interesse an der Förderung astrologischer und alchemistischer Studien.265 Johannes Magirus war somit ein Arzt, der sich durch seine astronomisch-astrologischen Kenntnisse besonders auszeichnete, die Astrologie wiederum an den Höfen, auch den reformierten, in einer geradezu entkonfessionalisierten Sichtweise willkommen als politisch bedeutsame Informationsquelle. Reformierter Glaube, reformierte Höfe und Universitäten bildeten die Bezugspunkte, auf die Magirus seine Karriere ausrichtete. Denn er wollte stets nicht nur Arzt sein, sondern – das macht schon die starke Identifizierung mit seinem Professorenvater deutlich – auch eine Professur der Medizin innehaben. Nachdem seine Etablierung in Frankfurt/Oder gescheitert war, ging er nach Berlin und verbreitete dort, wie bereits geschildert,266 seine Gelehrsamkeit. Die Ortswahl scheint zunächst für eine akademische Karriere nicht glücklich, da es dort keine Universität gab. Viel wichtiger, um eine Professur zu erhalten, war aber tatsächlich der Hofbezug  : »Die Mehrzahl der deutschen Universitäten waren freilich fürstliche Gründungen, und die Fürsten übten auf ihre Universitäten starken, oft genug unmittelbaren Einfluß aus, so daß die Humanisten am sichersten über den Hof an oder gar in die Universität gelangen konnten.«267 Der brandenburgische Hof in Berlin hätte somit im günstigsten Fall durch fürstlichen Willen zu einer Berufung nach Königsberg – oder dann doch auch wieder nach Frankfurt/Oder führen können. Die Einflußmöglichkeiten des Hofes be263 Magirus, Johannes (1647b), Bl. B2v. Magirus bezog sich so wahlweise auf Luther, Melanchthon oder auch die alten Kirchenväter, deren Wettern gegen die Astrologie sich ja immer nur bezogen habe auf eine lügnerische, wie er sie durch seine wahre (Kepler’sche) ersetzen wolle  : s. ebd., Bl. B3v–B5r. 264 Magirus, Johannes (1647b), Bl. B2r  ; zum Bild des Uhrwerks s. Kap. 4.2.2. 265 S. Barnes (2016), S. 189–90. 266 S. Kap. 1.1.1. 267 Mertens (2006), S. 127.

Der Arzt

schränkten sich jedoch nicht nur auf das eigene Territorium. Der brandenburgische Hof war mit dem Übertritt des Kurfürsten Johann Sigismund zum reformierten Glauben im Dezember 1613 in eine »Phalanx« reformierter Staaten eingetreten.268 Regional hatte schon dieser Übertritt eine unmittelbare Auswirkung auf die Familie Magirus darin, daß Tobias Magirus kurz darauf an die nun reformiert ausgerichtete Viadrina berufen wurde. Überregional stand der brandenburgische Hof zu der Zeit, als dann Johannes Magirus an seiner Etablierung arbeitete, bereits in einem festen Beziehungsnetz mit den Staaten, die schon in der Übertrittsphase starkes Interesse an einem reformierten Brandenburg gezeigt hatten, namentlich der Pfalz, Anhalt und Hessen-Kassel  ;269 bestimmend wurde auch die Verbindung mit den Niederlanden, die sich gleichzeitig entwickelte.270 All dies muß vorausgeschickt sein, um zu verdeutlichen, daß Magirus’ Studienaufenthalt in den Niederlanden sowie seine Ortswechsel (Berlin [Brandenburg] – Zerbst [Anhalt] – Marburg [Hessen-Kassel]) – keinem Zufall geschuldet sind. Mitunter verteilten sich die Mitglieder ganzer Familien an verschiedene Fürstenhöfe dieses reformierten Netzwerkes  : Johannes’ eigener Bruder Joachim beispielsweise blieb bis zu seinem frühen Tod als kurfürstlich-brandenburgischer Jurist in Berlin, während Johannes Magirus weiterzog.271 Was die einzelnen Fürstenhöfe noch enger zusammenschloß, war die gezielte Heiratspolitik der Häuser untereinander. Es drängt sich bei der Lektüre der Kalenderwidmungen oft der Verdacht auf, Johannes Magirus habe den Wert der Konversation mit adeligen Frauen auch darin erkannt, daß diese potentiell mit einflußreichen Männern verheiratet werden würden oder sogar schon waren. Jedenfalls führte er seine »gnädigsten Diskurse« immer mit möglichst vielen am Hof weilenden (weiblichen) Personen und erinnerte sie später gerne sowohl daran wie an seine Vertrautheit mit anderen Mitgliedern ihrer Familie  : Wenn denn Durchleuchtigste Fürstin, Ew. Fürstl. Durchl. sich auch in der Mathesi und in derselben tieffsten Speculationen sehr wol geübet unnd dieselbe hoch halten, wie ich auß unterschiedlichen gnädigsten Discursen, die E. Fürstl. Durch. mit mir gehalten, unterthänigst gespürt, und ich ohn das E. Fürstl. Durchl. wegen der hohen Gnaden, so mir für diesem von Ewer Fürstl. Durchl. nähesten und Durchleuchtigsten Anverwanden widerfahren, obligiret bin und, weil ich lebe, obligirt bleiben werde […].272

268 S. Lenk (1998), S. 240. 269 S. Lenk (1989), S. 242  : »In Heidelberg, Zerbst und Dessau wurde man aktiv, und der Landgraf von Hessen-Kassel begab sich persönlich nach Berlin, um Johann Sigismund Mut zu machen.« 270 S. ebd., S. 241. 271 Über Joachim Magirus ist kaum etwas bekannt  : s. Becmann (1706), S. 276. Werner Lenk (1998), S. 244, zeigt ein weiteres Beispiel mit den drei Brüdern von Dohna, die Verbindungen zu den Häusern der Oranier, Pfälzer, Anhaltiner und Brandenburger unterhielten und auch vermittelten. 272 Magirus, Johannes (1651b), Bl. A2v.

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Johannes Magirus (1615–1697)

Dieses Konzept ging schließlich auch auf  : Nachdem er fünf Jahre am Zerbster Gymnasium unterrichtet hatte, wurde Magirus 1656 an die Universität Marburg berufen. Seine neue Landesherrin war die Schwester des brandenburgischen Kurfürsten, die Landgraf Wilhelm VI. von Hessen-Kassel geheiratet hatte. Mit ihr hatte Magirus bereits in den 1640er Jahren, zu ihrer beider Zeit in Berlin, Kontakt gepflegt, wie sein damaliges Verlobungsgeschenk in Form seines Fortifikationsbüchleins,273 aber auch diese Widmung von 1663 zeigen  : E. F. Durchl. aber ehre ich billich mit unterthäniger Dedication dieses Calenders 1. weil dieselbe nun in das zwanzigste Jahr mich mit gnädigen Augen angesehen, mich in Widerwärtigkeit getröstet, und noch vor kurtzer Zeit alle Gnade erwiesen, und gnädigst verheissen […]274

Die Gnade, die sie ihm erwiesen hatte, war 1656 die Professur der Mathematik (also des Faches, mit dessen Kenntnis er am Hof besonders geworben hatte)  ; es folgte 1659 zusätzlich die Professur für Geschichte, die vakant geworden war, und schließlich, 1661, das eigentliche Ziel  : die Professur der Medizin. 1670 wurde Johannes Magirus zum Leibarzt der Fürstin ernannt, 1676 sogar zu deren Geheimem Rat.275 Vom Schreiben des Gutachtens über den Tod des Markgrafen im Jahr 1642, als einer ersten ärztlichen Dienstleistung für den Hof in Berlin, bis zum Erhalt der Professur in Marburg waren damit 19, bis zur Verleihung des Leibarzttitels ganze 28 Jahre vergangen.276

273 S. Kap. 1.2.1. 274 Magirus, Johannes (1663b), Bl. A4v. 275 S. Gundlach/Auerbach (1927), S. 368. 276 An diesem Beispiel wird deutlich, was Pierre Bourdieu meint, wenn er »Zeit« als Faktor der Kapitalumwandlung beschreibt  : s. Bourdieu (2015), S. 58.

2. Die Arztpraxis

Als im März 1652 in Zerbst ein Student bei einer Auseinandersetzung mit einem Gastwirt angeschossen wurde, wurde er stark blutend zu einem Chirurgen gebracht, der die Wunde begutachtete und die Blutung, vermutlich durch Bandagen, zu stillen versuchte. Er wählte ein instrumentum aus seinem Bestand – wohl einen Katheter, denn es wird berichtet, daß der Patient keinen Urin lassen konnte –, scheiterte aber bei dessen Anwendung. Schließlich starb der Patient, nachdem er zwei Nächte im Haus des Chirurgen gelegen hatte, an dem Schaden, den die Schußwunde angerichtet hatte, und der Chirurg öffnete den Körper, um den Kugelkanal zu rekonstruieren. Der ganze Vorgang findet sich beschrieben im Diarium des damals amtierenden Stadtarztes von Zerbst, Johannes Magirus, der sich zur Beobachtung des Falles offensichtlich mehrmals selbst zum besagten Haus des Chirurgen begab.1 Chirurgen praktizierten, wie die Vertreter anderer Handwerksberufe, die für ihre Tätigkeit spezifisches Mobiliar, Material und Werkzeug benötigten, in Werkstätten.2 Für Ärzte dagegen war eine statische räumliche Verortung in der Frühen Neuzeit am wenigsten üblich. Zwar konnte auch ein Chirurg für eine ambulante Behandlung gerufen werden, ein Arzt aber begab sich in der Regel immer zu den Patienten, die er behandelte.3 Magirus’ Praxis entsprach demnach nicht unserer heutigen Vorstellung von einem festen Raum (mit vier Wänden), den man als Patient zu festen Zeiten zu besuchen hat. Die »Arztpraxis« entstand im Gegenteil überall da, wo Arzt und Patienten aufeinandertrafen.4 Die Beschreibung der Größe einer frühneuzeitlichen Praxis macht es deswegen erforderlich, Faktoren wie ihre geographische Ausdehnung (Wohnorte der Patienten) und die stattgefundenen Patientenkontakte in Relation zu setzen  : Ritt bspw. ein Arzt aus der Stadt hinaus zu einem Adelssitz, erweiterte das zwar den Radius seines Wirkungsgebietes, reduzierte aber im Umkehrschluß die Zahl seiner Patientenkontakte, da ihn Kranke in der Stadt während seiner Abwesenheit nicht konsultieren konnten. Die Gesamtzahl seiner Patienten war somit, ganz unabhängig von personenbezogenen Faktoren wie Beliebtheit oder fachlichem Können, auch von anderen, ganz alltagsweltlichen Umständen abhängig. Ein Arzt mit vielen Patienten war auch noch lange nicht automatisch reich  : Es konnte sein, daß die Patienten ihn letztlich nicht zahlen konnten (oder wollten)5 oder ihm als 1 S. UBM, Ms. 96, S. 235–38 (10. März 1652  : daniel finger der jünger). 2 Zu den unter dem Sammelbegriff »Chirurg« zusammengefaßten handwerklich-chirurgischen Berufen s. Sander (1989), S. 55. 3 S. Kinzinger (2000), S. 74. 4 S. die theoretischen Überlegungen zu diesem Kapitel in der Einleitung zu diesem Band  ; ebd. Anm. 47  ; s. außerdem Kap. 2.2.3. 5 S. Schlegelmilch (2017) zu dem Arzt Georg Laub (1554–1597), der sich über genau diese Situation beschwerte.

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Die Arztpraxis

Naturallohn statt Geld Hühner oder Rüben ins Haus brachten.6 Hatte er nur wenige Patienten, mußte er dagegen nicht zwangsläufig erfolglos sein  : Wenn diese (einfluß)reich waren, konnte er sogar wohlhabend werden. Eine Arztpraxis des 17. Jahrhunderts ist, wie aus dem Gesagten zu ersehen ist, somit nicht so klar zu fassen wie die eines heutigen niedergelassenen Kassenarztes, der nach Gebührenordnung und in einer durch Zulassungsbeschränkungen geregelten Konkurrenz arbeitet. Die Aufzeichnungspraxis frühneuzeitlicher Ärzte tut ihr übriges, eine statistische Auswertung ihrer Praxistätigkeit zu erschweren. Gleichwohl läßt sich in der Zusammenschau der hier ausgewerteten Quellen doch ein recht lebendiges Bild davon entwerfen, wie man sich eine Arztpraxis des 17. Jahrhunderts in ihrer Entwicklung und Gestalt vorzustellen hat.

2.1 Drei Orte, drei Praxen 2.1.1 Startschwierigkeiten  : Frankfurt/Oder

Johannes Magirus kehrte im Januar 1641 von seiner Studienreise nach Frankfurt/Oder zurück.7 Er war nun 25 Jahre alt und stand vor der Aufgabe, sich eine eigene Existenz aufzubauen. In seiner vom Krieg bereits schwer geschädigten und noch immer nicht befriedeten Heimatstadt war die Ausgangslage für ein solches Unterfangen nicht günstig. War schon sein Weggang an das Thorner Gymnasium vom Kriegsgeschehen motiviert gewesen,8 so hatten die Auswirkungen der über mehr als ein Jahrzehnt andauernden Kriegshändel in Frankfurt/Oder ihn auch in der Ferne noch verfolgt. In der bereits zitierten Widmungsrede seines Compendium Fortificatorium berichtet er, er habe in Leiden eine ganze Weile unterrichten müssen, weil »der Krieg mein geliebtes Vaterland also verwüstet, das mir alle Mittel entgangen seynd«  ;9 demnach war sein Vater offenbar in seinem Einkommen so geschädigt, daß er ihm von zu Hause keine Unterstützung mehr zukommen lassen konnte. Angesichts dessen, was ihn in der Heimat erwartete, versuchte Magirus deswegen zuerst, seine Rückkehr aufzuschieben und in Leiden zu bleiben, wie ein Brief von Gerhard Johannes Vossius (1577–1649), Professor für Geschichte am Amsterdamer Athenaeum, zeigt.10 Magirus bat demnach um dessen Hilfe, um eine Stelle als Hauslehrer bei einer Leidener Familie zu finden, sah sich aber einer zu großen Konkur  6 S. Jütte (1991), S. 199.   7 Daß es sich um bei dem Zeitpunkt seiner Rückkehr in der von ihm erzählten Geschichte (s. Kap. 1.1.2.) um den Dreikönigstag des Jahres 1641 und nicht 1640 handeln muß, zeigt der im Folgenden behandelte Brief des Vossius, der noch im September des Jahres 1640 an Magirus nach Leiden geschickt wurde.   8 S. Kap. 4.1.1.   9 S. Kap. 1.2.1. 10 Brief von Gerardus Joannes Vossius an Johannes Magirus, Amsterdam, 21.9.1640 [XI. Kal. Octobris MDCXL] (Oxford, Bodleian Library, MS Rawl. letters 84 (a), fol. 117  ; Regest [M. Stolberg] unter  : www.aerztebriefe.de/id/00022226  ; letzter Zugriff  : 12.12.2017). Das abstract des Briefes in der Da-

Drei Orte, drei Praxen

renz ebenfalls aus Deutschland geflüchteter und in gleicher Weise qualifizierter junger Gelehrter gegenüber.11 Letztlich zwang ihn dieses Überangebot an Akademikern auf dem niederländischen Arbeitsmarkt zur Rückkehr in seine zerstörte Heimatstadt. Dort begann Magirus umgehend, sich Patienten zu suchen  ; schon für den Februar 1641 berichtete er von einer Fehlgeburt bei einer Frau, die er in Behandlung hatte.12 Bald erteilte er auch wieder mathematischen Unterricht  :13 Er versuchte demnach von Beginn an, genau das Nebeneinander von Praxis und Lehre zu etablieren, wie er es später auch an allen anderen Orten anstrebte, an denen er sich noch niederließ. Doch in Frankfurt/Oder mißlang dieser Versuch der Etablierung aus bereits genannten Gründen, und Magirus strich dieses unrühmliche Scheitern später aus seiner Biographie.14 2.1.2 Die erste Praxis  : Berlin

Eine Positionierung im Umfeld des brandenburgischen Hofes, an dem der Name der Familie Magirus bereits bekannt war,15 war ein strategisch sinnvoller Schritt, nachdem in seiner Heimatstadt der Aufbau einer Praxis vorerst nicht möglich war. Die alte Handelsroute von Berlin nach Küstrin, von der eine ausgebaute Straße nach Frankfurt/Oder abzweigte, ermöglichte ihm eine Niederlassung in einer Distanz von nicht einmal zwei Tagesreisen einerseits zu seiner Familie, andererseits der Viadrina. Magirus reiste nachweislich in seiner Berliner Zeit des Öfteren zurück in seine Heimatstadt,16 empfing Besuch von dort (u. a. seinen Vater),17 schickte wiederum Medikamente mit Kaufleuten tenbank Early Modern Letters Online (http://tinyurl.com/7ekj5na  ; letzter Zugriff  : 12.12.2017) gibt den Inhalt falsch wieder. 11 Die damalige Leidener Universität galt »als ausgesprochene Friedensinsel mit bis zu 800 Zugängen pro Jahr«  : Mager, Inge  : Studium im Krieg – Studium im Frieden. Die Beziehung zwischen den Universitäten Helmstedt und Leiden im frühen 17. Jahrhundert, in  : Schmidt-Glintzer, Helwig  : Die Reformuniversität Helmstedt 1576–1810 (Wiesbaden 2011), S. 111–40, hier S. 128. Vossius selbst beklagte sich über die Vielzahl der an ihn herangetragenen Gesuche  : s. van Miert (2009), S. 52 mit Anm. 31. 12 Magirus, Johannes (UPR), S. 17 = Bl. C1r  : »Im übrigen nehmen sie sich wol inacht, dann sie leichtlich mißgebähren, wie solches Anno 1641. im Februar. zu Franckfurt an der Oder mir selbsten an einer schwangeren Frauen, welche ich dazumal in der Cur hatte, fürkommen ist.« 13 Magirus, Johannes (1650b), Bl. A2v (s. Wortlaut des Zitats in Kap. 1.1.3.)  ; (1671b), Bl. A2v (s. Wortlaut des Zitats in Kap. 1.1.4.). 14 S. Kap. 1.1.4. 15 S. Kap. 1.2.2. 16 So z. B. am 20.1.1648, als Magirus und die ihn begleitenden Reisenden eine ungewöhnliche Kometenerscheinung auf dem Weg zwischen Seelow und Libbenichen sichteten, von der er danach in seinen loci communes berichtete  : s. Abb. 8  ; s. den zugehörigen Text im Anhang, Text 4. Magirus erwähnte ausdrücklich, daß er nach seinem Weggang von Berlin den persönlichen Kontakt v. a. mit seinem Vater nicht mehr aufrechterhalten konnte  : s. HStAM, Best. 5, Nr. 206, S. 3–4 (s. Wortlaut des Zitats in Kap. 1.1.2). 17 S. UBM, Ms. 96, S. XXVII (Nr. 10  : der herr Vatter, h[err] Magirus)  ; s. daneben auch ebd., S. 151 (Herbst 1648  : Pincerna Academiae Francofurt[anae]).

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dorthin zurück18 und unterrichtete Studenten der Viadrina in seinen Kollegien.19 Es ist gut möglich, daß der Professorensohn seinen Aufenthalt in Berlin zu Beginn nur als eine Art Zwischenlösung ansah, bis an der Frankfurter Universität ein Lehrstuhl neu zu besetzen sein würde. Dem Kurfürsten in der Residenzstadt dann als Mathematiker und auch als praktizierender Arzt bekannt zu sein, konnte für dieses Vorhaben nur von Vorteil sein. Johannes Magirus scheint in Berlin frei praktiziert zu haben, wofür zuerst eine Praxiserlaubnis vom Kurfürsten ausgesprochen werden mußte.20 Sie ist nicht erhalten, dafür aber ein Brief seines späteren Kollegen Martin Weise genau aus der Zeit, als Magirus mit dem Aufbau seiner ersten, dann gescheiterten Praxis in Frankfurt beschäftigt war. Weise beschrieb in diesem Brief anläßlich seiner vom Kurfürsten gewünschten Ernennung zum Hof- und Leibarzt seine gegenwärtige Situation in Berlin so, daß die bereits ernannten Leibärzte Otto Bötticher (1581–1663) und Helwig Dieterich (1601–1655) schon längere Zeit nicht in der Stadt weilten und somit die Versorgung »der ganzen Hoffstadt und so viele[r] arme[r] zurückgelassene[r] Hofdiener« allein von ihm geleistet werden müsse  ; hierdurch erleide er finanzielle Einbußen, da er seine eigene Praxis in den beiden Städten (Berlin und Cölln) und auf dem umgebenden Land nicht mehr hinreichend ausüben könne.21 Diese gewissermaßen verwaiste Praxis eröffnete Johannes Magirus die Möglichkeit, in Berlin Fuß zu fassen. Natürlich besitzt Martin Weises Klage hinsichtlich Überlastung und Existenzbedrohung auch ein topisches Moment, um seinem Fürsten ein höheres Gehalt aus der Tasche zu locken. Jedoch verdeutlicht die darin enthaltene Aussage, die beiden Residenzstädte inklusive des Umlandes seien nur von einem einzelnen akademischen Arzt versorgt, das Potential, das dieser Standort einem Berufsanfänger wie Johannes Magirus bot. Tatsächlich zeigt die soziale Schichtung der von ihm behandelten Patienten sowie die enge Kooperation mit Weise in den folgenden Jahren, daß dieser ihn gleichermaßen wie einen jungen Kollegen in eine Gemeinschaftspraxis einführte. Magirus hatte eigene Patienten, das Diarium enthält aber auch consilia (die in unseren Zeiten der »zweiten Fachmeinung« entsprechen) für Weises Patienten. Aus der Zeit noch vor den Aufzeichnungen des erhaltenen Diarium ist ihr gemeinsames Auftreten sogar in der Leichenpredigt eines

18 UBM, Ms. 96, S. 131 (Juli 1648  : Des Herrn Inspektors zu Frankfurt frau, meine frau mume)  : »Fiat dimidium Hoffmaniani medicamenti cum usu s. informatione & mittatur per mercatores Francofortem euntes.« 19 S. Kap. 1.1.1  ; 1.1.2. 20 Eine solche ist für Johannes Knöffel erhalten, der wenige Jahre später in brandenburgischem Territorium praktizieren wollte  : s. Brief von Friedrich Wilhem I. von Brandenburg an Johannes Cnöffelius, Cölln, 24.4.1655 (GStA PK, I. HA Geheimer Rat, Rep. 9 Allg. Verwaltung, L 1, Fasz. 5, unpag., Regest [S. Schlegelmilch] unter  : www.aerztebriefe.de/id/00020721  ; letzter Zugriff  : 12.12.2017). 21 S. Brief von Martin Weise an Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg, Berlin, 14.0.1641 (GStA PK, I. HA Geheimer Rat, Rep. 9 Allgemeine Verwaltung, L 1, Fasz. 4, unpag., Regest [S. Schlegelmilch] unter  : www.aerztebriefe.de/id/00004041  ; letzter Zugriff  : 12.12.2017).

Drei Orte, drei Praxen Abb. 8  : Magirus’ Reiseroute in Richtung Frankfurt/Oder  : »der weg drauf wir zufuhren – – Selow – – – – Libbenichen« (UBM, Ms. 97, S. 31  ; s. Anhang).

prominenten Patienten festgehalten.22 Diese Ausgangssituation war zunächst denkbar positiv, denn der Aufbau eines eigenen Patientenstamms war eine zeitraubende Angelegenheit. Magirus selbst beschrieb diesen Prozeß so, daß junge Ärzte »im Anfang nicht viel zuthun haben, und junge Practici sich eine weil patientiren müssen, ehe sie im Beruff kommen«.23 Es ist nicht mehr nachzuweisen, welche Kontakte zwischen der Familie Magirus und Korrespondenzpartnern in Berlin bestanden, bevor der älteste Sohn Johannes dorthin wechselte. Wahrscheinlich ist ein Austausch zwischen Tobias Magirus und seinem früheren Kollegen an der Viadrina, Johannes Bergius, der inzwischen Hofprediger in Berlin war und wenig später (1643) Johannes Magirus’ Schwiegervater werden sollte.24 Jedenfalls nahm sich Martin Weise, der wie Johannes Magirus in Wittenberg bei Daniel Sennert (1572–1637) studiert hatte und von diesem selbst zum Erlernen der medizinischen Praxis nach Berlin geschickt worden war,25 des jungen Arztes umgehend an. Nicht nur führte er

22 S. Bergius, Johannes (1645), Bl. F2r  : »[…] worauff Sie auch die medicos, als Herrn D. Weissen und Herrn D. Magirum dahin verbitten lassen, und weil dieselbe ein hitzig fieber vermercket, haben sie allerhand dienliche medicamenta verschrieben […].« 23 Magirus, Johannes (1648a), Bl. D4v. 24 S. Kap. 1.1.4., bes. Anm. 70. 25 Zu Martin Weise s. Splett (1997)  ; Bahl (2000), S. 75. Das Verhältnis zwischen Martin Weise und Johannes Magirus in dessen Etablierungsphase entsprach wohl dem zwischen dem Berliner Arztes Georg Magnus (zu dem bislang nicht viel bekannt ist  : s. Niemann [2009], S. 34) und dem jungen Martin Weise nach dessen Wechsel nach Berlin. Zu Johannes Magirus als »Sennert-Schüler« s. Kap. 4.1.1. (Thorn und Wittenberg [1631–1635]).

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Die Arztpraxis

ihm Patienten zu, er öffnete ihm auch seine Bibliothek,26 zog ihn unmittelbar nach seiner Ankunft zur Behandlung des verwirrten Markgrafen Ernst von Brandenburg hinzu und ließ ihn im Anschluß daran sogar das politisch nicht unwichtige Gutachten über dessen Tod verfassen.27 Offenbar erhielt Magirus bereits im Jahr dieses Gutachtens, 1642, die fürstliche Erlaubnis zu heiraten  ; dies bedeutet, daß er als ökonomisch unabhängig gelten durfte.28 Daß er sich fünf Jahre später, im März 1647, »I[hr] Königl[ichen] May[estä]t in Schweden Wittib bestallt[er] Leib-medicus« nennen konnte,29 war ein weiterer früher Erfolg seines beruflichen Werdegangs. Maria Eleonora von Brandenburg, eine Tante Friedrich Wilhelms I. von Brandenburg, hatte 1620 Gustav II. Adolf von Schweden geheiratet und nach dessen Tod, darauffolgenden Auseinandersetzungen mit dem schwedischen Hochadel und schließlich ihrer Flucht aus Schweden im Jahr 1643 ihren Witwensitz in Insterburg genommen. Immer wieder weilte sie auch am preußischen Hof in Königsberg. Wie ihren Briefen zu entnehmen ist, machte sie die Luft und das Bier in Preußen dafür verantwortlich, daß sie sich dauerhaft krank fühlte.30 Aus diesem Grund begab sie sich schließlich von Königsberg nach Berlin,31 wo sie dann vermutlich den Hofarzt konsultierte und über Martin Weise auch Johannes Magirus kennenlernte. Nachdem 1646 dessen erste zwei Kinder früh verstorben waren,32 übernahm die Königinwitwe im Mai 1647 höchstpersönlich die Patenschaft für seinen Zweitgeborenen, Johann Adolph.33 Drei Wochen nach dessen Geburt jedoch starb Magirus’ Frau Dorothea,34 und auch sein kleiner Sohn findet danach nie mehr Erwähnung, was nahelegt, daß er nicht viel länger überlebt hat. Als sich Maria Eleonora dann im Sommer 1647 auf den Weg von Berlin nach Braunschweig machte, begleitete sie der inzwischen alleinstehende Magirus als ihr Leibarzt auf dieser Reise, vielleicht ein gerade zu diesem Zeitpunkt nötiger Vertrauensbeweis gegenüber ei-

26 S. Schlegelmilch (2013), S. 199–206. 27 S. Kap. 1.4.2. 28 S. Dülmen (31999), Bd. 1, S. 134. 29 Magirus, Johannes (1648a), Bl. A2r. 30 Zitat nach GStA PK, VI. HA Nl Arnheim, F., Nr. 40, Bl. 24a–25a  : Maria Eleonora von Schweden an den Reichskanzler Axel Oxenstierna (?), Königsberg, 1.8.1645  : »Dan ich mag den Herren Reichscanzler nicht verhalten, dass [ich] so lang ich in Preussen gewesen, fast keinen gesunden Tag gehabt, weil ich die Luft u. das Bier nicht vertragen können […]«. 31 Ebd., Bl. 26a, Maria Eleonora von Schweden an den Reichskanzler Axel Oxenstierna (?), Königsberg, 22. Oktober 1645  : »Und weil ich ganz und gar mich in Preussen nicht woll sondern stets krank und unpässlich befinde, als bin ich gänzlich resolviert, nach der Mark nach Christin [Küstrin] oder Berlin mich zu begeben und, geliebt es Gott, in künftigem Januario allhier auf zu sein.« 32 S. ELAB, Kirchenbuchstelle Alt-Berlin, 9/54  : Domgemeinde, Bestattungsbuch 1616–1718, S. 53, 22.3.1646  ; ebd. S. 54, 2.12.1646. 33 ELAB, Kirchenbuchstelle Alt-Berlin, 9/1  : Domgemeinde, Taufbuch 1616–1659, S. 186, 6.5.1647. 34 ELAB, Kirchenbuchstelle Alt-Berlin, 9/54  : Domgemeinde, Bestattungsbuch 1616–1718, S. 55, 27.5.1646.

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nem Arzt, der seine eigene Familie nicht hatte retten können.35 In dem bereits erwähnten Gedicht seines Schülers Nicolaus Peucker (1620–1674) wird er, dem gerade die eigene Familie gestorben war, als Lebensretter der Königinwitwe gefeiert  : Hat Gott durch deine Hand der Königin Geblüte, das Schweden von sich ließ und wieder zu sich nam, nicht wieder auffgebracht  ? Das Schreiben, welches kam von ihrer eignen Hand, an dich einmal gegeben gab Zeugnis, daß du sie behalten bey dem Leben, sie danckte Gott und dir. Kam sie nicht wieder auff  ? daß sie die Mark durchzog, nach Braunschweig und darauff nach ihres Königs Grufft.36

Das uns erhaltene Diarium beginnt unmittelbar nach seiner Rückkehr von dieser Reise mit dem Eintrag »Anno 1647 5. Septembr[is] post reditum a regina Serenissima«.37 Johannes Magirus durfte inzwischen als etabliert gelten  ; er hatte nach fünf Jahren in Berlin einen gewissen Patientenstamm, hatte zudem temporär als Leibarzt einer hochgestellten Persönlichkeit gedient und arbeitete erfolgreich mit den kurfürstlichen Leibärzten zusammen. Der Brief Christoph Colers an Tobias Magirus zeigt, daß man dessen Sohn offensichtlich 1648 bereits für so erfolgreich hielt, daß man ihn als Anlaufadresse für Unterstützung suchende Neuankömmlinge in Berlin verstand.38 Magirus stieß in der Ausübung seiner ärztlichen Tätigkeit in Berlin offensichtlich jedoch auch an Grenzen. Dies bezog sich zum einen auf die soziale Stellung seiner Patienten. Er behandelte keine Mitglieder des Fürstenhauses, wenige Adelige (und diese jeweils nur einmalig), allenfalls Familienmitglieder der Hofbeamten sowie Bürger der Stadt. Dies war an und für sich keine schlechte Klientel, zumal für eine erste Praxis, zeigt aber auch, daß Magirus durch die Anwesenheit des Leib- und Hofmedicus Martin Weise an einer sukzessiven Ausweitung seiner Patientenschaft auf höherstehende Personen gehindert war, es sei denn, Weise zog ihn von sich aus zu einem Konsil hinzu. Magirus’ temporäre Anstellung als Leibmedicus bei der Königinwitwe dürfte wohl im Wesentlichen nur dadurch zustande gekommen sein, daß diese eine längere Reise unternehmen wollte und Martin Weise in Berlin unabkömmlich war.

35 Das Versterben von Familienmitgliedern eines Arztes konnte durchaus Zweifel an seiner Kompetenz aufkommen lassen  ; so notiert der Arzt Johann Storch, nach dem Tod seines kleinen Sohnes seien vierzehn Tage keine Patienten gekommen, und er habe sich um das Fortbestehen seiner Praxis gesorgt  : s. Duden (1991), S. 77. 36 Magirus, Johannes (1650b), Bl. A3r. Zum vollständigen Wortlaut von Peukers Gedicht s. Anhang, Text 3 und Kap. 4.1.2. (Leiden [1637–1639]). 37 UBM, Ms. 96, S. XXVII. 38 S. Kap. 1.1.2.

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Die Arztpraxis

Zum anderen dokumentieren die Aufzeichnungen, daß Magirus kaum bei schwereren Erkrankungen konsultiert wurde, ohne daß Weise bald als Mitbehandelnder auftaucht. Eine solche Konstellation mußte für einen Arzt, der noch relativ am Anfang seiner Praxisausübung stand wie Magirus, nicht zwangsläufig negativ sein, er lernte ja auch von seinem Kollegen (s. u.). Gleichzeitig aber bedeutete die Präsenz eines erfahreneren (und dazu wohl auch charismatischen)39 Arztes wie Weise in derselben Stadt, den Patienten als ihre erste Wahl bei ernsthafter Erkrankung ansahen, daß es Magirus verwehrt blieb, eigene Behandlungskonzepte für schwerwiegendere Fälle zu entwerfen. Dies stand nicht nur seiner persönlichen Entwicklung als praktizierender Arzt im Weg, sondern bremste gleichzeitig auch seine akademischen Ambitionen, wie an der Form seiner Notate erkennbar ist (s. u.). Vermutlich über einen Patienten, den Zerbster Theologieprofessor Christian Beckmann (1580–1648),40 erfuhr er schließlich von einer freien Stadtarztstelle in der anhaltischen Residenzstadt, die ihm die Möglichkeit bot, in doppelter Anstellung Praxis und Lehre zu verbinden. Diese Aussicht dürfte ihn wohl hauptsächlich bewogen haben, die unmittelbare Nähe des brandenburgischen Hofes zu verlassen. 2.1.3 Die Praxen in Zerbst und Marburg

Magirus’ Ortswechsel nach Zerbst (1650/1) und dann nach Marburg (1656) unterschieden sich von seinem ersten nach Berlin insofern grundlegend, als auf ihn an beiden Orten bereits Ämter warteten  : in Zerbst das des Stadtarztes, in Marburg der Lehrstuhl der Mathematik. Hierdurch war nicht nur eine erste – wenn auch bescheidene (s. u.) – Finanzierung vor Ort bereits gesichert, sondern eine Integration in das soziale Gefüge der Stadt bzw. der Universität gewährleistet. Über die Marburger Praxis läßt sich indes nicht viel sagen, außer daß Magirus offensichtlich sofort nach seiner Ankunft in der Stadt wieder behandelte  ; es sind im erhaltenen Diarium für Marburg jedoch außer einer Eigenbehandlung nur noch zwei Fälle aufgezeichnet, bevor Magirus das Manuskript zu einem Notizbuch für die Inhalte seines Geschichtskollegs umfunktionierte.41

39 Weise war bereits 1629 nach Berlin gekommen und praktizierte über ein halbes Jahrhundert dort  ; s. Splett (1997), S. 478  : »Weise galt […] als der ›Märckische Hippokrates‹, als erfolgreicher und angesehenster praktischer Arzt der Doppelresidenz Berlin-Cölln, der noch im Alter von 80 Jahren zum ersten Dekan des neu errichteten ›Collegium Medicum‹ gewählt wurde […] und 1688, obwohl bereits emeritiert, erneut als Hof-Medicus bestätigt wurde.« Eine Quelle des 18. Jahrhunderts spricht davon, daß Weise aufgrund seiner Autorität »der andere Churfürst« geheißen und seine Ratschläge wie Befehle angesehen worden seien  : »Wie denn in der Stadt und ganzem Lande sein Ansehen so groß war, daß, was man zur Medicin oder Diaet gehöriges vorschlug, sogleich angenommen wurde, so bald man hinzu sagte, D. Weise habe es gesagt« (zitiert nach Bahl [2001], S. 78). 40 S. Castan (1999), S. 183. Das Diarium dokumentiert, daß Magirus bereits in Berlin in Kontakt mit Beckmann und dessen Sohn in Zerbst stand  : UBM, Ms. 96, S. 6–7 (November 1648  : h[err] M]agister beckman junior). 41 UBM, Ms. 96, S. 539 (landgraffen Georg fraulein von drei iahren)  ; S. 540 (des Seilers Sohn).

97

Drei Orte, drei Praxen

Welch großen Einfluß ein Ortswechsel auf eine Praxis haben konnte, wird durch die Gegenüberstellung der Berliner und der Zerbster Praxis deutlich. Die Auswertung der Aufzeichnungen der Jahre 1648 (Berlin) und 1653 (Zerbst) im Diarium ergeben hinsichtlich der diagnostischen Maßnahmen folgendes Ergebnis  :42 Berlin

Zerbst

97 Patienten/184 Kontakte

100 Patienten/266 Kontakte

Hamschau

17

36

Blutschau



 6

Pulsfühlen



 3

Iatromathematische Analyse



13

Konsultation von Fachliteratur

11

16

(einmalig  ; insges. 3 Autoren)

(mehrmalig  ; insges. 30 Autoren)

Während die Frequenz, in der Magirus in Zerbst die ungefähr gleiche Anzahl von Patienten wie in Berlin sah, nur leicht stieg, änderte sich die, mit denen er bestimmte diagnostische Mittel einsetzte, beträchtlich. Manche sind in den Zerbster Aufzeichnungen gar zum ersten Mal als Teil der Behandlung dokumentiert. Wie erklärt sich das  ? Abgesehen vom Pulsfühlen, das Magirus insgesamt kaum einsetzte,43 sind vor allem die nun plötzlich auftretende Blutschau und iatromathematische Analyse sowie die deutlich höhere Zahl von Urinschauen und Konsultationen medizinischer Fachliteratur auffällig. Letzteres dokumentiert, daß Magirus nun seine Patienten nicht nur als Arzt behandelte, sondern deren Fälle auch mit akademischem Anspruch bearbeitete. Er war 1652 am Zerbster Gymnasium Illustre zuerst zum Professor der Mathematik, dann auch der Physica ernannt worden44 und fand damit die institutionell geregelte akademische Betätigung, die ihm sein erster Praxisort Berlin trotz all seiner Anstrengungen nicht hatte bieten können. Eintragungen in seinem Diarium in einer anderen Handschrift weisen darauf hin, daß er, wie seine eigenen Lehrer am Thorner Gymnasium,45 die doppelte Bestallung einerseits als Professor der Physica, andererseits als Stadtarzt zur praktischen Belehrung seiner Schüler nutzte – er ließ seine Schüler Rezepte schreiben.46 Der geänderte Charakter seiner Aufzeichnungen macht augenfällig, wie sehr sich sofort nach dem Ortswechsel die Ausrichtung der Praxis von einer Konzentration auf Rezepte (und deren Bezahlung) hin zur 42 Die Jahre 1648 und 1653 wurden ausgewählt, weil sie die einzigen sind, in denen Magirus ohne Unterbrechung als behandelnder Arzt vor Ort gewesen zu sein scheint. 43 S. Kap. 3.2.4. 44 Ostern 1652 erfolgt die Vokation zum Mathematikprofessor  : LASA, DE, Hauptarchiv Zerbst CL, Nr. 16, Bl. 70a  ; bereits im Oktober desselben Jahres auch die zum Physikprofessor  : ebd., Nr. 16, Bl. 81a. 45 S. den Abschnitt Thorn und Wittenberg (1631–1635) in Kap. 4.1.1. 46 S. Kap. 4.3.3.

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Die Arztpraxis

Dokumentation von Fallgeschichten und deren theoretischer Durchdringung verlagerte (s. Taf. 3  ; 4). Die Sprache wechselte dabei von mehrheitlich Deutsch (Berlin) zu einer ausführlicheren Darstellung fast ausschließlich auf Latein (Zerbst), der Sprache, in der auch gelehrt wurde.47 Vor diesem Hintergrund scheint auch das nun zu beobachtende Auftreten der iatromathematischen Analyse erklärbar  : Sie stellte ebenfalls einen Unterrichtsgegenstand dar. Magirus ließ später in Marburg seine Studenten sogar über die Geschichte und das Erstellen von Nativitäten öffentlich disputieren.48 Jedoch wäre es ihm unbenommen gewesen, in Berlin für seine Patienten ebenfalls Nativitäten zu erstellen, wie er es im Gutachten für Markgraf Ernst von Brandenburg auch getan hatte, ja er hätte solche Berechnungen auch als Beispiele seiner Mathesis Medica vorführen können.49 Hier machten sich wohl erneut die Beschränkungen der Berliner Praxis bemerkbar, insofern, als die für teure Berechnungen nötige höherstehende Klientel sich regelmäßig bei Weise in Behandlung befand und nicht bei ihm. In Zerbst dagegen war Johannes Magirus nicht nur städtisch bestallter Arzt, sondern auch der einzige akademisch ausgebildete vor Ort. Er konnte seine Praxis nach seinem eigenen Gutdünken gestalten, dabei auch seinen speziellen Forschungsinteressen nachgehen50 und fand zudem eine Klientel vor, die bereit war, solche und andere Sonderleistungen in Anspruch zu nehmen (und zu bezahlen), wie er sie bieten konnte, also z. B. auch das Stellen von Nativitäten. Die Doppelung der Harnschauen mag dabei zum einen der Erwartungshaltung seiner Patienten geschuldet sein, zum anderen aber auch dem differenzierten, mehrfachen Einsatz dieser diagnostischen Methode bei schwereren Fällen, wie er sie nun auch behandelte.51

2.2 Die Praxis im Kontext 2.2.1 Die konfessionelle Anbindung

Bislang wurde die Etablierung und Gestaltung der Praxen in Berlin und Zerbst vorrangig akteurszentriert betrachtet  : Was tat Magirus, um eine Praxis nach seinen Vorstellungen führen zu können  ? Sowohl sein Umzug nach Berlin wie auch der nach Zerbst (und schließlich auch der nach Marburg) stellten bewußte strategische Entscheidungen dar, durch die er sich seinem Ziel, Praxis und akademische Lehre zu verbinden, Stück für Stück annäherte. Jedoch gibt es auch Faktoren, die die Etablierung seiner Praxen positiv beeinflußten, denen keine individuelle »Strategie« im Sinne einer bewußten Planung zugrunde lag, sondern die eher als Automatismen im Kontext bestimmter Gruppenidenti47 Zur Überarbeitung von Fallgeschichten für Publikation und Lehre s. auch Hess/Schlegelmilch (2016), S. 26–27  ; zum Einfluß des Arbeitsumfelds auf die Aufzeichnung s. ebd., S. 35–36. 48 S. die im Quellenverzeichnis aufgeführten Titel. 49 S. Kap. 4.3.1.; 4.3.3. 50 S. Kap. 3.2.6  ; 4.2.4. 51 S. Schlegelmilch (2016b), S. 156–58 und Kap. 3.2.5.

Die Praxis im Kontext

täten zu bezeichnen sind.52 Hierzu kann man die geschlossenen Heiratskreise innerhalb der Academia zählen, aber auch die konfessionelle Anbindung des Einzelnen. Johannes Magirus war in einer reformierten Familie aufgewachsen, sein Vater als ausdrücklich reformierter Professor an die Viadrina berufen worden. Es war selbstverständlich, daß er nur an Orte wechselte, an der eine reformierte Gemeinde vorhanden war,53 und sich dieser dann anschloß. Dies bedingte über die wöchentliche Teilnahme an gemeinsamen Gottesdiensten automatisch einen engeren Kontakt mit zumindest einer Teilmenge der jeweiligen Stadtbevölkerung. In Berlin wurde Magirus durch seine konfessionelle Zugehörigkeit Teil der relativ kleinen und damit auch elitären reformierten Domgemeinde, die im Wesentlichen aus Angehörigen des kurfürstlichen Hofes bestand54 und umgeben war von einer unverändert lutherischen Stadtbevölkerung55 (ähnlich wie auch die Marburger reformierte Gemeinde, als Magirus dorthin wechselte)56. Die aktive Gegenwehr der Berliner lutherischen Gemeinde gegen die Ausweitung des reformierten Glaubens in der Stadt ist eng verbunden mit dem bekannten Namen Paul Gerhards (1607–1676), der nur wenige Monate nach Magirus in Berlin ankam.57 Er sollte dort später als Verfechter des lutherischen Glaubens in Konflikt u. a. mit dem reformierten Hofprediger Bartholomäus Stosch (1604–1686) treten,58 der Taufpate von Magirus’ Sohn war und schließlich auch die Leichenpredigt auf seine Frau hielt.59 1643 stand Johannes Magirus innerhalb dieser also schon exklusiv zu nennenden Gruppierung der Domgemeinde zum ersten Mal selbst Pate bei einer Taufe (immerhin schon an dritter Stelle hinter den Hof- und Kammergerichtsräten Otto von Schwerin [1604–1686] und Matthaeus Wesenbeck [1600–1655])60, und im Laufe der Jahre ergab sich für das Ehepaar Magirus über die Taufpaten ihrer drei Kinder eine nähere Verbindung mit immerhin fünfundzwanzig Mitgliedern der Gemeinde. Viele Namen aus den Tauf- und Bestattungsbüchern der Domgemeinde finden sich auch als Patientennamen in Magirus’ Diarium. Seine konfessionelle Identität unterstützte somit den Aufbau eines neuen Patientenstammes, ohne daß er gleichzeitig konfes-

52 Bourdieu begründet diese Automatismen mit der intrinsischen »Logik der Klassen«  : s. Bourdieu, Pierre   : Sozialer Raum, symbolischer Raum (1998), Wiederabdruck in   : Dünne/Günzel (2006), S. 354–68, hier bes. S. 363  ; Klaas/Steinke/Unterkircher (2016), S. 75–76 betonen das Intentionale zu stark. 53 Zur »Phalanx« der reformierten Staaten Brandenburg – Anhalt – Hessen-Kassel s. Kap. 1.4.3. 54 S. Winter (2007), S. 96. 55 S. Lenk (1998), S. 248. Die städtischen Honoratioren entstammten in den 1640er Jahren noch einem engen Verband von lutherischen Familien, der erst nach Magirus’ Weggang allmählich durch aufsteigende reformierte Familien verdrängt wurde  : s. Winter (2007), S. 88. 56 Lemberg, Margret  : Die Universitätskirche zu Marburg. Von der Kirche der Dominikaner zur reformierten Stadt- und Universitätskirche (Marburg 2016), S. 39–40. 57 S. Niemann (2009), S. 29. 58 S. Niemann (2009), S. 177–83  ; s. auch Winter (2007), S. 98. 59 S. o., Anm. 33  ; 34. 60 S. Bahl (2001), S. 585–86  ; 618–19.

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Die Arztpraxis

sionelle Auswahlkriterien für die ärztliche Behandlung angewandt hätte  ; auch Patienten lutherischen Glaubens nahmen seine Hilfe in Anspruch.61 In Zerbst war die konfessionelle Situation gerade umgekehrt. Mit Johann VI. von Anhalt-Zerbst hatte unerwartet ein bekennender Lutheraner den Fürstenthron bestiegen. Er wurde von den anderen drei anhaltischen Herrschern, die reformierten Glaubens waren – zu Magirus’ Zeit in Zerbst waren dies die Fürsten Christian II. von Anhalt-Bernburg (1599–1656), August von Anhalt-Plötzkau (1575–1653) und Johann Kasimir von Anhalt-Dessau (1596–1660) – argwöhnisch beobachtet und unternahm seinerseits keine großen Anstrengungen, das reformierte Zerbster Gymnasium Illustre zu unterstützen, dessen gemeinsame Führung mit den anderen drei Herrschern er geerbt hatte  ; er schädigte es sogar eher durch seine Maßnahmen.62 Hier stand also eine reformierte Gemeinde, der die Angehörigen des Gymnasiums und der allergrößte Teil der Stadtbevölkerung angehörten, einem lutherischen Fürstenhof gegenüber. Mit dieser Gemeinde waren Magirus und seine zweite Frau, Anna Justina Czaplinia,63 durch noch zahlreichere Patenschaftsverhältnisse als in Berlin verbunden – sowohl als Taufpaten als auch durch die Taufen ihrer eigenen Kinder.64 Diese starke Verflechtung mit der Stadtbevölkerung war sicherlich ebenfalls nützlich, aber nicht mehr so existentiell wichtig wie beim Aufbau der Praxis in Berlin. Magirus gehörte in Zerbst durch seine Bestallung als Stadtarzt bereits zu den Honoratioren der Stadt65 und konnte durch seine zusätzliche Bestallung als Professor am Gymnasium ebenfalls Kontakte knüpfen. Seine Versuche einer Kontaktaufnahme mit dem lutherischen Fürstenhof verblieben dagegen auf der Ebene einer Kalenderwidmung66 61 Dies ist anhand der Taufbücher der lutherischen Marienkirche (ELAB, Kirchenbuchstelle Alt-Berlin, 28/4  : St. Marien, Taufen 1639–1648  ; 28/5  : St. Marien, Taufen 1648–1659) zu erschließen, in denen die Namen einiger Patienten aus Magirus’ Diarium zu finden sind. 62 S. Castan (1999), S. 133–41. 63 Ihr Name wird nur ein einziges Mal mit Geburtsnamen genannt  : s. ELAB, Kirchenbuchstelle AltBerlin, 33/7  : St. Nikolai, Taufen 1650–1658, S. 298  : 25.11.1650 Anna Chaplincin, D. Joh. Magiri hfr.; im Taufregister von St. Nicolai, Zerbst, 1622–1663, hier 1653, Nr. 18 findet sich der zweite Vorname  : »Dr. Johannes Magiris hausfrau, Anna Justina  :« Die richtige Schreibung des Nachnamens findet sich auf dem Vorsatzblatt eines Manuskripts, das Magirus offensichtlich von ihrem Vater übernommen hat  : s. UBM, Ms. 95  : »D. Samuelis Czaplinius scripsit anno 1616«. Über Czaplinius ist nichts bekannt, außer daß er 1619 in Basel mit Theses Medicae de Sanitate Hominis promovierte, also höchstwahrscheinlich auch Arzt war. 64 S. St. Nicolai, Zerbst, Taufregister der Kirche zu St. Nicolai 1622–1663  : 2.5.1652 Anna Dorothea  ; 10.10.1655 Sophia Augusta (andere Angabe bei Stahr [1957], S. 107  : Sophia Justina). Magirus’ erste Tochter mit seiner zweiten Frau (Catherina Elisabeth) scheint noch in Berlin auf die Welt gekommen zu sein  : s. Stahr (1957), S. 107. 65 Am 1.1.1651 bekam Johannes Magirus das Bürgerrecht von der Stadt geschenkt  : s. Schulze (1925), S. 31. 66 S. Magirus, Johannes (1652b)  : Widmung an Johann VI. von Anhalt-Zerbst, nicht nur, weil der Fürst »zu allen Künsten ein geneigte affection« trage, sondern auch, weil Magirus sich »anjetzo unter dero Schutz und Gebiet« begebe (Bl. A2v). Die restlichen Kalender der Zerbster Zeit sind reformierten Mitgliedern des askanischen Hauses gewidmet.

Die Praxis im Kontext

und der – nicht ungewöhnlichen – Taufe seiner dritten Tochter auf den Namen der Landesfürstin.67 Wenn er sich an den Fürsten wandte, dann betrafen seine Briefe stets die Bestrafung von Studenten, die als Mitglieder des Gymnasiums dessen und damit auch der Gerichtsbarkeit des Fürsten unterstanden.68 Positiv wirkte sich für ihn aus, daß die rigorose konfessionelle Haltung Johanns VI. zwar allen Hofangehörigen das lutherische Bekenntnis abverlangte und dies auch von städtischen Angestellten erwartete,69 aus diesen Vorgaben aber offensichtlich nicht folgte, daß man sich als Angehöriger des Hofes deswegen nur von einem (lutherischen) Hofarzt hätte behandeln lassen dürfen. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß der Fürst nur Leibärzte von Haus aus bestallte, aber in Zerbst selbst kein eigener Hofarzt vor Ort war.70 Daß die Konfession bei der Behandlung eines Patienten keine Rolle spielte, zeigt jedenfalls der Fall des Ephraim Gierha, der als Rektor des fürstlichen Prestigeprojekts, der neu gegründeten lutherischen Lateinschule, für den Hof eine wichtige Position besetzte. Als er erkrankte, wurden, Magirus inklusive, gleich drei Ärzte gerufen – aber allesamt reformierte.71 Letztlich konsultierten eine ganze Reihe Hofangehörige den Stadtarzt Johannes Magirus, und auch Mitglieder strikt lutherischer Haushalte wie dem des Superintendenten Johann Dürre (1613–1689) finden sich unter seinen Patienten.72 Zusammenfassend kann man also sagen, daß die konfessionelle Anbindung an die jeweilige Gemeinde vor Ort einer Etablierung insofern Vorschub leistete, als sie einen selbstverständlichen sozialen Kontaktraum bot, der nicht durch eigene Anstrengungen erschlossen werden mußte. Die regelmäßigen persönlichen Treffen mit anderen Gemeindemitgliedern boten die Möglichkeit, sich nach deren Gesundheit zu erkundigen sowie bei Bedarf (selbst-)empfehlende Ratschläge zu geben. Gleichzeitig stand der Arzt, was die 67 Die Fürstin (Sophia Augusta von Anhalt-Zerbst) war bei der Taufe nicht anwesend, als Stellvertreterin trat nach Angabe des Taufbuches ihre Hofmeisterin an. Zu solchen (auch überkonfessionellen) Taufpatenschaften als »symbolische Beziehungen« s. Sigelen, Alexander  : Dem ganzen Geschlecht nützlich und rühmlich. Reichspfennigmeister Zacharias Geizkofler zwischen Fürstendienst und Familienpolitik (Stuttgart 2009), S. 507–09. 68 S. Schlegelmilch (2013), S. 24–27 und Kap. 1.1.4. 69 S. Castan (1999), S. 135. 70 Im Diarium erscheint neben »Schneider« und »Heimberger« (s. folg. Anm.) lediglich einmal der Name eines Dr. Buschius (UBM, Ms. 96, S. 294 [Febr. 1653  : Rorbeck]), bei dem es sich wohl um Jacob Busch handelt, der ab 1626 Hofarzt des anhaltischen Hofes in Dessau war  : s. Kaiser/Völker (1980), S. 19. 71 Erst behandelte Johannes Magirus (s. UBM, Ms. 96, S. 267 [4. Aug. 1652  : M. Giera rector serv(estani) gym(nasii) lutherani]), dann Dr. Heimberger (s. ebd., S. 268), dann Konrad Victor Schneider (s. ebd., S. 269 [26. Sept. 1652  : M(agister) Giera]). Letzterer war Leibarzt von Haus aus  : s. Johann VI. von Anhalt-Zerbst an Konrad Victor Schneider, Zerbst, o. D. (Dessau, LASA, DE, Z 92 (Kammer Zerbst), Nr. 8589, 692 f., 708 f.; s. auch www.aerztebriefe.de/id/00013378  ; letzter Zugriff  : 12.12.2017)  ; s. Kaiser/Völker (1980), S. 23. Dr. Heimberger scheint Stadtphysikus von Köthen gewesen zu sein  : s. Kaiser/Völker (1987), S. 57. 72 S. UBM, Ms. 96, S. 292 (Febr. 1653  : des Hernn Superintendenten magd)  ; ebd., S. 399 (Mai 1653  : Herr Superintend[enten] junge).

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Die Arztpraxis

Behandlung seiner Patienten betraf, über den konfessionellen Grenzziehungen, was sich daran zeigt, daß Johannes Magirus stets Patienten aller Konfessionen behandelte.73 2.2.2 Der »medikale Markt«

Eine ganze Reihe medizinhistorischer Studien hat sich in den letzten Jahrzehnten des Konzepts des »medical marketplace« bedient,74 um hierdurch die Sichtweise einer Geschichtsschreibung zu relativieren, die lange Zeit die Urteile akademischer Ärzte über andere, nicht auf dieselbe Weise qualifizierte Heiltätige unreflektiert aus den frühneuzeitlichen Quellen übernommen hatte.75 Stattdessen sollte nun die gesamte Vielfalt des Personals, das einem frühneuzeitlichen Patienten im Krankheitsfall zur Auswahl stand, gleichberechtigt abgebildet und in Beziehung gesetzt werden. Andrew Wear, der Ende der 1980er Jahre selbst die verschiedenen Gruppierungen heiltätiger Personen v. a. als Verkäufer verschiedener sinnstiftender Konzepte vorgestellt hatte,76 relativierte bereits im Jahr 2000 diese zu einseitig auf finanzielle Aspekte ausgelegte Perspektive, indem er das Konzept seinerseits historisierte.77 Wenn wir im Folgenden Johannes Magirus’ Auseinandersetzung mit anderen Heiltätigen betrachten, wird daher der Begriff des medikalen Marktes eher als ein Modell verstanden, um den charakteristisch frühneuzeitlichen medizinischen Pluralismus zu benennen, als um ökonomische Aspekte eines kundenorientierten Konkurrenzkampfes zu beschreiben. Um es gleich vorauszuschicken  : Über den lokalen medikalen Markt in Berlin und Zerbst zu Magirus’ Zeiten ist so gut wie nichts bekannt, außer welche Apotheken dort vorhanden waren78 und daß die Berliner Hofapotheke, in der Magirus ein und aus ging, um für seine Armenpatienten und Hofangehörige Zutaten für seine Medikamente zu kau-

73 Darunter sogar einen (wohl durchreisenden) Jesuiten  : UBM, Ms. 96, S. 455 (Febr./März 1654  : herrn Daniele Fidelio Societ[atis] Iesu). 74 S. exemplarisch Jacquart, Danielle  : Everyday Practice, and three Fifteenth Century Physicians, in  : Osiris 6 (1990) 140–60, hier bes. S. 160, die sich für die Einordnung ihrer Beobachtungen an Schlüsselbegriffen der Medikalisierungs- und Medical-Market-Konzepte (»power« und »competition«) orientiert. 75 S. Pelling/Webster (1979), S. 165–66  ; Sanders (1989), S. 16–17  ; Gentilcore (1998), S. 1–3. 76 S. Wear (1989), bes. S. 304. 77 S. Wear (2000), S. 28–29  : »The medical marketplace model was conceived by historians in the mid1980s at the time of Reagan and Thatcher and reflects these politicians’ ruthless free market ideology […].« 78 In Berlin gab es zu Magirus’ Zeit drei Apotheken (die Hofapotheke inklusive eines Destillierhauses, die Apotheke am Molkenmarkt und die Tempelhoffsche Apotheke)  : s. Gelder (1925), S. 3–4  ; Bahl (2001), S. 83–85  ; Hörmann (1898), S. 215–16  ; Reinhard, Friedhelm  : Apotheken in Berlin. Von den Anfängen bis zur Niederlassungsfreiheit 1957 (Eschborn 1998), S. 1–002 bis 1–006. In Zerbst existierte bis zu Magirus’ Weggang allein nachweislich die Ratsapotheke  : s. Kaiser/Völker (1987), S. 36–37  ; s. auch Specht (1998), S. 70–72.

Die Praxis im Kontext

fen, offensichtlich den zeittypischen Anblick eines kleinen Kuriositätenkabinetts bot.79 In beiden Städten wurden jedoch die Stadtarchive zerstört, deren Akten gewöhnlich die einzigen Quellen für Konflikte zwischen den Heiltätigen und damit für deren Eigenverständnis darstellen. Magirus’ eigene Aufzeichnungen erwähnen für Berlin gar kein nichtakademisches Personal, für Zerbst nur einmal den Apotheker Mackius, mit dem er sich beriet,80 und einen namenlosen Hofchirurgen.81 Wie einseitig Magirus’ nur auf akademische Kollegen gerichteter Blick war, wird deutlich, wenn man die Kirchenbücher seiner Wirkorte neben sein Diarium legt. Ihre Einträge führen sogleich wieder das für seine Zeit typische bunte Panoptikum an Heiltätigen vor Augen, die ihre Dienste in Städten anboten  : In Berlin finden sich bspw. im Taufbuch der Marienkirche neben den Ärzten Weise, Maius und Magirus und einem regulären Barbier auch ein »Pestilentzbalbier«, eine namenlose »distillerin«, ein Oculist und ein Chirurg, der von einem Gasthaus aus praktizierte (»der Chirurgus aus der guldin gans«)  ;82 in Zerbst neben dem Hof- auch noch ein in der Stadt praktizierender »Balbier«, außerdem sowohl auf der Alten Brücke wie auf der Wolffesbrücke ein Bader.83 Auch wenn keine Quellen mehr zum Wirken all dieser Personen (und damit Magirus’ potentiellen Konflikten mit ihnen) erhalten sind, besitzen wir dennoch ein Zeugnis seiner persönlichen Auseinandersetzung mit anderen Akteuren des medikalen Marktes  : seinen sich über vier Jahre hinziehenden Kalendertext über die Taten der »Quacksalber«, der schließlich 1649 in einen »Wahrhaffte[n] Spiegel der wahren und der falschen Aerzte« mündete.84 Da er in den Berliner Jahren erschien und außerdem seine Kalender durch ihren »auff die Berlinischen und die Mark Brandenburg, auch umbliegender Örter Horizont« in erster Linie für ein lokales Publikum gedacht waren, zeigt uns dieser Text auch, wie Magirus seine Berliner Praxis verstanden wissen wollte. Dies gilt umso mehr, als er in den Kalendertexten als Ausdruck seiner experientia explizit Bezüge zu seiner gegenwär79 Das Inventar von 1643 führt auf  : »Ein Bild eines armen Sünders, von Öhlfarbe, 10 Meerfische, ein Meerwunder, eine große indianische Nuß, ein Walfisch mit dem Jona, ein Crocodill, 2 Schildkröten, eine Ziwet Katze« (zitiert nach Hörmann [1898], S. 215). 80 S. UBM, Ms. 96, S. 273–74 (Oktober (?) 1652  : des Cancell[arius] praeceptor). 81 S. UBM, Ms. 96, S. 263 (Juni/Juli 1652  : Ambtsschreiber von Roßlau). 82 S. ELAB, Kirchenbuchstelle Alt-Berlin, 28/4  : St. Marien, Taufen 1639–1648 und 28/5  : St. Marien Taufen 1648–1659  ; ausgewerteter Zeitraum  : 1641–1650. Die Bücher der vom Hofpersonal dominierten Domgemeinde zeigen dazu einen Hofbalbier (Kramer) und einen Hofapotheker (Schw[e] itzer), aber auch drei weitere Balbiere, darunter einen namentlich aufgeführten Johann Scherer  : ebd., 9/1  : Taufen 1616–1659, S. 172 und 33/6  : Trauungen von 1650–1683, S. 12. 83 S. St. Nicolai, Zerbst, Taufregister der Kirche zu St. Nicolai 1622–1663, hier 1651, Nr. 67 (Michael Behrendt, Balbier)  ; St. Bartholomäi, Zerbst, Taufregister 1636–1655, hier 12.1.1654 (Christian Karsdorff, Bader auf der Alten Brücke)  ; 11.2.1655 (Christian Berger, Bader auf der Wolffesbrücke)  ; 24.10.1655 (Ido Wolff, Hofbalbier). Eine gezielte Auswertung aller Kirchenbücher der Städte und über einen längeren Zeitraum als die wenigen Jahre, in denen Magirus jeweils vor Ort war, würde das Spektrum der praktizierenden Heiltätigen noch deutlich erweitern. 84 S. Kap. 1.4.1.

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Die Arztpraxis

tigen Praxis herstellte, wie etwa, wenn er von einem »Quacksalber« in Stettin berichtete, dessen Medikament er vor kurzem untersucht habe,85 oder seinen Ausführungen durch den Hinweis auf Erlebnisse mit seinen eigenen Patienten Authentizität verlieh.86 Sein Anliegen war (nach eigenen Worten) der Schutz argloser Kranker  : […] habe auch nicht länger zusehen können, daß soviel Fürsten, Herrn, Edele, Bürger und Bauer [  !] von den also genandten Chymicis, Magis, Quacksalbern, Unwissenden und Naseweisen Apoteckern und Fürwitzigen KranckenWärterinnen unschuldig gemartert und jämmerlich hingerichtet werden […]87

Diese Art der Polemik war nicht neu, sie existierte von Seiten der Ärzte und Chirurgen gleichermaßen,88 und auch die Apotheker beklagten sich zuhauf wiederum über die Ärzte, die in ihr Handwerk pfuschten, wenn sie Medikamente nicht einfach nur im Rezept zusammenstellten, sondern sie selbst mischten und dispensierten.89 Lediglich die Publikationswut der gelehrten Ärzte, die sich in überregional verkauften Drucken ereiferten, verleiht deren Klagen in der uns erhaltenen Überlieferung eine größere Präsenz und bedingte dadurch auch lange die verzerrte Darstellung ihrer vermeintlichen Überlegenheit gegenüber anderen Heiltätigen in der Forschung.90 Rupert Hall bezeichnet die Polemiken der Ärzte gegen andere Berufsgruppen lapidar, aber treffend als »critical abuse on others in the fashion of the time«.91 Interessant ist, daß Magirus im zitierten Text zuerst die Stände aufzählt und dann deren Bedrohung durch Personen, die keinem Stand eindeutig zuzuordnen sind bzw. Standesgrenzen überschreiten.92 Die Stände stellen sich hier als Opfer dar von Personen, die jenseits der Standesordnung agierten, standesspezifische 85 S. Kap. 4.1.3. Magirus agiert, hier mit dem Testen eines zum Verkauf angebotenen Medikaments, wie der Vertreter einer städtischen Behörde  : vgl. Stichler (1908), S. 288. 86 S. Schlegelmilch (2011), S. 405. 87 Magirus, Johannes (1648a), Bl. A2r. 88 S. die Polemik des Chirurgen Georg Bartsch (1535–1607) bei Toellner, Richard  : Der Arzt als Gelehrter. Anmerkungen zu einem späthumanistischen Bildungsideal, in  : Folkerts, Meno/Jahn, Ilse/Müller, Uwe (Hg.)  : Die Bausch-Bibliothek in Schweinfurt (Halle 2000), S. 39–59, hier S. 48. 89 So beklagten sich bspw. die Leipziger Apotheker über den Sennert-Schüler und Medizinprofessor Johannes Michaelis (1606–1667), der wie Magirus Medikamente mit chymischen Bestandteilen selbst herstellte und dispensierte  : s. Kästner (2012), S. 329. 90 S. hierzu bereits Pelling/Webster (1979), S. 166  : »But it is important not to allow the special pleading of contemporary pressure groups to lead the historian into undervaluing the activities of arbitrarily defined sections of the medical community.«  ; zur traditionell negativen Wertung nicht-ärztlicher Heiltätiger in der älteren Medizingeschichtschreibung s. auch Sander (1989), S. 59. 91 Hall (1983), S. 51. 92 Auch an anderer Stelle berichtet Magirus über dieses »Volk«, das als un-ehrlich außerhalb der Standesordnung und ihrer Ehrbegriffe stand (s. Dülmen [21999], Bd. 2, S. 202–04)  : »Die Teutschen nennen sie Störer, daß sie die Zünffte der Balbirer stören, und Quacksalber, daß sie ihre Salben öffentlich ausquäcken oder ausschreien.« (Magirus, Johannes [1646a], Bl. B1a).

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Kompetenzen nicht erworben hatten, sondern sie – was einem Angriff auf die Standesehre der ehrbaren Berufe gleichkommt93 – betrügerisch imitierten  : Etliche haben auch etwas von der Balbier-Kunst, etliche von der Apotheker-Kunst gelernet oder seynd Jungen so bey Medicis gedienet gewesen […] dahero sie dann auch ihre Zeugnissen bekommen und gewiß von keinen inwendigen Curen wissen, die eigentlich die Medicos angehen […], aber sie bleiben nicht in ihren Gräntzen, greiffen in ein fremdes Ampt und bilden sich ein, sie wollens wol bestellen, da doch weit ein anders ist, medicamenta praepariren können und solche recht und wol appliciren und gebrauchen.94

Als ihr »Ampt« – im Sinne von Zuständigkeit – verstanden die gelehrten Ärzte die Medikamentenherstellung auf der Basis ihrer gelehrten Kenntnisse um die Physica. Man muß an dieser Stelle unterstreichen, daß dies eine von der Ärzteschaft sich selbst zugeschriebene Kompetenz darstellte. Ebenso wie die im 16. und 17. Jahrhundert von der Obrigkeit neubegründeten Universitäten und Gymnasien gewissermaßen als Fremdkörper in bereits existente Stadtgefüge eingepflanzt wurden und deren bisherigen Alltag erschütterten,95 so drängten die an eben diesen Universitäten ausgebildeten akademischen Ärzte auf einen bereits vorgängig existenten medikalen Markt. Nicht zuletzt Chirurgen hatten hier bereits seit dem Mittelalter Medikamente zusammengestellt und taten es auch weiterhin,96 wodurch Spannungen mit den neu ernannten Medikationsspezialisten auftraten. Denn während die gelehrten Ärzte nun – ihrer Meinung nach – für die innere Medizin zuständig waren, sollten es die Chirurgen (Magirus nennt sie durchweg »Balbierer«) ausschließlich nur noch für alle von außen am Körper vorgenommenen Heilpraktiken sein.97 In einer eigenen Kalenderreihe, die nur auf katholische Gebiete gerichtet war,98 benannte Ma93 Ebd. (s. letzte Anm.) fährt Magirus fort  : »Sehen wir also aus ihren Namen schon, was sie für Leute seyn […]. Daraus auch ihre Ehre leichtlich erscheinet, die sie haben.« Zum hohen Stellenwert der Standesehre s. Dülmen (21999), Bd. 2, S.194–96. 94 Magirus, Johannes (1646a), Bl. D1r–D2r. 95 S. Römer (1980), S. 65 zu Helmstedt, wo 700 Akademiker und Universitätsverwandte zu einer Stadtbevölkerung von 2500 Einwohnern stießen. 96 S. Kinzelbach, Annemarie  : Heilkundige und Gesellschaft in der frühneuzeitlichen Reichsstadt Überlingen, in  : Medizin, Geschichte und Gesellschaft 8 (1989), S. 119–49, hier S. 135  ; Sander (1989), S. 67. 97 Die Brandenburgische Medizinalordnung, die gut 50 Jahre nach Magirus’ Aufenthalt in Berlin erschien, steckte klar die jeweiligen eigenständigen Berufsfelder ab und verfügte zu den Barbieren (= Chirurgen)  : »Innerlicher Kuren sollen sie sich gäntzlich enthalten, auch in denen äußerlichen, die besorglich und dabey schwere Zufälle zu befahren, ihnen selbst nicht zuviel beymessen, sondern einen oder anderen von ihren erfahrenen Mit-Meistern mit zu hülffe nehmen und mit demselben überlegen. Ist aber der Affectus von sonderbarer Wichtigkeit und Gefahr, sollen sie einen verständigen Medicum mit zuziehen und ohne desselben Einrathen keine vorab innerliche Medicamenta […] einzugeben sich verstehen.«  : Churfürstliche Brandenburgische MedicinalOrdnung und Taxa (1694), S. 22–23. 98 Sie enthält die identischen Kalenderberechnungen (nur ist hier der Neue Kalender vorangestellt), aber einen anderen Kalendertext. Bislang ist sie nur für das Jahr 1647 nachweisbar.

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girus zusätzlich die für das konfessionelle Feindeslager charakteristischen »Störer«, die sich falsche Kompetenzen anmaßten  : Unter denselben finden sich nun erstlich die Priester und Mönche, hernach die BullenDoctores, ferners die hochtrabende Balbierer und die uberkluge Apothecker, idesen [  !] folgen die Ruhmrätige falsche Chymisten, die hochgelehrte Bader, die übermütige Augenund Bruchärzte und die fürwitzige Kranken-wärterinne.99

Kalenderleser in katholischen Gebieten sollten sich also vor Priestern, Mönchen und die durch die bulla eines Pfalzgrafen mit einem Doktortitel beschenkten »Bullendoctores« in Acht nehmen. Mit der Erwähnung der Mönche wird hier kurz die Klostermedizin sichtbar, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits über Jahrhunderte auf die Zubereitung von (meistenteils pflanzlichen) Arzneien spezialisiert hatte und damit offensichtlich ebenfalls als Konkurrenz der nun praktizierenden Ärzte empfunden wurde. Der wichtigste Satz folgt aber am Ende dieser Aufzählung und bezieht sich auf die anerkannten Heilberufe  :100 Und diese zwar, welche anitzo genennet, können für sich wohl gelitten werden, wann sie nemlich in ihren Gräntzen in der Republica Medica bleiben  : Die nachfolgenden aber gehörn gantz und gar nicht in die Medicinische Policey, sondern verlassen ihren ordentlichen Beruff und bieten allenthalben ihren falschen Kram feil.101

Magirus betonte hier erneut  : Die Praxis des Arztes, die des Chirurgen, des Baders, des Oculisten, des Steinschneiders, des Apothekers, alle haben ihre Berechtigung – und ihren Platz. Dort sollen sie aber auch bleiben. Die intensive Auseinandersetzung mit diesem Thema, auf die er sich als junger Arzt hier einläßt, ist charakteristisch für die akademische Medizin des 16. und 17. Jahrhunderts. Auch Johann Heinrich Bossens Einträge der ersten Praxisjahre dokumentieren seinen Versuch, sich gegenüber den anderen Heiltätigen zu positionieren und sich Überlegenheit mit der eigenen Feder zuzuschreiben.102 Die redundanten Äußerungen dieser beiden und anderer Ärzte zeigen jedoch vor allem eines deutlich  : Patienten hatten einen anderen Blick auf die Kompetenz der akademischen Ärzteschaft als sie selbst. Sie konsultierten fortlaufend andere Heiltätige auch in Bereichen, für die sich die Ärzte zuständig fühlten.103 Worin der Vorteil liegen sollte, einen Arzt statt eines anderen Heiltätigen zu konsultieren, war aber auch nicht einfach zu erkennen, teilten doch alle Praktizierenden ein humoralpathologisches Grundverständnis der Körpervorgänge und entwickelten auf dieser Grundlage ihre Kuren.104 Die Auseinan 99 Magirus, Johannes (1647a2), Bl. A4r. 100 S. Kinzelbach (1994), S. 290–91. 101 Magirus, Johannes (1647a2), Bl. A4r. 102 S. Kap. 3.2.1, Bossen  : Eine zusätzliche Frage. 103 S. Kinzinger (2000), S. 88. 104 S. Wear (1989), S. 302–04  ; Henry (1991), S. 197.

Die Praxis im Kontext

dersetzung zwischen den Ärzten und den restlichen Heiltätigen war also keine fachliche Auseinandersetzung zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Systemen wie in unseren Zeiten der Konflikt zwischen Schul- und Alternativmedizin (soweit dieser fachlich bleibt). Es war eine Auseinandersetzung innerhalb eines Gesellschaftssystems, dessen Stabilität auf statischen Standesrechten und -pflichten beruhte. Das immer zahlreichere Auftauchen akademischer Ärzte seit Beginn der Universitätsgründungen im Gebiet des Alten Reiches stellte einen destabilisierenden Faktor dar, denn die Akademiker weiteten nun ihre Standesrechte auf ein bereits besetztes Berufsgebiet aus, kennzeichneten aber alle, die diese neue Grenzziehung nicht achten wollten, ihrerseits als »Störer«. Selbst wenn ein fahrender Händler identisch wie Magirus behandelt hätte und dazu auch noch die theoretischen Grundlagen dieses Handelns hätte wiedergeben können, so wäre er doch ein »falscher« Arzt und zu bekämpfen gewesen. All dies kann man, wie eingangs dargelegt, auch unter der Perspektive einer angestrebten Aufteilung von Verdienstmöglichkeiten sehen. Die ständische Komponente, das Verständnis der eigenen Position in der immerhin als gottgewollt verstandenen gesellschaftlichen Hierarchie, ist in diesem Kontext aber mindestens ebenso wichtig. Mochte Magirus auch in gleicher Weise wie z. B. sein Patient, der Kupferstecher Euler, in Berlin zum Stand der Bürger gehören, so gab es hier doch auch noch eine feine Binnendifferenzierung, durch die der Gelehrte über dem Handwerker stand,105 und hierdurch auch über Chirurgen, Badern und anderen Heiltätigen. Magirus’ Wortwahl macht deutlich, daß es ihm um ständische Zuordnungen ging  : In der »Republica Medica« muß eine »Medicinische Policey« herrschen, analog zur »guten Policey« in Staatsgebilden  ; eine solche »gute« Policey verfolgte jedoch primär das Ziel, Gewohnheitsrecht und Ständeordnung zu bewahren.106 Magirus’ Ziel war nicht, die spezifischen Tätigkeiten anderer Heilberufe in seine eigene ärztliche Praxis zu integrieren (wie die Forschung es unter dem Schlagwort der »Professionalisierung« für das spätere 18. und besonders das 19. Jahrhundert beschrieben hat),107 105 Zum Selbstverständnis der freien (gelehrten) Berufe gegenüber den abhängigen (mechanischen) s. Frijhoff, Willem  : Graduation and Degrees, in  : Ruegg/De Ridder-Symoens (1996), S. 355–415, hier S. 397–98  ; s. auch Saalfeld, Diedrich  : Die ständische Gliederung der Gesellschaft Deutschlands im Zeitalter des Absolutismus, in  : Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 67 (1980), S. 457–83, hier S. 470. Aus diesem von allen Beteiligten getragenen Gesellschaftsverständnis heraus konnte sich auch die Kontrolle der handwerklichen Heiltätigen durch die gelehrten Ärzte institutionalisieren. Dies ist zu betonen, da viele Studien in Übernahme des Focault’schen Konzepts der Sozialdisziplinierung einige Zeit recht einseitig ärztliches Machtkalkül und einen im Wesentlichen auf eigenen beruflichen Vorteil zielenden Disziplinierungsgedanken betont haben  : s. z. B. Pieper, Marcus  : Der Körper des Volkes und der gesunde Volkskörper. Johann Peter Franks »System einer vollständigen Policey«, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46 (1998), S. 101–19  ; s. auch die berechtigte Kritik bei Loetz, Franziska  : Vom Kranken zum Patienten. »Medikalisierung« und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750–1850 (Stuttgart 1993), S. 43–53, hier bes. S. 50 zu einer Modifikation des Diszplinierungsbegriffes. 106 S. Iseli, Andrea  : Gute Policey. Öffentliche Ordnung in der Frühen Neuzeit (Stuttgart 2009), S. 23. 107 S. Stolberg (1998), S. 73–74.

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sondern ein geregeltes, d. h. aus seiner Sicht standeskonformes Miteinander der verschiedenen Heilberufe zu beschreiben. Dabei bestand für ihn in jedem Bereich das Gebot einer grundständigen Ausbildung,108 wie sie auch die Ärzte für ihre spezifische Aufgabe, d. h. die Diagnose von Vorgängen im Körperinneren und das Komponieren entsprechender Medikamente, durch das Studium der Physica erfahren hatten.109 Vor allem die Aufzeichnungen aus Magirus’ Berliner Praxis illustrieren eine Konzentration auf genau die Medikamenten-Kompetenz, die er während seiner Jahre dort in seinen Kalendern propagierte. Dies gilt v. a. hinsichtlich »chymischer« Präparate. Er ließ sie in Berlin im Labor herstellen (s. u.), beschäftigte sich in seiner Zeit dort mit deren potentieller Gefährlichkeit und verstand sich selbst als »Chymiater«.110 Die knapp 200 Seiten des Berliner Diarium mit ihrer Abfolge von Rezept auf Rezept, allesamt individuell zusammengestellt und durch eine konsequente Dokumentation ihrer Wirksamkeit verwissenschaftlicht, illustrieren Magirus’ Anspruch, medikamentöse curationes zu entwickeln.111 Sein Traktat in den Berliner Kalendern transportierte als Kernbotschaft, daß er als studierter Arzt sich auf die fachgerechte und damit sichere Anwendung der vielfältigen Medikamente verstand. Dies war das Alleinstellungsmerkmal der ärztlichen Praxis  : Die rechten Ärzte haben sich allezeit dahin beflissen, daß sie sicher und ohne Gefahr die Leute curiren möchten, dannenhero sie sich selbst so viel wie möglich auch auff dergleichen medicamente geleget, und da sie etwa solche Artzneyen brauchen müssen, die noch etwas schedliches bey sich hetten, wie die coloquinten und das Scammonium und dergleichen, so haben sie doch solches ausdrücklich gesetzet und beschrieben, hergegen aber dieselbe Stücke so ein pur lauter Gifft seyn und auch von den Alten nicht seyn in den Leib gebraucht worden, verworffen und niemahlen in der Arztney gebrauchet.112

Es empfahl sich also, eher die Praxis des Johannes Magirus zu besuchen, als sich dubiosen Personen anzuvertrauen, die die ärztliche Praxis nur imitierten – wie sie auch in der unmittelbaren Umgebung Berlins vorkamen und Unheil mit ihren fehlerstrotzenden Verschreibungen anrichteten, »welches ich gleichwol, die guten Leute für Schaden zu warnen, sagen muß […]«.113 108 Er zählte zu den fahrlässigen Heiltätigen »auch dieselben Barbierer und Apotecker, so unwissende Jungen zu Gesellen und unwissende Gesellen zu Meistern machen«  : Magirus, Johannes (1649a), Bl. D4v. 109 Zu diesem Argument im Rahmen des ärztlichen Professionalisierungsprozesses s. Wear (1989), S. 296–97  ; Henry (1991), S. 191–92  ; Stolberg (2010), S. 100. 110 S. Kap. 4.2.3. 111 S. Kap. 3.3.3. 112 Magirus, Johannes (1649b), Bl. B3v–4r. 113 Magirus führte oft ganz präzise Fälle an, bei deren Beurteilung er nicht auf der Ebene pauschaler Polemik verblieb, sondern konkret benannte, worin der Fehler des seiner Ansicht nach unzureichend ausgebildeten Heiltätigen bestand  ; s. Magirus, Johannes (1649b), Bl. B4r (obiges Zitat ebd.)  : »Also

Die Praxis im Kontext

2.2.3 Die dezentrale Praxis

Hausbesuch Wer sich heutzutage krank fühlt, begibt sich gewöhnlich – zu festgelegten Sprechzeiten – in eine Arztpraxis, meldet sich an, wartet in einem bestimmten Raum mit anderen Kranken, bis er an der Reihe ist, und sitzt schließlich mit dem Arzt wiederum in dessen eigentlichen Arbeitszimmer, das die übliche Ausstattung an berufsspezifischen Paraphernalia zeigt  : Modelle, Wandbilder und meist auch ein mit Fachliteratur gefülltes Bücherregal. Während der Patient von seinen Beschwerden spricht, steht zwischen ihm und Arzt oder Ärztin ein Tisch, der eine gewisse Distanz schafft, und auf diesem Tisch ein Bildschirm und eine Tastatur. Der ärztliche Blick wandert meist zwischen dem Patienten und der zu bedienenden Apparatur, während Notizen verfaßt werden. Ein Patient in London, Sir Henry Slingsby, beschrieb vor nunmehr fast vier Jahrhunderten in seinem Tagebuch die gleiche Situation. Er suchte aufgrund seiner Beschwerden den Arzt Théodore Turquet de Mayerne (1573–1655) auf  : Usually I went in a morning for his advice, about 7 of ye clock, where I us’d to find him in his study, which was a large room furnish’d with books & Pictures  ; and as one of ye chiefest he had ye picture of ye head of Hyppocrates that great physitian  ; & upon his table he had ye proportion of a man in wax, to set forth ye ordure & composure of every part  ; before his table he had a frame with shelves, whereon he set some books, and behind this he sat to receive those that came for his advise. His custom is to record in a book the diseases and remedies of all his patients if they be of difficulties, so that sending for his book he finds what he had done to her formerly, & thereupon prescribes ye same.114

Vieles scheint seit damals unverändert  : die festgelegte Sprechzeit, die Professionalität versprechende Ausstattung des Raumes, der schreibende Arzt an seinem Tisch. Gleichwohl stellt diese Beschreibung in erster Linie eine bewußte Stilisierung Mayernes dar, in der Art, wie sie auch Magirus in den Titelbildern seiner Kalender zum Ausdruck brachte  : 115 Sie beschreibt den gelehrten Arzt in seinem Studierzimmer. Diese Konstellation entsprach ist in unserm Vaterlande ein Dorffprediger, welcher etwan in seiner Jugend eines Medici Kinder zur Schule geführet hat  ; derselbe ist […] in der wahren Artzneykunst so unwissend, daß er für Papaver erraticum papaver Arabicum, und für mithridatium metherdatium schreibet, Erbare Jungfern an der Urin für schwangere judiciret, Leuten so die Schwindsucht haben und Blut auswerffen, das Cimmetöl und zwar zu gantzen Lothen verschreibet und auff einmal sechs Tropffen davon in Cimmetwasser eingiebet, welches ein schrecklicher und grausamer Fehler ist, daß ich darüber erschrecke, wann ich das Recept aufsehe […]«. Zu einem anderen Pfarrer, der nahe Reutlingen eine »praxin medicam« trieb und deswegen belangt wurde, s. Heinz (2012), S. 254–55. 114 Nance (2001), S. 24. 115 S. Kap. 3.2.7. Abb. 3, sowie ebd. Eamons Beschreibung des Repräsentationsraumes eines Astrologen.

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jedoch nicht der Realität der täglichen Behandlungspraxis. Denn der wesentliche Unterschied zu unseren Zeiten bestand gerade darin, daß die frühneuzeitliche Arztpraxis nicht räumlich und zeitlich fest verortet war. Der Arzt wurde zwar gewöhnlich in seinem Haus aufgesucht, jedoch nur um informiert zu werden, daß ein Patient seiner Hilfe bedurfte. Stadtärzten wurde zu diesem Zweck gewöhnlich vom Rat der Stadt ein Haus zugewiesen, das rund um die Uhr als feste Kontaktstelle dienen sollte.116 In Zerbst bspw. lag das Haus des Stadtarztes an der Alten Brücke, einem zentralen Ort in der Stadt, so daß es von allen Stadtteilen aus gleich schnell zu erreichen war.117 Magirus notierte, daß er gerufen wurde, meist deswegen, weil er bei schwereren Fällen den genauen Zeitpunkt festhalten wollte, an dem er erstmals in den Krankheitsverlauf eingegriffen hatte, und welche Symptome zu diesem Zeitpunkt bereits vorlagen. Ein Beispiel hierfür sehen wir in seinen Aufzeichnungen zum Fall der Frau des Bürgermeisters Clemens  :118 her burgerm[eister] Clemens

II. die ☉

vespera aderam primo vocatus

die qua vocatus sum

fruwe hatt am 10. Jann. 1652 ein fiber bekommen und konte sie sich wol etwas zerissen und zerspeget (?) haben, das hertz pochet ihr, hat gross angst und palpitationem cordis, schmertzen in der linken seiten und rücken, hat eine [  !] harten husten und wirftt blut aus. dedi pro corroboratione et dissipandum sanguinem coagulatum [Rezept]…

In der linken Spalte – die Magirus stets dadurch für sich abteilte, daß er jede Seite in der Mitte senkrecht faltete – stehen jeweils auf Höhe der aufgetretenen Symptome die Krankheitstage. Der zweite Tag der Erkrankung war demnach ein Sonntag (☉). Am Montag () wurde Magirus kontaktiert und präzisierte noch dazu  : »Ich war am Abend da, zum ersten Mal gerufen«. Im Fall des Grafen Jost Günther von Barby (1598–1651)119 besuchte Magirus seinen Patienten diverse Male, verzeichnete dabei, wann er nach Hause ging (»domum redii«), wann er wieder aufbrach (»hora XII abii«) und über den Fluß zum Herrschaftssitz des Kranken reiste (»transii«). Der Arzt war auch die letzten zwei Tage und durchgängig die letzte Nacht bei seinem Patienten, bis dieser an einem Samstagvormittag um elf Uhr starb.120 Wie solche Aufzeichnungen zeigen, war eine räumliche oder zeitliche Eingrenzung der ärztlichen Zuständigkeit nicht gegeben  ; die frühneuzeitliche Praxis ist vielmehr als eine 116 Dies wird in Bestallungsbriefen gewöhnlich ausdrücklich zugesichert  : s. vielfältige Quellenbelege hierfür in der Datenbank »Frühneuzeitliche Ärztebriefe des deutschsprachigen Raums (1500–1700)« (www.aerztebriefe.de) unter dem Schlagwort »Dienstwohnung «. 117 S. Schulze (1920), S. 3–4. 118 UBM, Ms. 96, S. 228 (10.1.1652  : her burgerm[eister] Clemens fruwe). 119 S. Kap. 2.3.3. 120 S. Stock (1651), Bl. E3r–F1r.

Die Praxis im Kontext

mobile Praxis zu sehen, die dem Arzt folgte, der sie ausübte. Seine Anwesenheit machte, im Sinne einer Foucault’schen Heterotopie,121 temporär aus jedem Krankenzimmer eine Praxis, in der untersucht, verschrieben und der nächste Besuch vereinbart wurde. In einem Ölgemälde des niederländischen Genremalers Gerard Dou (1613–1675) ist dementsprechend ein harnschauender Arzt neben seiner Patientin in einem Raum zu sehen (s. Taf. 8), der in seinem architektonischen Aufbau und seiner Ausstattung in gleicher Weise als Privatraum gekennzeichnet ist wie in anderen Genreszenen desselben Malers (s. Taf. 7). Magirus’ Wege lassen sich für beide Praxisorte, Berlin und Zerbst, gut belegen. Gleich zu Beginn des Diarium, also im Berliner Teil der Handschrift, findet sich eine Liste mit den Namen von 64 Patienten, die Magirus vom 5. September bis 20. November 1647 behandelt hatte.122 Der Reihe nach sind den ersten Patienten hier folgende Ortsbezeichnungen zugeordnet  : Tangermünde – Köpenick – Fürstenwalde – Berneck – Jacobsdorf. Wenn man diese Etappen um zwei weitere Stationen ergänzt – am Anfang um Schöningen (da Magirus an anderer Stelle davon spricht, im September 1647 dort gewesen zu sein),123 zum Schluß um Frankfurt/Oder (denn nach dem Jacobsdorfer Patienten steht als nächster sein Vater Tobias Magirus in der Liste) –, so ergibt ein Blick auf die Landkarte eine geographisch logische Verbindung zwischen all diesen Orten. Magirus reiste offensichtlich im Gefolge der schwedischen Königinwitwe vom Braunschweiger Hof zurück in Richtung Berlin, wobei die Reisegesellschaft Schöningen (wenige Kilometer von Johann Heinrich Bossens Praxisort Helmstedt entfernt)124 auf dem Weg nach Magdeburg passierte und von dort die Elbe hinunter nach Tangermünde fuhr. Während seines kurzen Aufenthalts dort behandelte Magirus den Amtsschreiber der Stadt und dessen Frau. Nachdem er dann aus dem Westen zurück nach Berlin gekommen war, verließ er die Stadt gleich wieder im Osten über Köpenick und reiste nach Frankfurt/Oder. Unterwegs behandelte er »die ambtschreiberin von Cöpenick«, die »burgermeisterin« und die »conditorin« von Fürstenwalde, den »krugerin sohn« und »die lufferin« von Berneck, »die predigerfrau« von Jacobsdorf und schließlich eben »den herrn Vattern«.125 Hier näherte sich Magirus in seiner Praxis auffällig jener der fahrenden Heiltätigen an, die er so gerne in seinen Polemiken attackierte, und man darf sich fragen, wie er wohl aus Sicht derer, die ihn konsultierten, als reisender Arzt neben anderen Heiltätigen wahrgenommen oder in seinem Handeln gar von diesen unterschieden wurde.126 121 S. die theoretischen Überlegungen zu diesem Kapitel in der Einleitung zu diesem Band. 122 S. UBM, Ms. 96, S. XXVII–XXVIII (Catalogus der patienten). 123 S. Sennert, Daniel (1672), S. 96–97  : Magirus berichtet hier, der Arzt Hermann Conring (1606– 1681) habe ihm im September 1647, als er sich in dessen Nachbarschaft in Schöningen aufhielt, einige Schriften zur Chymie »kommuniziert«. 124 S. Einleitung zu Kap. 3. 125 S. UBM, Ms. 96, S. XXVII. 126 Der heutige Eindruck von damaligen »reisenden Ärzten« ist wiederum v. a. durch die Überlieferung von Konflikten mit »Marktschreiern« geprägt, wie sie z. B. Stichler (1908) auf der Grundlage Züricher Akten beschreibt.

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Magirus’ vorherige Mobilität wurde durch seine Stellung als Stadtarzt in Zerbst deutlich eingeschränkt. Neben dem eben bereits erwähnten Grafen von Barby (s. o.), den er schließlich bitten mußte, einen Wohnsitz östlich der Elbe zu beziehen, um ihn von der Stadt aus weiter behandeln zu dürfen,127 verließ er Zerbst nur noch einmal für längere Zeit. Im Frühjahr 1654 gestattete ihm der Rat der Stadt offenbar, zur Behandlung der schwangeren Kurfürstin Luise Henriette von Brandenburg nach Berlin zu reisen.128 Er hatte zuerst brieflich ein Konsil (wohl an Martin Weise) geschrieben, und darin die Frage erörtert, ob man bei Schwangeren einen Aderlaß vornehmen dürfe, sowie eine Nativität gestellt.129 Ein wenig später begab er sich dann persönlich nach Berlin, wobei er, wie das Diarium zeigt, die Gelegenheit nutzte, dort gleich auch noch einige seiner alten Patienten zu sehen und Rezepte für sie zusammenzustellen. Man könnte auch sagen  : Für die Dauer seines Aufenthalts gab es in Berlin die Praxis Magirus wieder. Medikamentenverkauf Magirus unterschied sich von manch anderen Ärzten seiner Zeit insofern, als er seine Patienten nicht mit Rezepten zum Apotheker schickte, sondern größtenteils bei diesem die nötigen Zutaten einkaufte, um dann die Medikamente zu Hause selbst zusammenzustellen. Diese Praxis behielt er bis ins hohe Alter bei.130 Sie stellt zum einen eine konsequente Umsetzung seines Anspruches dar, als gelehrter Physicus für jeden Patienten eine jeweils individuelle Medikation komponieren zu können, oder, mit Magirus’ eigenen Worten, das »gantz rare und noch niemals adhibirte medicamenta aussinnen«.131 Es zeigt zum andern aber auch, daß er in den Niederlanden die Medikamentenherstellung tatsächlich handwerklich gelernt hatte.132 Er kommentierte dementsprechend Engpässe beim Einkauf (»hat kein Semen Dauci gehabt« oder »hatte der Apotheker nicht, also habe ich das Folgende verschrieben«)133 und hatte gewisse Zubereitungen auch zu Hause vorrätig, die er einer Verschreibung beimengen konnte  : »Bei mir zuhause (in meis aedibus) soll dann noch Sandelholz und Schwefel-Spiritus hinzugegeben werden«.134 Sollte dagegen 127 S. Kap. 2.3.3. 128 Magirus erinnerte den Rat nach seiner Rückkehr auch ausdrücklich an seine Reise und die verantwortungsvolle Aufgabe, für die Kurfürstin Medikamente zu ersinnen, als er sich brieflich über Lärm im Nachbarhaus beschwerte  : s. Kap. 1.1.4. 129 S. Kap. 1.4.2, Abb. 7 (Skizze des Horoskops für die Kurfürstin) und Kap. 3.2.7. 130 Noch 1691, nun im Alter von bereits 76 Jahren, bat Magirus seinen Fürsten um Rückerstattung der Kosten für die Zutaten, die er eingekauft hatte, um Medikamente für Armenpatienten zuzubereiten  : s. Johannes Magirus an Karl von Hessen-Kassel, Marburg, 23.5.1691/93 (HStAM, Best. 5, Nr. 206, S. 3–6, unter www.aerztebriefe.de/id/00036400  ; Zugriff  : 8.8.2017), hier S. 4. 131 S. Kap. 1.1.4. 132 S. Kap. 4.1.2. (Amsterdam [1639–1640]). 133 S. UBM, Ms. 96, S. 40 (Dez. 1647  : her Magirus Advocatus)  ; ebd., S. 50 (27. Dez. 1647  : der ambtsbrauer von Spandau). 134 UBM, Ms. 96, S. 22 (28. Nov. 1647  : Schlaberndorfs tochter).

Die Praxis im Kontext

ein Heilmittel bereits als fertige Mischung aus der Apotheke geholt werden, kennzeichnete er dies extra (»a pharmacopolio«).135 Er lagerte selbstgemischten Kräuterwein ein (in Zerbst Kräuterbier)136 und stellte von erprobten Medikamenten oft eine solche Menge her, daß er mehrere Kranke damit versorgen konnte.137 Zur Verwaltung seiner Pharmaka scheint er neben dem Diarium noch ein weiteres Notizbuch für seine nostra (besonders erfolgreiche Eigenkreationen) geführt zu haben.138 Manche Patienten kauften prophylaktisch gleich größere Mengen auf Vorrat. Frau Kassel »begehret 4 fläschlin Aq[ua] antiscorbutica« (was von Magirus präzise abgerechnet wurde  : »kombt ein fläschlin 1 th[aler] 6 gr[oschen], das sindt 5 thaler«),139 der Amtsschreiber von Spandau kaufte sich sogar zwölf verschiedene Medikamente, um sein »Apotheklin zu füllen«.140 Auch andere auf Patientenwunsch zusammengestellte Rezepte zielten nicht primär auf die Heilung einer akuten Krankheit, wie z. B. der mit allerlei Kräutern versetzte Schnupftabak für den Ehemann einer Patientin oder das aus Pferdehaar, Honig, Hopfen, Rosmarin und Myrrhe gewonnene Haarwuchsmittel für die Königinwitwe.141 Bei seinen bereits geschilderten Reisen verfuhr Magirus so, daß er die Patienten untersuchte und, sobald er wieder zu Hause war, deren Medikamente zusammenstellte und sie ihnen schickte. Die Heilmittel für seine Tante gab er beispielsweise – inklusive Beipackzettel (»cum usu s[ive] informatione«) – Kaufleuten mit, die auf dem Weg nach Frankfurt/Oder waren.142 Zur räumlichen Ausweitung der Praxis (und damit auch des Medikamentenvertriebs) trug daneben v. a. die briefliche Korrespondenz mit Patienten bei. Während andere Ärzte auch auf der Grundlage eines Patientenbriefes diagnostizierten und Rezepte empfahlen, gewissermaßen eine virtuelle Praxis neben der persönlichen betrieben,143 wollte Magirus 135 So z. B. bei einer Salbe für eine Geschwulst  : s. UBM, Ms. 96, S. 16 (Nov. 1647  : des drechslers Sohn). 136 Dies geht aus einer Kostenaufstellung für die Herstellung und Einlagerung hervor  : s. Kap. 2.4.1. 137 S. UBM, Ms. 96, S. 30 (8. Dez. 1647  : die Sammethausin)  ; neben dem Rezept steht  : »N[ota] B[ene] die helffte von diesem Wasser hat her Gobelii coniunx und die ander helffte die Sammethausin bekommen.« 138 Magirus schrieb für diese Mittel keine Rezepte auf, sondern benannte sie lediglich in der Krankengeschichte als »meine/unsere«  ; s. z. B. UBM, Ms. 96, S. 304 (Februar 1653  : Barbyensis Martin)  : »praescripsi […] essentiam meam cephaleo-pectoralem  ; ebd., S.  440 (November 1653  : Wenzlo)  : »deinde praescripsi electuarium meum consuetum cephalicum cumque adhuc de dolore capitis quereretur spec[iem] nostr[am]«. Dem Amtsschreiber von Spandau, der mit Magirus’ Medikamenten in seine Heimatstadt zurückkehrte, verschrieb er ebenfalls solch ein Elixir (»Elixir proprietat[is]«), notierte sich aber zur eigenen Erinnerung auch noch, wie es beschriftet werden sollte, nämlich als »Elixir D. Magiri«  : s. UBM, Ms. 96, S. 138 (16. Aug. 1648  : des ambtsschreibers zu Spandau Apotheklin zu füllen). 139 UBM, Ms. 96, S. 3 (20.11.1647  : die Frau Casselin). 140 UBM, Ms. 96, S. 138–141 (16.8.1648  : des ambtsschreibers zu Spandau Apotheklin zu füllen). 141 S. UBM, Ms. 96, S. 93 (Febr. (?) 1647  : frau Gröbin)  ; ebd., Ms. 95, S. 94 (der Konigin Wasser zum Haarwaschen). 142 S. UBM, Ms. 96, S. 130 (Juli 1648  : des herrn Inspectoris zu franckfurt frau, meine frau Mume). 143 Johann Heinrich Bossens Aufzeichnungen dokumentieren diese Praxis  ; er notierte unter diejenigen Fälle, die er per Brief unterbreitet bekommen hatte, einen Verweis auf die in seinem Ordnungs-

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Die Arztpraxis

Diagnosen nicht ohne eine persönliche Inaugenscheinnahme des Kranken gewähren.144 Trotzdem gab es auch in seiner Praxis Patientenkorrespondenz. Neben den obligatorischen Bitten um ein Beschauen des eingesandten Urins handelte es sich dabei v. a. um Berichte über den Verlauf einer Krankheit. In der Regel hatte Magirus die Patienten, die ihm schrieben, zu irgendeinem Zeitpunkt einmal gesehen, konnte sie aber nicht dauerhaft persönlich betreuen  : Die Flexibilität jeder Praxis, auch die der nicht durch Stadtarztpflichten gebundenen Ärzte, stieß dort an ihre Grenzen, wo mit der allzu großen räumlichen Entfernung von anderen Patienten die Bevorzugung eines einzelnen die allzu lange Vernachlässigung der anderen bedeutet hätte. War ein Arzt längere Zeit nicht erreichbar, schadete dies nicht nur seinem Ruf, sondern hatte auch finanzielle Konsequenzen. Magirus führte deswegen einige Behandlungen aus der räumlichen Distanz fort. Über die Ergebnisse seines Einwirkens ließ er sich dann schriftlich berichten, wie u. a. ein Exzerpt aus dem Brief eines entfernt lebenden Adeligen zeigt, das er im Wortlaut in sein Diarium eintrug. Es ergänzt die Fallgeschichte um eine Beschreibung dessen, wie das verschickte Medikament gewirkt hatte  : »De hoc scribit  : hoc purgans hat mich so purgirett das ich so matt worden auf gestern abend balt gar dahin geweesen währe, ich befinde mich anitzo in grosser mattigkeit  ; ihm 28. April 1653. Filius hat nichts sonderlich purgiret als das er sich zweimahl gebrochen.«145 Von einer Frau, die im Haus eben dieses Adeligen lebte, erfuhr Magirus später, daß der Patient schon wieder jagen ging  ; daraus konnte er schließen, daß die Schwächung durch die Purgation sich gegeben hatte (was der Behandelte aber später in einem eigenen, zweiten Brief relativierte).146 Auch wenn also kein persönlicher Kontakt möglich war, versuchte der Arzt so aus der Distanz, seine Patienten im Auge zu behalten und, wenn aus seiner Sicht nötig, mit einer Medikamentensendung einzugreifen.

2.3 Die Patientenschaft Die nun folgenden Zahlen, die aus den Aufzeichnungen des Diarium erhobenen wurden, sind mit angemessener Vorsicht zu behandeln. Als typisches Dokument des vorstatistischen Zeitalters war Magirus’ Diarium nicht an den Kriterien der Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit durch Dritte ausgerichtet, sondern an der subjektiven Interessenlage des Aufzeichnenden. Aus diesem Grund weisen die Einträge die folgenden, eine Auswertung erschwerenden Charakteristika auf  :147 system mit Großbuchstaben gekennzeichneten Patientenbriefe  : s. z. B. SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1654, S. 31 (Nr. 53  : Achatz von der Asseburg). 144 S. Kap. 3.2.5. 145 UBM, Ms. 96, S. 284–87 (20–28. April 1653  : der von latorff zu Kobeck). 146 Ebd.: »retulit se melius habere, sed adhuc de virium debilitate conqueritur«. 147 S. auch Schlegelmilch (2011), S. 18  ; Stolberg (2013b), S. 500  ; Hess/Schlegelmilch (2016), S. 28  ; Klaas/Steinke/Unterkircher (2016), S. 77.

Die Patientenschaft

Abb. 9  : Patientenbezeichnungen im Diarium – der ambtsbrauer zu Spandau  ; Cr[istin] Kootins schuler  ; frau Tillemannin  ; des Schwertfegers sohn  ; Ein schusterjunge  ; dem hacken in der roßstraßen.UBM, Ms. 96, S. 50–51.

– Name  : Patienten werden einmal mit der bloßen Berufsbezeichnung, ein andermal mit ihrem Namen (dabei meist nur dem Nachnamen) verzeichnet  ; selten ist die gleichzeitige Nennung von Beruf und Name. Eine Zuordnung ist meist schwierig bis unmöglich, da es sich oft um Mitglieder ansässiger Großfamilien bzw. mehrfach vergebene Ämter handelt.148 Auch deskriptive »Namen« sind möglich (»eine arme frau mit 4 Kindern von Müncheberg deren man vom blinden Valtin erschossen«  ; »für eine kranke Frau so ich den man gehabt«).149 Das Register erfasst nicht alle Patienten. Durch den Ortswechsel fehlt eine längere Kontinuität, die eine Patientenbestimmung unterstützen könnte. – Herkunft  : Die Herkunft des Patienten wird meist nur angegeben, wenn der Patient nicht aus der Stadt selbst stammt. Aber auch dies ist keine feste Regel (»ein Bauersmann«). 148 Dies zeigt die Auswertung der Namensindices bei Bahl (2001), Schmitz (2002) und Niemann (2009). 149 S. UBM, Ms. 96, S. 497 (Mai 1654)  ; ebd., S. 106 (März 1648). Um die Vielfalt solcher frühneuzeitlichen »Patientennamen« zu verdeutlichen, wurden sie in den Fußnotenbelegen zu einzelnen Einträgen des Diarium und auch der Ephemerides von Johann Heinrich Bossen jeweils vollständig zitiert.

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Die Arztpraxis

– Datum  : Manchmal fehlen über Monate Datumseintragungen. Eine über die erste Konsultation fortgeführte Behandlung wurde auf demselben Blatt, mitunter eingeleitet von einem Koppelwort (»postea«, »iterum« etc.), weitergeschrieben, bis der Platz ausging. Danach wurde die nächste freie Seite benutzt. Die Anzahl der Behandlungen kann ausgehend von solchen Signalwörtern und erkennbarem Tintenwechsel bestenfalls logisch erschlossen werden. Nur manchmal wird ein Alter genannt, konkret oder deskriptiv (»is nit alt«)  ; der Familienstand einer Person nur dann, wenn dadurch das finanzielle Abhängigkeitsverhältnis für die Abrechnung vermerkt wird. Krankheitsbilder können nicht ausgezählt werden, da nicht bestimmbar ist, welche der zahlreichen jeweils in der Anamnese aufgezählten Beschwerden als primär und sekundär betrachtet wurden. Die folgende Auswertung beschränkt sich auf die Jahre 1648 (Berlin) und 1653 (Zerbst), da hier die Aufzeichnungen nach den auffindbaren Datumsangaben über das vollständige Jahr laufen. Die Vollständigkeit der Aufzeichnung selbst ist damit jedoch nicht gewährleistet.150 Aufgrund all dieser Einschränkungen sollten die erhobenen Zahlen als ungefähre Angaben betrachtet werden, die in erster Linie dem Zweck dienen, überhaupt einen Vergleich zwischen den beiden Praxisorten Zerbst und Berlin (und damit auch eine Charakterisierung der Patientenschaft) sowie eine Gegenüberstellung mit der Praxis Johann Heinrich Bossens in Helmstedt anstellen zu können. 2.3.1 Patientenzahlen

Berlin (1647–1650) Zu dem Zeitpunkt, als Johannes Magirus nach Berlin wechselte (1641), war die Stadt ebenso mitgenommen von den Auswirkungen des Krieges wie seine Heimatstadt Frankfurt. Nach Krieg und zweimaliger Pest waren viele Häuser aufgegeben,151 die Bevölkerungszahl wird für die 1640er Jahre auf ca. 6000 Einwohner beziffert (gegenüber 12.000 Einwohnern in der Vorkriegszeit).152 1646 erließ der Kurfürst deswegen vorteilhafte Bestimmungen zum Kauf wüst liegender Häuser, die einen Zuzug friesischer und holländischer Familien anregen sollten, er legte den Lustgarten und die Lindenallee an und begann im folgenden Jahr, das Schloß zu renovieren.153 Auf dem Titelkupfer des Herbarium portatile, das Magirus’ 150 S. Kap. 2.4.1. 151 S. Niemann (2009), S. 40. 152 S. Escher, Felix  : Die brandenburgisch-preußische Residenz und Hauptstadt Berlin im 17. und 18. Jahrhundert, in  : Ribbe, Wolfgang (Hg.)  : Geschichte Berlins, Bd. 1  : Von der Frühgeschichte bis zu Industrialisierung (München 1987) 343–403, hier v. a. 343‒45  ; s. auch Schmitz (2002), S. 142. 153 Diese Darstellung findet sich bei Anton Balthasar König (1792), dem für seine historische Schilderung Berlins Ende des 18. Jahrhunderts noch zahlreiche Quellen zur Verfügung standen, die heute verloren sind  : s. hier S. 38–50  ; s. Dülmen (21999), Bd. 2, S. 64  ; Niemann (2009), S. 131–32.

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Die Patientenschaft Abb.  10  : Titelkupfer des Hebarium Portatile (1650)  : im Hintergrund das Berliner Stadtbild, im Vordergrund (links) die Straße nach Spandau.

Schüler Thomas Pankow in dem Jahr herausgab, als Magirus Berlin gerade den Rücken kehrte, sind diese ersten Aufbautätigkeiten dokumentiert (s. Abb. 10). Trotzdem ist für die Laufzeit des erhaltenen Diarium von einem ärmlichen und eher landwirtschaftlich geprägten Stadtbild mit Tierhaltung und ungeregelter Abwasserentsorgung auszugehen.154 Folgende Patientenzahlen lassen sich für das Jahr 1648 auszählen  :155 1648 (Berlin)

Gesamt

davon  :

Frauen

Männer

Kinder

Patienten

 97

42 (ca. 43 %)

43 (ca. 44 %)

12 (ca. 12 %)

Patienten­ kontakte

184

82 (ca. 1,9/P)

85 (ca. 2/P)

17 (ca. 1,4/P)

Unter diesen Patienten waren fünf Armenpatienten, die Anspruch auf kostenlose Medikamente aus der Hofapotheke hatten.156 Bewegen sich diese Zahlen auch in Bereichen, 154 Zum Aussehen Berlins Anfang der 1640er Jahre s. Niemann (2009), S. 42–44. 155 Zu einer Einordnung dieser Zahlen im Vergleich mit Arztpraxen des 18. und 19. Jahrhunderts s. Klaas/Steinke/Unterkircher (2016), S. 78. 156 S. Hörmann (1898), S. 215  ; Gelder (1925), S. 4.

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Die Arztpraxis

die es schwer machen, grundsätzliche Aussagen ableiten zu wollen,157 so sind diese fünf mittellosen Patienten im Jahr 1648 doch auffällig gegenüber dem einen »Armenkindlein«, das Magirus in seiner gesamtem Zeit in Zerbst behandelte,158 und könnten als Indiz verstanden werden, über wie viel weniger Ressourcen die brandenburgische Residenzstadt zu dieser Zeit verfügte als das anhaltische Zerbst, obwohl auch diese vom Krieg gezeichnet war (s. u.). Martin Weise hatte in seinem bereits zitierten Brief an den Kurfürsten als Patientenschaft seiner Praxis, die er nach einer Bestallung als Leibarzt nicht mehr würde versorgen können,159 nicht nur die Einwohner der Doppelresidenz angesprochen, sondern auch die Bevölkerung des umliegenden Landes. Dem entspricht, was auch in Magirus’ Praxis zu beobachten ist  ; er behandelte im ausgewerteten Jahr 23 Patienten, die von außerhalb in die Stadt kamen  :160

bis zu 10 km 1 Lichtenberge

bis zu 20 km 11 Bukow Neustadt (2) Spandau (7) Teltow

bis zu 30 km 2 Bötzow Groß Kienitz Klein Berendt

bis zu 40 km 1 Herzfelde

weiter

unbek.

7 Frankfurt (3) Müncheberg Kremmen Rathenow (2) Schwedt

1 »Bauersmann«

Die sieben von ihnen, die aus einer Entfernung von über 40 Kilometern anreisten, waren bis auf eine Witwe, deren Mann gewaltsam ums Leben gekommen war, Geistliche und Amtsinhaber. Sie alle waren vermutlich in erster Linie deswegen in der Residenzstadt, weil sie bei Hof vorsprechen wollten. Hier wirkte sich die Nähe des Hofes insofern positiv auf die Praxis aus, als er eine zusätzliche Nachfrage nach Behandlung generierte. Die anderen Patienten legten im Durchschnitt ca. 21 Kilometer zurück, um den Arzt zu sehen, wobei die im Verhältnis große Anzahl an Patienten aus Spandau zeigt, welch wichtige Rolle die gut ausgebaute Straße zwischen der Residenzstadt und der schon im 16. Jahrhundert errichteten Zitadelle spielte (s. Abb. 10). Magirus verzeichnete in dem erhaltenen Diarium für die Berliner Zeit insgesamt 175 verschiedene Patienten, wovon 140 Patienten aus der Stadt stammten. In 14 Berliner Haushalten behandelte Magirus dabei mehr als ein Familienmitglied.161 Teilweise läßt sich hier sehen, wie der Arzt, wenn er schon einmal im 157 Jedoch waren es im Jahr 1647, für das nur Aufzeichnungen vom 5. September bis Ende Dezember existieren, allein für diese kürzere Zeitspanne bereits fünf Armenpatienten  ; es ist außerdem nicht bekannt, wie viele Martin Weises Praxis zusätzlich aufwies, während Magirus in Zerbst für die Armenpatienten allein zuständig war. 158 S. UBM, Ms. 96, S. 282 (Jan. 1653  : armen kindlein von 1½ Jahr). 159 s. Kap. 2.1.2. 160 Zur medizinischen Versorgung des Umlands durch in den Städten praktizierende Ärzte s. auch Kinzelbach (1994), S. 74–75. 161 Insgesamt entstammen diesen 14 Haushalten 33 Patienten.

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Die Patientenschaft

Haus war, auch neue Klientel akquirierte. Er behandelte z. B. einen Schüler, der in Berlin Wohnung bei einer gewissen Frau Christine Koot genommen hatte, wegen Krätze  ; unter dem gleichen Datum ist eingetragen, daß er dem Kind der »Frau Christin Kootin Gevatterin« für dessen Krämpfe ein »Wässerlin« verschrieb  ; und als er seinen Patienten Joachim Bebert behandelte, entdeckte er offensichtlich auch bei dessen Kutscher Behandlungspotential.162 Dann wieder deuten Behandlungen verschiedener Mitglieder eines Haushaltes, die einzeln und in größerem Abstand voneinander erfolgten, darauf hin, daß man wohl mit früheren Konsultationen des Arztes zufrieden gewesen war und ihn deswegen erneut rief. Zerbst (1651–1655) Auch Zerbst war vom Krieg schwer getroffen, was sich v. a. an dem Einbruch der Steuereinnahmen ablesen läßt.163 Albert Puppe, der auf der Grundlage der 1925 noch einsehbaren städtischen Akten von 1601–1675 eine genaue Aufstellung der wirtschaftlichen Situation Zerbsts erarbeitete, beurteilte die Kriegszeit als einen Wendepunkt in der Geschichte der noch zu Anfang des 17. Jahrhunderts wohlhabenden Stadt  : »Andere Städte konnten sich leichter und schneller nach dem Dreißigjährigen Kriege wieder erholen. Zerbst dagegen blieb, in erster Linie durch seine etwas ungünstige Lage bestimmt, bis auf den heutigen Tag eine kleine Landstadt«.164 Als Magirus nur wenige Jahre nach Kriegsende die Stadtarztstelle in Zerbst übernahm, besaß die Stadt vermutlich noch ca. 2500 Einwohner.165 Die Auswertung des Diarium ergibt hier folgende Patientenzahlen  : Johannes Magirus, Stadtarzt – Zerbst (2500 Einwohner) 1653 (Zerbst)

Gesamt

davon  :

Frauen

Männer

Kinder

Patienten

100

30 (30 %)

46 (46 %)

24 (24 %)

Patienten­ kontakte

266

111(ca. 3,7/P)

112 (ca. 2,4/P)

43 (ca. 1,8/P)

Magirus hatte in Zerbst als Stadtarzt und ohne Konkurrenz durch einen anderen akademisch ausgebildeten Arzt offensichtlich bessere Ausgangsbedingungen. Denn obwohl die Gesamtpatientenzahl nicht viel höher ist als die in Berlin, behandelte er, bezogen auf die vergleichsweise kleinere Einwohnerzahl, einen höheren Anteil an Stadtbewohnern  : Es lassen sich aus den Aufzeichnungen im Diarium für Berlin mit 6000 Einwohnern insgesamt 99 (1,65 %), für Zerbst mit 2500 Einwohnern 137 (5,48 %) Patienten fest162 S. UBM, Ms. 96, S. 32 (13. Dez. 1647  : frau Christine Kootin schüler  ; eine frau Christine Kootin gevatterin von Stolpe, das kind hat raißen im leibe). 163 S. Puppe (1929), S. 25. 164 S. Puppe (1929), S. 45. 165 S. Castan (1999), S. 141  ; s. auch Specht (1998), S. 52.

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Die Arztpraxis

machen.166 Auch die Geschlechterverteilung hat sich deutlich verschoben  : Hatten sich in Berlin weibliche und männliche Patienten ungefähr die Waage gehalten, so waren in Zerbst deutlich mehr Männer als Frauen seine Patienten. Dieses Ergebnis entspricht eher denen, die aus anderen Behandlungskontexten des 17. Jahrhunderts vorliegen.167 Ein möglicher Grund für die größere Zahl an männlichen Patienten könnte sein, daß Frauen bei geschlechtsspezifischen Beschwerden in dieser Zeit noch eher weibliche Heiltätige aufsuchten wie die von Johann Heinrich Bossen so oft beschimpften »Weiblein«.168 Von außerhalb kamen im Jahr 1653 insgesamt 15 Patienten in die Stadt und ließen sich behandeln  : bis zu 10 km 3 Lindow

bis zu 20 km 4 Aken (2) Barby Dessau

bis zu 30 km 1 Köthen

bis zu 40 km 3 Görzke (eine Familie mit drei Mitgliedern)

weiter 3 Hamburg Magdeburg Plauen

unbek. 1 »ein bauernjunge«

Von Lindow (heute Lindau) aus, das nördlich von Zerbst liegt, und auch vom weiter entfernten Görzke war die Stadt gut zu erreichen, ohne daß man, wie von etwas entfernteren Gebieten südwestlich der Stadt, die Elbe überqueren mußte (s. Abb. 11). Dies war umständlich, da nur an bestimmten Stellen möglich, was sich in den aufgeführten Herkunftsorten niederschlägt. Nur bei Aken befindet sich bis heute eine bereits im 14. Jahrhundert in Betrieb gesetzte Fähre, die regelmäßige Lasten- und Personentransporte ermöglichte 166 Als aus der Stadt stammend wurden die Patienten gezählt, 1) denen Straßennamen zugeordnet sind, 2) die als Familiennamen identifiziert werden konnten über die Namensindices für Berlin  : Bahl (2001), Schmitz (2002), Niemann (2009) und Zerbst  : Münnich, Franz  : Geschichte des Gymnasium Illustre zu Zerbst (Duderstadt 1960)  ; ders.: Die Zerbster Ratsherren von 1467–1768 und ihre Familien (Regensburg 1978) [= Die Fundgrube 38]  ; ders.: Die Lehrer des Francisceums zu Zerbst 1532–1932. Ein biographischer Beitrag zur Geschichte der Klosterschule anläßlich ihres 400-jährigen Wohnens im Franziskanerkloster (Mannheim 2001)  ; Schulze, Theodor  : Verzeichnis der in den Jahren 1601–1650 in Zerbst zugezogenen Bürger, in  : Zerbster Jahrbuch 9 (1913), S. 46–77  ; ders. (1925). 167 S. Baschin/Dietrich-Daum/Ritzmann (2016), S. 47  ; Dinges, Martin  : Immer schon 60 % Frauen in den Arztpraxen  ? Zur geschlechtsspezifischen Inanspruchnahme des medizinischen Angebots (1600–2000), in  : ders. (Hg.)  : Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel ca. 1800 – ca. 2000 (Stuttgart 2007) S. 295–322, hier S. 303  ; 306. Die in beiden Publikationen aufgeführten Zahlen können allerdings nur der groben Einordnung dienen, da sie sich allesamt nicht auf Praxen mit identischen Vergleichsparametern beziehen (17. Jahrhundert + Altes Reich + gelehrter Arzt). Ofenhitzer (2017) führt – basierend auf den Rezeptverschreibungen (!) des Breslauer Arztes Petrus Kirstenius (1577–1640) – folgende Zahlen an (Summe/Männer–Frauen–Kinder)  : 384/227–88–67 (Jahr 1613)  ; 327/194–66–65 (Jahr 1614)  ; 112/60–33–13 (Jahr 1615)  ; 714/400–168–145 (Jahr 1616). 168 S. Kap. 3.2.1., Bossen  : Eine zusätzliche Frage (Habt Ihr bereits jemanden konsultiert  ?). Zu solchen weiblichen Heiltätigen s. Duden (1991), S. 94–95  ; Kinzelbach (1995), S. 293–94.

Die Patientenschaft

Abb. 11  : Matthäus Merian, Stadtansicht Zerbsts von Westen aus (im Jahr vor Magirus’ Ankunft, 1650). Im Vordergrund die ausgebauten Straßen, auf der Magirus Patienten anreisten – von links aus Lindow und (halblinks) aus Barby, von rechts aus Richtung Breitenhagen.

und die auch für den schnellsten Weg von Köthen nach Zerbst passiert werden mußte  ; ebenso gab es eine Fähre bei Dessau. Bauern nahmen die Reise vom Land an einen der Fähranleger und von dort nach Zerbst in der im Diarium abgebildeten Zeit offensichtlich nicht auf sich, wie auch überhaupt der Anteil von Bauern, die sich von Magirus behandeln ließen, wieder sehr gering ist.169 Abzüglich der insgesamt 27 auswärtigen Patienten verzeichnete Magirus in seiner Gesamtzeit in Zerbst insgesamt 149 verschiedene Patienten.170 Auch hier behandelte er, wie in Berlin, oft mehrere Personen in einem Haushalt  ; mehr als ein Drittel der Patientenschaft (57 Personen) entstammt 25 Zerbster Haushalten. Es befinden sich darunter mehr Kinder als in Berlin, was darauf hindeutet, daß man in Zerbst eher bereit war (und die finanziellen Mittel hatte), kindertypische Beschwerden wie Koliken, Würmer, leichte Fieber oder Durchfall mit ärztlich verordneten Medikamenten statt mit Hausmitteln zu bekämpfen.171 Nachweislich ließen einige Akademiker- und Kämmererfamilien ihre Kinder bei Magirus behandeln  ; hieraus läßt sich aber keine standestypische und damit auch prestigegetragene Verhaltensweise extrapolieren, da auch bei einer ganzen Reihe von Einträgen dem Namen des Vaters kein Beruf und damit kein Stand zugeordnet ist. 2.3.2 Ein Vergleich  : Johann Heinrich Bossens Praxis in Helmstedt

Johann Heinrich Bossen (1620–1673), dessen Praxistagebücher im dritten Kapitel für den Vergleich ärztlicher Behandlungspraktiken noch ausführlicher herangezogen werden, praktizierte ab Herbst 1652 als Stadtarzt nur ca. 90 Kilometer westlich von Zerbst, in Helmstedt. Er hatte also zur selben Zeit dasselbe Amt inne wie Johannes Magirus, wenn 169 Unter den insgesamt 27 auswärtigen Patienten sind in der Gesamtzeit nur zwei Bauern und ein Bauernjunge zu finden. 170 In diese Zahl nicht eingerechnet sind er selbst und seine Familie, die adeligen Patienten, zu denen er reiste, sowie die, die er im Zuge einer dieser Reisen in Berlin behandelte  : s. Kap. 2.2.3. 171 Zur Behandlung von Kindern durch akademisch ausgebildete Ärzte sowie andere Heiltätige s. Ritzmann, Iris  : Sorgenkinder. Kranke und behinderte Mädchen und Jungen im 18. Jahrhundert (Köln/ Weimar/Berlin 2008), S. 87–118, bes. Übersicht S. 116.

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Die Arztpraxis

auch unter einem anderen Landesherren, und noch dazu in einer Stadt von ungefähr gleicher Größe. Er führte dort 21 Jahre lang tagtäglich seine Ephemerides. Obgleich sein Aufzeichnungsstil als gleichförmiger bezeichnet werden darf als die zum Teil eruptiven Schreibergüsse aus Magirus’ Feder, finden sich auch hier die üblichen Schwierigkeiten bei der Angabe von Namen und Alter und der Auswertung der Besuchsfrequenz, denn auch Bossen schreibt – wenigstens in den ersten Jahren – fortlaufende Fallgeschichten.172 Für das Jahr 1670 wird für Helmstedt eine Einwohnerzahl von ca. 2650 Menschen angenommen  ;173 dieser Wert soll als Richtgröße auch den folgenden Berechnungen für die Jahre 1653 und 1655 zugrunde gelegt sein  :174 Johann Heinrich Bossen, Stadtarzt – Helmstedt (2650 Einwohner) 1653

Gesamt

davon  :

Frauen

Männer

Kinder

Patienten

253

74 (ca. 29 %)

124 (ca. 49 %)

55 (ca. 22 %)

Patientenkontakte

493

142 (ca. 2/P)

275 (ca. 2,2/P)

76 (ca. 1,4/P)

Patienten

215

58 (ca. 27 %)

112 (ca. 52 %)

45 (ca. 21 %)

Patientenkontakte

308

93 (1,6/P)

161 (1,4P)

54 (1,2/P)

1655

Im Vergleich  : Johannes Magirus, Stadtarzt – Zerbst (2500 Einwohner) 1653 (Zerbst)

Gesamt

davon  :

Frauen

Männer

Kinder

Patienten

100

30 (30 %)

46 (46 %)

24 (24 %)

Patientenkontakte

266

111 (ca. 3,7/P)

112 (ca. 2,4/P)

43 (ca. 1,8/P)

Es zeigt sich, daß Johann Heinrich Bossen, auf die Gesamtzahl der Stadtbevölkerung gesehen, mehr Patienten behandelte als Johannes Magirus  : im direkten Vergleich des Jahres 1653 sogar mehr als doppelt so viele (Magirus  : 4 %  ; Bossen  : 9,4 %), und auch im Vergleich mit dem späteren Jahr 1655 noch immer das Zweifache. Dies mag zunächst 172 Eine umfassende Auswertung der 21 Praxisjahre war im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich  ; die vollständigen Ergebnisse sollen in Aufsatzform folgen. Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich meiner wissenschaftlichen Hilfskraft Theresa Sanzenbacher für ihre Hilfe bei der Erarbeitung der hier vorgestellten Zahlen. 173 S. Fock, Gerhard  : Studien zur Geschichte Helmstedts im Dreißigjährigen Kriege (Helmstedt 1938), S. 42  ; Müller (1998), S. 127. 174 Es sollten mindestens zwei Jahre ausgewertet sein, um die sich ergebenden Patientenzahlen als valide betrachten zu können. Dabei zeigte sich, daß für das Jahr 1654 nur Aufzeichnungen von Januar bis März vorliegen (möglich wäre ein Verlust der entsprechenden Bogen vor dem Binden der Ephemerides). Für diese drei Monate konnten folgende Zahlen ermittelt werden  : 143 Patienten, davon 42 Frauen, 82 Männer und 19 Kinder.

123

Die Patientenschaft

erstaunen angesichts der Tatsache, daß Magirus 1653 schon im dritten Jahr als Stadtarzt in Zerbst praktizierte, Johann Heinrich Bossen aber erst ein Jahr zuvor neu in Helmstedt bestallt worden war. Jedoch spielt auch hier wieder der konkrete Ort des Praktizierens eine entscheidende Rolle. Denn obwohl Bossen noch nicht so lange im Amt war wie Magirus, hatte er doch den großen Vorteil, daß er ein Kind der Stadt war, in der er seine Praxis ausübte. Sein Vater war ein »vornehmer Kauff und Handelsmann wie auch Rathsverwandter hieselbst« in Helmstedt, auch seine beiden Großväter bereits vor Ort Kaufmann bzw. Ratskämmerer gewesen.175 Es scheint so, als habe der städtische Rat nach dem frühen Tod des Vaters und als Johann Heinrich Bossen später auch noch sein Studium in Rostock abbrechen mußte, um sich um seine Mutter zu kümmern, das Kind der Stadt mit einer Bestallung versorgen wollen  ; denn Bossen wurde der erste Stadtarzt Helmstedts, während zuvor wohl die Mediziner der Helmstedter Universität die Stadtbevölkerung versorgt hatten.176 Er schloß sein Studium vor Ort ab, fing an, »durch manuduction und getreue Anweisung vor wolgemelten Herrn D. Conrings, sich in praxi zu üben, welches ihm sehr wohl von statten gangen, das Er manche gefährliche Kranckheit gar glücklich curiret, und dahero einen großen applausum, nicht allein in hiesiger Stadt, sondern auch außerhalb auf dem Lande gehabt.«177 Nicht einmal zwei Jahre nach seinem Examen war er bestallter Stadtarzt. Mangels Vergleichszahlen aus Helmstedt selbst können die aus seiner Praxis ermittelten Patientenzahlen nicht wirklich bewertet werden, aber es läßt sich an ihnen doch eine Akzeptanz der lokalen Bevölkerung ablesen, die aus seiner Herkunft und seinem in der Stadt etablierten Familiennamen resultiert haben mag. Gleichzeitig stellt sich aber auch die auswärtige Patientenschaft, für die Bossens Abstammung von wohl geringerem Interesse war, zahlreicher dar als die in Magirus’ Zerbster Praxis  : Die auswärtige Patientenschaft in Zerbst und Helmstedt bis 10 km

bis 20 km

bis 30 km

bis 40 km

weiter

Magirus (1653)

 3

 4

 1

3

3 (+1 unbek.)

Bossen (1653)

11

19

11

4

15

(1655)

11

17

13

6

12

Den 15 Patienten, die im Jahr 1653 von außerhalb Magirus’ Praxis aufsuchten, stehen in Helmstedt auf Bossens Seite viermal so viele (60) gegenüber. Selbst wenn man die Studenten der dortigen Universität abzieht, die sich teilweise hinter den Angaben fernerer Herkunftsorte (weiter als 40 km) verbergen mögen,178 behandelte Johann Heinrich Bossen 175 S. Koch, Henning (1673), Bl.  r–v. 176 Die »Acta, das Physicat in Helmstedt betreffend« (s. Quellenverzeichnis) sind im Stadtarchiv Helmstedt bis einschließlich 1921 komplett erhalten  ; es findet sich darin keine Bestallung aus der Zeit vor Bossens Physikat, und auch andere Akten erwähnen vor ihm keinen früheren Stadtphysikus. 177 Koch, Henning (1673), Bl.  iir–v. 178 Die Identität der Behandelten ist aus Angaben wie »iuvenis Prussicus« nicht zweifelsfrei abzulesen.

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Die Arztpraxis

doch noch immer gut 50 auswärtige Patienten pro Jahr. Stichproben in späteren Jahren seiner Ephemerides deuten sogar darauf hin, daß diese Zahl weiterhin stetig anstieg. Hier wirkte sich vermutlich zum einen die günstige Lage der Stadt an dem alten Handelsweg zwischen Magdeburg und Braunschweig aus, zum anderen die Tatsache, daß eine Anreise nach Helmstedt, anders als nach Zerbst, in keiner Himmelsrichtung von in der Nähe befindlichen Fluß- oder Bachläufen erschwert wurde. 2.3.3 Die Patientenschaft und ihre Beschwerden

Berlin (1647–1650) Die aus der Aufzeichnungspraxis resultierenden Schwierigkeiten bedingen, daß über die soziale Schichtung der Patienten und die Aufteilung von Krankheitsbildern in Berlin und Zerbst keine quantitativen Aussagen getroffen werden können. Gleichwohl lassen sich bestimmte Charakteristika der jeweiligen Patientenschaft beschreiben. Eine grobe Einteilung der Klientel sieht für Berlin folgendermaßen aus  : Hofangehörige  : Nicht die hohen Hofbeamten selbst wurden von Magirus behandelt, sondern eher Bedienstete an der Peripherie und Dienstleister, wie z. B. »Kind der Pagenaufwärterin«, »Kind des Reitknechts des Oberkammerherrn«, »Praeceptor des Vizekanzlers«, »Altfrau zu Schloß« »Tapezierer«, »Stuckengießer«. Eine Ausnahme stellen die Kammeradvokaten Crüger, Christian Straßburg179 und Magirus’ (auch Namens-)Vetter Johannes Magirus dar. Davon Militär  : Zwei der wenigen adeligen Patienten, die persönlich in Magirus’ Behandlung waren, sind »Obrist Rochow«,180»Gen.Comm. v. Pfuhl«181. Weitere Angehörige des kurfürstlichen Heeres hatten niedrigere Ränge inne, wie z. B. »Leutnant Götze«, »Rittmeister Barfuß«. Kirchenpersonal  : z. B. »Cantor im Thumb [= Dom]«, Hundepeitscherin im Thumb [= Frau des Mannes, der vor dem Gottesdienst die Hunde aus dem Kirchraum treibt], »Cantor von St. Trinitatis«, »Organistin auf St. Peters Kirchhoff«, »Probst zu Berlin«, »Crellius«182  ; wenige Akademiker, die keine Theologen waren  : »Gobelius«, »Magister Geisius«, »pauper studiosus Gottfried Bristaff«.

179 S. Schmitz (2001), S. 208–13. 180 Kompanieführer Hans XIV. von Rochow oder sein Sohn  : s. König, Anton Balthasar  : Hans von Rochow, in  : Biographisches Lexikon aller Helden und Militairpersonen, Bd. III (Berlin 1790), S. 295. 181 Generalkriegskommissarius Curt Bertram von Pfuhl  : s. Bahl (2001), S. 553–54. Bei den anderen adeligen Patienten handelt es sich um Manasse von Schlabrendorff u. Familie, die Tochter von Generalleutnant Joachim Ernst von Görtzke (Behandlung zusammen mit Martin Weise, s. u) und zwei nicht identifizierbare nobiles von Kwitzow und von Rövel. 182 Hofprediger Wolfgang Crellius (1593–1664)  : s. Bahl (2001), S. 457–78.

Die Patientenschaft

Städtisches Bürgertum  : z. B. »Kalle Bibliopola« [= Buchhändler], »der Müller aus Berlin Martin Meltzer«, »Meister Jacob Fritzen«  ; darunter auch Honoratioren wie »Eger, Jeremias«,183 »Herr Bürgermeister Trumbach«. Von den Patienten, die von außerhalb der Stadt kamen (insgesamt für den ausgewerteten Zeitraum  : 32) waren auffälligerweise nur vier in der Landwirtschaft tätig (drei Bauern, davon einer arm, und eine Frau aus einer Meyerei), die übrigen waren Geistliche oder Amtsträger aus anderen Städten. Alles in allem entspricht die Berliner Patientenschaft der Klientel, die bisher für Ärzte im 16./17. Jahrhundert angenommen wurde.184 Betrachten wir etwas genauer den Zeitabschnitt vom 20. November 1647, als Magirus beginnt, sein viertes (das erhaltene) Diarium zu verfassen, bis zum Ende desselben Jahres. Er behandelte nun das fünfte Jahr in der Stadt, und man darf für diesen Zeitpunkt, wie bereits beschrieben, von einer etablierten Praxis ausgehen.185 Magirus verzeichnete in diesen sechs Wochen insgesamt 45 verschiedene Patienten. Hiervon lassen sich 31 Fälle als Behandlungen mit akutem Anlaß bezeichnen (erkennbar an der Kombination von Anamnese und Rezept). In neun Fällen schrieb Magirus dagegen einfach nur Rezepte aus  ; hier wird eine konkrete Nachfrage nach bestimmten Medikamenten sichtbar, ohne daß in diesem Moment eine Diagnose des Arztes gewünscht oder benötigt wurde. In drei Fällen, die Magirus namentlich kennzeichnete und mit Beschwerdebild verzeichnete, kam gar keine Behandlung zustande – ein Kutscher verweigerte sich ihr sogar explizit (»nil accepit«).186 Aus diesen Eintragungen wird deutlich, daß sich Magirus’ Einschätzung, wem eine ärztliche Behandlung anzuraten war, nicht zwangsläufig mit dem Empfinden der potentiellen Patienten decken mußte. Die restlichen zwei Patientinnen sind eigentlich nicht Magirus’ eigene, er gibt vielmehr consilia zu Behandlungen Martin Weises  : Für die Tochter eines Edelmannes empfahl er einmalig ein Rezept für einen Spiritus  ;187 daneben gibt es für den besagten Zeitraum ganze fünf Einträge für eine gewisse Jungfer Jülow. Sie war, wie dem Taufbuch der Domgemeinde zu entnehmen ist, »ihrer königlichen Majestät Kammerjungfer«,188 während die Königinwitwe Maria Eleonora von Schweden in Berlin 183 Berliner Ratsverwandter, s. Schmitz (2001), S. 206–09. 184 S. Baschin/Dietrich-Daum/Ritzmann (2016), S. 54  : »Magirus’ practice largely corresponds to the image of the early modern physician described in literature, who served the noble and wealthy within a specific social urban network.« 185 S. Kap. 2.1.2. 186 UBM, Ms. 96, S. 21 (Nov. [  ?] 1647, herrn Joachim Beberts kutscher). In den anderen beiden Fällen ist die Aufzeichnung durchgestrichen bzw. es folgt ein Verweis auf das vorherige Diarium, aber keine Analyse und/oder Rezept. 187 UBM, Ms. 96, S. 18 (26.11.1647). Die Patientin ist ohne Namen eingetragen, ihre Krankheitsgeschichte liest sich wie von Martin Weise berichtet  : »Ein edelman hat eine tochter von XVII Jahren hat viel obst gefressen danach hat sich die monat zeit gestillet ist 2½ monat ausblieben, stoßet ihr nach dem hertzen als wan es ihr das hertze abstoßen wollt  ; ist vor diesem an einem hitzigen fieber curieret worden von Dr. Weißen. Sein Name ist Joachim von Görtzken.« 188 Die Patientin ist zusammen mit der Königinwitwe auch Patin bei der Taufe von Magirus’ Sohn  :

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Die Arztpraxis

weilte. Magirus füllte gleich mehrere Seiten (auf Latein und mit Belegen aus der Fachliteratur) zu diesem Fall, in einer Weise, wie er es später für die eigenen Patienten in Zerbst tun sollte  ; offensichtlich hatten die Schmerzen der Jungfer Potential für eine akademische Erörterung mit dem Kollegen. Zweimal legt die Kennzeichnung »solvit« neben den Rezepten für die Jungfer nahe, daß Magirus als Ergebnis seiner Beratungstätigkeit die von ihm vorgeschlagenen Medikamente tatsächlich an die Kranke verkaufen konnte.189 Die Patientin mit der höchsten Kontaktfrequenz im untersuchten Zeitabschnitt war jedoch eine Frau Tillemann (sechs Einträge). Magirus behandelte sie anfangs an zwei aufeinanderfolgenden Tagen akut wegen »stickflus« und »hauptweh«, außerdem Heiserkeit, Durchfall und eines schwachen Magens.190 Kopfweh und Magenbeschwerden blieben bestehen, hierfür stellte er drei weitere Male Rezepte aus (»es sollen die Pillen wiederholt werden«), wobei er auch dezidierte Wünsche der Patientin befolgte (»will ein ceratum stomachale haben«). 191 Verfolgt man für diesen Einzelfall die Einträge ins Folgejahr, so zeigt sich, daß die Patientin Ende Januar/Anfang Februar 1648 wieder im Diarium auftaucht. Im dazwischenliegenden Monat hatte sie offensichtlich Martin Weise wegen ihrer anhaltenden Magenbeschwerden konsultiert. Von nun an ist bei den Einträgen wieder dasselbe zu beobachten wie zuvor bei der Patientin Jülow  : die lateinische Sprache, die Aufbereitung des Falles mit Literatur. Magirus mußte seine Patientin nun wieder mit Weise teilen, er trat zurück, beobachtete und lernte. Er testete das von Weise verschriebene electuarium (eine Latwerge) an sich selbst (mit unangenehmen Nebenwirkungen),192 verzeichnete zum ersten Mal eine Blutschau und ermahnte sich selbst  : »Paß auf, ob das etwas nützt«.193 Es ist nicht klar, ob die Antwort hierauf schließlich negativ oder positiv war, auf jeden Fall verschwindet die Patientin nach dem 21. März 1648, als Magirus ihr noch ein »Seitensälblein« verschrieb,194 aus dem Diarium. Den überwiegenden Teil der Beschwerden stellen in diesen sechs näher betrachteten Winterwochen Kopfschmerzen, Magen- und Verdauungsbeschwerden, »Engbrustigkeit«, Durchfall, Husten, Heiserkeit, Hautkrankheiten und Geschwulste an verschiedenen Teilen des Körpers dar. Einzelne Fälle nennen Zahnfleischbluten, einen Bruch bei einem kleinen Kind, eine Purgation als Nachsorge bei einer gerade Niedergekommenen sowie

ELAB, Kirchenbuchstelle Alt-Berlin, 9/1  : Domgemeinde, Taufbuch 1616–1659  : S. 186, 6.5.1647  : Johannes Adolphus Magirus. 189 S. UBM, Ms. 96, S. 1 (20.11.1647)  ; S. 37 (16.12.1647). 190 S. UBM, Ms. 96, S. 10 (24.11.1647 ) und S. 13 (25.11.1647). 191 S. die Einträge in UB, Ms. 96, S. 19 (27.11.1647  : »repetantur pillulae«)  ; S. 24 (28.11.1647) enthält nur den Eintrag  : »für die frau Tillemannin muß gemachet werden grob magenpulver und hauptpillen«, aber kein Rezept (abgesehen von diesem Satz ist die gesamte Seite leer)  ; S. 46 (22.12.1647)  ; S. 51 (28.12.1647). 192 S. Kap. 4.1.3. 193 S. UBM, Ms. 96, S. 89 (Febr. 1648  : Tillemanna)  ; s. hierzu auch Kap. 3.2.6. 194 S. ebd.

Die Patientenschaft

vage Beschreibungen wie »böser Arm, böse brust«.195 Ausgehend von den hier für den kurzen Zeitraum im Detail erabeiteten Charakteristika läßt sich für die Berliner Einträge verallgemeinern  : Es gab in Magirus’ Berliner Praxis wenige komplexere Fälle. Dies gilt einerseits hinsichtlich der Krankheitsbilder, andererseits der Dauer der Behandlung  ; oft tauchten auch gerade Patienten, deren Symptome nach Magirus’ Aufzeichnungen eine ernsthafte Erkrankung nahelegen, nach einem einmaligen Kontakt nicht mehr auf,196 während andere sich mehrmals noch ein Nachfolgerezept geben ließen, ohne daß Magirus Gelegenheit hatte, weitere diagnostische Überlegungen anzustellen. Längere, schwierige Behandlungen fanden in Zusammenarbeit mit Martin Weise statt, wie sich an Formulierungen erkennen läßt wie »wir haben verschrieben« oder »wir haben Medikamente gegeben und Dr. Weise hat den Nabel eingecremt«.197 Diejenigen von Magirus’ Patienten, die identifizierbar sind, standen meist am Rand der Hofgesellschaft  ; einige waren auch Amtsträger des städtischen Bürgertums. Da die Bürgerlisten für die analysierten Jahre auch nicht mehr erhalten sind, läßt sich für verhältnismäßig viele Personen nicht mehr feststellen, welchen sozialen Status sie besaßen.198 Was das Verhältnis von männlichen und weiblichen Patienten angeht, zeichnet sich während des kurzen Zeitraums im Jahr 1647 bereits die gleiche Relation ab, die für 1648 festgestellt wurde (s. o.), d. h. auch eine im Vergleich mit anderen Arztpraxen höhere Zahl an Patientinnen als üblich. Zerbst (1650–1656) Als Magirus noch gar nicht richtig in Zerbst angekommen war, wurde er schon in einem wichtigen Fall konsultiert  : Im März des Jahres 1651 ließ ihn der Graf Justus Günther von Barby zu sich rufen. Dessen Erkrankung und ihre Behandlung sind gleichzeitig in seiner Leichenpredigt und Magirus’ Diarium dokumentiert.199 Der Herrschaftssitz des Grafen befand sich ca. 15 Kilometer westlich von Zerbst, so daß Magirus während der nun folgenden, etwas mehr als einen Monat währenden Behandlung mehrere Male die 195 S. UBM, Ms. 96, S. 17 (26.11.1647  : herr Wulff Otto frau)  ; S. 25 (19.11.1647  : die magd des hacken mit dem bösen arm, böser brust)  ; S. 35 (13.12.1647  : die jungfer freibergerin)  ; S. 36 (15.12.1647  : die frau Bartholdin kindlein). 196 Dies könnte heißen, daß dies entweder tatsächlich die ganze Behandlung darstellte oder sie zu einem anderen Behandelnden gewechselt waren. 197 UBM, Ms. 96, S. 111 (18.4.1648  : herr Volradt Kreße)  : »praescripsimus«  ; ebd., S. 92 (Febr. 1648  : die frau Gröbin)  : »dedimen [  !] medicamenta et D.D. Weis inunxit umbilicum«. 198 S. Schmitz (2002), S. 144 mit Anm. 21 zu dem zahlenmäßigen Verhältnis von Handwerksmeistern und Beamten in Berlin einerseits und abhängigen Berufen andererseits. 199 S. Stock, Werner (1651), S. E3r–F1r  ; UBM, Ms. 96, S. 197–201 (17.3.–19.4.1651  : Illustriss[imus] comes de Barby). Magirus verzeichnete penibel, wann er wo war (in Barby, in Zerbst oder in Grabow) und vermerkte neben den Symptombeschreibungen einzelner Tage auch (durchnumerierte) Briefe, durch die er zwischenzeitlich vom aktuellen Gesundheitszustand des Grafen informiert worden war.

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Die Arztpraxis

Stadt verlassen mußte. Nachdem er in Barby vom 17.–19. März eine erste Behandlung durchgeführt und am 5. April wieder nach seinem Patienten gesehen hatte, zwischenzeitlich für drei Tage auf den Herrensitz Grabow gereist war200 und dann erneut drei Tage (10.–13. April) in Barby zugebracht hatte, scheint es in Zerbst Kritik gegeben zu haben, daß der Stadtarzt zu oft abwesend war.201 In der Leichenpredigt des Grafen ist zu lesen  : […] und weiln S. Hochsel. Gn. dafür gehalten, daß es deroselben an Leibes-Kräfften nicht ermangele, gestalt Sie dann die gantze Zeit wärender Kranckheit über niemals gantz Bettlägrig worden, und aber dennoch solche Symptomata sich vermercken lassen, daß der Herr Medicus gut und nötig befunden, daß er selbst bey dem Hochsel. Herrn Patienten eiligst und offtmals seyn könne, sintemaln er seines Physicats halber nicht allezeit absehn könne, das dohmalige grosse Gewässer aber die schleunige Hin- und Widerkunfft in Barby sehr verhindert gehabt, So haben Seine Hochsel. Gn. Als welche ihren Leibeskräfften noch stets das beste zugetrauet, sich resolviret, auff Rath des Herrn Medici, und umb selbigen desto näher zu seyn und sich seines Einraths besser zugebrauchen hierüber auff dero Ampthaus Walther Neuenburg zu begeben.202

Nachdem der Graf sich am 14. April nach Walternienburg begeben hatte, was Magirus von nun an die Elbüberquerung ersparte, besuchte ihn sein Arzt noch zwei Mal und war auch bei seinem Tod anwesend. Magirus hatte damit zum zweiten Mal eigenständig einen Patienten aus dem Adel behandelt, und wie bei Maria Eleonora von Schweden war dies nur dadurch möglich geworden, daß er die Grenzen Berlins verlassen hatte. Graf Justus Günther von Barby verstarb zwar, aber seine Leichenpredigt läßt keinen Zweifel daran, daß sein Arzt ihn sorgfältig betreut hatte und sein Tod nicht irgendwelchen Versäumnissen auf dessen Seite angelastet werden konnte.203 Magirus konnte nun in Zerbst bereits eigenständiger agieren, auch wenn er durch die Pflichten des Stadtarztamtes hinsichtlich seiner eigenen Mobilität bis zu einem gewissen Grad eingeschränkt war. Der Rat scheint ihm jedoch, wie bereits gezeigt, Reisen zu adeligen Patienten genehmigt zu haben.204 In Zerbst lassen sich die Patienten in folgende Gruppen unterteilen  :205 200 Grabow liegt ca. 36 km nördlich von Zerbst und war Sitz der Familie von Wulffen. 201 Offensichtlich gab es bereits einen Konflikt mit einem von Magirus’ Vorgängern, Georg Aeplinius (1550–1633), da dieser die Stadt zu oft verließ, um Adelige zu besuchen  : s. Schulze (1920), S. 5. 202 S. Stock, Werner (1651), Bl. E3r–v. 203 S. Stock (1651), Bl. E3r  : »[…] haben S. Hochsel. Gn. Herrn D. Johannem Magirum, vornehmen Medicum und Physicum ordinarium in Zerbst zu sich erfordern lassen, demselben ihres Leibes Ungelegenheit und grosse Beschwerung eröffnet und sich dessen Einraths und Arztneyen gebrauchet, gestalt wolermelter Herr Medicus dann auch an rühmlicher Sorgfalt hierbey nichts hat ermangeln lassen.« 204 S. Kap. 2.2.3. 205 Zur genaueren Identifikation all derer, die von Magirus nur mit Namen genannt wurden und an

Die Patientenschaft

Hofangehörige  : z. B. »Hoffrath Gerhold«, »her Cantzler«, »hoffbalbier«, »Hoffrath Köppen«, »ein Cammermägdlin zu hoff«, darunter Militär  : »obr[ist] leut[nant] Kalow«, »vir regimenti«. Kirchenpersonal  : z. B. »M[agister] Berstein«, »Pauermüller Cantor«. Schulpersonal  : z. B. »Eisenberger studiosus«, »M[agister Ephraim] Gierah Rector Gymnasii Servestani Lutherani«  ; »her Stürmer collega Scholae ducalis«, »Ordinarius Wendelinus«. Städtisches Bürgertum  : z. B. »Schlösser mercator [Kaufmann]«, »George Kramer mercator«, v. a. Mitglieder der handwerklichen Innungen,206 z. B. »Unser Brauer«, »becker auf der breiten Strasse«, »Pantoffelmacher«, »rademacher«  ; es zeigt sich ein breites Spektrum, das sowohl Honoratioren  : z. B. »Möring Cammerarius«, »burgm[eister] Taschenberger«, »der richter Gerhold«, »richter Cypelman« wie auch einfache Berufe wie »die hüterin auf der alten brücken und ihr man«, »Carnifex/Schweinschneider« einschließt207. Die Zerbster Patientenschaft ist, abgesehen von der Verschiebung der Geschlechterverhältnisse (s. o.), der in Berlin ziemlich ähnlich. Zwar gibt es in Zerbst nur einen Armenpatienten, aber von den auswärtigen Patienten besteht der überwiegende Teil wieder aus Amtsinhabern und Geistlichen aus den umliegenden Städten. In der Stadt ist trotz der konfessionell angespannten Situation unter den Patienten weniger Kirchen-, sondern stattdessen mehr Schulpersonal präsent  : Durch die Neubegründung der lutherischen Bartholomäischule durch Fürst Johann VI. besaß Zerbst zu der Zeit, als Magirus dort seine Praxis führte, zwei konkurrierende Lateinschulen (die neubegründete und die frühere reformierte) sowie das Gymnasium Illustre. Der Fall des kleinen Sohns des Hofrats und Juraprofessors Köppen, eines Kollegen von Magirus am Gymnasium, zeigt mit all seinen astronomischen Berechnungen und teuren Medikamenten Magirus’ Wunsch, nicht nur das Kind nach bestem Können zu behandeln, sondern sich auch vor seinem Kollegen akademisch zu profilieren.208 Auffälligerweise zeigen sich unter den dreizehn Patienten, bei denen Magirus iatromathematische Analysen anstellte (s. Kap. 2.1.3.), insgesamt acht Akademiker (und/oder deren Angehörige) gegenüber nur zwei Adeligen und drei Patienten aus dem städtischen Bürgertum (und/oder deren Angehörigen). In seiner Zeit in Zerbst behandelte Magirus einen Großteil des Krankheitsspektrums, das die frühneuzeitliche Medizin kannte  ; die einzige auffällige Ausnahme ist Krebs.209 Er begleitete schwere Erkrankungen und verlor nun auch Patienten, wie den Rektor des dieser Stelle nicht noch einmal gesondert identifiziert werden  : s. Schlegelmilch (2011), S. 17–18 mit Anm. 43–46. 206 S. die Auflistung der Innungsberufe bei Puppe (1929), S. 5. 207 S. Specht (1998), S. 29. 208 S. Kap. 3.2.7  ; s. den Text der gesamten Behandlung  : Schlegelmilch (2016b), S. 159–62  ; s. auch Atzl/Helms/Neuner/Schilling (2013), S. 52–54. 209 Dies mag an der Unschärfe dieses Krankheitsbildes zur damaligen Zeit liegen  ; in den Praxistagebüchern wird Krebs meistens erst als solcher bezeichnet (»cancer«), wenn er sich bereits durch die Haut fraß  : s. Stolberg (2003), S. 185.

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Die Arztpraxis

Gymnasiums, der an einem Schlaganfall starb,210 die Frau des Bürgermeisters, die unter Pleuritis litt und ihm ihre Schmerzen und ihre Angst mitteilte,211 und mitunter auch Kinder. Insgesamt wurde die Praxis anspruchsvoller, und die gleichzeitige Lehre am Gymnasium veranlaßte Magirus, sich für seine Behandlungsentscheidungen noch zusätzlich in die Fälle zu vertiefen (was er bei einer Vielzahl seiner Husten- und Schnupfenpatienten in Berlin nicht gleichermaßen hätte tun können). Es läßt sich nicht verifizieren, ob sein akademischer Habitus den Erfolg seiner Praxis steigerte. Die Zerbster Klientel läßt sich jedoch mit Hilfe von Publikationen aus der Zeit vor der Zerstörung des Stadtarchivs etwas besser identifizieren als die in Berlin  : Eine mit diesen Hilfsmitteln und gebotener Vorsicht vorgenommene Auswertung des Zerbster Teils des Diarium vermittelt dabei den Eindruck, daß die Personen/Haushalte, die bei Magirus in Behandlung waren, über eine im Durchschnitt höhere Bildung und auch Zahlkraft verfügten als die in Berlin.

2.4 Das Einkommen des Arztes 2.4.1 Einkommen aus der Praxis

Auch Magirus’ Einkommen durch die Praxis bestimmen zu wollen, stellt sich schwierig dar. Er notierte in Berlin zwar neben zahlreichen Rezepten einen Geldbetrag, und auch, ob der jeweilige Patient bezahlt hatte oder nicht  : Die einzelnen Rezepte konnten hierbei durchschnittlich zwischen sechs Groschen und zwei Talern kosten, wobei sie umso höherpreisig wurden, je öfter die Medikamente genommen werden sollten und je mehr im Labor bearbeitete Bestandteile sie enthielten.212 Vergleicht man sie mit den Lebensmittelpreisen, die der Besoldungsliste des Berliner Hofapothekers Fahrenholtz zu entnehmen ist, waren diese Medikamente für Patienten aus einfachen Verhältnissen verhältnismäßig teuer, denn für sechs Groschen bekam man umgerechnet bereits ein Kilo Butter, für zwei Taler ein Hohlmaß von knapp 219 Litern an Gerste oder Roggen.213 Für einen Hofbediensteten mit mehreren hundert Talern Einkommen im Jahr waren diese Verschreibungen wiederum eine verschmerzbare Ausgabe.214

210 S. Kap. 3.2.1, Claudins Frage 3  : Die Dauer der Erkrankung. 211 S. UBM, Ms. 96, S. 228–30 (10.1.–22.2.1652  : burgerm. Clemens fruwe). 212 Eine »Wässerlin auf 2mahl« kostete sechs Groschen  : s. UBM, Ms. 96, S. 2 (20.11.1647  : herr leutnant Götzen)  ; ein »spiritus für den stein auf X mahl« 14 Groschen  : s. ebd., S. 4 (21.11.1647  : herr leutnant Götze)  ; ein »Wasser, unter den Knöspel [Frühstück, Anm. d. Verf.] wein zumischen alzait ein löffel voll« ganze zwei Taler  : s. ebd., S. 15 (26.11. 1647  : der bürgermeister von Bötzow). 213 S. Anhang, Text 6  : Besoldung der Bediensteten der Brandenburgischen Hofapotheke (nach 1652). 214 S. die Besoldungsliste der Berliner Hofbediensteten für 1652 bei Bahl (2001), S. 251. Demnach verdienten die höchsten Hofämter (Obermarschall, Oberstallmeister und Oberjägermeister) je 1600 Taler/Jahr, ein Kammergerichtsrat zwischen 400–500 Taler/Jahr, ein Hofjunker 200 Taler/Jahr und ein Türknecht immerhin noch 33 Taler/Jahr.

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Das Einkommen des Arztes

Was jedoch Magirus’ eigenes Einkommen aus der Praxis angeht, sind seine Aufzeichnungen aus Berlin nicht sehr hilfreich. Denn die genannten Beträge stellen den Selbstkostenpreis der Rezepte dar, wie eine Bilanz zeigt, die er im Jahr 1648 notierte und die auch zusätzliche Kosten außer den bloßen Zutaten für die Rezepte auflistet.215 Sie gilt erneut für die oben bereits ausgewerteten sechs Wochen nach der Rückkehr von der Reise mit der Königinwitwe  : »Vom 5. Septembr[is] 1647 bis dato sindt an bahrem gelde von medicamenten einkommen  : 52 Th undt stehen noch aus 26/summa 78.« Diesen Einnahmen stehen Kosten gegenüber von 27 Talern und 11 Groschen für die Herstellung und Einlagerung von Kräuterwein216 und 51 Taler und 17 Groschen »in der apotecken undt labora[torium]«, also 79 Taler und vier Groschen, wodurch Magirus einen leichten Verlust zu verzeichnen hatte. Wieviel er aber zusätzlich zu diesen Selbstkosten als eigentliche Behandlungsgebühr im jeweiligen Fall verlangte, ist nicht vermerkt. Allein in dem bereits genannten Fall des Amtsschreibers von Spandau217 lassen sich Eigenkosten und Einkommen ausnahmsweise differenzieren  : Magirus verkaufte ihm zwölf verschiedene Medikamente, mit dem dieser seine Hausapotheke auffüllen wollte (»apotheklin zu füllen«)  : Elixir d[octoris] Magiri pillen (Laudanum) rot pulver

12 Gr. 3 Gr. 20 Gr.

Spiritus zum Schlage Magenspiritus

6 Gr.

Carfunkelwasser

6 Gr.

gliederwasser

6 Gr.

Zetwerextract

Spiritus zur Schwerenott

8 Gr.

hauptsterckung pulver

Matter Spiritus

12 Gr.

10 Gr.

hustsaftlin

3 Gr. 12 Gr. 8 Gr.

Die Selbstkosten belaufen sich nach diesen neben den Rezepten notierten Preisen auf 4 Taler und 10 Groschen. Magirus notierte sich jedoch unter der Rezeptliste  : »pro viro ut supra so er etwan auf VI thaler kommet«. Folglich verdiente er an dieser Medikamentenbestellung (ohne eine Anamneseleistung) 1 Taler und 2 Groschen. Für Zerbst scheint das Diarium auf den ersten Blick mehr Informationen zu liefern, auch wenn Magirus nun kaum noch Beträge neben den Fällen notierte. Dafür findet sich eine dreiseitige Liste, in der er 1652 seine Einnahmen verzeichnete.218 Insgesamt summieren sie sich zu 147 Talern und 4 Groschen. Posten wie »pro urina 12 Gr.« legen nahe, daß es sich hier nicht um ein Verzeichnis von Medikamentenkosten handelt wie in 215 S. UBM, Ms. 96, S. 54 (4.1.1648). Ofenhitzer (2017), S. 106–07 nimmt an, die Preise in Petrus Kirstenius’ Rezeptdiarium entsprächen seinen Behandlungskosten  ; diese Annahme ist, auch im Hinblick auf die dann aufgeführten Preise, kaum haltbar. 216 S. ebd.: 23 Taler und 14 Groschen für Wein  ; zwei Taler für die nötigen Kräuter  ; ein Taler und drei Groschen für fünf Weinfässlein und 18 Groschen Einlagerungskosten. In Zerbst stellte er eine ähnliche Rechnung für Bier auf  : s. UBM, Ms. 96, S. 400. 217 S. Anm. 140. 218 S. UBM, Ms. 96, S. 231–33.

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Die Arztpraxis

den Berliner Aufzeichnungen, sondern tatsächlich um Behandlungskosten. Sie werden für die einzelnen Patienten summarisch monatsweise aufgeführt, wodurch bei längeren Behandlungen teilweise beachtliche Summen auflaufen. Exemplarisch soll die Auflistung für Februar angeführt sein  : den 3. febr.│ ferden

1 thl.

brodman.

2 thl.

der becker

1 6 gr.

Münchhausen

6 thl.

heller

1 thl.

h. Kupelman

8 thl.

Seesen

1 thl.

ein schuster

12 gr.

ein schuster

12 gr.

ein ander shuster

1 thl.

dorfschmidin

1 thl.

die Wagnitzin

1 thl.

Bei den Beträgen zu 12 Groschen wird es sich wohl auch um einfache Urinschauen gehandelt haben (s. o.). Nachprüfbar ist dies leider nicht, da – und hier liegt ein Problem dieser Auflistung – nicht alle Patienten, die in der Liste auftauchen, in den Fallgeschichten des Diarium zu finden sind und umgekehrt.219 Die Brandenburgische Medizinalordnung aus dem Jahr 1694, die hier herangezogen sein soll, um das Zustandekommen von Beträgen wie den aufgeführten wenigstens theoretisch zu erklären, enthält eine Tabelle mit festgelegten Teilbeträgen für jede ärztliche Leistung.220 Nach dieser Tabelle hätte Magirus die Patienten Ferden, Seesen, Heller, die Wagenitzin, die Dorfschmidin und den zweiten Schuster einmal visitiert (»vor den ersten Gang, in gemeinen Kranckheiten – 1 Thaler«), den Bäcker entweder noch ein zweites Mal, um seine Gesundung festzustellen (»vor jedwedere Visite, ohne Verfassung eines Recepts, in gemeinen Kranckheiten – 6 Groschen«), oder der Bäcker hatte sich Folgerezepte ausstellen lassen (»für jedes Recept, so die Patienten von dem Medico aus seinem Haus holen lassen – 3 Groschen«).221 Behandlungskosten von ganzen acht Talern deuten dementsprechend auf eine sehr intensive Betreuung mit vielen Verschreibungen hin  ;222 diese Summe stellte den gesamten an einen Wächter ausgezahlten Jahreslohn in Zerbst dar.223 219 Offenbar war eine einfache Urinschau keiner Notiz wert  ; die Patienten zu 12 Groschen finden sich nicht in den Aufzeichnungen. Hinzu kommt noch, daß eine Einnahme, die in einem bestimmten Monat verzeichnet wurde, sich meist nicht auf eine in diesem Monat geleistete Behandlung bezog  ; es wurde vielmehr auf Kredit behandelt und irgendwann später bezahlt  : s. auch Jütte (1991), S. 199–200. 220 Hieraus auch die nachfolgenden Zitate  : Churfürstliche Brandenburgische MedicinalOrdnung und Taxa (1694), S. 5–6. 221 S. als Vergleich Jütte (1991), S. 203. 222 Jütte (1991), S. 197 konstatiert mit Bezug auf ein Fallbeispiel aus Köln die Bereitschaft von Patienten, mitunter große Teile ihres Einkommens für den Arzt auszugeben  ; hohe Arztkosten deuteten also nicht zwangsläufig auf sehr vermögende Patienten hin, die diese Beträge leicht aufbringen konnten. S. zur Einordnung der Beträge auch  : Kinzinger (2000), S. 72 mit Lit. 223 S. Castan (1999), S. 151.

Das Einkommen des Arztes

Welches Jahreseinkommen für Magirus’ Praxis anzusetzen ist, kann also nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Wollte man aber die für 1653 aus den vorhandenen Aufzeichnungen ermittelte Zahl von 100 Patienten bei 266 Patientenkontakten stark vereinfacht so auflösen, daß der Arzt von den 100 Patienten 166 ein zweites Mal besuchte und auch dann ein Rezept ausschrieb, so ergäbe sich daraus (auf Grundlage der oben zitierten Medizinalordnung) ein Einkommen von 155 Talern 8 Groschen.224 Da aber Magirus, wie ein Vergleich der Einnahmeliste mit dem Diarium zeigt, offensichtlich medizinisch uninteressante Fälle (wie einzelne Urinschauen) nicht dokumentierte, müßte man als Mindestsumme wohl sogar noch einen etwas höheren Betrag ansetzen. 2.4.2 Einkommen aus Anstellungen

Johannes Magirus war im Verlauf seiner Karriere in folgenden Ämtern fest bestallt  : als Leibmedicus von Maria Eleonora von Schweden (s. o.)  ; als Stadtarzt und Professor für Physica und Mathematik in Zerbst  ; als Professor erst der Mathematik, dann der Geschichte und schließlich der Medizin in Marburg sowie als Leibarzt Hedwig Sophies von Hessen-Kassel (1623–1683) und Geheimer Rat an deren Hof. Die hier dargestellte Vielfalt von Ämtern bildet zusammen mit dem freien Praktizieren eine charakteristische Palette beruflicher Möglichkeiten eines akademisch ausgebildeten Arztes im 17. Jahrhundert ab. Die Bestallung durch die schwedische Königinwitwe findet sich leider in deren Unterlagen nicht dokumentiert.225 Es ist daneben nicht völlig auszuschließen, wenn auch eher unwahrscheinlich, daß Johannes Magirus bereits in Berlin als Stadtarzt bestallt war. Als einziger überhaupt noch namentlich bekannter Stadtarzt in Berlin wird für die Zeit vor ca. 1660 stets nur Matthäus Flaccus (1524–1592) angeführt, und es ist immer wieder zu lesen, es sei nach seinem Tod das Amt lange nicht mehr besetzt worden.226 Allerdings zeigt das Taufbuch der Domgemeinde im Jahr 1648 einen namentlich nicht genannten »Stadtmedicus«,227 und Magirus nannte sich seinerseits auf dem Titel seines Kalenders von 1647 »Medicus und Mathematicus der Churfürstlich-Brandenburgischen ResidentzStädte Berlin und Cölln«. Dies, das Dispensieren im eigenen Haus und die Behandlung 224 Jeweils 1 Taler für die erste Visitation, 8 Groschen »vor jedwedere Visite, mit Verschreibung eines Recepts«. 225 GStA PK, BPH, Rep. 33, W 50, Vol. 1  : Acta betr. Hofhalt und Reisen der verwitweten Königin von Schweden Maria Eleonora, geb. Markgräfin von Brandenburg und den ihr von Brandenburg und Schweden gewährten Unterhalt. 226 S. Münch, Ragnhild  : Gesundheitswesen im 18. und 19. Jahrhundert. Das Berliner Beispiel (Berlin 1995), S. 93  ; s. aber Bahl (2000), S. 78–79 zu Magirus’ Schüler Thomas Pankow (1622–1665), der Leib- und Hofarzt wurde, aber auch den Titel eines »Physicus ordinarius« der Städte Berlin-Cölln führte  ; sowie Schmitz (2001), S. 178–81 zu dem späteren Hofarzt und Stadtphysikus Christoph Schmidt (1631–1711). 227 S. ELAB, Kirchenbuchstelle Alt-Berlin, 9/1   : Domgemeinde, Taufbuch 1616–1659, S. 196   : 28.6.1648, Melosina Magaretha von Schlaberndorff.

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Die Arztpraxis

von Armenpatienten könnten zwar Indizien für eine Stadtarztbestallung darstellen, sind aber nicht hinreichend belastbar. Magirus’ Berliner Zeit ist auch in diesem Punkt nicht mehr wirklich greifbar. Das Stadtarztamt in Zerbst ist indes durch die Erwähnung in Kalendern, Leichenpredigten und den erhaltenen Akten des Zerbster Gymnasiums belegt, es fehlt jedoch durch die bereits erwähnte Zerstörung des Zerbster Stadtarchivs im Zweiten Weltkrieg die Bestallungsurkunde. Anzunehmen ist ein Betrag von zwischen 40 und 60 Talern  ; Johann Heinrich Bossen erhielt ab 1652 jährlich als Stadtarzt 40 Taler Gehalt, 228 der Stadtarzt einer anderen der vier anhaltischen Residenzstädte (Bernburg) wurde mit einem Gehalt von 60 Talern bestallt.229 Ein solches Stadtarztgehalt verpflichtete Magirus zu Präsenz vor Ort,230 kostenloser Versorgung von Armenpatienten231 und gegebenenfalls Gutachtertätigkeiten, wie sie sich bspw. bei dem Tod des Erschossenen ergaben, dessen Leiche sich Magirus im Haus des Chirurgen ansah.232 Die Lehre am Gymnasium, die Magirus an vier Wochentagen für eine Stunde am Vormittag in Anspruch nahm,233 ließ sich mit diesen Verpflichtungen problemlos kombinieren und ergab einen Zusatzverdienst von 60 + 40 Talern für die Mathematik- und Physikprofessur.234 Somit hatte Magirus in Zerbst durch seine Anstellungen ein festes jährliches Grundeinkommen von ca. 150 Talern, das zu seinem Praxiseinkommen hinzuzurechnen ist und das in halbjährlichen Anteilen ausgezahlt wurde.235

228 Stadtarchiv Helmstedt, A Nr. 6806  : Acta, das Physicat in Helmstedt betreffend, Bd. 1  : unpag. Bestallungskonzept (Johann Heinrich Bossen) vom 16.5.1652. 229 Der Stadtarzt der anhaltischen Residenzstadt Bernburg erhielt 60 Taler jährlich  : s. LASA, DE, Z 18 (Abt. Bernburg), C 9d Nr. 4  : Stephan Mylius an Unbek., Bernburg [Saale], 9.9.1628, Bl. 25  ; vgl. die bei Stolberg (2015a), S. 38 genannten Beträge von 60 bis 120 Gulden. 230 Zur Erwähnung der Residenzpflicht in der Leichenpredigt für Justus Günther von Barby s. Kap. 2.3.3  ; zur Präsenzpflicht der Stadtärzte s. auch Kinzinger (2000), S. 73  ; Schlegelmilch (2017), Abschnitt Thinking Ahead. 231 Wie wohlhabend Zerbst war, sieht man daran, daß Magirus während seiner fünf Jahre in der Stadt im Gegensatz zu Berlin nur einen Armenpatienten verzeichnete. 232 S. UBM, Ms. 96, S. 234–39. Offensichtlich wurde jedoch schließlich kein Gutachten von Magirus eingefordert, denn es ist keines in der zugehörigen, umfangreichen Akte vorhanden  : LASA, DE, Z 87 (Hauptarchiv Zerbst), CLVI, Nr. 21. 233 S. die Stundenaufstellung in LASA, DE, Z 87 (Hauptarchiv Zerbst), CL Nr. 16, Bl. 134r. 234 Am 23. Oktober 1651 schlug Fürst Augustus zu Anhalt seinen Miterhalterfürsten des Gymnasiums die Berufung des Dr. Magirus, »bestellter StadtMedicus zu Zerbst« auf die Professur für Mathematik vor  : s. LASA, DE, Z 87 (Hauptarchiv Zerbst), CL Nr. 16, Bl. 53r. Die Besoldung sollte bei 60 Talern liegen. Die Zustimmung der anderen Fürsten erfolgte am 25. Oktober (Bl. 61r), am 10. November (Bl. 63r), am 19. November (64v), am 3. Dezember (65r–66v). Magirus wurde berufen (67r) und erhielt zu Ostern seine Bestallung (70r). Das Vokationsschreiben vom 28.10.1652 veranschlagt 40 Taler für die zusätzliche Professur der Physica  : s. ebd., Bl. 81r. 235 S. Magirus’ Notiz zu seinen 100 Talern Professorengehalt in UBM, Ms. 392, Bl. 23b  : »50 Thaler meiner besoldung seindt fällig de termino Petri Pauli, 50 termino trium Regum  !«

Das Einkommen des Arztes

In Marburg wurde Magirus 1656 Professor der Mathematik, im Jahr 1659 erhielt er zusätzlich die Professur für Geschichte.236 Erst ab 1661 – fünf Jahre, nachdem er von Zerbst nach Marburg gekommen war – erreichte er schließlich die Professur der Medizin. 237 Die Bestallung als Professor mochte das Ziel jedes vornehmlich auf die Academia ausgerichteten Mediziners gewesen sein, sie bedeutete zur damaligen Zeit jedoch nicht das Erreichen einer Lebensversorgung bzw. auch nur eines gesicherten Lebensstandards.238 In seinen ersten fünf Jahren in Marburg war Magirus wahrscheinlich sogar schlechter gestellt als während seiner Zeit als Stadtarzt und Professor in Zerbst. In einem Brief des Geheimen Rats an die Universität Marburg aus dem Jahr 1721, der die Frage erörtert, ob für die Mathematik und die Physica jeweils eigene Professoren berufen werden sollten, erinnerten die Räte sogar daran, daß es sich bei den beiden in der Philosophischen Fakultät angesiedelten Fächer um solche von niedrigem Rang handelte, mit entsprechend niedriger Bezahlung  : »So ist bei der physic jährlich 40 Taler besoldung verordnet, bey der Mathesin aber befindt sich keine absonderliche bestallung maßen Professor Magirus und Professor Brandt nichts deshalb in fixo gehabt.«239 Karl-Bernhard Gundlach kam bei seiner Auswertung der Marburger Universitätsakten dementsprechend zu dem Ergebnis, daß die Professur der Mathematik bis weit in das 18. Jahrhundert hinein nicht sonderlich attraktiv war und allenfalls das Gehalt eines Dorfgeistlichen bot.240 Magirus dürfte mit der Kombination von Geschichte und Mathematik wohl nicht die 100 Taler verdient haben, die ihm seine Bestallungen am Zerbster Gymnasium eingebracht hatten.241 Wie sein Diarium und der Kalender von 1656 zeigen, begann er deswegen auch in Marburg sofort, Patienten zu akquirieren und eröffnete erneut sein Fortifikationskolleg als zusätzliche Einnahmequelle (s. u.). Als er schließlich die Professur der Medizin erhielt, durfte er zwar weiterhin Mathematik unterrichten, mußte aber im Gegenzug die Professur für Geschichte wieder abgeben. Er beklagte sich hierüber bei seinem früheren Schüler, dem inzwischen einflußreichen Rat Johann Caspar von Döringenberg (1616–1680),242 und versuchte, eine erneute Bestallung zu erreichen  :

236 Zur Geschichte zählten die Gebiete der Chronologie und Geographie, für die mathematische Kenntnisse notwendig waren  : s. Burkardt, Johannes  : Die Historischen Hilfswissenschaften in Marburg (17.–19. Jahrhundert) (Marburg 1997), S. 18–19  ; 29–33  ; S. 153 (Verzeichnis von Magirus’ Privatkollegien zu diesen Gebieten). 237 S. Gundlach/Auerbach (1927), S. 368. 238 S. Schmotz (2012), S. 173. 239 UAM, Best. 305a, Nr. 5955, Bl. 23r–v  : Bericht von Rektor, Dekan, Professoren der Universität Marburg an den Geheimen Rat, Kassel, 6.9.1721  ; Zitat hier Bl. 23r. 240 Gundlach, Karl-Bernhard  : 100 Jahre Mathematisches Seminar. Ein Rückblick auf die Entwicklung der Mathematik in Marburg (Marburg 1985), S. 20. 241 Angaben zur genauen Höhe von Magirus’ Besoldung sind in den betreffenden Akten nicht mehr zu finden. 242 S. Puppel (2004), S. 239.

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Die Arztpraxis

wan mir es dan unmüglich fühle, wie schon gedacht, bey sothaner geringen bestallung länger alhier auszuhalten als habe ich an hern Daubern geschrieben und umb die Professionem Historiarum angehalten, das sie der Medicinae und Matheseos Professioni adiungiret würde.243

Im Postscriptum betonte er erneut, wie prekär seine finanzielle Lage sei  : »Euer Gnaden wollen gebeten sein und für mich intercediren, auch mir antwort wieder werden lassen dan ich also ferner nit leben kann.«244 Dieser dramatische Appell darf nicht von der Tatsache ablenken, daß Magirus in Hessen letztendlich gelungen war, was er in seiner Etablierungsphase in Berlin angestrebt hatte  : Er stand in einem erfolgreichen Patronageverhältnis mit dem Fürstenhof von Hessen-Kassel. Die weiteren Schritte seiner Karriere – 1670 Leibarzt, 1677 Geheimer Rat – fallen alle in die Regierungsjahre von Hedwig-Sophie von Hessen-Kassel, einem Kontakt, den er bereits in Berlin gepflegt hatte,245 und der sich letztlich finanziell auszahlte. 2.4.3 Sonstige Einnahmen

Mieteinnahmen Magirus vermietete sowohl in Berlin wie auch in Zerbst Räume in seinem Haus an Studenten.246 Da ab dem Jahr 1642 in Zerbst die Kommunität des Gymnasium Illustre nicht mehr aufrechtzuerhalten war und auch nach Kriegsende nicht wieder eingerichtet wurde,247 scheint er mitunter recht viele Schüler als Kostgänger am Tisch sitzen gehabt zu haben  ; eine Liste der convictores in einem seiner Notizbücher umfaßt die Namen von neun studiosi,248 eine im Diarium sogar zehn.249 Magirus listete außerdem auf, für welche Posten diese Studenten ihm insgesamt 35 Taler bezahlt hatten  : für Privatunterricht (»pro informatione«) 11 Taler  ; für Stubenmiete (»pro mutato«), Bettzins (»pro lectisterniis«) und Reinigung (»pro lotura«) jeweils 4 Taler  ; für Verköstigung (»pro mensa«) schließlich 12 Taler.250 Er zog von den 35 Talern 4 Taler ab, die offensichtlich seine Eigenkosten darstellten und notierte (mit dreimaligem N[ota]B[ene]) als Gewinn  : »34 Ego«. 243 Johannes Magirus an Johann Caspar von Döringenberg, Marburg, 9.12.1663 (UAM, Best. 305 o (Nachträge II), Nr. 154  ; Regest [U. Schlegelmilch] unter  : www.aerztebriefe.de/id/00021255  ; letzter Zugriff  : 12.12.2017), hier 29r–v. 244 Ebd., Bl. 30v. 245 S. Kap. 1.1.2. 246 S. Kap. 1.1.1. 247 S. Castan (1999), S. 204. 248 S. UBM, Ms. 392, S. 24. 249 S. UBM, Ms. 96, S. 234. Vergleichbare Zahlen sind für die Professorenhäuser in Helmstedt bekannt  : s. Römer (1980), S. 66  ; s. auch Clark (2006), S. 151. 250 S. UBM, Ms. 96, S. 233  ; zu den Mietverhältnissen in einem Professorenhaushalt s. Müller, Rainer A.: Studentenkultur und akademischer Alltag, in  : Ruegg/Symoens (1996), S. 279–80.

Das Einkommen des Arztes

Naturallohn Robert Jütte führt Beispiele dafür an, daß es nicht ungewöhnlich war, daß Patienten ausstehende Rechnungen mit Naturalien bezahlten.251 Aber auch Bestallungen – sei es durch einen Fürsten oder den Rat einer Stadt – war gewöhnlich nebst gewissen Privilegien (Magirus wurde bspw. als Stadtarzt in Zerbst das Bürgergeld in Höhe von immerhin 24 Talern erlassen)252 und zusätzlich zum offiziellen Gehalt ein Naturallohn beigegeben in Form von Getreide, Brennholz, Talg (für Beleuchtung) oder ähnlichem.253 Magirus bekam – für welche seiner Tätigkeiten für das Fürstenhaus ist nicht mehr rekonstruierbar – noch im Jahr 1693 eine »Pension« zugesprochen, nämlich das Geld, das sich jährlich aus dem Gefälle des Kanonikats Rotenburg ergab (9 Taler), sowie ein festgelegtes Maß an Korn, Hafer und Weizen. Solche »handfesten« Einnahmen unterstützen die Subsistenz des Haushaltes zwar, ihre tatsächliche Entrichtung mußte aber offenbar – genauso wie ein Gehalt – des Öfteren beim Fürsten als zugesicherte Gunst angemahnt werden.254 Akademische Dienstleistungen und Publikationen Einen wichtigen Posten neben den Bestallungen und der ärztlichen Praxis stellten für Magirus seine Privatkollegien dar. Nicht nur in Zerbst, wo die bereits erwähnte Summe von 11 Talern (wohl der Preis für ein Kolleg für die bei ihm wohnenden Schüler) belegt ist, sondern auch an seinen anderen Wirkorten bedeutete der Privatunterricht, zumal der für ein nicht-akademisches Publikum,255 ein nicht zu vernachlässigendes Einkommen. Magirus begann, Kollegien zu halten, sobald er von seiner Studienreise nach Frankfurt/ Oder zurückkehrte, er etablierte sich in Berlin mit ihrer Hilfe, und als er 1655 in Zerbst seine Zelte abbrach, hatte er bereits in den Text seines Prognosticon für 1656 eine Anzeige gesetzt, daß er sich in Marburg »Gott dem Herrn zu Ehren […] dahin entschlossen […] meine für diesem gehaltene Collegia des Landmessens und der Niderländischen Fortification und Vestungsbawes, welche auch ohne Ruhm zu melden von fürnemen Obristen und andern Krieg-Officiren, fürnemen vom Adel und andern feinen Leuten seynd besuchet worden, widerumb zu eröffnen«.256 Noch im hohen Alter von 78 Jahren, mehr als zehn Jahre nach Beendigung seiner offiziellen Lehrtätigkeit, bat Magirus in einem Brief seinen 251 S. Jütte (1991), S. 199. 252 S. Schulze (1925), S. 31  : Magirus, Johann, Dr. med. Stadtmedikus, Berlin (Bürgerrecht geschenkt), 51 Nov. 1  ; s. auch Puppe (1929), S. 30. 253 S. exemplarisch Castan (1999), S. 153 zu den Zugaben an Getreide und Brennholz für den Rektor des Zerbster Gymnasiums  ; Schmotz (2012), S. 179  ; s. auch die zahlreichen Quellenbeispiele unter www.aerztebriefe.de (Schlagwort  : Naturallohn). 254 S. UBM, Ms. 392, Bl. 59a–62a  : Abschriften des Briefwechsels bzgl. der ausstehenden Kanonikatserträge. 255 s. Kap. 4.3.1. 256 S. Kap. 4.3.3.; s. Kap. 1.1.2.; Magirus, Johannes (1656b), Bl. D4v.

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Die Arztpraxis

Landesfürsten Karl von Hessen-Kassel, erneut »Collegia Medica und Mathematica« halten zu dürfen (was ihm erlaubt wurde).257 Des weiteren ist von 1646 bis 1672 als regelmäßiger Verdienst der Verkauf der Kalender und Prognostica zu nennen. Magirus lieferte die Druckvorlage jeweils um den Ostertermin des Vorjahres bei seinem Verleger ab und erhielt hierfür 50 Taler.258 Die Höhe dieses Pauschalbetrages macht deutlich, wie gut die Verleger an den Kalendern verdienten,259 zeigt aber auch, daß das Ende der Kalenderreihe durch den Konflikt mit dem Verlagshaus Endter für Magirus einen spürbaren finanziellen Verlust dargestellt haben muß.260 Ebenso erging es ihm mit seinen Elementa Arithmetica, für die ihm sein Verleger die versprochene Summe von 1 Taler pro Bogen nicht zahlte,261 nachdem er zuvor aber seine Elementa Geometrica (1658) und Elementa Astronomica (1659) hatte erfolgreich zum Druck bringen können. Solche aus dem Verkauf von Druckvorlagen resultierenden Einnahmen stellten für manchen Gelehrtenhaushalt einen »unentbehrlichen Bestandteil [der] Finanzplanung« dar.262 Neben langjährigen Einkommensquellen wie den Kalendern stehen einmalige Verdienste, die aus Magirus’ akademischer Qualifikation hervorgingen. Obwohl auch hier keine Summe genannt werden kann, ist davon auszugehen, daß Magirus eine finanzielle Zuwendung dafür erwarten durfte, daß er auf fürstlichen Befehl (als »Commissarius Historiae Hassiacae recidendae et quidem ab utroque domo tam Casselana quam Darmstadiana«) seine mathematischen Kenntnisse in die hessische Landesgeschichte einbrachte.263 Auch das Stellen von Nativitäten auf Bestellung und außerhalb eines Behandlungskontextes, wie z. B. für Marie Amalie von Hessen-Kassel,264 stellte eine Einnahmequelle dar. 257 S. Johannes Magirus an Karl von Hessen-Kassel, Kassel, 3.10.1693 (HStAM, Bestand 5, Nr. 7940  ; unter www.aerztebriefe.de/id/00036401  ; Zugriff  : 8.8.2017), hier Bl. 2r–v. 258 Diese Summe ist ersichtlich aus einem Brief des Rates von Nürnberg an Johannes Magirus im Kontext von dessen Konflikt mit dem Drucker Christof Endter  : s. Diefenbacher/Fischer-Pache (2003), S. 121 und Kap. 1.3.3. 259 Zur Popularität der Kalender s. Eamon (2014), S. 163–67. 260 S. Kap. 1.3.3. 261 Johannes Magirus an [Messieurs], Marburg, 4.3.1674 (HStAM, Bestand 19b, Nr. 1930, Bl. 87r  ; unter www.aerztebriefe.de/id/00036407  ; Zugriff  : 8.8.2017). 262 Wittmann mit Bezug auf die Publikationen Conrad Gessners (1516–1565)  : s. Wittmann, Reinhard  : Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick (München 1991), S. 66  ; s. auch Schmotz (2012), S. 190–93. 263 UBM, Ms. 392, Bl. 33a  ; HstAM, Bestand 19b, Nr. 1930, Bl. 86r  ; s. hierzu auch Fuchs, Thomas  : Traditionsstiftung und Erinnerungspolitik. Geschichtsschreibung in Hessen in der Frühen Neuzeit (Kassel 2002), S. 294. Magirus beantragte für diese Arbeit einen »offenen paß«, um durch das Land zu reisen und die Grenzen zu besichtigen  : Johannes Magirus an Unbek., Marburg, 3./13./23.4.1674 (HStAM, Best. 19b, Nr. 1930, Bl. 86r  ; unter www.aerztebriefe.de/id/00036406  ; Zugriff  : 8.8.2017). Für eine vergleichbare Aufgabe, die Neuvermessung des Landes um Nürnberg, erhielt der Kartograph Johannes Schöner bereits 1541 vom dortigen Rat einen Lohn von 25 Gulden  : Maruska (2008), S. 58. 264 S. Kap. 1.4.2.

Das Einkommen des Arztes

Auch hier fehlen leider wieder Angaben von Magirus selbst, wie viel er für eine Nativität verlangte. Bereits für die Mitte des 16. Jahrhunderts lassen sich jedoch Quellen finden, daß das Erstellen eines Horoskops einen routinierten Mathematiker ca. drei Stunden kostete  ;265 der Kartograph, Kalendermacher und Globenhersteller Johannes Schönlein erhielt schon damals für solch ein Horoskop, das er für einen Nürnberger Bürger erstellte, den nicht unerheblichen Betrag von 13½ Gulden.266 Wie hoch dieser Betrag in Vergleich zu den Lebenshaltungskosten war, sieht man daran, daß ein Hofkleid, also repräsentative Kleidung, in dieser Zeit mit einem Preis von 5 Gulden und 15 Schillingen angesetzt wurde.267 Mitunter war Magirus auch sehr kreativ, wenn es darum ging, den Fürsten Vorschläge zu machen, die deren Prestigezuwachs und seinem Geldbeutel dienen sollten  : So bot er Hedwig-Sophie von Hessen-Kassel als Dienstleistung an, ihr eine Leiche so einzubalsamieren, daß sie mit weiterhin wachsenden Nägeln und Haaren zu Ehren der Fürstin in der Universitätsbibliothek ausgestellt werden könne  ;268 Karl von Hessen-Kassel versuchte er von seinem Plan zu überzeugen, ein »waarhafftes mirackel«, das er an einer Kirchwand identifiziert hatte, mit einem Vorhang zu verdecken und von Passanten Schaugeld zu verlangen, mit dem dann Medikamente für Armenpatienten hätten finanziert werden können.269 Das Fürstenhaus beliebte auf beide Briefe nicht zu antworten. Einmalige Zugewinne Schließlich bleiben noch einmalige Zugewinne wie bspw. die Mitgift, die Magirus’ Frauen mit in die Ehe brachten. Ihre jeweilige Höhe ist unbekannt  ; jedoch konnte eine solche Mitgift für einen jungen Arzt eine deutliche Hilfe bei der Etablierung bedeuten.270 Daß Magirus bereits 1656 ein Notizbuch des Vaters seiner zweiten Frau, des Arztes Samuel Czaplinius, für eigene Aufzeichnungen weiterbenutzte,271 läßt den Schluß zu, daß sein Schwiegervater entweder bereits gestorben war, als Magirus dessen Tochter Anfang 1649/50 heiratete und sie den Besitz des Vaters mit in die Ehe brachte, oder daß er im Zeitraum zwischen 1650 und 1656 starb, als Magirus in Zerbst praktizierte, und die Tochter dann etwas aus dessen Besitz erbte. Im selben Zeitraum trat Magirus auch das Erbe sei265 Fabricius Paulus an Joachim Camerarius I., Wien, 9.3.1556 (UB Erlangen, Trew P. Fabricius Nr. 2  ; Regest [U. Schlegelmilch] unter www.aerztebriefe.de/id/00004446  ; letzter Zugriff  : 13.12.2017). 266 S. Maruska (2008), S. 240. 267 S. Timann, Ursula  : Die Handwerker des Behaim-Globus, in  : Norica 3 (2007), S. 59–64, hier S. 60. 268 S. Johannes Magirus an Hedwig-Sophie von Hessen-Kassel, Marburg, 27.9.1668 (HStAM, Best. 5, Nr. 8143  ; Regest [S. Schlegelmilch] unter www.aerztebriefe.de/id/00013354), hier Bl. 4v (letzter Zugriff  : 13.12.2017). 269 S. Johannes Magirus an Karl von Hessen-Kassel, Kassel, 23.5.1691/93 (HStAM, Bestand 5, Nr. 206  ; unter www.aerztebriefe.de/id/00036400  ; Zugriff  : 8.8.2017), hier S. 4. 270 S. Walter (2008), S. 38–39. 271 S. Kap. 2.2.1.

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Die Arztpraxis

nes Vaters an  ; dieser starb 1652, seine Kleidung und ein Anteil am Depositum in der Viadrina wurde auf den Wunsch seines Sohnes von der Universität in Frankfurt/Oder nach Zerbst geschickt.272 Konkreter sind Erwähnungen einzelner Schenkungen. Sie bewegen sich in einem moderaten Rahmen, es handelt sich gleichwohl um Geschenke, die als Statussymbole gelten dürfen. So schenkte ein junger polnischer Adeliger namens Boguslaus Rej von Nagłowice Magirus ein teures medizinisches Fachbuch, um ihm für seine »treue Information in den Privatkollegien« sowie seine »sorgfältige Kur in der hochgefährlichen Krankheit damals« zu danken.273 Karl von Hessen-Kassel erwies ihm die Gnade, ihn neu einzukleiden – allerdings war dies erneut eine Gunst, die Magirus erst wieder brieflich einfordern mußte  : Er erinnerte seinen Fürsten daran, daß sein derzeitiges Aussehen nicht standesgemäß genannt werden durfte, er habe nur noch ein »einziges kleid, welches trüblich auf der reise verderbet ist« (der Reise zu seinem Fürsten, wohlgemerkt).274 Immaterielles Kapital Die letztgenannten Geschenke verweisen bereits auf den Bereich der standesgemäßen Besitztümer, die ihrerseits nicht ausschließlich in materiellen Objekten bestanden. Daß es für Magirus einen tatsächlich nennenswerten finanziellen Zuwachs bedeutete, daß er 1684 von Friedrich Wilhelm von Brandenburg zusammen mit anderen Mitgliedern der Familie Magirus mit dem Prädikat »von Logau« nobilitiert wurde,275 ist nicht belegbar. Der Adelstitel stellte gleichwohl einen realen Besitz dar  : Gerade hinsichtlich der von ihm anvisierten adeligen Klientel fungierte der Name »Magirus von Logau« als Aufmerksamkeitssignal, daß man es hier mit einem Mann zu tun hatte, der sich bereits Verdienste um ein Fürstenhaus erworben hatte. Auch ein Professorenmantel, wie Magirus ihn sich aus der Erbmasse seines Vaters sicherte und wie er ihn auf seinem Porträt trug,276 war nicht einfach nur ein Mantel, sondern Teil einer öffentlichen Inszenierung, die nicht nur auf die Universität beschränkt war. William Clark wies darauf hin, daß Vorlesungskataloge der Frühen Neuzeit gleicherma272 S. BLHA, Pr. Br. Rep. 86, Nr. 150. 273 Fernel, Jean  : Universa medicina, cum notis, observationibus, et remedijs secretis Iohannis et Othonis Heurni Ultraject. Aliorumque praestantissimorum Medicorum. Utrecht  : Gisbertus a Zyll & Theod. Ab Ackersdijck, 1656. Der Druck befindet sich wie einige andere noch immer im Besitz der UBM, Signatur  : XIa B 85. Auf dem Vorsatzblatt die Widmung  : »Dat pira, dat poma, Qui non habet aurea dona. Viro Excellentissimo Experientissimoque Dno. Johanni Magiro Medicinae Doctori atque Professori in Inclita Academia Marpurgensi ordinario non pro meritis, sed in signum gratitudinis. Iam pro fideli informatione tam in collegiis privatis, quam pro diligenti cura in morbo quo tum Temporis laborabam periculosissimo, hunc librum abiturus in sui memoriam dono dedit. – Boguslaus de Nagłowice Rej Eq[ues] Pol[onus]«. 274 S. Johannes Magirus an Karl von Hessen-Kassel, Kassel, 7.10.1693 (HStAM, Bestand 5, Nr. 7940, Bl.  3r–4v  ; unter www.aerztebriefe.de/id/00036402  ; Zugriff  : 8.8.2017). 275 S. Beyer (2010), S. 6. 276 S. Kap. 1.1.3.

Das Einkommen des Arztes

ßen als Aufmarschordnung der Professoren bei öffentlichen Aufzügen verstanden werden können.277 Hierarchie und Präzedenz, also die Ermächtigung, an einer bestimmten Stelle im Aufzug und am besten vor anderen laufen zu dürfen, zeigten den Zuschauern Rang und, damit unhinterfragt verbunden, Kompetenz der einherschreitenden Professoren.278 Die noch erhaltenen Vorlesungsverzeichnisse aus Marburg279 führen uns vor Augen, wie Magirus in einem solchen vorgestellten Aufzug mit der Zeit immer weiter nach vorne rückte. Lief er zu Beginn des Wintersemesters 1660/61 als Professor der Geschichte noch in der letzten Gruppe (die Philosophische Fakultät war den höheren Fakultäten stets nachgeordnet), und das auch noch an zweiter Stelle, so zeigt das nächste uns erhaltene Verzeichnis zum Sommersemester 1663 ihn schon deutlich vorgerückt, an zweiter Stelle in der Medizinischen Fakultät, die hinter den Theologen und Juristen, aber immerhin vor den Philosophen laufen durfte.280 Diese Position bedeutete bereits einen deutlichen Prestigegewinn, der sich dann zehn Jahre später noch vergrößerte, als Magirus nunmehr als Senior seiner Fakultät dieselbe in dem Aufzug anführen durfte.281 Ähnlich wie bei seinen öffentlichen Disputationen282 kann man auch bei diesen aus den symbolhaften Ritualen der frühneuzeitlichen Universität hervorgegangenen Auftritten die Überlegung anstellen, welchen Eindruck sie möglicherweise einem Zuschauer hinsichtlich Magirus’ Kompetenz als Arzt vermittelten  ; inwiefern also sein Auftritt als ranghöchster, an der Spitze seiner Kollegen einherschreitender Mediziner gleichzeitig als Werbung für seine ärztliche Praxis fungierte. Auch hier konnte sich also unter Umständen soziales in handfestes, materielles Kapital umwandeln. 2.4.4 Das facettierte Einkommen

Alle bisher aufgeführten (und teilweise nur hypothetisch zu errechnenden) Einzelsummen taugen nicht dafür, ein konkretes Jahreseinkommen für einen der drei Aufenthaltsorte zu benennen. Sie zeigen vielmehr, wie sehr unsere heutige Vorstellung vom Lebensstil eines Arztes und Professors von Entwicklungen ausgeht, die sich erst im 19. Jahrhunderts vollzogen. Johannes Magirus war trotz Anstellung an einer Universität und eigener Praxis darauf angewiesen, Jahr für Jahr in Eigeninitiative Einkommensquellen aufzutun, die ihm und seiner Familie einen standesgemäßen Lebensstil finanzierten. Andere Ärzte taten

277 S. Clark (2006), S. 36. 278 S. Clark (2006), S. 33. 279 S. eine Liste der erhaltenen Vorlesungsverzeichnisse im Quellenverzeichnis. 280 S. Clark (2006), S. 41. 281 In den Vorlesungsverzeichnissen selbst wurde dieser Prestigegewinn noch unterstützt durch den Titel des fürstlichen Leibarztes, den wir im Sommersemester 1667 das erste Mal abgedruckt finden, sowie durch Magirus’ gleichzeitige Aufführung als Mitglied der Medizinischen und Philosophischen Fakultät während der Jahre 1676–1682. 282 S. Schlegelmilch (2016a), S. 172–75.

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Die Arztpraxis

dies in ihren jeweiligen Lebenskontexten ebenso  ;283 einen Lebensunterhalt allein aus der Praxis bestreiten zu können, war eher ungewöhnlich. In diesem Punkt unterschieden sich die Ärzte im übrigen auch nicht von ihren akademischen Kollegen  : Auch Theologen und Juristen »praktizierten« neben dem Lehrbetrieb, konnten von dieser »Praxis« allein aber auch nicht leben.284 Am ehesten ist eine ungefähre Einordnung seiner finanziellen Lage vielleicht noch für das Jahr 1652 in Zerbst möglich, als sich für Magirus die folgenden Posten addierten  : Bestallung als Stadtphysikus

60 Taler (erschl. Betrag s. o.)

Bestallung als Mathematikprofessor

60 Taler

Bestallung als Physikprofessor

40 Taler

Einkommen aus den Kalendern

50 Taler

Einkommen aus der Praxis

155 Taler (Mindestbetrag, s. o.)

Kolleggeld

11 Taler 376 Taler

Magirus’ Einnahmen aus der Praxis hätten mit den angenommenen 155 Talern somit ca. 41,2 % seines Verdienstes ausgemacht, der mit insgesamt 376 Talern ungefähr dem eines höheren Hofbeamten entsprochen hätte.285 Dieses so erwirtschaftete Einkommen muß nach den Maßstäben einer Subsistenzökonomie bewertet werden, die weder auf bloße Existenzsicherung noch auf das Anhäufen von Reichtum, sondern auf die Finanzierung eines angemessenen Bedarfs ausgerichtet war.286 Die Angemessenheit dieses Bedarfs ergab sich wiederum aus dem Status des Verdienenden, denn dieser forderte ihm einen spezifischen Repräsentationsstil ab  : Seinen Lebensunterhalt sichern zu können, genügte in der Ständegesellschaft allein nicht, es wurde überdies von jedem erwartet, daß er das, was er darstellte, auch öffentlich zeigte. Erst die Öffentlichkeit konstituierte seinen Status. […] Ein Adliger, der nach außen nicht als Adliger zu erkennen war, war keiner, und ein Handwerker, der als solcher nicht wahrge-

283 S. Walter (2008), S. 36–43. 284 S. Schmotz (2012), S. 179  ; 182–4  ; Schmotz kommt fakultätenübergreifend für die an der Leipziger Universität des 17. und 18. Jahrhunderts angestellten Akademiker zu dem Schluß  : »Der Unterhalt der Professorenfamilien summierte sich aus vielen verschiedenen Positionen – aus den Einnahmen, die direkt mit der Professur verbunden waren, denen, auf die der Professor durch seinen Status Anspruch hatte sowie denen, die durch privates Engagement, Schriftstellerei oder Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, erzielt wurden.« 285 Vgl. Anm. 213. 286 S. Sokoll (2011), S. 1–7, hier S. 5.

Das Einkommen des Arztes

nommen wurde, konnte kaum seine Ware verkaufen. Ein Geistlicher, der nicht sein Habit trug, hatte es schwer, sich Gehör zu verschaffen.287

Wie nahmen Magirus’ Mitbürger ihn wahr  ? Einige Zeugnisse legen nahe, daß seine Berliner Praxis – wenigstens seitens akademischer Kollegen – als erfolgreich bewertet wurde  ;288 wie das in Zerbst gewesen sein mag, wissen wir nicht, zumal sein Weggang von einem nicht zu rekonstruierenden Konflikt mit dem Rat überschattet war.289 Was sich aus den Marburger Akten ergibt, ist das Bild eines gelehrten Arztes, der in der Stadt ein standesgemäßes Haus samt Dienerschaft290 und einem geräumigen Arbeitszimmer für seine Bibliothek291 bewohnte. Des Öfteren hielt eine vom Fürstenhof geschickte Kutsche vor diesem Haus, um ihn abzuholen, mitunter wurde er sogar mit einem Vierspänner auf längere Reisen geschickt.292 Seine Töchter konnte er mit einer angemessenen Mitgift ausstatten  ; für eine von ihnen, Catharina Elisabeth, und deren Ehemann, deponierte er in Frankfurt Schmuck, Silbergeschirr und Geld. 293 Zwischen Magirus’ Bittbrief an von Döringenberg (s. o.) und der Nachricht über diese Mitgift (1675) liegen zwölf Jahre. Offensichtlich war es ihm in der Zwischenzeit gelungen, sich finanziell so aufzustellen, daß er standesgemäß »leben« konnte. Die Akten zeigen aber auch, daß er, um all dies aufrechterhalten zu können, offensichtlich bis ins hohe Alter sein stetes Werben um fürstliche Gnaden fortsetzte  : Sei es nun um Kleidung oder (zum Teil marginale) Geldbeträge oder die Erlaubnis, seine ärztliche Meinung zu einem fürstlichen Krankheitsfall persönlich vorbringen zu dürfen.294

287 Dülmen (21999), Bd. 2, S. 184. 288 S. Kap. 1.1.2. 289 Magirus beschwerte sich offensichtlich mehrmals über Lärmbelästigung durch seinen Nachbarn, sprach aber auch von Angriffen von Seiten des Rates  ; die Ratsmänner wiederum beschwerten sich beim Rektor des Gymnasiums, Magirus wettere in seinen Vorlesungen gegen sie  : s. Schlegelmilch (2011), S. 27–29. 290 Magirus reist mit seinen Dienern  : s. Johannes Magirus an Karl von Hessen-Kassel, Kassel, 7.10.1693 ; unter www.aerztebriefe.de/id/00036402   ; Zugriff   : (HStAM, Bestand 5, Nr. 7940, Bl. 3r–4v   8.8.2017). Zum Gesinde eines Professorenhaushalts s. Schmotz (2012), S. 47–59. 291 In einer Akte bzgl. der Erbstreitigkeiten zwischen zwei von Magirus’ Töchtern (UAM, Best. 305o, Nr. 160) findet sich ein Brief seines jüngeren Medizinerkollegen Daniel Nebel, in dem dieser der Fakultät darüber berichtet, daß er Magirus’ vormaliges Haus nicht beziehen könne, da dessen Tochter Catharina Elisabeth und deren Ehemann, Leutnant Johann Adolph Weber, das Universitätssiegel gebrochen, nach Eindringen in das Haus alles Küchengerät an sich gerafft und sich dann ausgerechnet in Magirus’ ehemaligem Arbeitszimmer (»museum«) verschanzt hätten. Zu den Räumlichkeiten, die so eine Bibliothek forderte, s. Schmotz (2012), S. 218–19. 292 S. die Dienstanweisung, Magirus samt Reisegepäck in Marburg abzuholen und über die Residenz Ziegenhain nach Homberg (Efze) zu fahren  : HstAM, Bestand 19b, Nr. 1925, unpag.: Unbek. an den Oberamtmann von Ziegenhain, Marburg, 20.4.1672. 293 S. die Akte betreffend des Diebstahls dieses Depositums  : HStAM, Bestand 19b, Nr. 1925. 294 S. Johannes Magirus an Nikolaus Wilhem Goddaeus, Kassel, 7.10.1693 (HStAM, Bestand 5, Nr. 7940, Bl. 6r–7r  ; unter www.aerztebriefe.de/id/00036403  ; Zugriff  : 8.8.2017).

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3. Die ärztliche Praxis

Im Jahr 1654 fiel Jochim Werner von Alvensleben von seinem Pferd. In der Folgezeit verspürte er immer wieder Schmerzen in der oberen Bauchgegend, versorgte sich mit verschiedenen Medikamenten (die allesamt nicht halfen) und konsultierte schließlich einen Arzt. Dieser schrieb, nachdem er sich diese Vorgeschichte notiert hatte, in sein Praxistagebuch  : »Ich stelle ihm Fragen zu seinem Appetit und Durst, und ob sein Bauch gelöst sei. Er antwortet, daß sein Appetit auf Speisen sehr gering sei und sein Bauch ziemlich verkrampft. Ich vermute, daß der Schmerz am Mageneingang von unverkochten und scharfen Säften verursacht wird.« Er verschrieb seinem Patienten ein Abführmittel sowie einen Saft zur »Magensterckung«.1 Dieses Kapitel soll veranschaulichen, wie man sich eine Behandlung durch einen Arzt des 17. Jahrhunderts konkret vorzustellen hat. Der Blick bleibt hierbei zwangsläufig arztzentriert, sind doch die zugrunde liegenden Quellen von Ärzten geschrieben, die die Beurteilung ihrer Fälle ihrem jeweils eigenen epistemischen Horizont und ihrer persönlichen Handlungslogik unterwarfen,2 wie der eingangs zitierte Fall bereits zeigt. Der behandelnde Arzt war hier nicht Johannes Magirus, sondern Johann Heinrich Bossen (1620–1673) aus Helmstedt, dessen Aufzeichnungen aus den Jahren 1653 und 1654 im Folgenden für einen Vergleich mit Magirus’ ärztlicher Praxis verstärkt herangezogen werden.3 Bossens Praxistagebücher, seine Ephemerides, umfassen insgesamt den langen Zeitraum von 21 Jahren (1652–1673), während derer er als Stadtphysikus von Helmstedt praktizierte. Es liegt somit nicht nur eine z. T. zeitlich exakt parallele Quelle aus geographischer Nähe vor,4 es stehen sich durch Magirus’ eigenes Stadtphysikat (1651–1656) zusätzlich auch zwei Träger des gleichen Amts gegenüber. Was die beiden wiederum trennt, sind biographische Unterschiede. Unter diesen ist der hervorstechendste, daß Jo1 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1654, S. 2 (Nr. 3  : Nobilissimus Jochim Werner von Alvensleben)  : »rogo de appetitu, siti, laxa alvo, respondet & appetitum ciborum e[ss]e valde prostratum, & alvum satis e[ss]e adstrictum, suspicor de dolore orificii ventriculi causato a crudis et acribus humoribus.« 2 S. Hess/Schlegelmilch (2015), S. 33–34. 3 Wie in der Einleitung zu Kapitel 2.3 bereits erläutert, stellen die Jahre 1648 und 1653 in Magirus’ Diarium die einzigen Jahre dar, in denen er allem Anschein nach durchgehend und ohne Ablenkung durch besondere äußere Umstände aufzeichnete. 1648 praktizierte Bossen noch nicht, deswegen wurde zuerst das Jahr 1653 für einen quantitativen Vergleich ausgewertet  ; mehr als ein weiteres Jahr zur Absicherung der qualitativen Ergebnisse auszuwerten, war aufgrund des Umfangs der Quelle und der Detailliertheit der hier angestellten Untersuchung im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. 4 Helmstedt liegt ca. 100 km von Zerbst entfernt, wo Johannes Magirus als Stadtarzt praktizierte  ; tatsächlich wäre ein Treffen der beiden Ärzte während Magirus’ Reise nach Braunschweig (s. Kap. 2.2.3) sogar möglich gewesen, als Bossens Mentor und Kollege Hermann Conring Johannes Magirus ein Buch übergab.

Die ärztliche Praxis

hann Heinrich Bossen im Gegensatz zu Johannes Magirus keinen akademisch geprägten Hintergrund besaß (er stammte aus einer Kaufmannsfamilie) und aufgrund des frühen Todes seines Vaters und der angeschlagenen Gesundheit seiner Mutter auch keine Studienreise antreten konnte. Vielmehr übernahm er 1652, zwei Jahre, nachdem er an der örtlichen Universität das Lizentiat erreicht hatte, direkt das Physikat der Stadt, das er dann bis zu seinem Tod 1673 innehatte. Er promovierte nicht, veröffentlichte keinerlei Schriften, führte aber über die ganze Zeit ohne Unterbrechung seine Tagebuchaufzeichnungen.5 Dem praktizierenden Akademiker Magirus steht somit ein akademisch ausgebildeter, jedoch nicht in den akademischen Lehrbetrieb eingebundener Practicus gegenüber. Da Magirus zum Zeitpunkt seiner Aufzeichnungen bereits zehn Jahre mehr Praxiserfahrung als Bossen besaß, fordern die verglichenen Quellen dazu auf, ihre individuelle Prägung durch den jeweiligen biographischen Hintergrund des Aufzeichnenden noch einmal besonders zu hinterfragen (junger vs. erfahrener Arzt). Ihre Zusammenschau, teilweise aber auch Kontrastierung soll dabei helfen, einzelne Verfahrensweisen der hier zu erkennenden ärztlichen Praxis als charakteristisch für das 17. Jahrhundert zu benennen bzw. zu bestätigen.6 Eben diese Praktiken sind jedoch für die hier behandelte Zeit oft schwer greifbar. Grundlegende Übereinstimmungen im Handeln der Ärzte verweisen zwar auf eine übergeordnete Instanz, die ihnen bereits während ihrer Ausbildung ein bestimmtes, »normales« Verhalten vorgab  : die medizinische Fachliteratur. Diese ist als Quelle für eine Darstellung ärztlichen Handelns jedoch nur bedingt brauchbar, denn sie zeichnet sich in all ihren Gattungen durch den ihr eigenen Modellcharakter aus – Störfaktoren wie widersetzliche oder verzweifelte Patienten, aufmüpfige Chirurgen oder streitbare Kollegen hatten in den vorgeführten Anordnungen keinen Platz oder dienten bestenfalls als Zielscheibe professioneller Kritik.7 Selbst praxisbezogene Gattungen der frühneuzeitlichen Medizin wie die Observationes oder Practica können höchstens als eine Synthese, aber nicht als Protokoll alltäglicher Praktiken gelten.8 Diese erfüllten als individuelle Routinen die persönlichen Bedürfnisse des einzelnen Arztes – andernfalls hätte er sie nicht immer gleichartig und dabei durchaus auch normabweichend wiederholt bzw. auch im Lauf der Zeit verändert und neuen Gegebenheiten adaptiert.9 Die tatsächliche ärztliche 5 Über Bossens Vita gibt seine Leichenpredigt (Henning [1673]) und ein »Programma in funere« des Prorektors der Helmstedter Universität Auskunft (Vogler, Valentinus Henricus [1673])  ; s. auch Kap. 2.3.2. 6 S. das in der Einleitung dieses Bandes beschriebene methodische Problem der Erschließung von »Praxis« aus gedruckten Quellen in der älteren Forschung. 7 S. auch Stolberg (2013b), S. 489. 8 Bezeichnenderweise spart z. B. Bröer (1996), S. 76–78 in seiner Beschreibung der Fallgeschichten des Arztes Salomon Reisel die diagnostischen Praktiken völlig aus, da Reisels publizierte Texte selbst diese nicht erwähnen, sondern sich gattungstypisch auf die Auflistung der Symptome, die resultative Diagnose und die Therapie des Diagnostizierten beschränken. 9 Vgl. die Definition der Praktiken nach Reckwitz, der als ihre Charakteristika zum einen die »Routiniertheit«, d. h. die »Geschlossenheit der Wiederholungen«, zum anderen die »Unberechenbarkeit«, d. h. die »Offenheit für Misslingen, Neuinterpretation und Konflikt« ansieht  : Reckwitz (2003),

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Die ärztliche Praxis

Praxis liegt somit in der Grauzone zwischen Norm und Individualität. Martin Dinges forderte 2008 in seinem Forschungsbericht zu Arztpraxen der Frühen Neuzeit, man solle »wirklich die Vorgänge in der Praxis zum vorrangigen Erkenntnisinteresse machen«,10 um der Fiktion eines ärztlichen Alltags entgegenzutreten, der sich aus der Synthese normativer Vorgaben konstruiert. Geeignetes Quellenmaterial zu solchen Untersuchungen bieten die handschriftlichen Praxistagebücher der Ärzte, die bislang für das 16. und 17. Jahrhundert von der Forschung gerade hinsichtlich diagnostischer und therapeutischer Praktiken so gut wie unbeachtet geblieben sind. 11 An Magirus’ und Bossens Aufzeichnungen wird nun sichtbar, welche spezifische Informationsfülle, aber auch welche Informationsdefizite wiederum diese Quellengattung aufweist. Die medizinische Fachliteratur der Zeit beschrieb die einzelnen Methoden der Behandlung, lieferte aber keine Aussagen darüber, in welchen Fällen sie Anwendung fanden, ob in der vorgestellten Form – und ob überhaupt. Diese Einsicht ermöglichen die Tagebücher, und sie belegen zudem die schon vermutbare Diskrepanz zwischen normativem Text und alltäglicher Praxis. Zu wissen, wie nach Aussage der wissenschaftlichen Autoritäten zu (be)handeln war, hieß nicht, es zwangsläufig auch zu tun. In dieser »Wissensverweigerung« tritt ein heute noch immer gültiger Zug ärztlicher Praxis zutage  ; Sonja Palfner benannte dasselbe Phänomen bei ihrer Untersuchung medizinischer Praktiken in der modernen Krebstherapie.12 Die Nichtanwendung von Wißbarem könnte somit ebenfalls als eine Praktik bezeichnet werden, stellte sie doch eine bewußte Handlungsentscheidung des Arztes dar  ;13 auf jeden Fall charakterisierte es seine persönliche Praxis, daß er bestimmte Dinge nicht tat oder, wie man heute vielleicht sagen würde, bestimmte Leistungen nicht anbot. Daneben blieb manches, das wiederum die Fachliteratur uns überliefert, in den Praxistagebüchern unsichtbar. Gemeint sind die »verborgenen Praktiken«, d. h. solche, die auf dem »impliziten« Wissen der Ärzte basieren, S. 294. Zu Routine und Innovation als Parameter der ärztlichen Praxis in praxeologischer Perspektive s. Schlegelmilch (2015), S. 107. 10 S. Dinges (2008), S. 26. 11 S. Dinges (2008), S. 38  : »Der Königsweg zur Erforschung der ärztlichen Praxis führt über die Krankenjournale, also zu Behandlungszwecken angelegte zeitgleiche Aufschriebe.« Dinges folgt hier mit einer wesentlich erweiterten, weil die Gesamtheit der Praxis umfassenden Perspektive Günther B. Risse, der bereits 1991 in seinem einführenden Aufsatz »The History of Therapeutics« zu einer Untersuchung therapeutischer Praktiken als »a more sophisticated history of therapeutics« anhand von »patient records found in hospitals, asylums, dispensaries, and private practice case books« aufrief. In der Forschung zu Ärzten besonders des deutschen Sprachraums ist für den hier untersuchten Zeitraum diesem Aufruf nur Michael Stolberg gefolgt, der in seiner Auswertung der umfangreichen Aufzeichnungen von Georg Handsch (1529–1578  ?) einige praxisbezogene Aspekte herausarbeitete  ; s. auch die Einleitung zu diesem Band mit Anm. 3 und 14. 12 S. Palfner, Sonja  : Gen-Passagen  : Molekularbiologische und medizinische Praktiken im Umgang mit Brustkrebs-Genen. Wissen–Technologie–Diagnostik (Bielefeld 2009), S. 77  : »Es gibt keinen Automatismus der Wissenswanderung von den Wissenschaften in andere gesellschaftliche Räume. Medizinische Praktiken sind nicht total abhängig von dem, was gewußt werden kann.« 13 S. Vogd (2007), S. 583.

Behandlungsschritte

die also ein Know-how betreffen,14 für das sie in ihren eigenen, nur für sie bestimmten Aufzeichnungen keinen Erklärungsbedarf sahen  : Sie wußten ja, wie man mit den Fingern den Puls fühlen mußte, also mußten sie es sich selbst nicht aufs Neue erläutern. Folglich verzeichneten sie lediglich, daß sie es getan hatten und was das Ergebnis war. Daniel Sennerts Institutiones wiederum – um ein Beispiel aus dem Bücherwald der Fachliteratur zu Magirus’ Zeiten herauszugreifen15 – beschreiben uns, wie genau der Arzt für den Fall, daß er diese diagnostische Methode tatsächlich anwendete, seine Finger auf das Handgelenk des Patienten legen mußte, um etwas zu fühlen. Erst die Zusammenschau von Praxistagebuch und zeitgenössischer Fachliteratur kann somit ein annähernd ausgewogenes Bild davon zeichnen, wie ein Arzt im Rahmen seiner frühneuzeitlichen Praxis tatsächlich (be) handelte.

3.1 Behandlungsschritte Ein rechter Medicus aber greifft die Sach weit anders an. Erstlich betrachtet er die Materi[e], so aus geworffen wird, ob sie dick oder dünne, gelb, schwartz, weiß sey. Hernach sihet er, ob der Husten, von Mangel der Lungen, oder von den Seiten stechen, oder von den auffschwellen der Leber, oder von Flüssen, etc. herkomme, dann sihet er weiter die Ursachen der Flüsse und der andern Stücke. Und sihet, ob sie im Haupte generiret worden, oder aus dem Unterleibe hinauff kommen, und was für ein principal-Glied daran schuldig sey  ; wann er dann dieses Glied gefunden, so besihet er alsdann, was das Glied (zum Exempel die Leber) für eine Kranckheit habe, und was die Ursach dieser Kranckheit sey  ; dieselbe bemühet er sich zu beheben, und alsdann gebrauchet er Arztneyen, nach dem er sie zuträglich findet.16

Diese Beschreibung ärztlichen Vorgehens ist Magirus’ Prognosticon des Jahres 1649 entnommen, das ein sechsseitiges Kapitel über die »Methodus oder Manier zur curieren der wahren und falschen Ärzte« enthält. Er wählte hier das Beispiel eines an einem »scharffen Husten« erkrankten Patienten, um die generelle Vorgehensweise eines Arztes bei der Diagnostik einer Erkrankung zu erläutern, die den ganzen Körper betraf, also nicht nur ein lokal begrenztes Leiden darstellte. Diese wichtige Unterscheidung zwischen generellem

14 Vgl. Reckwitz (2003), S. 290. 15 Johannes Magirus’ Diarium stellt die Hauptquelle dieser Untersuchung dar. Deswegen wird, wo ermittelbar, nur die Fachliteratur in Bezug zu seinem Handeln gesetzt, die er nachweislich selbst besaß. Der Besitz wurde erschlossen aus Literaturverweisen im Diarium selbst sowie dem Bücherkatalog, der von seinem Nachlaß erstellt wurde (UBM, Ms. 664). Aus dem letzteren werden nur Bücher herangezogen, die vor 1656, dem letzten im Diarium verzeichneten Jahr, gedruckt wurden. Zu den Werken Daniel Sennerts als theoretischem Bezugsrahmen s. auch Kap. 4.2.4. 16 Magirus, Johannes (1649b), Bl. C2r.

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Die ärztliche Praxis

und lokalem Leiden gehörte bereits in den Jahrhunderten vor seiner Zeit zu den Standards der humoralpathologisch orientierten Diagnostik.17 Was wir sehen, ist ein Vorgehen von außen nach innen  : von den evidenten Befunden ausgeworfener Materie über eine erste Lokalisation ihrer Herkunft im Körperinneren – wobei der Patient potentiell zusätzliche Hinweise liefern konnte auf lokalen Schmerz, Druckgefühle oder andere Beschwerden – hin zur Suche nach der eigentlichen causa, der Ursache, deren Sitz nicht mit dem der schädlichen Materie identisch sein mußte. Denn diese konnte sich, wie Magirus schreibt, im Körper hinauf oder hinab bewegen (ob sie im Haupt generiret worden oder aus dem Unterleibe hinauff kommen), also auch an anderen Stellen des Körpers zu Beschwerden führen, als die Ursache zu verorten war. In diesem Kontext lieferten Aussagen der Patienten zu den gefühlten Bewegungsbahnen der Materie – den oft erwähnten »Flüssen«18 – wertvolle Hinweise. Ziel der Analyse sowohl selbst beobachteter wie auch von Patientenseite berichteter Symptome war die Identifikation des principal-Glieds, also des Organs, das – ob nun durch äußere Einflüsse oder innere Fehlfunktion – nicht richtig arbeitete (dazu zählte auch das Gehirn als Ort der Schleimproduktion). Die frühneuzeitliche Medizin war nach eigenem Verständnis somit nicht symptom-, sondern ursachenorientiert  : Erst wenn die causa gefunden war, konnte eine wirksame Artzney zusammengestellt und verabreicht werden.19 Noch befinden wir uns mit diesem Zitat auf der theoretischen Ebene der Behandlung. Der Patient ist unsichtbar, er scheint nur aus den Organen zu bestehen, die der Arzt eins ums andere »besihet«. Im Folgenden wird zu prüfen sein, ob diese recht stringent anmutende Beschreibung dem Alltagstest auch standhielt – hier mußte der Arzt mehr als nur »sehen«.

3.2 Methoden der Diagnostik 3.2.1 Das Patientengespräch

Dann wann ein Mensch unpaßlich wird, und zu einem Medico schicket, so muß der Medicus erstlich fragen, worüber sich der Patient zu beklagen habe […].20

Wie gestaltete sich zu Magirus’ Zeiten der Verlauf eines Patientengespräches  ? Es wird wohl immer wieder Patienten gegeben haben, die auf ein solches Gespräch gar nicht vorbereitet waren,21 und selbst wenn sie es waren, so war es nicht selbstverständlich, daß 17 S. hierzu die Erläuterungen des Giovanni Battista da Monte im 16. Jahrhundert  : Bylebyl (22004), S. 54–55. 18 Zur Wahrnehmung der Flüsse als frei innerhalb des Körpers umherwandernder Materie s. Duden (1991), S. 145–62  ; s. auch Stolberg (2003), S. 129–37. 19 S. auch Stolberg (2014a), S. 640. 20 Magirus, Johannes (1649b), Bl. B1v. 21 S. Jütte (1991), S. 108  ; s. auch das Beispiel des Patienten Ryder, dem bei dem Zusammentreffen mit

Methoden der Diagnostik

der Kranke wußte (oder es ihn kümmerte), welche Informationen für den Arzt relevant waren und welche nicht. Wie aus Johann Heinrich Bossens Aufzeichnungen ersichtlich, konnten ganz marginale Dinge bei der persönlichen Sinnsuche des Behandelten gerade den Faktor darstellen, der ihm die Krankheit verständlich und damit weniger bedrohlich machte,22 so daß er sie für unbedingt mitteilenswert erachtete. Um aber zwischen den von den Patienten berichteten Zuständen (affectus), wirklichen Symptomen (symptomata) und der Ursache der Krankheit (causa morbi) unterscheiden zu können, mußte der Arzt das Gespräch gezielt lenken.23 Julius Caesar Claudinus (?–1618), Verfasser der in Magirus’ Besitz befindlichen Schrift De ingressu ad infirmos (Über den Umgang mit Kranken),24 gab in seinem Werk – wie andere Autoren auch25 – genaue Instruktionen zur Anamnese. Er listete auf, welche Fragen dem Kranken gestellt werden sollten oder welchen Stellenwert man den Aussagen der adstantes, der Krankenbettgesellschaft,26 zumessen dürfe. Er äußerte sich daneben auch zur Diagnostik und erläuterte, wie allein zu einer zuverlässigen Diagnose zu gelangen sei und wie im consilium mit Kollegen. Direkt am Krankenbett empfahl er die fünf wichtigen hippokratischen Fragen (»quinque nec plura nec pauciora ab aegris interroganda medico«) 1. Welche körperlichen Unregelmäßigkeiten sind festzustellen  ? (»Qualis praeter naturam affectus  ?«) 2. Was könnte die Ursache sein  ? (»Ex qua causa patiatur aeger  ?«) 3. Wie lange ist der Patient schon krank  ? (»A quot diebus patiatur aeger  ?«) 4. Hat er Stuhlgang  ? (»An alvus secedat  ?«) 5. Welchen Lebenswandel pflegt der Betroffene  ? (»Quo victu utatur aeger  ?«).27 seinem Arzt die Worte fehlen  : »But when I came to talk with him I was at loss what to say«, zitiert bei  : Wear (1989), S. 311. 22 So brachte z. B. eine Patientin ihre seit der Geburt ihres Kindes vor vierzehn Tagen andauernden Beschwerden nicht mit dieser Geburt in Verbindung, sondern stellte einen anderen (vielleicht in ihren Augen weniger bedrohlichen) Zusammenhang her – sie sei vor einigen Tagen von einer Nachbarin erschreckt worden, und daher, glaube sie, komme die Krankheit  : s. SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 96 (Nr. 108  : paupera quaedam von Sisted). Zur Sinnsuche der Patienten s. auch Stolberg (2003), S. 49–65. 23 S. die Erläuterung der Begriffe bei Nance (2011), S. 113–16  ; für den Arzt Théodore Turquet de Mayerne war es von besonderer Bedeutung, bei der Verkündung seiner Diagnosen bei Hofe zwischen affectus (nicht krank) und morbus (krank) unterscheiden zu können  : s. ebd., S. 429. 24 S. den Eintrag in  : UBM, Ms. 664, S. 7, Nr. 22. 25 Claudin selbst verweist auf die Vielzahl der Publikationen zu diesem Thema  : »De modo interrogandi morbos multi multa scripsere«, s. Claudinus (1628), S. 2. Ein frühes Beispiel für eine solche Fragetechnik findet sich bei dem Chirurgen Heinrich von Mondeville (1260–1320), der beim Gespräch am Krankenbett im Wesentlichen dieselben Fragen stellt wie im Folgenden entwickelt  : s. Probst, Christian  : Der Weg des ärztlichen Erkennens bei Heinrich von Mondeville, in  : Keil, Gundolf (Hg.)  : Fachliteratur im Mittelalter. Festschrift für Gerhard Eis (Stuttgart 1968), 333–58, hier bes. S. 346–47. 26 Zu diesem Begriff s. Stolberg (2003), S. 75–77. 27 S. Claudinus (1628), S. 2–8. Die Ausgabe von 1628 druckt fehlerhaft »viatur« statt »utatur«.

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In der tatsächlichen Praxis wurden diese Fragestellungen, die zunächst nur ein grobes Gerüst zur Orientierung darstellten, verändert und ausdifferenziert. Nicht anders als heutzutage bewegte sich das Erkenntnisinteresse des Arztes im Rahmen seines individuellen epistemischen Horizonts, wurde aber auch von subjektiver Wertung und Priorisierung bestimmt. Um also tatsächliche Praxis von postulierter Norm zu scheiden, ist der von Claudinus empfohlene hippokratische Fragekatalog anhand der Aufzeichnungen der beiden Ärzte gegenzulesen  : Welche dieser Fragen hielten sie tatsächlich für wichtig, welche erweiterten, welche unterschlugen sie – und warum  ? Ideal wäre es nun freilich, ein Gesprächsprotokoll auswerten zu können. Für die Ärzte war freilich nur das Notieren von Antworten wichtig, nicht das ihrer eigenen Fragen. Sortiert man die in ihren Aufschrieben enthaltenen Patientenaussagen, soweit möglich, in spezifische thematische Gruppen, kann aufgrund der hinsichtlich dieser Gruppen feststellbaren Frequenz – Antworten auf welche Fragen liegen wie oft vor  ? – gleichwohl eine gewisse Frageroutine erschlossen werden. Die so ermittelte Fragetechnik gewährt unmittelbaren Einblick in das jeweilige Verständnis der beiden Ärzte  : von Krankheiten, den sie definierenden und beeinflussenden Faktoren und den Voraussetzungen eines erfolgreichen Heilprozesses. Claudins Frage 1  : Die Befindlichkeit des Patienten (oder  : »Woran leidet Ihr  ?«) Zu Beginn jeder Fallbeschreibung notierten die Ärzte die Beschwerden, über die der Kranke klagte (»conquerebatur de […]«) oder unter denen er schon länger litt (»laborabat […]«)  : Hierdurch entstand eine erste, im Verlauf der Verhandlung zu erweiternde Krankengeschichte, die historia morbi.28 Die empfundene Plötzlichkeit der akuten Erkrankung wurde in den ärztlichen Aufzeichnungen oft mit der Formulierung unterstrichen, daß die Patienten in eine Krankheit »hineinfallen« (»incidit in […]«).29 Danach folgten die üblichen Symptomketten wie »er klagte über Husten, schwere Atmung, Schmerzen und Schwellung der Milz sowie Wind in der linken hypochondrischen Körperseite, er kratzte sich an roten skorbutischen Flecken«.30 Die Feststellung, daß der Patient Stürmer nach Magirus’ Worten neben anderen Beschwerden auch rote »skorbutische« Flecken aufwies, zeigt, wie sehr die Anamnese be28 Diese Bezeichnung verwendete auch Johann Heinrich Bossen  : »me tandem accedit 26. Jan. & historiam morbi exponit«, s. SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 23 (Nr. 19  : Studiosus Borussus Fleischer). Der Begriff der historia ist hier nicht primär als die bis auf den gegenwärtigen Zeitpunkt heraufführende »Geschichte« der Krankheit zu verstehen als vielmehr das, was der Arzt vom Patienten hörte, ohne es schon verifiziert und/oder diagnostiziert zu haben, also eine Geschichte nach Hörensagen  : s. hierzu auch Stolberg (2013b), S. 502–03. 29 Vgl. die entsprechenden von Kinzelbach (1994), S. 285 aufgeführten Formulierungen  ; auch Stolberg (2003), S. 39. 30 UBM, Ms. 96, S. 269 (Aug./Sept. 1652  : Herr Stürmer, collega scholae ducalis)  : »Conqueritur de tussi, difficili respiratione, dolore et tumore lienis ac flatu hypochondrii sinistri corporis, scatebat maculis rubris scorbuticis.«

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reits durch den Wissens- und Erwartungshorizont des Arztes geprägt war, der bestimmte Symptome wiederzuerkennen glaubte und sie einem Krankheitsbild zuordnete. Bei der Patientin Gröbe resümierte er umgehend  : »Es kamen Kopfschmerzen hinzu, Hitze, Fußschmerzen, Schwäche und Bewußtlosigkeit, Symptome der Hysterie«, und im Fall von Paul Albrecht notierte der Arzt sogar ausschließlich  : »leidet an der hypochondrischen Krankheit in nicht unerheblichem Maße«.31 Diese »hypochondrische Krankheit« muß für ihn durch eine fest definierte Symptomgruppe dargestellt worden sein, denn der Patient Eger wiederum hatte nach seinen Worten diese Krankheit, »gemischt mit der skorbutischen«.32 Michael Stolberg hat auf der Grundlage einer breiten Auswertung von Patientenbriefen bereits dafür argumentiert, daß die frühneuzeitliche Medizin ein ontologisches Verständnis von Krankheit besaß  ;33 die Aufzeichnungen des Diarium bestätigen nun seine Beobachtungen  : Auch Magirus brachte in das Gespräch mit seinen Patienten bereits Vorstellungen von Krankheitseinheiten ein. Selbst wenn man noch nicht von einer Nosologie im heutigen Sinne sprechen kann – d. h. einer präzisen Differenzierung, die die Ätiologie einer Krankheit, die Gesamtheit der in ihrem Verlauf auftretenden Symptome sowie diesen selbst beschreibt –, so bedienten sich die Ärzte bei der Diagnose doch bestimmter Krankheitsbilder, die durch Symptomgruppen repräsentiert wurden.34 Da Johannes Magirus in seinen Aufzeichnungen stark ergebnisorientiert notierte, läßt sich aus ihnen heute nicht mehr erkennen, wie er im einzelnen Fall beim Abgrenzen der Krankheitsbilder zu seinem Urteil kam. Zum Glück hielt es aber Johann Heinrich Bossen als noch wenig erfahrener Arzt für nötig, präzisere Gesprächsnotizen anzulegen. Wir können daraus ersehen, daß er wie Magirus von der Prämisse ausging, daß Krankheiten mit spezifischen Symptomgruppen gleichzusetzen sind. Bei einem jungen Mann, der unter Brustschmerzen litt, verzeichnete er auffälligerweise, daß dieser aber »keinen Husten, keine erhöhte Temperatur, keinen Kopfschmerz« gehabt habe (»nulla aderat tussis, nullus calor praeternaturalis, nullus capitis dolor«).35 Da Patienten gewöhnlich nicht aufzählen, was sie nicht quält, darf man davon ausgehen, daß Bossen differentialdiagnostisch vorging, also die berichteten Symptome als potentiell zu verschiedenen Krankheitsbildern gehörig erkannte und dann durch konkrete Nachfragen zu weiterer Symptomatik sukzessiv Mög31 UBM, Ms. 96, S. 92 (Feb./März 1648  : die Frau Gröbin)  : »supervenit capitis dolor, aestus, dolor pedum, debilitas et lipothymia, symptomata hysterices«  ; ibid. (S. 302 a, Feb./März 1653  : Paul Albrecht)  : »laborat morbo hypochondriaco gradu non parvo«. 32 UBM, Ms. 96, S. 9 (Nov. 1647  : Herr Eger)  : »morbus hypochondriacus est scorbuto permistus [  !]«. 33 S. Stolberg (2003), S. 39–40 mit Anm. 24 (Lit.). 34 Giovanni Battista da Monte (1498–1551) lehrte seine Schüler, auf unverwechselbare Symptome zu achten, die eine bestimmte Erkrankung definieren, und von dieser Basis aus dann auszudifferenzieren  : s. Bylebyl (22004), S. 51  ; s. auch die Zusammenfassung von Théodore Turquet de Mayernes (1573–1655) systematischem Vorgehen bei Nance (2011), S. 424  : »To find the indications, one must pursue diseases, but to know diseases, one must know signs and symptoms, and to interpret signs and symptoms, one must have a clear idea of the patient’s healthy state.« Zum medizinischen Verständnis von »Krankheit« in der Frühen Neuzeit s. auch Hess (1993), S. 31. 35 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1654, S. 30 (Nr. 51  : Mons. Usler Goslariensis).

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lichkeiten ausschloß. Wenn er schließlich in diesem Fall feststellte, es werde sich wohl um eine lokale Ansammlung von unverkochten Säften handeln, hatte er offensichtlich aufgrund der nicht vorhandenen Symptome z. B. einen Katarrh ausgeschlossen ‒ der nach zeitgenössischer Theorie drückend auf die Brust schlagen konnte, aber von aus dem Kopf herabfließenden Säften verursacht worden wäre (das hätte Kopfschmerz bedeutet), die die Atemwege verstopft hätten (das hätte Husten hervorgerufen). Dieses differentialdiagnostische Vorgehen findet sich genauso auch in den Aufzeichnungen des Arztes Théodore Turquet de Mayerne (1573–1655).36 Eine Diagnose wurde also mit dem jeweiligen Patienten in genauer Befragung »erarbeitet«. Im eingangs zitierten Fall des Jochim Werner von Alvensleben dokumentierte Bossen diese Vorgehensweise ausnahmsweise sogar direkt  : »Ich stelle ihm Fragen […] Er antwortet […]«. Nach Claudin sollte diese Befragung zu Beschwerden auch die Krankenbettgesellschaft miteinbeziehen. Deren Antworten finden sich in Bossens Ephemerides auch oft notiert  ; meist sind es Familienmitglieder, die dem Arzt ergänzend zur Selbstaussage des Patienten ihre Beobachtungen schildern. In Magirus’ Diarium dagegen fehlen dahingehende Aufzeichnungen völlig  : Entweder schrieb er sie nicht auf oder er glaubte, ausschließlich vom Patienten selbst die Informationen erhalten zu können, die sich seinem eigenen Blick entzogen. Claudins Frage 2  : Die möglichen Ursachen (in etwa  : »Gab es in letzter Zeit etwas Besonderes  ?«) Diese Frage zielte neben konkreten Unfällen und Verletzungen auch auf die Diätetik, genauer  : auf die sex res non naturales (d. h. die sechs nicht naturgemäßen Zustände), die sich dadurch ergaben, daß man sich einem unnatürlichen Zuviel oder Zuwenig der folgenden Umstände ausgesetzt hatte  : Luft (aer) – Speise und Trank (cibus et potus) – Schlaf und Wachen (somnus et vigilia) – Bewegung und Ruhe (quies et motus) – Absonderungen und Ausscheidungen (secreta et excreta) – psychische Affektionen (affectus animi).37 Die Kenntnis dieser von Galen benannten Faktoren als gesundheitskonstituierende Parameter wurde als Grundwissen eines jeden Arztes angesehen38 und wurde auch von Patienten selbstverständlich in die eigenen Mutmaßungen einbezogen (s. u.).39 Ein Eintrag des Diarium im Januar 1648 lautet  : 36 S. Nance (2001), S. 75. 37 S. Jütte (1991), S. 57–68  ; Stolberg (2003), S. 59–64. 38 Auch Giovanni Battista da Monte (1498–1551) lehrte seine Studenten, bei jedem Patienten die mit den sex res zusammenhängenden Begleitumstände zu erfragen und sich die Antworten genau in der Krankengeschichte aufzuschreiben  : s. Bylebyl (22004), S. 42  ; ebd., S. 59 die von da Monte berichtete Fallgeschichte. Mayerne beachtete die »sex res non naturales« sorgfältig  : s. Nance (2001), S. 74–75  ; sie blieben bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgängig ein wichtiges Konzept im Rahmen des Arzt-Patienten-Gesprächs  : s. Lachmund/Stollberg (2012), S. 28. 39 S. auch Wear (1989), S. 311  ; Stolberg (2003), S. 59  ; 63  ; (2005), S. 1067–74.

Methoden der Diagnostik

liegt zu bette, kan nichts essen, das bier schmeckt ihm nit, bricht alles wieder weg, der leib ist offen, lieget ihm furm hertzen, hustet, wirf[t] ma[teri]a aus, nimbt abe, ist über 46 jahr alt, ist zu hamburg gewesen, 16 jahr soldate, handelt anitzo mit Kleinkramwahren, hat wacker gesoffen.40

Einige der Informationen, die auf die Altersangabe folgen, könnte man den sex res zuordnen  : den Aufenthalt in Hamburg (ungewohntes Klima  ?), den Dienst als Soldat (psychische Affektion  ? zu viel Bewegung  ? zu einseitiges Essen  ?), das übermäßige Trinken. Gleichzeitig handelt es sich um den diesbezüglich ungewöhnlichsten Eintrag im ganzen Diarium, denn kein anderer Fall listet eine solche Zahl von Begleitumständen auf. Sollten die Patienten immer in dieser Ausführlichkeit von sich berichtet haben, so übernahm Magirus offensichtlich in den wenigsten Fällen ihre Aussagen. Nur in insgesamt drei Fällen notierte er starke Emotionen als Auslöser für Erkrankungen  : Ein Mann wurde nach einem Zornanfall (»ex ira«) bewußtlos und bekam Hand- und Gliederzittern  ; eine Frau erlitt einen Rückfall in bereits früher aufgetretenes Fieber aufgrund von Zorn und Streitereien (»ex ira et litibus«)  ; aus dem deutschen Eintrag »hat viel Kreuz und Unglück gehabt« läßt sich nicht recht entnehmen, ob Magirus dies letztlich als Krankheitsursache ansah.41 Deutlich als schädlich ist in einem Fall Bewegung gewertet, die der Arzt als »zu viel« beurteilte (»ex nimio motu«)  ; wenn Magirus aber bei einigen Patienten notierte, sie seien aufgrund von Nahrungsmitteln wie Rettich (»ex esu raphani«) oder Weingenuß (»ex potu vini«) erkrankt, bezeichnete er damit nicht unbedingt ein maßvergessenes Fehlverhalten, sondern notierte mit dem Nahrungsmittel eher die jeweilige von außen in den Körper gelangte Materie (mit bestimmten Eigenschaften), die derselbe offensichtlich nicht hatte verarbeiten können. Insgesamt beläuft sich die Anzahl der Fälle, bei der Magirus die genannten Begleitumstände als potentiell diagnostisch relevant einstufte und deswegen aufschrieb, während seiner gesamten Zeit in Berlin und Zerbst auf ganze fünf Stück.42 Weitere Mutmaßungen der Patienten zur Ursache ihrer Erkrankungen, die noch jenseits der sechs diätetischen Themen lagen, finden sich überhaupt nicht. Es entsteht sogar der Eindruck, als habe Johannes Magirus seine Patienten gar nicht nach ihrer Einschätzung gefragt oder wenigstens auf deren Protokollierung verzichtet, wenn er die vom Erkrankten selbst gefolgerte Kausalität theoretisch nicht verifizieren konnte. Wie solche Erklärungen von Patientenseite aussehen konnten, zeigt uns ergänzend wieder Johann Heinrich Bossen, der um Interpretationshilfen noch ziemlich dankbar gewesen zu sein scheint. Die von ihm notierten Berichte der Kranken fielen sehr oft in den Bereich der sex res  : So gab ein Patient an, er glaube, er habe einen Tumor im rechten Brustbereich, 40 UBM, Ms. 96, S. 63 (Januar 1648  : dem Mann von Spandau der Frauen Bruder). 41 UBM, Ms. 96, S. 208 (Juli 1651  : der Cammerschreiber)  ; ebd., S. 403 (Mai 1653  : Wendelini vidua)  ; ebd., S. 43–4 (22. Dez. 1647  : die frau Manasse Schlabberndorffin). 42 Vgl. die Gesamtpatientenzahl in Kap. 2.3.1. In allen anderen Fällen außer diesen fünf sind Schlaflosigkeit, Unruhe etc. Symptome, aber nicht Auslöser der diagnostizierten Krankheit.

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und weiter  : dort liege eine (Säfte-)Ansammlung vor, die sich aus übermäßiger Bewegung des rechten Armes (»ex nimio motu brachii dextri«) beim Ballspiel ergeben habe  ; ein zweiter bot gleich verschiedene causae morbi an, nämlich das Trinken von Wasser und unregelmäßige Ernährung während des Krieges sowie seine sitzende Tätigkeit in der Zeit danach.43 Ganz anders als Magirus notierte sich Bossen alle möglichen Vermutungen  : Ein Elternpaar glaubte, ihr Kind habe Schmerzen in der rechten Seite, weil Würmer darunter säßen, ein anderes wiederum interpretierte Fieber, Husten und Unruhe als Begleiterscheinungen des Zahnens.44 Es konnte hier auch am Krankenbett zu Meinungsverschiedenheiten unter den adstantes kommen, was die Krankheitsursache betraf, zumal wenn sich andere Heiltätige unter den Anwesenden befanden.45 Es muß jedoch nicht so gewesen sein, daß die Patienten dem Arzt ihre Vermutungen ungefragt aufdrängten  : Interessanterweise notierte Bossen bei einem anderen Säugling explizit, daß dessen Vater keine Idee gehabt habe (»ignorabat«), was der ursprüngliche Auslöser (»causa prima«) für ein großes Geschwür hinter den Ohren gewesen sein könnte – er hatte den Laien also explizit nach dessen Meinung gefragt.46 Ebenfalls ganz im Gegensatz zu Magirus protokollierte Bossen auch Spekulationen seiner Patienten, die er selbst verwarf. So hatte ein Patient bspw. ein große Menge weißes Sediment in seinem Urin beobachtet, es für semen gehalten und daraus geschlossen, er habe Gonorrhoe, sei unheilbar krank und könne deswegen nicht heiraten (was Bossen gewissenhaft notierte). Der Arzt schloß daraufhin aber mittels der bereits gezeigten Fragepraxis Gonorrhoe als Diagnose aus, nämlich indem er wieder alle Symptome aufzählte, die der Patient nicht hatte, aber bei positivem Befund eigentlich hätte haben müssen.47 Ein anderer Mann war sich sicher, seine Impotenz und ein Tumor an der Eichel haben ihren Ursprung im Geschlechtsverkehr, den er mit seiner Frau während deren Menstruation gehabt hatte  ; »aber es scheint ein Nierenfehler zu sein«, vermerkte Bossen lapidar zu dieser Mutmaßung und verschrieb ein entsprechendes Medikament.48 Die Diskrepanz zwischen Bossens und Magirus’ Aufzeichnungen zu Claudins zweiter Frage ist frappierend. Sie kann auch nicht allein aus Bossens noch vorhandener Unsicherheit als junger Arzt erklärt werden, denn Magirus befindet sich hier ungefähr im zehnten Jahr seiner Praxis, Bossens (erhaltene) Aufzeichnungen aus seinem zehnten Jahr sind in 43 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 69 (Nr. 63  : Dn. Mundsbrock)  ; ebd., 1654, S. 25 (Nr. 41  : D[omi]n[us] D[octor] Binnius). 44 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 25 (Nr. 31  : filius M. Schraderi)  ; ebd., S. 35 (Nr. 29  : filius Ampl[issi]mi D[omi]n[i] D[octoris] a Felden). 45 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1654, S. 9 (Nr. 15  : Uxor D[omi]n[i] Jochimi Papcken pharmacopoei)  : »mulieres adstantes uteri affectum subesse credebant, maritus calculum metuebat.« S. zu diesen Konflikten im Arzt-Patienten-»Drama« auch Lachmund/Stollberg (2012), S. 27. 46 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 124 (Nr. 158  : rusticus von Erxleben). 47 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 137 (Nr. 187  : Georg Wittkopf, Amptmann zu Harpke)  : »[…] nam symptomata alia gonorrhaeam sequi solent«. 48 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1654, S. 51 (Nr. 7  : vir quidam honestus) – man beachte hier die Anonymisierung des »ehrenwerten« Mannes in der Aufzeichnung.

Methoden der Diagnostik

hinsichtlich geäußerter Vermutungen von Patienten und Angehörigen ebenso ausführlich wie die hier gezeigten.49 Es scheint so, als habe Magirus ganz ähnlich wie es Michael Stolberg auch für einen Arzt bereits des 16. Jahrhunderts, Georg Handsch, beobachtet hat,50 der Frage nach äußeren Ursachen, die die Patienten (aus subjektiver Sicht) zu berichten hatten, einfach keinen sonderlich großen Wert zugemessen, sondern ausgehend vom Status quo seinen diagnostischen Blick unmittelbar auf die inneren Zusammenhänge gerichtet.51 Es deutet sich bei Johannes Magirus bereits hier eine über unbedingte Objektivität definierte Selbstwahrnehmung als homo rationalis an,52 aufgrund derer der Arzt seine Fragepraxis nach eigenen Schwerpunktsetzungen modifizierte. Claudins Frage 3  : Die Dauer der Erkrankung (oder  : »Wie lange habt Ihr das schon  ?«) Diese Frage diente vordringlich dazu, akute Beschwerden von bereits chronifizierten Leiden zu unterscheiden. Verschiedene von Magirus’ Patienten gaben auf die Frage nach dem Krankheitsbeginn zu Protokoll, daß die Beschwerden, derentwegen sie den Arzt nun aufsuchten, nicht erst kürzlich aufgetreten waren  : Die Böttcherin, »die kann nit wol hören, hat über 2 jahr gewehrt  ; hat großes sausen und brausen«  ; die Frau eines Tapeziereres »hat ein groß reißen in den schenkeln, hat es schon etliche iahr im anfang gehabt«  ; ein Patient Klempner »hat einen schröcklichen husten und kann kaum atem holen«, was zuerst an eine akute Erkrankung denken läßt, dann aber heißt es  : »hat in den 16 jahr das husten gehabt«.53 Daneben gab es auch des Öfteren Patienten, die erst vor kürzerer Zeit erkrankt waren, den Krankheitsverlauf aber zuerst eine gewisse Zeit abgewartet hatten  : Ein Bauer lag schon ein dreiviertel Jahr schwer krank – »die rose in der linken seiten und beine bekommen, darauf 18 löcher in der seiten, da ein aufbricht, das ander zuheilet« – bevor Magirus ein erstes Rezept verschrieb, die achtzehnjährige Tochter eines Edelmannes litt unter »Verstopfung der mensium in 14 wochen«.54

49 Eine deutliche Verknappung der Notizen setzt bei Bossen erst nach 10 Jahren ein  : s. Kap. 3.3.3. 50 S. Stolberg (2015b), S. 73–74. 51 Nur physische Einwirkungen (Schlag, Stoß, Sturz etc.) waren von dieser Regel ausgenommen. 52 Diese Selbstwahrnehmung scheint auch in einem empörten Brief des Magirus auf, in dem er sich über den Stadtrichter von Zerbst beschwert und einen (syntaktisch unverständlichen lateinischen) Satz ungefähr des Inhalts anfügt, daß »selbst mathematische Menschen« (»Mathematici ipsi homines«) Fallen graben können (also wohl  : emotional reagieren), wenn sie gereizt werden  : s. den Wortlaut des Briefes bei Schlegelmilch (2011), S. 28–29. 53 UBM, Ms. 96, S. 74 (Feb. 1648  : Böttcherin, des Maniacus seine Schwägerin)  ; ebd., S. 136 (Aug. 1648  : Frau des Tapezierers)  ; ebd., S. 75, 4./5. Feb. 1648, Klempner. 54 UBM, Ms. 96, S. 97 (22. März 1648  : Bauer von Lichtenberge)  : Der Bauer konnte eine längere Behandlung bei einem Arzt vielleicht gar nicht bezahlen oder war auch des Schreibens nicht mächtig, so daß eine Fernbehandlung nicht möglich war  ; es blieb dann auch trotz seines drastischen Zustandes bei dem einen (sehr einfachen) Rezept, dessen Wirkung nicht notiert ist  ; ebd., S. 158 (1648  ; eines Edelmann filia).

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Das soziale Gefälle zwischen den beiden letztgenannten Patienten deutet darauf hin, daß bei der Konsultation eines Arztes nicht nur der finanzielle Aspekt der Behandlung eine Rolle spielte. Zum einen wurde bei nicht als lebensbedrohlich empfundenen Störungen der Körpervorgänge zuerst den Selbstheilungskräften der Natur Vertrauen geschenkt, wie auch der Fall eines Podagra-Kranken in Bossens Praxis zeigt, der schon seit Jahren von der Krankheit gequält wurde, die mal mehr, mal weniger schmerzhaft auftrat – nach Weingenuß erlitt er sogar stets einen Schmerzschub in den Füßen, der ihn kaum mehr laufen ließ. Ausdrücklich wollte dieser Patient für sein Leiden aber kein Mittel verschrieben haben und gab an, er hoffe, daß die Schmerzen sich von selbst wieder gäben.55 Zum anderen, und das deutet der zuletzt zitierte Fall vielleicht auch an, verzögerte oft die Angst vor unangenehmen Eingriffen die Konsultation des Arztes.56 Ein Bauer, der schon fünfzehn Jahre ein wucherndes Geschwür am Kiefer hatte, wurde von seiner Familie bedrängt, sich endlich behandeln zu lassen  ; der von Bossen instruierte Chirurg setzte ein Fontanell und verabreichte dazu die vorgegebenen Medikamente – ob der Bauer danach noch arbeitsfähig war, wie Bossen zu Beginn notiert hatte, ist dem nicht zu entnehmen.57 Angesichts dieser (Zurück-)Haltung gegenüber ärztlicher Behandlung, die sich sehr von dem uns heute mehrheitlich geläufigen Patientenverhalten unterscheidet, war die Frage nach der Dauer der Erkrankung umso plausibler. Die diagnostische Relevanz einer Scheidung zwischen bereits länger bestehenden, chronischen und neu aufgetretenen, akuten Erkrankungen hängt auch mit der Anwendung der bereits antiken Lehre von den Krisentagen zusammen, denn  : »Die Krisentage tragen nicht wenig zur Vorhersage des Ausgangs akuter Erkrankungen bei«, wie Daniel Sennert schrieb.58 Er benannte in seinen Institutiones die aus dem Erfahrungswissen der Ärzte abgeleiteten kritischen Tage  ; diese Erfahrungswerte basierten auf einer Zählung ab dem Eintritt der Krankheit (am x-ten Tag ab Krankheitsbeginn ist gewöhnlich zu rechnen mit …). Er zählte dabei die Tage auf, an denen potentielle Krisen oft ihren Schatten bereits vorauswarfen, sowie solche, an denen besondere Erschütterungen auftreten konnten wie beispielsweise ein Paroxysmus. Diese errechenbaren Etappen des Krankheitsverlaufs waren für Magirus besonders interessant. Hatte er bei seinen Patienten abgeklärt, daß es sich um Fälle akuter Erkrankungen handelte, beschränkte er sich manchmal auf summari-

55 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1654, S. 11 (Nr. 18  : D[omi]n[us] Johannes Meine)  : »verum nihil petit auxilii, sperans […] sponte remissuros dolores«. 56 Vgl. Jütte (1991), S. 111–12. 57 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 40 (Nr. 34  : Rusticus quidam von Eylesleben). Die Arbeitsfähigkeit läßt sich Bossens Kritik entnehmen, daß das Geschwür schädlichen Rahmenbedingungen ausgesetzt worden sei  : »[…] cetera sanus, & munia obire et iter facere quotidie cogebatur, et aëre humido et ventoso, nullo quidem linteo ulceri subimposito«. 58 Sennert, Daniel (1650a), S. 552 (= Inst. Lib. III, Part. III, Cap. XI)  : »Dies critici non parum ad acutorum morborum, in quibus proprie crisis eveniunt, eventum praesagiendum faciunt.« Sennert nennt hier den 7., 14., 20., 27., 34. und 40. Tag der Erkrankung als Krisentage.

Methoden der Diagnostik Abb. 12  : Eintrag zum Patienten Wendelin. UBM, Ms. 96, S. 224.

sche Notizen zum Krankheitsbeginn  : »ist drei Tage krank gewesen«.59 Des Öfteren finden sich hierzu aber auch spezifische Angaben  : »Am Tag des Jupiter (Donnerstag) hatte sie Fieber, am Tag der Venus (Freitag) blieb es aus, am Tag des Saturn (Samstag) litt sie wiederum darunter, am Tag der Sonne (Sonntag) habe ich ihm verschrieben […]«. Die Wochentage kennzeichnete er hier mit den ihnen zugeordneten astronomischen Symbolen  : »Die  febri laboravit, die T emansit, die  iterum laboravit, die  praescripsi ([…].«60 Seine eigentliche Behandlung begann also am Sonntag. Zwar ist die Datierung über die Planetensymbole nicht ungewöhnlich für zeitgenössische – mitunter auch nichtmedizinische – Quellen, sie besitzt aber im Kontext der ärztlichen Praxis, und dies besonders bei Magirus, eine zusätzliche Bedeutungsebene jenseits der rein chronologischen  : Hier wurde die Theorie der Krisentage um eine iatromathematische Interpretation erweitert.61 Daß es sich tatsächlich um eine Kombination beider Konzepte handelte und nicht die Astrologie

59 UBM, Ms. 96, S. 76 (26. Jan. 1648  : Frau Otto Berendsin). 60 UBM, Ms. 96, S. 302 (Feb. 1653  : Oberstleutnant Kalow). 61 S. Kap. 3.2.7.

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Die ärztliche Praxis

allein zum Tragen kam, zeigt die Tatsache, daß oft die Tage zusätzlich durchnummeriert wurden.62 Es war für Magirus deswegen nicht nur von Bedeutung, vor wie vielen Tagen, sondern auch, an welchem Wochentag eine akute Erkrankung aufgetreten war, da der Patient unter Umständen durch seine Geburtskonstellation eine besondere Affinität oder Antipathie zu bestimmten Planeten empfinden konnte  :63 War ein Patient unter dem Einfluß des Saturns geboren und erkrankte ausgerechnet an einem Donnerstag, dem Tag dieses Planeten, mochte hier ein Zusammenhang bestehen. Unabhängig davon konnte der Arzt aber auch, ausgehend vom ersten Krankheitstag, ein spezielles Krisenhoroskop erstellen.64 Das Errechnen eines solchen Horoskops, wie es Magirus für den Patienten Wendelin erstellte (s. Abb. 12), illustriert erneut die charakteristische Kombination beider theoretischer Ansätze, der Lehre von den Krisentagen und die der iatromathematischen Prognostik  :65 die  circa hora[m]  pervenit ad H hora 10. antem[eridiana] [am Mittwoch um die Stunde kommt der Mond zu einem Sextil mit dem Mars zur 10. Stunde vormittags] die  ad  hora 8 mat[utina] et # h[ora] 4 vespertina. [am Donnerstag zu einem Trigon mit dem Jupiter zur 8. Stunde morgens und zum Quadratschein mit dem Saturn zur 4. Stunde abends] die  mane ad  h[ora] 7 mat[utina] et h[ora] 7 vespertina ad #. [am Freitag morgen zu einem Trigon mit der Venus zur 7. Stunde morgens und zum Quadratschein mit dem Mars zur 7. Stunde nachmittags] die  ad # hora 10 vesper[tina]. [am Samstag zu einem Quadratschein mit Saturn zur 10. Stunde abends].66

Wendelin war nach Magirus’ Aufzeichnungen am 6. Dezember, dem Julianischen Kalender nach an einem Samstag, abends in einen Carus gefallen, der sich in der Nacht zum Sonntag zum einem Lethargus verschlimmert hatte.67 Mittels eines auf den Mond 62 S. z. B. UBM, Ms. 96, S. 253 (Mai (?) 1652  : Sohn des Kämmerers Möring)  : »1 dies  incidit, V dies erat secundus, dies  tertius, dies  quartus«. 63 S. Gindhart (2006), S. 168–70. 64 S. Strauß, Heinz Artur  : Der astrologische Gedanke in der deutschen Vergangenheit (München/Berlin 1926), S. 82–84  ; Kalff (2015), S. 143. 65 S. Kalff (2015), S. 145–46. 66 UBM, Ms. 96, S. 224 (6. Dez. 1651  : Ordinarius Wendelinus). In der ersten Zeile findet sich ein Schreibfehler  : Der genaue Zeitpunkt des Sextils (»um die Stunde X«) wurde erst vergessen und dann am Ende nachgetragen (»zur 10. Stunde vormittags«). 67 Nach damaliger Theorie ist unter einem Carus ein tiefer, jedoch fieberfreier Schlafzustand zu verstehen,

Methoden der Diagnostik

bezogenen Verlaufhoroskops68 waren für den Arzt nun günstige und ungünstige Behandlungszeiten zu erkennen, die zusammen mit der Lehre von den Krisentagen bestimmte Zeiträume für eine Therapie geradezu ausschlossen, da der Körper dann unter besonders ungünstigem Einfluß stehen würde. Eine Behandlung wäre für Wendelin zu den Zeitpunkten wirkungslos oder sogar verheerend gewesen, wenn die zwei gesundheitsschädlichsten Planeten, Mars und Saturn, in eine Quadratur mit dem Mond wanderten, der deren Wirkung noch verstärken konnte.69 Sie hätten so durch ihre Strahlenkräfte die Wirkung von Medikamenten neutralisieren oder verändern sowie das Verheilen von Wunden (z. B. nach einem Aderlaß) verhindern können. Durch dieses Wissen konnte Magirus bei allen Erkrankungen zusätzlich zu den Krisentagen auch diese verstärkenden oder abschwächenden Effekte durch Planeteneinflüsse auf die Stunde genau berechnen, dadurch Krisen im Krankheitsverlauf als Sonderzustände im Gegensatz zu gewöhnlicher (nur krisentagbedingter) Symptomatik differenzieren sowie seine Therapie auf eine optimale Wirksamkeit ausrichten. Wie wichtig ihm diese Verschränkung medizinischer Lehre mit astronomischer Berechnung war, wird auch dadurch deutlich, daß er bereits in seinem ersten, 1646 erschienenen Schreibkalender sogleich auf den großen Einfluß von Krisentagen und Aspekten zu sprechen kam  : Zudem wircket ein Aspect der Planeten (ohn den Mond) so viel als ein dies criticus oder Wechsel-Tag in den Kranckheiten, ist auch eben so in acht zu nehmen, und wenn die Kranckheit also beschaffen, daß man am wechelstage darff Artzney gebrauchen, so darff man es auch wol thun, wann ein starcker Aspect ist, sonsten nicht, welcher denn auch die Ursach, daß ich die Aspecten der Planeten so wol newe als alte fleissig auffgezeichnet habe.70

Im Gegensatz zu den Aufzeichnungen im Diarium spielt die Lehre von den Krisentagen in Bossens Ephemerides keine erkennbare Rolle, und dies nicht nur, da er die Iatromathematik an sich nicht praktizierte. Allenfalls anhand des Datums, das er im Fortgang der Behandlung bei jeder neuen Konsultation notierte, könnte man die Zahl der Krankheitstage ermitteln. Es ist aber unwahrscheinlich, daß die Datierung diesem Zweck diente, Krisentage zu bestimmen, da Bossen nur selten notierte, wie viele Tage vor Beginn der Behandlung der Patient erkrankt war, und zudem oft auch auf eine Datierung gänzlich verzichtete. Nur im Fall eines französischen Reisenden bemerkte er einmal, als sich der bei der der Patient zwar noch auf Reize reagiert, aber kaum mehr ansprechbar ist oder auch nur die Augen öffnet. Der Lethargus stellt hierzu die Steigerung dar  : eine schwere Schlafsucht, die mit Fieber einhergeht. Der krankhafte Schlafzwang ist deswegen sehr gefährlich, da damit einhergehend der natürliche Schlaf sowie seine regenerierende Wirkung völlig ausbleibt und sukzessive die Lebenskraft des Patienten schwindet  : s. Müller (1993), S. 249. 68 Zur speziellen Rolle des Mondes bei den kritischen Tagen s. Boll (1918), S. 55. 69 Zu den Bewertungen der Aspekte, d. h. der Planetenstellungen zueinander s. Boll (1918), S. 80–81  ; Müller-Jahncke (1985), S. 25. 70 Magirus, Johannes (1646a), Bl. E3v.

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Zustand des Patienten drastisch verschlechterte  : »das war vielleicht ein Krisentag (»erat forte dies criticus«) – denn sein Landsmann, Mons. Niclas Fontaine, konnte mir den Anfang der Krankheit nicht benennen.«71 Diese Bemerkung ist allerdings explikativer, nicht prognostischer Natur. Sie zeigt, daß auch Bossen mit dem – in der universitären Lehre als hippokratischem Standardwissen gelehrten – Konzept der Krisentage durchaus vertraut war  ; er wendete es nur einfach nicht an. Sein Desinteresse daran steht in völligem Gegensatz zu Magirus’ zeitintensivem Bemühen um prognostische Ergebnisse. Wie groß der Kontrast zwischen beiden Ärzten hinsichtlich ihres Krankheitsverständnisses war – Krankheit konnte entweder als punktuell, gegenwartsbezogen (Bossen) oder als durativ, in Zukunft (und Vergangenheit  !) hineinragend (Magirus) verstanden werden – wird im Folgenden noch deutlicher sichtbar werden. Magirus  : Eine zusätzliche Frage (oder  : »Seid Ihr zuvor schon einmal krank gewesen  ?«) Diese Frage gehört nicht zum Kanon der fünf hippokratischen Fragen, die Claudinus auflistete. Johannes Magirus schien sie jedoch für wichtig zu halten  : Während er durch die Frage nach der Anzahl der Krankheitstage unterschied, ob ein Patient schon länger krank war oder nicht und ob eine Krise drohte, fragte er nach einer Vorerkrankung (oder suchte sie aus seinen Aufzeichnungen heraus), um seine Diagnose akuter Erkrankungen auszudifferenzieren. So notierte er sich zu einem Patienten, den er offensichtlich bereits früher behandelt hatte  : »hat wieder die vorige alte kranckheit und hat beulen darzu bekommen.«72 Diese Feststellung einer erneut aufgetretenen, aber bereits früher erkannten Krankheit verkürzte den Diagnoseweg. Magirus musste nun primär analysieren, woher das zusätzliche Symptom rühren konnte, konnte sonst aber die frühere Behandlung – sofern erfolgreich – wiederholen, wie z. B. bei der folgenden Patientin  : »Sie leidet wieder an Herzpalpitation und Krämpfen, die sie [schon] gewohnt ist, und muß wieder etwas Sanftes zur Ausleitung der Materie bekommen und wieder zur Öffnung einen Zichorienextrakt […]«.73 Magirus verfuhr hier genauso, wie es auch ein Patient des Arztes Théodore Turquet de Mayerne (1573–1655) über dessen Vorgehen berichtete  : »His custom is to record in a book the diseases and remedies of all his patients if they be 71 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 155 (Nr. 203  : Mons. Pier le Clerq). 72 UBM, Ms. 96, S. 132 (31. Juli 1648  : Amtsbrauer von Spandau). Der Patient wurde zwischen September und November bereits zweimal von Magirus behandelt, wie die Patientenliste zu Beginn des Diarium belegt (hier Nr. 33 und 38), die damalige Diagnose war offensichtlich im verlorenen Diarium Nr. III verzeichnet. 73 UBM, Ms. 96, S. 283 (20. Jan. 1653  : Frau Bürgermeister Berg)  : »iterum in cordis palpitationes et convulsiones sibi consuetas. itaque iterum aliquid dandum pro purganda materia leniter et deinde iterum pro apertione extractum cichorii […].« Dieser Eintrag ist versehen mit dem Verweis »v[ide] f[olium] 276«  ; dort ist die erste Diagnose vermerkt (varia symptomata hypochondriaca et hysterica). Ebenso verfährt Magirus bei Generalkommissar Pfuhl, ebd., S. 3 (20. Nov. 1647)  : »klagt über engbrustigkeit. v[ide] de ipsius febri f[olium] 246 protoc[olli] No. III.«

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of difficulties, so that sending for his book he finds what he had done to her formerly, & thereupon prescribes ye same.«74 Nur wenige wiederkehrende Patienten zeigten nun exakt dieselben Symptome wie bei früheren Behandlungen. Entsprechend mußte nach deren Bericht eine Vorerkrankung in die Diagnose zwar einbezogen, aber um aktuelle Erkenntnisse ergänzt und diesbezüglich auch die Therapie modifiziert werden  : »vgl. mit den früheren Erkrankungen und schreibe davon ausgehend eine Therapie heraus« (»consule priores ipsius morbos et hinc curam excerpe«) schrieb sich Magirus bei einem Patienten mit sich ausbreitenden Schmerzen zur eigenen Erinnerung auf.75 Genauso konnte er im Fall des Magister Geisius verfahren, der von einer früheren Erkrankung einen dauerhaften Schaden davongetragen hatte. Dieser – eine dauerhafte Lähmung eines Armes – mußte zwar sorgfältig von den Symptomen der akuten Erkrankung geschieden werden, konnte aber angesichts der Ähnlichkeit der Symptome (u. a. Krämpfe) auch als Hinweis auf deren causa dienen  : »Ursache sind seröse Säfte«, konnte Magirus zu beidem, alter wie neuer Erkrankung, feststellen und so einen unmittelbaren Zusammenhang herstellen.76 Solche Vergleiche ermöglichten ihm auch, des Öfteren gleich zu Beginn der Anamnese einen Rückfall (»recidivus«/»recidiva«) zu diagnostizieren. Gerade bei nach damaligem Verständnis wandelbaren Krankheiten wie der Melancholie war es sehr wichtig, um frühere Erkrankungen zu wissen. Der Prediger Martin Quelmaltz hatte nach Auskunft seiner Angehörigen »in Bern an einem bösartigen Fieber mit Delirium« gelitten (»dicunt ipsum Bernae febri maligna et delirio laborasse«) sowie auch an einer Melancholie, zu der er »sehr zu neigen« schien (»videtur ad illam valde inclinare«). Diese Informationen waren wertvoll für den Arzt, der bei der gegenwärtigen Erkrankung damit zum einen schon einen Hinweis auf die mögliche causa morbi erhielt, zum anderen im Hinblick auf eine solche Neigung auch prophylaktisch behandeln konnte. Bei nicht ortsansässigen Patienten wie Quelmaltz, bei dem Magirus nicht auf eigene Aufzeichnungen zurückgreifen konnte, bestand zudem eine wertvolle Information darin, welche Therapie eines anderen Arztes bei einer früheren Erkrankung bereits angeschlagen hatte, wie z. B. ein Aderlaß (»venam aliquando secuit et inde melius habuit«).77 Nützlicher war es natürlich, den früheren Krankheitsverlauf nicht vom Patienten oder gar über Dritte zu erfahren, sondern ihn an diesem Patienten schon einmal mit eigenen Augen beobachtet zu haben  : »Ist ser geschwind den II. in eine kranckheit gefallen, hat erstlich frost bekommen, herauf eine continuierliche hits, fantasei, inappetentiam und durst, es ist ihm auch der schenkel braun ausgeschlagen sc. crisis scorbutica, welches sein gewohnheit wan er krank 74 S. Kap. 2.3.3. 75 UBM, Ms. 96, S. 125 (8. Mai 1648  : Jeremias Eger)  : Der Patient war bereits im Februar desselben Jahres wegen Schmerzen im Bauchraum (»dolores ventriculi«  : ebd., S. 90) in Behandlung, während er im Mai neben diesen zusätzlich Schmerzen im Rücken sowie stumpfen Mesenterialschmerz angab. 76 UBM, Ms. 96, S. 23 (November 1647  : M[agister] Geisius)  : »causa sunt humores serosi«. Zu dem dieser Diagnose zugrunde liegenden Konzept der serösen Säfte s. Kap. 4.2.1. 77 UBM, Ms. 96, S. 371 (Mai 1653  : Martin Quelmaltz).

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pflegt zu sein«.78 Aus mehreren Vorerkrankungen konnte dann unter Umständen sogar ein zur Prognostik nützliches Schema abgeleitet werden wie bei einer anderen Patientin  : »Wird sonsten alle 8 Tage krank, klaget alsdan übern Kopf, anitzo thun ihr die Zähne wehe«79 oder Prognosen zum wahrscheinlichen Verlauf der Therapie getroffen wie bei Generalkommissar Pfuhl, einem Skorbutkranken mit stets langsam verlaufendem Heilprozess (»regeneratione difficili scorbuticus«).80 Daß Erkrankungen einer Regelmäßigkeit unterliegen konnten, innerhalb derer sich dann auch Abweichungen manifestierten, ergab sich für Magirus wiederum selbstverständlich aus seinem auf der Astrologie basierenden Verständnis aller Körpervorgänge  : […] denn dieselbe [erg. Nativität][kann] nicht allein eine herrliche Harmoni [sic] der Geburtstunde mit der Empfängnus und der Todesstunde entdecken, sondern auch gar gute Nachricht von der Schwachheit und Stärcke der Naturen, von eines […] disposition zu dieser oder jener Kranckheit geben, ja auch wohl gar dieselbe Zeiten, wann eine alte Kranckheit den gebornen anfallen möchte […].81

Was uns heute selbstverständlich erscheint und aufgrund der lebensbegleitenden Dokumentation unserer Erkrankungen durch die moderne Medizin auch möglich ist – die Einbeziehung früherer Erkrankungen bei der Deutung einer gegenwärtigen – war zu Magirus’ Zeiten bei weitem nicht alltägliche medizinische Praxis. Johann Heinrich Bossen fragte in den zwei Jahren, die hier ausgewertet wurden, nie nach Vorerkrankungen. Seine Ephemerides enthalten zwar einige wenige Querverweise zwischen Patienten, die mehrfach in Behandlung waren, insgesamt aber schien für Bossen zu gelten  : Jede Erkrankung war keine neuerliche, sondern eine neue Erkrankung. Hierfür spricht auch, daß er nicht wie Magirus ein Register führte, um verschiedene Konsultationen unter einem Patientennamen zusammenzuführen. Magirus’ Fragepraxis ist somit auch in diesem Punkt von seinem ganz eigenen Krankheits- und Therapieverständnis geprägt. Bossen  : Eine zusätzliche Frage (oder  : »Habt Ihr bereits jemanden konsultiert  ?«) Auch diese Frage gehört nicht zur Pentade des hippokratischen Fragekanons. Sie war jedoch nicht unerheblich, denn nicht nur Unfälle und somatogene Erkrankungen bildeten das Behandlungsspektrum der Ärzte. Die Pluralität des Heilangebots in der Frühen Neu78 UBM, Ms. 96, S. 57 (13. Januar 1648  : Volrad Kresse). 79 UBM, Ms. 96, S. 104 (25. März 1648  : Anna DD Joh[…] (Name geschwärzt)). Einen einzigen Fall dieser Art verzeichnete Bossen auch, wobei es sich hier wohl eher um eine Patientenaussage (mit religiöser Konnotation  ?) als eine schlußfolgernde Beobachtung des Arztes handelte  : Ein 50-jähriger Mann bekam demnach immer um die Osterzeit arthritische Schmerzen  : SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 113 (Nr. 136  : D[omi]n[us]. Joh[annes] Meine). 80 UBM, Ms. 96, S. 164 (Januar 1649  : Generalkommissar Pfuhl). 81 Johannes Magirus (1661b), Bl. B2v.

Methoden der Diagnostik

zeit erlaubte es den Patienten, nach eigener Einschätzung die benötigte Behandlung bei dem Heilkundigen ihrer Wahl zu suchen, und nicht selten war das Scheitern der ersten (zweiten, dritten …) Wahl der Grund für das Aufsuchen des akademischen Arztes. Dieser war dann nicht selten mit iatrogenen Schäden konfrontiert, Beschwerden also, die sich (nach seiner Interpretation) aus vorhergehenden Behandlungen ableiteten. Da freilich Patienten, denen die Konsultation eines nichtakademischen Heilers zur Gesundung verholfen hatte, gewöhnlich gar nicht mehr in der Praxis des Arztes auftauchten, war das hier gewonnene, einseitige Bild von besagten Vorbehandlungen oft verheerend und Wasser auf die Mühlen ärztlicher Polemik gegen Pfuscher und Laienheiler. Hier ist es nun Heinrich Bossen, der eindringlich nachgefragt zu haben scheint, ob seine Patienten vorher schon andere Optionen genutzt hatten. Johannes Magirus dagegen klammerte dieses Thema komplett aus. Die jeweilige Erkrankung negativ beeinflussende Behandlungen durch nichtakademisches Heilpersonal gibt es in der Welt des Diarium nicht, eine Eigenbehandlung nur in einem einzigen Fall.82 Dies scheint zunächst überraschend, hatte Magirus sich doch in einem mehrteiligen Traktat in seinen Kalendern der üblichen Heiler- und Laienschelte angeschlossen.83 Daß er jedoch in seinen Aufzeichnungen auf dieses Thema nicht zu sprechen kam, unterstreicht zum einen den Ritualcharakter dieser Polemik, geht aber auch konform mit seinem entemotionalisierten Aufzeichnungsstil. Sofern er sie überhaupt erwähnte, anonymisierte er die Vorbehandlungen  : Frau Schardius in Berlin litt bei Behandlungsbeginn unter einer Gesichtsentzündung (φλόγωσις faciei), aber »sie hatte für [= vor  ; Anm. d. Verf.] diesem auch ein hitzge wuchlin gehabt quae scarificationibus et v[enae]s[e]ctionibus ablate[sic] sunt.«84 Von wem die »wuchlin« entfernt wurden, wird nicht mitgeteilt. Unter den wenigen dokumentierten Vorbehandlungen sticht nur eine hervor, bei dem die ausführende Person genannt wird  : Hier nahm der (namenlose) Hofchirurg einen Aderlaß vor.85 Es ist kaum vorstellbar, daß Magirus’ Patienten sich in Berlin und Zerbst des übrigen Angebots des medikalen Marktes nicht bedienten. Seine Aufzeichnungen legen eher nahe, daß er Vorbehandlungen nur aus zwei spezifischen Gründen aufnahm  : Entweder, wenn dabei für die aktuelle Erkrankung potentiell relevante Symptome erfasst werden konnten (z. B. entfernte »wuchlin«), oder eine Behandlung bereits (vergeblich) durchgeführt worden war, die der Arzt in dem jeweiligen Fall auch in Betracht gezogen hätte, und von der er nun Abstand nehmen und Alternativen suchen mußte. In Heinrich Bossens Aufzeichnungen dagegen zieht vor dem Auge des Lesers eine bunte Schar von Heilern vorüber  : alte Weiber, Empiriker, Chirurgen, Apotheker, Studenten … – nicht zu vergessen der unbenannte Verschreiber und seine nicht mehr fass82 S. UBM, Ms. 96, S. 292 (Feb. 1653  : des Herrn Superintendenten Magd)  ; s. hierzu Schlegelmilch (2011), S. 20. 83 S. Kap. 1.4.1  ; 2.2.2. 84 UBM, Ms. 96, S. 210 (Juli/Aug. 1651  : Schardia Berlinensis). 85 UBM, Ms. 96, S. 263 (Juni 1652  : der Ambtsschreiber von Roslau)  ; s. Schlegelmilch (2011), S. 19.

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baren Rezepturen  : »Sie /er hat ein Medikament eingenommen, ich weiß nicht, welches und woher« (»usus /usa est medicamento nescio quo aut unde accepto«), lautete Bossens Standardphrase, aus der deutlich wird, daß die Patienten nicht immer willig waren, ihm auf Nachfrage Auskunft über frühere Behandlungen zu erteilen, deren Spuren er jedoch deutlich zu erkennen vorgab.86 All dies verzeichnete er nicht einfach faktengebunden, vielmehr wird in seinen Formulierungen der Wille zur Abgrenzung deutlich spürbar  : Er notierte beispielsweise, der Patient Hans Schütz habe sich in die Behandlung irgendeines alten Weibes begeben (»se curae alicuius vetulae commisit«)  ; danach folgt die Standardphrase bzgl. des unbekannten Medikaments (»ich weiß nicht, welches«)  ; eindeutig lastete er schließlich den jetzigen Zustand des Kranken aber der alten Frau an  : »Sie hat den Mann in ein noch größeres Übel gestürzt« (»hominem in maius malum praecipitabat«).87 Auch der folgende Eintrag über einen einsichtigen Patienten ist geprägt von beruflichem Standesbewußtsein  : »Jener Koch namens Schroder aus der Vorstadt sah, daß sein Nachbar in Kürze genas und suchte mich auf  : Er wolle künftig die Medikamente der alten Weiber nicht mehr gebrauchen, von denen noch nie irgendeines geholfen habe.«88 Ähnlich negative Kommentare gab Bossen auch zu Eigenbehandlungen seiner Patienten  : Eine Frau mit einem Tumor an der Brust »hatte vielerlei Kühlendes aufgelegt, ohne einen Arzt zu konsultieren (»apponit multa frigida inconsulto medico«), »inter alia die Fußsohlen ihres mannes strümpfe«. Der Kommentar erfolgt wieder auf Latein  : »Es glauben nämlich die Weiblein (»mulierculae«), daß Heilmittel dieser Art mehr vermögen als hundert andere vom Apotheker geholte.«89 Solche Geschichten waren für Bossen als Arzt in den ersten Praxisjahren in höchstem Maße selbstaffirmierend, die verschriftlichte Abgrenzung von anderen, nicht-akademischen Heilern unterstützte die Konstruktion seines ärztlichen 86 Hatte er etwas herausfinden können, vermerkte er sogleich, wer der Übeltäter gewesen war, so z. B. im Fall eines empiricus – es war »der Zuckerbecker«  : SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 20 (Nr. 26  : Pistor [der Treppenbecker]). 87 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 147 (Nr. 145  : Hans Schütz der Ziegelmeister). 88 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 153 (Nr. 200  : Caupo ille suburbanus no[min]e Schroder). 89 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 121 (Nr. 150  : Uxor D[omi]n[i] Krauthaupts). An den Strümpfen sammelte sich der Schweiß besonders, da Menschen an den Füßen die stärkste Schweißabsonderung zeigten  : s. Stolberg (2012), S. 510. Die von der fiebernden Frau angewandte Maßnahme zeigt, daß die universitär gelehrte Physiologie als nur eine unter den zeitgenössischen Deutungen natürlicher Vorgänge gelten muß  : Nach dem Verständnis des Schweißes als »lunarischer« und damit kühlender Substanz, wie sie z. B. auch die Helmontianer vertraten, wäre das Auflegen der schweißgetränkten Strümpfe als Versuch einer Kühlung der Fiebernden zu verstehen  : s. Francisci Mercuris Freyherren von Helmont Paradoxal Discourse oder  : Ungemeine Meinungen von dem Macrocosmo und Microcosmo, das ist von der Grossen und kleinern Welt und derselben Vereinigung miteinander […]. Hamburg  : Gottfried Liebernickel 1691, Bl. N4a  : [da der Schweiß lunarisch, nächtlich und irdisch ist], »können wir selbiches […] wahrnehmen, daß der Schweiß, der von des Menschen Füssen durch den Mund eingenommen und hinunter geschlucket wird, die Schmerzen der Colic stillet, wie solches von einigen versuchet und gleich wie es allgemein bekannt ist, daß durch Aufflegung der Socken von einem Strumpffe versehrte Kehlen sind geheilet worden.«

Methoden der Diagnostik

Selbst. Für die einzelne Behandlung jedoch waren sie völlig irrelevant. Aus diesem Grund finden wir sie wohl auch nicht in Magirus’ Diarium. Doch nicht nur seine strikte Orientierung an Fakten machte für Magirus solche Notizen überflüssig, denn er hatte ja bereits seine Kalender als erfolgreiches und breitenwirksames Medium zur Publikation seiner Standesinteressen entdeckt.90 Claudins Frage 4  : Die Verdauung (oder  : »Leidet Ihr unter Verstopfung  ?«) Diese Frage betrifft den allen diagnostischen Überlegungen zu inneren Krankheiten zugrunde liegenden Prozess der »Verkochungen«. Daniel Sennert faßte in seinen Practica das Wesentliche hierzu in einem prägnanten Satz zusammen  : »Aus dem Essen wird im Magen der Nahrungsbrei  ; der im Magen hergestellte Nahrungsbrei wird durch die sogenannte Pfortenvene zu Leber und Milz transportiert, damit er dort in Blut, die Nahrung des gesamten Körpers, umgewandelt wird. Wenn sich bei diesen Verkochungen alles richtig verhält, ist dies zum Vorteil des ganzen Körpers.«91 War aber bereits die erste dieser Verkochungen im Magen, also die Verdauung, gestört, funktionierte schon die Ausscheidung der in diesem Schritt produzierten Abfallstoffe über den Darm nicht problemlos. Da auch die zweite Verkochung (in der Leber) aus dem vom Magen kommenden chylus (also dem Saft aus wertvollen Nahrungsbestandteilen) nicht nur Blut generierte, sondern wiederum auch zwei Abfallstoffe hervorbrachte, die der Körper über Magen und Darm ausleitete (gelbe und schwarze Galle), war ein harter und angespannter Unterleib ein untrügliches Zeichen für eine Störung der Verkochung. Aus dem hier nur denkbar kurz umrissenen Verständnis der Physiologie wird umso deutlicher, warum das Ziel der Diagnose, wie eingangs beschrieben, die Identifikation des principal-Glieds, also des Organs, sein mußte, das im Zusammenhang mit diesem so wichtigen Prozess der Verkochung nicht entsprechend funktionierte. Letztlich waren alle Symptome eines kranken Körpers, auch bei Diagnosen vor dem Hintergrund der Chymie (Salze und Schärfen),92 Symptome eines zu kalten oder zu heißen Körpers, was sich meist auch in einer gestörten Verdauung äußerte (hierzu gehörten im weiteren Sinne auch Symptome wie Appetitlosigkeit etc.).93 Sie verhinderte zugleich die Reinigung des Körpers von derjenigen schädlichen Materie, die sich durch die Fehlfunktion eines Organs bereits im Körper angesammelt hatte. Die Kontrolle der Ausscheidungsfähigkeit war damit das 90 S. Schlegelmilch (2012), bes. S. 403–05. 91 Sennert, Daniel (1650b), S. 984 (= Pract. Lib. III Part. V Sect. II Cap. II.: De subiecto & caussa [  !] Scorbuti)  : »E cibo in ventriculo chylus fit  : chylus in ventriculo elaboratus per venam portae dictam ad Epar, & Lienem deducitur, ut ibi in sanguinem totius corporis alimentum convertatur. In quibus sane coctionibus si omnia se recte habeant, id ex totius corporis commodo est.« Vgl. zu den Verkochungen  : Müller (1993), S. 48–55. 92 S. Kap. 4.2.3. 93 S. entsprechende Diagnosen in den consilia des italienischen Arztes Bernardo Trincavelli bei Stolberg (2014a), S. 640.

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Herzstück jeder ärztlichen Untersuchung. Sowohl Johannes Magirus wie auch Heinrich Bossen protokollierten regelmäßig, ob der »leib offen« (alvus aperta) oder blockiert (alvus obstructa) war, wobei die Frage oft von einem Ertasten des Befundes begleitet wurde (s. u.). Claudins Frage 5  : der Lebenswandel (oder  : »Lebt ihr gesund  ?«) Während die dritte Frage auf aktuelle Ereignisse ausgerichtet war, die die sex res non naturales betrafen und unmittelbarer Grund für die vorliegende Erkrankung sein konnten, zielte die fünfte Frage des hippokratischen Kanons eher auf verstetigtes Fehlverhalten. Hinsichtlich beider Fragen gilt für Magirus  : Sie scheinen ihn nicht in dem Ausmaß interessiert zu haben, daß er sie für aufschreibenswert hielt. Die Regeln der Diätetik waren ihm dabei durchaus vertraut, wie verschiedentlich zu sehen ist.94 Da sie aber dem Bereich der Prophylaxe zugeschrieben waren, stellten sie für Magirus, dessen selbsterklärtes Ziel das Sammeln von curationes, also erfolgreichen Therapien, war,95 im Rahmen einer akuten Erkrankung kein relevantes Thema dar. Er mag immerhin diätetische Empfehlungen für die Zeit nach einer Gesundung ausgesprochen haben, wie die Leichenpredigt seines Patienten Marcus Friedrich Wendelin nahelegt  : […] darüber er [= Wendelin] denn den schluß also bei sich gemacht gehabt, daß derselbe anstoß gleichsam ein vorbot gewesen seiner bevorstehenden auflösung weswegen er sich umb weltliche dinge nicht vielmehr bekümmert, sondern nebst verrichtung seines ambts, welches er auch ungeachtet der vom H. Medico geschehenen verwarnung nicht verseumen wollen, mehrenteils mit Geistlichen und Sterbensgedancken umbgangen […]96

Magirus hatte Wendelin angesichts der dauerhaften Schäden, die er von seinem carus bzw. lethargus (s. o.) zurückbehalten hatte, also vermutlich geraten, seine Verpflichtungen als Rektor des Zerbster Gymnasiums aufzugeben oder zumindest einzuschränken. Diese (recht allgemeine) Empfehlung ist bei der entsprechenden Fallbeschreibung im Diarium aber nicht vermerkt, sondern taucht nur in der Leichenpredigt auf, um dem Arzt coram publico die sorgfältige Erfüllung seiner Fürsorgepflicht gegenüber dem Patienten zu be94 Es findet sich im Diarium eine Liste mit Buchexzerpten zu unverdaulichen Speisen, die Magirus wohl für einen Diätplan für einen Markgrafen von Brandenburg zusammengestellt hat  ; es handelt sich dabei aber nicht um eine konkrete Behandlung, da keine Anamnese notiert ist  : UBM, Ms. 96, S. 458–59 (März 1654  : Marchio Brandenburgensis). Daß er in der Lage war, solche regimina für privilegierte Kunden zu verfassen, beweisen auch die 95 Thesen zur Wirkung bestimmter Lebensmittel, die er als Professor in Marburg verteidigen ließ  : s. Schlegelmilch (2016a), S. 170  ; 173–74. 95 S. Kap. 1.1.1. 96 Cremerus, Johannes (1652), Bl. R2a. Nach Magirus’ Behandlung im Dezember 1651 (s. Abb. 12) erlitt Wendelin im Juli des darauffolgenden Jahres einen Rückfall. Er litt danach an Gedächtnisschwäche, Wetterfühligkeit und Gehbeschwerden (so die Leichenpredigt) und starb im selben Jahr  : UBM, Ms. 96 (S. 266, Die Lunae post III. Trinitatis 1652  : Marcus Friedrich Wendelin).

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scheinigen. Ähnliches ist zu beobachten im Fall des Grafen von Barby  :97 Magirus benutzte diesen Fall fast zwei Jahrzehnte später als ein Exempel für Fehlernährung im Kontext eines Kalendertextes, in dem er über den Gebrauch von Gewürzen und deren potentielle Schädlichkeit schrieb. Zur Autorisierung seiner Aussagen berief er sich zum einen (einmal mehr) auf Daniel Sennert, »unseren ersten Lehrer in der Artzneykunst«, andererseits auf eigene experientia, denn nach seiner Darstellung war im Fall seines (hier nicht namentlich genannten) Patienten genau das aufgetreten, was Sennert als Folge gewürzter Speisen und Weingenusses beschrieben hatte  : Und habe ich selbsten einen fürnemen Grafen Anno 1651. in der Cur gehabt, welcher sich vieles Gewürtzes und hitziger Weine gebraucht  ; derselbe bekam einen schwartzen Durchbruch, daraus endlich die rohte Ruhr ward, und blieb auff dem Nachtstuhl steiff sitzen  ; ich ließ ihn balde ins Bette bringen und labete ihn widerumb, daß er sich noch ein wenig mit dem Prediger besprechen konte, aber es währete nicht lange, so rührete ihn der Schlag, und blieb tod. Ein Herr von grossen Qualitäten, und den nebenst mir, viel fürnehme Leute beklaget haben.98

In den zugehörigen Aufzeichnungen im Diarium wird bei präziser Verzeichnung des Krankheitsprozesses sowie der diagnostischen und therapeutischen Vorgehensweise bei diesem Fall als Todesursache schließlich ein geschädigter Darm genannt, aus dem eine Apoplexie resultierte.99 Gewürze und Wein als krankheitsauslösende Fehlernährung finden dagegen keinerlei Erwähnung. Daß diese Diskrepanz zwischen dem, was einem Publikum als Kausalität erklärt wird, und dem, was der Arzt sich selbst als wesentlich notiert, bei Magirus gleich wiederholt sichtbar wird, deutet auf ein Phänomen, das bereits Brian Nance für Théodore Turquet de Mayerne (1573–1655) und Michael Stolberg für Georg Handsch (1529–1578  ?) beobachtet haben  : Ärzte begründeten gegenüber verschiedenen Adressaten Krankheiten verschieden.100 In Magirus’ Fall scheint es für die öffentliche Selbstdarstellung wichtig gewesen zu sein, die sex res non naturales und im Zusammenhang damit einen unmäßigen Lebensstil als Krankheitsursache zu benennen – nicht nur um als Verfasser von Diätplänen, regimina, glaubhaft zu sein (und sie verkaufen zu können), sondern auch, weil es sich um ein von seinen Patienten akzeptiertes und von ärztlicher Seite erwartetes sinnstiftendes Konzept handelte. Daß Magirus nichts von all dem in sein privates Notizbuch übernahm, wenn er über Diagnose und Therapie nachsann, blieb sein wohlgehütetes Geheimnis.

 97 S. Kap. 2.2.3  ; 2.3.3.  98 Magirus, Johannes (1669a), Bl. B2r–B3r.  99 UBM, Ms. 96, S. 197–201 (17. März – 19. April 1651  : Illustriss[imus] comes de Barby)  : […] apoplexia […] sine ex corru[p]to ileo sine dubio ortum habens.« 100 S. Nance (2011), bes. S. 421  ; 428–29  ; Stolberg (2015b), S. 77–78.

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Auch Heinrich Bossen verzeichnet keine diesbezüglichen Empfehlungen, noch kommt er jemals im Behandlungsverlauf noch einmal auf die Diätetik zu sprechen, wenn er spezifische Auskünfte dazu bereits während der Anamnese erhalten hat. Die nach Claudin abschließend zu stellende fünfte Frage schien in der Praxis mit der zweiten zusammenzufallen  : Dies ist bei der thematischen Ähnlichkeit nicht verwunderlich, illustriert aber, wie die Lehrwerke oft künstliche Ordnungen aufstellten bzw. aus Respekt vor den akzeptierten Autoritäten beibehielten, die im Alltag einfach nicht »praktisch« waren. Resümee  : Die Anamnese in der täglichen Praxis Bereits in ihrem jeweiligen Vorgehen beim Sammeln diagnostisch relevanter Informationen im Patientengespräch unterschieden sich die beiden Ärzte deutlich. Daß Bossens Aufzeichnungen ausführlicher sind und des Öfteren den Eindruck vermitteln, er habe noch nicht recht zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden gewußt, darf als charakteristisch für Manuskripte von Studenten und Berufsanfängern gelten.101 Dem läßt sich auch sein Versuch zuordnen, sich durch das vielfache Aufzeichnen und auch Werten von Fremdbehandlungen seines eigenen Arzt-Seins zu versichern.102 Nicht alle Unterschiede zu Magirus lassen sich jedoch allein auf Bossens erst im Entstehen begriffenes professionelles Selbstbewußtsein zurückführen. Die Auskünfte medizinischer Laien wie von Verwandten und Freunden des Erkrankten in die Untersuchung miteinzubeziehen, wie Bossen es tat, empfahl auch das normative Lehrbuch. Magirus entschied sich jedoch dagegen und stellte dementsprechende Fragen nicht (oder verzichtete auf das Niederschreiben des Gehörten), ebenso wie er einen wesentlichen Bestandteil des humoralpathologischen Verständnisses der Krankheitsgenese – die Frage nach den sex res non naturales – aus dem diagnostischen Prozess ausklammerte. In diesem Nicht-Praktizieren konstituierte sich Magirus’ ärztliche Praxis ebenso wie in der Entwicklung zusätzlicher Frageraster, die sich aus seinem spezifischen Krankheitsverständnis und dem damit gekoppelten Wissensbedarf ergaben. Seine persönliche Fragepraxis folgte zwei Postulaten  : der Priorität von erfahrbaren Symptomen (vom Patienten berichtet oder durch Autopsie erfahren, s. u.) sowie der Signifikanz einer zeitlich erweiterten Dimension von Krankheit. 101 Zu sehen ist dies z. B. auch bei den Aufzeichnungen von Georg Handsch  : s. Stolberg (2013b), S. 492. 102 Nach Reckwitz (2003), S. 296 wäre Bossens Dokumentationspraxis in diesem Punkt – der Selbstbestätigung durch eine vermeintlich überlegene Abgrenzung von anderen – als eine der sozialen Praktiken zu verstehen, die »zugehörige Eigenschaften von subjektiver ›Innerlichkeit‹ und ›Konstanz‹ produzieren«  : » Die angebliche Universalie des sich selbst reflektierenden Subjekts wird praxeologisch aufgelöst in historisch-spezifische Praxiskomplexe, etwa in die der protestantischen oder bürgerlichen Selbstbefragung über Tagebücher, angeleitet von einem Code der Gewissenserforschung und Selbstverbesserung, oder in die der hochmodernen biographischen Selbstverbesserung, die durch die Notwendigkeit des ›story telling‹ über das eigene Ich im Beruf, in der Partnerschaft etc. induziert wird.«

Methoden der Diagnostik

3.2.2 Das Betrachten des Körpers

Die Theorie der Humoralpathologie basierte wesentlich auf der sinnlichen Erfahrbarkeit der Krankheitszustände, wie sie bereits Aristoteles charakterisiert hatte.103 Dies galt im gleichen Maße für den Patienten wie für den Arzt. Geschärfte Sinne waren dessen diagnostisches Werkzeug  ;104 Giovanni Michele Savonarola (1384–1464) bezeichnete einen guten Arzt sogar als einen artifex sensualis, als einen Künstler hinsichtlich seiner Sinne.105 Das sah Johannes Magirus ganz genauso  : Hierzu [zur Diagnose, Erg. d. Verf.] bedarff man nun etliche gewisse Zeichen, welche man [sic] von unsern fünff Sinnen begriffen werden, und uns die verborgene Kranckheiten, nebenst ihren Ursachen andeuten, oder uns auch weisen, was es mit dem Patienten für einen Zustand haben werde.106

Neben einer mitunter geradezu maieutischen Gesprächsführung bestand also eine wesentliche Fähigkeit jeden Arztes u.a. im präzisen ärztlichen Blick. Giovanni Battista da Monte (1498–1551) lehrte seine Studenten sogar, daß es nötig sei, den Patienten gründlich zu betrachten, bevor man ihm eine Menge Fragen stellte (was er in der Praxis aber auch nicht tat).107 Wie es der Befund des Diarium nahelegt – sofern die Notizen noch die tatsächliche Abfolge des Geschehens wiedergeben –, betrachteten die Ärzte den Körper nach dem Gespräch mit dem Patienten. »Die Hände plastern sich ab als handschuch«, nahm Magirus dabei zu einer Patientin auf, deren Haut sich an den Händen offensichtlich in großen Partien abschälte.108 Solche und ähnliche Veränderungen des Körperäußeren, die der Arzt im Gegensatz zu denen im Körperinneren selbst in Augenschein nehmen konnte, konnten Indizien für bestimmte Erkrankungen darstellen  : Eine Atrophie veränderte bspw. die Farbe der Lippen.109 Wenn Magirus den Körper seiner Patienten begutachtete, inspizierte er jedoch nicht nur, wie im Folgenden noch beschrieben, die Haut, sondern auch die Mundhöhle – zu den Veränderungen gehörten hier bspw. »blattern auf die zungen« –, Geschwulste an Gaumen und Zunge (»ulceribus palati et linguae laborabat«) oder Zahnfleischbluten (»sanguinolenta gingiva«).110 Es konnten sich auch ganze Körperteile 103 S. Böhme/Böhme (2010), S. 116. 104 S. auch Bylebyl (22004), S. 47  ; 53. 105 S. Crisciani (2005), S. 301. 106 Magirus, Johannes (1649b), Bl. B1v. 107 Bylebyl (22004), S. 53  ; 59. 108 UBM, Ms. 96, S. 39 (Dez. 1647  : Jungfer Jülowin). 109 UBM, Ms. 96, S. 59 (Jan. 1648  : des herrn Inspectoris seine frau von Spandow)  : »atrophia, unde color labiorum«  ; s. auch da Montes Beobachtung zum Zusammenhang zwischen Körperfarbe und -funktionen  : Bylebyl (22004), S. 47. 110 UBM, Ms. 96, S. 60 (Jan. 1648  : herrn pastor von Bützow [coniunx ipsius])  ; ebd., S. 71 (2. Feb. 1648  : Crellii Affinis)  ; ebd., S. 243 (8.5.1652  : M. Bernstein).

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auffällig verändern, wie bei Richter Cupelman, dem beide Füße insgesamt anschwollen und – ein seltener Beleg, daß auch die olfaktorische Wahrnehmung eine Rolle spielte – ziemlich beißend rochen.111 Die Haut als Projektionsfläche der sich im Körperinneren bewegenden Säfte war für den Arzt, nicht nur was erfühlbare Temperaturveränderungen anging, ein wichtiges Medium der Diagnose.112 Zeichneten sich auf der Haut sichtbare Veränderungen ab, so waren diese Manifestationen darunterliegender Prozesse, wie auch Sennert lehrte  : »Farben, Gerüche und ähnliche Qualitäten werden dem Körper von den Säften übermittelt.«113 Der Arzt mußte versuchen, dieser außer Kontrolle geratenen Säfte Herr zu werden, nicht nur, indem er das Prinzipal-Organ heilte, das die Genese der schlechten Materie verursachte, sondern indem er auch die schädliche Substanz, die sich bereits im Körper, v. a. in dem Zwischenraum zwischen Fleisch und Haut,114 angesammelt hatte, über die Barriere der Haut hinweg austrieb (z. B. durch schweißtreibende Mittel) oder -zog (z. B. durch Aderlaß, Skarifikation, Ziehpflaster etc.).115 Zuvor mußte jedoch das Krankheitsbild erst einmal bestimmt sein, und hierfür war genaue Beobachtung vonnöten. Während dermatologische Fachbücher sich heutzutage oft der Abbildung von Hautveränderungen in Vielfachvergrößerung bedienen, um eine Unterscheidung der Krankheitsbilder zu ermöglichen, mußten sich die Ärzte der Frühen Neuzeit größtenteils auf die bildhaften Beschreibungen ihrer (nicht illustrierten) Fachliteratur verlassen, die Form und Farbe der Veränderungen anführte. Magirus bediente sich hier, auffällig oft in deutscher Sprache, lebensweltlicher Vergleiche, um den optischen Eindruck schriftlich fixieren zu können  : Seine »Mume« hatte demnach »blasen wie haselnüsse«.116 Heinrich Bossen beschrieb fasziniert die Steine, die ein Chirurg bei einem Patienten entfernt hatte  : »Sie waren gleich wie Klippen anzusehen, ein steinichen über das andere gewachsen, und gaben einen glantz von sich«.117 Auf die gleiche Weise versuchten auch die Fachautoren, Anschau111 UBM, Ms. 96, S. 207 (10.1.1652  : herr richter Cypelman)  : »uterque pes intumuit, ut olet acerbius«  ; vgl. da Montes Aussage zur Bedeutung des Geruchs bei der Diagnose, in Übersetzung zitiert bei Bylebyl (22004), S. 47. 112 S. Stolberg (2003), S. 144–50. 113 Sennert, Daniel (1650a), S. 519 (= Inst. Lib. III. Part. II. Cap. III  : De signis morborum)  : »Colores enim, odores & similes qualitates corporis ab humoribus communicantur.« 114 Zu dieser zeitgenössischen Vorstellung s. Stolberg (2012), S. 513. 115 S. Schönfeld, W.: Die Haut als Ausgang der Behandlung, Verhütung und Erkennung fernörtlicher Leiden, in  : Sudhoffs Archiv fur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 36 (1943) 43–89, hier S. 44  ; Duden (1991), S. 142–44. 116 UBM, Ms. 96, S. 130 (Juli 1648  : des herrn Inspectoris zu Frankfurt frau, meine mume). Das Sprechen in lebensweltlich bezogenen Vergleichen und Metaphern ist auch bei anderen Ärzten, die ihre Aufzeichnungen auf Latein verfassten, oft in der Muttersprache zu finden  ; dies gilt vor allem, wenn es sich bei den Bildern um Äußerungen der Patienten selbst handelt, die die Ärzte, anders als geschilderte Symptome, explizit nicht ins Lateinische übersetzten  : s. z. B. Kinzelbach/Grosser u. a. (2016), S. 179. 117 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 106 (Nr. 126  : Dn. Wolfgangus Schlefer).

Methoden der Diagnostik

lichkeit zu erreichen  : So beschrieb Sennert die von Magirus des Öfteren notierten Skorbutflecken als »den Flohbissen nicht unähnlich« (»similes illis quae a pulicum morsibus relinquuntur«),118 wobei sie anfangs rötlich seien, dann dunkler würden und schließlich zu Schwarz tendierten. Wenn Magirus’ Schulkollege Stürmer also einen Hautausschlag mit roten skorbutischen (d. h. flohbissartigen) Flecken aufwies (»scatebat maculis rubris scorbuticis«),119 konnte Magirus aus der Farbe erschließen, daß der Patient sich noch im Anfangsstadium des Skorbut befand. Bei dem Patienten Hacke mußte es sich dagegen um etwas anderes handeln, breitete sich doch ganz plötzlich ein einzelner schwarzer Fleck über dessen Fuß aus (»macula nigra invasit pedem«).120 »Um Augen, Stirn und Nacken herum viele rote Flecken, zum Bläulichen tendierend«, notierte dann wieder Johann Heinrich Bossen zu einer Patientin121 – nicht nur die Farbe, sondern auch die Lokalisation der Hautveränderung war ein wichtiger Hinweis für die Diagnose. Magirus’ eigene Frau klagte über rote Flecken sowie Tuberkel »wie Senfkörner« an den Füßen, während ein Herr Horst Flecken am Nacken aufwies  :122 Bei ihm hatten sich nach zeitgenössischer Auffassung im Kopfbereich seröse Säfte gesammelt (daher sein Kopfweh),123 während sie bei ihr nach unten gewandert waren und der Körper offenbar versuchte, sie an den Füßen auszuscheiden. Magirus versuchte in solchen Fällen, die lokal sichtbar gewordene Schadmaterie unter der Haut hervorzuholen. Die Schneiderin in der Rosstraße »bekahm die rose unter das Gesicht«  ; er verordnete daraufhin schweißtreibende Mittel (»sudorifera et diaphoretica«) und stellte dann zufrieden fest  : »Darauf ist sie besser herauskommen und öffnet sich an der brust und an der backen«.124 Es war ihm seiner Ansicht nach gelungen, den unter der Haut sitzenden Giftstoffen eine größere Austrittsfläche zu verschaffen. Gelang dies jedoch nicht rechtzeitig, war der Arzt mit der nächsten Entwicklungsstufe gestauter Säfte konfrontiert, die nicht den Weg aus dem Körper gefunden hatten  : deutlich sichtbaren Geschwulsten und Abszessen. Hier mußte er anhand des Erscheinungsbildes entscheiden, ob es noch möglich war, dem Vorgefundenen mit Medikamenten zu begegnen oder einen Chirurgen hinzuzuziehen. Ersteres war nämlich auch möglich und besonders bei Geschwulstbildung an sensiblen Stellen empfohlen  : Deswegen verschrieb Magirus einem Schusterjungen mit Geschwulsten im Genitalbereich

118 Sennert, Daniel (1650b), S. 997 (= Pract. Lib. III, Part. V Cap. IV  : De Signis Scorbuti, ac de Morbis & Symptomatibus, quae Scorbutum comitantur). Denselben der Erfahrungswelt aller Patienten zugänglichen Vergleich benutzte auch der englische Arzt Thomas Sydenham  : cf. Hess (1993), S. 29. 119 UBM, Ms. 96, S. 269 (Aug./Sept. 1652  : Herr Stürmer collega scholae ducalis). 120 UBM, Ms. 96, S. 49 (26. Okt. 1647  : Hacke in der rosstraßen). 121 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 33 (Nr. 27  : Nobilissimus Heinrich Adrian von Veltheim)  : »circa oculos, frontem, collum maculae multae rubrae in lividum vergentes«. 122 UBM, Ms. 96, S. 369 (März/Apr. 1653  : Coniunx mea)  ; ebd., S. 392 (April 1653  : Herr Horst). 123 S. Sennert, Daniel (1650b), S. 295 (= Pract. Lib. I Part. I Cap. XI  : De intemperie Capit[is] cum Humore Seroso). 124 UBM, Ms. 96, S. 48 (26. Okt. 1647  : Schneiderin in der rosstraßen).

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(»vorn am gemächte und in praeputio wie auch in glande«), Kampfer aufzulegen statt eine chirurgische Lösung zu wählen. 125 Irritierenderweise spielte, wenigstens nach den Aufzeichnungen des Diarium, für Magirus das Äußere der Kranken an sich (habitus) keine Rolle, von dem er doch selbst in seinen Kollegankündigungen als von einem wichtigen diagnostischen Mittel sprach,126 das auch der Forschung als charakteristisches Element des frühneuzeitlichen Körperverständnisses gilt127 und das im 17. Jahrhundert im Wissen der galanten Hofkultur um die eloquentia corporis, die wahre Sprache des Körpers, Berührungspunkte fand.128 Heinrich Bossens Aufzeichnungen gehen darauf ausführlich ein  : Patienten werden hier z. B. als hochgewachsen (»procerae staturae«), abgemagert (»macilenti corporis«) oder auch einfach nur »jämmerlich anzuschauen« (»miserabile visu«) beschrieben. Wichtiger noch  : Ihr Aussehen wird in Beziehung zur Temperamentenlehre gesetzt, nach der Menschen von bestimmtem Temperament (Säftetypen wie Choleriker, Phlegmatiker etc.) oft durch einen spezifischen Körperbau, Haarfarbe etc. gekennzeichnet waren  :129 So war z. B. der Student Fleischer von gallig-melancholischem Temperament mit dunklerer Hautfarbe und schwarzem Haar.130 Mitunter notierte Bossen gleich den Schluß all seiner Beobachtungen, also das festgestellte temperamentum, dann wieder nur Einzelinformationen, wie daß ein Mann ziemlich breit und dick (»quadrati corporis«) war, was als Kennzeichen des Sanguinikers galt. Da das jeweilige Temperament auf eine bestimmte Disposition des Körpers hinsichtlich seines Säftehaushaltes und damit auch auf dessen Schwachstellen verwies, war es sowohl in Bezug auf Diagnose wie Therapiewahl für galenische Ärzte zielführend, es im Rahmen einer vollständigen Anamnese zu bestimmen. Ein gutes Beispiel hierfür bietet wieder Théodore Turquet de Mayerne, der das Temperament seiner einzelnen Patienten mit großer Sorgfalt bestimmte, wie seine Ephemerides belegen.131 Magirus beschäftigte sich mit dem Temperament ausschließlich im Kontext der Astro­ logie,132 da er es durch die Planetenkonstellation der Geburtsstunde geprägt sah, und 125 UBM, Ms. 96, S. 51 (Ende Dez. 1647  : Schusterjunge). 126 Magirus, Johannes (KB4), Bl. A4r  : »[…] [studiosus] morbos morbosorum ex habitu, urina, pulsu viventium judicat, dignoscit […].« 127 Vgl. Jütte (1991), S. 111  ; Bylebyl (22004), S. 42  ; Stolberg (2003), S. 118–19 und (2013a), S. 92– 93. 128 Košenina, Alexander  : Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ›eloquentia corporis‹ im 18. Jahrhundert (Tübingen 1995), S. 66. 129 S. Maclean, Ian  : The Logic of Physiognomony in Late Renaissance, in  : Early Science and Medicine 16/4 (2011) 275–297, hier S. 277–78  ; zur Verbreitung physiognomischer Konzepte in der Frühen Neuzeit auch jenseits der Medizin s. Porter, Martin  : Windows of the Soul. The Art of Physiognomy in European Culture 1470–1780 (Oxford 2005), S. 110–15. 130 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 23 (Nr. 19  : Studiosus quidam Borussus [Fleischer]). 131 S. Nance (2001), S. 75–76  ; 85–103. 132 Auch in Magirus’ Kalendertexten wird die Wichtigkeit des Temperaments zwar betont  : s. Magirus, Johannes (1649b), Bl. C2v  : »[…] medicamenta, die er [= der Arzt] dann nicht eher gebrauchet, Er

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erwähnte es im Diarium dementsprechend auch nur im Kontext einer Horoskopskizze.133 In den Fallgeschichten des Arztes Pieter van Foreest (1521–1597) findet sich allerdings, auch ohne iatromathematischen Hintergrund, bereits das gleiche Phänomen  ; auch bei ihm sind Angaben zum Temperament seiner Patienten knapp oder gar nicht vorhanden. Dies wurde von der Forschung darauf zurückgeführt, daß die Bestimmung des Temperaments aus den sichtbaren Körpermerkmalen ein in der Praxis sehr langwieriger und schwieriger Prozeß war, also nicht ohne Weiteres praktikabel.134 Johann Heinrich Bossen zog daraus für sich offensichtlich den Schluß, den im Alltag tauglichen Weg einer vereinfachten, in vertretbarem Ausmaß unscharfen Blickdiagnose zu wählen. Für Johannes Magirus in seinem steten Präzisionsbestreben war das Aussehen dagegen kein ausreichend exakter Indikator, er »errechnete« das Temperament vorzugsweise iatromathematisch, weil er es nur so als exakt bestimmbar verstand  ; dementsprechend seltener diagnostizierte er es aber auch. Festzuhalten bleibt, daß in diesem Punkt erneut eine erkennbare Diskrepanz der Aufzeichnungen des Diarium zu Bossens Ephemerides besteht. 3.2.3 Das Befühlen des Körpers

Das Klischee des frühneuzeitlichen Arztes zeigt ihn köperfern  : Er diagnostizierte demnach allein auf der Basis seines Buchwissens, betrachtete mit distanziertem Interesse und mit Hilfe seiner Konkordanzen die Ausscheidungen seines Patienten und berührte diesen höchstens, um den Puls zu fühlen.135 Wie hartnäckig sich dieses Bild auch in neueren Studien noch hält, zeigt Marco Bresadolas Bewertung des italienischen Arztes Marcello Malpighi (1628–1694)  : »[…] Malpighi attended to patients both at the the bedside and by post. These two activities did not differ essentially in Malpighi’s time, as in both cases they were based on the illness narrative made by the patient or his or her intermediaries, habe dann 1. die Kräffte […] 2. Die Constitution und das temperament seines Patienten, wol betrachtet, ob er hitziger oder kalter, Sanguinischer oder Phlegmatischer, Cholerischer oder Melancholischer Constitution sey, denn alle temperamenta leiden nicht iedwedes medicament«  ; dies geschieht aber wiederum meist mit Bezug auf das Horoskopstellen (»ein Thema aufrichten«)  : s. (1647b), Bl. B2v–B3r  : »Christliche Astrologi […] nehmen zwar die Geburtsstunde eines Gebohrnen und richten ein Thema darüber auff, judiciren aber aus demselben nichts anders, als was aus des Gebohrnen temparement entspringen kan […], Und zwar erstlich erkundigen sie des Gebohrnen Complexion und temperament, ob er sanguinisch, Cholerisch oder Phlegmatisch«. 133 S. Kap. 1.4.2. 134 S. Müller (1991), S. 142. 135 S. z. B. Gentilcore (1998), S. 58  : »At the bedside of the patient, in consultations and prescriptions, physicians wrote in Latin and gave orders, which were carried out by their lesser colleagues, the surgeons and apothecaries. Physicians were specialists of inner medicine, but avoided all manual activities.« Kalff (2014), S. 139 spricht den Ärzten sogar ein primäres Interesse an der Therapie ab  : »Im Unterschied zur modernen Medizin basierte die frühneuzeitliche ärztliche Praxis allgemein auf einem semiotischen Verfahren der Interpretation von Krankheitszeichen. Zweck der hermeneutischen Übung war weniger die Krankheitstherapie denn die korrekte Prognose und Diagnose.«

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rather than on a physical examination performed by the physician.«136 Jerome Bylebyl dagegen arbeitete bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten anhand der gedruckten Consultationes medicae des Giovanni Battista da Monte (1498–1551) heraus, daß dieser seine Studenten beim bedside teaching das Befühlen des Patienten lehrte.137 Brian Nance konnte zeigen, daß Théodore Turquet de Mayerne seine Patienten ebenfalls berührte, und dies nicht nur, um deren Körpertemperatur zu spüren  ; er tastete sie auch ab, um Verhärtungen oder Tumoren beurteilen zu können.138 Nance forderte in diesem Zusammenhang ein Umdenken, was das Bild des körperfernen Arztes angeht, das die ältere Forschung konstruiert und tradiert hatte  ; Michael Stolbergs Auswertungen von Quellen in breiter Streuung haben es zuletzt endgültig obsolet gemacht.139 Aus der Alltagslogik heraus betrachtet ist die Tatsache, daß frühneuzeitliche Ärzte ihre Patienten auch anfaßten, eigentlich wenig überraschend. Denn stellt man sich – auch bei der Lektüre gedruckter Fallgeschichten – die Frage, woher die Ärzte von bestimmten Symptomen überhaupt wissen konnten, auf denen sie ihre Diagnose gründeten, so liegt es nahe, daß sie ihre Patienten berührt haben mußten. Das Befühlen/Abtasten des Körpers gehört jedoch zu den eingangs erwähnten »verborgenen« Praktiken. Magirus mußte sich durch seine Aufzeichnungen nicht selbst erklären, daß – und wie – er seine Hand auf eine bestimmte Stelle gelegt hatte, er tat dies schließlich täglich.140 Seine Handlungen müssen aus den notierten Befunden herausgefiltert werden  : Deutliche Hinweise sind erfühlbare Qualitäten wie z. B. »hart« und »weich«, »warm« und »kalt«. Der Sohn eines Schwertfegers hatte demnach »harte skorbutische Tumoren an den Füßen« (»tumores scorbuticos duros pedum«),141 während einem anderen Patienten dort eine ziemlich heiße Flüssigkeit herauslief (»humores serosi calidiores e pedibus effluentes«), die auf erhitztes und verbranntes Blut schließen ließ.142 Urteile wie »eine erhitzte (Haut-)Oberfläche« (»facies calida«) oder »natürliche« und »geringe« Wärme (»calor naturalis«/»calor mitis«) deuten ebenfalls auf ein Fühlen der Temperatur. Nicht nur der Unterleib, der des Öfteren als »hart« beschrieben wird (»alvus dura«), sondern auch andere schmerzende Stellen mußten mitunter zur 136 Bresadola (2011), S. 204. Auch Bresadola trifft Aussagen über den ärztlichen Alltag anhand gedruckter, d. h. spezifischen Narrativen der zeitgenössischen Literatur verpflichteter Quellen, ohne sich deren literarischer Natur bewußt zu sein  ; entsprechend konzentriert er sich bei der Beschreibung der therapeutischen Praxis Malpighis auch auf dessen theoretische Konzepte, wie sie in gedruckten Briefbänden gewöhnlich gezielt als Beitrag zum zeitgenössischen Diskurs verbreitet wurden  : s. ebd., S. 212–17. 137 S. Bylebyl (22004), S. 46  ; 55 (Erstabdruck 1993). 138 S. Nance (2001), S. 76–78  ; Nance bringt sogar die Möglichkeit ins Spiel, daß der Tisch mit dem Bücherregal davor, den einer von Mayernes Patienten beschrieb (s. Kap. 2.3.3), eine Untersuchungstisch gewesen sein könnte  : ebd., S. 78. 139 S. Stolberg (2013a), S. 93–94. 140 Zu »inkorporiertem praktischen Wissen« s. Reckwitz (2003), S. 294. 141 UBM, Ms. 96, S. 51 (Dez. 1647  : Sohn des Schwertfegers). 142 UBM, Ms. 96, S. 111 (30. März 1648  : Volradt Kresse)  ; vgl. den Fall des Patienten Horst  : Kap. 3.2.4.; 3.2.6.

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Beurteilung befühlt werden  :143 Der Patient Cupelmann spürte zwar Schmerzen an besagtem Ort, »es konnte jedoch keine Verhärtung an den Seiten ertastet werden« (»durities nulla in lateribus deprehensa«).144 Johann Heinrich Bossen benannte das Berühren ebenfalls ausdrücklich in Formulierungen wie »Bei Berührung war die Wärme gering« (»calor erat ad tactum mitis«).145 Er ließ sich genau wie Magirus problematische Stellen weisen und testete dann deren Druckempfindlichkeit  : Bei einem Bauer geschah dies wenig zimperlich, er »zeigte die Stelle auf der Stirn über dem rechten Auge« und Bossen drückte »die Haut recht fest und zwickte, soweit er es ertragen konnte«.146 Einmal identifizierte er eine Fettgeschwulst, indem er mit dem Finger hineindrückte und beobachtete, daß der Abdruck wieder verschwand.147 Wäre das nicht geschehen, sondern der Abdruck weiterhin sichtbar geblieben, hätte der Patient – so notierte es sich nicht nur Bossen, sondern auch Théodore Turquet de Mayerne als eigenen diagnostischen Erfahrungswert – an Wassersucht gelitten.148 Ein andermal schob Bossen mit den Fingern die Haut an den Rändern einer Wunde zusammen, die daraufhin einen zischenden Laut von sich gab.149 Die Untersuchung konnte somit auch gleich mehrere Sinne fordern  : »Die Mutter bringt sie zu mir und bittet, daß ich die Herzregion fühle  ; ich nehme ein starkes Zittern und einen schnellen Puls wahr. Ich frage, wie lange sie [= das kleine Mädchen] schon unter diesem Symptom leidet  ; sie beteuert, daß sie es zum ersten Mal in der vorigen Nacht beobachtet habe, als sie zufällig die Hand auf die Brust [der Tochter] gelegt habe«. Bossen verschrieb ein Mittel für das Herz und untersuchte das kleine Mädchen später wieder  ; diesmal legte er offensichtlich zudem sein Ohr auf dessen Brust, denn er konnte notieren  : »Ich höre, daß das Herzzittern nachgelassen hat«. 150

143 S. auch einige Beispiele bei Stolberg (2013a), S. 94. 144 UBM, Ms. 96, S. 207 (Juli 1651  : Richter Cupelmann). 145 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 69 (Nr. 63  : D[omi]n[us] Mundsbrock, Ostfrisius). 146 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 143 (Nr. 191  : Rusticus von Rennaw)  : »cutem tango satis duriter et frico, quod ferre potest«. 147 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1654  ; S. 62 (Nr. 106  : Verwalter von Rottdorf )  : »deprehendo tumorem oedematosum in hypogastrico e regione pubis ad ilia usque qui vestigia impressi digiti deterebat«. 148 S. SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1655, unpag. (Nr. 54  : des Corduanischen Mützenmachers Schwester)  ; S. Nance (2011), S. 432–33. 149 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 145 (Nr. 93  : D[omi]n[us] Nicolaus Welman)  : »cutis circa vulnus compressa digitis sibilum et sonitum edebat«. 150 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 22 (Nr. 18  : filia Rev. Superintendentis Stossers)  : »Mater illam ad me adducit, rogat ut cordis regionem tangerem. percipio magnum tremorem cordis & pulsum celerem. Rogo q[uam]diu passa hoc symptoma fuerit [  !], illa affirmat se primum observasse superiori nocte, cum forte manu pectori eius applicasset […].« / »audio tremorem cordis paululum remisisse«. S. weitere Beispiele dafür, daß frühneuzeitliche Ärzte auch auf Körpergeräusche hin untersuchten, bei Stolberg (2013a), S. 96.

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3.2.4 Das Pulsfühlen

Die Berücksichtigung von »urina & pulsus« wird in allen medizinischen Standardwerken der Zeit als wichtigstes Werkzeug der Diagnose benannt. Daniel Sennert forderte von Ärzten dabei gleich in zweierlei Hinsicht Fingerspitzengefühl  : Sie sollten keine schwieligen oder kalten Fingerkuppen haben, wenn sie die drei oder vier zum Erfühlen notwendigen Finger nebeneinander auf die Handwurzel legten (s. Abb. 13)  ; sie sollten aber auch nicht gleich bei Ankunft auf den Puls des Patienten losstürzen, da dieser beim Eintreffen des Arztes oft schon aufgeregt genug sei.151 Magirus selbst propagierte in der Ankündigung zu seinem Berliner Collegium Medicum Mathematicum & Practicum, daß kein junger Arzt beginnen könne zu praktizieren, der noch nie den Urin eines Kranken gesehen bzw. dessen Puls untersucht habe,152 und instrumentalisierte das Wissen um das Pulsfühlen in gewohnter Weise zur Abgrenzung von den nicht-akademischen Heiltätigen  : Es haben die rechten Medici unter ihren Zeichen der Kranckheiten 2 Stücke, den Urin, und den Puls. Von [sic] Puls wissen wol die gemeinen Quacksalber und ihres gleichen nicht viel zu sagen, und muß ich wol mit Primirosio über die fürwitzigen Weiber lachen, welche den Patienten bißweilen darnach fühlen, da sie doch nichts mehr als den geschwinden und langsamen Schlag desselben fühlen können, das andere ist ihnen wol ganz verborgen, da doch am meisten dran gelegen ist.153

Ausgehend von all dem überraschen Magirus’ Einträge im Diarium erneut  : In Berlin notierte er kein einziges Mal, daß er den Puls gefühlt hatte, in Zerbst relativ selten – in den fünf Jahren seiner Praxiszeit dort ist bei nur acht Patienten eine entsprechende Beschreibung verzeichnet. In vier Fällen handelt es sich um Fiebererkrankungen, die das Pulsfühlen nach zeitgenössischer Therapie besonders forderten, da der Puls Indikator für einen tatsächlichen Rückgang der Körpertemperatur war.154 In drei der vier weiteren Fälle – ohne 151 Sennert, Daniel (1650), S. 501–02 (= Inst. Lib. III, Sect. IV, Cap. VII  : De requisitis quibusdam ad Pulsus cognoscendos necessariis). 152 Magirus, Johannes (KB4), Bl. A3r  : »[…] nec urina aegroti unquam visa, nec pulsus exploratus […]«. 153 Magirus, Johannes (1649b), Bl. B2r. 154 Nach Galen waren als Vermittlerinstanzen zwischen Seele und Körper die feinstofflichen Spiritus, die Geister, tätig. Auch im frühneuzeitlichen Galenismus basierte das Verständnis der Spiritus noch auf der in der platonischen und aristotelischen Philosophie vorgestellten Dreiteilung der Seele, die sich entsprechend in einer Dreizahl von Spiritus niederschlug. Nach dieser Theorie hatte jeder der drei Spiritus seinen Sitz in einem bestimmten Organ und vermittelte von dort für einen der drei Seelenteile  : Hinsichtlich des Pulses war nur der Spiritus vitalis von Bedeutung. Er hatte seinen Sitz im Herzen und erfüllte gewissermaßen den Auftrag der Seele, den Körper am Leben zu erhalten, indem er das Herz zu einer Pumpbewegung antrieb, die das Blut und mit ihm die eingeborene Körperwärme (Calor innatus) im Körper verteilte. Stieg die Körpertemperatur, beeinflußte dies den Spiritus, der nun schneller und stärker pumpte  : s. Klier, Gerhard  : Die drei Geister des Menschen. Die sogenannte Spirituslehre in der Physiologie der Frühen Neuzeit (Stuttgart 2002), S. 40  ; 68–71  ;

Methoden der Diagnostik Abb. 13  : Frans van Mieris d. Ä., Ärztlicher Hausbesuch (1657). Wien, Kunsthistorisches Museum.

Fieber – läßt sich ebenfalls eine Verbindung zwischen innerer Wärme und dem Pulsfühlen herstellen  : Die Patientin Gerhold litt unter einem schwachen Magen  ; daß dies eine zu geringe Wärme in diesem ersten Verkochungsorgan bedeutete, konnte Magirus über den Puls verifizieren – er war schwach und paßte damit zum Ergebnis der Urinschau, »was auch von der ziemlich schwachen Wärme (»a calore debiliore«) kommt«.155 Für den Fall des melancholischen Patienten Horst,156 bei dem der Arzt sofort den Verdacht hatte, er leide an heißen Dämpfen (»ego statim suspicionem habui palpitationem a vaporibus et quidem calidis«), notierte Magirus sich umgehend eine Erklärung aus der Fachliteratur an den Rand  : »Ich sehe eine ziemlich große Körperwärme, daher verstärkter Puls, hiervon brennt das Blut, aus der Verbrennung des Blutes [folgt] die Melancholie, [siehe] Hofmann, Buch a, Folio 156 und 154«.157 Bei Oberwachtmeister Scherstett verursachten nach Magirus’ Beobachtung die verschriebenen Medikamente durch ihren calor, ihre Wärme, (erwartbare) s. auch Helm, Jürgen  : Zwischen Physiologie, Philosophie und Theologie  : Die Lehre von den »spiritus« im 16. Jahrhundert, in  : Classen, Albrecht (Hg.)  : Religion und Gesundheit. Der heilkundliche Diskurs im 16. Jahrhundert (Berlin/Boston 2011) 287–302. 155 UBM, Ms. 96, S. 286 (April 1654  : Herr Hoffrat gerhold die coniunx). 156 S. Kap. 3.2.6. 157 UBM, Ms. 96, S. 447 (29. Jan. 1654  : Horst)  : »video calorem maiorem inde pulsus magis auctus,

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Nebenwirkungen  ; er kontrollierte wohl zur Vorsicht den Puls, ob durch seine Verschreibung die Körperwärme nachhaltig erhöht worden war, konnte aber feststellen, daß dieser »ziemlich ruhig« (»quietior«) war.158 In all diesen Fällen ist jedoch Magirus’ Beschreibung des Pulses nicht viel differenzierter als das, was er in seiner Polemik den »fürwitzigen Weibern« vorwirft – die von ihm erwähnten Pulsqualitäten sind wortkarg  : enweder »schnell« oder »langsam« oder »schwach«. Neben der Geschwindigkeit (»celer«/»tardus«) sollten die Ärzte gemäß der Fachliteratur aber auch auf andere relative Merkmale – z. B. »häufig« oder »selten« (»frequens«/»rarus«), »hart« oder »weich« (»durus«/»mollis«) – und deren kombiniertes Auftreten achten, das auf bestimmte Erkrankungen hinweisen konnte.159 Die Zurückhaltung in der eigentlichen Pulsbeschreibung trifft sich mit der niedrigen Frequenz, in der das Pulsfühlen in Magirus’ Praxis überhaupt zur Anwendung kam. Auch wenn aus den bereits angesprochenen Gründen die acht Fälle, in denen der Arzt den Puls fühlte, keiner belastbaren Gesamtpatientenzahl gegenübergestellt werden können, dürften sie doch ein vergleichsweise seltenes Zurückgreifen auf diese diagnostische Praktik belegen. Johann Heinrich Bossen fühlte in seiner Praxis den Puls bei vergleichbarer Patientenzahl ca. dreimal so häufig und differenzierte auch stärker.160 Es muß Spekulation bleiben, warum Magirus diesem Weg der Diagnose nur einen so geringen Stellenwert beimaß. Vielleicht lag es daran, daß das Ergebnis nur relativ, d. h. nicht unter Hinzuziehung auch weiterer Hilfsmittel präzise bestimmbar war  : Die Urin- und die Blutschau machte in Gefäßen vermeintliche Krankheitssymptome vorzeigbar (s. u.)  ; bei letzterer konnte auch gemessen, im Fall iatromathematischer Diagnostik sogar mit Ephemeridentabellen auf dem Tisch und Zirkel in der Hand gerechnet und skizziert werden – die Krankheit nahm so auch für Dritte Gestalt an. Beim Pulsfühlen verglich der Arzt mangels eines brauchbaren Instruments161 allein mit seiner Erinnerung von einem gesunden Puls162 – das Ergebnis war vergleichsweise subjektiv und auch nicht gleichermaßen vermittelbar. hinc uritur sanguis, ex sanguinis ustione melancholia Hofmann l[iber] a f[olio] 156 et 154.« Zu den vapores s. Stolberg (2003), S. 192–94. 158 UBM, Ms. 96, S. 520 (Herbst 1654  : Oberwachtmeister Scherstett). 159 S. Sennert, Daniel (1650a), S. 496–500 (= Inst. Lib. III Part. I Sect. IV Cap. II  : De simplicibus Pulsuum differentiis  ; Cap. III  : De compositis Pulsuum differentiis  ; Cap. IV  : de Pulsu aequali & inaequali). 160 Die folgenden Angaben beziehen sich auf das Jahr 1653, das bei Magirus als einziges der Zerbster Jahre mehr oder minder vollständig verzeichnet sein dürfte (s. Kap. 2.3.1.)  : Hier fühlte Magirus bei insgesamt 100 Patienten drei Mal den Puls, also in 3 % der Fälle  ; Bossen bei gleicher Patientenzahl knapp neun Mal (im Jahr 1653 bei 253 Patienten 22 Mal = 8,7 %). 161 Erst seit ca. 1700 waren Uhren im allgemeinen mit einem Minutenzeiger versehen, was jedoch ein Pulsmessen in der ärztlichen Praxis auch nicht zur Folge hatte  ; vielmehr blieb das auf Erfahrung und Übung basierende Pulsfühlen bis in das frühe 19. Jahrhundert maßgeblich  : s. Kinzelbach, Annemarie/Neuner, Stephanie/Nolte, Karen  : Medicine in Practice  : Knowledge, Diagnosis and Therapy, in  : Dinges/Jankrift/Schlegelmilch/Stolberg (2016), S. 99–130  ; 113–14. 162 Nance (2001), S. 76 charakterisiert diese Vorgehensweise als Ausdruck von »centuries of acquired pulse lore«.

Methoden der Diagnostik

3.2.5 Die Harnschau

Obwohl sich bereits seit dem 14. Jahrhundert kritische Stimmen gegen die Harnschau erhoben, blieb sie nicht nur als ärztliche Praktik gebräuchlich, sondern avancierte während des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts sogar zu einem populären Motiv der Malerei (s. Kap. 2, Taf. 8).163 Der Prozeß der ärztlichen Diagnostik wurde somit in Gestalt einer charakteristischen Praktik eindrücklich visualisiert, das Harnglas endgültig zum Symbol des Arztes, der durch sein spezifisches Wissen in der Lage war, Einblick in die arcana des Körpers zu nehmen.164 Dabei durfte es bei einem guten Arzt, so die Meinung vieler Patienten, keine Rolle spielen, um wessen Körper es sich handelte  ; der Urin allein mußte ihm gleichsam als Lesebuch der vorhandenen Symptome und des Krankheitsbildes dienen können.165 Auch Johannes Magirus mußte sich als Zerbster Stadtarzt dieser Erwartungshaltung stellen. Während er in Berlin die Harnschau nur vereinzelt und stets im Rahmen einer direkten Behandlung des Erkrankten einsetzte,166 stieg während der Jahre seiner Zerbster Praxis nicht nur die Frequenz, in der er sich dieser diagnostischen Methode bediente,167 sondern er erteilte auch erstmals (vereinzelte) Ferndiagnosen. Die Uringläser hierfür kamen aus dem weiteren Umland  : So schickten z. B. eine Frau von Barby (ca. 15 km) und Pastor Cautz aus Köthen (ca. 25 km) ihre Proben, und Magirus teilte die Diagnose brieflich mit.168 Er schien der Analyse des Übersendeten wenigstens einen gewissen diagnostischen Wert zuzutrauen, wenn er im Fall des Pastors dem Urin nach dessen Leiden als offensichtlich nicht so dramatisch einschätzte, daß die Beschäftigung damit nicht Zeit bis nach den Feiertagen gehabt hätte  : »Außerdem ist Eure Erkrankung nicht so bedenklich, daß man ihre Behandlung nicht etwas aufschieben könnte«.169 Aller­ dings hatte der Arzt den Pastor wenige Monate zuvor schon einmal gesehen, so daß seine Gelassenheit im Umgang mit dessen Beschwerden wohl eher aus der damaligen Einschätzung resultierte.170 163 S. zu dem Motiv des harnschauenden Arztes in Mittelalter und Früher Neuzeit s. Zglinicki, Friedrich  : Die Uroskopie in der bildenden Kunst. Eine kunst- und medizinhistorische Untersuchung über die Harnschau (Darmstadt 1982), hier bes. S. 97–129  ; zur Genremalerei s. Stolberg (2009), S. 137–66. 164 S. Schlegelmilch (2015), S. 105. 165 S. Stolberg (2009), S. 21–26. 166 Johannes Magirus stand in Berlin offenbar noch sehr im Schatten seines älteren Kollegen Weise, der die diagnostisch und therapeutisch anspruchsvolleren Behandlungen abdeckte  : s. Kap. 2.3.3. In einem Fall notierte Magirus, daß ein Patient eine Urinschau wirklich einforderte (»urina poscebatur«)  : UBM, Ms. 96, S. 48 (26.12.1647  : der hacke in der roßstraßen). 167 S. Kap. 2.1.3. 168 UBM, Ms. 96, S. 225 (o. D. 1652  : Frau von Barby)  ; ebd., S. 278–79 (s. folg. Anm.). Zur Praxis der Ferndiagnosen s. Stolberg (2009), S. 103–06. 169 UBM, Ms. 96, S. 278–79 (Briefkonzept)  : »nec morbus tuus adeo sonticus, ut eius curatio non aliquantulum differri potest«. 170 UBM, Ms. 96, S. 270 (26. Aug. 1652  : Kautz Pastor Cöthensis).

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Die Aufzeichnungen im Diarium belegen, daß Magirus eine Analyse des Harns allein offensichtlich nicht als wirklich sicheres diagnostisches Mittel betrachtete. Auch den Landsyndikus, der gleich drei Urinproben brachte, scheint er zusätzlich zu Symptomen seiner erkrankten Familienmitglieder befragt zu haben.171 Als er im Sommer 1653 noch eine weitere Urinprobe überbracht bekam, schrieb er  : »Deren Vater hat mir den Urin gebracht. Am Boden [erg.: des Glases] war roter Tartarus, gleichzeitig ein weißes Sediment wie Samen, der restliche Urin war fett. Sie klagt über Schwäche der Füße, Hände, etc.; meiner Meinung handelt es sich um eine suffocatio uteri.« Hinweise auf die ursächliche Erkrankung lieferte ihm der Urin also durchaus, aber dies reichte Magirus nicht  ; er schloß den Eintrag  : »Ich muß sie sehen«.172 Auf dieselbe Weise ging auch Mayerne vor.173 Stets nur auf der Grundlage weiterer, am besten persönlich eingeholter Informationen ein diagnostisches Urteil zu fällen stellte einen weitgehenden Konsens unter den akademischen Ärzten dar. Eine aussagekräftige Urinprobe konnte schließlich nicht einfach zu einem beliebigen Zeitpunkt genommen werden (am besten geeignet war der frühe Morgen, da nachts eine bessere Verkochung stattfand)  ; aus unbestimmbar alten Proben, die den Ärzten in den eigenwilligsten Gefäßen gebracht wurden, ließen sich keine tragfähigen Diagnosen ableiten.174 Die Ärzteschaft grenzte sich durch diesen Anspruch eines wissenschaftlichen Standards auch bei der Urinschau von angeblichen Betrügern und Hochstaplern ab, die aus dem Urin – wie Daniel Sennert schrieb – »wie von einem Dreifuß herab vieles orakeln«, ohne den Kranken selbst gesehen oder wenigstens über dessen Zustand Berichte eingeholt zu haben.175 Auch Magirus wußte in seinen Kalendertexten die üblichen Geschichten zu erzählen über Leute, »die sich mit Urinen sehen ein Ansehen machen wollen« und das »thörichte gemeine Volck, die da meynen, man könne alles in den Urinen sehen, was sich jemals hat zugetragen«, böswillig täuschten.176 Johann 171 UBM, Ms. 96, S. 218 (29. Aug. 1651  : Landsyndikus Geese). Magirus notierte neben dem Zustand des Harns, daß nach Geeses Aussage sowohl dessen Mutter wie Kinder Fieber hatten, der kleine Sohn auch an Erbrechen und Krämpfen litt. 172 UBM, Ms. 96, S. 380 (o. D. 1653  : des Stadtschreibers von Dessa[u] Tochter)  : »[…] in fundo erat erat [sic] depositus tartarus ruber, simulque sedimentum album quasi semen esset, reliqua urina crassa. queritur de lassitudine pedum, manuum etc. suffocationem uteri esse puto. ipsa videnda.«. 173 S. Nance (2001), S. 75–76. Ob aus der Tatsache, daß Mayerne die Patienten ebenfalls sehen wollte, abzulesen ist, daß er der Urinschau generell mißtraute und sich eher der Seite ihrer Kritiker zugehörig fühlte, wie Nance den Befund interpretiert, ist eher fraglich. Obwohl Magirus auf persönlicher Inaugenscheinnahme bestand, maß er der Urinschau, ausgehend von einem chymischen serum-Konzept (s. Kap. 4.2.3.), doch große diagnostische Relevanz zu. 174 Sennert, Institutiones (1654), S. 464 (= Inst. Lib. III, Pars I, Sect. III, Cap. I  : De Abusu inspectionis Urinarum). 175 Sennert, Institutiones (1654), S. 450 (= Inst. Lib. III, Pars I, Sect. III, Cap. I  : De Abusu inspectionis Urinarum)  : »Medici nonnulli […] aegro non viso, nihilque aut parum de eius statu et conditione certiores redditi, quasi ex tripode, multa vaticinantur«  ; vgl. ähnliche Äußerungen anderer Ärzte bei  : Stolberg (2009), S. 171–72. 176 Magirus, Johannes (1646a) Bl. C2r. Ähnlich notierte Magirus in seinen loci communes« (UBM, Ms. 97, S. 221)  : »uroscopia – quam fallax  ; ad solam uroscopiam consulere remedia stultum« – »[erg  :

Methoden der Diagnostik

Heinrich Bossen notierte die gleichen Geschichten in gewohnter Weise wieder direkt in seine Ephemerides  : »[…] seine Frau kommt zu mir, fragt, ob ich aus dem Urin orakeln (»divinare«) könne, ob der Kranke überleben könne oder sterben müsse. Ich antworte  : Je nachdem – wenn etwas seine Brust beschwere und er es gut auswerfen könne, so könne ihr Mann noch lange leben, wenn er es aber zurück behalte und es nicht in Bewegung gebracht oder durch Medikamente ausgeleitet werden könne, dann könne er ziemlich schnell sterben. So sind die Menschen leichtgläubig (»vane«) davon überzeugt, daß man aus Urin, der oft zwei oder drei Meilen in einem Tontopf dahergeschleppt wurde, nicht nur Tod oder Genesung vorhersagen, sondern auch, ob es Urin von Mann oder Frau sei, sowie Schwere und Gründe der Erkrankung erkennen könne […]«.177 Wie man das Ergebnis einer Harnschau dagegen zielführend einsetzte, zeigt der Fall des Patienten Scheurer in Magirus’ Praxis. Dieser wies der Analyse nach einen »hypochondrischen« Urin auf  ; Magirus fragte zu dem von ihm vermuteten Krankheitsbild konkret nach und der Patient bestätigte dann auch tatsächlich  : Ja, er habe schon einmal Schmerzen in der linken Seite gehabt.178 Auch bei dem Patienten Kresse fügt sich das Ergebnis ins Bild  : »Der Urin ist skorbutisch  ; und er hat auch Skorbut« (»urina scorbutica, et est etiam scorbuticus«), und ein namenloser Prediger hatte einfach einen Urin, »wie er bei Hypochondrischen zu sein pflegt« (»urina erat ut solet hypochondriacorum esse«).179 Es fällt auf, wie sich hier das bereits erwähnte ontologische Verständnis von Krankheit für den ärztlichen Blick auch in einem spezifischen Urinbild abzeichnete, dessen einzelne Komponenten (Farbe und Konsistenz) gar nicht mehr notiert werden mussten. Eine solch einfache Urinschau wurde von Magirus mit 12 Groschen berechnet. Die medizinische Fachliteratur der Frühen Neuzeit – und daraus abgeleitet auch die bisherige Forschung – erweckt leicht den Eindruck, die Harnschau sei immer nur einmalig angewandt worden  : Auf eine Analyse folgte demnach die (erweiterte) Diagnose, dann die therapeutische Empfehlung.180 Tatsächlich dokumentiert Magirus’ Diarium aber einen weit differenzierteren Einsatz dieses methodischen Instruments. Er nutzte die Harnschau als wiederholte Kontrollinstanz bei der Beobachtung des Krankheitsverlaufes und der diesen beeinflussenden Medikamente. Bis zu sieben Mal analysierte er in einem dazu  :] wie täuschend die Harnschau ist  : es ist töricht, allein im Hinblick auf eine Harnschau zu Medikamenten zu raten.« 177 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653 (S. 79, Nr. 75  : Rustico cuidam von Repcke]  : »d[ie] 14 eius uxor ad me redit, rogat, ut ex urina divinarem, num superesse posset aeger an v[ero] decumbere ipsum necesse esset. Ego conditionaliter respondeo, si quae pectus molestarent, probe ejicere posset, adhuc diu superesse maritum posse, sin haec restagnarent nec cedere m[e]d[icamen]tis aut educi possent, cito citius ipsum moriturum. Ita vane persuasi homines ex urina [quae] per duo triave miliaria saepe in fictili affertur, non solum mortem vel salutem p[rae]dici posse, sed et num illa maris aut foeminae sit urina, item graviditatem & casus morbi inde cognosci posse.« 178 UBM, Ms. 96, S. 381 (3.6.1653  : Camerarius Scheurer)  : »dicebat etiam se olim in latere sinistro doluisse«. 179 UBM, Ms. 96, S. 57 (13.01.1648  : Herr Volrad Kresse)  ; ebd., S. 299 (1653  : Prediger von Lindow). 180 S. auch Stolberg (2009), S. 79–83.

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schweren Fall den Urin, um sicher zu gehen, daß er die im Körper vorgehenden Prozesse auch richtig eingeschätzt und das in diesem Fall Zutreffende und Wirksame verschrieben hatte. Es handelte sich hier um eine schwere Fiebererkrankung, eine febris tertiana, die sich in eine febris continua verschlechtert hatte.181 Gerade bei Krankheiten, die mit starkem Schwitzen einhergingen, machte die Urinkontrolle Sinn, wurden doch Urin und Schweiß nach zeitgenössischer Theorie als Abfallprodukt desselben Prozesses verstanden, teilweise sogar als identisch betrachtet.182 Wenn also Sennert schrieb  : »Derselbe Saft, der durch den Urin ausgeleitet werden kann, kann auch durch den Schweiß ausgeschieden werden«,183 lag es nahe, sobald der Körper versuchte, Fremdstoffe durch verstärktes Schwitzen auszuscheiden, das Schwesterprodukt Urin genau zu beobachten. Als Magirus die Behandlung der fieberkranken Frau Kramer aufnahm, zeigte ihr Urin roten Tartarus (»erat cum rubro tartaro«)  ; er verschrieb ein iulebum, einen Heilsaft. Am folgenden Tag besserte sich der Urin, er zeigte Sediment und Zeichen der Verkochung (»multum remiserat et ederat [  !] sedimentum ac signa coctionis«)  ; diese wiedereinsetzende Verkochung deutete auf eine beginnende Normalisierung der Körperprozesse hin – die Medikation schlug offensichtlich an. Magirus verordnete, das iulebum weiter einzunehmen. Wieder einen Tag später verdickte sich der Urin, ohne ein Sediment zu zeigen, was der Arzt ausdrücklich als gutes Zeichen wertete (»urina crassescebat, quod pro bono signo habebam, sine sedimento«). Dann kehrte das Fieber mit starken Schweißausbrüchen zurück und auch der Urin zeigte wieder Sediment, ein Zeichen, daß der Körper erneut arbeitete  : »Der Urin war klar, mit Sediment, wurde aber trübe (»turbabatur«), was ein Zeichen ist, daß die natürliche Wärme, der calor, begonnen hat, Materie auszubilden und auf diese Weise zu entsorgen« (»incipit materiam elaborare et eam hoc modo disponere«). Die Behandlung, die hier nicht im Ganzen wiedergegeben werden muß, zog sich noch etliche Tage auf ähnliche Weise hin. Stets war der Maßstab der Verdickungsgrad des Urins, was sich nicht auf dessen Transparenz bezog – diese wurde mit klar (»clarus«) oder trüb (»turbidus«) bezeichnet –, sondern auf den Anteil von serösen, also salzigen Fremdstoffen (erkennbar als Schwebeteilchen, Sand etc.),184 die nur dann in den Urin gelangten, wenn der gesundende Körper sie endlich durch richtige Verkochung abspaltete und als Abfall ausschied. Der erwähnte tartarus, seiner Konsistenz wegen nach dem ähnlich aussehenden Weinstein benannt, wie man ihn im Alltag als Ablagerung in Weinfässern beobachten konnte, war dabei ein eben solches Abfallprodukt. Er wurde als schleimig-salzig charakterisiert und durfte sich nicht im Körper sammeln.185 Dementsprechend ist Magirus’ letzter Eintrag 181 UBM, Ms. 96, S. 476–79 (30. 4.–8.5.1654  : Benedix Kramerin). 182 S. Stolberg (2012), S. 504. 183 Sennert, Daniel (1650a), S. 712 (= Inst. Lib V Part. II Sect. I Cap. XIV  : De Evacuatione per Sudorem). 184 S. Stolberg (2014a), S. 646  ; s. auch Kap. 4.2.4. 185 Vgl. Sennert, Daniel (1650a), S. 355 (= Inst. Lib. II Part. II Cap. VII  : De Humoribus ex Recentiorum, & Chymicorum sententia)  : »[…] materia illa mucilaginosa et feculenta cum sale permista, quae, quod illis fecibus, quae a vino separantur, & ex lutosa & salsa materia coagulantur, doliorum-

Methoden der Diagnostik

zum Urin der fieberkranken Frau wohl positiv zu werten  : »Der Urin ist dick, mit Sediment, und klebriger Stein (»tartarus viscidus«) hängt am Glas«. Hiermit endet der Fall. Er illustriert sehr anschaulich, wie die Harnschau in einem mehrstufigen Heilprozeß als Orientierungshilfe bei der Medikation benutzt wurde. Auch eine zu starke Wirkung der Medikamente glaubte Magirus so feststellen zu können  : Nach einem Trank aus Mandeln, Mohn und Löffelkraut schlief eben diese Fieber-Patientin, bei der nächsten Kontrolle stellte Magirus dann aber fest, daß der Urin dicker sei als er sein dürfte (»crassior quam debebat«). Die Lösung war schnell gefunden  : »Sie hatte noch einmal von dem Mandelsaft genommen«  ; Magirus befahl nun Fleischbrühe und ein vorläufiges Aussetzen der Medikamente. Nach dieser inneren Logik arbeitete Magirus zielstrebig und überzeugt auch bei anderen Erkrankungen auf einen Normalstatus des Urins hin, der das sicherste Zeichen nachhaltiger Heilung darstellte. Seine Beschreibungen bedienen sich der üblichen Abstufungen von Beschaffenheit (»consistentia«) und Farbe (»color«),186 wobei er den optimalen Zustand summierend als »natürlich« (»naturalis«) bezeichnete. Dementsprechend war es ein gutes Zeichen, als der Urin der Frau Berg »begann, natürlich zu werden« (»incipiebat naturalis fieri«), und es bedurfte aufgrund des Restes von rotem Tartarus im Glas nur noch einer Fleischbrühe mit öffnenden Wurzeln, Zichorie und weißem Tartarus, »um alles zu reinigen« (»ut omnia abstergerentur«),187 und – sie war gesund. 3.2.6 Die Blutschau

In der Forschung wird die Blutschau zuweilen auch bei frühneuzeitlichen Ärzten erwähnt.188 Sie hat jedoch weit mehr Aufmerksamkeit erfahren als eine charakteristische Diagnosemethode des Mittelalters,189 in dessen Verlauf sie sich zur Mitte des 15. Jahrhunque lateribus adhaerescunt, & tartari vulgo appellantur, affinis sit, Tartarum nunc a plurimis appellatur.« 186 S. Stolberg (2009), S. 43–58. 187 UBM, Ms. 96, S. 283 (20.1.1653  : burgerm. bergin). 188 Meist fand die Blutschau im Kontext der Lepraschau Erwähnung, für die sie gängige Praktik war  : Lenhardt (1982), S. 74–5  ; Riha (2005), S. 61–2  ; frühneuzeitliche Belege bei  : Jütte (1991), S. 110–11. Eine einfache (nur auf eine Schale beschränkte) Blutschau sah der Medizinstudent Georg Handsch bei seinem Lehrer in Padua  : s. Stolberg (2014a), S. 648. 189 Der Blutschau wurde in mittelalterlichen Traktaten große Aufmerksamkeit zuteil  ; eine ausführliche Zusammenstellung dieser Texte bietet Lenhardt (1986), für weitere Lit. s. Mayer, Johannes Gottfried  : Die Blutschau in der Spätmittelalterlichen Diagnostik, in  : Sudhoffs Archiv 72 (1988) 225–33, S. 225, Anm. 2  ; Deutsches medizinhistorisches Museum (Hg.)  : Von der Blutschau zum Blutbild. Eine Ausstellung zur Frühgeschichte der Hämatologie und Onkologie. Zur gemeinsamen Jahrestagung der Deutschen und Österreichischen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie, Essen 10.–13. Oktober 1993 (Gelsenkirchen 1993), S. 14–15. Eine strukturierte Zusammenfassung der medizinischen Theorie der mittelalterlichen Blutschau bietet Riha (2005). Wie dominant bislang die Wahrnehmung der Blutschau als mittelalterliche Praktik war, zeigt das Urteil Lenhardts, der die Beschäftigung frühneuzeitlicher Ärzte mit diesem Thema »auf den universitären Bereich beschränkt« sehen wollte  : Lenhardt (1982), S. 64, Anm. 9.

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derts hin (da sie nur in Verbindung mit einem Aderlaß unternommen werden konnte) zunehmend in die Bader- und Chirurgenstuben verlagert hatte.190 Daß die Blutschau für frühneuzeitliche Ärzte jedoch ebenfalls noch von Interesse war, zeigt die Tatsache, daß man weiterhin dazu publizierte  : 1668 begründete Jacobus Pancratius Bruno (1629–1709) seine kommentierte Neuausgabe von Johannes Jessenius’ Traktat De sanguine vena secta dimsso iudicium im Vorwort damit, daß die enthaltenen Erkenntnisse von seinen Kollegen leicht in das zukünftige Praktizieren eingebunden werden könnten.191 Die Blutschau war jedoch nicht in gleichem Maße selbstverständlicher Bestandteil der frühneuzeitlichen Diagnostik wie die Urinschau und das Pulsfühlen. Sie stellte, wie auch die iatromathematische Berechnung, ein zusätzliches diagnostisches Verfahren (und damit auch eine zusätzliche Einnahmequelle) der akademischen Ärzte dar. Wie bei der Medikation beanspruchten sie die alleinige Kompetenz, ihre theoretischen Konzepte bei der Betrachtung des Blutes in Anwendung bringen zu können. Daß Magirus die Blutschau praktizierte, weist darauf hin, daß sie in seiner Zeit im Zusammenhang mit chemiatrischen Säftekonzepten für einige Ärzte wieder interessant werden konnte.192 Für seine Praxis jedenfalls scheint ein direkter Konnex zwischen Theorie und Praxis rekonstruierbar.193 Ebenso besuchte aber auch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Nürnberger Arzt Johann Christoph Götz (1688–1733) seine Patienten, um das bereits von einem Chirurgen gelassene Blut zu beschauen, was für seine Praxis wiederum mit einem iatromechanischen Verständnis des Körpers begründbar ist.194 Gleichwohl bleibt die Blutschau eine Besonderheit, was man auch daran sehen kann, daß Magirus selbst sie nicht erwähnt, wenn er in seinen Kalendertexten seiner Leserschaft die gängigen ärztlichen Praktiken erläutert. In Théodore Turquet de Mayernes und Johann Heinrich Bossens Praxis fehlt sie völlig  ; Bossen notiert zwar in einigen wenigen Fällen, wie im Folgenden auch für Magirus beschrieben, Auffälligkeiten z. B. der Blutfarbe, wenn sie ihm im Verlauf eines Aderlasses auffielen, unternahm aber niemals auf die im Folgenden beschriebene Art und Weise eine vollständige, präzise Schau. Im Hinblick auf die Praktik der Blutschau unterscheiden sich sogar Magirus’ Praxen in Berlin und Zerbst 190 So stellen die Abbildungen dieser Zeit die Blutschau immer in diesem Kontext dar  : s. Lenhardt (1982), S. 63. 191 Jessenius, Johannes (1668), Bl. 4v  : »proinde non inconveniens mihi visum fuit, cum annotationibus & animadversionibus quibusdam consensum illum ac dissensum φιλιάτροις ostendere, quo maiori cum utilitate scriptum hoc legere […] illudque aliquando medicinam facturi commodius in usum convertere possent.« (Hervorhebung d. Verf.). 192 Ein weiterer Beleg für das 17. Jahrhundert findet sich einem Brief von  : Moritz Hoffmann an Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg, Altdorf (?), [um 1670] (GStA PK, I. HA Geheimer Rat, Rep. 9 Allg. Verwaltung, L 1, Fasz. 8  ; Regest [U. Schlegelmilch] unter  : www.aerztebriefe.de/id/00020677  ; letzter Zugriff  : 13.12.2017). 193 S. Kap. 4.2.4. 194 S. Kinzelbach/Grosser u. a. (2016), S. 185  ; zu Götz’ iatromechanischer Ausrichtung, in der Verdickung und Stagnation des Blutes als Verstopfung der Körperbahnen als Krankheitsursache angesehen wurden, s. ebd., S. 182–83.

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deutlich voneinander.195 In Berlin protokollierte Magirus zwar in einem Fall Auffälligkeiten bei einem Aderlaß, den wohl sein Kollege Martin Weise angeordnet hatte  : »Die ader sprang voll und das geblutt war ziemlich schwartz, es wollte sich auch die ader nit stillen lassen.«196 Aber auch wenn die Austrittsgeschwindigkeit des Blutes durchaus von Bedeutung war197 und auch die Farbe des Blutes genannt wird, handelt es sich hier noch nicht um eine eigentliche Blutschau. Denn diese erforderte einen fraktionierten Aderlaß, d. h. das kontinuierliche Auffangen des austretenden Blutes in mehreren Blutschalen (meistens drei) zum Zweck des Vergleichs.198 Allerdings beschaute Magirus während der Berliner Zeit einmal sein eigenes Blut  : »Hat den 30. Martii zur ader gelassen, und 9 loht blut von ihm gangen, darunter iß serum gewesen, in der ersten schüßel ist das blut gar schwartz und fest in fundo angeklebt gewesen, in der anderen zweyen aber gar nichts angeklebt.«199 Der Arzt berichtete hier von sich selbst in der objektivierenden dritten Person, was den Charakter einer Versuchsanordnung unterstreicht  ; er verzeichnete Gewicht, Farbe und Konsistenz und verglich den Inhalt der ersten mit dem der zweiten Schüssel, in der die Viskosität des Blutes sich geändert hatte. Der Konsistenz mußte hierbei v. a. die Aufmerksamkeit des Arztes gewidmet sein, denn je zäher (»viscosus«) und klebriger (»glutinosus«) das Blut sich zeigte, desto größer war die Gefahr von Verstopfungen im Körper war.200 Daß Magirus in den beiden letzten der drei Schalen kein anklebendes Blut mehr fand, durfte er somit als gutes Zeichen werten  : Offensichtlich hatte sich der geringe Anteil an schädlicher Materie, die sich frei im Körper bewegt hatte, bereits gelöst und war durch den Aderlaß herausgezogen worden. Sicherheitshalber verordnete er sich jedoch nach diesem Ergebnis noch ein leichtes Purgiermittel. In Zerbst beschaute Magirus immer wieder das Blut seiner Patienten. Er beschränkte sich hier ebenfalls auf die Feststellung von Farbe und Konsistenz und verzichtete auf eine Geschmacks- und Geruchsprobe  ;201 die Gründe dürften die gleichen gewesen sein wie bei der Harnschau.202 Manchmal notierte Magirus nur die Konsistenz – »sehr serös« 195 S. Kap. 2.3.3. 196 Die ganze Behandlung scheint von Weise durchgeführt und von Magirus nur protokolliert worden zu sein  : UBM, Ms. 96, S. 89 (März 1648  : Frau Tillemann). 197 S. Riha (2005), S. 55. 198 S. Lenhardt (1982), S. 65. 199 UBM, Ms. 96, S. 94 (30.3.1648  : D. Joh. Magirus). Daß es sich bei »Johannes Magirus« um ihn selbst und nicht seinen gleichnamigen Patienten, einen Berliner Adokaten, handelte, erschließt sich aus dem Querverweis auf eine andere Seite des Diarium, wo er eine weitere (eindeutige) Eigenbehandlung verzeichnete. 200 Zur Viskosität s. Lenhardt (1986), S. 14 mit Anm. 30  ; Riha (2005), S. 55–56. 201 Diese Proben sind bereits in den ältesten Texten Bestandteil der Blutschau  : s. Lenhardt (1986), S. 14  ; 80  ; Riha (2005), S. 56. 202 Eine Praktik, die sich nicht mit der ärztlichen Würde vertrug  : s. Stolberg (2009), S. 174–75  ; Bylebyl bezieht die Geschmacksproben, die Giovanni Battista da Monte anspricht, fälschlich auf den von den Patienten erfahrenen Geschmack  : s. Bylebyl (22004), S. 283 Anm. 20. Schlechte Gerüche wiederum konnten Krankheiten übertragen  ; »physicians may indeed have been reluctant to investigate

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(»valde serosus«), »schlammig und fett« (»limosus et crassus«), »an der Oberfläche zäh und mit einer fetten Haut überzogen« (»in superficie viscidus et crasso corio obductus«)203 –, da sie ihm die bereits vermuteten Fehlfunktionen im Körperinneren bestätigte. In anderen Fällen lieferte ihm die Farbe – wie beim Urin – Hinweise zum Krankheitsverlauf. Das Blut des jungen Herrn Beerenrath, dessen Tertiärfieber nach einer ersten Purgation nicht nachlassen wollte, war nicht nur klebrig und wie mit einer fetten Haut bedeckt (»crassus instar corii«), es war auch weiß.204 Es bestätigten also Konsistenz wie Farbe – weißes Blut konnte als Zeichen einer zu großen Hitze, ja einer Entflammung (φλογώσις) des Blutes gedeutet werden205 – die Notwendigkeit einer weiteren Purgation des Fiebernden, die Magirus auch durchführte. Ebenfalls um eine übermäßige Erhitzung ging es im Fall des Patienten Horst, der Magirus wegen Herz- und Schläfenpochen konsultierte.206 Der Arzt war sofort überzeugt, die Auswirkung hitziger Dämpfe zu erkennen, schrieb ein Rezept und wollte am Folgetag einen Aderlaß durchführen lassen. Dies tat er dann auch  : »4 Unzen habe ich gezogen, davon war 1 Unze Serum  ; es war schaumig und aufwallend (»spumosus ac effervescens«)  ; das Blut war ziemlich zäh (»aliquanto viscidior«) und hatte Blasen vor Hitze (»bullas habebat fervescens«).« In diesem Fall zog Magirus seine Schlüsse aus der Temperatur des Blutes, die er diesmal nicht aus der Farbe und wohl auch nicht nur aus den Blasen ableitete, sondern vermutlich mit dem Finger testete.207 Das bis zur Verbrennung erhitzte Blut bestätigte seinen Verdacht hitziger Dämpfe, die nach zeitgenössischer Theorie eine Ursache der Melancholie darstellten. Herr Horst wurde von nun an aufgrund der Symptome, die er dem Arzt genannt hatte, und des bestätigenden Ergebnisses der Blutschau als melancholicus behandelt. Das Blut mußte für die Schau in mehreren – »mindestens drei« – Gefäßen aufgefangen werden.208 Von besonderem Interesse war für Magirus jeweils die letzten Schale  : »Das Blut war serös, v. a. in der letzten Schale«  ; »das Blut war fiebrig, schaumig und in der letzten Schale mit gelber Galle versetzt«  ; »das Blut war serös in der dritten und auch in der zweiten Schale«, lauten typische Beschreibungen.209 Nach zeitgenössischer Theorie too closely the bad odour of their patients«  : Palmer, Richard  : Smell and its Significance in Medicine from Antiquity to the Seventeenth Century, in  : Bynum, W. F./Porter, Roy (Hg.)  : Medicine and the Five Senses (Cambridge 22004), 61–68, S. 67. 203 UBM, Ms. 96, S. 216 (August 1651  : Herr Syndicus)  ; ebd., S. 412 (21.6.1653  : Hoffrat Köppen coniugi)  ; ebd., S. 253 (Mai (?) 1652  ; Herrn Mörings Camerarius filio). 204 UBM, Ms. 96, S. 252 (Mai (?) 1652  ; Beerenratt junior). 205 Jessenius, Johannes (1668), S. 22 mit Anmerkung Brunos ebd., S. 174  : »Unde nos haec cepit suspicio, […] quod ab adustione quoque, h[oc] e[st] nimia sanguinis effervescentis φλογώσις, albicans sanguis provenire possit.« Es werden im Folgenden weitere Befürworter dieser (nicht unumstrittenen) These genannt. 206 UBM, Ms. 96, S. 447 (30.3.1654  : Horst)  ; s. auch Kap. 3.2.4. 207 Vgl. die Anweisung bei Jessenius, Johannes (1668), S. 11 mit Anmerkung Brunos ebd., S. 88. 208 S. Jessenius, Johannes (1668), S. 14. 209 UBM, Ms. 96, S. 302 (Feb. (?) 1653  : Rosenkrantz)  ; ebd., S. 364  ; 369 (März/April 1653  : Brose Hintzen Sohn).

Methoden der Diagnostik

Abb. 14  : Blutlass-Schale mit Unzen-Markierung. Wellcome Collections.

konnte es durchaus passieren, daß in den ersten Schalen reines Blut zu sehen war, sich in den späteren aber eine Verunreinigung erkennen ließ. Dieser Umstand wurde so erklärt, daß die verderbliche Materie in der Gegend des erkrankten Organs oder Entzündungsherdes festhing und sich erst allmählich löste, um mit dem austretenden Blut den Körper zu verlassen. Dem Aderlaß wurde hier offensichtlich eine gewisse Sogwirkung zugeschrieben,210 wie auch Magirus’ Standardformulierung »sanguinem extraxi« – »ich habe Blut herausgezogen« sie andeutet. Nach dieser Logik war der Patient geheilt, wenn in der letzten Schale das Blut rein war und damit alles Schädliche »herausgezogen«,211 oder es konnte sein Leiden näher bestimmt werden, wenn mit dem Blut in der letzten Schale endlich die analysierbare Materie des Krankheitsherdes ausgetreten war. Es stellt sich abschließend die Frage, wie man sich das tatsächliche Geschehen im Krankenzimmer vorzustellen hat. Das Vorgehen bei einer frühneuzeitlichen Blutschau erinnert an das in der heutigen Praxis etablierte Procedere der Blutsenkung.212 Die Aderlaßschalen 210 Jessenius spricht davon, daß das verdorbene Blut vom Krankheitsherd festgehalten wird, »wie wenn es von einem Schröpfkopf angesaugt wäre« (»si foret cucurbitula detentus«)  : Jessenius, Johannes (1668), S. 12. 211 Jessenius, Johannes (1668), S. 13. 212 Die moderne Blutsenkung beobachtet, unter Anwendung von Gerinnungshemmern, die Trennung von Blutplasma und Blutzellen nach dem Kriterium der Trennungsgeschwindigkeit  ; diese war für die Medizin des 17. Jahrhunderts unerheblich.

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mußten für die Dauer des Prozesses, in dem sich der flüssige Anteil des Blutes (serum) von der eigentlichen Blutsubstanz (cruor) trennte, zugedeckt an einem sauberen Ort gelagert werden, der nicht direkter Sonneneinstrahlung oder anderen problematischen Einflüssen ausgesetzt war.213 Nach ungefähr einer Stunde konnte das in seine zwei Bestandteile zerfallene Blut betrachtet werden  ; es durfte aber nicht länger als sechs Stunden so stehen.214 Vielleicht blieb der Arzt für die Dauer dieser Stunde bei dem Kranken, um unmittelbar nach der Absicherung seiner Diagnose durch die Blutschau die nötige Therapie zu verschreiben, oder aber er kam nach angemessener Zeit noch einmal vorbei. 3.2.7 Iatromathematische Berechnungen

Geburts- und Krankheitshoroskope zu erstellen, war die Kernkompetenz astrologisch geschulter Ärzte.215 Wer Iatromathematik betrieb, mußte die Bewegungen der Himmelskörper mit Bezug auf das Horoskop eines bestimmten Patienten unter medizinischen Gesichtspunkten deuten können. Die Grundlagen für diese Fähigkeit wurden bis weit in das 17. Jahrhundert an vielen Universitäten als Teil des Medizinstudiums gelehrt, wozu Philipp Melanchthons Fürsprache noch beigetragen hatte.216 Ärzte wie Johannes Magirus definierten sich über die Iatromathematik als die wirklichen Wissenschaftler ihrer Zeit  : […] die Nativitäten zeigen, ob einer starck oder schwacher Natur sey, item was er für ein temperament habe. […] es fühlets einer freylich wol, ob er schwach oder starck, Hitz oder Kält, Feuchtes oder Truckenes besser leyden könne. Wo es aber herkomme, von der diaet allein oder ob es ihm angeboren und nit etwa durch hülffe seines Nativitäts-Gestirns das gute gestärcket, das böse corrigiert werden könte, etc. ohne dessen Wissenschaft schwerlich, ja unmüglich zu erlernen. […] zu welcher Qualität die Natur mehr incliniert, wohin sie leichter zu bringen, welcher Excess leichter sich zu tragen möchte, da gibt das NativitätsGestirn die beste und fast einige [  !] Antwort.217

Gerade in diesem expliziten Bezug ihrer Praxis zur »Wissenschaft« offenbarten die Ärzte ein Selbstverständnis, das, wie William Eamon unterstreicht, dem heutiger Mediziner sehr ähnlich ist.218 Wie auch die Kalendermacher waren die Horoskopsteller keine ho213 Jessenius, Johannes (1668), S. 14. 214 Jessenius, Johannes (1668), S. 16–17. 215 S. Dooley (2014), S. 245. 216 S. Kap. 1.3.2. 217 Dieses Zitat stammt nicht von Johannes Magirus, sondern von Abdias Trew. Dessen Nucleus astrologiae correctae druckte Magirus in seiner kommentierten Ausgabe der Sennertschen Methodus zum Teil (das 15. Kapitel) mit ab, hieraus ist das angeführte Zitat entnommen  : s. Sennert, Daniel (1672), S. 71–73. 218 Eamon (2014), S. 151–52  : »Like modern medicine, astrology in the Renaissance was not a science, though it was based on evidence produced by sciences such as astronomy […]. Nor was it a branch

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Abb. 15  : Titelholzschnitt der von Johannes Magirus verfassten Schreibkalender aus den Jahren 1650– 1654.

mogene Gruppe. Ein Arzt, der die Iatromathematik praktizierte, stand in Konkurrenz mit anderen Astrologen, die sich auch als Nicht-Studierte zu medizinischen Problemen äußerten.219 Ein beeindruckendes Beispiel eines solchen Heilers ohne reguläre akademische Ausbildung beschreibt Lauren Kassell in ihrer Studie zu Simon Forman (1552–1611), einem englischen Astrologen, den nach seinen eigenen Aufzeichnungen in nur knapp zwei Jahren 1519 Patienten medizinisch konsultierten.220 Angesichts solcher Konkurrenten befand sich Johannes Magirus in der gleichen Situation, die er aus seinen Konflikten mit anderen Heiltätigen schon kannte  : Wieder gab es Nicht-Ärzte, die sich ein (aus seiner Sicht den Ärzten exklusiv zustehendes) Wissen anmaßten.221 Gleichzeitig bot er eine besondere ärztliche Dienstleistung an, mittels derer er sich gegenüber anderen, nicht astrologisch versierten Kollegen positionieren konnte, v. a. was of mathematics, though it shared much common ground with mathematics and used its methods on a regular basis. […] Rather, astrology was a rigorous divinatory and prognostic art embodying centuries of accreted methodology and tradition […]. Like a modern doctor, the astrologer read signs and symptoms – though not in the body, but in the heavens – and strived to make a prognosis.« S. hierzu auch Dooley (2014), S. 233–34. 219 S. Eamon (2014), S. 173–76  : s. auch Kap. 1.3. 220 S. die Statistik bei Kassell (2007), S. 129. 221 S. Kap. 2.2.2.

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eine begüterte Klientel betraf. Denn das Erstellen eines Horoskops war »ein kompliziertes Rechenexempel, das sich nicht allein mit der Beobachtung des Himmels, sondern nur mit Globus und Zirkel und astronomischen Tafeln zu Ende führen ließ«,222 also eine Kenntnis im Umgang mit speziellen Instrumenten voraussetzte. Einige dieser Gegenstände (zwei Zirkel, ein Quadrant, ein Jakobsstab (?), zwei Sternengloben, eine Armillarsphäre), sind auf dem Titelholzschnitt zu sehen, den Johannes Magirus für seine Schreibkalender wählte (s. Abb. 15). Sie liegen hier vor dem Bücherregal, das die mathematischen Bücher enthält (zu denen auch die astronomischen Tafeln gehörten), wobei jedoch der Tisch, auf dem sie sich befinden, niedriger dargestellt ist als das Schreibpult des Arztes, der seinerseits vor dem Regal mit den medizinischen Büchern sitzt. Die Iatromathematik wird durch diese Bildstaffelung als Hilfsmittel der Medizin visualisiert  ; nicht zufällig steht das Regal mit den Arzneien zwischen den beiden Themenregalen, denn auch die medikamentöse Therapie war von iatromathematischen Aspekten beeinflußt.223 Die Abbildung stellt eine interessante Mischung dar zwischen den topischen frühneuzeitlichen Bildtypen einerseits des Studierzimmers des Gelehrten,224 andererseits des Konsultationsraumes des Astrologen, dessen Ähnlichkeit mit den Behandlungsräumen heutiger Arztpraxen William Eamon lebendig beschreibt  : Visiting a Renaissance astrologer in his consulting room was an experience not unlike that of a modern patient keeping an appointment with a physician. Entering the astrologer’s chambers, a client encountered powerful symbols of the astrologer’s professional authority. Like books and instruments in the modern doctor’s office, those in the astrologer’s consulting room created a similar aura of expertise. An ephemeris, or table of planetary motions, which the astrologer used to calculate the positions of the planets, might have been prominently displayed on the desk. Other essential reference works would have been ready at hand, including an almanac and various medical treatises. An image of a zodiac man might have decorated one of the walls of the room. Like the exploded illustrations of the muscular system or inner ear on the wall of a modern doctor’s examination room, such images were 222 Boll (1918), S. 79. Boll gibt an, daß das Nachrechnen der astronomischen Grundlagen zu Goethes Geburtshoroskop ihn einen Zeitaufwand von einer Woche kostete  : s. ebd., S. 86. Eamon (2014), S. 155–57 beschreibt den komplexen Prozeß  ; die Kategorien der Deutung, die er für medizinische Horoskope vorstellt, dürfen allerdings nicht als allgemeingültig gelten  : Sie wurden von Lauren Kassell aus Simon Formans Praxistagebüchern erschlossen, stellen also dessen ganz individuelle Praxis dar  : s. Kassell (2007), S. 133, Anm. 26. 223 Vgl. den Bildaufbau des Kupferstichs, mit dem sich 1667 der Arzt Johannes Michaelis porträtieren ließ (Kästner [2012], S. 320)  : Hinter einer zentral plazierten Vignette mit seinem eigentlichen Porträt zeigen sich zwei, auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt hinter der Vignette ausgerichtete Regale, in deren einem Bücher, dem anderen Medikamentenbehältnisse zu sehen sind  ; auf einem niedriger gesetzten Tisch vor Michaelis stehen die Hilfsmittel seiner besonderen Qualifikation als Chymicus  : Feuerstelle, Kolben, Destillierhelm etc. 224 S. hierzu Thornton, Dora  : The Scholar in his Study. Ownership and Experience in Renaissance Italy (New Haven/London 1997), bes. S. 53–75 und 127–74 zu den einzelnen Einrichtungsgegenständen.

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meant both to inform and to impress. […] On a table nearby might have stood a armillary sphere, an impressive metal instrument consisting of a spherical framework of rings, centered on Earth, representing lines of celestial longitude and latitude and other astronomical features. The armillary sphere was a model of the heavens in miniature, and the astrologer used it both to calculate nativities and to make impression on his clients.225

Die Iatromathematik diente in erster Linie der Prognostik und beeinflußte somit die Therapie mehr als die Diagnostik.226 Im Fall einer Erkrankung konnten die Berechnungen jedoch auch eine Erklärung dafür liefern, warum der Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt in seiner Gesundheit geschwächt worden war (nicht jedoch  : durch welche Krankheit) – ein nicht unerheblicher Vorteil dieser Methode aus der Sicht eines jeden Patienten, der sich der Plötzlichkeit und Beliebigkeit auftretender Leiden ausgesetzt fühlte. Um mit Zuständen umzugehen, die sich menschlicher Kontrolle entzogen, standen mit der Astrologie und dem christlichen Glauben zwei gleichermaßen sinnstiftende wie im Alltag der Menschen verankerte Konzepte zur Verfügung  ; 227 im Gegensatz zum göttlichen Willen aber waren die Planetenbewegungen vorhersehbar und auch nach festen Regeln zu deuten. Ein iatromathematisch praktizierender Arzt vermochte durch seine Horoskope die jeweilige Krankheit in einen größeren Bezugsrahmen zu setzen, der die generelle körperliche Konstitution des Patienten in Rückbindung an die ihn beeinflussenden Himmelskörper analysierte. Diese astrologische Bestimmung des »Temperaments«228 eines Patienten ermöglichte es ihm auch, spezifische Prophylaxemaßnahmen z. B. aus dem Bereich der Diätetik anzuempfehlen und somit der Krankheit wiederum den Anstrich des Beherrschbaren zu verleihen. Auch therapeutische Maßnahmen mochten besser vermittelbar sein,229 wenn ein Arzt mit Verweis auf die unveränderlichen Bewegungen der Himmelskörper einen rationalen Zugang zum Verständnis der Krankheit liefern konnte.

225 Eamon (2014), S. 150 (vgl. auch die zugehörige Abbildung S. 151)  ; s. auch die Beschreibung bei Kassell (2007), S. 125  ; vgl. Kap. 2.2.3. (Mayernes Konsultationsraum). 226 S. Müller-Jahncke (1985), S. 135–36  ; 153–64. 227 Robin Barnes weist darauf hin, daß der im deutschen Sprachraum besonders früh und weit verbreitete Kalenderdruck ein von kirchlichen Feiertagen und obrigkeitlichen Gedenktagen unabhängiges Zeitempfinden und damit auch die Wahrnehmung einer anderen über-menschlichen Ordnung neben der göttlichen etablierte  : s. Barnes (2016), S. 48–82, hier bes. S. 49–54  ; auch »Heilung« war damit nicht mehr allein an Heiligenverehrung und Fürbitten gebunden, sondern an die Regulierung von Naturvorgängen, wodurch der Arzt als für den Patienten vermittelnde Autorität neben den Priester trat  : s. S. 58–59  ; 74–75. 228 Die Sphären der Planeten wurden als korrespondierend mit den Qualitäten, Komplexionen und Säften des menschlichen Körpers gedacht  : s. Müller-Jahncke (2002), S. 179. Nach der von ihm berechneten Nativität bestimmte Magirus so bspw. das Temperament der Kurfürstin Luise Henriette als heiß und trocken  : UBM, Ms. 96, S. 512 (1654  : pro tempore conceptionis Serenissimae Electricis)  ; s. auch Kap. 1.4.2. 229 S. Kassell (2007), S. 128.

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Ärzte, die die Iatromathematik beherrschten, waren v. a. im Umkreis von Fürstenhöfen häufig zu finden, wo die Sorge um die (vorhersagbare) Gesundheit der Hofmitglieder stets mit politischen Interessen verschränkt war.230 In der Praxis des Stadtarztes Bossen finden sich dagegen keinerlei Horoskope  : Ob dies daran liegt, daß sich in Helmstedt zugleich eine Universität befand, deren Professoren als Leibärzte des braunschweigischen Hofes fungierten und so vielleicht selbst diese Marktnische bedienten, oder ob Bossen aus anderen Gründen die Iatromathematik für sich nicht in Betracht zog, muß dahingestellt bleiben. Vermutlich kam er während seines kurzen Studiums gar nicht mit dem Thema in Kontakt  ; man darf nicht vergessen, wie ausschlaggebend in dieser Hinsicht für Magirus der frühe Einfluß seitens des Hofmathematikers Benjamin Ursinus und später sein Aufenthalt an der von Melanchthon geprägten Universität Wittenberg gewesen war.231 Wie bereits dargestellt, war Magirus in seiner iatromathematischen Praxis ein strenger Befürworter der Reformastrologie Johannes Keplers und dessen Parteigängers Abdias Trew (1597–1669).232 Sein Diarium beantwortet die von William Clark aufgeworfene Frage, »ob Keplers geometrisch-harmonische Astrologie eine Anwendung auf die Alchemie und Medizin erlaubte«233 im positiven Sinne für die letztere. Johannes Magirus bezog die Tierkreiszeichen und die besonderen »Seeleneigenschaften« der Planeten nicht mehr in seine Behandlung ein, sondern orientierte sich allein an den Konstellationen der Planeten. Für die Positionsbestimmung der Himmelskörper benötigte er selbst nicht unbedingt ein Astrolabium  ; daß er gar eine der teuren Armillarsphären besaß, wie sie im Titelholzschnitt seiner Kalender auf dem beigestellten Tisch zu sehen ist, ist unwahrscheinlich.234 Aus einem Brief an Athanasius Kircher geht zwar hervor, daß er selbst Himmelsbeobachtungen anstellte,235 aber wie auf der Grundlage der von ihm verfassten Kalender nachzurechnen ist236 und das Vorhandensein verschiedener Ausgaben in seiner Bibliothek auch 230 Gerade die Horoskope für Adelige und Fürsten sind heute in den Archiven noch bündelweise vorhanden  ; s. Bauer (1989), S. 93–118  ; Brosseder (2004), S. 30–43. 231 S. Kap. 1.3.1  ; 1.3.2. 232 S. Kap. 1.3.2. 233 S. Clark (1999), S. 433–72, hier S. 451. 234 In diesem Punkt sind die Ausführungen Müller-Jahnckes (20  : »Als unentbehrlich für alle Berechnungen erwiesen sich die seit der Antike bekannten Instrumente Armillarsphäre und Astrolabium«) leicht irreführend  ; die gedruckten Ephemeridentabellen finden bis auf zwei beiläufige Erwähnungen (160  ; 251) in seiner umfassenden Darstellung der astrologischen Praxis der Frühen Neuzeit keinen Platz. 235 Magirus drückte hier seine Zweifel an den Ephemeriden des Andrea Argoli aus, da jene vom am Himmel Beobachteten abwichen  : Johannes Magirus an Athanasius Kircher, Zerbst, 1.10.1655. (Archivio Storico della Pontificia Università Gregoriana, APUG 568, 135–136  ; Regest [S. Schlegelmilch] unter  : www.aerztebriefe.de/id/00017209 (letzter Zugriff  : 13.12.2017). 236 Ich bin an dieser Stelle Richard Kremer zu großem Dank verpflichtet, der die Daten aller MagirusKalender durchgerechnet hat und zu dem Ergebnis gekommen ist, daß Magirus bis 1665 seinen Berechnungen wahrscheinlich die Ephemeriden Lorenz Eichstädts zugrunde legte  ; von den von Eichstädt herausgegebenen Kalendern übernahm er auch den Titelholzschnitt seiner Schreibkalender (s. Abb. 15)  : s. Matthäus, Klaus  : Zur Geschichte des Nürnberger Kalenderwesens. Die Entwick-

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nahelegt,237 benutzte er für die Berechnungen der Patientenhoroskope wie viele andere Kalendermacher gedruckte Ephemeridentabellen. Ein solches Vorgehen empfahl auch Trew als schnellere und leichtere Alternative zu eigenen Messungen.238 Diese gedruckten Tabellen waren im Vergleich zu astronomischem Gerät ungleich billiger und ermöglichten auch einem Arzt mit geringerem Einkommen ihre Anschaffung als Grundlage einer iatromathematischen Praxis.239 Sie listeten, für mehrere Jahr(zehnt)e vorausberechnet, jeweils tagweise die Positionen von Sonne, Mond und den restlichen Planeten auf.240 Hieraus konnte Magirus die einzelnen Aspekte der Planeten – d. h. in welchem Winkel sie jeweils zueinander standen – auch für vergangene Tage oder gar weit zurückliegende Jahre bestimmen. Hatte er die Daten dieser Konstellationen festgestellt, mußte er sie noch durch Anwendung spezifischer mathematischer Formeln an den Wohnort des Patienten und die Zeit des Krankheitsbeginns anpassen.241 Iatromathematische Berechnungen waren eine ärztliche Leistung, die nicht nur vom Geldbeutel des Patienten abhing, sondern auch dessen Beitrag zur Behandlung forderte. Der Kranke mußte genaue Daten liefern, z. B. hinsichtlich des Krankheitseintritts und seines Geburtstermins  ; ohne diese konnte der Arzt kein Horoskop erstellen.242 Damit wurde dem Patienten eine große Verantwortung für das Gelingen solcher Voraussagen auferlegt. Widersprüche zwischen dem, was in den Sternen stand, und dem, was im Krankenzimmer tatsächlich geschah, konnten stets mit der mangelnden Präzision der Berechnungen begründet werden, die wiederum aus ungenauen Angaben hervorgegangen sein mußten. Die Klientel, die Magirus mit Unterstützung iatromathematischer Analysen behandelte, wußte oft ihren Geburtstermin mit erstaunlicher Präzision zu nennen  :243 Der Küster von Fronhausen(?) gab bspw. an, er sei am 8. März 1593, einem Donnerstag, um 2.36 Uhr morgens zwischen Mittwoch und Donnerstag geboren worden, und nannte damit auch noch die angrenzenden Wochentage, die ihrerseits Planeten zugeordlung der in Nürnberg gedruckten Jahreskalender (Nürnberg 1968), S. 1174–75. Ab 1666 benutzte Magirus dann andere, ebenfalls auf den Rudolphinischen Tafeln basierende Tabellen (nach Kremer vermutlich die1662 in Danzig erschienenen von Hecker). 237 UBM, Ms. 664, S. 9–10. 238 Trew, Abdias (1663), s. IV, S. 8  : »Loca Planetorum vel computari, ut dictum, ex Tabulis vel desumi ex Ephemeridibus probatis possunt. Quorum posterius brevius & pro iis, quibus Astronomian ex professo tractare non libet, facilius.« 239 S. Kalff (2015), S. 151. 240 Zu den Ephemeriden als Grundlage der Berechnungen s. Reisinger (1997), S. 58. Vollständige Ephemeridentabellen für die Jahre 1400–2200 (damit auch für die Zeit, in die Magirus’ Praxis fällt) sind einzusehen unter  : http://www.astro.com/swisseph/swepha_g.htm (letzter Zugriff  : 13.12.2017). 241 S. Kalff (2015), S. 144. 242 S. ebd. 243 Solche Information wurden oft in die zu geringem Preis erhältlichen Kalender und Almanache eingetragen, die wie eine Familienchronik geführt wurden  ; s. mehrere solcher Kalendereinträge mit genauen astrologischen Angaben zur Geburt eines Kindes bei Tersch (2008), S. 38–39, hier bes. Abb. 2.

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Die ärztliche Praxis Abb.  16  : Astrologen erstellen bei der Geburt eines Kindes dessen Geburtshoroskop. Jacob Ruf  : De conceptu et generatione hominis (1558), Lib. I, Bl. 3r.

net waren.244 Dies war eine vorbildliche Angabe, denn nun konnte Magirus durch entsprechende Rechenoperationen, die Zeitzone und geographische Lage miteinbezogen, ein genaues Horoskop erstellen.245 Ausführliche Berechnungen finden sich auch bei dem kleinen Sohn seines Professorenkollegen Johannes Köppen. Bei ihm brachte Magirus eine besonders anspruchsvolle iatromathematische Praktik zur Anwendung  : Er analysierte nicht nur die Planetenkonstellationen zum Zeitpunkt des Krankheitsbeginns (Abb. 17, in der linken Spalte der linken Seite),246 sondern erstellte zusätzlich eine Nativität, d. h. ein Horoskop, das auf dem Geburtsdatum des kleinen Johannes basierte, sowie eine revolutio, d. h. ein Solarhoroskop, das auf dem Zeitpunkt basierte, als die Sonne wieder exakt dieselbe Position einnahm wie 244 UBM, Ms. 96, S. 533 (Dez. 1654  : Küster von Vrunshausen)  : »Natus A[nn]o 1593 Martii d[ie] 8 d[ie]  h(ora) 2.36 mane inter d[iem]  & «. Zu den Planetenzuordnungen zu Wochentagen s. Boll (1918), S. 84–85  ; Reisinger (1997), S. 26–54. 245 Zu dem genauen Vorgehen beim Erstellen eines Horoskops s. Müller-Jahncke (1985), S. 160–64  ; Reisinger (1997), bes. S. 58–66  ; Boll (1918), S. 85–90. 246 S. eine vollständige Übersetzung des Falles bei Schlegelmilch (2016b), S. 160–61  ; s. auch Atzl/ Helms/Neuner/Schilling (2013), S. 52  ; 54.

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Abb. 17  : Fallgeschichte des kleinen Johannes Köppen. Oben rechts das Urteil über die Ergebnisse  : »Revolutio ipsius non est optima« – seine Revolution (das Solarhoroskop) ist nicht die beste. UBM, Ms. 96, S. 301–02.

zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes. Der Vergleich all dieser Daten sollte zeigen, wie es zu der Erkrankung des Kindes gekommen war und zählte mit zu den anspruchsvollsten mathematischen Berechnungen, die Mediziner im 17. Jahrhundert anstellten.247 Jedoch erhielten bei weitem nicht nur ebenfalls akademisch gebildete oder adelige Patienten eine iatromathematisch ausgerichtete Behandlung. Gewöhnlich beschränkte Magirus sich allerdings allein auf ein Horoskop, das auf den Eintritt der Krankheit gerichtet war, sowie eine weitere Beobachtung des Planetenverlaufs von diesem Zeitpunkt an. Als er am 12. Januar 1652 zur Frau des Bürgermeisters von Zerbst gerufen wurde, zählte die Patientin ihm nicht nur ihre Symptome auf, sondern gab offensichtlich auch an, daß ihr Leiden (Fieber, Herzpochen, linksseitiger Schmerz) bereits zwei Tage zuvor, am 10. Januar, begonnen hatte.248 Magirus konsultierte daraufhin seine Tabellen  ; offensichtlich irrte er sich aber zunächst beim Bestimmen der Konstellation und verbesserte dann seinen Eintrag (s. Abb. 18). Nach seinen Berechnungen traten Mond () und Mars () am Tag der Erkrankung nicht, wie zuerst notiert, in ein Sextil (H), eine günstigere, sondern in einen Geviert247 S. Kalff (2015), S. 153–54. 248 UBM, Ms. 96, S. 228, (12. Jan. 1652  : burgem. Clemens fruwe).

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Abb. 18  : Magirus verrechnet und korrigiert sich  : Eintrag für die Frau Bürgermeisterin. UBM, Ms. 96, S. 228.

schein (#), eine ungünstige Konstellation  ;249 dabei wurde die grundsätzlich negative Kraft des Mars250 durch den Mond sowie das Eintreten des Geviertscheins am Tag des ebenfalls negativ besetzten Saturn () noch potenziert. Hiermit war eine plausible astronomische Begründung für das plötzliche Auftreten der Erkrankung gefunden  : Ein unheilvoller Planet, dessen Wirkung durch seine Position und den Zeitpunkt seines Erscheinens noch verstärkt worden war, hatte Frau Clemens geschwächt. Denn die Aspekte der Planeten waren mächtig, wie Magirus wußte  : »Finden sie auch in Menschlichen Leibern böse humores, so werden sie dieselben schärffen und auffrühren, dahero allerley Kranckheiten entstehen werden.«251 Am Rand der rechten Doppelseite notierte der Arzt außerdem den genauen Geburtstermin der Patientin  : den 27. Juli 1601, Donnerstag nach Johannis um 13.30 Uhr.252 Die Patientin war also bereits an einem Donnerstag, dem Jupitertag, geboren, was für eine noch größere Anfälligkeit bei einer solchen Planetenkonstellation sprach – hatte doch Johannes Kepler gerade den zum Zeitpunkt der Geburt vorherrschenden Planetenbezügen besondere Wirkung zugesprochen. Leider ist die entsprechende Zeichnung des Horoskops und ihre Auslegung im Diarium nicht enthalten  ; die zahlreichen in Archiven zu findenden Exemplare solcher Horoskope legen nahe, daß den Patienten Zeichnung und Deutung stets auf separaten Bögen ausgehändigt wurden, wie es auch bei dem von Magirus verfertigten Gutachten für den verstorbenen Markgrafen Ernst von Brandenburg der Fall war. Wohl aus diesem Grund ist in Magirus’ erhaltenen Notizen nur eine einzige grobe Skizze eines Horoskops zu finden.253 Doch zurück zur Patientin Clemens. Aus den Notizen ist zu ersehen, daß sich nach kurzzeitiger Besserung ihr Zustand mit obstruiertem Bauch und brennendem Durst erneut verschlechterte (»alvus obstructa, sitis maxima et ardentissima«). Neben diesen Sym249 Zu den Konnotationen der verschiedenen Aspekte vgl. Müller-Jahncke (1985), S. 25  ; Reisinger (1997), S. 65–66. 250 Reisinger (1997), S. 36–38. 251 Magirus, Johannes (1646b), Bl. B4r. 252 UBM, Ms. 96, S. 229 (12. Jan. 1652  : burgem. Clemens fruwe)  : »Nata Anno 1601 27 Julii, h[ora] 1.30 a merid[ie] d[ie]  post Ioannis.« 253 S. zu beiden Horoskopen Kap. 1.4.2.

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ptomen findet sich Magirus’ Erklärung vermerkt  : d(ie) 14. Jan(uarii) – erat  h(ora) 7. Es hatte also an diesem Tag eine Konjunktion () von Saturn (), dem bösartigsten aller Planeten, und dem Mond () gegeben  : eine der unheilvollsten Konstellationen, die man sich vorstellen konnte, da sowohl Konjunktion wie Mond die zerstörerische Kraft des Saturn noch verstärkten.254 Gerade Obstruktionen, wie sie hier vorlagen, wurden der Wirkung dieses Unheilsplaneten zugerechnet.255 Am folgenden Tag verstarb die Frau. Der geschilderte Fall scheint das Bild eines Arztes zu zeichnen, der machtlos gegen die Gestirne kämpft, die die Patientin durch ihre Bewegung unaufhaltsam in den Tod treiben. Dies entspricht jedoch nicht der Sicht der damaligen Ärzte. »Astra inclinant, non necessitant« – »die Sterne machen geneigt, sie zwingen nicht«, lautete das Credo der frühneuzeitlichen Astrologen.256 Magirus war offensichtlich der Meinung, gegen den unheilvollen Sog der Planeten einschreiten zu können  ;257 er versuchte es wenigstens. Wie er sich erklärte, daß ihm die Patientin verstorben war, schrieb er nicht auf, aber als eine mögliche Entlastung hätte gelten können, daß er nicht am Donnerstag, als die Krankheit begann, gerufen wurde, sondern erst am Montag darauf, als der Einfluß der Planeten schon seit längerer Zeit wirkte (es ist vermerkt  : »d.  vesperi ad hanc primo vocatus«). Magirus berechnete im Verlauf dieses Falles dreimal die aktuelle Planetenkonstellation – bei Krankheitseintritt, bei Verschlechterung und bei seiner Entscheidung für die letzte therapeutische Maßnahme  ; vermutlich erstellte er vorgängig zuerst eine Nativität. Auch wenn er die Patientin verloren hatte, bestätigte der Fall für ihn doch ein weiteres Mal die Gesetzmäßigkeit der Iatromathematik, wie er sie auch in seinen Kalenderschriften propagierte  : In angehenden Krankheiten aber ein neues Thema auffrichten […], auch Achtung geben, was für directiones vorhanden sein und wo der Mond im Anfang der Kranckheit gestanden, auch was für Aspecten in diesem oder jenen Temperament diese oder eine andere Kranckheit wircken […] und in welchem Zeichen der Mond lauffe, weil die gemeininglich pflegen an hitzigen Kranckheiten zu sterben, Wann der Mond im Anfang der Kranckheiten in dem Zeichen Krafft, da ein widriger Aspect zur Zeit der Geburt gestanden hat.258

Der hier zitierte Fall scheint den zweiten Teil dieser Aussage beispielhaft zu illustrieren  : Der Mond verstärkte die Wirkung des Saturn, an dessen Wochentag die Patientin zur

254 S. Müller-Jahncke (1985), S. 25. 255 S. Trew (1651), S. 22. 256 Boll (1918), S. 48  ; 51  ; s. auch Müller-Jahncke (2002), S. 173. 257 Daß es generell als möglich erachtet wurde, gegen den Einfluß der Planeten mit Medikamenten vorzugehen, zeigt das Schreiben eines Patienten an Simon Forman, in dem er diesen bat, ihm »ein Pflaster für den Rücken gegen Venus (T) oder Saturn (W) zu machen«, um die Schmerzen zu lindern  : s. Kassell (2007), S. 155. 258 Magirus, Johannes (1646b), Bl. C1r.

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Welt gekommen war  ; diese starb mit hohem Fieber. Der Tod der Patientin konnte so durchaus Sinn ergeben. Resümee  : Diagnose Magirus und Bossen teilten bestimmte diagnostische Praktiken, andere nicht. Selbst in denen, die sie beide anwendeten, unterschieden sie sich meist. In Magirus’ Fall prägte der nüchterne rationale Pragmatismus, mit dem er sich bereits im Gespräch seinen Patienten näherte, auch sein restliches diagnostisches Handeln. Hatte er erst den Informationsfluß von Seiten der Patienten und deren Angehörigen hinsichtlich der für ihn relevanten Fakten kanalisiert – d. h. die Angehörigen ignoriert, solange der Patient selbst reden konnte, sowie dann dessen Aussagen aller Spekulationen (z. B. über eine mögliche Krankheitsursache) entkleidet –, versuchte er, diese Aussagen durch weitere Untersuchungen zu bestätigen, zu präzisieren und zu kategorisieren. Er vertraute dabei nur den eigenen Sinnen, wobei er aber allem Anschein nach beim Betrachten des kranken Körpers (anders als Bossen) ein übergeordnetes, die objektive Einschätzung potentiell beeinflussendes Prinzip wie das des temperamentbedingten habitus nicht in seine Überlegungen miteinbeziehen wollte. In diesem Punkt, der Bestimmung des Temperaments, wie auch hinsichtlich des Pulsfühlens, das Magirus nur wenig praktiziert, wird eine interessante Diskrepanz zwischen seinem eigenem und dem Handeln der »richtigen Ärzte« sichtbar, wie er sie in seinen Kalendertexten beschrieb – denn für diese werden beide diagnostischen Praktiken als genauso wichtig postuliert wie z. B. die Urinschau. Es wird hier besonders deutlich, wie sehr Magirus in seinen publizierten Texten um die Konstruktion eines Ideal-Egos bemüht ist, das an normativem ärztlichen Konsenswissen ausgerichtet ist, dem er selbst aber im Alltag nicht unbedingt folgte. Was den reduzierten Einsatz des Pulsfühlens angeht, das bei Bossen dreimal so häufig zu beobachten ist, stellt sich angesichts Magirus’ starker Faktenorientierung der Verdacht ein, daß diese Methode ihm zu ungenau gewesen sein könnte. Die Blutschau (in Magirus’ Kalendern unerwähnt sowie von Bossen nicht praktiziert) gewährte Magirus nicht nur die direkte Beobachtung von Veränderungen in einer Schale, sondern, noch präziser, den direkten Vergleich dreier Proben sowie das Messen von Mengenverhältnissen.259 Beim Pulsfühlen gab es einen solchen Vergleich nicht. Es war nicht möglich, gleichzeitig einen zweiten Puls zu fühlen – der Vergleich mußte mit einer Fehlstelle, die nur aus der Erinnerung gefüllt werden konnte, stattfinden. Ein passendes Instrument stand nicht zur Verfügung. Der starke Einsatz der Harnschau und ihre Entwicklung zu einem wirklichen Kontrollinstrument der eigenen Behandlung (bei Bossen so nicht vorhanden, sondern meist nur einmalig) macht umso deutlicher, wie sehr Magirus sich an evidenten Befunden orientierte, an sichtbaren Hin- und Beweisen.

259 S. hierzu ausführlicher Kap. 4.2.4.

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Es scheint bei all dem zuerst einen Widerspruch zu bergen, daß die Iatromathematik (ebenfalls von Bossen nicht praktiziert), die gerade keine direkt durch den Körper hervorgebrachte, sondern nur theoretisch errechnete Informationen lieferte,260 für Magirus’ ärztliches Handeln von solcher Bedeutung war. Die Planeten jedoch waren in ihrem Lauf und ihrem damit verbundenen, wechselnden Einfluß auf die sublunare Welt selbst unbeeinflußbar – und damit für den mathematisch vorgehenden Arzt die einzigen wirklich berechenbaren Körper. Für Ärzte, die Vorgänge im Inneren des Menschen postulierten, die keiner von ihnen jemals gesehen hatte,261 mußten diese sichtbaren Himmelskörper mit ihren akzeptierten Verbindungen zum menschlichen Organismus nicht nur den ersehnten Einblick in verborgene Vorgänge versprechen, sie schufen auch eine Verständnisbrücke zum Patienten  : Denn sie waren, im Zweifelsfall mittels des richtigen astronomischen Geräts, in ihrer Bewegung am Himmel prinzipiell jedermann zeigbar. Dies galt erst recht für die auf Papier fixierten Zeichnungen und Berechnungen  : »To list, to count, to measure, and to represent results graphically  : these were the major tasks of astrology, drawing upon astronomy and merging with the trends that historians of science have identified with the mathematization of nature.«262 Die bislang betrachteten, diagnostischen Praktiken und die mit ihnen verbundenen Objekte (Blutschale, Harnglas) sind ohnehin diejenigen der ärztlichen Praxis, die den Patienten den Arzt am deutlichsten sichtbar machen – denn alles, was dieser im Anschluß daran im Übergang zur Therapie tat, das Nachschlagen in Büchern, das Aufzeichnen und Exzerpieren, das Zusammenstellen der Medikamente, fand in seinem Arbeitszimmer und damit meist außerhalb der Wahrnehmung der Patienten statt.

3.3 Therapeutische Praxis Wann dann der Medicus dieses erkant, so schreitet er alsdann zur gewissen Cur, welche dreyerley Instrumenta gleichsam gebrauchet, die Diaet, die Wundartzney, und die Apoteke oder medicamenta selbst, welche er dann auch noch nicht mit Nutz gebrauchen kan, wann er nicht einer gewissen und vorsichtigen Ordnung in der Cur sich gebrauchet.263

Was Magirus hier in seinem Prognosticon von 1649 als Vorgehen des richtigen Arztes bei der Therapie beschreibt, ist Buchwissen  : Er referiert die einschlägige Systematik Jean Fernels, wie dieser sie 1567 in der Vorrede seiner Universa medicina vorstellte.264 Den zitierten Zeilen folgt im Text des Prognosticon dann auch gleich die Fernel’sche Einteilung der Medizin in fünf Teile (Physiologie, Pathologie, Prognostik, Hygiene und Therapie) – 260 Ich danke an dieser Stelle Michael Stolberg für den Hinweis auf diese wichtige Differenzierung. 261 S. Nance (2001), S. 70 zu diesem Problem  ; s. auch Kap. 4.2.2. 262 Vgl. Dooley (2014), S. 248. 263 Johannes Magirus (1649), Bl. B1v. 264 Fernel, Jean (1567), praefatio (unpag.)  : »Unde iam practicae non partes, sed tres species statuentur διαιτητικὴ, φαρμακευτικὴ, χειρουργική.«

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Standardwissen, über das Magirus nachweislich auch seine Studenten prüfte.265 Sofort fällt auch bei der Therapie eine Diskrepanz zwischen der normativen Ordnung Fernels und Magirus’ Praxis ins Auge  : Das erste von Magirus zitierte instrumentum, die Diaet, spielte bei ihm selbst, oder wenigstens in seinem Diarium, keine Rolle im Heilprozess  ; er berücksichtigte die sex res naturales für die Diagnose ja nicht wirklich und gab auch keine diätetischen Empfehlungen.266 Die Texte der Kalender und Prognostica propagierten jedoch nicht nur Buchweisheit. Denn auffälligerweise setzte Magirus an der zitierten Stelle noch etwas hinzu, was nicht dem Text Fernels entstammt  : die abschließende Ermahnung zur gesteuerten und vorsichtigen Therapie, die allein von Nutzen sei. Das klingt zuerst recht allgemein, vielleicht auch wie eine Strategie, seine Leser für die Behandlung der gelehrten Ärzte einzunehmen. Magirus setzte diese Vorgabe in seiner eigenen Praxis aber auch konsequent um. Das Diarium zeigt an vielen Stellen, daß die Therapie ein von dem Arzt sorgsam geplantes und überwachtes Unterfangen war. Das gerne zitierte Bild vom frühneuzeitlichen Arzt, der seine Patienten durch unflexible Anwendung der immer gleichen, quälenden Methoden im schlimmsten Fall in den Tod trieb,267 wurde zu einem Klischee, das auch heutzutage noch gerne in populärwissenschaftlichen und fortschrittsgeschichtlichen Darstellungen zum Preis der modernen Medizin gezeichnet wird. Eine solche Vorgehensweise war jedoch auch für Magirus selbst – und viele seiner Zeitgenossen – der Inbegriff schlechten ärztlichen Handelns  : Die falschen Aerzte negligiren auch die Kräffte der Krancken, es lauffe ab wie es wolle  ; also hatte jener Artzt einen schwachen Patienten, so das Fieber hatte. Er ließ ihme die Ader, obs ihm gleich von andern widerrathen ward, der Patient verlohr zwar das Fieber, aber 2. Stund hernach aber mußt er sterben. Sennert. Solcher Curen begehren aber die Patienten nicht, und deßwegen begrüssen sie nit die Artzte.268 3.3.1 Die wichtigsten Helfer  : Körperkräfte & Ruhe

Ausgangspunkt jeder Therapie war für Magirus die von ihm vorgefundene individuelle Verfassung des Patienten. Die schon angesprochene Lehre von den Krisentagen berücksichtigte bereits verschiedene Phasen der Genesungsfähigkeit  ; Magirus richtete jedoch, auch unabhängig von diesen prognostizierbaren Tagen der körperlichen Erschöpfung, seine Beobachtungen stets zuallererst auf die noch vorhandenen Körperkräfte – die »Natur« des Patienten269 – und darauf, inwiefern diese Kräfte ihrerseits bereits selbst an einer 265 Schlegelmilch (2014a), S. 153. 266 S. Kap. 3.2.1. 267 S. den Brief der Herzogin Liselotte von der Pfalz, die berichtet, wie die Königin von Frankreich durch die »ignorantz der doktoren« und deren Aderlässe gestorben sei  : s. Heinz (2012), S. 252. 268 Magirus, Johannes (1649b), Bl. C2v. 269 Zur Kenntnis der Natur als Kennzeichen des »geschickten« Arztes s. Lachmund/Stollberg (2012), S. 29.

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Heilung arbeiteten. Aus dieser Warte gesehen konnten körperliche Erscheinungen, die man heutzutage als Symptom definieren und folglich versuchen würde zu unterbinden, sogar »gesund« sein. Die Patientin Berendt litt bspw. unter besorgniserregenden akuten Beschwerden, die allesamt Blutungen beinhalteten  : Übergibt sich, wirft blut mit dem brechen aus und hust, kann kein speise bei sich behalten, ist 46 jahr alt, ist drei tage krank, große schmertzen in der rechten seiten unter den kurtzen ribben  ; die leberlatwerge ist ihr mehr schädlich denn nützlich [eingef.: p[ro]p[ter] menses]  ; hat die menses oft 14 Tage nacheinander und hat es nun auch so sehr wiederbekommen das sie nit was sie machen soll [sic], die füßen haben auch für [= vor  ; Erl. D. Verf.] diesem geblutet.270

Die zu starken menses wie das Bluten der Füße waren nach zeitgenössischer Theorie als Ausleitungsversuch des Körpers zu betrachten  ; aber auch daß sie sich übergab, was kräfteraubend war und zudem den Magen strapazierte, wollte Magirus nicht unterbinden  : »Das brechen mus ihr nit benommen worden, den sie befindet sich darauf besser«. Das von der Patientin angegebene Gefühl der Erleichterung ließ ihn das Erbrechen ebenfalls als körpereigenen Therapieversuch interpretieren, dem er Vorrang vor eigenen Maßnahmen einräumte, und dies, obwohl er damit seine eigene Behandlung Einschränkungen unterwarf  : Oral verabreichte Medikamente waren somit als Therapie nämlich nicht mehr möglich. In solchen Fällen mußte der Arzt seine Flexibilität innerhalb seiner doch sehr beschränkten Möglichkeiten beweisen – schied eine Behandlungsmethode aus, mußte er dieselbe Wirkung möglichst mit einer anderen ebenso erreichen, wie auch bei seiner Patientin Clemens  : »Da eine Purgation nicht in Frage kam (»purgare non licebat«), injizierte ich einen aufweichenden und kühlenden Einlauf«.271 Erschwert wurde das ärztliche Handeln zusätzlich, wenn sich eine schlechte körperliche Verfassung mit fehlender compliance des Patienten paarten. Herr Ercken war solch ein schwieriger Fall  : »Ein Klistier wollte er nicht haben  ; er erbrach sich, deswegen wollte ich auch keine ausleitenden Mittel geben«.272 Solche Weigerungen der Patienten sind oft verständlich, wenn es um die einzunehmenden Medikamente ging, da die verwendeten Bestandteile keine Geschmackskorrektur erfuhren und zuweilen ziemlich widerwärtig geschmeckt haben müssen. Aber verordnet wurde, was helfen konnte  : »Die rechten Aertzte legen sich auff solche Artzneyen, welche die Kranckheiten heilen können, ob sie gleich bißweilen unangenehm seyn.«273 Kindern wurde die Medikation versüßt, denn sie sollten zwar nicht soviel Zucker zu sich nehmen, »doch muß man bisweilen etwas thun, damit 270 UBM, Ms. 96, S. 67 (26.–27.1.1648  : Frau Otto Berendt). 271 UBM, Ms. 96, S. 229 (10.–15. Jan. 1653  : Bürgermeister Clemens’ Frau). 272 UBM, Ms. 96, S. 462 (März 1654  : h[err  ?] d[ominus] Ercken)  : »incidit in arthritidem ego puto scorbuticam, clysterem nolebat sumere, vomebat, itaque exegetica dare nolui […]«. 273 Magirus, Johannes (1649b), Bl. B4r.

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man ihnen die Artzney einbringe.«274 Magirus notierte zu einem sechsjährigen Jungen  : »Ich habe ihm lösende Pillen verschrieben, er wollte sie aber nicht nehmen« (»praescripsi pillulas laxativas, at illas sumere noluit«)  ; der Arzt suchte die Situation dann durch ein Klistier zu lösen, zum Einnehmen bekam der kleine Patient aber etwas Süßes, ein Medikament aus Bezoar in Honigbier.275 Magirus bewies oft eine große Vielseitigkeit, wenn es darum ging, Medikamente zu finden, die den Patienten bekamen und sie, wenn möglich, nicht schwächten  ; er nahm dahingehende Beschwerden auch sehr ernst (s. u.). Meist notierte er auch nicht, daß ein Patient ein bestimmtes Mittel nicht nehmen wollte, sondern nicht konnte, womit die Verantwortung für das weitere Vorgehen wieder an ihn zurückfiel. In einem nüchtern reihenden Eintrag wie dem folgendem  : »Ich habe ihm einen nodulus mit Eisen (»nodulum cum «) verschrieben, aber er konnte ihn nicht nehmen (»sumere non potuit«), darauf gab ich ihm Aloe rosata, in Weingeist mit Kristallen von Weinstein und mit Myrrhe gelöst«, schwingt vielleicht nicht nur wissenschaftliche Objektivität, sondern in dem genannten Unvermögen auch eine gewisse Einsicht in die Mühsal der Behandlung auf Patientenseite mit.276 Zurück zu den Körperkräften. Ihr (Noch-)Vorhandensein war für Magirus die Prämisse jeder Heilung, und er kommentiert auch die Aussichtslosigkeit der Situation, sollte dies nicht der Fall sein.277 Auch wenn ein Patient keinen Einspruch gegen eine bestimmte Behandlung erhob, ja sie vielleicht sogar verlangte, sah Magirus bei zu großer Schwäche oft von bestimmten therapeutischen Mitteln ab, vor allem aber von den von vielen Kritikern der Ärzte verteufelten Aderlässen  : »Ich wollte die Ader nicht schneiden (»venam secare nolui«), sondern habe [stattdessen] ein Purgiertränklein verschrieben«, heißt es bei einem schwachen Patienten, bei einem anderen ganz direkt  : »Ich habe aufgrund der Schwäche seiner Kräfte keinen Aderlaß gewagt (»non ausus V[enae]S[ectionem] p[ro] p[ter] virium debilitatem«), sondern trockene Leberschröpfköpfe gesetzt«.278 Auch wenn ein Aderlaß zur Anwendung kam, wurde er nicht immer auf dieselbe Weise durchgeführt, sondern nahm Rücksicht auf die Verfassung des Kranken  : »Ich habe den Aderlaß in dem Umfang angewandt, wie er ihn ertrug«.279 Die eben beschriebene Haltung zum Aderlaß findet sich genau so auch durchgehend bei Johann Heinrich Bossen, nur daß dieser, genau übrigens wie bei der Medikation (s. u.), keinen so systematischen (und erläuterten) 274 Magirus, Johannes (1668a), Bl. B2r. 275 UBM, Ms. 96, S. 308 (Feb.–3. März 1653  : Herrn Hoffraht Köppen Sohn). 276 UBM, Ms. 96, S. 216 (Sept. 1651  : Herr Syndicus). Magirus hätte auch einfach notieren können  : »hat es nicht genommen«. 277 Magirus, Johannes (1648b), Bl. B4v  : »[…] etliche kommen zu spät zu dem Medico, wann die Natur schon unterlieget«. 278 UBM, Ms. 96, S. 254 (Mai/Juni 1653  : Der von Scherstett zu Görtzke)  ; ebd., S. 264 (die 2 post Trinitatem 1652  : Eisenberger studiosus). 279 UBM, Ms. 96, S. 264 (29.–30.7.1652  : Schlösser mercator)  : »adhibui V[enae]S[ection]em, quantum durabat.«

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Ansatz erkennen läßt wie Johannes Magirus. Seine Aufzeichnungen sind deswegen für die Auswertung der therapeutischen Vorgehensweise und einen Vergleich mit Magirus’ Praxis nicht so erhellend, wie es bei den diagnostischen Schritten der Fall war. An dem folgenden Kommentar zeigt sich, daß Magirus sich auch bei anderen Maßnahmen des Ausmaßes der durch das ärztliche Eingreifen verursachten Strapazen und der damit einhergehenden Schwächung bewußt war  : […] dann das ist zwar eine schlechte Kunst einem Starcke Purgationes geben, die da oben und unten wircken, wie es der gemeine Mann beiweilen für das beste helt. Meine lieben Freunde, es ist damit nicht gethan, dergleichen Mittel schwächen die Leibeskräfften, verursachen oft groß reissen, unordentlich ziehen des Magens, gefährlich zucken der Glieder, dann es folget in kurzer Zeit, daß man zehenmal mehr böse Feuchtigkeiten samlet dann zuvor auspurgieret ist  ; dadurch wird das Leben verkürzet und viel Kranckheiten verursacht.280

Er verschrieb deswegen des Öfteren zusammen mit den Purgantien auch Stärkungsmittel (»confortantia«), sah aber deren Wirkung wiederum nur im Zusammenspiel mit den natürlichen Heilkräften des Körpers gegeben. Oft finden sich im Protokoll des Behandlungsverlaufes Notizen wie  : »Nachdem sie zwei Tage ausgeruht und wieder Kräfte gesammelt hatte« (»cum per biduum quiesceret et vires recolligeret«)  ; »nach einem Tag Pause« (»uno die intermisso«)  ; »nach einem Tag Ruhe« (»post diei unius quietem«).281 Die Behandlung stellt sich hier als ein System dar, in dem Phasen von ärztlicher Tätigkeit (»actio«) und deren Aussetzen (»quies«) abwechseln, unterbrochen nur durch akute Krisen, die gegebenenfalls ein Notfallhandeln erfordern. Der Arzt notierte sich diese Pausen dezidiert als wichtigen Bestandteil des Behandlungsverlaufs. »In der Nacht schwitzte er, am folgenden Morgen war der Puls normal. Ich habe nichts verschrieben«, kommentierte er einen Behandlungsschritt in der Therapie eines Kranken mit Quartanfieber, den er nach Einhaltung dieser Pause dann aber durchaus noch weiterbehandelte  : Die nächtliche Ruhe hatte hier den Selbstheilungskräften Gelegenheit gegeben, das bei Fieber so wichtige Schwitzen auszulösen.282 Die durch den Arzt selbst initiierten Ruhezeiten dienten also zur Erholung von der strapaziösen Therapie, gaben dem Körper aber auch Gelegenheit, in dieselbe wieder einzusteigen. Erkannte dann der Arzt die natura medicatrix, die »Heilerin Natur«, bei der Arbeit, hielt er sich selbst völlig zurück  : »Schließlich kamen die menses, und ein siebter Krampf, deswegen habe ich von Medikamenten völlig abgesehen« (»omnino abstinui«),283 denn  : »Wann die Natur etwan sich eines schädlichen Dinges entschütten wil, wie in den 280 Magirus, Johannes (UPR), S. 6. 281 UBM, Ms. 96, S. 215 (Aug./Sept. 1651  : Rittmeister Seesen coniunx)  ; ebd., S. 217 (29. Aug. 1651  : die Apitzin)  ; ebd., S. 285 (Jan. 1653  : Hofrath Gerholds die coniunx). 282 UBM, Ms. 96, S. 273 (Okt. 1652  : Quartana des Cancell[arii] Praeceptoris)  ; zum heilsamen Schwitzen als actio der Natur s. auch Stolberg (2012), S. 512. 283 UBM, Ms. 96, S. 306 (Feb./März 1653  : Meetschin).

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paroxysmis der Fieber, so lassen die rechten Medici der Natur ihren Lauff«.284 Richtschnur war somit stets das Wirken der Natur  : Von dem, was sie nicht heilen konnte, mußte der Arzt beim nächsten Therapieschritt ausgehen, deswegen war abzuwarten, wie sich die Lage entwickelte  : »Ich habe innegehalten und keine Medikamente verschrieben  ; beobachtet, was die Natur bewirken würde«.285 Magirus kommentierte diese Vorgehensweise erneut auch bei einer anderen Fieberpatientin  : »Da die Natur am Werke war (»natura agente«), tat ich nichts«. Das »Nichtstun« wird hier von ärztlicher Seite wieder mit dem Begriff des »Ruhens« umschrieben (»quievi«), dies wiederum durch Rekurrieren auf medizinische Autoritäten noch einmal mit dem Agieren der Natur kontrastiert  : »Der Arzt soll ein Beobachter sein, nicht die treibende Kraft« (»medicus sit spectator, non actor«), exzerpierte Magirus aus Heurnius’ Hippokrates-Kommentar und notierte sich das Zitat als Marginalkommentar neben diese Behandlung, wahrscheinlich, um es im Unterricht als passende gelehrte Sentenz zu seinem Vorgehen parat zu haben.286 In Magirus’ Diarium schlägt sich so ein theoretischer Diskurs, in dem u. a. Caspar Hofmann und Daniel Sennert in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Heilkräfte der Natur und die Rolle des Arztes als deren Unterstützer diskutierten,287 in praktischer Anwendung nieder. Magirus’ Aufzeichnungen zeigen zudem, daß er auch im Bereich zwischen Agieren und Ruhen feinere Abstufungen kannte. Er konnte, wenigstens nach seinen eigenen Worten, die Wirkung seiner Medikamente genau einschätzen  ; erzielten sie auch bei Erfolg letztlich alle dasselbe Resultat (und führten ab), so vermochte er nach eigener Einschätzung doch zu beeinflussen, wie drastisch (und damit auch wie lange) dies vor sich ging. Des Öfteren verzeichnete er das Verabreichen einer bewußt nur leichten Purgation  : »Zweimal habe ich [den Darm] geleert mit einem leichten Abführmittel« (»evacui leni evacuatione«)  ; »etwas Leichtes ist zu geben zum Reinigen von Materie« (»aliquid dandum pro purganda materia leniter«)  ;288 manchmal begründete er diese besonderen Dosierungen auch  : »Nota bene  : sie muß ganz vorsichtig purgiert werden (»cautius purganda«), denn sie hat scharfe Säfte in sich«.289 Zeigten die Medikamente nicht die gewünschte Wirkung, fragte er nach, bevor er wirklich starke Wirkstoffe einsetzte, und klärte die Patienten wohl auch über die möglichen Folgen auf  ; der Patient Rosenkrantz wenigstens »lehnte starke Abführmittel nicht ab« (»fortia purgantia non respuit«), obwohl sie ihn sicher geschwächt und für einige Zeit beschäftigt gehalten haben dürften. Alles in allem durfte die Behandlung nicht zu lange dauern – nicht nur im Hinblick auf schwächende Effekte, sondern auch, weil zur 284 Magirus, Johannes (1649b), Bl. C1v. 285 UBM, Ms. 96, S. 272 (22.10.1652  : Quartana des Cancell[arii] Praeceptoris)  : »substiti et nil medicamentorum praescripsi, videns quid natura actura sit.« 286 UBM, Ms. 96, S. 362 (März 1653  : Dr. Nathans vidua). 287 S. Neuburger, Max  : Die Lehre von der Heilkraft der Natur im Wandel der Zeiten (Stuttgart 1926), S. 33–34. 288 UBM, Ms. 96, S. 261 (die 2 post Trinitatem 1652  : herr burgerm. Taschenberger]  ; ebd., S. 283 (20. Jan.1653  : Frau Bürgermeister Berg). 289 UBM, Ms. 96, S. 293 (Feb. 1653  : frau burgerm. Kramers vidua).

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Natur des Körpers auch die Gewöhnung gehörte  : »Die Gewonheit des Patienten, worzu er gewohnet ist oder nicht, ist darum auch wol in acht zu nehmen, daß man einen Patienten, so lange kranck gelegen, nicht allerley Artzney verschreibe, damit sich die Natur nicht daran gewohne.«290 3.3.2 Chirurgische Maßnahmen

Die Trennung zwischen ärztlicher und chirurgischer Zuständigkeit war in der Regel unbestritten und in den Städten in der Regel sogar durch schriftliche Verordnungen festgelegt.291 Die Eintragungen der Praxistagebücher sind in dieser Hinsicht mitunter verwirrend, da die meisten Ärzte von chirurgischen Maßnahmen292 in der ersten Person schreiben, als ob sie selbst die ausführenden Akteure dieser therapeutischen Maßnahmen gewesen seien.293 Der Chirurg wird damit, wie ein Instrument in den Händen des Arztes, gleichsam unsichtbar, was ein gewisses Licht auf die Selbstwahrnehmung der Ärzte wirft. Gerade Magirus beschrieb den Behandlungsverlauf gerne reihend in dem Stil »zuerst blutige Schröpfköpfe, dann habe ich ihm die Ader geschnitten […], dann habe ich ihn purgiert […].«294 Ebenso hielt es Bossen, nur daß bei ihm in einigen Einträgen besser sichtbar wird, daß das faktisch Berichtete eher ein »ich ließ die Ader schneiden« bedeutete. Durch seine bereits erwähnte, für Berufseinsteiger charakteristische Ausführlichkeit überlieferte er uns Szenen, die gewöhnlich in solchen Aufzeichnungen hinter dem gewollt dominanten Handeln der Ärzte verschwanden  : Ich riet zu einem Aderlaß. Er stimmte zu. Der Chirurg versuchte an der Hand zu schneiden, aber weil er [der Patient] so fleischig war, konnte dort kein hinreichend annehmlicher Aderlaß durchgeführt werden, obgleich er dreimal in die Vene gestoßen hatte. Deswegen hat er die mediana am linken Arm geschnitten wegen deren guter Eignung. Denn das linke Auge war fast völlig blutunterlaufen.295 290 Magirus, Johannes (1649b), Bl. C3r. 291 S. Hasler, Felix  : Johannes Bauhin d. J. (1541–1613) und die Genfer »Ordonnances sur l’estat de la Médicine, Pharmacie et Chirurgie« von 1569, in  : Gesnerus 30 (1973), S. 99–104, hier S. 102 (Genf )  ; Kinzelbach (2017). 292 Unter chirurgischen Maßnahmen werden hier alle Tätigkeiten subsumiert, die von Baderchirurgen, Wundärzten und Barbieren – seit dem 17. Jahrhundert in einer gemeinsamen Zunft organisiert  : s. Heinz (2012), S. 256 – ausgeübt wurden  : zum einen das Verbände-Anlegen, Schienen und Einrenken, zum anderen das Aderlassen, das Legen von Fontanellen und Haarseilen, das Skarifizieren und Setzen trockener wie blutiger Schröpfköpfe. Zu der mit am häufigsten angewandten Behandlung, dem Aderlass, s. den geschichtlichen Abriß bei Heinz (2012). 293 Typische Formulierungen sind z. B. »venam secui«, »sanguinem extraxi« etc. 294 UBM, Ms. 96, S. 374 (April 1653, Ambros Hintzen Sohn)  : »primo cucurbitales scarificatas, deinde ipsi V[enam] secui […], purgavi deinde ipsum […].« 295 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1651, S. 20 (Nr. 23  : Valentinus Crill)  : »suadebam V[enae] S[ectio]nem. admittebat. chirurgus tentat in manu secare, sed quia erat carnosus adeo, non poterat

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Man sieht, daß der Chirurg seinerseits ein Fachwissen mitbrachte, nämlich darum, wo am Körper ein Aderlaß möglich und somit auch alternativ vorzunehmen war, wenn er sich an der vom Arzt gewünschten Stelle als nicht durchführbar erwies. Auch andere Kompetenzen lagen allein beim Chirurgen  : Bossen war als akademisch ausgebildeter Arzt offensichtlich eigenständig nicht in der Lage festzustellen, ob bei einem Patienten eine Verrenkung vorlag oder nicht. Obwohl einer seiner Patienten sich nicht erinnern konnte, sich etwas verrenkt zu haben, war dies doch der Verdacht der anderen Anwesenden, und Bossen ging dem nach, indem er einen Chirurgen rief, »der mit den Händen wiedereinrichten sollte, falls etwas nicht mehr am Platz oder verrenkt wäre.«296 Hier begegnet uns wörtlich der Chirurg als »Handarbeiter«, eine Wahrnehmung, die ebenfalls allzu schematisierend zu der bereits erwähnten, lange vorherrschenden Beurteilung der frühneuzeitlichen Ärzte als körperferne Beobachter geführt hat. Es ist aber beileibe nicht so (obwohl die Praxistagebücher diesen Eindruck erwecken möchten), daß der Chirurg oder anderes Heilpersonal nur zur Durchführung ärztlicher Anweisungen gerufen wurde und allein nicht handlungsfähig gewesen wären. In dem bereits erwähnten einen Fall, in dem Magirus das Handeln eines Chirurgen explizit erwähnte, hatte sein Patient nach einem Sturz vom Pferd bezeichnenderweise zuerst besagten Chirurgen aufgesucht, war untersucht worden und hatte dort auch ein Medikament erhalten, ein nicht näher erläutertes Pulver gegen den Sturz.297 Eine von Bossens Patientinnen erhielt von einem Chirurgen sogar ein Medikament zur gründlichen Purgation298 – also eine Zusammenstellung, wie sie klassischerweise von Ärzten verschrieben werden sollte. Die Dokumentation von Medikamente verabreichenden Chirurgen in beiden Praxistagebüchern zeigt erneut,299 wie gering der Unterschied zwischen Arzt und Chirurg aus damaliger Patientensicht gewesen sein muß, mehr noch  : um wie viel qualifizierter vielleicht auch der Chirurg erscheinen mußte, der sowohl Hand anlegen wie Medikamente empfehlen konnte (auch wenn Ärzte das nicht wollten)  : Am 10. Januar werde ich aufs Land zum Müller von Berenschleben gerufen. Dieser hatte vor 16 Tagen an einer Geschwulst der Mandeln am Hals und im Schlund sowie einer Fröschleingeschwulst unter der Zunge gelitten, so daß er nicht schlucken und auch nicht sprechen ibi satis commode V[enae]S[ecti]o[nem instituere], quamvis ter p[er]tuderat venam. ideoque medianam in bracchio sinistro secat pp. τὸ καλ’ ἵξιν. nam oculus sinister plane erat sanguine suffusus.« 296 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 162 (Nr. 113  : Famulus Dn. Meisters)  : »nam de luxatione non meminerat ipse, verum adstantes suspicabantur  ; vocari iubeo chirurgum, qui manuum opera restitueret, si quid e[ss]et loco motum, aut luxatum […].« 297 UBM, Ms. 96, S. 263 (Juni 1652  : der Ambtsschreiber von Roslow)  : »die [sic] equo recidit et contussione passus die  die  a chirurgo Ducali exploratus, etiam pulvis contra casum.« 298 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 98 (Nr. 112  : Uxor Cauponis von der Sommerschen burg)  : »ante octiduum a chirurgo quodam accepit pharmacum, quod trigesies fere moverat alvum.« 299 S. Kap. 2.2.3.

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konnte. Am 6. Krankheitstag ruft er den Chirurgen, der es durch Gurgelwasser und scharfe Mundspülungen dahin bringt, daß die Geschwulst aufbricht und viel Eiter ausschüttet. Er reinigt das Geschwür, so weit es geht, aber eitrige Materie drängte sich im Folgenden in einer solchen Menge heraus, daß sie das Atmen und Schlucken gleichermaßen verhinderte. Der Chirurg hatte vor vier Tagen ein lösendes Mittel gegeben, durch einen Diabetes oder Siphon, das dreimal abgeführt hat, aber mit jedem Tag nahmen die Kräfte mehr und mehr ab, da ja dem Körper die Nahrung vorenthalten wurde. Denn 14 Tage lang konnte er nicht einmal Flüssiges schlucken. Ich verschreibe ein Gurgelwasser  […] Durch das Gurgeln wurde viel fette und zähe Materie ausgeleitet. Ich lasse den Hals und die Brust mit Wein- und Lorbeerspiritus einreiben, und ordne an, daß die Anwesenden mit einem kleinen Pinsel, der in einen mit Rosen und Veilchen versetzten Süßwurzelsirup getaucht wurde, Gaumen und Schlund reinigen. Aber alles vergebens. Am 13. Tag [des Januar] starb er.300

In diesem von Bossen notierten Fall scheinen alle fest definierten Zuständigkeiten aufgehoben zu sein. Sowohl Chirurg wie auch Arzt verordnen Gurgelwasser  ; beide bringen Purgationsmittel mittels bestimmter Hilfsmittel (Diabetes und Pinsel) in den Rachen ein, wobei wieder der Chirurg die klassische Abführkur verabreicht  ; daß der Arzt den spiritus zum Einreiben nicht selbst aufzutragen scheint, kann daran liegen, daß es sich wie auch bei dem Einpinseln des Rachens um einen Auftrag an die adstantes handelte  ; aus Magirus’ Aufzeichnungen jedenfalls geht hervor, daß auch Ärzte Salben auftrugen.301 Andrew Wear hat mit Recht darauf hingewiesen, daß trotz der Abgrenzungspolemik der Ärzte das gesamte Heilpersonal der Frühen Neuzeit im Grunde das gleiche Krankheitsverständnis teilte und dadurch auch für die Patienten vergleichbar wurde – wobei wiederum der Vergleich dem akademischen Arzt keine besondere Position zuwies  : »Another way of putting it is that all practitioners gave out remedies and that the empiric was a bit of a rationalist and vice versa.« 302 Dementsprechend sahen die Patienten bei 300 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1654, S. 13 (Nr. 22  : »moller zu berenschleben)  : »Die 10. Jan. vocor in agrum zu dem moller von Berenschleben. Is ante 16 dies tumore glandularum in collo et faucibus et ranula sub lingua laboraverat, ita ut ac deglutire nec loqui potuisset. D. 6 morbi chirurgum ad se vocat, qui gargarismis et acris oris collutionibus tantum promovet, ut tumor ruptus multum puris effuderet. Purgat ulcus quantum potest, verum materia purulenta tanta sequ[ente] copia ad palatum detrudebatur, ut et spirandi et deglutiendi viam intercluderet identidem. Propinarat chirurgus ante quatriduum pharmacum laxativum, per diabeten aut siphonem, quod ter alvum movit, verum quotidie magis ac magis vires deficiebant, denegato corpori alimento. Nihil [e]n[im] per 14 dies deglutire ne liquida q[uid]em potuit, p[rae]scribo gargarismum  […] gargarizando multum crassi et viscidi puris fuit eductum. Collum et pectus spiritu vini et iuniperi inungi curo, iubeo ut penicillo intracto syr[upo] glycyr[rhizae] ros[ato] & viol[ato] palatum et fauces purgent adstantes. Verum o[mn]ia frustra. d.13 obiit.« 301 In einem Fall einer gemeinsamen Behandlung zusammen mit seinem Kollegen Weise differenziert Magirus sogar explizit, wer was getan hat, s. UBM, Ms. 96, S. 92 (Jan. (?) 1648  : die frau Gröbin)  : »dedimen (!) medicamenta et D. D. Weis inunxit umbilicum«. 302 Wear (1989), S. 303–04  ; ähnlich äußert sich auch der italienische Arzt Marcello Malpighi (1628–

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anderen Heiltätigen durchaus eine selbständige Kompetenz und ließen sich auch nicht von ihrem Wunsch z. B. nach einer chirurgischen Maßnahme dadurch abbringen, daß der behandelnde Arzt hiervon abriet. Bossen war dagegen, daß ein in seinen Augen zu schwacher Patient einen Aderlaß vornehmen ließ, aber  : »Er wollte es trotzdem zulassen und sein Glück versuchen.«303 Neben empirischem Interesse dürfte auch eine gewisse Genugtuung des übergangenen Physicus dazu geführt haben, daß Bossen hier im Folgenden notierte, daß der Aderlaß mißlang, da fast kein Blut zu ziehen war. Die Einschätzung der Kompetenzen aus Sicht der Patienten wird auch an einem anderen Fall deutlich  : Von einer Wöchnerin berichtete Bossen, sie habe, als sie durch den Milchfluß Geschwulste an den Brüsten bekommen habe, innerlich wie äußerlich Heilmittel angewendet. Verabreicht wurden diese von den Bezugspersonen, die bei Kindbettfragen zuerst als zuständig betrachtet wurden, die von Bossen so gerne verspotteten »Weiblein«. Als die Beschwerden jedoch nicht abheilen wollten und sich stattdessen neben einer Entzündung auch noch ein Abszeß bildete, griff die Frau zur Beseitigung dieses äußerlichen Leidens auf die Hilfe eines anderen Heiltätigen zurück  : Sie ließ den Abszeß von einem Bader in der Nachbarschaft öffnen (»aperiri curat a balneatore vicino«). Während sie dann solchermaßen in Behandlung war, bekam sie eine Diarrhoe und Asthma  ; und erst dann, und zwar nachdem sie unter diesen Beschwerden schon seit vier Monaten (!) gelitten hatte und völlig ausgezehrt war, ließ sie den akademischen Arzt holen, der sich nun mit seinen auf das Körperinnere ausgerichteten Heilmitteln um sie kümmern sollte. Seine Zuständigkeit blieb aber in ihren Augen ganz offensichtlich nur auf die Beseitigung des Durchfalls beschränkt, denn mit ihren Beschwerden an der Brust vertraute sich sich weiter dem Bader an (»curam mammarum balneatori commiserat«).304 Während sich in Magirus’ Aufzeichnungen also nur spärliche Hinweise auf die Beauftragung eines Chirurgen im Verlauf der Behandlungen finden – sie sind aus Anordnungen wie »ordinavi V[enae]s[ectio]nem« oder »ordinavi fonticulum« herauszulesen –, verzeichnete Bossen des Öfteren, daß er zu dem Besuch eines Chirurgen geraten hatte. Interessanterweise findet sich bei beiden Ärzten kein Hinweis darauf, daß anderes Heilpersonal Patienten an sie verwiesen hätte – obgleich dies, wenigstens bei Bossen, zur Steigerung des eigenen Prestiges wohl notiert worden wäre. 3.3.3 Medikation

Medikamente zusammenzustellen, die den Leiden des Patienten wirkungsvoll begegnen konnten, war alleiniges Vorrecht, da auch alleiniges Können der akademischen Ärzte – so wollten deren zahlreich publizierte Polemiken wenigstens glauben machen.305 Medika1694), als er über seine eigene Praxis schreibt  : s. Bresadola (2011), S. 212. 303 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 162 (Nr. 113  : Famulus Dn. Meisters). 304 SUB Göttingen, Cod. Ms. Meibom 151, 1653, S. 142 (Nr. 190  : Puerpera quaedam). 305 S. Kap. 2.2.2.

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mentenwissen als vermeintliches Alleinstellungsmerkmal stellte ein beliebtes Element der Selbststilisierung dar. Auch Magirus begründete in einem Beschwerdebrief an Fürst Johann VI. von Anhalt-Zerbst die Unerträglichkeit studentischen nächtlichen Lärmens mit der Störung seiner höchstwichtigen Medikamentenstudien.306 Obgleich die Ärzte also ebenso wenig wie alle anderen Einblick in die tatsächlichen Körpervorgänge hatten, nahmen sie doch für sich in Anspruch, theoretisch zu wissen, was im Körperinneren ablief.307 Wer zu dieser theoretischen Spekulation nicht in der Lage war, da er nicht die kanonischen Werke studiert hatte, aber dennoch Medikamente verabreichte, griff nach Magirus, wie schon gesehen, »in ein frembdes Ampt« ein.308 Auch Johann Heinrich Bossens Hang zur Polemik gegen nichtakademische Heiler und ihre Medikamente wurde im Kontext des Patientengesprächs bereits erwähnt. Anders als Magirus’ Aufzeichnungen lassen seine Ephemerides aber nicht erkennen, wie er im Einzelnen zur Entscheidung für eine bestimmte Medikamentenzusammenstellung kam, was also genau seine Medikamente von denen der »Weiblein« und anderer zu verunglimpfender Konkurrenz unterschied. Magirus hatte bereits 1646, in der Ankündigung eines seiner Berliner Kollegien, verkündet, er wolle einige Zenturien Curationes publizieren.309 Praxistagebücher sind als Quelle solcher Publikationen bekannt  ;310 es ist also nicht verwunderlich, daß Magirus bereits auf dem Titelblatt seines eigenen Diarium (s. Taf. 1) eine entsprechende inhaltliche Zielsetzung formulierte  : Er nennt es dort – mit besonderer Gewichtung auf der Therapie – einen »Katalog der Kranken, in welchem deren Krankheiten berichtet werden, und sowohl die Therapie wie der Erfolg der Medikamente, und das Verschriebene selbst einer Betrachtung unterzogen werden«.311 Die hier explizit gemachte Ausdifferenzierung des therapeutischen Ansatzes in Zusammensetzung (»das Verschriebene«) und Erfolg der Medikamente läßt bereits erkennen, daß der Verfasser nicht einfach nur eine Zusammenstellung empirischen Wissens ins Auge gefaßt hatte, sondern sich für ihn das Auffinden wirksamer Substanzen als ein systematischer Prozeß darstellte. Seine Beobachtungen richteten sich hierbei aber nicht nur auf das »Was«, sondern v. a. auch das »Wieviel«, also die Dosierung der Einzelsubstanzen, deren jeweiliger Anteil zu errechnen war (s. Abb. 19). Bezeichnenderweise ist die oben erwähnte Absichtserklärung, Curationes publizieren zu 306 S. Kap. 1.1.4. 307 »The need to show oneself as an educated, rational, physician and to attract fee-paying patients made it inevitable that physicians continued to use what […] were essentially speculations«  : Wear (1989), S. 296. 308 S. Kap. 2.2.2. 309 Wörtlich als »Therapien« zu übersetzen, zielte diese Publikationsform primär auf die Veröffentlichung erfolgreicher Behandlungen durch bestimmte Medikamente  : s. Stolberg (2007), S. 85  ; Pomata (2010), S. 206. 310 Stolberg führt z. B. die »excerpta ex diario practico« des Tancredus Lelius an, die Thomas Bartholin 1662 als Curationes veröffentlichte  : Stolberg (2007), S. 84  ; s. auch ders. (2013b), S. 509–10 zu den Aufzeichnungen Georg Handschs. 311 Die Beschreibung lautet  : »Catalogus aegrotorum, in quo ipsorum morbi referuntur & cura et successus medicamentorum, medicinataque ipsa recensentur«.

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wollen, in der Ankündigung seines mathematischen Kollegs enthalten und steht als letzte in einer Reihe geplanter mathematischer Veröffentlichungen.312 Besonders der diesen Kollegankündigungen zeitlich nahestehende Berliner Teil des Diarium belegt Magirus’ systematisches Vorgehen bei der Medikamentenzusammenstellung. Im Gegensatz zu den Einträgen aus Zerbst, bei denen für ihn – wohl mit Blick auf die Verwendung im Unterricht am Gymnasium Illustre – die theoretische Aufarbeitung der Fälle im Vordergrund stand, verzeichnete Magirus in Berlin Rezepte stets ausführlich mit expliziten Mengenangaben. Zu sehen ist hier, daß die Medikation beileibe nicht so primitiv war, wie das generelle Urteil über die Arzneien dieser Zeit oft gerne glauben machen möchte, zumal aus heutiger Warte ein Urteil über die Körper frühneuzeitlicher Menschen und die im Arzt-Patienten-Verhältnis konsentierte Wirkung der Substanzen ohnehin nicht möglich ist. Ein Heilmittel kombinierte nach damaliger Theorie stets verschiedene Bestandteile, die durch ihre den Krankheitsursachen konträre Wirkung differenziert Einfluß auf die physische Störung nehmen sollten. Deutlich wird letzteres v. a. bei Bezeichnungen wie »refrigerantia« (kühlende Mittel), »calefacientia« (erwärmende Mittel), »aperientia« (öffnende Mittel) etc. Auch die »purgantia«, die Reinigungsmittel, waren nicht einfach nur Abführmittel, sondern kombinierten meist mit der abführenden Leitsubstanz, die als größte Dosis im Rezept an erster Stelle stand, unterschiedliche Bestandteile, die ein sekundäres Ziel verfolgten. Nach Daniel Sennerts Aussage bezogen sich auch die Bezeichnungen »simplicia« und »composita« nicht darauf, daß bestimmte Medikamente nur aus einem bzw. mehreren Inhaltsstoffen zusammengesetzt waren, sondern daß sie jeweils nur auf einen Effekt zielten oder aber mehreres gleichzeitig bewirken sollten.313 Ein Medikament konnte so zwar darauf zielen, schädliche Materie aus dem Körper zu bringen (purgierende Wirkung), gleichzeitig aber das hinter der Erkrankung stehende Organ (z. B. einen zu heißen, zu stark verkochenden Magen durch ein beigemischtes refrigerans) zu heilen. Der Schärfe, Bitterkeit, Salzigkeit etc. des korrupten Saftes, der dabei in der medizinischen Theorie als Krankheitsauslöser die allgemeine Dyskrasie des Säftehaushaltes abgelöst hatte,314 wurde zu Magirus’ Zeit meist eine Kombination von pflanzlichen und chymischen Mitteln entgegengesetzt.315 Die Kunst des Arztes bestand jedoch nicht nur darin, die Wirkung verschiedener Substanzen soweit zu kennen, daß er ein individuell zugeschnittenes Rezept erstellen konnte, sondern auch ein bestehendes abzuändern. Dies konnte aus verschiedenen Gründen nötig sein. Manchmal änderte sich der 312 S. Kap. 1.1.1. In der Ankündigung seines medizinisch-mathematischen Kollegs führt Magirus dann aus, daß Kenntnisse der Arithmetik zur Medikamentendosierung unabdingbar seien  : s. KB4, A2v (s. Anhang, Text 2). Zu Magirus’ Verständnis der Medizin als angewandte Mathematik s. Kap. 4.3.3. 313 Sennert, Daniel (1650a), S. 746 (= Inst. Lib. V, Pars III Sect. I Cap. III  : Quae ad praeparationem & Compositionem Artificiosum Medicamentorum necessaria sint)  : »Simplex enim Basis dicitur, quae uni Indicationi satisfacit, unumque effectum edit  ; […] Composita vero Basis dicitur, quae plures usus praestat.« 314 S. Kap. 4.2.1. 315 S. Kap. 4.2.1.; 4.2.3.

Therapeutische Praxis Abb. 19  : Magirus errechnet Dosierungen. UBM, Ms. 96, S. 385.

Zustand des Kranken noch während der Zubereitung des Verschriebenen in der Apotheke, woraus Magirus sofort reagierte  : »Während dies (noch) zubereitet wurde, klagte er über Kopfschmerz und über harte Ausscheidungen des Bauches, der Bauch war angespannt  ; deswegen habe ich diesem [d. h. der Zubereitung des ersten Rezepts] Einhalt geboten und von der Apotheke verschrieben […]«.316 Generell waren Kenntnisse der Arzneimittelsubstitution, die die Ärzteschaft genau wie das Verschreiben an sich als ihr alleiniges Vorrecht ansah,317 gefragt, wenn bei Patienten bestimmte Unverträglichkeiten erkennbar wurden. Jungfer Catrinchen Weiler vertrug z. B. keinen Moschus  : »Weil aber moschus drinnen und er suß ist er ihr nit wol bekommen also habe ich substituiret«  ;318 die Jungfer Jülow, eine Kammerzofe der Kurfürstin, keinen Weinspiritus  : »Weil die Jungfer Jülowin die cochlearia cum S[pirito] V[ini] praepariret nit gebrauchen kann und alsbalde dolores darauf befindet, so ist es besser, daß sie die succos cochleariae nasturtina [  !] gebrauchet cum aq[ua] raphan[i] in lacte.«319 Magirus beobachtete die Reaktion seiner Patienten auf die verabreichten Mittel sehr genau, jedoch nicht nur, um eine Alternativbehandlung 316 UBM, MS. 96, S. 2 (Nov. 1647  : der her leutnant Götze)  : »dum haec parabantur, quaerebatur de capitis dolore et de fecibus duris alvi, alvoque retenta, itaque haec inhibita et e pharmacopolio praescriptum […]«. 317 Dies geht aus den Apothekerordnungen hervor, die dem Apotheker das Recht absprachen, eigenständig Bestandteile des Rezepts zu ersetzen  : s. Berges, Paul-Hermann  : »Quid pro Quo« – Zur Geschichte der Arzneimittelsubstitution (Diss. masch., Marburg 1975), S. 113–37. Vorrangig war dies eine Regelung gegen Geschäftemacherei, sie sprach aber den Apothekern auch das Wissen ab, Wirkstoffe ersetzen zu können. 318 UBM, MS. 96, S. 55 (Jan. 1648  : Jungfer Catrinchen Weilers). 319 UBM, MS. 96, S. 38 (23.12.1647  : Jungfer Jülowin).

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für die jeweilige spezifische Unverträglichkeit entwickeln zu können, sondern auch, um daraus durch den Vergleich mit anderen Patienten generelle Schlüsse zu ziehen, wodurch sein Medikament zu Beschwerden geführt haben könnte. Nicht nur die Anweisungen zur Einnahme der Medikamente –»2 Tage aufeinander zu gebrauchen umb 8 und 4 Uhr«320–, sondern auch Magirus’ Notate zu deren Wirkung zeigen das Bemühen um Exaktheit und Präzision  : »Nach der ersten helfte der pillen hat sie keinen stuhlgang gehabt, nach der andern helfte aber 8 sedes bekommen«  ; »hat die helft davon genommen aber sich 2 mal übergeben keinen sedem darauff gehabt«  ; »post nodulum  : da die schmertzen zuvor umb 2 uhr kommen, sindt sie den nachfolgenden tag um 3 kommen«  ; »hat 6 stulgänge gehabt, 4 bei tage, 2 in der nacht, nach dem er ein halblöffel darvon getrunken hat«.321 Er verzeichnete Erfolge (»egregie operatur  ; bene purgavit et sufficienter«), aber auch Fehlschläge  : »Hat die helft davon genommen aber sich 2 mal übergeben keinen sedem darauff gehabt«, protokollierte er neben das Rezept, das er dem an der Krätze erkrankten Christoff Schröder verschrieben hatte. Der Patient bekam nach diesem Fehlschlag ein anderes Rezept, das dann den gewünschten Erfolg brachte (»habuit 13 sedes«).322 Bei solchen Berichten über die Anzahl der erfolgten Stuhlgänge (je mehr, desto heilsamer, weil reinigender) müssen nicht nur die Mühen für den Patienten und das seinerzeit nicht bekannte Problem der Dehydrierung, sondern auch die damaligen sanitären Verhältnisse in Betracht gezogen werden. Aus heutiger Sicht wirken »Erfolgszahlen« wie die durch nur eine Verabreichung erzielten 24 Stuhlgänge der wassersüchtigen Frau Buchius eher besorgniserregend, und die Patientin empfand bei diesem Entleerungsmarathon auch große Beklemmungen (»cum magna anxietate deiecit«).323 »Ohne Zweifel hat dieses Dekokt den Magen geschwächt« (»sine dubito hoc decoctum ventriculum debilitavit«) heißt es bei einer anderen Patientin, bei einer dritten sprach Magirus sogar von »übermäßiger Reinigung« (»superpurgavit«/»hypercatharsis«).324 Trotz all dem wurden diese Erfahrungen von den Patienten selbst vermutlich als positiv gewertet, da ja gesehen und gefühlt werden konnte, wie viel scheinbar schädliche Materie den Körper verließ.325 Zahl und Art der Ausscheidung waren dann auch das Einzige, was für Johann Heinrich Bossen überhaupt von Interesse war  ; er notierte diese Ergebnisse zuweilen in knappen Worten nach dem jeweiligen Rezept (wenigstens in den hier ausgewerteten Jahren seiner Ephemerides, s. u.). 320 UBM, Ms. 96, S. 132 (31.7.1648  : Amtsbrauer von Spandau). 321 UBM, Ms. 96, S. 101 (19.3.1648  : des Mundschenken [Frau])  ; ebd., S. 137 (16.8.1648  : Ambtsbrawer von Spandow)  ; ebd., S. 125 (8.5.1648  : Eger). 322 UBM, Ms. 96, S. 115 (April 1648  : Christoff Schröder). 323 UBM, Ms. 96, S. 420 (29.7.1653  : Herrn Buchii die coniunx). 324 UBM, Ms. 96, S. 205 (27.6.1648  : Cämmerer Scheurers frau)  ; ebd., S. 90 (27.2.1648  : Jeremias Eger)  ; ebd., S. 180 (April 1649  : Obrist Rochow). 325 S. Stolberg, Michael  : Die wundersame Heilkraft von Abführmitteln. Erfolg und Scheitern vormoderner Krankheitsbehandlung aus der Patientensicht, in  : Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 22 (2003), S. 167–177, bes. S. 168–70.

Therapeutische Praxis

Die Beobachtung von Nebenwirkungen bezog sich jedoch nicht allein auf die schwächende Wirkung von Abführmitteln. Diverse Male verzeichnete Magirus unerwünschte Reaktionen auf die von ihm verschriebenen Pflaster  : »Nachdem es [= das Pflaster] aufgelegt worden war, fiel sie in Hysterie (»in morbum hystericum incidit«) und mußte es deswegen entfernen.«326 Eine solche Erfahrung hatte er bereits früher bei einer Patientin gemacht  : »Nach dem pflaster ist ihr das Herz bang worden und hat angefangen zu schlagen [ab hier weiter auf Latein] und hat Beklemmungen bekommen. Deswegen hat sie es abgenommen« (»anxietasve supervenit  ; itaque illud seposuit«). Durch diese Reaktion war nun wieder ein Erfahrungswert über die Rezeptur gewonnen  ; der Arzt notierte sich  : »N[ota] B[ene]  : kann wol zu stark gewesen sein.«327 Erwin Ackerknecht bezeichnete in einer älteren Studie das Erfahrungswissen der frühneuzeitlichen, v. a. der vor der Aufklärung wirkenden Ärzte als eine alten Autoritäten hörige »Pseudoerfahrung«, die behandelnden Ärzte folglich als »Pseudoempiriker« und urteilte  : »[Die Erwägungen], daß Erfahrungen, um gültig zu sein, häufig wiederholt werden müssen, und daß auch negative Instanzen berücksichtigt werden müssen, gerieten leider wieder in Vergessenheit.«328 Diese Fehleinschätzung der in der Praxis erstrebten und angewandten Empirie ergab sich auch bei Ackerknecht wieder aus der Konzentration auf gedruckte Quellen, an die die Erwartung gerichtet wurde, die tatsächliche Praxis (und nicht die dahinterstehende Theorie) summarisch abzubilden. Denn er kritisierte explizit mit Bezug auf Daniel Sennerts Institutiones, daß in ihnen ein Kapitel über Methoden, die Wirkung von Medikamenten zu untersuchen, enthalten sei, daß er aber in den Werken Sennerts deren Anwendung nicht vorgeführt gefunden habe.329 Der Sennert-Schüler Magirus führt uns in seinem Diarium vor, wie man sich diese Methodik vorzustellen hatte, und zeigt einen sehr pragmatischen Zugriff auch bei der Systematisierung der Therapie. Noch viele weitere Beispiele wären zu nennen, jedoch machen die zitierten Fälle bereits hinreichend deutlich, wie Magirus durch all diese Berichte, deren Fakten er säuberlich notierte, einen differenzierten Überblick über Erfolg, aber auch Versagen sowie mögliche Nebenwirkungen seiner Verschreibungen erlangte. Durch diese Beobachtungspraxis war es ihm auch möglich, sich eine gewisse Anzahl von nostra, also persönlich präferierten, da erfolgreichen Standardrezepten, zusammenzustellen. Diese Medikamente, von denen in seinen Notizen nur als bspw. essentia nostra cephalica, electuarium meum vespertinum oder auch elixir meum stomaticum die Rede ist, definierten auch sein Prestige. So findet sich unter den zwölf Verschreibungen für den Amtsschreiber von Spandau330 auch ein Elixir proprietatis s. Elixir Magiri – Magirus ließ demnach seine spezielle Zusammenstellung beim Apotheker mit seinem eigenen Namen beschriften und stellte sich so in die Tradition 326 UBM, MS. 96, S. 271 (11. Sept. 1652  : Frau rittmeister hinnekin). 327 UBM, MS. 96, S. 89 (Feb. 1648  : der frau Tillemansche). 328 Ackerknecht (1969), S. 27  ; dieses Urteil bezieht sich zuerst auf die antiken Empiriker, wird dann ebenso für die Ärzte des 16. und 17. Jahrhunderts ausgesprochen. 329 S. Ackerknecht (1969), S. 29. 330 S. Kap. 2.4.1.

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anderer Ärzte, deren Medikamente bereits unter ihrem Namen in die Pharmakopoeen Eingang gefunden hatten. Wäre er zu diesem Zeitpunkt noch in Berlin gewesen, hätte er seine sorgsam erschlossenen nostra vielleicht sogar in dem 1667 gedruckten Katalog der Medikamente der kurfürstlich-brandenburgischen Hofapotheke abgedruckt gefunden wie die seiner ehemaligen Kollegen Otto Bötticher, Martin Weise und anderer im Kreise des Kurfürsten agierender Ärzte.331 Resümee  : Therapie

Was die verwendete materia medica angeht, unterscheiden sich Johannes Magirus und Johannes Heinrich Bossen, soweit ein grober Vergleich zeigt, nicht  : Beide benutzen traditionelle pflanzliche Bestandteile wie auch chymische, d. h. labortechnisch prozessierte mineralische und metallische Zusätze. Was jedoch den Gesamtansatz angeht, der die Therapie begleitet, stellt sich Magirus’ Vorgehen ungleich strukturierter dar, sowohl in der Beobachtung des Behandlungsverlaufes wie auch der Medikamentenwirkung. Im Gegensatz zu Bossen, der seine Fälle nie zueinander in Beziehung setzt, wird bei Magirus von Anfang an die Zielsetzung deutlich, nicht nur durch ständige Dokumentierung und Vergleich Erfahrungswissen zu gewinnen, sondern es auch theoretisch zu durchdringen und zu systematisieren. Hierbei liegt in seinen Berliner Jahren der Schwerpunkt mehr auf der Medikation, in seinen Zerbster Jahren, in denen er dann eigenständig behandeln kann, auf der Gesamtheit des Falles. Seine für heutige Augen sperrigen Aufzeichnungen mögen auf den ersten Blick diesen Ordnungswillen (s. Taf. 5) nicht erkennen lassen, offenbaren bei genauer Auswertung aber ein sehr zielgerichtetes Vorgehen. Wie zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, unterscheiden sich Johannes Magirus und Johannes Heinrich Bossen nicht nur in ihrer Praxis-Erfahrung, sondern auch in ihrem akademischen Anspruch. Vergleicht man die Aufzeichnungen Bossens, die er zehn Jahre nach den in diesem Kapitel ausgewerteten angefertigt hat, mit denen des Diarium, wird die Diskrepanz noch augenfälliger. Denn ab 1662, also exakt mit dem zehnten Jahr seiner Stadtarzttätigkeit, änderte Bossen seine Aufzeichnungspraxis. Er notierte fortan seine Fälle nicht mehr als Fallgeschichte, sondern im Journalstil, d. h. mit einer täglichen Verzeichnung der einzelnen Patienten statt in Krankengeschichten, die sukzessive im Behandlungsverlauf ergänzt wurden.332 Dabei sind die einzelnen Fälle nun deutlich verkürzt  ; für den inzwischen erfahreneren Arzt ist nicht mehr alles neu und interessant, was 331 In Kapitel II,5 (Aquae pretiosae) werden hier als Rezepte brandenburgischer Ärzte z. B. nicht nur die Aqua antipodagrica D. Böttch[eri], sondern auch die antiscorbutica D. Ruar[i], aperitiva D. Molleri sowie weitere Wasser auch überregional bekannter Ärzte aufgeführt  : s. Fahrenholtz, Christopherus (1669)  ; auf den folgenden Seiten sind die Zusammenstellungen Martin Weises mit D. W. gekennzeichnet. Zu dem im 17. Jahrhundert weit verbreiteten Phänomen der mit dem Namen von ArztPersönlichkeiten gekennzeichneten Medikamente s. auch Kästner (2012), S. 326–27. 332 Zu einer Typologisierung der Aufzeichnungsstile in frühneuzeitlichen Praxistagebüchern s. Hess/ Schlegelmilch (2015), S. 27–32.

Therapeutische Praxis

er ein Jahrzehnt zuvor noch aufgeschrieben hätte.333 Während Bossen sich also dem Augenschein nach mit der Zeit mehr an den Anforderungen des Stadtphysikats ausrichtete und ihm vielleicht deshalb die Dokumentation v. a. der Anzahl der behandelten Patienten immer wichtiger wurde, trieb Magirus seine akademischen Studien weiter.334 Es ist hier nicht zu werten, wer in den Augen der Patienten wohl der bessere Arzt war. Nach den Aufzeichnungen beider zu urteilen, läßt sich jedoch festhalten, daß Magirus’ akademisches Interesse immerhin keine gelehrte Distanzierung, sondern vielmehr eine beobachtende Nähe zum Patienten bedingte, die ihn im Vergleich zu Bossen flexibler und direkter in der Reaktion auf Krisen etc. erscheinen läßt. Zweifellos erforderte die Erarbeitung einzelner Fälle anhand von Fachliteratur eine längere Beschäftigung mit dem einzelnen Patienten  ; ob sie diesem direkt zugute kam, ist schwer zu sagen. Jedenfalls experimentierte Magirus in der Therapie nicht mit gefährlichen Substanzen wie z. B. Quecksilber, obwohl er sich im Rahmen seiner Studien durchaus damit beschäftigte (er las aufmerksam Erfahrungsberichte von Chymikern zu diesen Themen).335 Insgesamt wird deutlich, wie sehr der Anspruch an und das Verständnis der Praxis von Seiten des jeweiligen Arztes das alltägliche Handeln beeinflußte. Beide Ärzte, Magirus wie Bossen, praktizierten und entwickelten zur selben Zeit ihre Routinen  : Bossen primär die der Behandlung, Magirus zusätzlich die des Wissensgewinns.

333 Dies betrifft z. B. die Polemiken gegen anderes Heilpersonal, die Beschreibung ausführlicher Interaktion mit den Chirurgen und größtenteils sogar die Ergebnisse der Behandlung  ; auch Bossens Fall macht somit erneut deutlich, wie viel Information hinter einer bewußt gewählten Aufzeichnungsform verschwinden kann. 334 Leider sind seine späteren Praxisaufzeichnungen ebenso wie die früheren Diarien allesamt verloren. Seine Vorlesungsankündigungen dokumentieren aber auch für seine späteren Jahre an der Universität Marburg eine starke Praxisorientierung  : s. Kap. 4.3.2. 335 S. Schlegelmilch (2014a), S. 190–92.

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4. Praxis-Wissen

Ärzte des 17. Jahrhunderts benötigten, nicht anders als die heutigen, ein handlungsleitendes Paradigma, das ihr Tun gegenüber den Patienten wie auch sich selbst rechtfertigte, zumal wenn es risikobehaftet war. Erst die vermeintliche »Wahrheit« zu wissen macht(e) handlungsfähig, was zeitenübergreifend und unabhängig von den Inhalten eines medizinischen Weltbildes den wichtigsten Konnex zwischen Theorie und Praxis beschreiben dürfte.1 Es wäre durchaus möglich, mittels der unzähligen Exzerpte, die Johannes Magirus hinterlassen hat, wenigstens für einen bestimmten Zeitraum zu eruieren, welche Bücher er besessen, gelesen, sich geliehen oder seinen Schülern empfohlen hat. Die bloße Rekonstruktion der theoretischen Wissensbestände, also der medizinischen Sachinformation, die seinen epistemischen Horizont definierten, ist jedoch nicht das Ziel des folgenden Kapitels. Denn interessanter dürfte doch die Frage sein, wie Magirus die praktischen Fähigkeiten erwarb, die er als Arzt benötigte  ; wie er eigenständig praxisrelevantes Wissen als solches erkannte und sammelte  ; wie er die theoretischen Kenntnisse, derer sich die studierten Ärzte in Abgrenzung zu anderen Behandlern ja besonders rühmten, zur tatsächlichen Anwendung brachte, und schließlich  : Wie er selbst praxisbezogenes Wissen vermittelte. Gerade der Blick auf die Bereiche der Aneignung und Weitervermittlung ärztlichen Handlungswissens wirft die Frage auf, inwieweit die Praxis eines Arztes in ihrem eingangs erläuterten Verständnis als sozialer Raum gleichzeitig auch als ärztlicher Sozialisationsraum verstanden werden muß.2 Die Erfahrungen während der Schulzeit und der akademischen Reise, die der junge Magirus im Austausch mit praktizierenden Ärzten machte, sowie die Kollegien, die er später selbst als praktizierender Arzt für junge Medizinstudenten hielt, stellen sich als weit mehr dar als eine bloße Schulung in Patientenbehandlung – obschon auch diese Interaktion gelernt sein wollte. Wissenssoziologische Studien betonen noch für die heutige Medizin die identitätsstiftende Prägung junger Ärzte durch »die impliziten Unterweisungen der Jüngeren durch die Älteren«.3 War es vielleicht auch möglich, im Eigenstudium Mediziner zu werden, Arzt war man deswegen noch lange nicht.4 Das in der Frühen Neuzeit zu Zwecken der Eigenautorisierung weitverbreitete Zitieren von Lehrer-Schüler-Verhältnissen impliziert leicht die Weitergabe statischer (theoretischer) Wissensbestände, da der Eigenanteil am Weiterge1 Zu Wissen im Zusammenhang mit der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Arztes s. Vogd (2007), S. 583. 2 Marian Füssel (2015), S. 122 weist zu Recht darauf hin, daß »die allermeisten empirischen Habitusgeschichten den Habitus in seiner fertigen, gewissermaßen ausgebauten Form« beschreiben, obwohl man hinsichtlich dessen Genese stets von einer »gelernten Lebensweise« (Algazi 2007) ausgehen sollte. 3 Vogd (2007), S. 583. 4 S. Hall (1983), S. 36.

Wissen erwerben

gebenen nie gekennzeichnet wird. Dieser war jedoch, ganz unabhängig von eigenständiger Theoriebildung, immer vorhanden, da jeder Arzt für seine Bedürfnisse eine individuelle Art des Praktizierens entwickelte und gegebenenfalls die daraus resultierenden, eigenen Routinen als Handlungsanweisung an Auszubildende weitergab. Das für eine konkrete Behandlungspraxis nutzbar gemachte Wissen eines Arztes wie z. B. Georg Agri­ colas (1494–1555), den Bergleute auf die Gefahr giftiger »Fewrkröten« in den Bergwerken vor Ort hinwiesen,5 war zudem ein anderes als das eines Arztes, der wie Magirus Hofangehörige in Berlin behandelte, die zu viele Zitronen aus der Orangerie gegessen hatten.6 »Erfahrung«, nach der jüngeren Forschung zunehmend als bedeutende Signatur des ärztlichen Wissens in der Entwicklung vom 16. zum 17. Jahrhundert verstanden, wird in dieser Hinsicht in der medizinhistorischen Forschung bislang noch zu eng, da nur mit Blick auf die der Theoriebildung verpflichteten, gedruckten Fallsammlungen diskutiert (s. u.). Im Folgenden soll dagegen ein ärztliches Wissen im Mittelpunkt stehen, das, wie Werner Vogd es beschreibt, als »soziales und kollektives Phänomen […] tief in die Handlungspraxis eingelassen ist«7  : das nach den jeweiligen Bedürfnissen und Kriterien des Einzelnen gesammelte, angewendete und schließlich auch vermittelte Wissen von ärztlichem Handeln.8

4.1 Wissen erwerben 4.1.1 Das Studium der Medizin

Johannes Magirus war, wie bereits gezeigt, viel daran gelegen, sich in Ausrichtung auf die akademische Welt als Gelehrter in der Nachfolge seines ebenfalls gelehrten Vaters zu inszenieren9. Gleichzeitig versieht seine bislang nicht verortbare Promotion seinen akademischen Werdegang mit einem Fragezeichen. Bei genauerer Betrachtung möchte man sogar fragen  : Wie sah sein Medizinstudium überhaupt aus  ? Gweneth Witteridge maß in ihrer Monographie zu William Harvey (1578–1657) gerade der Studienzeit die größte Prägungskraft für Harveys spätere medizinische Praxis zu  : 5 S. Brief von Georg Agricola an Wolfgang Meurer, Chemnitz, 30.12.1544 (Niedersächsische Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen   ; Regest [S. Schlegelmilch] unter   : www.aerztebriefe.de/ id/00000582  ; letzter Zugriff  : 13.12.2017). 6 S. UBM, Ms. 96, S. 93 (März 1648  ; frau Gröbin). 7 Vogd (2007), S. 584. 8 Vgl. die von Burke, Peter  : Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft (Berlin 2014), S. 18 in Anlehnung an Lévi-Strauss formulierte Definition  : »Differenzieren müssen wir auch zwischen Wissen und Information, zwischen ›wissen, wie‹ und ›wissen, was‹, zwischen Explizitem und Angenommenem. Der Einfachheit halber verwenden wir […] den Begriff Information für das, was roh, spezifisch und praktisch ist, während Wissen das Gekochte bezeichnet, das gedanklich verarbeitete oder Systematisierte.« 9 S. Kap. 1.1.2.

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It smacks of a commonplace to say that a man carries through life some vestiges of his early training and education. If his own aptitudes coincide with the interests of those who taught him, particularly during the formative years of his university education, it is likely that his whole intellectual development will be colored by his teaching and that his maturity will be the fullest working out from the general principles and habits of thought and work learned at this time.10

Daß Johannes Magirus, ebenso wie Harvey, durch frühere Lehrer und die ihnen wichtigen Lehrgegenstände geprägt wurde, ist unbestritten. Die Rolle, die der Frankfurter Professor und brandenburgische Hofmathematiker Benjamin Ursinus (1587–1633) dabei für Magirus’ Hinwendung zur Kepler’schen Astronomie gespielt hat, wurde bereits erläutert.11 Seine Begeisterung für die Fortifikation dürfte sich während seines Aufenthalts am Gymnasium in Thorn entwickelt haben, und zwar nicht nur, weil er dort die Befestigung der Stadt beobachten konnte, wie er schreibt,12 sondern weil einer der maßgeblichen Fortifikationsmathematiker des 17. Jahrhunderts, Adam Freytag (1608–1650), »zu Thoren, nachdem er aus Niederland widerkommen«, für Magirus »mein Praeceptor in Mathesi, und auch nach der zeit mein gutter Freund gewesen ist.«13 Wer jedoch Magirus sein Verständnis einer »rechten« medizinischen Praxis vermittelte, wie er sie in seinen Kalendertexten bewarb, ist nicht so leicht zu klären. Wie den bereits zitierten autobiographischen Abrissen zu entnehmen,14 hatte Johannes Magirus, durch Hauslehrer vermittelt, wesentliche Inhalte der artes im Alter von 16 Jahren gemeistert und durch Ursinus’ Unterweisung bereits die »Arithmeticam, Geometriam und Cosmographiam, welche dann zur Medicin nötig zu wissen seyn, begriffen«.15 Verbucht man nun die Topik der frühneuzeitlichen Autobiographie als eben solche – ein schon im zarten Alter sich entfaltendes ingenium drängte demnach den jungen Magirus, wie all die anderen lernwilligen Knaben seiner Zeit, schicksalhaft in die dann von ihm eingeschlagene Richtung –, so könnte man auf den Gedanken verfallen, daß es der Mathematikunterricht bei einem Astronomen und Kalendermacher war, der dem jungen Magirus die Medizin überhaupt erst ins Blickfeld rückte. Sie wenigstens zählte – im Gegensatz zur bloßen Mathematik – zu den drei höheren Fakultäten, die in ferner Zukunft eine akademische Heimat würden bieten können.16 Man fragt sich allerdings, warum Magirus nach der als so umfassend beschriebenen Ausbildung im Umfeld des väterlichen Professorenhaushaltes dann nicht unmittelbar an die Universität wechselte, seine Quali10 Whitteridge, Gweneth  : William Harvey and the Circulation of Blood (London 1971), S. 3. 11 S. Kap.1.3.2. 12 S. Kap. 1.2.1. 13 Magirus, Johannes (CF-Anhang), Bl. (*)ii v. 14 S. Kap. 1.1.3  ; 1.2.1. 15 Magirus, Johannes (CF), Brief an den Leser (unpag.). 16 Eigene Lehrstühle für Mathematik waren kaum vorhanden, und wenn, dann schlecht bezahlt und ohne Renommee  : s. Kap. 2.4.2.

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fikation in den artes vielleicht noch durch eine entsprechende Disputation bewies und begann, auf einen medizinischen Abschluß hin zu studieren. Thorn und Wittenberg (1631–1635) Magirus selbst gab an, man habe ihn der »studiorum halben nach Thoren ins Gymnasium […] geschicket«,17 was er an anderer Stelle mit den Worten »nach dem hernach mich der Krieg in Preussen getrieben« begründet.18 Tatsächlich war seine Heimatstadt Frankfurt/ Oder am 3. April 1631 von den Truppen Gustav Adolfs eingenommen worden, nachdem die Einwohner zuvor mit den in der Stadt stationierten kaiserlichen Truppen auch nicht gut gefahren waren  : Die von diesen mitten in die Stadt gebaute Pulvermühle war explodiert und hatte den Konvikt der Studenten mit sich gerissen, und als die Schweden kamen, verbarrikadierten sich die Professoren zwar zum Schutz in ihren Häusern, aus diesen schossen aber auch die kaiserlichen Soldaten auf den Feind und empfingen entsprechendes Gegenfeuer.19 Der Theologieprofessor Christoph Pelargus verlor seine komplette Bibliothek, Tobias Magirus wenigstens die Einnahmen, die er vormals aus der Vermietung von Wohnraum an Studenten gehabt hatte,20 von den Kosten der Einquartierung ganz zu schweigen. An einen geregelten Universitätsbetrieb war nicht mehr zu denken  ; im Wintersemester waren nur noch dreizehn Studenten an der Viadrina eingeschrieben und die Pest in der Stadt.21 Johannes Magirus kehrte schließlich seiner Heimatstadt zwei Monate nach deren Einnahme durch die schwedischen Truppen den Rücken und schrieb sich am 5. Juni 1631 am Thorner Gymnasium ein.22 Er kehrte erst fünf Jahre später, im Jahr 1636, nach Frankfurt/ Oder zurück. Sein zwischenzeitlicher Aufenthaltsort Thorn war zu dieser Zeit wie Danzig und andere Städte der Region Zufluchtsort für viele protestantische Flüchtlinge aus den vom Krieg heimgesuchten Gebieten des Reichsgebietes.23 Die Jahre 1600–1660 gelten dabei der Forschung als Blütezeit der Schule, in denen sie zu einem Bildungszentrum der polnisch-litauischen Länder, aber auch aller Nachbarregionen wurde und zudem als Ausbildungsstätte der protestantisch-adeligen Jugend Polens galt.24 Es ist für Magirus’ Werdegang nicht unwesentlich, daß das Gymnasium in Thorn, das er besuchte, ein Gymnasium illustre war, also eine Schule, an der zwar keine akademischen Titel verliehen wer17 Magirus, Johannes (CP), Brief an den Leser (unpag). 18 Magirus, Johannes (1671b), Bl. A2v. 19 S. Plage (1928), S. 31. 20 S. Bieder, Hermann  : Bilder aus der Geschichte der Stadt Frankfurt a. Oder, Bd. II (Frankfurt 1908), S. 127. 21 S. Plage (1928), S. 32. 22 S. Nowak/Tandecki, S. 95  : »Johannes Magirus, Francofurtensis, D. Tobiae Magiri Prof. Franc. filius, 5. Jun.« 23 S. Salmonowicz (2006), S. 105–6. 24 Vgl. Salmonowicz (2005), S. 398–400.

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den durften, aber in den obersten Klassen bereits Grundlagen des Stoffes der drei höheren Fakultäten gelehrt wurden.25 Das dort erworbene Wissen sollte dem entsprechen, das ein Student in den beiden ersten Jahren im jeweiligen Fach an einer Universität erwerben konnte.26 Diesem Anspruch gemäß wurden auch universitäre Übungen wie öffentliche Disputationen abgehalten.27 Magirus trat mit seinen 16 Jahren und seiner Vorbildung vermutlich nicht in die unterste Klasse ein, sondern besuchte über einen längeren Zeitraum die oberen Stufen, v. a. die Suprema,28 wo er auch die für ein Medizinstudium nötigen Grundlagenkenntnisse erworben haben dürfte. Für die Zeit seines Aufenthalts in Thorn sind zwei in der Stadt praktizierende Ärzte nachweisbar  : Georg Mochinger (1595–1656) und Christopher Meisner (1602–1667).29 Meisner war seit 1629 Stadtarzt und unterrichtete gleichzeitig am Gymnasium die Naturphilosophie (Physica) und damit auch die elementaren Grundlagen der Medizin.30 Er war während seines eigenen Studiums in Leipzig bereits von seinem älteren Kollegen Mochinger, mit dem er nun zusammen in Thorn praktizierte, unter die Fittiche genommen und für die Medizin gewonnen worden, worauf er »in Wittenberg den berühmten Sennert zum Lehrer gehabt«.31 Von Georg Mochinger wiederum berichtet eine Thorner Chronik, er habe nach seiner Promotion in Leipzig »im practicieren, lesen, disputieren und schreiben sich dergestalt berühmt gemacht, daß nicht nur seine Epitome Institutionum Medicarum Sennertianum zu Padua und Paris nachgedruckt, sondern er selbst zu Leipzig Anno 1624 Stadt-Physicus geworden, und nachgehends zur Proffession nach Wittenberg invitiret« worden, aber lieber nach Thorn zurückgekehrt sei.32 Die Stadtärzte von Thorn waren somit dem akademischen Betrieb nahestehende Mediziner.33 Beide Ärzte folgten 25 S. Salmonowicz (2005), S. 397  ; zu diesem sich im konfessionellen Zeitalter etablierenden Schultyp s. Castan (1999), S. 14-18  ; Asche (2005), S. 20  ; 29 Anm. 85. 26 S. Gymnasii et Oeconomiae Scholasticae Thoruniensis institutum et scopus. Thorn  : Andreas Cotenius, 1601, Bl. B4r  : »ideo post Scholarum Classicarum studia hoc in Gymnasio nostro principum disciplinarum prima elementa iusta methodo viaque compendiaria proponuntur, et quidem tantum circiter quantum ex illis disciplinis priori biennio in Academiis tradi docerique forte posset.« 27 S. Waschnewski (1916), S. 95  ; Salmonowicz (2005), S. 399. 28 S. die Alterstabellen bei Waschnewski (1916), S. 55. 29 S. Salmonowicz (2006), S. 109. 30 S. Praetorius, Ephraim  : Athenae Gedanenses sive commentarius historico-chronologicus succinctus originem & institutionem Gymnasii […] continens. Accedit series I. Rectorum scholarum reliquarum publicarum Gedanensium II. Rectorum Gymnasiorum tum Thoruniensis tum Elbingensis […] Leipzig  : Johann Fridericus Gleditsch & Filius, 1713, S. 231. 31 Centner, M. Gottfried  : Geehrte und Gelehrte Thorner außer ihrer Vaterstadt nebst gelegentlich angebrachten Stammtafeln und Nachrichten von alten Thornischen Familien. Thorn  : Paul Marcus Bergmann, 1763, S. 26. 32 Thornische Chronica, in welcher die Geschichte dieser Stadt von MCCXXI bis MDCCXXVI aus bewehrten Scribenten und glaubwürdigen Documentis zusammen getragen worden von Jacob Heinrich Zernecke. Zweyte vermehrte Auflage. Berlin  : Ambrosius Haude, 1727, S. 281–2. 33 Salomonowicz (2005), S. 398 hebt hervor, daß die meisten am Gymnasien lehrenden Pastoren und Stadtphysici »grundsätzlich den Ansprüchen zeitgenössischer Universitätsprofessoren genügten«.

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auch, so lassen die Nennung von Publikation und Lehrer vermuten, Daniel Sennerts Deutung der medizinischen Theorie, was bei dessen damaligem überregionalem Renommee nicht außergewöhnlich ist  : Auch Martin Weise und Christopher Maius, Magirus’ spätere Kollegen in Berlin, waren Sennert-Schüler, Magirus selbst ging von Thorn nach Wittenberg, um – wenn auch nur kurz – Sennert zu hören, und seine einzige medizinische Publikation sollte eine kommentierte Ausgabe von Sennerts Methodus medicinam discendi bleiben, mit der er selbst lehrte34 (die Erstausgabe dieses Werkes erschien übrigens 1632, also zu Magirus’ Gymnasialzeit in Thorn). Wesentlich ist jedoch bei der Rekonstruktion der Thorner Zeit nicht, als wessen »Schüler« Johannes Magirus nun eigentlich gelten darf, sondern die Tatsache, daß er offensichtlich bereits in Thorn praktische Unterweisung jenseits des reinen Buchstudiums erhielt. Die Rolle der akademischen Gymnasien bei der Vor- und Ausbildung von Ärzten ist in dieser Hinsicht bislang nicht wirklich erforscht worden. Sie boten auch keinen fachspezifischen Unterricht im Sinne z. B. von Anatomievorlesungen an. Aber nicht nur in Thorn war es so, daß der Stadtarzt gleichzeitig am Gymnasium die Physica unterrichtete und damit, genau genommen, seine Studenten bereits zu Physici machte  : Das Spezifische der akademischen Medizin bestand ja letztlich ausschließlich darin, die jeweilige Behandlung durch naturphilosophische Konzepte legitimieren zu wollen. Daniel Sennert selbst forderte in seiner eben schon erwähnten, von Magirus herausgegebenen Methodus die Studenten auf, bei Ärzten in größeren Städten die Anwendung der Theorie in der Praxis zu erlernen, also gleichsam gemäß dem auch von ihm zitierten Sprichwort »ubi desinit Physicus, ibi incipit Medicus«35 vom Naturphilosophen zum Arzt zu werden  : Es gibt bestimmt Dinge, die in Italien und Gallien und anderswo mit größerer Häufigkeit gesehen und gelernt werden können  : trotzdem gibt es auch in Deutschland [einiges], was den Medizinstudenten lehren kann. Deswegen will ich wohl den Rat aussprechen, daß ein jüngerer Medicus, bevor er selbst beginnt zu praktizieren, in den bevölkerungsreichen Städten Deutschlands, in denen hervorragende Praktiker die Medizin ausüben und wo, wegen der Vielzahl der Menschen, verschiedenste Krankheiten begegnen, sich länger aufhält, auch wenn dort keine Universitäten sind, und die Bekanntschaft der hervorragenden Ärzte sucht und deren Anleitung folgt, soweit es die örtlichen Gegebenheiten zuläßt. Er soll die Praxis beobachten, genauso auch zum Apotheker gehen und sich aufschreiben, welche ausgewählten und wirksamen Heilmittel für welche Krankheiten hier und anderswo in Gebrauch sind und, was welche leisten, sorgfältig erfragen.36 34 S. UBM, VIII A 1167e#, WS 1673. Magirus wiederholte diese öffentliche Vorlesung im Sommersemester 1678  : s. das entsprechende Vorlesungsverzeichnis unter der gleichen Signatur. 35 Sennert, Daniel (1672), S. 9. 36 S. ebd., S. 42–3  : »Sint sane quaedam, quae in Italia & Gallia & alibi frequentius videri & audiri possunt  : tamen & in Germania sunt, quae Medicinae studiosum informare valent. Ideoque suaserim, ut Medicus junior, antequam ipse Praxin aggreditur, in populosis Germaniae civitatibus, in quibus Practici celebres Medicinam faciunt, & ubi, ob populi multitudinem, varii morbi occurrunt, etsi Aca-

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Daß mindestens einer der Ärzte in Thorn diese Forderung seines Lehrers hinsichtlich der eigenen Schüler umsetzte, belegen einige Vorlesungsankündigungen, in denen Magirus später als Professor in Marburg die Inhalte seiner eigenen Privatkollegien beschrieb. Er versprach den Studenten dort, ihnen all die Erfahrungen mitzuteilen, die er in mehr als 30 Jahren ärztlicher Praxis gesammelt habe. Interessanterweise zählt er hier neben solchen, die er während und nach seiner Studienreise gemacht hatte, auch die auf, die er »in praxi sua […] Polonica« gemacht habe.37 Nachdem er sich aber nach seiner Thorner Zeit bis zur ersten dieser Ankündigungen aus dem Jahr 1670 nachweislich nie in polnischem Gebiet aufgehalten hat, muß er von der ärztlichen Praxis in Thorn sprechen, die er begleitet und beobachtet hat. Denn Sennerts etwas vage Formulierung des »Befolgens einer Anleitung, soweit es die örtlichen Gegebenheiten zuläßt«, bedeutete im Konkreten, daß Studenten einen praktizierenden Arzt in die Wohnhäuser der Kranken begleiteten und sich dort abschauten, wie dieser mit den Kranken sprach, sie untersuchte und Medikamente verschrieb. Bereits Thomas Platter (1574–1628) schilderte in seinen Tagebuchaufzeichnungen, wie die Medizinstudenten in Montpellier hinter ihrem Lehrer her durch die Straßen der Stadt zu den Kranken liefen  ;38 Georg Handsch (1529–1578) lernte in Padua direkt am Krankenbett die üblichen in Lehrbüchern erwähnten Praktiken wie die Urinschau und das Pulsfühlen, aber auch das Betasten des Patienten.39 Daniel Sennert betonte nun, daß man für solcherart praktische Anleitung nicht unbedingt ins Ausland gehen müsse, sondern auch einheimische (Stadt-)Ärzte dieses Wissen vermitteln konnten. Es ist anzunehmen, daß der junge Johannes Magirus in Thorn bereits an Krankenbetten stand  ; er nahm jedenfalls, als er später in Zerbst selbst Professor der Physica an eben einem solchen Gymnasium illustre wie in Thorn und zugleich Stadtarzt war, Schüler des Gymnasiums mit auf Krankenbesuch. So zeigt Magirus’ Diarium u. a. einen Eintrag fremder Hand mit einem in sorgfältig gemalter Schrift verfassten Rezept (s. Abb. 20), das eine gewisse Unerfahrenheit hinsichtlich der Platzökonomie erkennen läßt und gegen Ende auch noch einen Verschreibungsfehler aufweist  :40 Offensichtlich vergaß der Schreiber erst eine Zutat und schrieb bereits das »S« für die am Medikament anzubringende Bezeichnung (»Signetur«), bevor er sich besann und neben dem »S« das noch Fehlende nachtrug. Teil der demiae ibi non sint, aliquandiu commmoretur, & in Medicorum celebriorum familiaritatem sese insinuet, eorum, quantum cuiusque loci conditio patitur, sequatur ductum. Praxin observet, phramacopolia ibidem adeat, & quae selectiora & efficaciora ad quosvis morbos hic vel alibi in usu sint remedia, annotet, &, quid quaeq[ue] praestent, diligenter inquirat.« 37 UBM, VIII A 1167e#, SS 1670  ; ähnlich in den Ankündigungen des folgenden und späterer Semester  ; s. auch Kap. 4.3.3. 38 Platter, Thomas (d. J.)  : Beschreibung der Reisen durch Frankreich, Spanien, England und die Niederlande, 1595–1600. Hrsg. von Rut Keiser (Basel, Stuttgart 1968), Bd. I, S. 64  : 32b–33a. 39 Stolberg (2014a), S. 641–52  ; vgl. auch  : Brief von Johannes Hagius an Friedrich Bernbeck, Padua, 1.9.1557 (Universität Uppsala, Waller Collection, Waller ms de-01954  ; Regest [U. Schlegelmilch] unter  : www.aerztebriefe.de/id/00002715  ; letzter Zugriff  : 13.12.2017). 40 UBM, Ms. 96, S. 389–90 (April  ? 1653  : Gordens Sohn).

Wissen erwerben Abb. 20  : Von einem Schüler geschriebenes Rezept, links daneben die Anamnese in Magirus’ Schrift. UBM, Ms. 96, S. 389.

ärztlichen Sozialisation war es, die ganz grundlegenden Praktiken des ärztlichen Alltags zu lernen, die nicht in Büchern erklärt wurden  : wie eben das Ausschreiben eines Rezeptes in seinem korrekten Aufbau und mit allen nötigen Kürzeln.41 Die um Sauberkeit bemühte Schrift im Diarium gehörte wahrscheinlich einem Zerbster Schüler, den Magirus das Rezeptschreiben lehrte.42

41 Michael Gisecke unterstrich den Konnex zwischen Rezeptschreiben und Sozialisationsprozeß, indem er darauf hinwies, daß »geschriebene Rezepte in mündliche Gesprächssituationen eingebettet wurden, in denen die Verständigung mit Hilfe der gesprochenen Sprachen und durch Zeigen und Vormachen erfolgte«  : Überlegungen zur sozialen Funktion und zur Struktur handschriftlicher Rezepte im Mittelalter, in  : Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 13  : 51/2 (1983), S. 167–84, hier S. 179. 42 Dies macht auch deutlich, daß die Ausbildung in Medizin am Zerbster Gymnasium illustre unabhängig von der offiziellen Ausstattung der Professuren (s. Castan [1999], S. 143) immer von der Eigeninitiative der jeweiligen Professoren abhing  ; vgl. ebd., S. 144 sowie Kaiser/Völker (1980), S. 39–43 zu dem späteren Professor Konrad Philipp Limmer, der ab 1690 am Gymnasium medizinische Disputationen abhielt und sogar Sektionen vorführte. Zur Rolle der Medizin am Gymnasium Illustre in Zerbst s. auch  : Kaiser/Völker (1980), S. 13–23  ; Kaiser, Wolfram  : Zur Geschichte des präakademischen medizinischen Unterrichts  : Das Gymnasium illustre in Zerbst und das Philanthropinum in Dessau, in  : Zeitschrift für die gesamte innere Medizin 38 (1983) 22–9.

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In Thorn wurden schließlich durch Magirus’ Lehrer auch die Weichen für seine weiteren Studien gestellt  : Er ging im Juni 1635 für zwei Semester nach Wittenberg,43 wo (noch) Sennert lehrte, der Lehrer seiner Lehrer. Über dieses Jahr an der Universität wissen wir allerdings nichts, außer daß Magirus mathematische Vorlesungsmitschriften aus dieser Zeit noch in Marburg besaß.44 Nach einem kurzem Zwischenaufenthalt in Frankfurt/ Oder zog er weiter in die Niederlande, von wo sein Lehrer Adam Freytag – im übrigen selbst nicht nur Mathematiker, sondern auch Arzt und Kalendermacher – gerade nach Thorn zurückgekehrt war. 4.1.2 Die akademische Reise

Johannes Magirus kam 1636 aus Thorn zurück in seine Heimatstadt und begann, mathematische Kollegien abzuhalten. Ob die dortige Universität dem kaum Studierten damals tatsächlich sofort die Professur für Mathematik antrug, wie er es selbst im Rückblick beschrieb, mag dahingestellt sein.45 Er brach jedenfalls gleich im darauffolgenden Jahr nach Leiden auf und gab in dem bereits zitierten Widmungstext seines Fortifikationsbuches an Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg46 als Motiv seiner peregrinatio an, er habe seine medizinischen Kenntnisse weiter vertiefen wollen. Der dort zu findende ausdrückliche Hinweis, Leiden könne es in der Medizin durchaus mit Padua aufnehmen, belegt, daß das Renommee der seit dem Mittelalter traditionell von Medizinstudenten besuchten oberitalienischen (und südfranzösischen) Ausbildungsorte immer noch schwer wog und die Niederlande erst langsam anfingen, diese durch eigene Lehrangebote abzulösen.47 Leiden, Amsterdam, Den Haag, England und Frankreich wurden später in Magirus’ Vorlesungsankündigungen mit medizinischer Praxis ebenso verknüpft wie Thorn  ; er verkündete nämlich, seinen Studenten als Erfahrungsschatz auch mitteilen zu wollen »omnia, quae in praxi sua Anglica, Belgica, Gallica […] observavit«.48 Leiden (1637–1639) Über Magirus’ Aufenthalt in den Niederlanden sind wir etwas besser informiert als über seine Zeit in Thorn, denn in einem seiner Prognostica findet sich ein Widmungsgedicht, das seinen Werdegang bis zu seinem Wirken im Berlin der 1640er Jahre feiert. Geschrieben wurde es von Nicolaus Peucker, einem Juristen am brandenburgischen Hof, der sich

43 S. Weissenborn (1934), Textband S. 389 zum 25. Juni 1635  : »Iohannes Magirus Francofurdo March. non iurav.« Weiteres ist über Magirus’ Aufenthalt in Wittenberg nicht bekannt. 44 S. Anhang, Text 5. 45 S. Kap. 1.1.3  ; 4.3.3. 46 S. Kap. 1.2.1. 47 S. O’Malley (1970), S. 89  ; Asche (2005), S. 15–6  ; 18–9  ; De Ridder-Symoens (2010), S. 55–6  ; 61–2. 48 S. Anm. 37.

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ein Zubrot damit verdiente, Gelegenheitsgedichte für Hofbeamte zu verfassen.49 Es dürfte sich bei den Detailinformationen zu der Reise wohl um das handeln, was Magirus selbst seinen Studenten in Berlin reminiszierend zu erzählen pflegte. Indem er seine Erlebnisse in Verse gießen ließ, imitierte er im kleinen Stil das Verhalten manch adeliger Peregrinanten, ihre Reisenotizen von Dichtern literarisch (und damit auch panegyrisch) überformen zu lassen.50 Der Abschnitt, der sich auf Magirus’ Leidener peregrinatio bezieht, liest sich folgendermaßen  : Die Hohe Schul zu Leyden // hieß dich schon dazumal von andern unterscheiden, als Screvel, Heurnius, Waleus, Falckenberg // dich auff Hippocrates gewiesen und sein Werck  ; und als dich Vorstius führt in den Kräuter-Garten, // darinnen du beschaust die Kräuter mancher Arten, mit ihren Tugenden. Wars nicht zu Amsterdam, // da dich ein grosser Artzt in seine Wohnung nam, und nach der Wissenschaft den Richtsteig liesse gehen  ; // wie stetig sahe man dich in der Werckstatt stehen, dem Kram der Kräuterey, wann Artzney ward gemacht  ; // wie fleissig hattest du nach den Balbierern Acht, wann sie das Krancken-Haus, daselbst berühmt, besuchten  ; // und bald auß diesem, bald auß jenem Säffte kochten, und kostbarliches Oel. Das zweymal fünffte Jahr // ist allbereit vorbey, als dir vergönnet war dergleichen anzusehn  ; Jetzt ist das Dritte kommen, // nachdem du dieser Kunst dich selber angenommen, und die Corallenkrafft durchs Fewer außgebrant. […].51

49 S. Dünnhaupt Gerhard  : Nicolaus Peucker, in  : Personalbibliographien zu den Drucken des Barock, Bd. 4 (Stuttgart 1991), S. 3104–27, hier S. 3104. Bei dem in diesem Artikel erwähnten Schreibkalender dürfte es sich um den oben zitierten handeln. S. zu dem Gedicht und seinem Verfasser Schlegelmilch (2012), S. 407–9 mit Anm. 64  ; das Gedicht in ganzer Länge befindet sich im Anhang dieses Bandes, Text 3. 50 Grosser (1989), S. 39–41 beschreibt als ein ähnliches Beispiel den Reisebericht des Markgrafen Christian Ernst von Kulmbach, der durch den Hofdichter und Verfasser von Gelegenheitsgedichten Sigmund von Birken literarisiert wurde. Zur »berichtenden Lyrik«, dem Bedichten biographischer Stationen und vollbrachter Leistungen, als Kennzeichen gerade auch der neulateinischen Dichtung auf brandenburgische Herrscher s. Greiff, Ursula  : Dichter und Herrscher in lateinischen Gedichten aus der Mark Brandenburg (Hildesheim 2006), S. 12–17. Greiff benennt die Korrektur der Biographie durch Verschweigen und Entschuldigung als konkrete Strategie dieser Dichtung  : s. S. 328–29  ; vgl. Kap. 1.1.4 zu Magirus’ biographischem Makel und seinem Schweigen darüber. 51 Magirus, Johannes (1650b), Bl. A2r–v.

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Es ist bezeichnend, daß Thomas Bartholin (1616–1680), den Johannes Magirus als seinen Studiengenossen in den Niederlanden bezeichnete,52 in der retrospektiven Beschreibung seiner Bildungsreise die gleichen Orte praktischer Ausbildung aufzählte  : Er nannte ebenfalls als besondere Erfahrung nicht nur den Austausch mit gelehrten Männern und die Gelegenheit, den Zustand verschiedener Kranker in den Häusern und Krankenhäusern zu sehen, sondern konkret auch den Besuch von Laboren, Ofenhäusern der Chymiker, Apotheken und Gewürzlager.53 Ob er dies alles in Leiden gesehen hatte, schrieb er nicht  ; Magirus’ Erfahrungen lassen sich in dieser Hinsicht genauer verorten. Er immatrikulierte sich am 31. August 1637 in Leiden als Student der Mathematik  ; ob er sich gleichzeitig oder schon zuvor auch an der Medizinischen Fakultät einschrieb, bleibt ungeklärt, da die Leidener Matrikel für diese Zeit Lücken aufweist. Auch ist unklar, was er, abgesehen vom hier erwähnten obligatorischen Hippokrates, dort hörte, da die Vorlesungsverzeichnisse von 1635 bis 1654 ebenfalls fehlen.54 Dreißig Jahre später brachte er jedenfalls in einer winzigen Marginalie in seinem »Unterricht« zur Pestilenz und Roten Ruhr (1667) unter, daß er 1638 und 1639 Kollegien bei Johannes Walaeus besucht habe.55 Ansonsten verrät uns Magirus’ Gutachten zur Obduktion des Markgrafen Ernst von Brandenburg, daß er in Leiden mindestens einer Sektion beigewohnt hat, da ihn nach eigenen Worten das »sehr welke« Herz (cor flaccidissimum) des Markgrafen an das eines vierzehnjährigen Jungen erinnerte, das er 1637 in Leiden gesehen hatte.56 Johannes Magirus gehörte demnach zu den namentlich nicht genannten Medizinstudenten, deren Anwesenheit um den Seziertisch Otto Heurnius später bei der Publikation seiner Berichte explizit vermerkte.57 Was welcher der im 52 S. Kap. 1.1.2. 53 Th[omae] Bartholini de peregrinatione medica ad cl[arissimum] v[irum] Oligerum Jacobaeum nepotem suum et filios Casparum Bartholinum, Christopher[um] Bartholinum. Kopenhagen  : Daniel Paull /Christian Wering 1674, S. 10  : »Incredibile est, quantum delectet […] aegrorum variorum statum in domibus, in Nosocomiis, quae passim splendide magno lectulorum numero visuntur, eorumq[ue] curandi rationem perspexisse  : Virorum Doctorum colloquiis frui, singulorumque experientias provocare  : Laboratoria, fornaces chemicorum, Pharmacopolia, myropoliaq[ue] ingredi.« 54 Diese Informationen stellte Jan Cramer, Leiter der Bijzondere Collecties an der Universitätsbibliothek Leiden, per E-Mail zur Verfügung. Zur Immatrikulation erteilte er folgende Auskunft  : »Johann Magirus was immatriculated in Leiden University on August 31st 1637. His entry reads as follows  : Joannes Magirus, Francofurto-Marchicus, annor. 23 studiosus matheseos, bij Joffrouw de fries [i.e. he boarded at the house of Miss De Fries  ; no further address given]. Shelf mark  : Leiden, University Library, Archief Senaat en Faculteiten, inv. nr. 9, page 182.« 55 Magirus, Johannes (UPR), S. 22  ; s. hierzu Schlegelmilch (2016a), S. 163 mit Abb. 2  ; (2016b), S. 152 mit Anm. 4. 56 S. GStA PK, BPH. Rep 32, V 46  : Akte über die Krankheit und den Tod des Markgrafen Ernst von Brandenburg, Bl. 83b. 57 S. z. B. den Fall eines an der Phthisis erkrankten jungen Mannes von 19 Jahren, den Heurnius ebenfalls im Jahr 1637 behandelte und nach dessen Tod sezierte  : »Demonstrabat mortisque causas explicabat Otho Heurnius Professor ordinarius Medicinae Practicae, Anatomiae & Chirurgiae, adstantibus plurimis Medicinae studiosis, & praesentibus D. Damiano Weissens, & D. Ioanne Moerbergio, Reipublicae

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Gedicht genannten Professoren Magirus in seiner Zeit dort lehrte,58 ist nicht mehr zu rekonstruieren, im Detail aber auch nicht ausschlaggebend, da er selbst keine der aufgezählten Persönlichkeiten mit seiner Praxis so ausdrücklich in Verbindung setzte, wie er es mit Daniel Sennert tat. Man darf wohl davon ausgehen, daß er insgesamt drei Semester in Leiden studierte (zwei Winter- und ein Sommersemester) und dies außer den zwei Semestern in Wittenberg sein ganzes Studium der Medizin darstellte. Damit lag er immer noch unterhalb der drei Jahre, die nach aktuellen Forschungsergebnissen für das 17. Jahrhundert als Untergrenze eines durchschnittlichen Medizinstudiums gelten.59 Interessanter, weil für Magirus’ eigenes Verständnis von medizinischem Unterricht wichtiger ist, daß er genau zu dem Zeitpunkt nach Leiden kam, als dort im Gebäude des Cäcilien-Hospitals ein Collegium Medico-Practicum eingerichtet und damit eben ein solcher klinischer Unterricht am Krankenbett etabliert wurde, um dessentwillen Medizinstudenten aus dem Reichsgebiet bisher nach Oberitalien oder Südfrankreich gepilgert waren. Am 11. November 1636 begannen zwei der auch im obigen Gedicht genannten Professoren, Otto Heurnius (1577–1652) und Ewald Screvelius (1575–1647), dort zu unterrichten.60 Für die medizinische Versorgung der Patienten im Hospital waren dabei zwei Stadtärzte zuständig, die den Professoren die interessantesten Fälle für den Unterricht weisen und die zugehörige Fallgeschichte samt der verschriebenen Medikation in ein im Hospital aufbewahrtes Buch eintragen sollten, das für die Studenten jederzeit einsehbar sein mußte. Diese sollten auch jederzeit zwischen den Unterrichtsstunden zu den Patienten gehen und sie studieren dürfen.61 Wie ungewohnt dieser unmittelbare und auch interaktive Unterricht für Studenten gewesen sein mußte, die das Dozieren ex cathedra gewohnt waren, zeigen Beschwerden von Studenten aus eben dem Sommer 1637, als Johannes Magirus gerade in Leiden ankam. Otto Heurnius gestaltete seine Unterweisung offensichtlich so, daß er die Studenten zuerst fragte, woran ein Patient, an dessen Bett sie getreten waren, ihrer Meinung nach litt, und erst dann seine Beurteilung der Symptome und die von ihm empfohlene Therapie kundtat. Es kommt vertraut vor, daß die meisten Studenten es gar nicht schätzten, sich vor Gruppe und Professor äußern zu müssen und Frontalunterricht vorzogen. Otto HeurLeydensis Medicis ordinariis  : sectionem administrante M. Ioanne Camphusio Reipublicae Leydenis & Nosocomii Chirurgo ordinario […]« [Unterstr. d. Verf.]. Heurnius’ »Historiae et Observationes quaedam rariores ex praxi et diario« sind einer Ausgabe der Krankheitslehre Fernels als Appendix beigebunden  : s. Johan[nis] Fernelii Ambiani De morbis universalibus et particularibus libri quatuor posteriores pathologiæ […] Utrecht  : Gisbert a Zijll, Theodor van Ackersdijck, 1656  ; hier S. 4 (Zitat). 58 Zu den erwähnten Personen s. Lindeboom (1984), Sp. 1780–1 (Screvelius, Ewaldus)  ; Sp. 859–60 (Heurnius, Otto)  ; Sp. 2117–9 (Walaeus [Wale], Johannes)  ; Sp. 2019 (Falckenberg [Valckenburg, Falcoburgius], Adrianus van)  ; Sp. 2089–91 (Vorstius, Aelius Everhardus). 59 S. De Ridder-Symoens (2010), S. 48. 60 S. Huisman (2009), S. 132. 61 Zu den Regelungen das Collegium Medico-Practicum betreffend s. Lindeboom (1970), S. 205  ; Huisman (2009), S. 131.

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nius verzichtete nach Aussage der Universitätsakten fortan prudenter auf die Befragung der Studenten und dozierte direkt über den Kranken.62 Dieses dennoch sehr praxisorientierte Konzept beeindruckte den frisch eingetroffenen Studenten Magirus so nachhaltig, daß er es nach seiner Rückkehr in die Heimat umgehend in Angriff nahm, selbst ein Collegium Medico-Practicum mit Besuchen am Krankenbett aufzubauen. Sein Versuch, die niederländische Unterrichtsform bereits in den 1640er Jahren in Berlin umzusetzen, stellt einen eindeutigen Beleg dafür dar, daß der klinische Unterricht in Leiden nicht, wie oft zu lesen ist, erst mit Franciscus Sylvius (1614–1672) am Ende der 1650er Jahre begann, sondern tatsächlich bereits in den 1630er Jahren junge Ärzte vor Ort praktisch geschult wurden. Amsterdam (1639–1640) In dem bereits zitierten Gedicht Nicolaus Peuckers ist von einem großen Arzt die Rede, der Magirus »in seine Wohnung nam«. Für unser heutiges Bildgedächtnis mag die erste Assoziation zu einem berühmten Arzt in Amsterdam in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts am ehesten Nicolaes Tulp sein  ; jedoch löst Magirus nach etlichen Jahren in der gleichen Schrift, in der er auch Walaeus’ Kolleg erwähnte, das Rätsel anders auf. Er kommt dort auf den Arzt, dessen Praxis er begleitete, im Kontext der Wirkung von Schlafmitteln zu sprechen  : Man muß aber hierinn behutsam gehen und den Patienten dergleichen Artzney geben, wann sie noch bey Kräfften seind  ; wann man ihnen aber schlaffmachende Sachen giebet, wann die Kräfften weg seind, so schlaffen sie zwar ein, aber sie erwachen nicht wiederumb  ; dergleichen Exempel habe ich Anno 1639. zu Amsterdam, da ich daselbsten bey Hern D. Georgio Magiro vonehmen Practico die Praxin lernet, welcher auch in der Cur der Pest wolgeübet war in acht genommen  ; den da hatte ein Störger oder Quacksalber und Stümpler, dergleichen es heutiges Tages so viel giebet als Fliegen in den Hundstagen, ein quintlein Philonii Romani zur Besserung des Schlaffs einem Krancken gegeben  ; er schluff zwar ein, soll aber noch aufwachen, welches damals vor den Magistrat der Statt kommen, so auch einige aus ihren Mittel nebst gedachten Doctor der verbliechenen Cörper zu besichtigen geschicket, welcher es mir hernach wie obgemeldet erzehlet hat.63

Ein auf das Jahr 1614 zurückgehendes Verzeichnis der Ärzte Amsterdams zeigt drei Zeilen unter Tulps Namen den Eintrag »Georgius Magirus«  ; hier steht auch, er habe am 30. August 1620 in Basel promoviert.64 Ansonsten ist bislang kaum etwas über diesen Arzt bekannt, auch nicht, ob eine familiäre Verbindung zwischen ihm und Johannes Magirus

62 Vgl. Lindeboom (1970), S. 205–6 mit Anm. 29 (Quellentext)  ; Huisman (2009), S. 141. 63 Magirus, Johannes (UPR), S. 20. 64 S. die Abbildung des Eintrags bei Wesdorp (1998), S. 118 mit entsprechendem Provenienzvermerk.

Wissen erwerben Abb. 21  : »Der Balbierer«. »Ich bin beruffen allenthalben, Kan machen viel heilsamer Salben, Frisch Wunden zu heyln mit Gnaden, Dergleich Beinbrüch und alt Schaden, Franzosen heyln, den Staren stechen, Den Brand leschen und Zän ausbrechen, Dergleich Balbiern, Zwagen und Schern Auch Aderlassen thu ich gern.« Holzschnitt von Jost Amman aus Hans Sachs  : Eygentliche Beschreibung Aller Stände auff Erden. Frankfurt a. M. 1568, Bl. D3r.

bestand.65 Jedenfalls sammelte letzterer in Amsterdam erneut praktische Erfahrung und lernte dabei auch städtische Aufgaben wie die geschilderte rechtsmedizinische Begutachtung kennen. Er studierte in Amsterdam in voller Breite die Praxis, und dies nicht nur bei Georg Magirus, sondern gleichzeitig auch im Hospital und einer Apotheke. Die Aussage »Wie fleissig hattest du nach den Balbierern Acht, wann sie das Krancken-Haus, daselbst berühmt, besuchten« in Peuckers Gedicht bezog sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf das St. Pieters-Gasthuis, das größte der Amsterdamer Hospitäler, das eine Apotheke mit eigenem Laboratorium und Kräutergarten besaß.66 In den Jahren, als Magirus die Stadt besuchte, waren für die medizinische Versorgung der dort befindlichen Patienten neben einer gewissen Zahl an Pflegekräften zwei Chirurgen bestallt, die zweimal am Tag Wundverbände erneuerten sowie – jedoch erst seit 1601 – ein Arzt. 67 Wie es auch für Leiden der Fall war, finden wir Magirus hier in Amsterdam wieder zu einer Zeit, für die die medizinhistorische Forschung von medizinischem Unterricht in 65 Harmen Snel vom Stadsarchief Amsterdam erteilte per E-Mail folgende Auskunft (22.10.2009)  : »The only thing I found in the index on the notarial archives was a last will of Georgius Magirus and his wife Sophia van Renesse, dated 4 August 1637, where husband and wife declare their partner as heir. No other names are mentioned in their will. The profession of Georgius Magirus was Doctor Medicinae though.« 66 S. Wesdorp (1998), S. 143. 67 S. Mooij (2002), S. 52–53.

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der Stadt noch nicht ausgeht, denn üblicherweise wird der Beginn klinischen Unterrichts in diesem Hospital auf das Jahr 1669 datiert.68 Magirus lernte allerdings schon dreißig Jahre früher dort – direkt von den Heiltätigen selbst, ohne Anbindung an eine akademische Institution. Dies illustriert gut die medizinische Infrastruktur Amsterdams, wo bis weit ins 17. Jahrhundert die alte Gilde der Barbiere und Chirurgen dominierend in der Ausbildung medizinischen Personals war, und es deswegen auch bis zum Ende des Jahrhunderts immer wieder zu Konflikten mit den Medizinprofessoren des neu entstandenen Athenaeum kam. Das Prestige, das die Gildemitglieder sich selbst zuschrieben, ist fixiert in zahlreichen Gruppenporträts, von denen das bekannteste »Die Anatomie des Dr. Tulp« sein düfte (Abb. 22). Es entstand fünf Jahre, bevor Magirus in die Stadt kam. Da die Chirurgen Studenten des Athenaeums und auch andere außerhalb ihrer Zunft Stehende nicht an ihren eigenen Vorlesungen teilnehmen lassen wollten,69 hat er wohl kaum das Privileg genossen, es in deren Theatrum anatomicum hängen zu sehen. Amsterdam war somit, lange bevor sich die akademische Medizin dort umfassend etablierte, ein Ort der praktischen Ausbildung.70 Ähnlich wie Magirus das St. PietersGasthuis, besuchte Théodore de Mayerne schon im Jahr 1600 – als klinischer Unterricht auch dort noch in ferner Zukunft lag71 –, seinerseits das Hospital in Straßburg, wo ebenfalls praktisches Wissen zu erwerben war.72 Die Beispiele beider zeigen, daß Wissenserwerb für Studenten in Krankenhäusern – was als Alleinstellungsmerkmal der oberitalienischen Ausbildungsorte galt – auch in größeren Städten Nordeuropas durchaus möglich war. Als Ausbildungsstätten wurden solche Orte jedoch bislang von der Forschung immer erst dann wahrgenommen, wenn sie in ein universitäres Curriculum eingebunden und damit durch akademische Lehrer zu offiziellen Lehrbetrieben wurden. Magirus lernte im Umfeld des St. Pieters-Gasthuis das Applizieren, v. a. aber auch das Herstellen von Medikamenten, nämlich im Laden der Barbiere (»wie stetig sahe man dich in der Werckstatt stehen, dem Kram der Kräuterey, wann Atzney ward gemacht«).73 Dies beinhaltete zunächst das Herstellen von Pflastern, Einreibemitteln etc. aus pflanzlichen Stoffen, aber offenbar auch das Anfertigen chymischer Präparate, wie die Erwähnung der Balbiere zeigt,

68 Damals erhielt Gerard Blasius, der Medizinprofessor des Athenaeum, die Erlaubnis, nach Leidener Vorbild mit seinen Studenten die Patienten des St. Pieters-Gasthuis zu besuchen und dort zu lehren  : s. van Miert (2009), S. 164. 69 S. ebd., S. 164–5. 70 S. Mooij (Amsterdam 2000), S. 39–41  ; 63–64. 71 S. Brockliss/Jones (1997), S. 500–2, bes. S. 501. 72 Trevor-Roper (2006), S. 50  : »Strasbourg was already famous in the medical world for its Pharmacopoeia, or list of approved medicines, including chemical medicines. Mayerne was now able to see the organisation behind the document  : the public hospital with its apothecary’s office supplied with every kind of medicine, including various extracts much used by the local physicians.« Mayerne traf sich in Straßburg auch mit den dortigen Stadtärzten zum Erfahrungsaustausch  : s. ebd., S. 51. 73 »Kram« bezeichnet einen Laden  : s. http://www.woerterbuchnetz.de/DWB  ?lemma=kram (letzter Zugriff  : 13.12.2017).

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Abb. 22  : Rembrandt van Rijn, Die Anatomie des Dr. Tulp (1632). Den Haag, Mauritshuis.

die »bald auß diesem, bald auß jenem Säffte kochten, und kostbarliches Oel«.74 Die Bemerkung, es sei nun schon mehr als zehn Jahre her, »nachdem du dieser Kunst dich selber angenommen, und die Corallenkraft durchs Fewer außgebrannt«, deutet ebenfalls darauf hin, daß Magirus sich hier mit der Zubereitung »chymischer« Medikamente vertraut machte, wie er sie später in seiner Praxis verwendete.75 Die blühende Handelsstadt Amsterdam, Umschlageplatz von Kräutern, Gewürzen und vielerlei anderen, auch teuren Inhaltsstoffen, die 1636 gerade erst in der »Pharmacopoea Amstelredamensis« zusammengefaßt worden waren, war der beste Platz, um die praktischen Grundlagen der Pharmazie zu erlernen.76

74 Öle konnten durch Pressung hergestellt werden (»Olea expressa«) oder durch Destillation (»Olea destillata«)  : s. Barke (1991), S. 308  ; das »Kochen« bezeichnete dabei »den elementaren Arbeitsgang der präparativen Chymie«  : ebd., S. 276. 75 Korallen, Krebsaugen, Perlen, Muschelschalen und Kreide wurden als kalkhaltige Substanzen unter Zufügung von Salpetersäure bei der Zubereitung von sogenannten »Magisterien« benutzt  : s. Macquer, Peter Joseph (1789), S. 102  ; zum »Ausbrennen« s. Barke (1991), S. 196  ; zum »medicus per ignem« s. Schlegelmilch (2013), S. 9. 76 S. Bosman-Jelgersma  : Dr. Nicolaes Tulp and the Science of Pharmacy, in  : Dudok van Heel et al (Hg.)  :

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Den Haag, Frankreich und England (1639–1640) Als wesentlicher Teil der praktischen Erfahrung, die Johannes Magirus auf seiner peregrinatio sammelte, darf nicht unerwähnt bleiben ein weiterer Aspekt der ärztlichen Praxis, der mit der Behandlung ganz besonderer Patienten zu tun hatte und den er in seinem späteren Leben sehr erfolgreich zur Anwendung brachte  : das Konversieren bei Hofe.77 Dies stellte eine ganz spezifische »Weisheit« dar, die man in Den Haag erlernen konnte  ; der Leibarzt des Prinzen Friedrich Heinrich von Oranien (1584–1647), des Statthalters der Niederlande und – für Magirus späteren Werdegang nicht unerheblich – des zukünftigen Schwiegervaters seines Landesherren Friedrich Wilhelm von Brandenburg, war hierin sein Lehrer  :78 War dir zum Haage nicht in Holland Rumpff bekand // der Leib-Artzt Königlich- und fürstlicher Personen  ; du mustest, wann er aß, ihm an der Seite wohnen // wann Printzen Tafel war, damit er auß der Kunst mit dir zu reden nam, und was von Weißheit sonst // noch neben unterlief […].79

Wie Johannes Magirus Kontakt zu Christian Rumpf (1580–1645) knüpfte, wissen wir nicht  ; vielleicht geschah es während seines Aufenthalts in Breda (1637), bei dessen Belagerung der Statthalter seinen Arzt bei sich gehabt haben dürfte,80 vielleicht gab es aber auch eine Verbindung zu Georg Magirus. Jedenfalls begleitete Johannes Magirus den Leibarzt Rumpf nun so, wie er andere Ärzte bei ihrer Arbeit zu den Patienten begleitet hatte, nur eben nicht ans Krankenbett, sondern zum Essen. Der Text suggeriert, Rumpf habe dort einerseits mit Magirus gefachsimpelt, ihn daneben auch noch an anderem Wissen (»Weißheit«) teilhaben lassen, was in diesem Kontext wohl als hofbezogen gedacht werden darf. Die beschriebene Situation illustriert treffend, was Jörg Jochen Berns als ein typisches Charakteristikum der Bildungsreisen des 17. Jahrhunderts beschrieb, nämlich die gegenseitige Durchdringung adeliger und akademischer Sphären  : »Viele junge Deutsche, gleich ob adeliger oder bürgerlicher Herkunft, besuchen auf ihren Bildungsreisen sowohl Universitäten wie auch Höfe. Just in dem Maße, in dem Bürgerliche und Adelige bei Hofe miteinander konkurrieren, suchen sie sich wechselseitig in ihren Qualifikationen einander anzugleichen.«81 Von einem Arzt, der Klientel aus einem solchen Umfeld akqui-

Nicolaes Tulp. The Life and Work of an Amsterdam Physician and Magistrate in the 17th Century (Amsterdam 1998), S. 217–32. 77 S. Kap. 1.2.2. 78 Zu Christian Rumpf s. Lindeboom (1984), Sp. 1692. 79 Magirus, Johannes (1650b), Bl. A2v. 80 Vgl. zu Magirus’ Anwesenheit in Breda Kap. 1.1.2. 81 Berns (1988), S. 155–6.

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rieren wollte, wurde das Wissen um die Regeln höfischer Beziehungsnetze, Verhaltensweisen und Gewohnheiten erwartet, eben höfische »Weisheit«.82 Die Stationen seiner Reise außerhalb der Niederlande erwähnt Magirus nur sehr beiläufig. Wie so oft gilt es, viele einzelne Mosaiksteine zusammenzusetzen, da er wie bei der einmaligen Erwähnung von Walaeus’ Kollegien oder Georg Magirus im »Unterricht« ortsgebundene Informationen gewöhnlich nicht anführte, um seine Leser an seinen Reisen teilhaben zu lassen, sondern um verstreut Berichtetes durch den Beleg der Autopsie zu verifizieren. Daß er seine deutschsprachigen Collegia damit bewarb, daß solche »in Paris, Somür, Londen, dem Haag« bereits etabliert waren,83 außerdem nach eigenen Worten beobachtet hatte, daß man in Angers »hefftig die junge [  !] Ziegen und Böcklein zu schlachten und zu essen« pflegte,84 und schließlich auch die Nützlichkeit des Jakobsstabes, eines astronomisch-mathematischen Instruments, auf der Überfahrt von Nantes nach England getestet haben wollte (s. u.), macht folgende Reiseroute wahrscheinlich  : Vermutlich begab er sich von den Niederlanden aus über Den Haag nach Paris, dann die Loire entlang über Angers und Saumur bis zu dem Hafen in Nantes, setzte von dort nach England über, besuchte dann London und kehrte nach relativ kurzem Aufenthalt schließlich über Leiden wieder nach Hause zurück.85 Nach seinen eigenen Angaben ereignete sich die symbolhafte Buchübergabe durch seinen Vater in Frankfurt/Oder kurz nach dem Dreikönigstag des Jahres 1640.86 Irgendwo unterwegs in Frankreich erlangte Johannes Magirus dann seine Promotion – wo, bleibt unbekannt. Daß er bei seinem Besuch in »Engelland« die beiden einzigen Universitäten, Oxford und Cambridge, besucht haben sollte, ist höchst unwahrscheinlich, da ausländische Studenten sich dorthin so gut wie nie verirrten.87 Vermutlich hat er lediglich, wie die meisten Reisenden, London einen kurzen Besuch abgestattet, wofür auch die oben schon zitierte Erwähnung spricht.88 Darüber hinaus äußerte er sich zu England jedoch überhaupt nicht. Insgesamt dürfte er wohl auf der abschließenden Reise 82 Vielleicht zahlte sich in Magirus’ Fall dieser Aufenthalt am oranischen Hof direkt aus  : Er schrieb später in einem Brief, er sei nicht unerfahren »in Politicis, als in welchen ich anno 1660 in causa Palatina in Hag gearbeitet«  : Johannes Magirus an Johann Caspar von Döringenberg, Marburg, 9.12.1663 (UAM, Bestand 305 o (Nachträge II), Nr. 154, Regest [U. Schlegelmilch] unter  : www.aerztebriefe.de/ id/00021255  ; letzter Zugriff  : 13.12.2017). 83 Magirus, Johannes (KB3), Abschn. IV (unpag.). Magirus gab an, auch über das Programm der Kollegien in Paris Bescheid zu wissen  : s. Magirus, Johannes (KB5), Bl. A3r. 84 Magirus, Johannes (1661a), Bl. D3r. 85 S. Kap. 2.2.1. 86 S. Kap. 1.1.2. 87 S. Asche (2005), S. 21, Anm. 55. Der mangelnde Zulauf mag am konservativen Curriculum der beiden Universitäten gelegen haben  : s. Allen, Phyllis  : Medical Education in 17th Century England, in  : Journal of the History of Medicine 1 (1946), S. 115–43. 88 S. hierzu Berns (1988), S. 166  : »Auffällig ist, daß Rom, Paris und London in vielen Reisehandbüchern und Diarien zwar als besonders sehenswerte Städte ausgezeichnet werden, daß aber die Aufenthaltsdauer vieler adeliger und akademischer Touristen dieser Bedeutung überhaupt nicht Rechnung trägt.« Zu den Attraktionen Londons s. ebd., S. 168–69.

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nach Den Haag, Frankreich und England weniger sein medizinisches Wissen erweitert als vielmehr seine sozialen Umgangsformen mit dem Adel verfeinert und die Lehrkonzepte der Ritterakademien studiert haben. 4.1.3 Zuverlässiges Wissen  : ratio et experientia

Spätestens nach dem Studium und damit der Loslösung von den akademischen Lehrern mußte ein Arzt gelernt haben, eigenständig nützliches Wissen zu identifizieren und damit seinen Horizont mit Blick auf die eigene Praxis zu erweitern. Magirus definierte mit exemplarischem Bezug auf die Pharmakologie, wie nach seinem epistemologischen Verständnis eine echte scientia, eine verlässliche Wissensbasis, erreicht werden konnte  : Doch also und der Gestalt, daß gleich wie man in Bewehrung der Wirckung der Kräuter und andern Artzneyen man nit allem Aberglauben der alten Weiber und anderer Leute glaubet, auch nicht alsbald alles für waar hält, was dieser oder jener author von dieser oder jener Arztney schreibet, sondern man siehet 1. ob sein fürgeben raisonabel und der Vernunfft gemäß und 2. dann so siehet man auch selbsten zu, ob solches fürgeben durch die Erfahrung bewehrt ist, scheidet also auff diese Art und Weise das gewisse von dem ungewissen und machet dann aus demselben was in der Erfahrung eine Prob gehalten eine scientiam, aus welcher man hernach künfftig Dinge etlicher massen und in genere, gleich wie auch die Medici eins und das ander aus ihrer Medicina prognosticieren können.89

Die hier genannten Leitbegriffe – Vernunft und Erfahrung – waren nicht neu  ; das Verhältnis von ratio et experientia war bereits im 16. Jahrhundert ein Standardthema, und dies beileibe nicht mit einer grundsätzlich höheren Wertigkeit der ratio.90 Um zu verstehen, wie Johannes Magirus verlässliches Wissen von dubiosem glaubte scheiden zu können, auch eigene Erfahrung überprüfte und entweder konservierte oder verwarf, muß man sich vor Augen halten, an welchem erkenntnistheoretischen Modell er in seiner akademischen Ausbildung geschult worden war. Als er in den 1630er Jahren das Gymnasium in Thorn und die Universität in Wittenberg besuchte und dort argumentieren und »wissenschaftlich« denken lernte, war der Aristotelismus zwar bereits Gegenstand einiger Kritik, aber noch nicht abgelöst durch neue Modelle wie das cartesische. Das aristotelische Modell postulierte einen dreistufigen Prozeß  : von der experientia, der Erfahrung, über die ars, die Kunst, hin zur scientia, der Wissenschaft, die die Gesamtheit des gesicherten Wissens umfaßte.91 Auf die ärztliche Praxis angewendet ließe sich dieses 89 Magirus, Johannes (1660b), Bl. B1r. 90 S. Henry (1991), S. 209  ; Stolberg (2013b), S. 493. 91 Eine grundlegende und stringente Zusammenfassung dieser aristotelischen Erkenntnistheorie bietet Schneider (1994)  ; s. dort auch zur christlichen Adaption durch Thomas von Aquin, dessen scholastische Methode auf dem ins Lateinische übersetzten aristotelischen Text aufbaute und bis weit ins

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Verständnis folgendermaßen konkretisieren  : Erfahrung (experientia) besteht nach aristotelischer Lehre in der Wiederholung einer einzelnen, spezifischen Sinneswahrnehmung  ; das Identische eines einzelnen Falles wird dabei aus der Erinnerung (memoria) wiedererkannt und kann behandelt werden  ; auf der Handlungsebene entspräche dieser Erfahrung ärztliche Routine  :92 Frau Bürgermeisterin Berg hat wieder Herzpalpitationen und muß wieder auf bestimmte Art und Weise behandelt werden.93 Auf der nächsthöheren Stufe der Erkenntnis steht die Kunst (ars), die aus ähnlichen Erfahrungen allgemeine Beobachtungen ableitet  ; hier ist es die geschulte Vernunft (ratio), die die einzelnen Fälle nach Kategorien ordnen und generelle Muster erkennen kann, etwa  : Bei ähnlichen Beschwerden (Herzpalpitation  ; Enge) verschiedener Patienten haben die auch bei Frau Berg angewendeten Substanzen wiederholt und meistenteils Erfolg gezeigt. Wissen (scientia) ist schließlich, was bei diesen allgemeinen Strukturen »nicht anders sein kann«,94 also mit einer unumstößlichen causa verknüpft ist  : Diese und jene Substanz wirkt gewöhnlich bei Herzbeschwerden, weil sie hervorgerufen wurden durch einen physiologisch eindeutig erklärbaren Körpervorgang, dessen Ursache die Substanz beeinflußt. Die vierte Stufe dieses Erkenntnisprozesses, die Weisheit (sapientia), erwähnt Magirus in dem oben zitierten Text nicht mehr  : Sie bestünde in der Erkenntnis der übergeordneten naturphilosophischen Prinzipien, in unserem Fall also der aristotelischen Elementenlehre, wie Magirus sie als die Physica lehrte.95 Im zitierten Text erklärte Magirus seinen Lesern die einzelnen Schritte dieses Prozesses der Wissensgenese und -sicherung nicht lehrbuch-vorbildhaft als aufsteigend-induktives Modell, also als Abfolge von Einzelerfahrung und Wiedererkennen, Mehrfacherfahrung und Übertragung, Rückbindung allgemeiner Erkenntnis an das gültige physiologische Modell. Er ging vielmehr von einer Situation aus, die man sich bei einem Arzt als alltägliche Erfahrung vorstellen konnte  : Was tun, wenn man irgendwo von einer angeblich erfolgreichen Behandlungsmethode las oder erzählt bekam, einem also gleichsam eine fremde experientia angetragen wurde  ? Nach seinen eigenen Worten überlegte er, ob sie Anschlußfähigkeit an sein bereits vorhandenes Wissen besaß, also »vernünftig« mit anderen Wissensbeständen – die ihrerseits bereits vernunftgeprüft waren – gruppierbar war  : War sie also »raisonabel«  ? Ratio konnte dabei nur ein durch ein Studium der naturphilosophischen und medizinischen Schriften und durch das Disputieren trainierter Geist besitzen, der in der Lage war, die hinter den Dingen stehenden Gesetzmäßigkeiten der Natur bzw. die Abweichungen von ihnen zu erkennen  ; oder, wie Magirus es an anderer Stelle formulierte, Ärzte, die

17. Jahrhundert die Disputierkunst an den Universitäten prägte. Für die folgenden Ausführungen s. besonders S. 172–80. 92 Zum Begriff der Routine als praxeologischem Terminus s. Schlegelmilch (2015), S. 107. 93 Vgl. Kap. 3.2.1., Magirus  : Eine zusätzliche Frage. 94 S. zu diesem Kriterium Schneider (1994), S. 175. 95 S. Schneider (1994), S.179.

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[…] Vernunfft, Zeit und mehrere Erfahrung, dadurch das gewisse von dem ungewissen, die generalität von den nebenzukommenden Umständen in individuis hat müssen unterschieden werden, adhibiret haben.96

Hielt das Wissen diesem geschulten »good judgement« stand, wie es auch Harold J. Cook in seiner Studie zur Beziehung von Theorie und Empirie im 17. Jahrhundert charakterisierte,97 mußte immer noch »in der Erfahrung eine Prob gehalten« werden.98 Das Zitat impliziert hierfür nicht nur einen einmaligen, das erste Urteil bestätigenden Test, sondern eine mehrmalige Wiederholung dieser sensuellen Bestätigungserfahrung (»mehrere Erfahrung«) über einen längeren Zeitraum, wie es auch die aristotelischen Schriften vorgaben.99 Letztlich bewegte sich das von Magirus geschilderte Vorgehen immer gleichzeitig auf allen vier Erkenntnisebenen des aristotelischen Modells, wie man es auch in der zeitgenössischen Fachliteratur findet.100 Es illustriert zugleich einen charakteristischen Zug des Kuhn’schen Paradigmas in den Naturwissenschaften  : Es werden ausschließlich Erkenntnisse zugelassen, die sich in das bereits als gültig erkannte System integrieren lassen.101 Magirus wurde jedenfalls nicht müde, die immer gleichen Grundsätze zu wiederholen  : Theorie ohne Erfahrung kann eine scientia nicht ausmachen, Erfahrung ohne theoretischen Bezugsrahmen verkaufen nur die betrügerischen empirici als Heilkunst  ; wahres Wissen besteht die Prüfung in Theorie und Praxis  : Weil aber kein Mensch in der Welt zu finden, der alles sollte gewust und kein mahl geirret haben, so muß man auch den Gelehrtesten nicht alles glauben, sondern auch hierinnen der Vermahnung des Apostels folgen  : prüfet alles, und das gute behaltet. Sol man dann ein 96 Magirus, Johannes (1662b), Bl. A4r  ; vgl. (1647a), Bl. A3r  : »Was die Erfahrung anlanget, so ist dieselbe […] löblich unnd nützlich, aber wenn einer nicht gelehrt und wol belesen ist, auch einen guten Verstand hatt, kann er sich der Erfahrung nicht rühmen.«  97 S. Cook (2010), S. 13–14.  98 Georg Handsch (1529–1578  ?) beschreibt einige solcher probae in seinen Aufzeichnungen  : s. Stolberg (2013b), S. 501–2.  99 Handsch schloß dementsprechend aus der Beobachtung von identischen Ablagerungen im Urin bei drei verschiedenen Patienten auf die Gültigkeit dieser Beobachtung als verifiziertes Symptom bei Fieber  : s. Stolberg (2013b), S. 505  ; auch  : S. 507 (zum Konzept der Induktion in der vormodernen Wissenschaft)  ; vgl. das ebenso »aristotelische« Vorgehen des François d’Aguilon (1567–1617)  : Dear (2008), S. 122. 100 Medizinische Fachbücher wie Curationes, Observationes, Praxis medica, Institutiones medicae und dergleichen verquicken stets die Erkenntnisstufen von experientia, ars, scientia und sapientia  ; die einzelnen Genres unterscheiden sich diesbezüglich nur jeweils in den Schwerpunktsetzungen ihrer Berichte. 101 S. Kuhn, Thomas  : Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (Frankfurt/Main 242014), S. 37– 64 zum Wesen der »normalen« Wissenschaft  ; S. 65  : »Die normale Wissenschaft strebt nicht nach neuen Tatsachen und Theorien und findet auch keine, wenn sie erfolgreich ist.«

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Ding prüfen, so muß mans ja wissen, und muß auch eine gewisse und unfehlbare Regel haben, wornach man ein Ding probiere  : Und diese ist nun in der Arzneykunst ratio & experientia, das ist die Vernunfft und eine wolgegründete Erfahrung, welche allezeit beysammen stehen müssen. Was sich hiernach regulirer [lies  : reguliret], das wird für wahr gehalten, was aber hievon abweichet, wird als falsch und untüchtig verworffen. Und dieses ist also der kurtze Begriff der wahren Artzneykunst.102

Die Selbststilisierung als »wissenschaftlich« solide arbeitender Arzt war, wie bereits gesehen,103 Teil der Abgrenzung gegenüber anderen Heiltätigen, die in der Praxis wirkende scientia der vorgebliche Ausweis der Vertrauenswürdigkeit.104 Da die Ärzte das Erstellen von Rezepturen als ihre vornehmliche Domäne betrachteten, war die »Prob« von Medikamenten der Bereich, in dem sie sich hauptsächlich bemühten, die beschriebene praktische Erfahrung zu sammeln.105 Hierfür formulierte Magirus feste Regeln  : Muß 1. eine sache nicht in einen (!) sondern in vielen erfaren werden, dann eine schwalbe macht keinen Sommer. 2. müssen dieselbe, in welchen es erfahren wird, einerley Constitution und temperament seyn. 3. müssen es auch einerley stück des menschlichen Cörpers seyn. 4. muß man auch unterscheiden die Kranckheiten, ob sie einfach oder zusammen gesetzt, denn man mus etwas in einer einfachen Kranckheit allein erfahren, und mus also die Kranckheiten wol kennen lernen, und dann auch den Unterscheid der Constitution der Leute, und muß man das medicament dessen Kräffte man erfahren wil, allein gebrauchen.106

So sammelte er allerorts und zu jeder Zeit Erfahrungswissen gemäß dem Grundsatz »[…] und kann menschliche authoritet nicht viel beweisen, die Experientz aber hergegen ist ein locus Demonstrativus«107  : Er erwarb Proben dubioser Heilmittel und analysierte sie,108 unterzog einige nach Aussagen seiner Patienten erfolgreiche Rezepturen dem Praxistest,109 102 Magirus, Johannes (1649b), Bl. B2r. 103 S. Kap. 2.2.2. 104 S. den Brief von Daniel Beckher an die Medizinische Fakultät von Königsberg, Königsberg, 31.8.1644 (Archiwum Państwowe w Olsztynie, 1646/272, S. 33–4  ; Regest [U. Schlegelmilch] unter  : www.aerztebriefe.de/id/00022615  ; letzter Zugriff  : 13.12.2017)  ; hier im Originaltext, S.  33  : »Haec quippe [dignitas Medici] in solida substitit Scientia, quae in Praxi secundum Methodum instituta elucescit.« 105 Publizierte Fallgeschichten enthielten meist als wesentliche Komponente eine Dokumentation der genauen Medikation, Lehrwerke oft Rezeptvorschläge mit dem Zusatz probatum  : s. Stolberg (2013b), S. 510. 106 Magirus, Johannes (1647a), Bl. B1r. 107 Magirus, Johannes (1658b), Bl. D3r  ; s. auch Kap. 1.3.2. 108 Magirus, Johannes (1647a), Bl. C3r  : »Also war neulicher Zeit ein Empiricus zu Stettin, der verkauffte Bley Schweffel und Spicenöhl für das Aurum potabile, und mußte man ihm für ein gläßlin so etwan 3 groschen wehrt war, vier Thaler geben, ich kan einem iedweden die Probe darvon weisen.« 109 UB Marburg, MS. 96, S. 95 (29. Jan. 1649  : H. D. Joh. Magirus)  : »hatt den 29. Januarii Ao. 1649

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und verabreichte sich selbst Verschreibungen von Kollegen, denn der Selbstversuch galt als unmittelbarste und zuverlässigste Erfahrung, da am eigenen Körper spürbar  :110 Herr Dr. Weis hatte ihr eine magenstärkende Latwerge verschrieben. Ich nahm etwas davon, um sie zu probieren  ; ich habe aber Schmerzen und Poltern im linken Hypochondrium gespürt – also ist es wahr  : insgesamt sind Zucker und alles Süße schädlich bei Milzkrankheiten.111

Das Selbst-Erleben bzw. Selbst-Sehen, die Autopsie, war absolute Prämisse der expe­rien­ tia,112 weswegen Magirus auch keine Diagnosen aussprechen wollte, ohne die Patienten gesehen zu haben.113 Gehörte man zu den mit ratio begabten Männern, in diesem Falle  : studierten Medizinern, stand der Wahrheitsanspruch der auf diesem Wege gewonnenen Erfahrungen außer Frage, denn sie durften per se als reflektiert gelten.114 Magirus verbreitete seine Erfahrungserlebnisse in kleinerem Format, in seinen Kalendern, etwa um seine Leser von der Wissenschaftlichkeit der Astrologie zu überzeugen  : […] und ist mir wol ehe widerfahren, daß ich deß Nachts hin zu Patienten gefordert worden, welche mit der schweren Noth behafftet gewesen, umb dieselbe Zeit, wann eine Mondfinsterniß eintretten wollen  ; also erfähret man auch, daß die Kinder, welche, wie der gemeine Pflaumen undt rosinen kochen lassen, die brühe davon auf ii fol. Senae u. i Sem. Foeniculi gießen laßen, die nacht über stehen lassen, undt also des morgens dieses träncklein genommen, hatt darauff 6 sedes bekommen.« Magirus setzte diesen von seinem Namensvetter erprobten Pflaumensaft im nächsten halben Jahr bei verschiedenen Patienten ein, wie die Einträge zu deren Fällen im Diarium belegen. 110 S. Stolberg (2013b), S. 513. 111 UB Marburg, Ms. 96, S. 71 (Jan. 1648  : Tillemana)  : »D. D. Weis praescripserat Electuarium stomachum confortans. Ego de ipso sumebam aliquid degustandi gratia  ; sed dolores et rugitus in sinistro hypochondrio percepi, itaque verum est omnino sacharum et dulcia omnia in splenis morbis noxia.« 112 Die Autopsie war seit dem 16. Jahrhundert, als praktizierende Anatomen wie Vesalius in Widerspruch zu den etablierten antiken Autoritäten traten, als Prinzip medizinischer Selbstautorisation zu neuer Wertigkeit gelangt  : s. De Angelis, Simone  : Autopsie und Autorität. Zum komplexen Verhältnis zweier medizinischer Basiskonzepte und ihrer Funktion in der Formation einer ›Wissenschaft vom Menschen‹ im 17. und 18. Jahrhundert, in  : Heinen, Ulrich (Hg.)  : Welche Antike  ? Konkurrierende Rezeptionen des Altertums im Barock, Bd. 2 (Wiesbaden 2011), S. 887–901, hier bes. S. 887–93  ; Dear (2008), S. 111–2. Vgl. auch die Aussage des Arztes Salomon Reisel (1625–1701)  : »Nihil credendum nisi manibus oculis  : nihil certe & publicum, sine experimento, laudandum  ; nihil sine examine, transcribendum […]«, zitiert nach Bröer (1996), S. 39, dort mit Übersetzung. 113 S. Kap. 3.2.5. 114 »[…] such writers avoided the thorny issue of trust by refusing, in effect, to acknowledge distrust as a relevant option  ; reputation and institutional credibility took the strain.«  : Dear (2008), S. 123  ; vgl. Shapin, Steven  : A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England (Chicago/London 1994), Chapter 3  : Knowledge, Social Practice, and the Credibility of Gentlemen, zu einem ähnlichen Glaubwürdigkeitsverständnis unter englischen Gentlemen-Gelehrten.

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Mann redet, geboren werden, wann der Mond kein Liecht hat, gemeiniglich nicht lebhafftig sein, wie mir dann diese Tage noch ein Exempel vorkommen ist  : welches Kindlein dann nach der Zusammenkunfft deß Monden mit dem Saturno geboren, und im Quadratschein desselben und der Sonnen gestorben ist, anderer Exempel zu geschweigen.115

An dieser Stelle lassen sich erneut die verschiedenen Schritte der Wissenssicherung, diesmal für astrologisch-medizinisches Wissen erkennen  : Wie zuerst die experientia, die aus Laienaussagen hervorging – die Beteiligung des Mondes an Konjunktionen kann nicht lebensfähige Kinder hervorbringen – durch eigenes (und damit nicht laienhaftes) Erleben verifiziert, also zu eigenen experientia wurde  ; wie Magirus dann diesen Fall mit einem anderen in Verbindung setzte, bei dem eine Mondfinsternis nach seiner Beobachtung die »schwere Noth« ausgelöst hatte, und damit einen spezifischen Wissensbestand seiner ars medico-astrologica umriß  : Der Mond kann sehr ungünstig auf den menschlichen Körper wirken.116 Dies wiederum bestätigte auf allgemeinerer Ebene den generellen Einfluß der Himmelskörper auf die sublunare Welt, was Grundlagenwissen der Astrologie (scientia astrologica) und die Kernbotschaft seiner Kalendertexte darstellte. Ursächlich begründbar wäre all das schließlich wieder mit den aristotelischen Physica gewesen. Den Text über die Mondfinsternis und ihre Wirkung druckte Magirus im Prognosticon von 1656 ab. Er ist auch noch ausdrücklich mit der Marginalie Experientia versehen, in der gleichen Weise, wie andere Textabschnitte durch die Angabe von Autorennamen belegt werden. Ganz ähnlich findet sich in einer Dissertation, die unter Magirus als Präses 1663 in Marburg gedruckt wurde, eine These zu Heilwässern, gerahmt von zwei weiteren Thesen, als deren Quelle Hermann Conring (1606–1681) und Henricus van Heer (fl. 1645) genannt sind  ; auch ihr Beleg lautet schlicht  : Experientia.117 Johannes Magirus ordnete seinen »raisonablen« Erfahrungen im Druckbild also die gleiche Wertigkeit zu, die Titelbelege oder Namen bekannter Autoren hatten, und autorisierte sie dadurch als gleichsam akzeptiertes Wissen.118 All dies macht den Stellenwert deutlich, den das reflektierte Erfahrungswissen für Magirus’ Selbstverständnis als praktizierender, aber auch für seine Selbstdarstellung als akademischer Arzt besaß. Ein für uns nützliches Nebenprodukt dieser Vorgehensweise ist, daß so – nicht aufgrund Magirus’ abundanter Erzählfreude, sondern als Ergebnis seines sammelnden Blickes – auch viele autobiographische Informationssplitter auf uns gekommen sind, denn er verlieh vielen seiner Aussagen besondere Autorität durch den Verweis auf Autopsie, wie z. B. seiner ärztlichen Warnung, man könne bei offener Feuerstelle in geschlossenen Räumen leicht ersticken  : 115 Magirus, Johannes (1656b), Bl. A4v. 116 Vgl. die Ansichten des Mathematikers und Kalendermachers Abdias Trew (1597–1669), den Magirus häufig zitierte, bei Gaab (2011), S. 273–5. 117 S. Schlegelmilch (2016a), S. 167. 118 S. auch Magirus, Johannes (1658a), Bl. B2r  : Merettich ist hitzig (Beleg  : Sennertus. Experientia.)

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Also weiß ich mich auch zu erinnern, daß, als ich zu Leiden in Holland war, daselbsten drey Schifleute, so vorne im Schiffe des Nachts schliefen, und vom Torff und Kolen ein Fewer gemacht hatten, darvon ersticket seynd.119

Nach demselben Prinzip wurde aber auch die Tauglichkeit von Instrumenten »belegt«, wie z. B. die des Jakobsstabes, eines astronomisch-mathematischen Instruments zur Strecken- und Winkelmessung  : […] davon ich nur allein melden wil, was ich selbst erfahren. Anno 1640 traten wir zu Nantes in Franckreich in ein Schiff und wolten in Engelland fahren  ; wie wir nun etliche Tage in der See waren, und nicht wußten, wo wir waren, nahm der Stewermann den Jacobsstab, maß darmit die Höhe der Sonnen und wieß uns hernach auff der Seemappen den Ort, da wir waren.120

Johannes Magirus schrieb alles auf, was ihn interessierte, bemerkens- oder tadelnswert erschien oder einfach auch nur versprach, im Zuge späterer Studien vielleicht verständlich oder zu einem Beweis durch experientia zu werden. 4.1.4 »Wissenschaft« und »Forschung«

Als ein wesentlicher Baustein der Scientific Revolution wird gemeinhin gesehen, daß das 17. Jahrhundert das im heutigen Sinne naturwissenschaftliche Experiment als neues heuristisches Werkzeug entwickelte.121 Ein solches Experiment (experimentum) hat zur Auflage, daß die dahinterstehende Versuchsanordnung zu jedem Zeitpunkt mit dem identischen Ergebnis wiederholbar, das Gleiche beobachtbar sein muß. Im Idealfall sollte dies zur Formulierung von physikalischen Gesetzmäßigkeiten führen, die in mathematischer Form beschreibbar sind. Francis Bacon und Isaac Newton werden in diesem Kontext gerne als Wegbereiter der modernen Naturwissenschaft genannt.122 Der Terminus experimentum erfuhr dadurch mit dem Wechsel vom 16. zum 17. Jahrhundert einen deutlichen Wandel. Der Arzt Georg Handsch bezeichnete Mitte des 16. Jahrhundert mit dem Begriff noch Heilmittel, die dem Test der experientia standgehalten hatten  ;123 ein experimentum war somit ein Medikament, das in der Praxis einen beobachtbar positiven Einfluß auf den Krankheitsverlauf eines individuellen Patienten gezeigt hatte. Auch der englische Anatom Francis Glisson (1596–1677) folgte im 17. Jahrhundert 119 Magirus, Johannes (1653a), Bl. D1r  : Beleg für die Gesundheitsschädlichkeit von Rauch in geschlossenen Räumen. 120 Magirus, Johannes (1646b), Bl. A2r. 121 S. Henry (32008), S. 34. 122 S. den Überblick zu diesem Thema bei Dear, Peter R.: Experience and Experiment, in  : Applebaum (2000), S. 219–23. 123 S. Stolberg (2013b), S. 501  ; vgl. Dear (2008), S. 114–15.

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einer Definition, die experimentum als das verstand, was durch experientia belegt war  : »Experientia ist das Erkennen des Wahrheitsgehalts irgendeiner Vorgabe auf der Grundlage des Zeugnisses der Sinne. Was aber so erkannt wird, heißt experimentum, wie  : Feuer ist heiß.«124 Der allmähliche Bedeutungswandel des Begriffes experimentum läßt sich dann daran ablesen, daß der Mediziner und Mathematiker Joachim Jungius (1587–1657) ihn in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in seinen Manuskripten nachträglich durchstrich und durch experientia oder observatio ersetzte, um deutlich zu machen, daß er an diesen Stellen nicht eines der neuartigen Experimente qua Versuchsanordnung meinte, sondern das Ergebnis einer experientia-gestützten Überprüfung, einer wissenschaftlichen Beobachtung nach herkömmlichem Verständnis.125 Experientia und experimentum standen damit zwar um die Mitte des 17. Jahrhunderts als Schlüsselbegriffe für zwei unterschiedliche methodische Zugriffe, jedoch nicht grundsätzlich miteinander in Konkurrenz, etwa im Sinne einer angestrebten Ablösung des einen (alten) durch den anderen (neuen). Vielmehr bestimmten das Erkenntnisinteresse des Forschenden sowie die Natur des untersuchten Gegenstandes den jeweiligen Zugriff. Trotz aller Hoffnungen, die die cartesianische Physiologie geweckt hatte, die »Menschmaschine« auf verstehbare mechanische Abläufe reduzieren zu können, zeigte sich, daß menschliche Körper vielleicht als vereinfachte Automaten nachbaubar,126 aber anders als geometrische infolge all ihrer Komplexität nicht in einfachen Axiomen formulierbar waren. Für die heutige Medizin beschreiben wissenstheoretische Studien noch immer das gleiche Dilemma, daß diese sich gerne einen naturwissenschaftlich, logisch-deduktiven Stil zuschreibe, dieser aber in der täglichen Praxis nicht anwendbar sei, da die Ausgangslage jedes zu lösenden Problems, anders als bei naturwissenschaftlichen Experimenten, von Fall zu Fall eine verschiedene ist.127 Grundlage einer Behandlung solcher »unberechenbaren« Körper konnte folglich nur die präzise Beobachtung natürlich ablaufender Vorgänge sein. Die Suche nach aristotelischen causae – aus der Überzeugung heraus, daß der Mensch grundsätzlich in die ihn umgebende Natur eingebunden sei und deren Gesetzmäßigkeiten abbilde – dauerte im 17. Jahrhundert weiterhin an. Zusammenhänge und Kausalitäten konnten nur über den Vergleich vieler Beobachtungen hergestellt werden – eine künstliche Anordnung hätte verfälschte Ergebnisse bedeutet, die nicht durch die Natur, sondern den Menschen initiiert gewesen wären.128

124 Zitiert nach Hartbecke, Karin  : Metaphysik und Naturphilosophie im 17. Jahrhundert  : Francis Glissons Substanztheorie in ihrem ideengeschichtlichen Kontext (Berlin/Boston 2006), S. 18 mit Anm. 93. 125 S. Marten/Piepenbring-Thomas (2015), S. 218. 126 Der Arzt Salomon Reisel (1625–1701), ein überzeugter Cartesianer, baute 1674 eine Statue, die mit hydraulischen Mitteln den menschlichen Blut- und Säftekreislauf simulierte und im Hanauer Kuriositätenkabinett ausgestellt war  : s. Bröer (1996), 41. 127 S. Vogd (2007), S. 284. 128 S. Dear (2008) S. 109–110.

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Der bereits erwähnte Joachim Jungius erklärte in seiner Abhandlung über die experientia diese zu einem methodischen Ideal, das sowohl beiläufige wie gezielte Beobachtungen verfolgte. Letztere fanden jedoch eben nicht in künstlichen Anordnungen statt, sondern meinten in der Praxis Beobachtungen von natürlichen Vorkommnissen in einer geordneten Reihe – wie z. B. in regelmäßigem Intervall angestellte astronomische Beobachtungen.129 Genau dieses Verständnis von Forschung im Sinne einer Reihen-Beobachtung läßt sich auch für Johannes Magirus belegen. Als Dekan der Medizinischen Fakultät in Marburg schrieb er 1668 seiner Landesfürstin mit der üblichen Bitte um frische Leichname für die Anatomie  : So bald als ich vernommen, daß ehestens einige vom leben zum todt wegen ihre ubelthaten sollen gebracht werden, hab ich bey der Canzley alhier angehalten, sie wollen mihr die manspersonen, so mit der schwere noth behafftet, und die weibspersonen zur Anatomie und eröffnung zukommen lassen. […] Bedencke ich dadurch noch ferner mit dem Democrito auff die Ursach der tollheit und der schwere noth zukommen, und causis horum malorum cognitis auch derselben mit göttlicher hülfe abzuhelfen  ; wie ich das Gott lob auff ziemliche spur bin, also daß ich vor etlicher Zeit D. Heinii kind glücklich von der schwere noth curiret, derogleichen auch in meiner rückreise in Naumburg gesehen  ; was aber die tollheit betrifft, wird solches die beylage außweisen, wie auch die gerichtliche aussage eines bürgers alhier, welchen ich auch vor etlichen jahren mit Gottes gnade von der tollheit glücklich curiret, welches mit ehestem angestellt wird werden.130

Magirus’ Bitte wirkt wie eine frühneuzeitliche Variante gegenwärtiger Anträge auf Forschungsmittel. Er formulierte seine Bedürfnisse (Leichname mit spezifischer Symptomatik), benannte seine Methodik (Leichenöffnung  ; theoretische Fundierung  : atomistische Naturlehre), seine Expertise (frühere Heilerfolge) und das erhoffte Ergebnis (Heilmittel für Schwere Not und Tollheit). Anstelle einer Liste qualifizierender Publikationen zum Forschungsgegenstand verwies er zum einen auf einen konkret verortbaren Krankheitsfall, den er selbst gesehen hatte (»in Naumburg«)  ; zum anderen reichte er in einer Anlage zur Beglaubigung seiner Autorität Zeugenaussagen eines Regimentsangehörigen ein, der während seiner Badekur gesehen haben wollte, wie Magirus »einen dollen und wahnsinnigen menschen« in Langenschwalbach geheilt hatte, sowie zweier Medizinstudenten, die bekannten, ihnen sei »glaubwürdig berichtet« worden, daß er »D. Heinii töchterlein von der schwerenoth« kuriert habe. Hiermit präsentierte Magirus sich der Fürstin gegenüber 129 S. Marten/Piepenbring-Thomas (2015), S. 218. 130 Johannes Magirus an Hedwig Sophie von Hessen-Kassel, Marburg, 27.9.1668 (HstAM, Best. 5 (Geheimer Rat), Nr. 8143  ; Regest [S. Schlegelmilch] unter  : www.aerztebriefe.de/id/00013354  ; letzter Zugriff  : 13.12.2017), hier 3r  ; 4r. Die Akte Nr. 8143 enthält auch die Korrespondenz weiterer Dekane, die an die Landesfürstin die gleiche Bitte stellten  ; der Universität waren zwar die Leichen Hingerichteter als Privileg zugesprochen worden, die Fürstin wollte aber in jedem Fall einzeln gefragt sein.

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als zuverlässiger Wissensträger, wobei seine Glaubwürdigkeit sich nach dem (von wiederum anderen zuverlässigen Wissensträgern) beglaubigten Erfolg seines früheren Handelns bemaß. Der Regimentsangehörige war in dieser Hinsicht ein belastbarer Zeuge, da er die Heilung mit eigenen Augen gesehen hatte  ; die Medizinstudenten hatten zwar nur von einer Heilung gehört, konnten aber als Experten dieses Hörensagen als glaubwürdig einschätzen. Magirus’ Zeitgenosse William Harvey (1578–1657) formulierte die Regeln für diesen sehr typischen Autorisationsprozeß, an denen sich auch die Fürstin orientieren konnte  : »Whoever wishes to know what is in question (whether it is perceptible and visible, or not) must either see for himself or be credited with belief in the experts, and he will be unable to learn or be taught with greater certainty by any other means.«131 Berichte über solche »Eröffnungen«, wie Magirus sie hier gern vorgenommen hätte, prägen neben Fallsammlungen wesentlich das Bild, das die Forschung sich heute von medizinischem Erkenntnisgewinn in der Frühen Neuzeit macht. Beide Textarten sind bestimmt vom ärztlichen Blick auf ein Untersuchungsobjekt, das in diesen Darstellungen seine Lebensgeschichte und oft – durch die anonymisierende Verkürzung auf relevante Daten wie Geschlecht und Alter – sogar seinen Namen verlor. Umso mehr ist zu betonen, daß auch die diesen Publikationen vorgängigen Forschungsprozesse in einen sozialen Raum eingebettet waren, und dies nicht nur, weil hinter den Fallgeschichten reale Patienten standen, die von Ärzten in der täglichen Praxis untersucht und beurteilt wurden. Die Sektionssäle, in denen sich Mediziner interessiert über die Leichen beugten, existierten nicht nur in einer virtuellen respublica litterarum, sie befanden sich in Gebäuden, die wiederum in Städten standen, bewohnt von einer Gesellschaft, deren Mitglieder die Toten zu ihren Lebzeiten gewesen waren. Wollte man aus der obrigkeitlichen Warte der damaligen Zeit argumentieren, hatten freilich Straftäter, wie Magirus sie zur Sektion anforderte, gegen die – ebenfalls gottgegebene – weltliche Ordnung verstoßen und waren damit als asozial zu betrachten  ; die akademischen Ärzte wiederum betonten (wie Magirus im oben zitierten Brief ) die allgemeine Wichtigkeit und Nützlichkeit ihrer Untersuchungsergebnisse für die ärztliche Praxis und damit für die Gesellschaft und durften v. a. ihre vielfache Bestallung zu Stadtärzten als einen Beweis obrigkeitlicher Anerkennung eben dieser gesellschaftsbezogenen Nützlichkeit interpretieren. Daß Obrigkeit und Ärzteschaft sich einig waren, hieß jedoch noch lange nicht, daß es in dieser Zeit sich intensivierender Forschung keinen Widerstand gegen die medizinischen Forschungsaktivitäten geben konnte. In der dicken Akte »Leichname für die medizinische Fakultät 1668–1708«, die auch Magirus’ Brief enthält, finden sich viele Gesuche der gleichen Art, u. a. auch eines vom Oktober 1678, das den Körper einer Kindsmörderin bereits noch zu deren Lebzeiten für die Fakultät reservieren sollte.132 Im Februar 1679 meldeten sich dann überraschend deren Eltern zu Wort – »Johann Schmitt und Magaretha dessen hausfrau beyde Eheleüt 131 Zitiert nach Dear (2008), S. 113–114. 132 HStAM, Best. 5 (Geheimer Rat), Nr. 8143, Bl. 37r  : Dekan, Professores und Doctoren der Medizinischen Fakultät an Karl von Hessen-Kassel, Marburg, 6.10.1678.

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und burger zu Marburg, so an leib und seel von hertzen betrübet«.133 Sie schilderten den Fall ihrer Tochter so, daß diese – durch Epilepsie in der Kindheit geistig behindert verblieben – als Dienstmagd arbeitete, während dieses Dienstverhältnisses vergewaltigt wurde (was aktenkundig war) und dann das Kind allein zur Welt gebracht und aus Panik getötet habe. Die Eltern hatten nun erfahren, daß die Leiche ihrer Tochter nach der Hinrichtung der Anatomie überstellt werden sollte  : »Das meiste freuet sich der Medicus allhier solche zu anatomie zu überkommen.« Die Vorstellung, ihr Kind solle seziert werden, ertrugen sie nicht  : Es werde sie zum todt bringen, wann wir alle Bürgersleüthe nebenst unserer ehelichen freundschafft allhier zu Marpurg erleben sollten, daß unsere Tochter nach vollzogener Execution dem Medico übergeben, die Studenten und andere ihr gelächter und gespött damit hetten, und zum ewigen spectacul sie nachgehends jedermann gezeiget würde […].

Hier kollidierte der Forschungsdrang der Medizinischen Fakultät mit dem bürgerlichen Ehrenkodex. Nicht nur die Feststellung, beide Eltern seien selbst ehelich geboren und hätten zwei ihrer Kinder ordentlich »in eheliche freundschafft verheyrathet«, sondern auch ihre Beteuerung, es solle »dem Medico ein subiectum Anatomicum gnädigst vergönnt werden«, sollte dem Fürsten im Folgenden illustrieren, daß es sich bei der Familie um ehrbare Untertanen handelte  ; Johann Schmitt versuchte sogar eine Lösung des Konflikts vorzuschlagen, die der gesellschaftlichen Eigenlogik entsprang  : so finde ich itzo auff dem Schloß zu Marpurg vier Personen, man und weiblichen Geschlechts vom Land, keine freundschafft in oder außerhalb Marpurg und doch das leben verwürket, bey welchen Persohnen unsere vorberührte notizen alle ermangeln.

Auch die Eltern der Kindsmörderin definierten sich, wie im ersten Kapitel dieser Monographie für das frühneuzeitliche Selbstbild geschildert, über ihre Gruppenzugehörigkeit, hier über die zum Bürgertum der Stadt Marburg. Mag es aus unserer heutigen Sicht befremdlich wirken, daß die beiden ihre Mitbürger und Verwandtschaft zum alleinigen Bezugspunkt ihrer Überlegungen machten (und nicht etwa auch die Tochter) und noch dazu andere Menschen als Ersatzopfer anboten, so sprechen aus diesem Bittschreiben doch starke Emotionen  : Scham über die Verfehlung der Tochter  ; Angst vor dem gesellschaftlichen »todt«  ; Verzweiflung, die Medizinische Fakultät könne nicht zum Verzicht auf diese (öffentliche) Sektion bewegt werden. Der Ausgang der Angelegenheit – ob die Tochter, wie von den Eltern gewünscht, »in einen Sarch geleget und der Erden sobald nach vollzogener Execution anvertraut und eingesenckt« wurde – ist aus den erhaltenen Akten 133 HStAM, Best. 5 (Geheimer Rat), Nr. 8143, Bl. 46r–47v  : Johann Schmitt (und Magaretha dessen hausfrau) an Karl von Hessen-Kassel, Marburg, 10.2.1679  ; für die folgenden Zitate s. Bl. 46r  ; 46v. Die folgenden Zitate ebd.

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nicht zu entnehmen. Der Fall zeigt jedoch, daß sich damals auch die medizinische Forschung wie die ärztliche Praxis mit Befindlichkeiten konfrontiert sah, die aus einem tief verinnerlichten Standesbewußtsein resultierten, das eigenen Werten (Ehre) und Repräsentationsregeln (Verehelichung, angemessene Beerdigung) verhaftet war. Ganz gleich, wie der Fürst in diesem Fall reagiert haben mag, hatte das Verhalten des sezierenden Arztes gesellschaftliche Konsequenzen, zuerst für die betroffene Familie, auf weitere Sicht aber vielleicht auch auf das Vertrauen, das ihm die einheimische Bürgerschaft entgegenbrachte.134 Die Statuten der Medizinischen Fakultäten in Padua und Bologna enthielten deswegen bereits seit dem 15. Jahrhundert die Vorschrift, daß nur die Körper von Menschen, die mehr als 45 Kilometer von der jeweiligen Stadt entfernt ihren Wohnsitz hatten, öffentlich seziert werden durften.135 Wie Magirus’ Korrespondenz zeigt, waren Häftlinge für die medizinische Forschung nicht nur interessant im Hinblick auf die Sektion ihrer Leichname. Im Mai 1691, im bereits rüstigen Alter von 76 Jahren, schlug er Wilhelm VII. von Hessen-Kassel noch einen Menschenversuch vor  : Und wie ich Euer Hochfürstl. Durchlaucht bei der letzten anwesenheit von einem simplice gesagt mit welchem ein gantzes lager eingenommen worden durch schlaff und da E. H. D. beliebt eine probe zu haben, bitte ich nach dem Oberschultzen alhier […] (weil zwei hebreische beutelschneider in Verhafft) gnädigst zu befehlen, das er mir zulasse, das ich an dem einen die probe thue, es soll ihm an der gesundheit noch weniger an leben schaden leiden.136

Die »Probe« hätte bei Gelingen dem Fürsten einen militärischen Vorteil gebracht, das Leben der zwei jüdischen Gefangenen lag als das von Gesetzesbrechern ohnehin in seiner Hand. Die wenigen bislang bekannten Menschenversuche des 16. Jahrhunderts beziehen sich ebenfalls immer auf verurteilte Kriminelle.137 Für das 17. Jahrhundert sind dann im Kontext der ersten Versuche mit Injektionen und Bluttransfusionen auch Experimente mit Nicht-Straftätern bekannt, allerdings dann wohl mit deren Einverständnis.138 Der 134 Anders gelagert waren die Fälle, in denen Familien aus eigenem Willen eine post-mortem-Sektion einforderten, entweder, um den Behandlern Kunstfehler nachzuweisen, oder um den Toten kommemorativ zu erhöhen  : s. Kinzelbach, Annemarie  : Dissecting Pain  : Families and Medical Expertise in Early Modern Germany, in  : Bresadola, Marco/Conforti, Maria/De Renzi, Silvia (Hg.)  : Diseases and Dissections in Early Modern Europe (Oxford 2017  ; i. Dr.). 135 S. Mandressi, Rafael  : Affected Doctors  : Dead Bodies and Affective and Professional Cultures in Early Modern European Anatomy, in  : History of Science and the Emotions [= Themenheft  : Osiris 31 (2016)], S. 119–36, hier S. 135. 136 Johannes Magirus an Wilhelm VII. von Hessen-Kassel, Marburg, 23.5.1691 (HStAM, Best. 5 [Geheimer Rat], Nr. 206, S. 3–6  ; unter www.aerztebriefe.de/id/00036400  ; Zugriff  : 8.8.2017) 137 S. Stolberg (2014c)  : Tödliche Menschenversuche im 16. Jahrhundert, in  : Deutsches Ärzteblatt 111 (2014), S. 2060–62. 138 Johnn Sigismund Elsholtz injizierte – nach vorausgegangenen Versuchen erst an Leichnamen, dann

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Unterschied zu Magirus’ Schlafpulver-Experiment besteht jedoch nicht nur darin, daß die »beutelschneider« nicht gefragt wurden  : Es handelte sich um gesunde Menschen, an denen ein Mittel getestet werden sollte, und damit tatsächlich um ein experimentum, das beliebig oft hätte wiederholt werden können  ; die Injektions- und Transfusionsversuche dagegen wurden an Kranken durchgeführt, deren körperlicher Ausgangszustand das Ergebnis eines natürlichen Prozesses darstellte und somit nicht beliebig auf identische Weise für weitere Versuche hätte repliziert werden können. Diese Versuche galten als Behandlung, deren Beobachtung im traditionellen Sinne experientia generierte.139 Ob und mit welchem Ergebnis Magirus sein Schlafpulver-Experiment durchführte, ist aus der Aktenlage leider ebenfalls nicht mehr zu rekonstruieren.

4.2 Wissen anwenden Wenn im Folgenden einige Konzepte der zeitgenössischen Medizintheorie(n) genauer vorgestellt werden, dann nur solche, die Magirus’ Praxis erkennbar geprägt haben. Zu verstehen, wie sie sein Handeln leiteten, erklärt uns nicht nur, wie er die Symptome seiner Patienten wahrnahm. Es steht vielmehr im Hinblick auf die Konstruktion ärztlicher Identität auch noch immer die Frage offen, inwiefern diese Identitätsbildung überhaupt von einer Überführung theoretischen Wissens in wirkliches Handlungswissen abhängig war. Wie bereits gesehen, instrumentalisierten die akademischen Ärzte die (fremdsprachenabhängige) Kenntnis medizinischer Theorie, v. a. physiologischer Konzepte, als Argument im Rahmen des eigenen Professionalisierungsprozesses.140 In unzähligen Polemiken des 16. und 17. Jahrhunderts ist zu lesen, daß sie in der theoretischen Fundierung ihres Tuns das wesentliche Distinktionsmerkmal gegenüber allen anderen, ebenfalls als Heilkundige tätigen Personen sehen wollten, welche aus Sicht der Patienten vielleicht gar nicht so anders, aber nach dem Urteil der Ärzte nur oberflächlich behandeln konnten. Letztlich ging es hier um eine Verteidigung ihrer Gelehrsamkeit, die sie mit den Absolventen der anderen höheren Fakultäten, Juristen und Theologen teilten, die aber, anders als bei ihren an lebenden Hunden – drei Soldaten aus der Leibwache des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg Medikamente  ; er fragte ausdrücklich um Erlaubnis  : s. Elsholtz, Johann Sigismund (1665), S. 13–15. Die Berichte Johann Daniel Horsts über die Infusionsversuche Johann Daniel Majors sowie der Bericht Jean Baptiste Denis’ über die erste Bluttransfusion thematisierten die Zustimmung der Kranken nicht, jedoch Heilerfolge  : s. Horst, Johann Daniel (1665), S. 17–63  ; Farr, A. D.: The First Human Blood Transfusion, in  : Medical History 24/2 (1980), S. 143–62, hier S. 160. 139 Diese Differenzierung von experimentum und experientia nahm auch der Arzt Martin Fogel (1634– 1675) vor, der auf Grundlage von Ergebnissen der experimenta Francesco Redis (1626–1697) einem Patienten ein blutstillendes Mittel verbreichte und sich mit seinem Briefpartner Henry Oldenburg über das Beobachtete austauschte  : Beide benutzten für das, was Fogel getan hatte (nach ihrem Verständnis eine innovative Behandlung eines Kranken), nicht das Wort experimentum, für Redis Versuche dagegen schon  : s. Marten/Piepenbring-Thomas (2015), S. 220. 140 S. Kap. 2.2.2.

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Kollegen, nicht annähernd so bedingungslos auf dem Berufsmarkt akzeptiert wurde, denn im Unterschied zu diesen mußten sie nicht nur reden können. Theologen definierten sich über die Kenntnis der Bibel, Juristen über die der Gesetzestexte, Ärzte über die der medizinischen Werke  ;141 alle konnten ein Verständnis ihrer Arbeit als präventiv-beratend teilen, denn Theologen konnten den Leuten sagen, wie sie nicht in die Hölle kommen, Juristen, wie nicht ins Gefängnis, Ärzte, wie nicht ins Krankenbett (– oder jeweils  : wie wieder heraus).142 Doch weder Theologen noch Juristen hatten es in ihren Berufsfeldern mit praktizierender Konkurrenz (in Überzahl) zu tun, die zudem über eigene, oft schon lange gefestigte Wissensbestände jenseits der universitären Bücherwelt verfügte. Die studierten Ärzte standen nun in der Pflicht, sich mit ihrem – als überlegen deklarierten – theoretischen Wissen in diesem Umfeld der practici zu behaupten. Die Frage ist, ob es die polemisierenden Ärzte bei verbaler Abgrenzung und Rechtfertigung beließen, oder ob es doch einen die Praxis gestaltenden Einfluß der Theorie geben konnte, der für Patienten ein distinktives Merkmal im Handeln darstellte. 4.2.1 Der Physicus

Es ist bey den Medicis Dogmaticis bekandt, daß die meisten Krankheiten aus den fünff Feuchtigkeiten, nemlich der Melancholi, der Galle, des Zehen Schle[i]ms, der dünnen Feuchtigkeit und aus Uberfluß des Geblüts herkome. Melancholia, bile, pituita, sero & sanguine.143

Johannes Magirus benennt hier statt der allgemein bekannten vier Säfte der humoralpathologischen Lehre auf einmal fünf. Er scheint sich damit auch nicht als Verfechter eines theoretischen Nebenwegs zu verstehen, sondern vielmehr als Träger konsentierten Wissens, als medicus dogmaticus. Damit stellt er ein prägnantes Beispiel für die Flexibilität und ständige Aktualisierung theoretischer Konzepte in der Frühen Neuzeit dar, deren heutige begriffliche Verengung auf ein Schlagwort – »die Humoralpathologie« – häufig den genauen Blick auf die ärztliche Praxis trübt. Gerade die Humoralpathologie, deren Überdauern bis ins 19. Jahrhundert in der Forschung stets betont und die somit als grundlegendes Konzept der gesamten frühneuzeitlichen Medizin verstanden wird, erfährt als Terminus meist eine sehr unpräzise Verwendung. Daß die Lehre von den »Dingen der Natur« (den Physica), auf der die Humoralpathologie fußte, sich kontinuierlich änderte, bleibt meist unbeachtet. Einschlägige Untersuchungen zu medizinischen Themen der Frühen Neuzeit geben seit langem zur Erläuterung des humoralpathologischen Konzepts unbeirrt einen Abriß nicht frühneuzeitlicher, sondern antiker Theorie wieder, nach der ein ausgewogenes

141 Vgl. Henry (1991), S. 194. 142 Vgl. Cook (2010), S. 13. 143 Magirus, Johannes (1648b), Bl. B4r.

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Verhältnis der vier Säfte zueinander als Prämisse von Gesundheit verstanden worden sei.144 Dies war jedoch spätestens seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts durch den Einfluß »chymischer« Konzepte nicht mehr state of the art. Ein Grund für die Beharrlichkeit, mit der das veraltete Modell zitiert wird, dürfte darin bestehen, daß sich, anders als in der Diagnostik, auf der Seite der Therapie die kombinierte Anwendung von Medikation und chirurgischen Ausleitungsverfahren über die Jahrhunderte tatsächlich kaum änderte und diese Persistenz die Wahrnehmung dominiert. Lediglich die hinter der jeweiligen Medikation stehende Theorie befand sich in stetem Wandel, und dies schon lange bevor die Säfte mit anderen Konzepten in Kombination treten wie z. B. der Korpuskulartheorie oder, im 18. Jahrhundert, den Nervenleiden. Da nun die Medikation über den eingangs erwähnten langen Zeitraum 1) in großen Teilen aus derselben materia medica schöpfte,145 2) ihre komplizierte Zusammensetzung sich dem pharmazeutischen Laien ohnehin nicht leicht erschließt, 3) zudem bei den ausleitenden Verfahren die Prämisse vom »reinen Körper« Postulat blieb146 und 4) noch dazu einschlägige Terminologie auch in neuen Theorierahmen (scheinbar  !) unverändert fortlebte,147 stellt sich die Humoralpathologie bei oberflächlicher Betrachtung tatsächlich als ein erstaunlich langlebiges Konzept dar. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß wir es hier nicht mit einem über Jahrhunderte konsistenten theoretischen Gefüge zu tun haben, sondern vielmehr mit Fragmenten des ursprünglichen antiken Konzepts, die in Jahrhunderte währenden Diskussionen immer wieder umgedeutet, neu gruppiert, aussortiert, wiederbelebt oder auch als Erfahrungswerte jenseits der Theorie gehandelt werden – schließlich zeigte sich selbst William Harvey (1578–1657), der als Entdecker des Blutkreislaufes stets als Wegbereiter moderner Physiologie gefeiert wird, irritiert, daß man wegen seiner Entdeckung keine Aderlässe mehr vornehmen sollte, obwohl sie sich empirisch doch so bewährt hatten.148 Was also steter Veränderung unterworfen war, war zuerst einmal das 144 Dies gilt auch für Lexikon- und Handbuchartikel  : s. z. B. Nutton, Vivian  : Humoralism, in  : Companion Encyclopedia of the History of Medicine 1 (London/New York 1993) 281–91, hier S. 281 mit dem pauschalisierenden Einleitungssatz  : »Humoralism is a system of medicine that considers illness to be the result of some disturbance in the natural balance of humours, within the body as whole or within one particular part.« 145 S. hierzu die Untersuchung Maehles zu drei Arzneistoffen, die – je nach Theorie – anders eingesetzt, abgelehnt oder gelobt wurden  : Maehle, Andreas-Holger  : Experience, Experiment and Theory, in  : Helm/Wilson (2008), S. 61–76. 146 S. Stolberg, Michael  : Der gesunde Leib. Zur Geschichtlichkeit frühneuzeitlicher Körpererfahrung, in  : Paul Münch (Hg.)  : »Erfahrung« als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (München 2001), S. 37–57, hier S. 44–49. 147 Dies gilt z. B. für den Wandel des Begriffs temperamentum, der auch nach der Ablösung der Theorie einer Säftebalance bestehen bleibt  : s. Müller (1991), S. 138–39  ; Stolberg (2003), S. 116–21. 148 S. Davies (1971), S. 28–29  ; s. auch Ruisinger, Marion Maria  : The Circulation of the Blood and Venesection  : On the Relation between Medical Theory and Practice in the Early Eighteenth Century, in  : Helm/Wilson (2008), S. 37–59 zur Begründung, warum der Aderlaß nach Harvey sich in der Praxis aus verschiedenen Gründen nicht veränderte.

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Sprachhandeln der Ärzte, nicht so sehr das therapeutische.149 Angesichts der Tatsache, daß die Forschung lange Zeit gern jede Erneuerung der Deutungsmuster mit einer ebenso »fortschrittlichen« Praxis gleichsetzte und diese Thesen noch immer gerne rezipiert werden, stellt dies eine ziemlich wichtige Präzisierung dar. Eine vereinheitlichte Ausbildung mit dem Ziel eines ebenso vereinheitlichten Wissensstandes am Ende des Studiums gab es im 17. Jahrhundert nicht. Die Ärzte folgten in ihrer theoretischen Ausrichtung meist zuerst ihren akademischen Lehrern, wobei sie während ihrer Studienzeit, falls sie die Universität wechselten, auch sehr individuelle Standpunkte innerhalb der konsentierten Theorie kennengelernt haben konnten. Die Folge war, in einem beschränkten Rahmen, eine gewisse theoriebezogene Diversität innerhalb der Ärzteschaft, die dem Einzelnen sogar zu Alleinstellungsmerkmalen verhelfen konnte, die ihn gegenüber anderen Ärzten absetzten. Letztlich galt den Patienten auch damals der als der »beste« Arzt, dessen Behandlung erfolgreich war  ; konnte dieser seinen Erfolg auch noch plausibel als Ergebnis seines Verständnisses der natürlichen Vorgänge erklären, schien sich die akademische Gelehrtheit auszuzahlen.150 Gleichzeitig wäre es sicherlich zu einseitig, das wortreiche Propagieren theoretischer Konzepte im Behandlungskontext nur als Verkaufsstrategie frühneuzeitlicher Ärzte im Kontext eines noch breit diversifizierten medikalen Marktes abzutun.151 Was nun Magirus’ Auffassung der Naturlehre betrifft, so ist seine einzige Publikation hierzu, ein Traktat De mundo et caelo (vermutlich auch ein Kompendium für den Unterricht),152 gegenwärtig nicht mehr auffindbar.153 Der Titel deutet an, daß es um den Einfluß der Himmelskörper auf die Welt und damit auch den Körper des Menschen ging.154 Wie sich Magirus die Vorgänge in dessen Innerem vorstellte, läßt sich über andere Zeugnisse in groben Umrissen rekonstruieren. In einer Disputation unter seinem Vorsitz (1663) distanzierte er sich von Aristoteles’ vier principia (ignis, aër, aqua, terra), ebenso aber von den dreien der Hermetiker (sal, sulphur, mercurius).155 Eine auf den aristotelischen Prinzipien fußende Lehre von Mischung, Temperament und Qualitäten verwarf er. Das Kernelement seiner Physiologie war nach den Thesen der Disputatio die 149 S. auch Wear (1989), S. 304. 150 Vgl. Stolberg, Michael  : Therapeutic Pluralism and Conflicting Medical Opinions in the Eighteenth Century  : the Patient’s View, in  : Helm, Jürgen/Wilson, Renate (Hg)  : Medical Theory and Therapeutic Practice in the Eighteenth Century. A Transatlantic Perspective (Stuttgart 2008), S. 95–111, bes. S. 103–5. 151 S. Kap. 2.2.2. 152 Zu Magirus’ Publikationen s. Kap. 4.3.2. und 4.3.3. 153 Er findet sich in einer handschriftlichen Liste der von Magirus edierten Bücher  : HStAM, Bestand 5 (Geheimer Rat), Nr. 7940, Bl. 8r  : »5) Tractatus de mundo & de coelo, editus Servestae Anno 1655, in 12mo«. 154 Vgl. den Widmungstext des Prognosticon von 1659, in dem Magirus die Gräfin Maria Magdalena zur Lippe ebenfalls über diesen Zusammenhang belehrte  : Magirus, Johannes (1659b), Bl. A3r. 155 S. für das Folgende Magirus, Johannes (DISP5), Bl. A2r–v.; zu dieser Disputation, Magirus’ Autorschaft und den in der Schrift vertretenen Positionen s. Schlegelmilch (2016a).

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dem Körper angeborene Wärme (calidum innatum), die mit dem spiritus vitalis gleichzusetzen war, gewissermaßen einer alle Vorgänge im Körper bedingenden Kraft. Der Verweis auf Demokrit als Grundlage eigener Forschung läßt den Schluß zu, daß er Vertreter eines mechanischen Atomismus war.156 Die Kernaussage einer solchen Physiologie würde lauten  : In einem aus qualitätslosen Atomen zusammengesetzten, mechanisch agierenden Körper agiert eine nicht näher bestimmte Kraft, die aber, wenigstens der Bezeichnung nach, nicht der von Descartes benannte spiritus animalis ist.157 In logischer Konsequenz wäre nun eigentlich zu überlegen, ob im Falle einer Erkrankung Blockaden der Mechanik zu lösen seien oder die hier als spiritus benannte Kraft zu stärken. Diese Diskussion sollten Friedrich Hoffmann (1660–1742) und Georg Stahl (1659–1734) jedoch erst ein halbes Jahrhundert später führen. In Magirus’ eigenen Aufzeichnungen ist so gut wie kein Fall zu finden, bei dem er sich konkret auf die geschilderte Körpervorstellung bezogen hätte.158 Er ließ bezeichnenderweise in der besagten Disputation aber auch erörtern, ein Arzt heile nicht die Fähigkeiten des Körpers (facultates), sondern die Teile, mittels derer der Körper sie umsetze (instrumenta), es reiche deswegen auch aus, die Fähigkeiten lediglich benennen zu können.159 Magirus schob damit selbst allzu theoretischen Überlegungen (hinsichtlich ohnehin nicht sichtbarer Abläufe) einen Riegel vor. Seine Auffassung scheint gewesen zu sein, daß wenn der Körper geheilt sei, der ihm innewohnende spiritus auch wieder ungehindert agieren könne. Konkrete Gründe für die Erkrankung des Körpers gab es indes viele. Auch sie werden in der Disputation aufgelistet. Die kurze Aufzählung veranschaulicht erneut den in der Medizin des 17. Jahrhunderts vorherrschenden Eklektizismus. Magirus führte gleich acht verschiedene Kategorien an, nämlich  : metaphysische und physikalische Krankheitsursachen (»Gott, die Engel, die Gestirne«), Umwelt- bzw. klimatische Einflüsse (»die Jahreszeiten, schädliche Luft, Erdregionen, Winde«), eine Auswahl aus den sex res non naturales (»Speise und Trank, Ausscheidungen und Abson156 S. das Textzitat in Kap. 4.1.4. Während Daniel Sennert einen Atomismus propagierte, in dem die einzelnen Teilchen aristotelische Qualitäten besaßen (platonischer Atomismus), sprachen Galileo und Boyle den Atomen jegliche Eigenschaften ab und reduzierten sie auf einen rein reaktiven Status (demokriteischer Atomismus)  : s. Partington, J. R.: A History of Chemistry. Vol. 2 (London 1961), S. 273. 157 Zu den Thesen, die den spiritus betreffen, und ihre Einbettung in die zeitgenössische Fachdiskussion s. Schlegelmilch (2016a), S. 156–58. 158 Ein einzelner Berliner Fall beschreibt ein fünfjähriges Mädchen, das infolge eines Sturzes auf den Hinterkopf im Alter von 28 Monaten nicht sprechen konnte und einen gelähmten rechten Arm hatte. Magirus kommentierte, das Gehirn sei durch den Sturz dislociert, die Motorik der Zunge und des Armes durch Nervenschaden in Mitleidenschaft gezogen, die restlichen facultates animales seien aber unversehrt  : UBM, Ms. 96, S. 193 (1649  : Herrn Hertmachers filia). Der Fall dokumentiert einen Wandel in Magirus’ Verständnis der spiritus, denn offensichtlich ging er hier, 14 Jahre vor der zitierten Disputation, noch nach herkömmlichem Verständnis davon aus, daß es auch einen spiritus animalis gibt (der die facultates animales bedingt). 159 Magirus, Johannes (DISP5), Bl. A2v  : »Medicus curat instrumenta, non facultates, itaq[ue] ipsi satis est fere nominalis tantum facultatum cognitio.«

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derungen, Schlaf und Wachen, Bewegung und Ruhe, Gefühlserschütterungen«), Übertragungen (»Ansteckung, Vererbung«), Störungen von Säften und spiritus (»der spiritus und die Säfte – als da sind  : Blut, Galle, Schleim, schwarze Galle, Serum, Lymphe«), Folgen falscher Verkochung (»Dämpfe, Verrußungen, Körperwind«), im Körper gewachsene Verursacher (»Sand, Stein, Würmer«) sowie chymische Ursachen (»Salz und Schwefel«).160 Die hier genannten causae finden sich allesamt in den Begründungen seiner Diagnosen im Diarium wieder (außer Gott und die Engel). Hinter diesem scheinbaren Sammelsurium stehen Versatzstücke melanchthonischer Astrologie161 und hippokratischer Diätetik162, gemischt mit einer Humoralpathologie, die chymische Erklärungsmodelle einbezieht. Wollte man noch mehr verdichten, könnte man sagen  : eine noch an den antiken Autoritäten ausgerichtete medizinische Theorie, die seit dem 16. Jahrhundert von Erklärungsmodellen der Mathematik/Mechanik und Chymie überformt worden war. Über Medizin des 17. Jahrhunderts läßt sich schwerlich schreiben, ohne auf die beiden letztgenannten Einflüsse einzugehen. 4.2.2 Der Iatromechaniker

Und was ist der Mensch wol anders, als das köstlichste Mechanischae Gebäu und Gerüst, das in der Welt zu finden ist  : Man findet in demselben den silbernen Strick, und die güldene Quelle, den Eymer und das Rad am Brunnen  ; man findet in demselben die Mühle und Fenster, und unterschiedliche Thüren  ; man findet in demselben die herrlichsten und kunstreichsten Fontainen, und springende Quellen  ; man findet in demselben auch unterschiedliche Schleussen und Valvulas, die da auff unterschiedliche Manier und Weise gemacht seyn  ; man findet in demselben die schönste und künstliche Instrumenta, Hebwercke und Zugwercke  ; man findet in demselben allerley schöne Figuren und Cörper, als da sind Circkel, Oval-Figuren, Triangel, Quadrangel  ; man findet darinnen Conos und Pyramides, wie solche der hochgelehrte Galenus gar artig beschreibet, also, daß Descartes hieran nicht unrecht geredet, Mechanicas regulas easdem esse ac naturae regulas.163

160 Magirus, Johannes (DISP5), Bl. A2v  : »Causae sunt Deus, Angeli, Sydera, Anni tempora, aër peccans, terrae regiones, venti, cibus & potus, excreta & retenta, somnus & vigilia, motus et quies, animi affectus, contagium, haereditas, spiritus & humores, ut sunt sanguis, bilis, pituita, melancholia, serum, lympha, vapores, fuligines, flatus, sabulum, calculus, vermes, sal & sulphur.« 161 Vgl. den Text des Prognosticon von 1655, in dem Magirus die zugehörige Stelle aus Melanchthons Physica zitiert, wo von dem Einfluß Gottes, der Engel und der Dämonen auf die Gesundheit die Rede ist  : Magirus, Johannes (1655b). Bl. C2r  ; s. auch Müller-Jahncke (2002), S. 175. 162 Neben der Lehre von den sex res non naturales (s. Kap. 3.2.1, Frage 2) war die hippokratische Schrift über Luft, Wasser und Örtlichkeiten (Περὶ ἀέρων, ὑδάτων, τόπων) ein Grundlagentext der frühneuzeitlichen Gesundheitslehre. 163 Magirus, Johannes (1655b), Bl. A2v–3r. Zu einer weiteren Stellungnahme dieser Art s. Schlegelmilch (2016a), S. 174.

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Die Kalenderwidmung von 1655, der dieser Text entstammt, enthält Johannes Magirus’ deutlichste Stellungnahme zum Cartesianismus-Diskurs seiner Zeit. Er sprach sich damit öffentlich für Descartes’ Körperbild der Mensch-Maschine aus, eine Theorie, nach der die Strukturen des Körpers gleichsam wie Bauteile nach Gesetzen der Mechanik zusammenwirken. Für den Vertreter einer mathematisierten Medizin164 dürfte dieses Erklärungsmodell recht attraktiv gewesen sein, vereinigte es doch Vorstellungen der Geometrie, Mechanik und Hydraulik. Um jedoch die Faszination gänzlich zu verstehen, die von Descartes’ Physiologie ausging, muß man begreifen, was sie versprach. Die christlich-aristotelische Teleologie, nach der alles im Körper (wie in der Welt) so geformt ist, daß es einem innewohnenden Zweck dient, ja der Zweck des Körpers selbst die Seele ist, die ihn formt und betreibt, postulierte letztlich eigengesetzlich wirkende Kräfte im Körperinneren. Die drei spiritus agierten nach diesem Konzept als Werkzeuge der Seele, waren damit auch stets metaphysisch zurückgebunden und entzogen sich in dieser Zwischenweltlichkeit in letzter Instanz dem Zugriff des Arztes. In der Anatomie mußte man sich folglich bei jedem ausdifferenzierenden Neufund die Frage stellen, wie er der Seele und ihrer Körperbeherrschung wohl diente, was seine causa im göttlichen Plan sei. Durch die Aufgabe der spiritus-Lehre jedoch waren plötzlich alle Vorgänge im Körper, selbst Gefühle, auf einfache Prinzipien wie Stoß und Druck, Fluß und Stauung reduziert. Der Körper folgte nun Gesetzen der Kausalität statt Entscheidungen der Seelenkräfte.165 Jeder Anatom konnte bei einer Sektion in den vorgefundenen Strukturen sogar mit eigenen Augen die cartesischen Röhren, Klappen und Scharniere erkennen, die allein dem Zweck stets unverändert ablaufender mechanischer Selbstregulierung dienen sollten. Gerade die Autopsie als allseits akzeptiertes Instrument der Wissensproduktion (s. o.) schien die cartesische Theorie somit zu bestätigen. Freilich greift damit ein Zirkelschluß. Denn Descartes betrieb elf Jahre lang ausführliche anatomische Studien, bevor er eine Theorie aufstellte, die zu dem Vorgefundenen paßte  ;166 er postulierte also, wie der lebende Körper funktionierte, in hypothetisierender Ergänzung dessen, was er an toten Körpern sah. Letztlich war auch sein Körperbild ein aus der Hilflosigkeit geborenes Konstrukt.167 Seine Theorie, wonach in einem lebendigen Körper die in der Zirbeldrüse angesiedelte Seele, ein rein intellektuell agierendes Organ, als Reaktion auf Außenreize ein feinstoffliches Fluidum (den spiritus animalis) in die hohlen Nerven pumpte,168 war ebenso wenig verifizierbar wie die aristotelische Theorie, denn nach wie vor war der Blick ins lebende Körperinnere verwehrt. 164 S. Kap. 4.3.3. 165 Descartes entwickelte deswegen auch eine eigene Theorie der Herzbewegung im Blutkreislauf, um nicht wie William Harvey wieder von einer eigenständigen Kraft (vis pulsifica) ausgehen zu müssen, die Kontraktion und Expansion des Herzens auslöste  : s. Bitpols-Héspèries (2011), S. 364. 166 S. Lindeboom (1979), S. 36–42. Descartes hatte auch die anatomischen Abhandlungen des Vesal, Bauhin und Fabricius studiert  : s. Bitpols-Héspèries (2011), S. 353–62. 167 Descartes äußerte des Öfteren, daß man in der Medizin eigentlich so gut wie nichts wisse  : s. Lindeboom (1979), S. 97–100. 168 Zur cartesischen Physiologie s. Lindeboom (1979), S. 67–92  ; Bierbrodt (2000), S. 70–4.

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Descartes’ übergroßer Name dominiert die Wahrnehmung der Iatromechanik im 17. Jahrhundert. Seine Reduktion des metaphysisch-spirituell in den Kosmos eingebundenen Körpers auf einen autarken Mechanismus, der sich aus »einem Versorgungskreis […] und einem Steuersystem« zusammensetzt,169 sowie die theoretische Einbindung des gerade erst entdeckten Blutkreislaufes (zu seiner Zeit nur eine von vielen Theorien) enthält Elemente, deren Gültigkeit durch das heute gültige Paradigma der Medizin legitimiert wird. Dies und die Tatsache, daß Descartes’ Physiologie in ein für die Geschichte der Aufklärung folgenreiches erkenntnistheoretisches Gedankengebäude eingebunden ist, bedingt die besondere Stellung seiner mechanistischen Theorie in der Wissenschaftsgeschichte. Konkrete neue Therapiemethoden leiteten sich indes aus dem cartesischen Körperbild nie ab. Wäre Descartes ein praktizierender Arzt gewesen, hätte ihm dies einen Abgleich seiner Physiologie mit der konkreten Pathologie abgefordert. So gab er aber nur hin und wieder Ratschläge, denen sich ein eigenes Behandlungskonzept nicht entnehmen läßt.170 Um ein Heilmittel für Nasenbluten gebeten, riet er beispielsweise zu einem Verzicht auf bestimmte Lebensmittel, das Vermeiden von starken Emotionen und, falls das nicht reichen sollte, einem Aderlaß – am rechten Fuß, falls der Patient aus dem rechten Nasenloch blutete, am linken, falls aus dem linken oder beiden.171 Die Kombination von Diätetik und chirurgischer Maßnahme unterscheidet sich in nichts von der Behandlung aristotelisch-galenischer Ärzte. An anderer Stelle äußerte Descartes zudem, auch er wisse immer noch nicht, wie ein Fieber zu kurieren sei.172 Die cartesianische Physiologie erfüllte nicht den Wunsch ihres Erfinders nach dem, »was es nicht gibt und nicht geben kann, und zwar nach einer cartesianischen Medizin.«173 Kaum überraschend ist es also, daß sich in Magirus’ Praxisaufzeichnungen keine Behandlungen finden, bei denen er sich in seinen kommentierenden Notizen auf die Vorstellung des mechanischen Körpers bezieht. So viel zu Descartes geschrieben wurde, so wenig zu einem anderen, früheren Iatromechaniker.174 Sanctorius Sanctorius (1561–1636), dessen Forschungsinteresse sich vor allem auf neue Möglichkeiten der Quantifizierung richtete, entwickelte nicht nur diverse

169 Bierbrodt (2000), S. 71. 170 S. auch Lindeboom (1979), S. 42  : »However, on the whole one gets the impression that Descartes may have had only a dim notion of clinical medicine.« 171 S. Lindeboom (1979), S. 43–44. 172 S. Lindeboom (1979), S. 36. 173 Trevisani, Francesco  : J. J. Waldschmidt  : Medicus Cartesianus, in  : Nouvelles de la République des Lettres 2 (1981) 143–64, S. 146. 174 Einschlägig sind bislang noch die Studien von Castiglione, Arturo  : The Life and Work of Santorio Santorio (1561–1636), in  : Medical Life 38 (1931) 729–85 und Major, Ralph H.: Santorio Santorio, in  : Annals of Medical History 10 (1938) 369–81. Ein Forschungsprojekt der Universität Exeter zu Sanctorius startete im Jahr 2015  : Santorio Santorio and the Emergence of Quantifying Procedures in Medicine at the End of the Renaissance  : Problems, Context, Ideas (http://humanities.exeter.ac.uk/ history/research/centres/medicalhistory/projects/santoriosantorio/  ; letzter Zugriff  : 13.12.2017).

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Instrumente, um den Puls und die Körpertemperatur zu messen (statt zu fühlen),175 sondern beschrieb auch schon einige Zeit vor Descartes den Körper als ein mechanisches Uhrwerk.176 Dessen ineinandergreifende Teile seien in ihren Eigenschaften quantitativ zu erfassen sowie in Position und Form zu beschreiben. Die präzise Kenntnis der Länge und Breite von Muskeln, Gefäßen und Nerven, ihr exakter Verlauf, ihre Anfangs- und Endpunkte, also eine wirkliche Vertrautheit mit den anatomischen Strukturen sei unumgänglich, denn sonst – so Sanctorius – glichen die behandelnden Ärzte Leuten, die niemals das Innere einer Uhr gesehen hätten, aber versuchten, sie bei Stillstand wieder in Gang zu setzen.177 Sanctorius hatte, ebenso wie später Descartes, genaue anatomische Studien betrieben. Er schien sich aber dessen bewußt zu sein, daß ein behandelnder Arzt immer nur von außen auf den Kranken blicken konnte und deswegen rein hypothetische Theorien über das Körperinnere für die ärztliche Praxis meist wenig tauglich waren. Nach seiner Ansicht waren präzise anatomische Kenntnisse vor allem deswegen von Nöten, um nicht wie viele Behandler demselben Irrglauben aufzusitzen  : »Wo der Schmerz ist, da ist die Krankheit«.178 Vielmehr sollte ein Arzt wissen, daß er bei Bewegungseinschränkungen der Arme an den Gesäßbacken behandeln mußte  ; schmerze das Schambein, müsse entsprechend der Arm geheilt werden  ; Beschwerden an den Lippen stammten vom Nacken, der Arm sei zu heilen bei Schmerzen in den Fingern. Die Beschreibung solcher Fernwirkungen stellte eine viel praxisbezogenere Übertragung der mechanischen Theorie auf zeitgenössische anatomische Kenntnisse dar, als sie das System Descartes’ jemals hervorbrachte. Es verwundert daher nicht, daß Johannes Magirus in der bereits genannten Disputation von 1663 gleich in zehn Thesen Handlungsanweisungen des Sanctorius (u. a. die eben aufgezählten) wiedergab. 179 Dessen Erklärung von Hebe- und Zugwirkungen der Muskeln und anderer Strukturen des »Uhrwerks« waren auch für die tägliche Praxis 175 Zu Sanctorius’ pulsilogium s. Levett, J./Agarwal, G.: The first Man/Machine Interaction in Medicine  : the Pulsilogium of Sanctorius of Padua, in  : Medical instrumentation 13 (1979) 61–63.; zu seinem sphygmaticum s. Häussler, E. P.: Beschreibung eines »Pulsmessers« (Spygmaticum) aus dem Anfange des 17. Jahrhunderts, in  : Mitteilungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 14 (1915) 106–09  ; Kümmel, Wilhelm F.: Der Puls und das Problem der Zeitmessung in der Geschichte der Medizin, in  : Medizinhistorisches Journal 9/1 (1974) 1–22, hier S. 7–8. 176 Zur Verbreitung der Uhrwerk-Metapher im 17. Jahrhundert s. Mayr, Otto  : Clockwork Universe, in  : Applebaum (2000), S. 145–47  ; Weigl, Engelhard  : Instrumente der Neuzeit. Die Entdeckung der modernen Wirklichkeit (Stuttgart 1990), hier 123–32  ; auch Descartes bediente sich der Metapher  : s. Lindeboom (1979), S. 58–59. 177 Sanctorius, Sanctorius (1603), Lib. II, Cap. XVII (Bl. 41r, Absch. D)  : »ego soleo empyricum hunc assimilare insano illi, qui […] cum numquam vidisset quomodo internae horologii partes sind compositae, attamen vellet, si motus cessaret, consilium dare, quid esset agendum in ipso.« 178 Sanctorius, Sanctorius (1603), Lib. II, Cap. XVI (Bl. 40v, Abschn. B)  : »ubi dolor, ibi morbus, quod est falsum et hactenus a nobis reiectum«. 179 Vgl. Magirus, Johannes (1663), Thes. Nr. CXXXVI (brachii-nates) und Sanctorio, Sanctorio (1603), lib. II, Cap. XVI, Bl. 40r-v  ; ebenso Thes. Nr. CXL (os pubis-humerus) und Cap. XV, Bl. 39v   ; Thes. Nr. CXXXII (labium-iugulum) und Cap. X, Bl. 36v-37r  ; Thes. Nr. CXXXIII (digiti-humerus) und Cap. XXV, Bl. 46r-47r.

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hilfreich. Zusammenfassend läßt sich jedoch sagen, daß sich die Mathematisierung der Medizin in Magirus’ Praxis vergleichsweise wenig in mechanistischen Ansätzen, sondern v. a. in seinen astronomischen Berechnungen niederschlug. 4.2.3 Der Chymiater

Nun sind die Chymici solche Leute, die die Medicament künstlich distilliren, praepariren, die Metallen resolviren, tincturen, Extracten, Spiritus machen können und ist die Chymica ein Stück der Apothecker-Kunst und hat sein Lob  ; ist auch heutigen Tages kein guter Apothecker, der solches nicht können müsse, auch gewiß ein schlechter Doctor, der die Chymica nicht verstehet und zur gelegenen Zeit auch Chymischer medicamenten sich gebrauchet.180

Auf dem Titel seines Kalenders für das Jahr 1649 nennt Magirus sich »Medicus, Chymiater, Philosophus et Mathematicus«. Die feine Differenzierung innerhalb seiner ärztlichen Tätigkeit betont eine zweifache Qualifizierung, die Eigenwerbung in der Titelei gleicht einem Praxisschild  : Johannes Magirus, galenischer und chymischer Arzt. Letzteres bedeutete, ein Arzt zu sein, der Medikamente verschrieb, die nicht nur aus pflanzlichen Stoffen, sondern auch aus Mineralien und Metallen und zudem durch labortechnische Verfahren wie Destillation, Veraschung und Gärung gewonnen wurden.181 Um die Mitte des 17. Jahrhunderts gab es kaum einen Arzt, dessen Praxis nicht auch chemiatrische Elemente aufwies,182 und die Analyse mineralhaltigen Wassers aus Heilquellen war im Umkreis von Fürstenhöfen besonders gefragt.183 Magirus folgt in der Verbindung beider Ansätze erneut seinem Lehrer Daniel Sennert, der durch seine einflußreiche Schrift De Chymicorum cum Aristotelicis et Galenicis consensu et dissensu (1619) die Integration der chymischen (d. h. ursprünglich paracelsistischen) Heilmittellehre in die aristotelisch-galenische Medizin erreicht hatte – eine konziliatorische Großleistung, standen die beiden Systeme doch für die unerbittliche Auseinandersetzung zwischen akademischer und nicht-akademischer Medizin, die während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und noch über die Jahrhundertwende hinaus Ärzte und Medizinische Fakultäten in Atem gehalten hatte. Sennert, den Magirus als »Fackelträger« der chymischen Kunst bezeichnete,184 lehnte die paracelsistische Wahrnehmung von Krankheit als eigenständige Substanz (»Krankheitssamen«)185 zwar ab und plädierte weiterhin 180 181 182 183

Magirus, Johannes (1646a), Bl. A3r–4r. Zum Begriff des Chemiaters s. auch Gantenbein (1992), S. 13–15  ; 18. S. Bröer (1996), S. 19. Magirus beschäftigte sich v. a. mit dem Wasser von Bad Langenschwalbach und Umgebung  : s. Schlegelmilch (2016a), S.164  ; 167  ; zu ähnlichen Aktivitäten anderer Ärzte s. Schlegelmilch (2013), S. 17  ; Bröer (1996), S. 34–35. 184 S. Magirus, Johannes (1672), S. 96. 185 S. Sennert, Daniel (1650c), S. 796–97 (De Chymicorum cum Aristotelicis et Galenicis consensu et

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für die galenischen Säfte als causa aller Erkrankungen  ; er gestand jedoch den Chymikern eine treffendere Terminologie für das jeweilige Verderben, die corruptio des krankheitsauslösenden Saftes zu.186 Seine Argumentation, daß die entsprechenden Konzepte ja bereits bei Hippokrates angelegt seien,187 legitimierte die galenischen Ärzte, nachweislich erfolgreiche chymische Stoffe auch in ihre Medikation zu integrieren. Sie wendeten die neuen Stoffe jedoch nicht wie die Paracelsisten nach dem Prinzip similia similibus (Gleiches mit Gleichem [heilen]) an, sondern weiterhin gemäß ihrem traditionellen Usus contraria contrariis (Gegensätzliches mit Gegensätzlichem). Magirus bezog in diesem Punkt selbst deutlich Position  : Die rechten Medici curieren contraria per contraria, sie kühlen die Hitzige mit kühlenden Sachen, das Truckene befeuchten sie, das kalte erwermen sie. Die falschen Medici hergegen similia per similia, Hitzige mit hitzigen Sachen, gebrauchen in den Fiebern den scharffen Tartarum vitriolatum, das Bernstein-Öl, den Schweffel, das Elixir proprietatis, alles hitzige Sachen, in so vielen hitzigen Kranckheiten.188

Wie seine erhaltenen loci communes belegen, setzte er sich schon während seiner Berliner Zeit intensiv mit einem der einflußreichsten Werke des 17. Jahrhunderts auf diesem Gebiet auseinander, dem Ortus Medicinae (1648) des Johann Baptist van Helmont.189 Dieselbe Quelle belegt, daß Magirus sich auch mit Paracelsus selbst und vielen weiteren, einschlägigen Publikation zum Thema befaßte.190 Teilweise durchdringen chymische Konzepte sogar die Texte seiner Kalender  : Wenn er z. B. schreibt, im Frühling öffneten sich »die Schweißlöcher der Erden«191, so zeichnet sich hier auch eine Vorstellung des Erdgeschehens als eines Vorgangs innerhalb eines Makrokosmos ab, der wie der Mikrokosmos Mensch chymische Prozessen durchläuft. In einer Zeit, in der nach seiner Darstellung alle Patienten die neuen Medikamente wollten – und nach seinen eigenen, etwas dissensu, Cap. XVI  : De Pathologia). 186 S. ebd., S. 800 (Marg. Humorum nomina non reiicienda)  : »Ergo ut tales humores vel a sale, vel ab alio principio Chymico denominentur, non repugno.« 187 S. ebd., S. 799 (Marg. Qualitates primae ad naturam humorum explicandam non sufficiu[n]t)  : »neque de nihilo est, quod Hippocr[ates] libro de prisca medicina scribit  : Non calidum, non frigidum, non humidum, non siccum est, quod magnam vim habet  ; sed acerbum, sed acidum, sed amarum & huius generis alia.« 188 Magirus, Johannes (1649b), Bl. C1v–2r. 189 S. ausführlicher zu Magirus’ Beschäftigung mit Helmont und der Chymie sowie zum wissenschaftlichen Austausch über diese Themen im Umkreis des Berliner Hofes  : Schlegelmilch (2013)  ; zur Bedeutung Helmonts s. Debus (2001), S. 31–56  ; Wear (2000), S. 353–433. 190 S. eine Aufzählung der Autoren Schlegelmilch (2013), S. 197. 191 Magirus, Johannes (1651b), Bl. A3v  ; zu dem chymischen Begriff »Schweißlöcher« s. Barke (1991), S. 338. Teilweise veröffentlichte Magirus sogar sehr spezielle, den Horizont des durchschnittlichen Lesers weit übersteigende Detaildiskussionen zu Chymie in seinen Kalenderschriften  : s. Schlegelmilch (2013), S. 204 (Abb.).

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resigniert klingenden Worten laut schrien, »Hier sind Chymica, hier sind Chymica, lasset uns dorthin laufen  !« 192 –, mußte ein Arzt wissen, was es mit dieser Chymie, von der alle sprachen, auf sich hatte. Wichtig war Magirus hier v. a. das Erfahrungswissen der Paracelsisten  ;193 er notierte sich bei seinen Exzerpten aus Helmont beispielsweise die Beschreibung von Vergiftungserscheinungen, die im Umgang mit Quecksilber bei der Herstellung von Medikamenten und der Anwendung in der Praxis auftraten.194 Eingesetzt hat Magirus Quecksilberpräparate in seiner eigenen Praxis nie – vielleicht eine Konsequenz aus der Lektüre unerfreulicher Erfahrungsberichte über die malignitas mancher chymischen Substanzen. Vorsicht war auf jeden Fall angebracht, denn die Laborarbeit nahm oft einen überraschenden Verlauf  : Reinsubstanzen konnten zur damaligen Zeit nicht identifiziert werden, und die von den Chymikern unerkannten Beimengungen der Stoffe produzierten in den angewendeten labortechnischen Verfahren mitunter kuriose Ergebnisse.195 Mit dem Einfluß »chymischer« Konzepte im Zuge einer mehr oder weniger offenen Paracelsus-Rezeption wurde im 17. Jahrhundert der Zustand einzelner Säfte, besonders der des Blutes, zum ausschlaggebenden Faktor  ; Schärfen und Säuren, Alkalien und Salzen galt nun verstärkt die Aufmerksamkeit.196 Ein häufig angewandtes Mittel in Magirus’ Praxis war dementsprechend der Vitriolweinstein (tartarus vitriolatus [k]), seinerseits ein Salz.197 Eine junge Frau, die nach seiner Diagnose unter Atrophie litt, blassen, sedimentlosen Urin aufwies und deren Blutmangel sich nicht nur an ihren bleichen Lippen zeigte, sondern auch dadurch, daß kein Blut floß, als Magirus in ihren Finger stach, erhielt von ihm ein Pulver aus einer halben Unze Weinsteinkristallen, zwei Skrupel Vitriolweinstein, ergänzt um zwei Skrupel und fünf Gran rotem Sandelholz sowie in passender Menge Schwefelgeist aus Magirus’ eigenem Vorrat.198 Was Magirus mit dieser Zusammenstellung bezweckte, schrieb er nicht auf, aber Urinbeschaffenheit wie Blutarmut dürfte er wohl als 192 Magirus, Johannes (1648a), Bl. D4v  ; s. hierzu auch Schlegelmilch (2013), S. 193. 193 Im Gegensatz zur aristotelischen Medizin war die Chymie des 16. und 17. Jahrhunderts keine theoriebasierte Wissenschaft, sondern eine Experimentierkunst, die ein oft verwirrend großes Sammelsurium von Einzelbeobachtungen hervorbrachte  : s. Ströker (1982), S. 22  ; Engel (1997), S. 131. 194 S. Schlegelmilch (2013), S. 191–92. 195 S. Ströker (1982), S. 28–29  ; Engel (1997), S. 137–39 diskutiert gleichwohl schon für das 17. Jahrhundert eine Verwissenschaftlichung der »angewandeten Chemie«. 196 Goltz, Dietlinde  : Zum Ursprung der Lehre von den Schärfen, in  : Ganzinger, Kurt/Hein, WolfgangHagen (Hg.)  : Die Schelenz-Stiftung III 1973–1988 (= Veröffentlichungen der Internationalen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie e. V. N.F. 57 [1989]), S. 61–74  ; s. auch Stolberg (2003), S. 139–44  ; vgl. exemplarisch den Fall UBM, Ms. 96, S. 1 (Nov. 1647  : herr leutnant Götze)  : »Seinem Kindlein schlagen die arm so sehr nun bis ins dritte iahr, hat für diesem sehr geblutet, est ab acredine sanguinis.« 197 Salze waren ein wichtiges Thema im zeitgenössischen Fachdiskurs, wobei in der Chymie des 17. Jahrhunderts eine Ordnung nach Stoffklassen vorherrschte. Demnach war Salz alles, was wie Salz aussah und sich so verhielt  : s. Ströker (1982), S. 31. 198 UBM, MS. 96, S. 22 (28. Nov. 1647  : schlaberndorfs tochter)  :  Cryst[alli] k ß, kl. ii, F[iat] P[ulvis], S[ignetur] Pulver B, addantur in aedibus meis Sant[ali] rubr[i] ii 5 gr. et Sp[iritus]  de meo q[uantu]m capit.

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Produkte einer gestörten Verkochung gedeutet haben, und die in größter Menge dosierte Leitsubstanz, der kristalline Weinstein, sollte wohl die Verdauung der Patientin wieder ins Lot bringen.199 Der pflanzliche Bestandteil des Rezepts, das Sandelholz, verlieh dabei dem Pulver nicht nur einen tiefroten Farbton, es wurde ihm auch eine diuretische Wirkung zugeschrieben.200 4.2.4 Der Arzt

Nach dem man auch gesehen, daß man gar nichts könne in den Curen der Patienten fort kommen, und die medicamenta recht denselben innerlichen Gliedern appliciren, so etwan kranck weren, ja daß man nicht recht wüste einmahl, was ein krancker Mensch were, wenn man nicht einen gesunden erkennet hette, hat man auch für nöthig geachtet, daß ein medicus die Physicam oder Wissenschaft der natürlichen Dingen, sonderlich aber des Menschen constitution und Glieder, Leben, Seel, etc. Nebenst ihren Gebrauch wol erkennen müsse.201

Auffällig ist an diesem Zitat, daß Magirus zwischen einem medicus und einem (bloßen) physicus zu differenzieren scheint. Ein medicus wäre erst einmal nur ein praktizierender Arzt  ; aus Magirus’ Warte freilich sollte ein solcher auch immer die Naturlehre (Physica) studiert haben, also ein studierter Behandler sein (physicus und practicus). Dies mag zunächst etwas verwirrend wirken, da es den Gebrauch der Begriffe in den städtischen Akten des frühneuzeitlichen Reichsgebietes nicht unbedingt widerspiegelt,202 aber in diesem Fall liegt die Ursache der Verwirrung eher auf der Seite der frühneuzeitlichen Bürokratie als bei Magirus.203 Will man nun erneut versuchen, den Blick auf die Theorie hinter der Praxis über die Beschreibung einer individuellen theoretischen Positionierung hinauszuführen, stellt sich die Frage  : Warum sollte ein Arzt ohne die Physica eigentlich nicht richtig behandeln können  ? Schlägt sich die postulierte Kenntnis der »Wissenschaft der natürlichen Dinge« in irgendeiner Form in Magirus’ eigener ärztlicher Praxis nieder, und das jenseits der üblichen Kausalitätsrhetorik, also des Sprachhandelns  ?

199 S. Tode, Johann Clemens (1798), S. 222, der den kristallinen Weinstein in seiner Arzneimittellehre noch immer als Hauptbestandteil eines pulvis digestivus aufführt. 200 S. Vollmuth, Ralph  : Traumatologie und Feldchirurgie an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit  : exemplarisch dargestellt anhand der »Großen Chirurgie« des Walther Hermann Ryff (Stuttgart 2001), S. 160. 201 Magirus, Johannes (1649b), Bl. A4r. 202 Hier ist ein Stadtphysicus immer ein akademischer Arzt, der sich manchmal zudem als practicus bezeichnet, um zu zeigen, daß er nicht nur philosophieren, sondern tatsächlich auch praktizieren kann  ; ein Stadtmedicus kann studiert sein oder auch nicht  ; wenig hilfreich hat die ältere Forschung beide Begriffe gleichermaßen als »Stadtarzt« übersetzt  : s. Kinzelbach (2017), Acting with Paper in Administrative Processes. 203 S. zu den Begriffen des »medicus« und »physicus« auch Henry (1991), S. 194.

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Ich möchte diesen Fragen exemplarisch hinsichtlich der Praktik der Blutschau nachgehen und erklären, warum Johannes Magirus sie m. E. praktizierte, andere Ärzte aber nicht.204 In diesem Fall scheint das wesentliche theoretische Leitkonzept der Begriff »serum« zu sein, das Magirus im bereits zitierten Prognosticonstext als fünften Saft bezeichnete  :205 Dadurch, daß er diesem Theorem folgte, eröffneten sich ihm in seiner Praxis neue Handlungsspielräume und Möglichkeiten der Evidenzproduktion. Die zeitgenössische Theorie206 verstand unter »serum« nicht nur den wässrigen Teil des Blutes, der sich in entnommenem Blut nach einiger Zeit vom Blutkuchen (cruor) absetzt. Sennert spricht in seinen Institutiones ausdrücklich im Plural von serösen Säften, die er als »dünn« bezeichnet.207 Dies deckt sich mit der Aussage des Johannes Jessenius, es existierten so viele »sera« wie Säfte.208 Magirus’ als »Saft« bezeichnetes »serum« scheint also einen Sammelbegriff darzustellen  : Dieses »serum« wäre zunächst als Gesamtheit aller in den vier Säften jeweils anteilig enthaltenen »sera« zu verstehen, die durch ihr Vorhandensein die Flüssigkeit und damit Fließfähigkeit der Säfte bedingen. All dies läßt sich soweit zwar nicht ganz als orthodox galenisch bezeichnen,209 aber mit Blick auf die zeitgenössische Medizintheorie tatsächlich als »dogmatisch«. Wie bereits erwähnt, hatte seit dem 16. Jahrhundert eine regelrechte Säftepathologie das mittelalterliche Modell der Säftebalance abgelöst  ; es war nicht mehr das Zuviel/Zuwenig eines Saftes von Bedeutung, sondern seine Konsistenz per se. War sie auffällig, galt er als verdorben (corruptus) und Auslöser von Krankheiten. Besondere Aufmerksamkeit galt im 17. Jahrhundert dabei dem Blut.210 Es war nach wie vor der einzige der vier Säfte, den ein Arzt kontrolliert aus einem menschlichen Körper ausleiten und betrachten konnte – ansonsten blieben bei lebenden Patienten zur Beschau nur Sputum und Exkremente. Das zeitgenössische Interesse am Blut ist also weniger auf die Entdeckung des Blutkreislaufes im 17. Jahrhundert zurückzuführen, als darauf, daß mit dem Blut die einzige somatogene Flüssigkeit zur Verfügung stand, die kein Abfallprodukt, sondern einen in die inneren Vorgänge eingebundenen Bestandteil des Körpers darstellte, dessen »Chymie« man untersuchen konnte. Ludwik Fleck legte im Rahmen seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen plausibel dar, daß es auf lange Sicht diese zwangsweise Beschränkung und damit 204 S. Kap. 3.2.6. 205 S. Kap. 4.2.1. 206 Gezeigt wurde, daß sowohl Magirus’ Lehrer in Thorn wie auch seine Kollegen in Berlin, v. a. aber er selbst sich als Schüler Daniel Sennerts definierten (s. o., Kap. 4.1.1.: Thorn, beziehe ich mich für die medizintheoretischen Inhalte auf Sennerts Werke). 207 Sennert, Daniel (1650a), S. 351 (= Inst. Lib. II, part. II, Cap. VI  : De seroso Humore & Flatibus)  : »Primum autem sciendum, in genere interdum humores serosos dici omnes humores tenues […].« 208 Jessenius, Johannes (1668), S. 18  : »Sunt Serorum totidem, quot humorum species«. 209 Darauf weist auch Sennert, Daniel (1650a), S. 351 (= Inst. Lib. II, part. II, Cap. VI  : De seroso Humore & Flatibus) am Anfang seiner Abhandlung hin  : »Galen. epid. com. 2. t. 38 serum non peculiare humorum genus constituere, sed pro parte reliquorum humorum agnoscere videtur.« 210 S. Davies (1971), S. 33–34  ; 38  ; s. aber auch Brechtold (1959), S. 93 zu dem Arzt Heinrich Wolff, der schon in den 1560er Jahren labortechnische Versuche mit Blut anstellte.

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auch die Fixierung der Medizin auf den einzig möglichen Untersuchungsgegenstand Blut war, der letztlich zu den serologischen Erkenntnissen der modernen Medizin führte, und nicht etwa fortschrittliche Krankheitstheorien.211 Magirus ließ für seine Blutschau das durch Aderlaß gewonnene Blut zerfallen,212 betrachtete aber dessen Bestandteile nicht nur, sondern bestimmte auch die Anteile von cruor und serum nach Gewicht. Zu wenig serum bedeutete zunächst zu dickflüssiges Blut, zu viel serum dementsprechend zu dünnes. Am 26. Juni 1651 trug er in sein Diarium ein  : »Aderlaß am Fuß. Das Blut war schwarz und zäh. Es deutete sich eine Ohnmacht an  ; ich habe deshalb gut und zur rechten Zeit aufgehört. Ich konnte das Gewicht des Blutes nicht feststellen  ; muß man später mit Maßen machen«.213 Dieser Eintrag einer unvollständigen Diagnose zeigt, daß Magirus gewöhnlich wohl eine spezielle Ausrüstung zur Anwendung brachte, vielleicht eine Blutlassschale mit Unzenmarkierung an der Innenwand, um präzise Ergebnisse vorweisen zu können. Hatte er dieses Instrument nicht bei sich, war eine präzise Diagnose in diesem Moment nicht möglich. Auch im Fall des Patienten Georg Kramer wird nicht einfach nur vermerkt, daß sich schleimiges und fettes serum im Blut befand, und davon viel, sondern  : beinahe zwei Unzen.214 Magirus genügte die Beurteilung der Qualität des Blutes allein nicht mehr, es ging ihm um eine Quantifizierung.215 Die Praktik der Blutschau erlaubte ihm, von seiner Warte, mathematisch präzise vorzugehen, mittels eines bestimmten Instrumentariums zu messen, in seinen Schalen Ergebnisse zu produzieren, die von ihm wie auch von einem medizinisch ungebildeten Laien gleichermaßen per bloßem Augenschein festgestellt werden konnten. Ohne daß es dem Kriterium der jederzeitigen Wiederherstellbarkeit genügen konnte, wie es ein experimentum forderte (s. o.), wohnte diesem Ergebnis durch seine voraussetzungslose Augenfälligkeit doch ein naturwissenschaftlicher Wahrheitsanspruch inne. Genau das war bei der Urinschau, die von allen Ärzten gleichermaßen praktiziert wurde, nicht möglich. Denn der Urin hatte nicht die Eigenschaft eines Saftes, der in seinen festen und seinen wässrigen Anteil zerfallen konnte, er war in seiner Ganzheit ein Abfallprodukt des Körpers. 211 S. Fleck, Ludwik  : Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung herausgegeben von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle (Frankfurt/Main 102015), S. 17–22  ; 35. 212 Sennert, Daniel (1650a), S. 351 (= Inst. Lib. II, part. II, Cap. VI  : De seroso Humore & Flatibus)  : »Atque hinc fieri existimat, ut serosa haec substantia adeo cum sanguine permista sit, ut, etiamsi sanguis emittatur, nihil eius percipi possit, nisi sanguis concrescat atque concretione serosa haec pars a crassiore secernatur.« 213 UBM, Ms. 96, S. 204 (26.6.1651  : Cämmerer Scheurers Frau)  : »26. Junii  : V[enae]s[ectio] pedis. sanguis erat ater et limosus. subsequebatur lypothymia, itaque bene et iusto tempore substiti. pondere sanguinem non examinare poteram, imposterum mensuris faciendum est.« 214 UBM, Ms. 96, S. 296 (19.3.1652  : George Kramers mercatoris coniunx)  : »deinde ordinavi V[enae] S[ectionem], sanguis erat pituita crassa obductus et serum multum ad  ii.« 215 S. hierzu auch den in Kap. 3.2.6 zitierten Fall, in dem Magirus die Menge des insgesamt entnommenen Blutes der des serum gegenüberstellt  : »[…] 9 loht blut von ihm gangen, darunter iß serum gewesen […]«  ; ebenso Kap. 3.2.6. (Patient Horst)  : »VI extraxi, i erat seri […]«.

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Daß Magirus aber immer wieder auch von serösem Urin spricht, zeigt, daß neben der Quantifizierung auch chymische Konzepte eine Rolle spielten.216 Das serum war in seiner Eigenschaft nämlich nach Sennerts Darstellung nicht einfach nur als rein (purum) und wässrig (tenue bzw. aquosum), sondern größtenteils auch als salzig (salsum)217 und sogar scharf (acre) zu verstehen.218 Dies bedingte bei beiden der untersuchten Flüssigkeiten, Urin und Blut, die jeweils vorzufindende »scharfe« Konsistenz, die sich Magirus penibel notierte  : Wie nach seiner Einschätzung allerdings »seröser« Urin aussah, können wir nicht mehr rekonstruieren, vielleicht enthielt er Schwebteilchen einer bestimmten Form, roch besonders scharf oder hatte schlichtweg die Farbe von serum. 219 Jedenfalls sollte Magirus’ Vorgehen eine pathologische Chymie (cacochymia) des Blutes nachweisen, die durch seine Messung einer nachweislich großen Menge von serum im Blut erkennbar wurde.220 Diese Kakochymie mußte ebenfalls kenntnisreich bestimmt werden, denn nur maßgeschneiderte Medikation (mit passender chymischer Gegenwirkung) konnte den Körper, der dieses kranke Blut aufwies und von ihm krankgemacht wurde, heilen.221 Magirus’ Konzentration auf die Zusammensetzung des Blutes zeigt ihn hinsichtlich medizinischer Debatten auf der Höhe seiner Zeit. Drei Jahrzehnte, bevor Robert Boyle seine »Memoirs for the Natural History of Human Blood« (1684) publizierte, in denen er beschrieb, wie er das Gewicht des serum mit einer Waage bestimmte und chymische Experimente mit dem Blut vornahm,222 untersuchte Magirus bereits bei seinen Patienten das Blut, quantifizierte dessen Bestandteile und bestimmte sie nach den chymischen Stoffklassen. Die Praktik der 216 Vgl. Magirus’ Anmerkung über den Urin eines Patienten, der ein Produkt einer schlechten chymischen Verfassung sei  : »Urina eius est cacochymiae soboles, quam Natura per hanc viam evacuare conatur« (UBM, Ms. 96, S. 480 [(?) 1654  : Gerhold Consilium]). 217 Sennert (1650a), S. 351–52 (= Inst. Lib. II, part. II, Cap. VI  : De seroso Humore & Flatibus)  : »Itaque etsi a tenui, ac humidiore sanguineae massae parte substantiam humidiorem corporis nostri instaurari concedamus  ; tamen an illa proprie serum dici possit, dubitamus  : cum illa sit portio sanguinis alimentosa  ; serum vero omne recte Galenus 2 de fac. Nat. c. 9 excrementum, & ad seri naturam pertinere videatur, non solum ut humidae & aqueae substantiae sit, sed & salsuginem quasi quandam in se contineat.« 218 Sennert, Daniel (1650b), S. 295 (= Pract. Lib. I Part I. Cap. XI  : De intemperie Capit[is] cum Humore Seroso)  : »Duo autem seri seu ichorosae materiae sunt genera  : Unum mite, quod est sanguinis pars aquea eum diluens, vel aquea humiditas cibo & potui admixta  ; alterum acre & salsum, quod suam acrimoniam ex colliquatis seu corruptis, seu quacunque de causa salsis & acribus acquirit. Serum enim quod pura aqua sit, in corpore vix reperitur, sed […] dum per vasa decurrit, ex iis ichoribus, qui in sanguinem redundant, partem aliquam secum transportat, quocunque fertur.« 219 Zur Verbindung von serum und Urin schon im Rahmen der mittelalterlichen Blutschau s. Riha (2005), S. 57. 220 Allgemein zu den »Schärfen« vgl. Stolberg (2003), S. 139–44. 221 Théodore de Mayerne (1573–1655) notierte sich seinerseits ein Rezept für eine »pill abundantly producing serum, used by the physicians of London«  : Nance (2011), S. 432. 222 S. Büttner, Johannes  : Die physikalische und chemische Untersuchung von Blut im 17. und 18. Jahrhundert. Zur Bedeutung von Robert Boyles »Memoirs for the Natural History of Human Blood« (1684), in  : Medizinhistorisches Journal 22 (1987), S. 185–96, hier bes. S. 188–92.

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Blutschau vereinte den physicus, den mathematicus und den chymicus in einer Handlung zu einem medicus nach seiner Vorstellung.

4.3 Wissen weitergeben Wir besitzen von Johannes Magirus zum einen die kurzgehaltenen Ankündigungen seiner öffentlichen und privaten Kollegien, wie sie die noch erhaltenen Vorlesungsverzeichnisse der Universität Marburg wiedergeben,223 zum anderen, wie bereits im ersten Kapitel gezeigt, verschiedene gedruckte Beschreibungen von Privatkollegien, die er in Berlin und Marburg abgehalten hat. Insgesamt handelt es sich bei letzterem um die Beschreibung eines Collegium mathematicum practicum (zweimal in lateinischer und einmal in deutscher Sprache)224 für Berlin (1646) sowie zweier Collegia medica mathematica, von denen das in Berlin gehaltene (1646) in lateinischer Sprache, das in Marburg angebotene (1666) auf Deutsch beschrieben ist. Dies sei an dieser Stelle noch einmal rekapituliert, da die zu beobachtende Sprachmischung der Ankündigungen interessant ist – universitäre und außerakademische Sphären scheinen ineinanderzufließen, Gelehrten- und Volkssprache vertreten gleichermaßen dieselben Inhalte. Auffällig ist außerdem, daß keine Beschreibung dieser Art für ein rein medizinisches Privatkolleg erhalten ist. In Magirus’ Privatkollegien scheinen Medizin und Mathematik untrennbar verbunden und damit gleichzeitig in einem Schwellenraum zwischen Universität und Außenwelt angesiedelt. Magirus hatte in Marburg zuerst die Professur für Mathematik inne (ab 1656), dann kurzzeitig auch die der Geschichte (von 1658–1660) und erst ab 1661, als durch den Tod Konrad Theodor Linckers (1622–1660) eine Professur in der Medizinischen Fakultät vakant wurde, bis 1682 gleichzeitig Medizin und Mathematik. Wenn im Folgenden sein Unterricht genauer untersucht wird, soll es nicht nur darum gehen, was er unterrichtete, sondern hauptsächlich wie. Dafür ist es wichtig, dem Unterricht in beiden Fächern, Medizin und Mathematik, die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken. Denn nicht nur wäre eine Trennung aus der Sicht des Lehrenden selbst als unsinnig betrachtet worden  ; es kann auch allein durch die Zusammenschau aller vorhandenen Kollegbeschreibungen sichtbar werden, ob die Art und Weise, wie Magirus Mathematik lehrte, Einfluß nahm auf die Gestaltung seines medizinischen Unterrichts und/oder umgekehrt. Arjen Dijkstra hat in seiner Studie zu der Universität Franeker herausgearbeitet, daß dort unter dem akademischen Personal die Mathematikprofessoren, da sie sowohl reguläre Studenten wie auch solche ohne Lateinkenntnisse (idiotae) unterrichteten, eine

223 S. Quellenverzeichnis. 224 Die beiden lateinischen Texte sind textidentisch und einmal in Plakatform (KB3), einmal in zweilagiger Heftform (KB2) vorhanden  : s. Anhang, Text 1 (Edition und Übersetzung mit Lagenzählung nach KB2). Der deutsche Text (KB1) ist keine Übersetzung, sondern ein eigenständiger Text.

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besondere Gruppe von Lehrenden darstellten. Er beschreibt diese Sonderstellung des Mathematikprofessors folgendermaßen  : On the one hand he was responsible for the mathematical education of all ordinary students. He had received a formal academic education and was a full member of the university, taking part in all customs that were connected to that institution. He was a proper civis academicus. On the other hand this professor was responsible for the education of the idiotae  ; he lectured to them in the vernacular and he wrote and published their study material.225

Mag Johannes Magirus auch nicht an einer Universität gelehrt haben, die nach dem Beispiel Franekers Unterricht auch für Nicht-Akademiker institutionalisiert hatte, so trifft Dijkstras Beschreibung doch recht genau auch auf ihn zu. Die auf Deutsch gehaltenen Kollegankündigungen belegen, daß er mit seinen Privatkollegien ebenfalls auf ein Publikum von idiotae zielte. Dies forderte zwangsläufig eine Adaption der Inhalte an die Bedürfnisse nicht-akademischer Zuhörer, also ein Öffnen der akademischen Lehre im Hinblick auf deren Alltagsbezug. Er positionierte sich so mit seinem Unterricht an der Schnittstelle zwischen zwei Welten  : »In other words, mathematics was a matter of exchange between society and academia«.226 4.3.1 Lehren in der Landessprache

Magirus setzte in Berlin, im Umkreis des kurfürstlichen Hofes, von Beginn an auf mehrere Betätigungs- (und damit Einkommens-)felder  : die ärztliche Praxis, das Kalenderschreiben, dazu, wenn möglich, eine Anstellung bei Hofe sowie (als Werbung für die eigene Hoftauglichkeit) ein Unterrichtsangebot nach Art der Ritterakademien. Dieser Akademientyp gilt in der Forschung als epochentypische Bildungseinrichtung der Frühen Neuzeit. Er verfolgte den Zweck, dem heranwachsenden jungen Adel alle standesrelevanten Kenntnisse zu vermitteln, und war als elitäre Bildungsstätte meist auch nur dem Geburtsadel vorenthalten.227 Wie der Name bereits verrät, erhielten die dort auszubildenden Jugendlichen Reitunterricht, aber auch Unterweisung im Fechten und Tanzen  ; sie studierten die Mathematik und deren Anwendung im Festungsbau, in Militärtechnik und Kartographie und erwarben schließlich auch Fremdsprachenkenntnisse und einen grundlegenden Einblick in Politik und Geschichte.228 Der Unterricht fand dabei in der Landessprache statt. Die Ausrichtung des Berliner Collegium mathematicum 225 Dijkstra (2010), S. 5. 226 Dijkstra (2010), S. 10. 227 S. Conrads (1982), S. 17. 228 S. Conrads (1982), S. 33 zu dem von François La Noue entworfenen Curriculum, das als Grundlage auch der deutschen Ritterakademien ab der ersten Gründung im Jahr 1598 (Kassel) gelten darf. Zur Zielsetzung der dort erhältlichen Ausbildung s. auch Grosser (1989), S. 42.

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practicum auf den jungen Adel wird sofort augenfällig, wenn Magirus in der Ankündigung seinen potentiellen Schülern versichert  : Die nun dergestalt mit aller nothwendigen zugehör versehen seyn, müssen in praxi ipsa dieses in acht nehmen, daß sie nicht allein die zur täglichen lection bestimbte Stunde nicht leicht verseumen, sondern über das dasjenige, was sie in den Lectionibus gehöret, zu Hause mit fleiß repetiren, welches ihnen doch so viel Zeit nicht wegnehmen wird, daß Sie nicht täglich Stunden gnug zu andern exercitiis, als zum Reissen (welches dann zu diesem Studio sonderlich nützlich), Fechten, Reiten, Feuerwerck machen, Französischer Sprachen u[nd] zu welchen allen man hiesiges Ortes gute Gelegenheit hat, ubrig behalten sollten, ausgenommen die Tage, am [  !] welchen die praxis auff dem Felde gewiesen wird, als damit leicht ein 5. oder 6. Stunden hin zugehen pflegen.229

Magirus bot also in Berlin, wo es keine Ritterakademie gab, die Vermittlung der Kenntnisse an, die adeligen Schülern zu einem vollständigen »Lehrplan« noch fehlten. In der Umgebung des Hofes konnten sie das Fechten, Reiten und Schießen lernen, Sprachmeister finden, bestimmt auch Tanzstunden und Unterweisung in politisch-iuristischen Fragen erhalten  ; er steuerte nun eine auf seine Klientel abgestimmte Ausbildung in der sogenannten »gemischten« Mathematik bei.230 Sein Collegium mathematicum practicum durchlief dabei zweimal jährlich sechs Bereiche  : Grundbegriffe der Arithmetik und Geometrie, Geodäsie (Feldmessen), Fortifikation (Festungsbau), Skenographie (perspektivisches Zeichnen), Kosmographie (Sternenkunde) und die »Mathesis Medica oder Auslegung alles desjenigen, was auß der Mathesi, nemlich der Arithmetica, Geometria, Astronomia, Astrologia, Optica und Gäographia einem Medico sonderlich zu wissen von nöthen ist«.231 Die ersten fünf Teile dürfen als typisch für einen auf adelige Teilnehmer ausgerichteten Unterricht gelten.232 Der sechste jedoch, die Mathesis Medica, ist ungewöhnlich und entspringt Magirus’ persönlichen Interessen. In der lateinischen Beschreibung des Collegium heißt es diesbezüglich, in den Wintermonaten fänden drei der Kollegteile statt, Kosmographie, medizinische Mathematik und Skenographie, wovon ersteres und letzteres auf Deutsch 229 Magirus, Johannes (KB1), Bl. A3r. 230 Zum frühneuzeitlichen Begriff der »gemischten« Mathematik s. Dijkstra (2010), S. 11–12. 231 Magirus, Johannes (KB1), Bl. A2r. 232 Dijkstra (2010), S. 81–82 beschreibt solchen Unterricht  : »Lessons in mathematics given to young noblemen would have focussed on the many different facets of the field. It is probable that a tutor would have started at the very basis, thus making it likely that arithmetic and geometry would have been the first focus. Since these fundamentals were hardly taught at grammar schools this is only likely. If there was time, or if the well-educated nobles did have some knowledge of mathematics, a tutot may have scaled up a bit. Astronomy, fortification and surveying will likely have been part of such follow up lessons.« Magirus warb entsprechend damit, daß für sein Kolleg keine Vorkenntnisse vonnöten seien, daß aber Teilnehmer, die solche besaßen, auch erst später in den Unterricht einsteigen müssten  : Magirus, Johannes (KB1), Bl. A3r.

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gelehrt würden, der Mittelteil aber, die medizinische Mathematik, auf Latein.233 Hier scheint das Postulat des Lateinischen als Sprache der höheren Fakultäten und ihrer Fächer noch gewahrt. In der deutschen Ankündigung jedoch ist bezüglich derselben Kursteile zu lesen  : »Von all diesen Stücken nun unterweise ich meine Auditores in Latein und Deutsch, nach dem es jedweder begehret.«234 Hier wiederum wird bereits ein Übergang medizinischer Inhalte in die Volkssprache sichtbar. Das Lehren in der »Muttersprache« bewarb Magirus auch ausdrücklich als innovativen, da nach ausländischem Vorbild gestalteten Aspekt seines Unterrichts  : Es ist meine wol gemeinte intention einig und zuvoderst dahin gerichtet, wie durch diese meine Arbeit die Mathematische Künste in diesem meinem Vaterland darinen sonsten die schwere Kriegesleuffte vielen trefflichen ingeniis die Mittel solche in der Frembde zu erlernen benommen, mehr als hiebevor bekandt werden, und die nützliche Gewohnheit solche privata Collegia auch extra Academias und zwar in der Muttersprache zu halten wie zumahl in Paris, Somür, Londen, dem Haag und in unterschiedlichen grossen Städten im vollen schwange ist, also auch hiesiger orte in Übung gebracht werden […].235

Die von Magirus dezidiert als vorbildlich benannten Orte »Paris, Somür, Londen, dem Haag« waren Standorte frühneuzeitlicher Ritterakademien, die er auf seiner peregrinatio gesehen haben dürfte. Das Programm, »wie in Academiis zu Paris […] bräuchlich«, umriss er selbst in seiner Marburger Kollegbeschreibung von 1666  ;236 auch in London hatte zu der Zeit, als er in England unterwegs war, gerade eine neue Ritterakademie ihre Pforten geöffnet, das Museum Minervae (1635).237 Gleichzeitig nannte er mit Paris und London aber auch zwei Orte, an denen volkssprachlicher Unterricht in anderen als nur für den Adel interessanten Bereichen stattfand, und dies nachweislich auch während des Zeitraums, als er dort unterwegs war. Bedeutend als tatsächlich öffentliche Bildungsanstalt war das 1597 in London gegründete Gresham College, an dem sieben Professoren aus Oxford und Cambridge die mathematischen Wissenschaften (Geometrie, Arithmetik und Musik), Rhetorik und die Inhalte der drei höheren Fakultäten Recht, Theologie und Medizin lehrten.238 Es war, im Gegensatz zu vielen Ritterakademien, explizit nicht stan233 Magirus, Johannes (KB2), Bl. A2v (lat. Originaltext s. Anhang, Text 1). 234 Magirus, Johannes (KB1), Bl. A2v. 235 Magirus, Johannes (KB1), Bl. A3v. 236 Magirus, Johannes (KB5), Bl. A3r  ; zur Academie Royale s. Conrads (1982), S. 75–78. 237 S. Tennyson Bradley, Emily  : Kynaston, Francis, in  : Dictionary of National Biography, 1885–1900, Bd. 31, Sp. 355–56, online  : https://en.wikisource.org/wiki/Kynaston,_Francis_%28DNB00%29 (letzter Zugriff  : 13.12.2017). 238 Rupert Hall bezeichnet das Gresham College als »probably the strongest scientific group in London during the early seventeenth century« und weist darauf hin, daß die renommierte Royal Society 1660 nicht ganz zufällig in den Räumen eben dieses College gegründet wurde  : S. Hall (1983), S.  215  ; 218.

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desgebunden, ohne Immatrikulation jedem Interessierten zugänglich und bot regelmäßig öffentliche Vorlesungen aus den bereits aufgezählten Themenbereichen an. 239 Diese Institution existierte mit ihrer medizinischen Gastprofessur ohne große Berührungspunkte neben dem Londoner College of Physicians, das mit seinen Regulationsprivilegien im Gesundheitsbereich eher einem Collegium Medicum des Alten Reiches als einer Ausbildungsstätte entsprach.240 In Paris wiederum konnte man von August 1633 bis September 1642, an jedem Montagnachmittag und auf Französisch, Experimenten, Vorträgen und Diskussionen in Theophraste Renaudots Bureau d’Adresse folgen,241 wobei am populärsten unter den wissenschaftlichen Beiträgen diejenigen über Medizin gewesen zu sein scheinen.242 Solche Einrichtungen existierten 1646, als Johannes Magirus in Berlin seine ersten Kollegien ankündigte, im deutschsprachigen Raum noch nicht. Was genau er nun aus der Medizin auf Deutsch gelehrt hat, muß weitgehend Spekulation bleiben. Allerdings enthalten die Widmungsgedichte einiger Studenten aus Frankfurt/Oder, die wohl an seinen Berliner Collegia teilgenommen hatten, Hinweise auf deren Inhalt.243 Sie bestätigten Magirus eine der Familie würdige Gelehrsamkeit (»Du Vaters Ebenbild«),244 verglichen ihn (wohl nicht zufällig) mit Daniel Sennert,245 und lobten sein investigatives Vorgehen, das endlich aufdecke, daß es falsche Ärzte seien, die arme Kranke ins Grab brächten  : Magirus lehret es, wie durch verdackte [  !] List // ein ander seine Schuld den Aerzten auff kann bürden // und ihnen durch betrug die wolverdienten Würden // zur ungebühr abstiehlt.246

Thomas Pankow, damals noch Medizinstudent (später in Berlin kurfürstlicher Leibarzt), bedankte sich für die Unterweisung in der Sternenkunst und sprach an, daß sich Magirus’ Professionalität (sein »Sinn«) auch in der Abfassung eines richtigen Praxistagebuchs nie-

239 S. Hall (1983), S. 215. Daß hier tatsächlich Vorlesungen in Medizin stattfanden, belegt ein Konflikt, der 1630 aktenkundig wurde  : James Primrose durfte keine öffentliche Vorlesung in Medizin halten, weil er damit dem entsprechenden Professor am Gresham College das Publikum abspenstig gemacht hätte  : s. Pelling (1999), S. 50–51. 240 S. Pelling (1999), S. 46. 241 S. Solomon (1972), S. 64. 242 Solomon (1972), S. 79  : »Some 101 discussions were held directly on medical topics, in addition to 19 on zoology and biology, 35 on physics, 5 on diet.« 243 S. hierzu auch Schlegelmilch (2012), S. 405–09. 244 Magirus, Johannes (1648a), Bl. A4r  ; s. auch ebd., Bl. A3v  : »Die Welt vermercket schon, daß auch in seinen Kindern // Eur Vater lebet wird.« 245 Magirus, Johannes (1648b), Bl. A4r  : »Sennert der Aerzte Zier // der zu der Medicin gewiesen Thor und Thür // hat gleichfals auch wie ihr sich wollen unterstehen, dem Leumber dieser Kunst ins Angesicht zu gehen // mit unerschrocknem Mut.« 246 Magirus, Johannes (1648a), Bl. A3v.

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derschlage (der deutsche Begriff »Tagebuch« entspricht dem lateinischen Diarium)  ;247 Jonas Günther, ein weiterer Medizinstudent aus Frankfurt/Oder, kam daneben auch auf das Prinzip von ratio et experientia und die Medikamentenlehre zu sprechen  : Erfahrung und Vernunfft sind rechter Aertzte Seulen // wer darauff feste steht, der kann vernünfftig heilen // […] Magirus, dem der Lauff des Himmels und der Erden // Abtheilung wol bewußt, der weiß wie die Beschwerden // itzt nach Galenus art, bald auff Chymisten weiß // zu heilen, lehret dieß itzt klärlicher mit Fleiß.248

All diese Gedichte sind auf Deutsch geschrieben, obwohl jeder damalige Student in der Lage gewesen sein sollte, lateinische Verse für das gängige akademische Widmungsritual zu verfassen. Es kam Johannes Magirus jedoch gerade darauf an, dem (auch höfischen) Kalenderpublikum den Erfolg (und Inhalt) seiner Kollegien bekannt zu machen. Magirus’ Kalender sind für das Thema der volkssprachlichen Unterweisung generell von Interesse. Wohl nicht zufällig boten die ersten vier Jahrgänge (ab 1646  !) eine Abhandlung über Kurpfuscher und Quacksalber, die gleichzeitig beschreibt, wie ein »wahrer« Arzt handelt.249 Arbeitsökonomisch war es geschickt, gleichzeitig diesen Text in den Kalendern zu verbreiten, dasselbe Thema aber auch für das medizinisch-mathematische Kolleg vorzusehen.250 Die Begründung für die Themenwahl der Kalendertexte erinnert stark an die Passage im zuletzt zitierten Text, in der für den Unterricht die »nützliche Gewohnheit«, in der Landessprache zu lehren, beworben worden war  : […] als habe ich auch darneben dem geliebten Nechsten […] zu gut die Ursachen entdecken wollen, um welcher willen so wenig Leute heutiges Tages von ihren Kranckheiten nicht allein nicht curiret, sondern auch wol gar verderbet werden, habe auch nicht länger zusehen können, saß so viel Fürsten, Herrn, Edele, Bürger und Bauer von den also genandten Chymicis, Magis, Quacksalbern, Unwissenden und Naseweisen Apoteckern und Fürwitzigen KranckenWärterinnen unschuldig gemartert und jämmerlich hingerichtet werden, sondern

247 Magirus, Johannes (1649a), Bl. A3v  : »Ach wer wolt auch nicht preisen // Magirus, eueren Sinn, weil ihr nicht schreibt allein // ein richtig Tagebuch, ihr lehret auch gar fein // was in der Sterne-Kunst, was in Machaons Sachen // zu diesen Zeiten fehlt. Es wird gewiß nicht lachen // der Marckt-und Quacksalb-Arzt, weil ihr die Wahrheit lehrt […]« 248 Magirus, Johannes (1649a), Bl. A3r. 249 Vorbild hierfür dürfte unter anderem James Primrose gewesen sein. Dessen Buch De vulgi erroribus in medicina libri IV erschien in demselben Jahr (1639) und derselben Offizin (Johannes Janssonius) wie Magirus’ erste kleine Drucke  ; vgl. auch Magirus, Johannes (1647a), Bl. A43r  ; A4r  : »Wer mer davon lesen will, kan die Medicos consulieren, denn ganze Bücher darvon vol seyn  : Nun müssen wir auch, weil sie sich auff große erfahrung die sie haben beruffen, von derselben handeln, und weil uns hierinnen H.D. Primrosius aus Engelland das Eis gebrochen, wollen wir demselben folgen.« 250 S. Magirus, Johannes (KB4), Bl. A2r  ; A3r (s. Anhang, Text 2).

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entlich dasselbe, so viel andere in Lateinischer Sprachen gethan (welches doch wenig unter die Leut kömt, sondern nur bey den Medicis bleibet) in Deutscher Sprache thun wollen.251

Man mag einwenden, daß es generell nicht ungeschickt ist, in der Volkssprache zu schreiben, wenn man standesspezifische Polemik unter das Volk bringen will. Es ist aber auffällig, wie Magirus eigens betonte, Inhalte aus der lateinischen Fachsprache ins Deutsche und damit aus der Sphäre der Akademiker in die der außerakademischen Welt transferieren zu wollen. Er tat dies erneut, als er mit dem Kalender von 1653 ein weiteres Thema eröffnete, die Sanitatis tutela (»oder Nützlicher Bericht, wie jedermänniglich das gantze Jahr über seine Gesundheit in Acht nehmen solle«)  :252 Wie vielmehr stehet es uns zu, daß wie uns bemühen, die Gesundheit, so wir ein mal mit uns auff die Welt durch Gottes Gnade gebracht, nach Müglichkeit zu erhalten, wie solches nicht allein verständige Leute jederzeit gerahten […]. Und solche Unterweisung wird von uns am bequemsten geschehen können. Weil solches eines getrewen Artztes Ambt ist […]. Und vormals von etlichen guten Freunden begehret worden, und zwar an diesem orte und in der muttersprache, damit es vielen guten Leuten in die Hände kommen und dienen möge  : Dann es soll billich ein iedweder seine Natur kennen und ihre Mängel, zu welchen sie geneiget ist, durch Speis und Tranck und dergleichen zu Hülff zu kommen wissen […].253

Nach seinen eigenen Worten sah es Magirus als seine Pflicht an, den Menschen eine Gesundheitserziehung angedeihen zu lassen, da er als akademischer Arzt über das nötige Wissen verfügte  ; gleichzeitig sollte eine Übertragung in die Volkssprache eine weite Verbreitung garantieren, um möglichst vielen Leuten zu »dienen«. Die Art und Weise, wie er dies in den Kalendern tat, zeigt auffällige Ähnlichkeiten mit den Schriften eines viel früher lebenden Arztes, nämlich Michele Savonarola (1384–1464). Dieser publizierte bereits im 15. Jahrhundert thematisch breit und auf Italienisch für ein Hofpublikum, als dessen – historisch gebildeter – Ratgeber er sich für alle Lebenslagen verstand.254 Chiara Crisciani charakterisiert besonders die von ihm erzählten Krankheitsfälle als »appropriate 251 Magirus, Johannes (1648a), Bl. A2r. 252 Die Belehrung über Luft, Schlaf und richtige bzw. falsche Lebensmittel zog sich im Folgenden über siebzehn Jahre hin (bis 1669). Von 1670 bis 1672 brachte der Schreibkalender historische Erzählungen, daneben ein zusätzlicher »Pest- und ansteckender Kranckheiten Cur- wie auch TugendtCalender« einen Wiederabdruck von Magirus’ volkssprachlicher Pestschrift von 1666, der in einer Parallelkolumne von einem Gesprächsspiel zweier tugendhafter Jungfrauen begleitet wurde. 253 Magirus, Johannes (1653a), Bl. A4r (Versalien auch so im Original). 254 S. Crisciani (2005), S. 299–300, die Savonarola als besonders weitsichtig beschreibt, da er die damals sich in Norditalien erst neu entwickelnde Rolle des Hofarztes richtig einschätzte. In Deutschland fanden dann viele der in Italien zu beobachtenden Entwicklungen erst zeitlich versetzt, mit der Ausbildung der Territorialstaaten und deren eigener Hofhaltung, statt.

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and adapted to propound moral exhortations or to satisfy curiosity and to divert, making the reader more attentive and readier to memorize what is being taught.«255 Wie er verband nun auch Magirus Medizin und Geschichte und lockerte seine Belehrung mit beispielhaften Erzählungen, Sprichwörtern, Erlebnisberichten, Kuriositäten und Zitaten auf256 – ein Vorgehen, das Crisciani bei Savonarola dem Einfluß des toskanischen Hofes geschuldet sah.257 Lateinische Passagen oder griechische Wörter zitierte Magirus zwar im Original, übersetzte oder paraphrasierte sie aber für seine Leser  ; die Herkunft jeder Geschichte belegte er mit Autorennamen, um geprüftes Wissen zu kennzeichnen. Auf diese Weise konnte ein Leser sich aneignen, was z. B. Tacitus über den Krieg schreibt, ohne Latein können zu müssen.258 Der angestrebte Leserkreis war dabei wohl, wie Crisciani es auch für den italienischen Arzt formuliert, »a public that is in general not learned but distinguished.«259 Es dürfte sich damit um dasselbe Publikum handeln, das auch Magirus’ private Kollegien besuchen sollte  ; nicht umsonst kündigte er diese diverse Male auch in den Kalendern an.260 Die Kalendertexte, eine Art verschriftlichter Gesundheitsunterricht, zeigen jedenfalls dasselbe Zusammenspiel aus Übersetzungsleistung, Synthese und »leichter« Lehre, wie wir es im Folgenden auch in den Kollegbeschreibungen sehen. 4.3.2 Magirus’ Collegium practicum mathematicum

Als wesentliche Qualifikation des Lehrenden wird für alle Kollegien wieder die Autopsie der Unterrichtsgegenstände deutlich.261 Magirus kündigte an, er wolle nur dasjenige, was ich auß eigener Erfahrung in Besichtigung unterschiedlicher fürnehmer Vestungen und Wercken so wol in Deutsch- als Niederland, welche theils schon in ihrer Vollkommenheit gestanden, theils von grund auff seind befestiget worden, und darunter sonderlich bey der Belägerung und Einnehmung der weitberühmbten Vestung Breda, gewiß unnd practicabel befunden habe

lehren.262 Gerade die lebensbedrohliche Erfahrung der Schlacht bei Breda, bei der der junge Magirus in all seinem Beobachtungsdrang fast von einer Kanonenkugel getroffen worden war, war dabei ein Alleinstellungsmerkmal, das Magirus zu verschiedenen An255 Crisciani (2005), S. 312  ; vgl. Kap. 3.2.1. (Frage 5). 256 Barnes (2016), S. 300 charakterisiert Magirus’ Texte als »wandering discussion peppered with household advice, historical tales, bit of poetry, and various other diversions.« 257 Crisciani (2005), S. 307. 258 Magirus, Johannes (1651a), Bl. B1r. 259 Crisciani (2005), S. 308. 260 S. Magirus, Johannes (1646b), Bl. C2v  ; (1656b), Bl. D4v. 261 Vgl. Kap. 4.1.3. 262 Magirus, Johannes (KB1), Bl. A2v, Abschn. II.3 (deutscher Text)  ; vgl. KB2, Bl. A2r (s. Anhang, Text 1).

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lässen immer wieder gerne aufrief.263 Was er dort in einer tatsächlichen Kriegssituation zur Befestigung und Belagerung beobachtet hatte, stellte ein exklusives Wissen dar, wie überhaupt im Ausland erworbene Erkenntnisse, deren Import über die einzelne Person als singulären Wissensträger vonstatten ging. Nur wer Magirus’ Kollegien besuchte, konnte eben dieses Wissen erwerben, […] welches ich dann anitzo doch an mich halte, weil sich etliche finden, ob sie gleich niemals eine Niederländische Vestung gesehen haben, sich doch rühmen dürffen, sie wissen es besser als die Niederländer  ; ist es also ohne Noth, das man ihnen die Niederländischen Sachen durch den Druck Communicire  : doch hinterhalte ich herkegen meinen Auditoribus nichts von demjenigen, was mir von diesen Künsten nur wissend ist.264

Auch der Gebrauch der neuesten Instrumente war Teil dieses »kommunizierten« Geheimwissens. Neben Hilfsmitteln wie z. B. den obligatorischen Meßruten265 oder Napiers Rechenstäbchen266 gab es bei Magirus auch speziellere Ausstattung zu sehen  : »Ich reserviere die geheimeren Dinge, wie den Chedecant’schen Zirkel, die Otter’sche Fortifikations-Richtschnur und mein Transportorium, Perlen der Architekturkunst, nur für meine Zuhörer.«267 Hinzu traten dann auch noch Magirus’ private Mitschriften von Kollegien anderer Mathematiker, die er selbst besucht hatte268 – seine Schüler bekamen gewissermaßen den Unterricht vieler bei nur einem Lehrer geboten  : »Was einst viele lehrten in Leiden, das erkläre ich hier als ein einziger«.269 Die beworbene Syntheseleitung stellt, neben dem Praxisbezug, den Kern einer effektiven Belehrung dar, wie Magirus sie verstand. Eine solche forderte, alle relevanten Informationen zusammenzuführen, dafür auch Übersetzungen aus anderen Sprachen anzufertigen270 und vor allem den zu vermittelnden Inhalt auf das ingenium seiner Schüler 263 Vgl. Kap. 1.2.1. 264 Magirus, Johannes (CP), Brief an den Leser (unpag). 265 S. Magirus, Johannes (KB1), Bl. A3r. 266 S. Magirus, Johannes (KB2), Bl. A1r (s. lat. Originaltext mit Übersetzung  : Anhang, Text 1). Angekündigt wird neben der gewöhnlichen und der logarithmischen Arithmetik auch die rabdologische, die nach John Napiers Rabdologia seu numeratio per virgulas (Edinburgh  : Andreas Hart 1617) benannt ist. 267 Magirus, Johannes (KB2), Bl. A2r (lat. Originaltext s. Anhang, Text 1)  ; vgl. (CP), Brief an den Leser (unpag.)  : »weise ihnen den gebrauch H[errn] Chedecants, Herrn Otters und meines Instrumentlins […].« 268 Magirus, Johannes (KB1), Bl. A2v  : »Wer […] gern noch etwas weiter in dieser mathematischen Künste wissenschaft fortgehen wollte, der hat von mir allerhand rara manuscripta der fürtrefflichen mathematicorum D. Freytagii, D. Origano, Schoten, Otteri, Gerstenkorns, etc. beneben Abrissen der fürnembsten Vestungen in Niederland zuverlangen«. 269 Magirus, Johannes (KB2), Bl. A2r (lat. Originaltext s. Anhang, Text 1). 270 S. Magirus (KB2), Bl. A2r (lat. Originaltext s. Anhang, Text 1)  ; zu Übersetzungsleistung frühneuzeitlicher Gelehrter s. Nicolaije (2012), S. 297–300.

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auszurichten, wobei dies für sich bereits eine Übersetzungsleistung darstellte.271 Die verschiedenen Standards von Lehr- und Fachliteratur waren ihm dabei durchaus bewußt  ; als Gelehrter glaubte er sogar die Arbeitsweise, die er bei seinen auf den praktischen Unterricht ausgerichteten Publikationen an den Tag legte, verteidigen zu müssen  : Der kürtze hab ich mich nach Möglichkeit bemessen, weil Soldatengemüter nicht gerne lange Schriften lesen und hören mögen. Die varietet hab ich gemieden, weil dieselbe zwar das Gemüth belustiget, bey der praxi aber gar wenig thut und nur confusion bringt. Der Scribenten, bey welchen ich dieses oder jehnes gefunden Nahmen hab ich nicht allzeit darbey gesetzt, nicht etwan, daß ich andere Leutte Sachen mir zuschreibe (denn gewiß nichts als die Ordnung mein ist, die Sachen sind der Niderländer), sondern weil ich die Sachen, davon ich geschrieben, bey unterschidlichsten Autoren gefunden, daß ich also nicht weiß, wer der inventor ist, mögen sie sich also untereinander vertragen  : Im übrigen habe ich mich den Captui, Mitteln, ingenio und scopo meiner Autorum accomodiren müssen […]Legi, selegi, excerpsi, contraxi, scripsi.272

Über den Verdacht, Magirus habe nicht das wissenschaftliche Format für Publikationen im Fachdiskurs besessen, erhebt ihn ohnehin seine stets abundante Zitierfreude, das darin erkennbare hohe Niveau der Rezeption aktueller Literatur sowie sein unablässiges privates Forschungsinteresse. Daß sich seine gesamte Publikationsliste jedoch fast ausschließlich aus Kalenderschriften (sechsundzwanzig Jahrgänge), elementaren Lehrbüchern für den Unterricht und gedruckten Dissertationen zusammensetzt, dokumentiert seine starke Konzentration auf die Lehre. Für den Mathematikunterricht verfertigte er bereits 1640 eine Übersetzung der Sinustafeln von Frans Schoten, seine beiden Fortifikationsschriften (das Compendium Fortificatorium und die Janua Architectonicae Militaris, beide 1646) sowie zwei Bände mit Grundwissen zur Geometrie (Elementa Geometrica, 1658) und Astronomie (Elementa Astronomica, 1659). Ein weiterer solcher Band zur Arithmetik kam nicht mehr zum Druck.273 Diese kleinen, alles Wesentliche zusammenfassenden Handbücher – sämtlich im Format Oktav bis Duodez, also wirkliche Taschenbücher – stellten sicher, daß man sich im Kolleg selbst ganz auf die Praxis konzentrieren konnte  : Es werden dieselbe weder mit vielen dictiren, noch auch mit Abschreibung gantzer Bücher, viel weniger mit unnötigen Kopffbrechenden speculationibus von mir beschweret, Sondern alsbald ohn einigen umbschweiff zur praxi selber angeführet.274 271 Tim Nicolaije weist zu Recht darauf hin, daß die Wissenschaftsgeschichte dem Unterricht in den einzelnen Fächern bislang fast keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt hat, weil hier scheinbar keine wissenschaftliche Leistung vollbracht wurde  : s. Nicolaije (2012), S. 299. 272 Magirus, Johannes (CF), Anhang, Bl. viii r–viii v  ; in margine  : »Sennertus se excusat, quod non nomina autorum medicamentis Chymicis semper praefixerit  : ne vero quem offendat«. 273 S. Kap. 2.4.3, Akademische Dienstleistungen und Publikationen. 274 Magirus, Johannes (KB1), Bl. A2v.

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Praxis-Wissen Abb. 23  : Skizze zu einer Aufgabe aus Magirus’ Unterrichtsvorbereitungen. UBM, Ms. 392, Bl. 40r.

Im Konkreten sah dies so aus, daß Magirus seine Studenten anleitete, sich einfache, aber anschauliche Skizzen zu ihren Rechenbeispielen anzufertigen (s. Abb. 23) sowie das Gelernte in Gruppenarbeit auf dem freien Feld umzusetzen  : […] zeige darneben noch allerhand feine Handgriffe, die sie ihnen zu ihrer Nachricht mit leichter Mühe absonderlich auffzeichnen können, demonstrire ihnen alles durch bequeme Exempel, und halte sie sonderlich in der praxi auff dem Felde dahin, daß was ich Ihnen gewiesen, sie hernach selbst nachmachen, damit ein jeglicher nicht allein für sich selbst seines profectus desto mehr vergewissert werde, sondern auch einer dem andern desto besser excitire und aufmuntere.275

Auffällig ist die explizit ausgesprochene Sorge darum, daß alle Studenten gleichermaßen ans Ziel gelangen – ob hier in der Gruppe durch gegenseitige Unterstützung oder durch seine eigene Hilfe  :

275 Magirus, Johannes (KB1), Bl. A2v.

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Meine Methode ist die folgende  : Ich erkläre mein Buch, mache Anmerkungen dazu, verdeutliche mit vielen praktischen Zeichnungen, vergeude aber keine Zeit mit Diktieren  : sondern verwende sie auf das Skizzieren und Zeigen, auf Papier, auf dem Feld, an der Tafel, langsam, mit Ein-übung, sorgfältig  ; ich helfe dem, der stockt, ich ertrage den Langsamen, ich vernachlässige kei-nen, ich kenne keinen Neid, [was] woanders bei vielen lächerlich [ist], keine Parteilichkeit  : ich schätze und unterrichte alle gleich.276

Die recht unterschiedliche Begabung seiner Schüler, die für ihn aus der Planetenkonstellation zum Zeitpunkt der Geburt resultierte, schien Magirus nachhaltig zu beschäftigen und er bemühte sich, jedem einzelnen gerecht zu werden.277 Zur Übung, so betonte er, reichten einfache Instrumente aus Holz oder Eisen, so daß sich die Kosten für ein Kolleg in Grenzen halten sollten  :278 Zu investieren war lediglich in sein Handbuch, in einfache Instrumente und in Lehrgeld. Daß Magirus, wie auch in seinem medizinischen Kolleg (s. u.), dem tatsächlichen Sehen von Vorgängen großen didaktischen Wert beimaß, belegt ein Brief an Johann Caspar von Döringenberg. In diesem beschrieb er, wie er für seine Schüler den Aufbau und Nutzen der Fortifikation visualisieren wollte, indem er ein Drama über die aktuellste Belagerungsleistung im Türkenkrieg schrieb und die Handlung mittels eines Ton-Modells nachspielte  : […] und habe ich in Willens, damit die burse desto besser aber fassen die belagerung Neuhäusels in wilens(!) in einer Tragaedie(!) zu bringen und solche zu repräsentiren, dazu die Vestung, approchen, sappen, etc. von thon bereitet werden, und die stücken und röhre mit feuerwerken also sollen zugerichtet sein, das sie auff ein ander feuer geben […].279

Magirus’ mathematisches Kolleg, von dem im Gesamttext der Ankündigung (s. Appendix) ein recht lebendiges Bild entsteht, liefert mit seiner ausführlichen, gleich in zwei Sprachen verfassten Beschreibung einen seltenen Beleg für den Verlauf von Privatkollegien in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.280 Hilde de Ridder-Symoens wies bezüglich dieser 276 Magirus, Johannes (KB2), Bl. A2r (lat. Originaltext s. Anhang, Text 1). 277 Magirus druckte das ingenium der Schüler betreffende Passagen aus dem »Nucleus Astrologiae correctae« Abdias Trews (Erstdruck 1651) sowohl in seiner Neuauflage von Daniel Sennerts »Methodus Medicinam discendi« (S. 53–56) wie in seiner Einzelpublikation (1672) des Trew’schen Teildruckes »Kurzer und Gründlicher Bericht von dem Nutzen des Nativitätstellen« ab  ; in beiden Drucken findet sich der Satz  : »Es werden oft von den Eltern solche Worte gehöret, mein Sohn muß studieren, ich habe es Gott gelobt, er muß ein Pfarrer werden, da sie doch nicht wissen oder sehen wollen, ob er auch tüchtig darzu sey.« 278 S. Magirus, Johannes (KB1), Bl. A3r. 279 Johannes Magirus an Johann Caspar von Döringenberg, Marburg, 9.12.1663 (UAM, 305o Nr. 154 (unpag.)  ; Regest [U.  Schlegelmilch] unter  : www.aerztebriefe.de/id/00021255  ; letzter Zugriff  : 13.12.2017). 280 Der Verlauf eines Privatkollegiums des Leidener Anatomen Pieter Pauw (1564–1617) konnte jüngst nach den handschriftlichen Aufzeichnungen eines Teilnehmers rekonstruiert werden  : s. Schlegel-

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Unterrichtsform darauf hin, daß sich dort der Unterricht schneller veränderte und Neuerungen aufnahm als in den offiziellen Veranstaltungen, charakterisierte aber eben diesen Unterricht als »not well-known to us, owing to a lack of sources«.281 Paul Nelles gelangte mit Blick auf den Unterricht des Polyhistors Daniel Georg Morhof (1631–1691) zu dem Urteil, »public teaching tended toward grand themes and core texts, private teaching emphasized practical training and attention to method«.282 Beides trifft auf Magirus’ Collegium mathematicum practicum zu. Daß dieser Ansatz aber nicht nur für die Mathematik als eine der Gesellschaft in größerem Ausmaß geöffnete Disziplin galt, sondern auch für Magirus’ Collegium medicum practicum, wird die folgende Untersuchung der verbleibenden Kollegankündigungen illustrieren. 4.3.3 Magirus’ Collegium practicum medicum

Magirus’ medizinische Kollegien weisen viele Parallelen mit seinen mathematischen auf. Das auffälligste Verbindungsglied zwischen beiden ist zweifellos die Unterrichtseinheit der Mathesis Medica, die er in beiden Fächern lehrte. Daß zahlreiche Gelehrte Mathematik und Medizin verbanden, ist immer wieder zu lesen  ;283 abgesehen von dem ebenso regelmäßigen Verweis auf die Mechanisierung des Körperbildes im Anschluß an Descartes, wurde die Mathematisierung der Medizin im 17. Jahrhundert von der Forschung bislang aber kaum untersucht. Was soll man sich also konkret unter Magirus’ medizinischer Mathematik, »so einem Medico nötig«, vorstellen  ? Konziser als die Berliner Ankündigung, die gleichwohl bereits dieselben Begründungen aufzählt, gibt die Widmungsrede des Prognosticon von 1655 Auskunft über mathematisch-medizinische Inhalte.284 Magirus erklärte hier Wilhelm Ludwig von Anhalt (1638–1665), dem noch minderjährigen Fürsten und damit vielleicht seinem Schüler,285 die Teildisziplinen der Mathematik (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Geographie, Chronologie, Optik, Musik, Mechanik, Architektur) und wie sie alle außer der Musik und der Architektur in der Medizin zur Anwendung kommen müssten. Die Arithmetik sei, so Magirus, unabdingbar für die Berechnung der Dosen der Medikamente, der milch, Ulrich  : Andreas Hiltebrands Protokoll eines Disputationscollegiums zur Physiologie und Pathologie (1604), in  : Gindhart/Marti/Seidel (2016), S. 49–88. 281 De Ridder-Symoens (2010), S. 51  ; s. auch Nelles (2000), S. 45  : »Private teaching remains a murky aspect of the early modern German university.« 282 Nelles (2000), S. 46. 283 S. z. B. bei Gantenbein (1992), S. 15. 284 S. für die folgenden Zitate  : Magirus, Johannes (1655b), Bl. A2r–A4r. 285 Der Widmungstext spricht auch davon, daß der junge Fürst am Zerbster Gymnasium »unsern Catheder bestiegen, und in dero gehaltenen Oration eine solche Probe der Hoffnung, so wir von derselben geschöpffet, abgeleget, daß wir alle über solche herrliche Gaben und gute Profectus fast bestürtzet worden seynd« (Bl. A4r)  ; zu Magirus und seinen Umgang mit solchen »gelehrten« Potentaten s. Schlegelmilch (2012), S. 400–1.

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Dauer einer Schwangerschaft und der Krisen  ; die Geometrie, »welche von den Quantitäten handelt und dero Eigenschaften«, lehre »proportionem, compositionem, situm« der Körperglieder. Die große Bedeutung des Letzteren, der Kenntnis des Körperaufbaus nach geometrischen Regeln, erläuterte er hierauf anhand der bereits zitierten Passage über das cartesische Körperbild,286 in dem sich Geometrie mit Mechanik verbindet. Es folgen Astronomie und Astrologie (»Der Physicae aber und Astronomiae Frucht ist die Astrologia«), Magirus’ Lieblingsthema. Wieder führt er den hippokratischen locus communis an, nach dem die Astronomie dem Arzt nicht wenig, sondern im Gegenteil sehr viel nütze,287 und verweist auf die Berechnung der »Wechseltage der Kranckheiten«, also die Krisenlehre.288 Dies ist auffälligerweise die einzige Stelle im Text, an der dem Gesagten unmittelbar eine Rechtfertigung folgt, Namen berühmter Ärzte, die sogar »Kayserliche und Fürstliche Leib-Medici gewesen«, aufgezählt werden und auch die Beweiskraft der experientia bemüht wird  : Diese mathematische Kunst war nicht unumstritten und bedurfte aus Magirus’ Sicht offenbar einer Verteidigung.289 Die Geographie sei wesentlich, lesen wir dann, da Klima, ortsspezifische Krankheitsbilder und daher auch die Herkunftsländer mancher Medikamente zu kennen seien. Inwiefern sich hier Medizin und mathematische ars verbinden, bleibt vage (vielleicht durch die Zuordnung der regiones zu bestimmten Sternzeichen),290 ebenso wie auch bei der Chronologie  : Hier heißt es lediglich, sie »weiset dem Medico, was eine rechte Stunde, ein Tag, ein Monat und ein rechtes Jahr etc. sey, wie darvon abermal im Hippocrate, Galeno und andern gelehrten Medicis genugsam zu lesen ist.« Abschließend steht die Optik, wichtig für »die Ursachen der Kranckheiten und Zufälle, so den Augen zuzustoßen pflegen, desgleichen auch die Ursachen, von welchem die unterschiedlichen Farben der Humorum und Urinarum entspringen«. Fast der gesamte Kanon der mathematischen artes war so in der Medizin verankert. Sieben Jahre später, im Jahr 1663, ließ Magirus in Marburg über dieselbe Thematik, das »Medicinae cum Arithmetica, Geometria, Mechanica, Optica, Astronomia et Geographia Coniugium«, auch noch öffentlich disputieren.291 Die Mathesis Medica stellte freilich, wie bereits gesehen, nur eine Unterrichtseinheit in einem viel umfassenderen medizinischen Programm dar. Über dessen Inhalte informieren nun die Kollegankündigungen aus Berlin (1646) und Marburg (1666), wobei die Übereinstimmungen in den beiden Texten, die immerhin zwanzig Jahre auseinanderliegen, in der Zusammenschau mit einigen Kalenderwidmungen deutlich machen, daß Johannes 286 S. Kap. 4.2.2. 287 »Astronomia ad artem Medicam non minimum, sed plurimum confert«  : Hippocrates, lib. de aëre, locis et aquis (Magirus, Johannes [1655b], Bl. A3r). 288 S. Kap. 3.2.1., Claudins Frage 3  : Die Dauer der Erkrankung. 289 S. Kap. 1.3.2. 290 S. Magirus, Johannes (1667a), Bl. D2v–D3r. 291 S. Magirus, Johannes (DISP4). Die einzelnen Gebiete werden hier in Beispielen expliziert, wie z. B. daß die Augen Kugelgestalt haben und das Herz kegelförmig sei (Geometrie). Den meisten Raum nimmt wieder der Text zur (Verteidigung der) Astrologie ein.

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Magirus Mitte der 1640er mit einem medizinischen Lehrkonzept antrat, an dem er über alle Ortswechsel und Jahrzehnte hinweg bis zum Ende seiner akademischen Lehrtätigkeit festgehalten zu haben scheint. Die Aufzählung eigener Qualifikationen, die nach seinen Worten für den Besuch seiner Medizinkollegien sprach, zeigt dabei Parallelen mit der Werbung für seine mathematischen Privatkollegien. Als exklusives Wissen galt auch hier seine im Ausland gesammelte Erfahrung. Bereits in der Ankündigung von 1646 versprach Magirus, »was bereits über einige Jahre von mir mehr mit Sorgfalt als Zeit in den bevölkerungsreichsten Gebieten Europas beobachtet worden ist« zu kommunizieren.292 Später, als er die Professur für Medizin in Marburg innehatte, verfügte er bereits über weitere Erfahrungen, mit denen er werben konnte  : Nun ging es auch um exklusive Patienten. Am ausführlichsten ging er hierauf im Vorlesungsverzeichnis vom März 1676 ein, wo die Studenten lesen konnten, Johannes Magirus werde Collegia Medica practica halten, in welchen er all jenes in aller Klarheit vermitteln wird, was er in den vierzig Jahren, in denen er Medizin gelernt hat und noch immer lernt, und was er in sechsunddreißig Jahren in seiner englischen, französischen, deutschen und polnischen Praxis und an den Höfen der durchlauchtigsten Könige von Schweden und Böhmen, des Kurfürsten und Markgrafen von Brandenburg, des pfälzischen Kurfürsten, des Erzbischofs von Magdeburg und mehrerer Grafen, deren Leibarzt und Rat er gewesen ist, beobachtet hat.293

Solche Ankündigungen zeugten vom ärztlichen Können des Werbenden, hatten doch hohe Würdenträger sich ihm anvertraut.294 Des weiteren war von Fürsten und anderen hochgestellten Personen bekannt, daß sie zu speziellen Erkrankungen neigten und besonderer Therapien bedurften  ; ebenso waren Berichte aus fremden Ländern deswegen von medizinischem Interesse, da deren Einwohner generell andere Konstitutionen und damit auch Krankheitsbilder und -verläufe aufwiesen. Autopsie und experientia wogen also umso mehr, wenn sie besonderen Kontexten wie Fürstenhöfen oder fremden Ländern entstammten. Daneben findet sich auch erneut das Anführen exklusiver, da privater Wissensbestände  : Magirus besaß nach eigenen Worten »unterschiedlich gute manuscripta Medica

292 Magirus, Johannes (KB2), Bl. A4v (lat. Originaltext s. Anhang, Text 1). 293 UBM, VIII A 1167e#, SS 1676  : »(…), in quibus omnia illa, quae per XL annos, quibus Medicinam didicit & hodie adhuc discit, & quae per XXXVI annos in Anglica, Gallica, Germanica & Polonica Praxi, & in Ser[enissimae] Reg[inae] Sueciae, Bohemiae, El[ectoris] March[ionis] Brandenb[urgensis] & Pal[atini] Archepisc[opi] Magdeb[urgensis] aliquot Comit[um] Aulis, quibus a Consiliis Medicis & Politicis fuit, observavit, candide communicavit.« Ähnlich in den Vorlesungsverzeichnissen von 1670 und 1671 (UBM, gleicher Bestand). 294 Gleichzeitig kann man wohl davon ausgehen, daß das gezielte Namedropping eine voyeuristische Neugier wecken sollte, Näheres über fürstliche privatissima zu erfahren  ; immerhin machten die Vorlesungsverzeichnisse Werbung für kostenpflichtige Veranstaltungen.

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und zwar Practica der weitberühmten Königlichen und anderer gelehrten Medicorum Majernii, Praevotii, Mösleri, Arnisaei, Weideneri &c.«, die er »kommunizieren« wolle.295 Der Umgang mit Instrumenten wird für die medizinischen Kollegien nicht so explizit thematisiert wie für die mathematischen. Dies heißt aber nicht, daß ein solches Wissen für die Medizin keine Rolle gespielt hätte – gerade für eine mathematisierte Medizin, wie Magirus sie verstand. Hier kam es, wie bereits gesehen, auf ein präzises Feststellen des Serumgewichts mit der Blutlassschale an, auf das Justieren der Medikation durch eine systematische Kontrolle von Urin im (richtig gehaltenen) Probenglas und nicht zuletzt auf die Berechnung der die Behandlung beeinflussenden Planetenkonstellationen mit den entsprechenden astronomischen Geräten, wie etwa einem Astrolabium, Sextanten oder Jakobsstab. Auch das Verfassen von Rezepten mußte, wie bereits gezeigt, gelernt werden.296 Das komplexeste Instrument war jedoch nach wie vor der Körper des Patienten. Mit dem, was dieser preisgab und wie er reagierte, mußte der Arzt arbeiten. Deswegen war es das Wichtigste, schon in der Ausbildung lebendige Kranke zu sehen  : Der zweite Kurs indes bemüht sich, die innersten Geheimnisse und Heiligtümer der Praxis aus-zubreiten, führt die Kandidaten der Praxis zu den ergötzlichen Plätzen der Beobachtungen und Beratungen, um an lebenden Beispielen die Heilung der Kranken, zu deren Behandlung wir uns verpflichten, zu zeigen, und erklärt die Methode des Erkennens und Heilens auf den Spuren des uns vorangegangenen höchst ehrenwerten [Johannes] Praevotius, gibt Übungen zu Konsultationen vor, korrigiert, zeigt Fehler auf, macht vertraut mit den Beobachtungen und Erfahrungen der berühmtesten Fürsten der medizinischen Kunst, eines Mayerne, eines Mösler, eines Arnisaeus, eines Weidner und ande-rer Heroen in der Kunst, und eröffnet schließlich, was bereits über einige Jahre von mir mehr mit Sorgfalt als Zeit in den bevölkerungsreichsten Gebieten Europas beobachtet worden ist, ohne Mißgunst, ohne Gewinnsucht, ganz offen.297

In diesem Unterricht am Krankenbett ging es darum, mit dem, was in den observationes publizierender Ärzte zu lesen war, ein konkretes Bild zu verbinden. »Beobachtung« (observatio), »lebende Beispiele« (viva exempla), »zeigen« (praemonstrare) und »erkennen« (cognoscere) sind die Schlagworte, die den Kern der Belehrung charakterisieren. Um dies zu gewährleisten, entwickelte Magirus für sein Privatkolleg ein Procedere, das nach heutigem Kenntnisstand das früheste poliklinische Konzept der Frühen Neuzeit für das Reichsgebiet darstellt.298 295 Magirus, Johannes (KB2), A4v. 296 S. Kap. 4.1.1., Thorn und Wittenberg (1631–1635). 297 Magirus, Johannes (KB4), S. Bl. A4r–A4v (lat. Originaltext s. Anhang, Text 2). 298 Der erste poliklinische Unterricht wird für das Alte Reich gewöhnlich um die Mitte des 18. Jahrhunderts angesetzt  : s. Heischkel, E.: Die Poliklinik des 18. Jahrhunderts in Deutschland, in  : Deutsches medizinisches Journal 5 (1954), S. 223–25.

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Schon der Verweis auf Johannes Praevotius (1585–1637), dessen Medicina pauperum erst wenige Jahre zuvor posthum erschienen war,299 läßt erkennen, welche Klientel in Berlin zur Behandlung und zur gleichzeitigen Belehrung der Studenten angedacht war. Am deutlichsten ist der poliklinische Charakter des Collegium in der Vorlesungsankündigung von 1662 beschrieben  : Privat wird er in der Medizin die chymische Anatomie der natürlichen Körper fortsetzen und gleichzeitig ein collegium practicum eröffnen, in welchem er medizinische Fälle vorstellt und diese an armen Kranken vorführt, die hier und da in der Stadt, in den Vororten und benachbarten Dörfern darniederliegen (die er dafür auch kostenlos behandeln wird), und er wird in aller Klarheit mitteilen, was er in seiner Praxis in 23 Jahren beobachtet hat.300

Fünfundzwanzig Jahre, nachdem er selbst in Leiden am dort neu eröffneten collegium practicum teilgenommen hatte, und zwei Jahrzehnte, nachdem er in Berlin mit ersten medizinischen Kollegien begonnen hatte, versuchte Johannes Magirus, ein solches collegium practicum auch für die Studenten der Universität Marburg zu installieren.301 Da ihm die institutionelle Infrastruktur fehlte, die das Leidener Kolleg durch die offizielle Einbindung in das Curriculum der Medizinischen Fakultät besaß, konnte er das dortige Modell nicht analog umsetzen, denn es stand ihm kein an die Universität angebundenes Lehrhospital zur Verfügung – was im übrigen für die deutschen Universitäten zu der Zeit, als er den oben zitierten Text in das Vorlesungsverzeichnis setzen ließ, noch allgemein der Fall war. Folglich entwickelte Magirus ein Konzept, bei dem er die Studenten nicht an einem bereits existierenden Lehrort versammelte, sondern sie mit zu den Kranken nahm, diese in ihren eigenen vier Wänden behandelte und so reale Fälle mit den Studenten besprechen konnte. Interessant ist, daß er sich in der Ankündigung für sein erstes Collegium in Berlin (1646) nicht, wie zu erwarten wäre, auf das collegium practicum in Leiden bezog, das er erst wenige Jahre zuvor besucht hatte, sondern wieder einmal auf Daniel Sennert. Dieser galt auch nach seinem Tod (1639) über lange Jahre als medizinische Autorität. Die einzige Publikation, die Magirus für seine Medizinstudenten besorgte, war dann auch Sennerts Anleitung, wie man Medizin studieren soll (Methodus discendi medicinam, 1672), in einer durch eigene Kommentare aktualisierten Auflage.302 Geschickt verknüpfte Magirus sein Vorhaben mit dem einheimischen Prestige des Wittenberger Professors, indem er ihn im 299 Praevotius, Johannes (1641). 300 UB Marburg, VIII A 1167e#, SS 1662  : »Privatim in Medicina Anatomiam Chymicam corporum naturalium continuabit simulq[ue] collegium instituet practicum, in quo casus Medicos proponet, illosque in aegrotis pauperibus hinc inde in civitate suburbiis, & vicinis pagis decumbentibus (quos propterea gratis curabit) demonstrabit, illaq[ue]  ; quae in praxi sua per 23. annos observavit, candide communicabit.« 301 Das Vorlesungsverzeichnis für das Jahr von Magirus’ Berufung auf die medizinische Professur (1661) fehlt leider. 302 Diese Ausgabe verwendete er im Unterricht  : s. UBM, VIII A 1167e#, WS 1673.

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Ankündigungstext gleichzeitig als den »berühmtesten Medicus seiner Zeit« sowie seinen einstigen Lehrer einführte.303 Sennert habe, so Magirus,304 dem medizinischen Adepten geraten, vor dem Beginn des eigenen Praktizierens einen Arzt zu begleiten und von diesem zu lernen. Im Kern enthält diese Empfehlung die Idee für Magirus’ poliklinisches Konzept  : Um zu vermeiden, daß jeder Medizinstudent einen willigen Arzt in irgendeiner geeigneten Stadt suchen mußte, versammelte er Studenten um sich und ging mit ihnen zu den Kranken, wie er es in Leiden gelernt hatte. Der Anreiz für die Patienten, sich gleich von mehreren Medizinstudenten betrachten (und wohl auch anfassen) zu lassen, sollte offensichtlich darin bestehen, daß sie die (oft eigene Mittel übersteigende) Behandlung durch einen akademischen Arzt kostenlos bekamen. Ärztliche Praxis beschränkte sich in Magirus’ Privatkollegien jedoch nicht allein auf die Präsenz am Krankenbett. Bereits 1646 verkündete Magirus in angemessen blumiger Sprache, er wolle die Studenten durch die »lieblichsten Auen und so viele Pflanzen« führen, damit sie »wie die Bienen das Nützliche« sammelten  ;305 im Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1664 ist zu lesen, er werde »Kollegien der Unterrichtung und Praxis privatim so einrichten, daß die Herren Studenten lernen, Heilmittel gemäß den himmlischen Konstellationen zu säen, zu pflanzen, zu pflücken, zuzubereiten und anzuwenden, wofür Arme kostenlos behandelt werden, der Erfolg der Medikamente beobachtet und Nützliches notiert wird.«306 Medikamentenherstellung forderte hier wieder über die Frage der Dosen hinaus mathematische Kenntnisse  : Jeder Schritt des geschilderten Prozesses, von der Anzucht bis zur Anwendung der Pflanzen, war der Berechnung von Konstellationen unterworfen, die die Studenten hierfür beherrschen sollten. Wie der erneute Hinweis auf die Krankenbehandlung und deren Auswertung zeigt, sollte es auch dabei wieder nicht bei der bloßen Übung auf dem Papier oder einem nur pflanzenbezogenen Handanlegen bleiben. Vermutlich plante Magirus für seinen Botanik-Kurs ebenfalls eine auf die Studenten ausgerichtete – und mit ihrer Hilfe vorzubereitende – Publikation  : Und wie in diesem Stuck die verbesserte Astrologia Medico und Patienten sehr wol an die Hand gehet, so thut sie es auch in den Curen der Patienten, da sie dann erstliche Zeiten und Gelegenheiten an die Hand giebet, bey welchen den Kranckheiten am besten beyzukommen  ; Zum andern die Arzneyen, Kräuter und Wurzeln etc. an ihren Kräfften stärcken und exaltiren lehret. […] Ich habe mich lange gern auch an dieses Stücklein machen wollen und

303 Magirus, Johannes (KB4), Bl. A3v (lat. Originaltext s. Anhang, Text 1). 304 S. Kap. 4.1.1., Thorn und Wittenberg (1631–1635). 305 Magirus, Johannes (KB4), Bl. A4r (lat. Originaltext s. Anhang, Text 2). 306 UB Marburg, VIII A 1167e#, WS 1664  : »Privatim Collegia institutionum & praxeos ita instituet, ut Dn. Studiosi medicamenta secundum coelestes constellationes seminare, plantare, decerpere, praeparare ac applicare discant, quapropter paupers gratis curantur, successus medicamentorum observatur & utilia annotantur.« S. dagegen Hof (1971), S. 29, der zu dem Urteil gelangt, Botanik sei Magirus »nur ein Lippenbekenntnis« gewesen.

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solches excoliren, aber ich bedarff Hülff dazu, wolte Gott daß mir hierinn jemand Gott zu Ehren und dem armen krancken Nähesten zu Nutz an die Hand gehen wolte.307

Ähnlich also, wie Magirus mit seinen Mathematikstudenten auf freiem Feld das Messen übte, lehrte er seine Medizinstudenten, Pflanzen zu ziehen, zu pflücken und zu konservieren. Medikamente bestanden jedoch im 17. Jahrhunderts längst nicht mehr aus nur pflanzlichen Bestandteilen. Auch in die »Chymie«, mit der sich Magirus intensiv beschäftigte (s. o.), sollten die zukünftigen Ärzte für die Herstellung von Heilmitteln Einblick erhalten  : Nebenst diesem so habe ich auch ein Laboratorium Chymicum auffgerichtet, in welchem allerley Kräuter und mineralia, auch Sauerbrunnen anatomiret werden, auch man durch die Gnade Gottes so weit kommen kann, daß Sauerbrunnen zugerichtet werden, welche gantz unschädlich und in ziemlicher Menge gebrauchet und fast eben die Wirckung, welche die natürliche haben, und weit und breit können ohne Schaden verführet werden und die Flüsse, den Stein, die Mutter, Leber, Milz und Gekröse, Verstopffungen, alle hitzige Fieber, melancholische Dämpffe, Magen Schwachheiten heilen können […].308

Das »Anatomieren« bezeichnet hier das Zerlegen von Metallen und Mineralien durch chemische Prozesse. Es war die Voraussetzung für die Reinigung und Potenzierung der Stoffe.309 Nötig war hierfür zumindest die Grundausstattung einer chymischen Werkstatt mit Feuerstelle, Kolben, Destillierhelmen, Kesseln und ähnlichem. Es existiert in den Marburger Akten ein Bericht über die Inventarisierung eines Laboratoriums durch die Leib- und Hofmedici der Landesfürstin, worüber bislang aber nichts Weiteres bekannt ist. Drei Jahre nach Magirus’ soeben zitierter Ankündigung, im Jahr 1669, wurden alle vorhandenen Gegenstände katalogisiert, wobei die Aufzählung einzelner Zimmer deutlich macht, daß das Laboratorium in einem kleinen Wohnhaus mehrere Stockwerke einnahm.310 Vermutlich war dies der Ort, an dem Magirus seine Studenten in der Handhabung einer chymischen Werkstatt unterrichtete, so wie er es in Amsterdam gelernt hatte. In der Berliner Kollegankündigung von 1646 ist für das Erlernen der Medikamentenher-

307 Magirus, Johannes (1662b), Bl. B3r. 308 Magirus, Johannes (KB5), Bl. )(v.; zu diesem Text s. auch Hof (1971), S. 29  ; vgl. zu der intensiven Beschäftigung der Ärzte des 17. Jahrhunderts mit Sauerwassern und Heilbädern den Brief von Gregor Horst d. Ä. an Diterich Helwig, Ulm, 12.1.1631 (Regest [U. Schlegelmilch] mit Editionsnachweis unter  : www.aerztebriefe.de/id/00035526  ; letzter Zugriff  : 13.12.2017). 309 S. Barke (1991), S. 176. 310 S. HStAM, Best. 4b, Nr. 490  : Landgräfin Hedwig Sophie  ; Inventarisierung des Laboratoriums durch Michael Angelocrator, Theodor Christoferus, Johann Goclenius, Wolrath Huxholt, Johann Sältzer, 1669.

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stellung noch entsprechend die »Werkstatt eines Apothekers und die Küche eines Chymikers« vor Ort genannt worden.311 Magirus’ Privatunterricht kann nicht ohne Blick auf die Universität, an der er als Ordinarius unterrichtete, beurteilt werden. Frühere Publikationen zu deren Lehrbetrieb betonten stets, daß in Marburg bis mindestens Mitte des 18. Jahrhunderts kein hortus botanicus existierte,312 auch kein theatrum anatomicum,313 und ein laboratorium chymicum publicum nur für die Zeit von 1685 bis 1730 belegt sei.314 Gleichzeitig waren bei der Neugründung der Universität 1653 aber auch neue Statuten verfaßt worden, die einen Praxisbezug der Fächer explizit wünschten  : Der Mathematiker sollte demnach so oft wie möglich die Sterne beobachten und astronomische und geometrische Inhalte auch mittels der Handhabung von Geräten erläutern, in der Anatomie sollte seziert, in der Botanik Exkursionen unternommen werden, um die Blüten und Früchte der Pflanzen in freier Wildbahn zu studieren.315 Diese beiden Pole – Forderungen auf Papier und tatsächlich vorhandene Infrastruktur – umreißen den Gestaltungsraum der Privatkollegien. Magirus’ Unterricht zeigt exemplarisch, daß die bereits angesprochenen Beobachtungen von Hilde de Ridder-Symoens und Paul Nelles316 auch für die Medizin gelten  : Innovationen konnten im Rahmen der Privatkollegien leichter Fuß fassen, da der private Unterricht sich nach den individuellen Interessen und Kenntnissen des lehrenden Professors richten konnte.317 Dies galt sowohl für die inhaltliche wie die didaktische Ausgestaltung. Völlig frei waren die Universitätsangehörigen in der Gestaltung ihrer privaten Collegia jedoch nicht. Auch hierfür liefert Magirus uns einen Beleg. 4.3.3 Grenzüberschreitungen

Johannes Magirus hatte, wie zu sehen war, sehr konkrete Vorstellungen von praxisbezogenem Lehren. Welcher Erfolg war diesem Unterricht aber beschieden  ? Die in den Berliner Kalendern veröffentlichten Preisgedichte zeichnen – das ist ihre Aufgabe – ein Bild großer, einhelliger Euphorie seitens seiner Schüler und Kollegen.318 In Berlin machte er mit seinem Unterricht aber auch niemandem Konkurrenz  ; im universitären Umfeld konnte dies schon anders aussehen. Bereits sein Aufenthalt in Berlin stellte ja eigentlich eine Reaktion auf einen Konflikt mit der Medizinischen Fakultät der Viadrina dar  :319 Nachdem er ohne Lizenz der Fakultät eine Praxis eröffnet hatte, sollte er erneut promovieren, um eine solche 311 Magirus, Johannes (KB4), Bl. A4r (lat. Originaltext s. Anhang, Text 2). 312 S. Hof (1971), S. 28. 313 S. Jaensch (1924), S. 795–97. 314 S. Hof (1971), S. 35. 315 S. Hof (1971), S. 24–26. 316 S. Kap. 4.3.2. 317 S. auch Clark (2006), S. 153. 318 S. Schlegelmilch (2013), S. 405–07  ; Kap. 1.1.1. 319 S. Kap. 1.1.4.

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zu erhalten  ; stattdessen verließ er die Stadt. Liest man zwischen den Zeilen einiger seiner autobiographischen Texte, entsteht der Eindruck, es könnte hinter seinem Ausweichverhalten noch mehr gesteckt haben. Vielleicht wäre eine erneute Promotion (in Form einer Disputation) trotz des damit verbundenen Geldaufwands sogar machbar gewesen. Seine Rückkunft aus Thorn in die Heimatstadt hatte Magirus 1646 gegenüber dem brandenburgischen Kurfürsten so beschrieben  : nachdem ich aber wiederumb Anno 1640 zu Franckfurt angelanget, bin ich abermal von unterschiedlichen fürnehmen von Adel erbeten, ihnen ein Collegium Mathematicum zu eröffnen, da dann LX Studiosi die Cosmographi gehöret und XXV. die Fortification gelernet haben, nebst welchen dann auch ein Collegium Anatomicum gehalten worden ist.320

Gegenüber den Professoren der Viadrina liest sich dieselbe Rückkehr 25 Jahre später jedoch so  : […] und da ich von dannen widerumb Anno 1641 angelanget, hat mir gedachte berühmte Universität nicht allein wiederumb erlaubet Collegia Mathematica zu halten, sondern auch die Professionem Medicam und Mathematicam freundlichst angetragen, welche aber ich nicht angenommen, weilen der Ort noch sehr verwüstet, auch vom Feinde noch besetzet […].321

Das Angebot an den jungen Magirus, sich selbst in die Gruppe der Frankfurter Professoren einzureihen, findet andernorts keine Erwähnung. Es muß wohl eher als eine fiktive Ausschmückung der Geschichte gesehen werden, die den Adressaten bedeuten sollte, Magirus hätte sogar Teil ihres Kollegiums sein können – eine zum Zeitpunkt der Abfassung für beide Seiten, Schreiber wie Empfänger, glaubhafte Erzählung, hatte Johannes Magirus doch inzwischen in Marburg tatsächlich den Professorentitel und sogar das Dekanat erreicht. Für die konkrete Situation im Jahr 1640 jedoch hätte das Erzählte, wollte man ihm Glauben schenken, bedeutet, die Fakultät hätte Magirus das Praktizieren aufgrund mangelnder (wissenschaftlicher  !) Qualifikation nicht erlauben, ihm aber die Professur der Medizin antragen wollen – eine etwas zweifelhafte Konstruktion. Man kommt dem tatsächlich Geschehenen vielleicht etwas näher, wenn man einem anderen Detail Aufmerksamkeit schenkt  : Magirus eröffnete unmittelbar nach seiner Rückkehr in Frankfurt offensichtlich nicht nur eine Praxis,322 sondern, wie er dem Kurfürsten unbedarft 320 Magirus, Johannes (CP), Brief an den Leser (unpag.). 321 Magirus, Johannes (1671b), Bl. A2v–A3r. 322 Daß Magirus tatsächlich schon begonnen hatte zu praktizieren, zeigt nicht nur der besagte Eintrag in das Dekanatsbuch, sondern auch sein Hinweis zu sudorifera in seinem »Unterricht«, s. Magirus, Johannes (UPR), S. 17  : »Im übrigen nehmen sie sich wol in acht, dann sie leichtlich mißgebähren, wie solches Anno 1641. im Februar. zu Franckfurt an der Oder mir selbsten an einer schwangeren Frauen, welche ich dazumal in der Cur hatte, fürkommen ist.«

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berichtete, auch ein Collegium Anatomicum. Von diesem ist im späteren Text nicht mehr die Rede, sondern dort steht nur, die Universität habe ihm die mathematischen Kollegien erlaubt. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der junge, gerade mal von seiner Studienreise zurückgekehrte Arzt auch in Konflikt mit der Medizinischen Fakultät geraten war, da er – ohne Universitätsanbindung – versuchte, ein medizinisches Privatkolleg abzuhalten. Sein Collegium Anatomicum hätte für den Inhaber des medizinischen Lehrstuhls eine nicht zu unterschätzende Konkurrenz bedeutet. Denn geht man davon aus, daß Magirus sicherlich seine neuesten Erkenntnisse aus Leiden verbreitete, zielte er nicht nur auf die gleiche Klientel, sondern besaß auch noch aktuelleres, durch Autopsie aufgewertetes Wissen  ; vielleicht versuchte er sich sogar auch hier in praktischer Unterweisung.323 Zufällig ist genau aus dem Jahr 1641, als Magirus Frankfurt verließ, ein Sektionsprotokoll des Frankfurter Medizinprofessors Melchior Polisius (1600–1671) erhalten. Es zeigt, daß dieser selbst jede Gelegenheit ergriff, Anatomieunterricht am Anschauungsobjekt abzuhalten, in diesem Fall dem Leichnam eines ertrunkenen Studenten.324 Konkreter faßbar wird eine Konfliktsituation in Marburg. Auch als Professor vermochte Johannes Magirus offensichtlich nicht alles so zu handhaben, wie er es gern gewollt hätte. Er war bereits mehrere Jahre an der dortigen Medizinischen Fakultät etabliert, als seine Landesherrin, die Fürstin Hedwig Sophie von Hessen-Kassel, 1670 einen Beschwerdebrief seiner Kollegen erhielt, deren Vorwürfe in ihrem (allein erhaltenen) Antwortschreiben noch einmal aufgezählt werden  : Gnädige, hoch- und wolgelahrte liebe getreue, Wihr sindt glaubwürdig berichtet worden, was maßen D. Magirus nach seiner wiederrückkunfft von hinnen sich in seinem thun und wesen gantz ohnmanierlich veranlaßen thue, undt es fast das ansehen habe, daß er sich der ihme vielfaltig von uns erwiesenen gnadt mißbrauche, seine Collegas bey uns zu verklagen und die stipendiaten zue schlagen bedräue, denen leuthen zue Mittag und abends in die häuser und küchen lauffe, ihnen was sie kochen und wie sie Ihre [erg.: Familien] tractieren sollen, vorschreibe, diejenige aber, so ihme einwenden, mit ehrenrührigen scheldtworten ahngehe, denen weibern und allesambt gesindtlein collegia halten wolle, anderer extravagantien ganz zu schweigen.325

323 Dazu konnten z. B. auch Tiersektionen dienen, und es bedurfte auch keines besonderen Ortes für solche Demonstrationen  ; Lindeboom weist darauf hin, daß es zu dieser Zeit in den Niederlanden üblich war, »that anatomical research work and even vivisection experiments were performed at the private houses of the investigators  ; in the garden, in a barn or a room adapted for the purpose«  : s. Observationes anatomicae collegii privati Amstelodamensis. Pars prior (1667) and pars altera (1673). Facsimile with an introduction by G. A. Lindeboom (Nieuwkoop 1975), hier S. 11. 324 S. Winter, Reinhold/Rahn, Joachim  : Geschichte der Pathologie im Bezirk Frankfurt (Oder), in  : Zentralblatt für allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie 109 (1966), S. 481–84. 325 UAM, Best. 305a Nr. 5570, Bl. 96  : Hedwig Sophie von Hessen-Kassel an die Universität Marburg, Kassel, 16.6.1670.

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Die Sorge der Professoren galt wohl weniger den von Schlägen bedrohten Studenten  ; auch die Querelen mit den Kollegen um Pflichten und Rechte hielten sich im Rahmen des Üblichen. Das Interessante an dieser Passage ist vielmehr, daß Magirus’ Versuche einer volkssprachlichen Gesundheitsaufklärung universitätsferner Schichten nicht mit dem Selbstverständnis der Professoren vereinbar waren. Es paßte ihnen offenbar nicht, daß er in die Privathäuser der Stadtbewohner ging, was im Rahmen eines Krankenbesuches eigentlich ohne Weiteres möglich war, und sie diätetisch beriet (ein Thema, das er im übrigen in diesem und den vorhergehenden Jahren für alle möglichen Lebensmittelgruppen in seinen Kalendertexten behandelt hatte).326 Außerdem wollte er – unerhört – für Frauen und Dienstpersonal Collegia abhalten. Der Ausdruck »weiber und gesindtlein« lässt zuerst an Frauen denken, wie sie Johann Heinrich Bossen so gern beschimpfte.327 In der Universitätsbibliothek Marburg befindet sich jedoch ein Buch aus Magirus’ Besitz, mit dem zusammen sich ein präziserer Hinweis auf die besagten »Weiber« erhalten hat. Es handelt sich um ein recht teures Exemplar der Rudolphinischen Tafeln von 1627, das Magirus nach dem Besitzeintrag bereits als Schüler in Thorn (1633) besessen hatte. Es trägt einen für seine Zeit schon anachronistisch wirkenden Pergamenteinband, der aus einem reich illustrierten Missale geschnitten zu sein scheint. Auf der Vorderseite hat sich am unteren Buchrand, direkt auf das Pergament geschrieben, eine kaum noch sichtbare, da heute stark verblasste Notiz in Magirus’ Handschrift erhalten. Nach dem, was noch zu lesen ist, enthält sie die Feststellung, dieses Buch gehöre Magirus, sowie die Aufforderung, es einer Frau Bürgermeister (Name nicht lesbar) zu überbringen, und die Bemerkung, sollte dies nicht geschehen, werde Magirus davon erfahren.328 Offensichtlich unterrichtete Magirus also auch Frauen in Mathematik und Astronomie. Ganz undenkbar war es nicht, daß Frauen sich mit diesen Gebieten beschäftigten.329 Für die Marburger Professoren scheint es jedoch unerhört gewesen zu sein, daß Magirus für seinen Unterricht Kundinnen akquirierte. Stein des Anstoßes war also die Klientel, der er Wissen vermitteln wollte, nicht das Wissen als solches, oder eine von den Kollegen empfundene Konkurrenz. In der reichlich starren, durch Rituale strukturierten und reglementierten Welt der Universität konnte nicht jeder einfach tun und lassen, was er wollte  ; besondere Lehrinhalte mußten im Rah326 S. Schlegelmilch (2016a), S. 173–74. 327 S. Kap. 3.3.2. 328 S. UBM, Sign. XIII d A 38  : »Dieses Buch gehört H. D. Magirus und wirdt hoffentlich der Frau Burgmeister [Jochem  ?]husen zugestellet werden weiters werden wir […] wissenschaft haben«. 329 S. Magirus, Johannes (1651b), Bl. A2v  : »Wenn denn, Durchleuchtigste Fürstin, Ew. Fürstl. Durchl. sich auch in der Mathesi und in derselben tieffsten Speculationen sehr wol geübet unnd dieselbe hoch halten, wie ich auß unterschiedlichen gnädigsten Diskursen, die E. Fürstl. Durch. mit mir gehalten, unterthänigst gespüret […]«. Die Tochter des Arztes Heinrich Cunitz, Maria, war als publizierende Astronomin bekannt  : s. Guentherodt, Ingrid  : Maria Cunitia. Urania propitia  ; Intendiertes, erwartetes und tatsächliches Lesepublikum einer Astronomin des 17. Jh., in  : Daphnis 20 (1991), S. 311–53  ; ebenso betrieb die Ehefrau des Astronomen Johannes Hevelius, Elisabeth Koopman Hevelius, eigenständig astronomische Forschung  : Cook, A.: Johann and Elizabeth Hevelius, astronomers of Danzig, in  : Endeavour 24 (2000), S. 8–12.

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men der Statuten vertretbar sein. Frauen waren dabei gar nicht so grundsätzlich von allen Veranstaltungen ausgeschlossen, die Satzungen von 1653 legten im Gegenteil sogar ausdrücklich fest, daß Hebammen Zutritt zu den Leichenöffnungen haben sollten.330 Aber daß jede Frau, die den Geldbeutel dazu hatte, Unterricht bekommen sollte, dürfte eine undenkbare Vorstellung für die Academia gewesen sein. Die Fürstin beurteilte im übrigen die Beschwerde auffällig nachsichtig zugunsten ihres aufklärerischen alten Bekannten,331 wies darauf hin, daß er ihr Mitleid habe wegen seiner kürzlichen »gemüthsverrenkung«,332 und wollte sein Verhalten nicht »einiger bosheit zumessen«. Sie gestand den sich beschwerenden Professoren immerhin zu, daß »sothanes sein Betragen zur dehonestierung seiner Person weniger nicht als der profesion und universität selber zue schimpf gereichet«, ging aber in ihren Anweisungen nicht weiter, als daß diese Magirus bei neuerlichem unprofessoralem Verhalten nahelegen sollten, sich verständiger zu verhalten. Johannes Magirus war nicht der Einzige, dessen Innovationsstreben an institutionellen Grenzen scheiterte. Hugh-Trevor Roper schilderte, wie Théodore Turquet de Mayerne (1573–1655)333 offensichtlich schon 1594 Erfahrungen gemacht hatte, die in vielem auffällige Parallelen zeigen. Wie Magirus auf seiner peregrinatio in den Niederlanden, hatte auch Mayerne im südfranzösischen Montpellier ein sehr offenes Ausbildungssystem kennengelernt, das einen freien Austausch zwischen Apothekern, Chirurgen und Medizinstudenten förderte, und im Vergleich zu dem ihm die Pariser Medizinische Fakultät altertümlich und starr vorkam  : There [d. h.: Montpellier, Erg. d. Verf.], he would write, he had not been tought ex cathedra, or by reading commentaries, but by visiting the sick, touching and questioning them while still a pupil  : ›I learnt through the dangers of the citizens and by practice among the dead‹.334

In Paris eröffnete Mayerne dann, ganz wie Magirus nach seiner Heimkehr nach Frankfurt/ Oder, eine Praxis und versuchte voller Tatendrang all das zu etablieren, was er im Studium als so lehrreich empfunden hatte  : But it seems that, on arrival in Paris, Mayerne, under the protection of la Rivière and du Chesne, and largely in partnership with them, had set up a private practice and given 330 S. Jaensch (1924), S. 788  ; ein Brief des Arztes Heinrich Meibom aus Helmstedt beweist, daß solche Sektionen für ein Hebammenpublikum tatsächlich stattgefunden haben  : Heinrich II. Meibom an August von Braunschweig-Lüneburg, Helmstedt, 16.7.1666 (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 55 Extrav. 2°, Bl. 188–91 (Regest [U. Schlegelmilch] unter www.aerztebriefe.de/ id/00027688  ; letzter Zugriff  : 13.12.2017). 331 S. Kap. 1.4.3. 332 Der Brieftext deutet einen Trauerfall an, geht auf diesen aber nicht näher ein. 333 S. Kap. 4.1.2. (Amsterdam). 334 Trevor-Roper (2006), S. 26.

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public lectures and demonstrations in surgery, anatomy and pharmacy. He himself states that he publicly expounded the doctrines of ›Mesuë‹ – i.e. Arab medicine – to the apothecaries  ; that he engaged in public disputations  ; that he dissected human corpses with his own hand, before a crowd of learned observers  ; and that he successfully compounded his own medicine, accompanied by a personal assistant. In other words he invaded the field of the professors of anatomy and pharmacy, and worked with his hands among surgeons and apothecaries.335

Interessanterweise löste die Medizinische Fakultät in Paris das Problem auf die gleiche Weise wie die in Frankfurt/Oder  : Mayerne wurde verboten zu praktizieren, weil er nicht in Paris promoviert worden sei, und dies setze wiederum zwei Jahre Studium an der Pariser Universität und das Bezahlen von 1500 Écus voraus.336 Ohne einzugestehen, daß ihnen durch ihn eine große Konkurrenz in der Lehre entstand, wären die Pariser Professoren Mayerne so beinahe losgeworden, den die praktizierenden Ärzte in der Stadt genauso mit Argwohn betrachteten, weil er mit den Händen arbeitete und Medikamente herstellte.337 Beide Beispiele zeigen, daß sich die etablierten Universitäten von Unterrichtskonzepten bedroht fühlten, die Standesgrenzen aufzulösen und damit exklusiv verwaltetes Wissen freizugeben gefordert hätten.

335 Ebd., S. 42. 336 Ebd., S. 42–43. 337 Ebd., S. 26. Tatsächlich hatte die Pariser Fakultät nur deshalb keinen Erfolg, da der englische König Mayerne zu seinem Leibarzt berief und daraus folgende Verpflichtungen ihn ohnehin aus Paris wegführten  : s. ebd., S. 43.

5. Ausblick

In Manipeln nämlich, Pugilen, Maßen, Libren, Unzen, Drachmen, Skrupeln und Gran zählt ein Arzt heutzutage seine Medikamente und die Zubereitung der Medikamente, er zählt im menschlichen Körper die Knochen, Muskeln, Venen, Arterien und Nerven  ; er zählt die Tage und Zeiten der Geburt aufs Akkurateste […]. Er zählt die Krankheiten, er zählt die Zeiten und die Dauer von Krankheiten in Jahren, Monaten, Tagen, Stunden  ; er zählt die Perioden, Krisen, kritischen Tage.1

Johannes Magirus mathematisierte die Medizin und damit auch die Natur an sich. Körper sollten mathematisch verstehbar sein  : in der Geometrie, in der Astronomie, in der Anatomie. Ärztliche Praxis sollte auf mathematisch beschreibbaren Größen beruhen  : auf der meßbaren Menge von Serum im Blut, dem Auszählen von Krisentagen, den nach festgelegten Proportionen gemischten Medikamenten. Auf der Grundlage zielgerichteter Beobachtung und Forschung strebte er nach der Entwicklung neuer Therapiemethoden gegen Geißeln der Menschheit wie die »Schwere Noth«  ; seine praxisbezogene Lehre, organisiert in einer Frühform des poliklinischen Konzepts, sollte aus jungen theoriehörigen Medizinern fähige praktische Ärzte machen. Blickt man auf seinen Unterricht – in der Landessprache und auch für Gruppen außerhalb der Academia (Frauen  !) – könnte man ihn zu einem Vertreter der Frühaufklärung erklären. All dies zeigt  : Johannes Magirus würde sich hervorragend eignen, um entlang des Grundnarrativs der »Scientific Revolution« den Aufbruch des 17. Jahrhunderts in unsere von den Naturwissenschaften geprägte, aufgeklärte Gegenwart zu beschreiben.2 Zu Recht ist aber dieses wirkmächtige Konzept in den letzten beiden Jahrzehnten einer gründlichen Revision unterzogen worden.3 Der Begriff der »Revolution« wurde als unbrauchbar erkannt, bezeichnet er doch einen abrupten punktuellen Umsturz, während sich Entwicklungen wie die Ablösung der aristotelischen Naturphilosophie durch eine

1 Magirus, Johannes (DISP4), Bl. A2r  : »Manipulis enim, pugillis, mensuris, libris, unciis, drachmis, scrupulis & granis Medicus quotidie fere medicamenta & medicamentorum praeparationes numerat, numerat in corpore humano ossa, musculos, venas, arterias, nervos &c  ; numerat dies temporaque partus exactissime […]. Numerat morbos  ; numerat tempora & durationem morborum per annos, menses, dies, horas  ; numerat periodos, crises, dies horasque criticas.« 2 Osler (2000), S. 11 faßt die wesentlichen Beschreibungskriterien des Konzepts zusammen  : »the finite Aristotelian cosmos was replaced with an infinite Newtonian universe  ; nature was mathematized and mechanized  ; and experiment came to play an important role in justification of scientific theories«. 3 Den Auftakt bildete Steven Shapins programmatische Aussage »There was no such thing as the Scientific Revolution, and this is a book about it.«  : S. Shapin, Steven  : The Scientific Revolution (Chicago 1998), S. 1.

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naturwissenschaftliche Methodik doch über Jahrhunderte hinzogen.4 Die Menschen in diesen Jahrhunderten verstanden wiederum unter einer »revolutio« gerade nicht eine grundlegende Erneuerung, sondern – wie auch Johannes Magirus in seinem Solarhoroskop5 – die Rückkehr zu einem Gegenstand.6 Am wesentlichsten aber ist für die Einordnung all dessen, was bisher in dieser Untersuchung entwickelt wurde, daß es sich bei dem Konzept der »Scientific Revolution« schon um eine ihrerseits historische Konstruktion handelt  : »[…] the revolution was constructed in the eighteenth century when natural philosophers selectively took up Newton’s physics and mathematics while ignoring his alchemical and theological views«.7 Isaac Newton steht auch in diesem Zitat wieder programmatisch für die Entwicklungen, die die Moderne gerne als ihr Erbe des 17. Jahrhunderts identifiziert  ; er wird auch heute stets aufs Neue in teleologischer Perspektive als End- oder Anfangspunkt geistesgeschichtlicher Untersuchungen gewählt.8 Paula Findlen hat jedoch ein anderes, viel interessanteres Bild dieser schon ikonisierten Figur der Wissenschaftsgeschichte entworfen  : Isaac Newton (1643–1727) war ein Mathematiker, der auch fasziniert war vom Bau eigenartiger Maschinen, von alchemistischen Experimenten und den erstaunlichen Vorhersagen der Judizialastrologie.9 An seine Seite tritt nun Johannes Magirus (1615–1697)  : ein Mathematiker, der Unterseebote und Drachenfeuer entwarf, Erfahrungsberichte von Chymikern las und Kalender und Horoskope berechnete.10 Begibt man sich auf die Suche nach einer charakteristischen Signatur des 17. Jahrhunderts, scheint es sinnvoll, sich gerade mit den nach heutigem Urteil abwegigen Interessen einzelner Figuren zu beschäftigen (d. h. solchen, die bei der Konstruktion einer idealen, sich aus immanenter Notwendigkeit selbst vorantreibenden Wissenschaft gerne unterdrückt wurden),11 anstatt den Versuch zu unternehmen, stets aufs Neue unsere eigene Gegenwart in der Vergangenheit aufzuspüren. Die für uns wohl größte Fremdheitserfahrung im Hinblick auf Magirus’ Praxis löst die starke Rolle der Astrologie in Diagnostik, Prognose und Therapie aus. Sie stört das idealisierte Bild eines frühneuzeitlichen Arztes in seiner »fortschrittlichen« Ablösung von metaphysischen Irrtümern und seiner Hinwendung zur Vernunft der Naturwissenschaften, da der Glaube, daß die Planeten Auswirkungen auf Erde und Menschen haben könnten, in unserer Gegenwart gemeinhin als Aberglaube belächelt wird. Dennoch war die Astrologie   4 S. Osler (2000), S. 4.   5 S. Kap. 3.2.7.   6 S. Dobbs (2000), S. 25  : »[…] the term has carried the implication of a cyclical turning, a turning around, or even a turning back, a return to an original position, just as Copernicus used in the title of his book On the Revolutions of the Celestial Spheres.«   7 Osler (2000), S. 5.   8 Zu diesem Phänomen stellt Dobbs (2000), S. 29 die treffende Frage  : »Have you ever stopped to count the number of books that either begin or end with Isaac Newton  ?«.   9 S. Findlen (2000), S. 234–35. 10 S. Kap. 1.2.3.; 3.3.: Resümee  ; 1.4.2.; 3.2.7. 11 S. Osler (2000), S. 6.

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für die hier untersuchte Praxis konstitutiv, wie auch für viele andere, iatromathematisch ausgerichtete Praxen des 16. und 17. Jahrhunderts  ;12 im 18. Jahrhundert verschwindet dieser Baustein ärztlicher Praxis dann, und man darf fragen, warum – eine alle Stände durchdringende, in wenigen Jahrzehnten schon bereitwillig und flächendeckend rezipierte »aufgeklärte« Geisteshaltung wäre eine denkbar unglaubwürdige Konstruktion. Da es hier im Kern um das Wesen ärztlicher Praxis im 17. Jahrhunderts und dessen Verständnis geht, scheinen einige Überlegungen zum Thema der Astrologie und ihrer Bedeutung für den damaligen medikalen Raum angemessen. Geht man zuerst ganz konkret von Johannes Magirus aus, so ist ein wesentlicher Umstand, daß er bereits in jungen Jahren, weit vor seiner Beschäftigung mit der Medizin, im Rahmen des Quadrivium durch Benjamin Ursinus die Kepler’sche Astronomie samt ihrer astrologischen Implikationen kennenlernte.13 Gewöhnlich wird aber in der Geschichts­ schreibung der Naturwissenschaften darin, daß Johannes Kepler sein astronomisches Modell ausschließlich auf mathematischen Beweisen basieren ließ, der Beginn der Koppelung eines naturwissenschaftlichen Wahrheitsanspruchs an mathematische Formulierbarkeit gesehen.14 Es ist nun nicht nachweisbar, wäre aber durchaus denkbar, daß Johannes Magirus das Kepler’sche Kriterium der Berechenbarkeit »wahrer« Ergebnisse aus dem Bereich der Kepler’schen Astronomie über die Brücke der Astrologie, die für ihn eine ärztliche Praktik darstellte, auf andere Bereiche seiner späteren ärztlichen Praxis übertrug – ließ sich hier auch nicht alles in Formeln fassen, so gab es doch in einigen Bereichen die Möglichkeit zu messen, zu zählen, zu rechnen, d. h. genauso evident »wahre« Ergebnisse zu produzieren, wie es Himmelsbeobachtungen, Ephemeridentabellen und damit errechnete Horoskope taten. Dies ist in der Tat eine spannende Überlegung, denn sie würde bedeuten, daß ausgerechnet die Astrologie als das von späteren, »aufgeklärten« Wissenschaftlern vielleicht am meisten verspottete, da »abergläubische« Phänomen des barocken Zeitalters in der Ausbildung seiner Praxis eine Scharnierfunktion ausgefüllt hätte zwischen der heute als naturwissenschaftlich bewerteten Methodik Keplers und dem, was in Magirus’ Praxis »naturwissenschaftlich-modern« wirkt. Das Phänomen der Astrologie im Rahmen der frühneuzeitlichen Wissenschaften regt, auch ganz unabhängig von Magirus, zu Fragen an. Nikolaus Copernicus (1473–1543), Tycho Brahe (1546–1601), Johannes Kepler (1571–1630) – sie alle werden gewöhnlich als Wegbereiter der Moderne gefeiert.15 Ihnen allen ist gemein, daß sie sich mit ihren astronomischen Modellen gegen überkommene Autoritäten stellten  ; genauso ist ihnen gemeinsam, daß sie dies taten, ohne daß sie auf den Gedanken gekommen wären, im Zuge einer Erneuerung der Astronomie ein Verwerfen der Astrologie einzufordern. Ge12 Dies zeigt sich u. a. an dem großen Anteil von Ärzten unter den Kalendermachern  : s. Herbst (2008), S. 207  ; Barnes (2016), S. 34–35. 13 S. Kap. 1.3.2. 14 S. Henry (32008), S. 24–25. 15 S. Osler (2000), S. 3 zu den kanonisierten Größen der »Scientific Revolution«.

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rade Johannes Kepler, den Magirus immer wieder in den Kalendertexten als sein Vorbild benennt, wollte den Einfluß der Planeten auf die sublunare Welt unbedingt gewahrt wissen.16 Hierfür mußte es einen Grund geben, und er lag wahrscheinlich nicht in mangelnder Courage angesichts der eigenen, weltumstürzenden Fortschrittlichkeit. Die Astrologie mußte in irgendeiner Hinsicht einen Sinn ergeben, und dies nicht nur als Identitätsangebot an vereinzelte Individuen – Johannes Kepler und Johannes Magirus gehörten nicht zu einer kleinen, exklusiven Gruppierung. Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg von Magirus’ Praxis war vielmehr die breite Akzeptanz des Modells auch auf Seiten seiner Patienten. Das Planetenballett der Herzogin von Braunschweig17 zeigt, wie tief verwurzelt im Weltbild des Adels die identitätsstiftende Analogie von Mikro- und Makrokosmos war. Der große Absatz von Kalenderschriften im 16. und 17. Jahrhundert belegt gleichzeitig das Bedürfnis auch breiterer Bevölkerungsschichten, ein kosmisches Koordinatensystem neben der göttlichen Ordnung zur Erklärung übergroßer Geschehnisse zu besitzen.18 Innerhalb des sozialen Raumes, in dem Magirus sich mit seinen Patienten bewegte, ergab die Astrologie somit Sinn, einen – gemäß Pierre Bourdieu – »sozialen Sinn«.19 Sie bestätigte – noch dazu in dem von Magirus selbst propagierten Modell einer »christlichen Astrologia« – die ständische Gesellschaft in ihrer als gottgewollt empfundenen Ordnung durch metaphysische Bilder und Allegorien (»Sonnenkönig«), deren physikalische Erscheinungsformen in Sonne und Mond und nächtlichem Sternenhimmel zudem jedermann sichtbar waren. Astrologie erzeugte aber auch im Kleinen stets erneut Sinn, nämlich für jeden Einzelnen, dem sie durch ihre Prognosen half, Unheil im Alltagsleben für kontrollierbar anzusehen (z. B. durch Kalenderhinweise wie »heute schlecht Aderlassen«) sowie bedrohliche Körperzustände zu deuten und zu begründen. Was im Großen als Erklärung kosmischer Ordnung bereits breite Akzeptanz in der Gesellschaft besaß, spiegelte sich im Kleinen in der ärztlichen Praxis und präsentierte sich dort als konkrete Anwendung  : Der 16 Peter Barker (1996), S. 544 benannte das hieraus für die traditionelle Perspektive auf Kepler entstehende Dilemma  : »[…] animism and astrology are not part of the modern scientific synthesis, so it is difficult to understand what role they play in the work of someone like Kepler, whose scientific work is supposed to be continuous with our own.« 17 S. Kap. 1.4.2. 18 S. Kap. 3.2.7. 19 Ein in Hinsicht auf die ärztliche Praxis besonders interessanter Aspekt ist hier, daß Bourdieu im Zusammenhang mit Praktiken, die er als sinnvoll bezeichnet, stark auf den menschlichen Körper eingeht, der in diese Sinngebung integriert ist  : »In allen Gesellschaftsordnungen wird systematisch ausgenutzt, daß Leib und Sprache wie Speicher für bereitgehaltene Gedanken fungieren können, die aus der Entfernung und mit Verzögerung schon dadurch abgerufen werden, daß der Leib in eine Gesamthaltung gebracht wird, welche die mit dieser Haltung assoziierten Gefühle und Gedanken heraufbeschwören kann […]«  : Bourdieu, Pierre  : Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft (Frankfurt/M. 1999), S. 127–28. Für einen Kranken des 16. und 17. Jahrhunderts könnte das bedeuten, daß bspw. Schmerzen an einer bestimmten Körperstelle oder zu bestimmten Zeiten automatisch eine astrologische Auslegung aufriefen, die zudem verstärkend in der Alltagskultur über Laßtafeln, Kalenderpiktogramme u. ä. visuell präsent war.

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Sinn der Astrologie bestand hier darin, daß man durch ihre Prämissen (Einflußnahme der Gestirne) das, was berechnet wurde, von bloßen Zahlen in eine lebensweltlich relevante, da den menschlichen Körper betreffende Information übersetzen konnte. Wenn die Astrologie solchermaßen Sinn ergab, warum verschwand sie mit dem 18. Jahrhundert aus der ärztlichen Praxis  ? Die Nachfrage von Seiten der Patienten hielt vermutlich an – denn Kalender und Almanache als astrologisch ausgerichtete Ratgeberliteratur wurden weiterhin gedruckt und verkauften sich gut  ;20 Johann Wolfgang von Goethes Geburtshoroskop (1749) beschäftigt die Forschung bis heute.21 Folglich müßte die Ursache für das Verschwinden astrologischer Praktiken aus dem Behandlungskontext eher auf der Seite der Ärzte liegen. Mitunter gibt es Hinweise, daß diese verunsichert waren, was die im Verlauf des 17. Jahrhunderts immer stärker verbreitete Abkehr von der aristotelischen Physik für die ärztliche Praxis bedeuten würde. Paulus Buchius, ein niederländischer Arzt, machte am Ende des 17. Jahrhunderts seinem Unmut über den in seinen Augen so augenfälligen Reduktionismus der Cartesianer Luft  : Now as to Modern Philosophy, I have experienced it to be only conversant about things visible and palpable to teach nothing at all of that which is essential, or of the Nature and Origine of things. For when at any time we endeavoured to reduce it to use, thereby to dissect and know natural things and to attain knowledge of Man and his Diseases (for Medicine belongs to Philosophy, and the knowledge of Nature and Philosophy, if true, includes the knowledge of Medicine) I always found it void of Truth, and that it could not give me the knowlegde of Distempers, nor the causes of them  : which Experience made me see that Modern corpuscular Philosophy is nothing else but a heap of words.22

Verdichtet findet sich in diesem Zitat, was die Ärzte des 17. Jahrhunderts als ihre Auffassung von einer aus der Praxis entstandenen und weiter entstehenden Medizin vertraten, die es gegen den neu aufkommenden mechanistischen Ansatz zu verteidigen galt  : Reduziert man den Menschen auf eine vom Universum losgelöste Einheit, anstatt ihn in dessen größere physikalische Zusammenhänge einzubetten, die die Naturphilosophie umfassend beschreibt, so kann sich aus der Praxis kein wahres, Ursachen benennendes medizinisches Wissen (»knowledge«) mehr entwickeln,23 da alles auf der oberflächlichen Ebene empirischer Beobachtungen verbleibt  : »only conversant about things visible and touchable«. Die Aufgabe allgemeingültiger Ursachen bedeutete zugleich, den Menschen aus der ihn umgebenden und ihn gleichzeitig über universale Gesetzmäßigkeiten einschließenden, 20 S. Greiling, Werner  : Zeitverkürzende Wahrsager. Schreibkalender aus zwei Jahrhunderten (Jena 2016)  ; s. darin den Faksimileabdruck zum »Zeitverkürzenden Wahrsager« des Jahres 1753, dessen Gestaltung mit Piktogrammen etc. noch ebenso gehalten ist wie Magirus’ Kalender. 21 S. Deschler, Jean Paul  : Die Astrologie in Goethes Weltschau  : ein Beitrag zur Gottesfrage in seinem Leben und Werk (Frankfurt/M. 2000). 22 Buchius, Paul (1693), Bl. A4v. 23 Vgl. Kap. 4.1.3.

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Ausblick

geordneten Welt herauszureißen und zu vereinzeln  ;24 sie bedeutete aber auch, sich auf das Niveau der beschimpften Empirici hinunterzubegeben, die unter Vernachlässigung der Ursachen einzig und allein auf Grundlage beobachteten Erfahrungswissens behandelten. Die »Kenntnis der Ursachen« stelle das identifikatorische Element der akademischen Ärzte dar und sprach deswegen für die Astrologie als eine dahingehend zuverlässige und präzise Praktik, da sie über die Lehre berechenbarer Aspekte ebensolche Ursachen aufzeigte. Um letztgültig zu klären, was von ärztlicher Seite zu einem Verschwinden der astrologischen Praxis führte – ob bspw. die Etablierung der mechanistischen Physik das bisherige Gedankengebäude nicht mehr trug und sich die Astrologie deswegen aus der Praxis akademischer Ärzte in die Zuständigkeit anderer Dienstleister verlagerte  : Hierfür bedürfte es einer weiteren, z. B. auch auf Praxistagebücher der Zeit um 1700 ausgeweiteten Untersuchung. Festzuhalten bleibt, daß die ärztliche Praxis des 17. Jahrhunderts auf die Astrologie als gesellschaftskonformen Wissensbestand zurückgreifen und dieser wiederum einen wichtigen Baustein für eine funktionierende, da sinnstiftende Arzt-Patienten-Kommunikation bilden konnte. Johannes Magirus steht stellvertretend für diese epochenspezifische Praxis, die in ihrer Eigenlogik gesehen werden muß, ohne die Sicht auf ihre Eigenart durch den Bezug auf traditionelle Fluchtpunkte der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte zu verstellen.

24 In diesem Punkt liegt eine Diskussion vor, die tatsächlich für das heutige Wissenschaftsverständnis der Medizin wieder hochaktuell ist  ; so wird auf dem Gebiet der Hirnforschung intensiv diskutiert, warum der Mensch, und mit ihm sein komplexestes Organ, das Gehirn, in rein deterministischem Verständnis als vereinzelte Struktur nach den Regeln der klassischen (aus dem 17. Jahrhundert hervorgegangenen Physik) zu verstehen sein soll, obwohl die seit einem Jahrhundert bewiesene Quantenphysik universal gültige Gesetze formuliert, die auch auf neuronale Prozesse anwendbar sind  : s. Krüger, Ralf  : Quanten und die Wirklichkeit des Geistes. Eine Untersuchung zum Leib-Seele-Problem (Bielefeld 2015), S. 34. Interessanterweise formuliert hierbei das quantenphysikalische Protyposis-Konzept die gleichen Vorstellungen wie die Substanzmetaphysik des Aristoteles (ebd., S. 83–87), die die Ärzte des 17. Jahrhunderts im Rahmen der Physica studierten.

Anhang  : Edierte Quellentexte

Es wurden längere Texte aufgenommen, auf die in dieser Monographie mehrfach Bezug genommen wurde und die in ihrem vollen Umfang als Quellentexte weiterer Studien von Interesse sein können.

Text 1  : Ankündigung des mathematisch-praktischen Kollegs in Berlin, 1646 (KB2  ; Nachweis s. Quellenverzeichnis) Lateinischer Wortlaut Johannis Magiri. D. Medici & Mathematici Berolinensis Collegii Mathematici Practici. Quod Divino adspirante Numine Berolini autor celebrat, epistolica Declaratio, Rogatu Philomatematicorum non paucorum ad vitandas crebrae transcriptionis molestias typis expressa. Berlin  : Runge 1646. [A1r] Ita est ut scribis, Clarsissime atque Amicissime N.N. Mathematicarum artium studia, cultoribus suis non minorem jucunditatem, quam utilitatem afferunt  : Fortificatoria certe & Geometria, Viris Politicis & Militaribus prorsus necessariae sunt. Illi absque earum scientia, nec jus, circa limites confusos litigantibus satis recte administraverint, nec imperitorum eo in genere fallacias satis effugerint  : Hi, credita sibi loca, una cum vita bonisque suis vix satis fuerint tutati. Historia vero Geographiae & Geometriae imperitis, hinc inde veluti muta est  : Peregrinationes sine Fortificatoria saepe ineptae. Quid  ? quod ipsae sacrae literae plurimis in locis obscurae maneant necesse est, artium Mathematicarum ignaris Medici vero, earundem cognitione destituti, quam graviter in morborum curationibus hinc inde hallucinentur, & eorum doctissimi palam profitentur, & res ipsa loquitur. Eo minus detrectanda mihi fuit, plurimis amicorum petentibus & approbantibus, practici cujusdam Collegij Mathematici institutio, praesertim cum absque praxeos medicae detrimento, ei hic loci vacare posse videar. Brevem ejus delineationem tibi tam enixe efflagitanti, non possum nec debeo diutius denegare. Paucis igitur eam hic habe. Absolvitur illud quatuor partibus Vestibulo, Janua, Atrio, & ipso Palatio, Vestibulum duobus quasi constat gradibus, Arithmetica & Schematographia. Illa triplex est, vulgaris, Logarithmica & Rabdologica, in quibus multiplicationis & divisionis in additionem & subtractionem metamorphosis est eximia, Logarithmis nobis per inventum Güntheri Angli novum ad 435300. continuatis, qui quod paucioribus scilicet sex tantum comprehenduntur schedis sunt gratissimi, Ac tandem decimali Logistica concluditur  : Schematographia problemata continet Geometrica discendis hisce artibus necessaria.

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Anhang  : Edierte Quellentexte

Duas habet valvas Janua, Theorematographiam & Trigonometriam, illa demonstrationes cum suis in praxi fructibus amplissimis, rem certe (quae nondum nisi a Petro Dou Belga tentata & a D. Origano continuata est) utilissimam. Haec iterum est vel Arithmetica vel Schematica, illa numeris agit, vulgaribus scilicet & Logarithmicis, haec circino tantum & linea, inventum, numerorum hostibus acceptissimum & calculo probando fere necessarium. Ventum jam in Atrium, quod sex exornant porticus, ex quibus tres, lineas, Altitudinum scilicet, Profunditatum & distantiarum, quarta Superficiem mensurant, quam quinta partitur, sexta delineat ichnographice, ultima, est septima Stereometria scilicet, qua illud finitur. Et jam ecce se pandit Palatium Architectonicae Militaris Augustissimum, quod quinque se ostentat conclavibus  : Primum scilicet, & amplissimum Fortificationem. [A2r] Generalem continet  : Secundum ab hoc figuras, quas Regulares vocant ut & operas externas pingit & aedificat. Tertium Irregulares figuras munire docet, quas Quarta urbibus, fluviis, littoribus, & montibus applicat, Quintum castra delineat, metitur, firmatque, munimenta oppugnat & oppugnata defendit. Totum hoc opus a me conscriptum librum mole exiguum at rebus refertissimum ad institutum nostrum necessariis, speculativis & parergis relegatis omnibus. Illud ex optimis quibusvis authoribus, Latinis, Germanis, Belgis, Gallis & Anglis, quorum libros Practicos facile intelligo, vulgatiora comprehendens, est compositum, secretiora, ut sunt Circinus Chedecanti, linea Otteri Fortificatoria & meum Transportorium, Architectonicas, margaritas, meis tantum reservo Auditoribus  : Caeterum lingua doceo vernacula  : Methodus mihi talis  : Librum meum explico, notis augeo, & practicis figuris illustro quamplurimis, dictando tempus non tero  : sed delineando, monstrando, in Charta, campo, tabula insumo  : cuncta tarde, praemeditate, diligenter  : haerentem juvo, tardum tolero, neminem negligo, nulla mihi invidia alias in multis ridicula, nulla Prosopolepsia  : omnes aeque diligo & informo, quod olim Plures docebamus1 Leidae, hic solus explico, imo plura propono, magno cum commodo discentium, qui multis parcent nummis, victu non tantum dimidiatis parabili sumptibus, ut loci longinquitatem & expensas singulis (si quis omnia discere voluerit) faciendas taceam  : Instrumentis multis & laboriosis neminem fatigo, Omnia, quae a D. Freytagio, Cunitio & Scoto, aedificatione aliquot Munimentorum, expugnatione Bredana celeberrima, & in meis peregrinationibus per multa Germaniae & Belgij munitissima didici & observavi, ostendo  : manuscripta D. Origani, Otteri, Gerstencornij & aliorum praestantissima lubentissime communico, verbo dicam  : nil scire, nil possidere desidero, quod mei nesciant. Collegia duo annuatim celebro practica  : Alterum post Calendas Januarij, alterum Junij primordie incipit, quo & primum finitur, secundum September concludit, ita scilicet ordinata, ne Praxis Campestris in Caniculam & nives incidat, Calendae Octobris Collegia aperiunt iterum tria hyemalia  : Cosmographicum, Medico Mathematicum & Scenographicum. Primum Astronomiam & Astrologiam cum Geographia Theoretice explicat, Secundum ex Arithmetica, Geometrica, Optica, Genethliaca, (inte merata sc.) & Geographia, ea quae 1 Abweichend in KB3  : »septem docebant«.

Anhang  : Edierte Quellentexte

Medico futuro Excellenti scitu utilia & necessaria sunt, depromit & Medicis exemplis illustrat  : Ultimum munimenta scenographice per perspectivam delineare & coloribus apte exornare edocet, Medium Latine, reliqua Germanice docentur, scilicet ut diversos auditores recipiat [statt  : recipiant], eadem, qua supra factum est methodo, diligentia. Singulis diebus una hora tribuitur lectioni, duas ut repetitioni Architectonicorum Collegiorum auditores tribuant. [A2v] necesse est, reliquis Pictori, quod consultissimum, Pugili, Gallo, Hippico, Saltatori, & Pyrobolo, quos hic omnes habemus expeditos, concessis, si ita placuerit. Campestria Exercitia saepe sibi quinque vel sex etiam horas vendicant, at pomeridianas, ut scilicet illas definit operarum multitudo & auditorum ingenium  : In his discipulorum manus & oculos tento, examino, corrigo, amo industrios, ignavos detestor, ut a quibus mihi ignominia, ἀναριθμούς (!) non repudio, sed informo, libris tantum duobus meo & Vlaqui Tabulis utor & instrumentis tenuioribus etiam ex ligno & ferro facile parabilibus, cum necessitas paucis cotenta (!) sit, luxuria vero modum non inveniat. Pretium pro tanto labore & liberalitate exiguum, pro Auditorum ingenio, conditione, & fortuna varium, tale denique  ; ut nemo hactenus de αἰσχροκερδία conquestus sit. Praesto promissa sine fuco  ; & petentibus nil denego celo aut involvo, speculativa inventa negligo, experientia probata propono, omnibus mei auditoribus optime cupio, singulis decenter. Humilia sector, ne sit unde gravi praecipiter lapsu, syrtes, saxa vadaque belli fugiens & honorum, qui saepe oblati, inania aversatus, Medicum hic ago & Mathematicum, conditione mea contentus, cum bono Deo bonaque fide gerens omnia insectationes & sinistra judicia nihili facio, imperitorum ideo, quod judicio carent, peritorum ideo, quod improba ea  : meam quod restat, Medendo, legendo, docendo, scribendo, vitam procudo, memor eam sine literis mortem esse, Hominemque nihil aut certe perparum scire  ; immane, quantum esse enim, quod nescit. Praeter Tabulas Sinuum Francisci Schoten Germanice & Latine redditas, & Calendaria anniversaria (quibus potius errores Medicinae & Astrologiae taxo vanissimos, quam gloriam ullam, ut re facillima, ita scommatibus malevolorum nimis quam obnoxia, ambio) nil hactenus dedi, proxime Manuale daturus meum, Scipionem Mathematicum, Opus Architectonicum absolutissimum, Cosmographiam patria, Mathesin Medicam & aliquot Curationum centurias Latina lingua, quae jam omnia affecta, suo, si Jehova vitam & valetudinem dederit, parebunt tempore. Vale Amicissime N.N. Festinabam Berolini. Anno 1646. VIII. Cal. Martij. Solatium, Auctori contra Zoilos ab Amico quondam,

judicio & eruditione in orbe Christiano Clarissimo transmissum. Carpitur omne bonum  ; rabida haec est Mentagra saecli  : Aut nihil, aut male fac, non tibi carptor erit. T[obias] M[agirus] P[ater] P[rofessor] P[ublicus] A[cadmiae] P[hysicae]

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Anhang  : Edierte Quellentexte

Übersetzung [A1v] Es ist so, wie Du schreibst, hochberühmter liebster Freund, daß das Studium der mathematischen Künste denen, die es betreiben, nicht weniger Freude als Nutzen bringt  : die Befestigungskunst und die Geometrie stellen darüber hinaus für Politiker und Militärs eine Notwendigkeit dar. Die einen können wohl, wenn sie das Wissen darum nicht besitzen, weder gegenüber den um unklare Grenzverläufe Streitenden hinreichend richtig Recht sprechen noch in ausreichendem Maße gegenüber Intrigen der Betrüger in diesem Bereich gewappnet sein. Die anderen dürften [ohne dieses Wissen] das ihnen anvertraute Gelände sowie das Leben und die Güter [darauf ] kaum genügend schützen. Die Geschichte bleibt für die, die unerfahren in der Geographie und Geometrie sind, gewissermaßen stumm  ; Reisen ins Ausland ohne [Kenntnisse der] Fortifikationskunst sind oft nutzlos. Bedenke auch das  : Selbst die heilige Schrift muß für die in den mathematischen Künsten Unkundigen an vielen Stellen unklar bleiben. Wie sehr aber Ärzte, die darin keine Kenntnis besitzen, bei der Behandlung von Krankheiten deswegen irren, geben die wirklich Gelehrten unter ihnen offen zu, und es zeigt auch die Sache selbst. Umso weniger darf ich, wo doch zahlreiche Freunde mich bitten und mir Beifall zollen, die Einrichtung eines solchen Collegium Mathematicum unterlassen, zumal da es scheint, daß ich mir ohne Schaden für meine ärztliche Praxis hier dafür Zeit nehmen kann. Eine kurze Beschreibung dieses Kollegs kann und darf ich Dir, der so hartnäckig danach verlangt, nicht länger vorenthalten. Hier sollst Du sie in wenigen Worten haben. Es wird in vier Stücken absolviert mit einem Vorraum, einer Eingangstür, einem Atrium und dem Palast selbst.2 Der Vorraum enthält gewissermaßen zwei Stufen, die Arithmetik und die Schematographie. Die Arithmetik ist dreigestaltig  : die gewöhnliche, die logarithmische und die rabdologische, zu denen die vortreffliche Umwandlung der Multiplikation und Division in Addition und Subtraktion gehört  ; wobei ich die Logarithmen durch Günter Anglus’ Erfindung 435300 fortgeführt habe, die sehr angenehm [zu benutzen] sind, weil sie in ziemlich wenigen, nur sechs Tafeln zusammengefaßt sind.3 Und schließlich wird sie mit der logistischen Arithmetik der Zehent-Zahlen beschlossen. Die Schematographie enthält geometrische Aufgaben, die zum Erlernen dieser Künste notwendig sind. Die Eingangstür hat zwei Flügel, die Theorematographie und die Trigonometrie. Die erstere enthält Demonstrationen, die größten Erfolg in der Praxis bringen, eine sicherlich sehr nützliche Sache (die bislang nur von dem Niederländer [Jan] Pieter[szon] Dou versucht und von Herrn [David] Origanus fortgesetzt worden ist). Die zweite wiederum 2 Johannes Magirus versucht hier, mit architektonischer Terminologie ein Gedankengebäude der Mathematik zu evozieren. Die Bilder geraten zuweilen etwas schief, da die Gebäudeteile beim Ausführen mathematischer Operationen beschrieben werden. 3 Als Druck nicht nachweisbar und auch nicht in Magirus Handschriftenbibliothek (s. u., Text 5) aufgeführt.

Anhang  : Edierte Quellentexte

ist mal arithmetisch, mal schematisch  ; die erstere befaßt sich mit Zahlen, gewöhnlichen und logarithmischen, die zweite arbeitet mit Zirkel und Lineal, eine Erfindung, die für Zahlenfeinde sehr angenehm und für die Überprüfung des Calculus notwendig ist. Damit sind wir schon Atrium angelangt, das sechs Laufgänge besitzt, von denen drei die Strecken, nämlich Höhe, Tiefe und Weite, messen  ; der vierte die Oberfläche, welche der fünfte teilt  ; der sechste skizziert Grundrisse, der siebte ist die Stereometrie, die den Abschluß bildet. Und siehe da  : schon öffnet sich der höchst erhabene Palast der Militärarchitektur, der sich mit fünf Zimmern zeigt  : Das erste und größte enthält die [A2r] allgemeine Fortifikationskunst  ; das zweite zeichnet und baut diesbezüglich die sogenannten regelmäßigen Figuren [=Grundrisse, Anm. d. Verf.] und die äußeren Befestigungswerke  ; das dritte lehrt, unregelmäßige Grundrisse zu befestigen, welche das vierte an Städte, Flüsse, Gestade und Berge anpasst, das fünfte umreißt Lager, misst sie aus und befestigt sie, belagert die Befestigungen und verteidigt [wiederum] die belagerten. Dieses ganze Werk wurde von mir in ein vom Umfang her kleines Büchlein zusammengeschrieben, das vollgestopft ist mit den für unseren Unterricht nötigen Dingen, wobei alles Spekulative und Überflüssige ausgesondert worden ist.4 Dies enthält aus den jeweils besten lateinischen, deutschen, niederländischen, französischen und englischen Autoren zusammengestellt, deren praktische Bücher ich leicht verstehe, das Bekanntere  ; die geheimeren Dinge, als da sind  : den Zirkel des Herrn Chedecant, den Fortifikations-Maßstab des Herrn Otter und mein Transportorium, Perlen der Architekturkunst, behalte ich mir für meine Zuhörer vor. Im Übrigen lehre ich in der Volkssprache. Meine Methode ist die folgende  : Ich erkläre mein Buch, mache Anmerkungen dazu, verdeutliche mit vielen praktischen Zeichnungen, vergeude aber keine Zeit mit Diktieren  : sondern verwende sie auf das Skizzieren und Zeigen, auf Papier, auf dem Feld, an der Tafel, langsam, mit Einübung, sorgfältig  ; ich helfe dem, der stockt, ich ertrage den Langsamen, ich vernachlässige keinen, ich kenne keinen Neid, [was] woanders bei vielen lächerlich [ist], keine Parteilichkeit  : ich schätze und unterrichte alle gleich. Was wir einst als mehrere in Leiden lehrten, hier erkläre ich es alleine, sogar noch mehr [als das] stelle ich vor, zum großen Nutzen der Lernenden, die sich große Ausgaben sparen, weil sie nicht nur halb so viel für ihren Lebensunterhalt ausgeben brauchen, von der weiten Reise und den einzelnen Ausgaben ganz zu schweigen ([die jemand hätte] wenn er all das [im Ausland] lernen wollte). Ich ermüde niemanden mit vielen und ausgeklügelten Instrumenten  ; alles, was ich von Herrn [Adam] Freytag, Cunitz und Scotus, beim Bau einiger Befestigungen, in der hochberühmten Eroberung von Breda und auf meinen Reisen durch viele hochbefestigte [Städte] Deutschlands und der Niederlande gelernt und beobachtet habe, demonstriere ich  : sehr gerne stelle ich die hervorragenden Handschriften von Herrn [David Origanus], Herrn [Christian] Otter, Herrn Gerstenkorn und anderer zur Verfügung – in einem Wort  : 4 Bei dem erwähnten Büchlein handelt es sich um Magirus’ »Janua Architectonicae Militaris, Das ist  : Kurtzer Begriff alles desselben, welches einer, so die Fortification gründlich lernen will«  ; s. Quellenverzeichnis.

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Anhang  : Edierte Quellentexte

nichts zu wissen, nichts zu besitzen begehre ich, was meine [Schüler] nicht wissen. Ich halte jährlich zwei praktische Kollegien ab  : Das eine fängt Anfang Januar an, das andere Anfang Juni, wenn das erste auch endet, das zweite schließt Ende September. Sie sind so gelegt, damit die Praxis auf dem Feld nicht mit den Hundstagen und dem Schnee zusammenfällt. Am ersten Oktober beginnen die drei Winterkollegien  : das kosmographische, das medizinisch-mathematische und das szenographische. Das erste erklärt die Astronomie und Astrologie zusammen mit der Theorie der Geographie  ; das zweite holt aus der Kunst der Arithmetik, der Geometrie, der Optik, der Nativitäten (freilich der gesäuberten) und der Geographie das hervor, was für einen zukünftigen guten Arzt zu wissen nützlich und notwendig ist, und demonstriert es an Beipielen aus der Medizin  ; das Letzte lehrt, Befestigungen skenographisch, d. h. perspektivisch zu skizzieren, und angemessen farbig auszumalen. Das Mittlere wird auf Latein, die übrigen auf Deutsch unterrichtet, freilich so, daß sie sich verschiedener Zuhörer annehmen, mit derselben Sorgfalt und Methode, wie es schon oben geschildert wurde. An den einzelnen Tagen wird eine Stunde auf den Unterricht verwendet  ; es ist notwenig, daß die Hörer der architektonischen Kollegien zwei Studen für die Wiederholung aufbringen. [A2v] Die übrigen Stunden seien der Malerei (was sehr empfehlenswert ist), dem Faustkampf, dem Französisch-, Reit- und Schießunterricht und dem Feuerwerken vorbehalten, was alles hier [d. h. in Berlin] angeboten wird, wenn es so gefällt. Die Übungen auf dem Feld nehmen oft fünf bis sechs Stunden in Anspruch, am Nachmittag, wobei freilich die Menge der Aufgaben und die Begabung der Hörer die Grenzen setzen. Während dieser [Übungen] stelle ich die Hände und Augen der Schüler auf die Probe, prüfe, korrigiere, liebe die Fleißigen, verachte die Faulen, als solche, die mir Schande bringen, ich weise die »Unmathematischen« nicht zurück, sondern unterrichte sie mit nur zwei Büchern, meinem und den Tafeln des [Adrianus] Vlacquus, und bescheidenen Instrumenten, die auch leicht aus Holz und Eisen herzustellen sind, weil die Notwendigkeit mit Wenigem zufrieden ist, der Luxus aber kein Maß kennt. Der Preis für die so große Arbeit und Freimütigkeit ist gering, je nach Begabung, Ausdauer und Vermögen der verschiedenen Hörer, schließlich so, daß niemand bislang über [meine] Gewinnsucht geklagt hat. Ich lege das Versprochene ungeschminkt dar und schlage den Bittenden nichts ab, verheimliche und verhülle nichts, lasse spekulative Erfindungen beiseite, biete das durch Erfahrung Erprobte an, ich widme all meinen Hörern mein höchstes Interesse, den Einzelnen angemessen. Ich verfolge bescheidene Ziele, damit mich nicht Hals über Kopf ein tiefer Fall ereilt, vermeide die Untiefen, Klippen und seichten Wassser des Krieges und der Ehrungen, die einem oft begegnen, bin Äußerlichkeiten abgeneigt, arbeite hier als Arzt und Mathematiker, zufrieden mit meiner Situation, halte im guten Glauben an an einen guten Gott nichts von Verunglimpfungen und zweifelhaften Urteilen, denen der Unkundigen deswegen, weil ihnen das Urteilsvernögen fehlt, denen der Kundigen, weil dies unlauter ist  : Was mir an restlichem Leben bleibt, werde ich mit Heilen, Lesen, Lehren, Schreiben verbringen, eingedenk dessen, daß ein Leben ohne die Wissenschaft der Tod ist, daß der Mensch nichts oder sicher nur sehr wenig weiß, daß es ungeheuerlich viel ist, was er nicht

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Anhang  : Edierte Quellentexte

weiß. Außer den Sinus-Tafeln des Franciscus Schoten, die ich ins Deutsche und Lateinische übersetzt habe und jährlichen Kalendern (in diesen tadle ich eher die eitelsten Fehler der Medizin und Astrologie als daß ich irgendeinen Ruhm erstrebe – so leicht dies wäre, so lästig auch durch die Schmähungen der Mißgünstigen) habe ich bislang nichts veröffentlicht, demnächst werde ich aber mein Handbuch herausgeben, einen mathematischen Wegweiser, ein höchst vollkommenes Werk über die Architektur, eine Kosmographie unseres Vaterlandes, ein [Werk über] medizinische Mathematik und einige Zenturien »Curationes« auf Latein, was alles schon in Angriff genommen ist und, wenn Jehova die Kraft und die Gesundheit gewährt, beizeiten erscheinen wird. Leb wohl, liebster Freund. Ich schrieb dies in Eile, zu Berlin, im Jahr 1646, 8. Kalenden des März [= 22. Februar]. Ein Trost, dem Autor gegen die Neider von einem gewissen, an Urteilskraft und Bildung in der Christenwelt hochberühmten Freund geschickt  : Alles Gute wird zerpflückt  ; dies ist die Tollwut unserer Zeit  ; Tu’ entweder nichts oder tu’s schlecht, und die Kritik bleibt aus. Tobias Magirus, Vater, Öffentlicher Professor der Physik an der Universität

Text 2  : Ankündigung des medizinisch-mathematisch-praktischen Kollegs in Berlin, 1646 (KB4  ; Nachweis s. Quellenverzeichnis) Dem folgenden Text sind drei längere lateinische Widmungsgedichte der brandenburgischen Leibärzte Otto Bötticher (1581–1663), Martin Weise (1605–1693) und Christoph Maius (1605–1653) vorangestellt, die Magirus’ Leistung in seinen Kollegien loben. Lateinischer Wortlaut Johannis Magiri D. Medici et Mathematici Berolinensis epistolica declaratio collegii medici mathematici et practici. Quod Divino adspirante Numine Berolini aperit et apertum usurpat. Berlin  : [Runge] 1646. [A2r] Plurimum voluptatis, Vir Excellentissime, e literis cepi tuis, tum quod amicitiam jam usu creditam & documentis probatam non paucis recolunt, tum quod orbitam eandem cum multis Medicorum praestantissimis terunt & commune malum, quod hodierna luce Medicorum ordinem infestat nobiscum deplorantes scaturiginem tot errorum cum Belgarum ocello in eos ipsos, qui Medicorum nomen profitentur, rejiciunt, de quibus Divini Hippocratis oraculum extat  : Φήμῃ μὲν πολλοί, ἔργῳ δὲ πάγχυ βαιοί.

Forest. De urina

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Anhang  : Edierte Quellentexte

Etenim non vulgus ignobile modo Medicum ex linguae aut volubilitate aut varietate aestimat, verbis non herbis morbos curari existimans, verum inter affectatores etiam reperiuntur Medicae nobilitatis, qui artium, quas liberales vocant, contemtores, eo se propiores honorum fastigio judicant, quo ab illarum cognitione remotiores sunt, Mathematicarum cum primis, quas extra cantionem (ut est in proverbio) aut potius extra curationem omnino reputant  : Hi si Medicorum Patres salutassent, Arithmeticam numerosam, Geometriam suavem, Astronomiam jucundam inculcari, Astrologiam mirabilem summe commendari palpassent  ; Galliae Hippocratem & Germaniae Galenum hodie si sequerentur, coelorum & syderum conversiones observarent  : quod dum minime attendunt, hasque artes praestantissimas insuper habent, accidit ut proportiones membrorum ipsos lateant, ut motum & usum musculorum parum percipiant, [A2v] & dum inter ignotos versantur praeter luminaria planetas, vires Astrorum, quibus in haec inferiora agunt, ignorent, unde multorum morborum causas abscondi non mirum  ; Electiones vero (rem certe magni momenti in praxi Medica) praeteriri & crisium causam abstrusissimam obteri necesse est. Imo haut raro in Medicinae alumnum incidas ipsius Arithmetices puerilis ignarum, cum tamen illa ad doses Medicamentorum indagandas summe necessaria sit, ut moram foetus in utero & infinita alia nobis subinde calculo subjicienda accuratiori taceam  : quin si causas laesae visionis exquisite intellegere & aliquando indagare illis esset animus, haberet illos amor Optices praestantissimae, in qua praesentanea harum rerum principia & subsidia. Sed de iis, Amice arte & animo conjunctissime, quid censes philiatris, qui dum Geographiam sicco pede transeunt, nec Climatum differentiam, nec Ventorum qualitates & ortus, imo ne quidem Medicamentorum Patriam nosse poterunt  ; credo sane te eos salse irridere cum sapientibus. Quam vero humanissime hos omnes compellet Parens Medicorum Hippocrates, ex epistola eius ad Thessalum videre est. Quam autem causam conjicias, Amicorum intime, spretae admonitionis adeo Paternae  ? Non unam credo  : at haec una in propatulo est, temporis jactura, quam verentur  : O verum metum inanem. Ecce tibi  ! omnia Medico ex nominatis scientiis augustissimis pernecessaria

Primros.

Galen. Fernel. Bened. Ver. Senn. Fuchsius Eichstadius &c.

Astrologia adeo necessaria Medico, ut eius ignarus medici nomine plane indignus sit. Quercet. Astrologia si genuina sit & naturalibus fundamentis innitatur, non solum non inutilis, sed necessaria est Medico. Senn. Sennert. Bartholin. Rhodius &c. Gal. c.4.l.1 de temp. Hipp. l. de aere. Perdulcis. Duncanus.

Habrecht  : Geometriae & Arithmetices studium adhibero, mi fili, neque n. solum vitam tuam glori osam & ad multa in rebus humanis utilem,

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Anhang  : Edierte Quellentexte

verum etiam mentem acutiorem, & longe splendidiorem ad fructum eorum omnium, qua in arte Medica usui sunt, consequendum reddet, quanquam quidem Geometriae cognitio tum ad ossium positus & articulos suis sedibus emotos, tum etiam ad reliquam membrorum compositionem utilis futura est  : Numerorum vero series tum ad periodos, tum ad eas mutati-, [A3r] trium mensium spatio (cujus rei jam in aliquot auditoribus experientiam testem habemus) studiosis addiscere facile est  : quod tempus saepe otio, lusui, aleis (commessationes taceo) impendunt, imo saepe aliis studiis non necessariis tempus inutiliter terunt spretis maxime necessariis, quae etiam Charybdis multos absorbet. Et haec quidem, Vir Clarissime, causa tibi mecum non exigua, cur hodie tam modice boni & re tales inveniantur Medici. At tabellae aliam insuper recludunt tuae, narras enim de Medico tibi noto, cui nec cerebrum, nec ventriculus demortui, nec urina aegroti unquam visa, nec pulsus exploratus, antequam praxin affectaverit. Inde vero tot agyrtarum ostentationes, inde tot veris Medicis destestabiles carnificinae  ? quia sunt, qui non per cadavera Anatomica, non per Pathologiae rudimenta, non per semiotices & Therapeuticae primitias, non per consultationum tyrocinia praxin aggrediuntur  : sed limine insalutato in ipsum Medicinae palatium, truces irrumpunt, & in ipsos homines, viva Dei simulacra, ut architecti in lateres & luta saeviunt. Hic nulla methodus cognoscendi & curandi morbi, nulla Medicamentorum idoneorum indagatio, non debita applicatio  : Hinc tot aegrotorum clades  ! tot viduarum lachrymae  ? tot pupillorum ejulationes  ? tot Medicastri stragibus hominum celebres. Quemadmodum autem orto incendio civis boni cuiusvis est aquam adportare  : ita et mihi in civitate Medica minimo incumbere existimavi, tanto huic malo pro virili obviam procedere, Collegiumque Medicum Practicum aperire, maxime cum amicorum stimulis eo inciter  : [A3v] Hujus Collegii rationem cum intelligere percupias, Amice candidissime, en candide expedio, tuoque pariter candori atque judicio subjicio  : Frambesarius Serenissimi Galliarum Regis Medicus, Vir in arte nostra versatissimus, postquam tot in vasto Medicinae mari tironum videret naufragia, tot ventorum ludibria, tot remorarum moras, hoc unum in votis habuit illorum, ut studiis, quantum fieri posset, consuleret, proinde exemplo summi Hippocratis Scholam edidit Medicam, in qua methodica institutione discipulorum ingenia ita format, ut tandem victores tot angustiarum sine magnis angustiis evadant  : Hunc ego, etsi tanto cum viro non comparandus, imitari tamen pro modulo ingenii

ones, quae prater rationem in febribus fiunt & ad iudicandos aegros & ad morborum securitatem satis futura est. Ad artem Medicam Astronomia non minimum sed plurimum potius confert. l. de aere.

Et Alex. Bened. Veronensis discit  : Hippocratem non aliter ad summum honorem fuisse evectum, quam ex astrorum disciplina.

Iuram[entum  ?]  : S[enatus  ?] C[onsultum  ?] Athen[iense  ?] Vide Frambes.

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Anhang  : Edierte Quellentexte

aggredior & juvenes in Praxi (nam Theoriae amplitudinem lubentissime Academiis relinquo) exerceo, informo, filumque illud consultationum Ariadneum, cujus ductu implicatissimas Labyrinthi morbosi fraudes effugere optime queant, praebeo  : Canones insuper exhibeo medicos, quibus recta Medicinae faciendae via & ratio preceptis saltem breviculis & exemplis selectis perspicue demonstratur, & eo quidem alacrius hoc operis aggredior, quod instituto meo Medicus nostra aetate celeberrimus, Praeceptor olim noster, dum erat in vivis, fidelissimusque, favet, qui Medico juniori, ut, antequam praxin aggrediatur, in populosis civitatibus, etsi Academiis non splendeant, aliquandiu commoretur & Poliatrorum sequatur ductum, fidelissime suadet. Distributiorem si vis, hanc habe sciagraphiam  : Collegium Medicum duobus absolvitur membris,

Scholam Medic. & Consultat. Epilogum.

in Method. disc. Medic. [Ab dem folgenden Blatt keine Marginalien mehr]

[A4r] Prius omnia illa, quae artis nostrae mystae ex Arithmetica, Geometria, Optica, Astronomia, Astrologia, (intemerata scilicet, quid enim nobis cum superstitiosa) & Geographia ad medendi usum conducere observaveram, excerpit, in unum confert & medicis exemplis illustrat. Alterum iterum duas cognoscit classes  : Prior Medicinae Studiosum per campos amoenissimos ac tot pictas nativis suis variisque coloribus planities non sine voluptate deducit, & cum apibus seligit utilia, reliquiis Florae Candidatis, quibus potius fastus quam usus placet, relictis, cum non alenda copia iners & paucitati operosae confidere praestet, modo justus exercitus & bene notus beneque instructus sit, delectu enim magis militum, quam innumeris copiis ingentia bella conficiuntur  : tum hominem deducit ad, imo intra hominem, ut se & imbecillitatis suae nidulos bene annotet & quot quibusque morbis singula subjecta sint membra consignet, ne cum pulmo laborat, reduvia olim curetur. Ad institutionem ubi ventum est, difficilia explicat, dubia enucleat, signa temperamentorum, morbos morbosorum ex habitu, urina, pulsu viventium judicat, dignoscit, inde per chirurgicas operationes ad methodum medendi itur & tandem in officina Pharmacopolae & taberna Chymici nostrum hoc filum finitur  : Ita animos meorum ad artem sublimem praefingo, ita ex unguibus amo, ita sepes arbusculis meis circumponens rectissima eruditionis germina produco, ita meos lacte enutritos deinde in Academias emitto, ut ibi solidiora discant mandere cibaria. Altera classis intima secreta & penetralia praxeos dum pandere satagit, Practicae Candidatos ad jucundos observationum & consultationum recessus deducit, ut aegroti reficiendi, vivis, quorum officiis implicamur, [A4v] exemplis praemonstrat, methodumque cognoscendi & curandi morbos pressis Excellentissimi Praevotii, vestigiis explicat, consultationum exercitia praeit, corrigit, emendat, Clarissimorum artis Medicae Principum Majernii, Mösleri, Arnisaei, Weidneri & aliorum in arte heroum observationes ac experimenta communicat & quae jam per aliquot annos a me majori cura quam tempore in populosissimis Europae Provinciis observata sunt sine livore sine αἰσχροκερδεία candide aperit, recludit.

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Anhang  : Edierte Quellentexte

Quod superest ubique modum tenet, nec Auditorem immodica non necessariorum profusione onerat neque brevitate nimis concisa suspendit, id quod prolixius experturi sunt illi, cum bono Deo, quibus viam, quam praemonstramus nobiscum & cum amicis nostris ire collubitum est. Ecce tibi, Vir Clarissime, onus meum, quod preces amicorum imposuere, quod Consilia prudentum persuasere  : Hic noster conatus in communem quidem Medicinae usum confertur, nihilominus multos contra se Rhadamantos videt, (prout5 hac tempestate alter in alterius livet & grassatur ingenium  : Invidiam non extimesco aut malevolorum censuram, quam novi reipublicae, etiam literariae studentium comitem esse  : Erigit me studium inserviendi aliis, obsequendi amicis, tuumque  ; ac tui similium integrum judicium, id quod a Coelesti Medico exopto omnibus nostram hanc Declarationem lecturis. Vale, vir amicissime, & porro coeptis nostris fave. Festinab. Berolin, Anno 1646. 4. Calend. Septembris. Übersetzung [A2r] Größte Freude, höchst ehrenwerter Herr, hat mir Dein Brief gemacht  : einmal weil er eine schon durch Gewohnheit gefestigte und zahlreiche Proben bewiesene Freundschaft in nicht wenigen Worten heraufbeschwört, dann weil er mit vielen überaus hervorragenden Ärzten dasselbe Verständnis teilt und das allgemeine Übel, das heutzutage den Stand der Ärzte plagt, wie wir beklagt, und den Quell so vieler Irrtümer [ebenso] wie der hellsichtige Niederländer bei denjenigen selbst sieht, die sich Ärzte nennen, und über die es einen Orakelspruch des Göttlichen Hippokrates gibt  : Dem Ruf nach viele, dem Werk nach wenige. Denn nicht nur das einfache Volk beurteilt den Arzt nach seiner wendigen, wortreichen Rede und glaubt, Krankheiten würden mit Worten, nicht mit Kräutern geheilt, sondern es finden sich auch unter solchen, die medizinischen Adel erstreben, Leute, die die sogenannten freien Künste verachten und sich einen umso höheren Rang zuschreiben, je weiter sie von deren Kenntnis entfernt sind, vor allem von den mathematischen Künsten, von denen sie glauben, daß sie überhaupt nichts mit dem Gesang (wie es im Sprichwort heißt) oder vielmehr mit der Heilung zu tun hätten. Hätten sie die Väter der Medizin getroffen, wären sie ihnen um den Bart gegangen, daß ihnen die zahlenreiche Arithemtik, die süße Geometrie, die ergötzliche Astronomie eingetrichtert, die wunderbare Astrologie in höchstem Maße empfohlen werde  : würden sie heute dem französischen Hippokrates oder dem deutschen Galen folgen, so würden sie die Veränderungen des Himmels und 5 Klammer wird im Text nicht geschlossen.

Forest[us], Über den Urin

Primrose

Galen Fernel [Alexander] Benedictus von Verona

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Anhang  : Edierte Quellentexte

der Sterne beobachtet  ; weil sie diesen äußerst hervorragenden Künsten aber kaum Aufmerksamkeit schenken und sie für überflüssig halten, geschieht es, daß die Proportionen der Glieder ihnen verborgen bleiben, daß sie Bewegung und Gebrauch der Muskeln kaum wahrnehmen, [A2v] und sie, während sie sich unter den Unwissenden aufhalten, neben den Lichtern [am Himmel] die Planeten und die Kräfte, mit denen die Sterne die unter ihnen liegenden Dinge bewegen, nicht kennen. Da ist es nicht verwunderlich, daß [ihnen] die Ursachen vieler Krankheiten verborgen beiben  : notwendigerweise werden so die Erwählungen (etwas von großer Bedeutung in der medizinischen Praxis) übergangen, und die versteckten Ursachen von Krisen bleiben verborgen. Ja, man dürfte sogar nicht selten auf einen studierten Mediziner stoßen, der selbst von der Schularithmetik keine Ahnung hat, obwohl sie doch höchst notwendig ist, um die Dosen der Medikamente auszurechnen, ganz zu schweigen von der Verweildauer des Fötus im Mutterleib und unzähliger anderer Dinge, die man einer präziseren Berechung unterwerfen muß  ; wenn ihnen der Sinn danach steht, die Ursachen gestörten Sehvermögens treffend zu verstehen und jemals aufzuspüren, sollten sie eine Liebe zur herausragenden Optik pflegen, in der die Prinzipien und Hilfsmittel solcher Dinge liegen. Aber was hältst Du von den Medizinliebhabern, mein mir in der Kunst und im Geist verbundener Freund, die, indem sie die Geographie trockenen Fußes übergehen, weder von den Unterschieden der Klimata, noch von den Qualitäten und Ursprüngen der Winde, ja sogar nicht einmal von der Herkunft der Medikamente Kenntnis haben  ? Ich glaube in der Tat, Du würdest sie, wie alle Weisen, herzlich auslachen. Wie aber der Vater der Ärzte, Hippokrates, sie alle sehr freundlich ermahnt, ist aus dessen Brief an Thessalus zu ersehen. Welchen Grund aber würdest Du dafür annehmen, liebster Freund, daß sie die väterliche Mahnung verspotten  ? Ich glaube, es ist nicht [nur] einer  : aber dieser eine liegt offen, die Zeitverschwendung, welche sie fürchten  : O grundlose Furcht  ! Sieh für Dich selbst  ! Alles, was für einen Arzt aus den genannten hehren Wissenschaften nötig ist,

Senn[ert] Fuchs Eichstädt etc. Die Astrologie ist für einen Arzt so nötig, daß er ohne ihr Wissen des Namens »Arzt« nicht würdig ist. Quercet[anus]. Die Astrologie ist, wenn sie ursprünglich ist und auf den natürlichen Fundamenten ruht, einem Arzt nicht nur sehr nützlich, sondern nötig. Sennert. Sennert Bartholin Rhodius & übrige Gal[en] Kapitel 4, Buch 1, über das Wetter. Hippocrates, Buch über die Luft. Perdulcis Duncan

Habrecht  : Studiere Geometrie und Arithmetik, mein Sohn, denn es macht nicht nur Dein Leben ruhmreich

und zu vielen Dingen in menschlichen Angelegenheiten nützlich, sondern auch den Geist schärfer und weitaus ausgezeichneter, um von all den Dingen Gewinn zu haben, die in der Medizinkunst von Nutzen sind  ; gleichwohl wird freilich die Kenntnis der Geometrie einmal für die Lage der Knochen und ausgerenkte Gelenke, einmal für die restliche Zusammensetzung der Glieder nützlich sein. Eine Zahlenfolge wird aber einmal für (periodische) Regelmäßigkeiten, dann für Abweichungen, die wider die Erwartung in Fiebern vorkom-

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Anhang  : Edierte Quellentexte

[A3r] kann eine Zeitspanne von drei Monaten Studenten leicht lehren (wofür wir bereits die Erfahrung mit einigen Hörern anführen können)  : Diese Zeit verschwenden sie oft mit Faulsein, Spiel, Würfelspiel (ganz zu schweigen von den Gelagen), ja sie vertun die Zeit auch oft unnütz mit anderen, unwichtigen Studien, wobei sie die verachten, die besonders nützlich sind  ; diese Charybdis verschlingt viele. Und dieses Thema, wertester Herr, wird Dich und mich nicht wenig beschäftigen, warum heute nur in so bescheidenem Maße gute Ärzte zu finden sind, die der Sache nach solche sind. Aber Deine Schreiben lassen überdies noch einen anderen Grund erkennen  ; Du erzählst nämlich von einem dir bekannten Arzt, der weder das Gehirn noch den Ventrikel eines Toten, noch den Urin eines Kranken jemals gesehen, auch nicht den Puls erfühlt hatte, bevor er eine Praxis eröffnete. Daher also die vielen Darbietungen von Betrügern, daher die vielen, den echten Ärzten ekelhaften Schlachtereien  ? Weil es Leute gibt, die nicht über [das Studium der] Leichen in der Anatomie, nicht über Grundkenntnisse in der Pathologie, nicht über die Anfangsgründe der Semiotik und Therapie, nicht über die Schulung der Konsultationen die Praxis angehen  : sondern, ohne sich an der Schwelle zu melden, rauhbeinig in den Palast der Medizin selbst einbrechen und gegen die Menschen selbst, die lebenden Abbilder Gottes, wie Architekten gegen Ziegel und Lehm wüten. Hier gibt es keine Methode der Erkennens und des Heilens einer Krankheit, kein Abwägen der geeigneten Medikation, nicht die richtige Anwendung. Daher der Tod so vieler Kranker  ! So viele Tränen von Witwen  ! So viele Schreie kleiner Kinder  ! So viele durch den Mord an Menschen bekannte Medikaster. Wie aber beim Entstehen eines Feuers die Pflicht eines jeden guten Bürgers ist, Wasser herbeizutragen  : so bin ich zu dem Urteil gelangt, daß es mir, als einem ganz geringen im Staat der Medizin, auferlegt ist, dem so großen Übel männlich entgegen zu gehen und ein Collegium Medicum Practicum zu eröffnen, zumal ich mich durch die Aufforderung von Freunden in höchstem Maße dazu angeregt fühle  : [A3v] Die Art und Weise des Kollegs, wenn Du es wissen willst, liebster Freund, will ich offen bekennen und Deinem klaren Urteil überlassen  : Frambesarius, der Arzt des durchlauchtigsten Königs von Frankreich, ein Mann, der in unserer Kunst sehr bewandert ist, hat, nachdem er soviele Schiffbrüche von Anwärtern im weiten Meer der Medizin, so viele Spielbälle der Winde, so viele aus Hindernissen erwachsende Verzögerungen gesehen hat, sich das eine vorgenommen, nämlich den Studien jener Leute mit Rat zur Seite zu stehen, so sehr er konnte  ; er gab eine »Medizinische Schule« nach dem Vorbild des Hippokrates heraus, in welcher er durch methodischen Unterricht die Geister der Schüler formte, so daß sie schließlich als Sieger über so viele (Meer-)Engen ohne große Ängste hervorgingen  :

men, zur Beurteilung von Kranken und zur Gewißheit bei Krankheiten genügend sein. Zur Medizinkunst taugt die Astronomie nicht sehr wenig, sondern eher sehr viel. Buch über die Luft. Und Alex[ander] Bened[ictus] von Verona sagt  : daß Hippokrates nicht anders zu höchstem Ruhm gekommen sei als durch die Lehre von den Sternen.

[Marginalie unklar] s. Nicolas Abraham de La Framboisière  : »Schule der Medizin« & den Epilog zu den »Konsultationen«

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Anhang  : Edierte Quellentexte

Ich unternehme es, ihm, auch wenn ich nicht mit einem so großen Mann vergleichbar bin, trotzdem nachzueifern nach meinem bescheidenen Vermögen  ; ich übe die jungen Männer in der Praxis (denn das weite Feld der Theorie überlasse ich sehr gern den Universitäten), ich unterrichte, ich biete jenen Ariadnefaden an Ratschlägen, durch dessen Führung sie am besten den sehr verwickelten Täuschungen des Labyrinths der Krankheiten entkommen können  : Darüber hinaus stelle ich die ärztlichen Regeln dar, an Hand derer der richtige Weg und die richtige Art und Weise Medizin zu betreiben mit ganz kurzen Ratschlägen und ausgesuchten Beispielen einleuchtend aufgezeigt werden, und umso lebhafter gehe ich freilich dieses Werk an, weil der zu unserer Zeit berühmteste Arzt, einst mein zuverlässigster Lehrer, während er noch lebte, meinem Unterfangen gewogen war  ; er riet dem jungen Arzt im Vertrauen, daß er sich, bevor er eine Praxis eröffnet, in bevölkerungsreichen Städten, auch wenn sie sich nicht mit Universitäten schmücken, eine Zeitlang aufhalten und der Führung durch die Stadtärzte folgen solle. Wenn Du einen genaueren Plan willst, hier ist er  : Das Collegium Medicum wird in zwei Teilen absolviert. [A4r] Was ich für einen Mysten unserer Kunst aus der Arithmetik, der Geometrie, der Optik, der Astronomie, der Astrologie (freilich der gesäuberten, was wollen wir nämlich mit der abergläubischen) & der Geographie für das Heilen als nützlich erkannt hatte, das wählt der erste [Teil] aus, führt es in eine Lektion zusammen und illustriert es an medizinischen Beispielen. Der andere [Teil] kennt wiederum [auch] zwei Kurse  : der erste führt den Medizinstudenten nicht ohne Vergnügen durch die lieblichsten Auen und die so vielen mit ihren natürlichen und verschiedenen Farben gemalten Gefilde, er sammelt wie die Bienen das Nützliche, wobei die übrigen Jünger der Flora [d. h. Botaniker], die mehr nach Ruhm als Nutzen streben, weggelassen werden, weil nicht eine faule Menge genährt werden soll und es besser ist, sein Vertrauen auf wenige Fleißige zu setzten, wenn nur das richtige Heer wohlvertraut und gut unterrichtet ist. Denn Kriege entscheiden sich eher durch die richtige Auswahl an Soldaten als durch unzählige Truppen. So führt er [der erste Kurs] den Menschen zum, ja geradezu in den Menschen, damit er sich und die Nester seiner Schwäche gut wahrnimmt und sich aufschreibt, wie vielen und welchen Krankheiten die einzelnen Glieder unterworfen sind, damit nicht irgendwann einmal, wenn die Lunge leidet, der eingewachsene Nagel behandelt wird. Sobald es an die Lehre geht, erklärt er [der Kurs] Schwierigeres, beseitigt Zweifel im Kern, beurteilt die Zeichen der Temperamente, die Krankheiten der Kranken aus dem Aussehen, dem Urin, dem Puls der Lebenden, diagnostiziert, geht hierauf über chirurgische Operationen zur Methodik des Heilens über und bringt schließlich in der Werkstatt des Apothekers und der Küche des Chymikers unseren Faden zu Ende  : So forme ich die Geister meiner Schüler für die hohe Kunst vor, so begleite ich sie liebevoll von Anbeginn, so bringe ich, indem ich meine Bäumchen mit einem Zaun umhege, kerzengerade Sprößlinge der Gelehrsamkeit hervor, so schicke ich meine mit Milch genährten Schüler an die Universität, damit sie dort lernen, festere Nahrung zu kauen. Der zweite Kurs indes bemüht sich, die innersten Geheimnisse und Heiligtümer der Praxis auszubreiten, führt die Kandidaten der Praxis zu den ergötzlichen Plätzen der Beobacht

Anhang  : Edierte Quellentexte

ungen und Beratungen, um an lebenden Beispielen die Heilung der Kranken, zu deren Behandlung wir uns verpflichten, zu zeigen, [A4v] und erklärt die Methode des Erkennens und Heilens auf den Spuren des uns vorangegangenen höchst ehrenwerten [Johannes] Praevotius, gibt Übungen zu Konsultationen vor, korrigiert, zeigt Fehler auf, macht vertraut mit den Beobachtungen und Erfahrungen der berühmtesten Fürsten der medizinischen Kunst, eines Mayerne, eines Mösler, eines Arnisaeus, eines Weidner und anderer Heroen in der Kunst, und eröffnet schließlich, was bereits über einige Jahre von mir mehr mit Sorgfalt als Zeit in den bevölkerungsreichsten Gebieten Europas beobachtet worden ist, ohne Mißgunst, ohne Gewinnsucht, ganz offen. Was übrig bleibt  : [der Unterricht] hält immer Maß, beschwert nicht den Zuhörer mit unangemessenen Auslassungen über das nicht Notwendige, schafft aber auch nicht durch allzu prägnante Kürze Ungewißheit  ; dies ist es, was die in reichem Maße erfahren werden, denen es – mit Gottes gutem Willen – gegeben ist, den Weg, den wir aufzeigen, mit uns und unseren Freunden zu beschreiten. Siehe also selbst, hochberühmter Herr, meine Aufgabe, die die Bitten meiner Freunde mir aufgebürdet haben, wozu die Ratschläge von klugen Menschen mich überredet haben  : hier wird unser Versuch gewissermaßen der Medizin zum allgemeinen Gebrauch überlassen, nichtsdestoweniger er viele Rhadamanten [=Richter] gegen sich sehen wird, wie in dieser Zeit der eine die Begabung des anderen neidet und angreift  : ich fürchte den Neid und die Kritik der Mißgünstigen nicht, von der ich weiß, daß sie die Gefährten derer sind, die sich um das Gemeinwesen, auch das gelehrte, bemühen. Es hält mich mein Streben aufrecht, anderen zu dienen, den Freunden zu entsprechen, auch Deinem lauteren Urteil sowie dem von Deinesgleichen. Dies ist, was ich allen zukünftigen Lesern dieser Erklärung vom Himmlischen Arzt wünsche. Leb wohl, liebster Freund, und stehe weiterhin unserem Unterfangen wohlwollend gegenüber.

Text 3  : Nicolaus Peucker  : Biographisches Gedicht auf Johannes Magirus (1650b, Bl. A2r–A3v) [A2r] Schreib ferner von der Kunst der Sternen und der Cur, // Du Heimlichkeitensohn und Forscher der Natur, Magirus, deine Schrifft wird in der Marck nicht liegen  ; // Der Auff- und Nidergang der Sonnen soll sie kriegen. Du hast sie nicht nur bloß gelernet überhin, // als manche, die nach Art der Gäns auffs Wasser ziehn, und bleiben, wer sie sind. Die Hohe Schul zu Leyden // hieß dich schon dazumal von andern unterscheiden,

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Anhang  : Edierte Quellentexte

als Screvel, Heurnius, Waleus, Falckenberg // dich auf Hippokrates gewiesen und sein Werck  ; und als dich Vorstius führt in den Kräuter-Garten, // darinnen du beschaust die Kräuter mancher Arten, mit ihren Tugenden. Wars nicht zu Amsterdam, // da dich ein grosser Artzt in seine Wohnung nam, und nach der Wissenschaft den Richtsteig liesse gehen  ; // wie stetig sahe man dich in der Werckstatt stehen, [A2v] dem Kram der Kräuterey, wann Atzney ward gemacht  ; // wie fleissig hattest du nach den Balbierern Acht, wann sie das Krancken-Haus, daselbst berühmt, besuchten  ; // und bald auß diesem, bald auß jenem Säffte kochten, und kostbarliches Oel. Das zweymal fünffte Jahr // ist allbereit vorbey, als die vergönnet war dergleichen anzusehn  ; Jetzt ist das Dritte kommen, // nachdem du dieser Kunst dich selber angenommen, und die Corallenkraft durchs Fewer außgebrannt. // War dir zum Haage nicht in Holland Rumpff bekand, der Leib-Artzt Koniglich- und fürstlicher Personen  ; // du mußtest, wann er aß, ihm an der Seite wohnen, wann Printzen Tafel war, damit er auß der Kunst // mit dir zu reden nam, und was von Weißheit sonst noch neben unterlief. Was hast du dir vor Ehre // zu Franckfurt beygelegt, mit Himmelslauffes Lehre und dann mit deiner Cur. Die Bürgerschafft ist dir // von Hertzen huld, und liebt deßwegen auch in ihr den Stamm, von dem du kömmst. Du werest da geblieben, // sofern dich nicht der Krieg und Unruh weggetrieben, so Franckfurt stets betraff. Deß Landes-Fürsten Schloß // und die geparte Statt Berlin gab ihre Schoß zu deiner Wohnung ein, in welcher du bis heute // dich bringst mir deiner Kunst in Lob und Ruhm der Leute, die etwas mehr verstehn. Es danckt dir mancher Mann, // der Knabe sonderlich, der von Geburtszeit an lahm und gebrechlich war, den unter seinen Händen // so mancher Artzt gehabt. Was Gott durch dich will wenden, [A3r] da braucht er keinen mehr, damit dein Meisterrecht vor aller Welt erscheint. Das menschliche Geschlecht

Anhang  : Edierte Quellentexte

verwundert sich in dir der reichen Himmels-Güte. Hat Gott durch deine Hand der Königin Geblüte, das Schweden von sich ließ und wieder zu sich nam, //nicht wieder auffgebracht  ? Das Schreiben, welches kam von ihrer eignen Hand, an dich einmal gegeben //gab Zeugnis, daß du sie behalten bey dem Leben, sie danckte Gott und dir. Kam sie nicht wieder auff  ? //daß sie die Mark durchzog, nach Braunschweig und darauff nach ihres Königs Grufft. Man hört dir Zeugniß legen //die, welche neben dir der krancken Leiber pflegen in Cölln als auch Berlin, bey welchem du nunmehr //ins zweimal vierdte Jahr erworben Gold und Ehr, 30 - die mehr als Goldes werth. Dir were mehr beschert. //Wann nicht Bellonen-Volck die Mark so sehr verzehret, und gar fast ausgemarckt. Und daß bis heute noch //kein Mensch erdencken kann, was vor ein End und Loch das Kriegen nehmen wird. Deß Drangsal ist kein Ende. //So gar, daß mancher Mensch zusammen schlägt die Hände, und ihm nicht anderst wünscht als Kranckheit und den Tod, //der eintzig und allein verhilfft auß Creutz und Noht. Du thätest auch wol mehr bisweilen bey den Krancken, //wofern dieselben sich nur hielten in den Schrancken, darein du sie, der Artzt, nothwendig eingethan. // Ein Weib gilt manchem mehr als ein gelerhter Mann. Da wollen sie zuvor den Besten außerwehlen, // Ja dörffen endlich wol dem Artzte gar befehlen, [A3v] was er mit ihnen thun und unterlassen soll, //sind kranck und selber Artzt. Das dir am besten wol, Magirus, wird bekand. Doch bleib bey deinem Wesen, //und laß, als wie vorhin, auß deinen Schrifften lesen, welch Tag und welcher nicht zu Artzney dienstlich sey. // Wer rein Gehirne trägt, der fällt dir gerne bey, wer fragt nach Zoilus. Es ist der Brauch auf Erden, //was nich kann nach gethan, das muß gehasset werden. N[ikolaus] M. P[euker] C.E.C.P.A.F.E.

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Anhang  : Edierte Quellentexte

Text 4  : Observatio  : Beobachtung einer Himmelserscheinung im Jahr 1648 (UBM, Ms. 97, S. 28–31) [S. 28] Links in margine  : Prodigia »Denselben berichte ich hiemit, was sich den 20. Januar umb ½ 8 uhr am abendt vor wunderdinge am himmel begeben, welche von mir, 2 reuttern, so von Wrietzen nacher Franckfurt gewolt, gesehen  ; Item einen schreiber von Zeden und die fuhrleute so bey den 3 wagen gewesen, welche alhier nacheinander abgehöret, und so berichten wie folget. Als wir durch das Städtlein Selow gefahren, drei naher Frankfurt, da uns der R stundt etwas zur rechten, zwischen Süden undt Westen an ansehen und helle schien, kam ungefehr zur lincken seiten des Orions, ein ungewöhnlich klarer stern gantz hell von farben von Mittagewehrts herauf in der größe eines zinnern tellers anzusehen, etwas hinter denselben, doch zur linken handt zwischen Süden und Westen einer spannen breit, setzte sich zwischen den ungewöhnlichen großen hellen stern ein heller doch kleinerer stern, die beyde machten es so hell, als were es tag gewesen, drob wir uns alle verwunderten und sahen mit verwunderung für uns auf dem wege in die höhe, erschracken auch sehr ob des sterns, welcher auf dem wege da wir ritten, schraks für uns uber dem Orion in die höhe stundt. [S. 29] Nach einer halben Viertel stunden erhub sich vor uns zur lincken handt aus dem Morgen ein erschrecklicher feuriger und blutiger Stern in größe gleich der Q, welcher einen schröcklichen glantz von sich gab, und sehr schnel nachdem vor uns in der höhe großen klaren stern eiligst zunahm, der klare Stern aber stundt stille  ; do er nur einen handt breit von ihm kam, wandte er sich ein wenig zur rechten, undt gieng zu rücke, wie hinten ohngefehr abgeschrieben stehet, ein par klafter lang nach seinen gang den er kommen wahre, in einem huy aber schoß er vor sich und stieß mit dem großen klaren stern zusammen, stritten hefftig, schoßen die strahlen auf ein ander das lauter fewer wardt, davon uns die augen verblendeten, baldt war einer oben, baldt der andere, doch war der helle Stern vil geschwinder umb den andern herumb zuspringen, undt schoß heftig auf ihm. Der kleine helle Stern aber der im anfang mit diesem einen $ gemachte, verschwandt baldt im anfang dieses streits, und der Streit wehret eine halbe Stunde, drauf kahm eine große finsternüß, das man weder den klaren noch den rothen feurigen Stern sehen kundt, undt ein rauch kam, und bedeckte den R undt alle andere Sternen am himmel. [S. 30] Es wardt sehr finster, aber der große feurige Stern ging ehe es noch recht finster wahr, schnel seinen weg nach morgen zurück, ehe die finsternus kahm, der klare aber blieb an seine stelle da er gestritten war, undt in der höhe gestanden, hatte aber seinen glantz etwas verlohren, darauf wurde es erst rechts finster, da erschracken wir alle. Diese finsternüß

Anhang  : Edierte Quellentexte

wehret ¼ stunden, da kahm vor uns der klare große helle Stern in der höhe wieder hervor, und gläntze viel heller den zuvor, hatte unter sich viel strahlen gleich einer großen gebundenen Rockengarben, welcher ähren von den garben zurück wegen der schwere hengeten, zu uns da wir ritten nach Selow wehrts. In dem wir seine schöne sahen, kahm der R auch wieder hervor, die finsternüß verging das man alle Sternen am himmel sehen konnte, da wurden wir des schrecklichen feuersterns nach dem morgen auch wieder gewahr, welcher war wie ein klumpen bluts, undt größer den zuvor, aber nur eine klafter hoch uber der erden, er ging aber alsbaldt unter im morgen, der kleine aber blieb mit seinen uber sich schießenden strahlen vor uns in der höhe bestehen. Das Sieben gestirn [S. 31] war ihm zur rechten gegen den abendt, der Orion hinter ihm gegen mittag, sein glantz fast heller den der R, drauf kahmen wir in das dorff Libbenichen, da zeigten wir diesen Stern dem Krüger mit allem seinen gesinde, undt giengen drauf in die Stuben undt legeten uns schlaffen ungefehr umb 10 Uhr. [S. auch die zugehörige Skizze  : Kap. 2.1.2., Abb.1]

Text 5  : Eine handschriftliche Gelehrtenbibliothek (D. Magiri manuscripta) (HStAM, Bestand 5, Nr. 7940, Bl. 10r–11r) Loci communes Medici in folio 2 Tomi. Locorum communium Tomi VIII in quarto in quibus Theologica, iuridica, Medica & philosophica continentur, inter quae Neotechni manuscriptum de morbis infantum & Mayerni Archiatri Regis Angliae Caroli II. Medicina Castrensis . Loci communes in duod[ecimo]  : Tomus unus. Observationum Medicarum in quarto Tomi quattuor. In duod[ecimo]  : Tom[us] 1. Manuscripta Mathematica in folio vom Landmeßen Fortif[ikation] wie auch unterschiedliche brieffe von L[andgraf ] Hermann L[andgraf ] von Heßen hochseligen andenckenß. professoris Trew in Aldorff undt andern gelehrten leuten. Manuscripta mathematica in quarto Tomi 4, in quibus lectiones Arithmeticae, Geometricae, Astronomicae undt Geographicae die theils Anno 1630 von H[errn] Benjamin Ursino Professore Matheseos zu Franckfurt ahn der Oder theils zu Wittenberg Anno 1635 von Schmidio Notnagel Professoribus P[ublicis] undt Magister Wendler gehalten worden sindt, wie auch der Calculus Ecclipticus einer sonnen undt mond finsternüß von 1645. deßgleichen mein tractatus de stellis lateinisch in welchem unteranderm bewießen wird daß die Loca so auß der hl. Schrift undt dem Corpore iuris wider die Mathematicos ahngezogen werden, die heutige nicht ahngehn und daß die Mathematici, so [10v] Zu denselben Zeiten gelebet haben alle Zauberer undt abgötter undt in Mathesi vera große ignoranten geweßen sein.

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Anhang  : Edierte Quellentexte

Kepleri und Eichstadii recentiorum Theses de Astrologiae fundamentis certioribus. Meine gedancken über den Cometen des 1652. jahrß. Bericht wie man deß nachts ahn dem mond wißen könt welche stunde eß sey. Compendium historiae universalis deßen anfang zu Zerbst geleßen worden. Loci Commun[es] Geometrici, Astronomici & Astrologici, Architectonici deßgleichen extract auß den schiffarten so zu dießen letzten Zeiten in Osten und Westen gehalten worden. Gaeographia Professoris Schmidii zu Wittenberg mit Lectiones Arithmeticae, Geometricae, Astronomicae, Opticae, Geographicae, Cronologicae, Architectonicae militaris und Civilis. Eine Arithmetica so Anno 1670 in usum Paedagogii geschrieben worden aber noch nicht getruckt ist weil sich kein Verleger dazu finden will. Lectiones historicae a mundo condito usq[ue] ad tempora Xerxis & Hippocratis so publice profitiret worden, da ich Professor historiarum geweßen bin sc. Anno 1659 und 1660. Methodus studendi Theologiam ex Doctoris Dist[…] Pro[11r] fessoris Theologiae methodo excerpta. Physica m[anu]s[cripta] so publice zu Zerbst profitiret worden. Ethica ex Wendelini opere magno in 8vo extracta. Ethica Christiana secundum decem pracepta sacra disposita. Meine Politica. Endlich gedancken über die Evangelica des 1. 2. 3. Advents Math. 2. Nativitatis Christi undt Epiphaniorum von der ankunfft der Weyßen auß Morgenland zu Christo da Jesus gebohren ward zu Bethlehem etc.

Text 6  : Besoldung der Bediensteten der Brandenburgischen Hofapotheke (nach 1652) S. König (1792), S. 299–300. Die Tabelle ist bei König nicht datiert  ; da aber die genannte, mit zusätzlichen Mitteln ausgestattete »destilatory« in anderen Akten erstmals 1652 erwähnt wird (s. Bahl [2001], S. 469), ist dieses Jahr als terminus post quem anzusetzen  ; das Todesjahr des Christoph Fahrenholtz (1635–1680  ; s. Bahl [2001], S. 84) darf als terminus ante quem gelten. Christoph Fahrenholtz, Hofapotheker, welcher zugleich die Wasser destiliret 418 Thl. 13 Gr. 8 Pf.

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Anhang  : Edierte Quellentexte Besoldung

100 Thl.

Fischgeld

10 Thl.

Für seine Kleidung

20 Thl.

Auf ihn und einen Gesellen an Deputat 3 Wispel Rogken

36 Thl.

3 Wispel Gersten

36 Thl.

1 Wispel Hopfen

6 Thl.

2 Scheffel Erbsen

1 Thl. 12 Gr.

1 Ochse

12 Thl.

3 Hammel

4 Thl.

4 Schafe

3 Thl. 12 Gr.

3 Schweine

15 Thl.

1 Tonne Butter

24 Thl.

1 Tonne Käse

6 Thl.

3 Scheffel Salz

3 Thl. 9 Gr.

2 Scheffel Buchweizen-Grütze

1 Thl. 12 Gr.

2 Stein Talch zum Lichten

7 Thl. 12 Gr.

8 Hauffen Holz werden ihm aus dem Holzgarten vor die Hofapotheken gegeben, freye Wohnung in der Hof-Apothek. Noch bekombt er dazu wegen des destilatory auf einen Jungen zur Zulage. / 396 10 Scheffel Rogken

5 Thl.

10 Scheffel Gersten

5 Thl.

½ Scheffel erbsen

9 Thl.

½ Scheffel Salz

13 Thl. 6 Gr.

20 Pfund Butter

2 Thl. 9 Gr. 7 Pf.

3 Schock Käse

18 Gr.

1 ½ Scheffel Buchweizen

1 Thl. 3 Gr.

½ Schwein

2 Thl. 12 Gr.

1 Mertz Schaaf

21 Gr.

Zur Kleidung

5 Gr.

Des Hof-Apothekers Gesell an Besoldung

25 Thl.

Der Stoßer Michel Appel Besoldung

19 Thl. 12 Gr.

8 Scheffel 8 Brot

4 Thl. 1 Gr.

7 Tonnen 14 Stübg. Speisebier

7 Thl. 21 Gr.

Die Kräuter-Frau nebst ihren Mädchen so lernen müssen

52 Thl. 4 Gr. 7 Pf.

Biographie

Frankfurt/Oder und erste Studien (1616) November 1615

Tobias Magirus siedelt mit seiner Familie nach Frankfurt/Oder um. JM ist nach eigener Aussage »kaum ein Jahr alt«.

Magirus (1671b), Bl. A2v.

27.11.1615

JM wird in Joachimsthal geboren (»denn ich in meiner Kindheit, da ich kaum ein Jahr alt, alsbald mit meinem seeligen Vatter, weiland Professore daeselbsten nach Franckfurt kommen«).

Magirus (1671b), Bl. A2v–A3r  ; Strieder (1788), S. 220 gibt als Geburtsort Frankfurt/Oder an.

1617

Immatrikulation JMs an der Viadrina in Frankfurt/Oder.

Friedländer (1965), S. 218.

1627–1630

JM erhält von Kollegen des Vaters, u. a. Benjamin Ursinus, Privatunterricht in den septem artes.

Magirus (CP), Brief an den Leser (unpag.)  ; Magirus (1671b), Bl. A2v.

5.6.1631

Immatrikulation JMs am Gymnasium in Thorn  ; er beobachtet die Fortifikation der Stadt.

Nowak/Tandecki (1997), S. 95  ; Magirus (CP), Brief an den Leser (unpag.).

25.6.1635

Immatrikulation an der Leucorea in Wittenberg. JM betreibt Medizin und Mathematik. (Nach Matrikel kein Magister  !)

Weissenborn (1934), S. 389  ; Magirus (1671b), Bl. A2v.

[1636  ?]

JM studiert bei dem brandenburgischen Ingenieur Cunitz in Küstrin die Fortifikation.

Magirus (CP), Brief an den Leser (unpag.).

1636

JM kehrt nach Frankfurt/Oder zurück Magirus (1671b), Bl. A2v. und hält dort Collegia Mathematica über Kosmographie und Fortifikation. Es wird ihm die Professur der Mathematik angeboten, die er ablehnt.

Peregrinatio Academica (1637–1640) 31.7.1637

Immatrikulation an der Universität in Leiden  ; Wohnort  : bij Joffrouw de fries.

Weissenborn (1934), S. 389  ; Leiden, University Library, Archief Senaat en Faculteiten, inv. nr. 9, page 182.

[Oktober 1637  ?] JM beobachtet die Belagerung von Breda. Magirus (CP), Brief an den Leser (unpag.)  ; Magirus (1669b), Bl. A3v.

315

Biographie 1637

JM hält in Leiden aus Geldmangel Collegia Mathematica. Zu seinen Schülern gehört Johann Caspar von Döringenberg (1616–1680), später hessischer Geheimer Rat.

Magirus (CP), Brief an den Leser (unpag.)  ; Magirus (1669b), Bl. A3v.

1637

JM wohnt in Leiden einer Leichenöffnung bei.

GstA BPH Rep. 32 V 46  : Iudicium de morbo, causis eius et morte Illustrissimi Domini Ernesti principis, f. 83v  ; StaBi Berlin Ms. boruss. qu. 81  : JM an Markgräfin Christina von Brandenburg, 26.9.1642, Bl. 7r.

[1637]

Während des Aufenthalts in Leiden erfährt JM von drei Matrosen, die an Kohlendioxidvergiftung (Kohlen-/Torffeuer) erstickt sind.

Magirus (1652a), November/Wintermonat (unpag.).

[1637–1638]

Medizinische Studien. Als Lehrer werden Magirus (1650b), Bl. A2r. Ewald Schrevelius (1575–1647), Otto Heurnius (1577–1652), Johannes Walaeus (1609–1649), Adrianus von Falckenberg (1581–1650) sowie Aelius Everhardus Vorstius (1565–1624) genannt.

1639

JM lernt in der Praxis des Arztes Georg Magirus in Amsterdam  ; er beobachtet die Arzneiherstellung in der Apotheke und die Arbeit der »balbiere« im Krankenhaus.

Magirus (1666), S. 20  ; Magirus (1650b), Bl. A2r–v.

[1639]

Aufenthalt in Den Haag, wo JM durch den Leibarzt der Prinzen Moritz und Friedrich von Oranien, Christian Rumpff (1580–1654), Kontakt mit dem Hof erhält.

Magirus (1650b), Bl. A2v.

[1639/40]

JM reist in Frankreich und England. Vermutlich führt die Reiseroute von den Niederlanden über Paris, Angirs, Saumur, Nantes, London und zurück wieder über DenHaag.

Magirus (CP), Brief an den Leser (unpag.). Magirus, Johannes [KA3], Abschn. IV (unpag.)  ; Magirus (1661a), Bl. D3r  ; Magirus (1646b), Bl. A2r.

[1640  ?]

Promotion in Frankreich (Ort unbek.).

Brandenburgisches LHA Rep. 86, Nr. 21  : Dekanatsbuch der Medizinischen Fakultät der Universität Frankfurt/Oder, S. 57.

1640

JM bittet Gerhard Johannes Vossius um die Vermittlung einer Hauslehrerstelle in Leiden, um in den Niederlanden bleiben zu können.

Brief von Gerardus ­Joannes Vossius an ­Johannes Magirus, Amsterdam, 21.9.1640 [XI. Kal. Octobris MDCXL] (Oxford, Bodleian Library, MS Rawl. letters 84 (a), fol. 117  ;

316

Biographie Regest [M. Stolberg] unter  : www.aerztebriefe.de/id/00022226, Zugriff vom 7.12.2017). 1640

JM kehrt nach Frankfurt/Oder zurück und hält Collegia Mathematica und ein Collegium Anatomicum.

Magirus (CP), Brief an den Leser (unpag.).

1640

JM verläßt Frankfurt/Oder und geht nach Berlin  ; die Medizinische Fakultät hat ihm das Praktizieren nicht erlaubt.

BLHA Rep. 86, Nr. 21, S. 56/7  : Dekanatsbuch der Medizinischen Fakultät der Universität Frankfurt/Oder, S. 57.

Berlin (1641  ?–1650) September 1642

Zusammen mit den Ärzten Martin Weise und Christopherus Maius behandelt JM den Markgrafen Ernst von Brandenburg und schreibt das abschließende Gutachten über die Todesursache.

GStA PK, BPH, Rep. 32 V 46  : Iudicium de morbo, causis eius et morte Illustrissimi Domini Ernesti principis  ; StaBi Berlin Ms. boruss. qu. 81  : JM an Markgräfin Christina von Brandenburg, 26.9.1642.

20.11.1643

Heirat mit Dorothea Bergius, Tochter des Hofpredigers Johannes Bergius.

ELAB, Kirchenbuchstelle Alt-Berlin 9/42, S. 39.

September 1644

Taufe der Tochter Dorothea

ELAB, Kirchenbuchstelle Alt-Berlin 9/1, S. 167.

Montag nach Trinitatis, 1645

JM hält sein erstes Mathematisches Col- Magirus (1646b), Bl. C2v. legium (Niederländisches Landmessen) in Berlin.

6.12.1645

Taufe des Sohnes Johannes.

ELAB, Kirchenbuchstelle Alt-Berlin 9/1, S. 173.

22.3.1646

Tod des ersten Kindes.

ELAB, Kirchenbuchstelle Alt-Berlin 9/54, S. 53.

2.12.1646

Tod des zweiten Kindes.

ELAB, Kirchenbuchstelle Alt-Berlin 9/54, S. 54.

6.5.1647

Taufe des Sohnes Johannes Adolph (Todesdatum unbekannt).

ELAB, Kirchenbuchstelle Alt-Berlin 9/1, S. 186.

27.5.1647

Tod der Ehefrau Dorothea und des Sohnes.

ELAB, Kirchenbuchstelle Alt-Berlin 9/54, S. 55.

September 1647

JM begleitet die Königinwitwe Eleonora von Schweden als Leibarzt von Berlin nach Braunschweig (?)  ; unterwegs hat er von Schoningen aus Kontakt mit Hermann Conring.

Sennert, Daniel (1672), S. 96b (1 Lagenzählung doppelt).

20. Januar 1649

JM ist auf dem Weg von Berlin nach Frankfurt/Oder und beobachtet zwischen Seelow und Libbenichen eine Himmelserscheinung.

UB Marburg, Ms. 97, S. 28–31.

317

Biographie Kurz nach Ostern 1649

JM sieht in Frankfurt/Oder ein letztes Mal seinen dann kranken Vater Tobias Magirus.

HStAM, Best. 5 (Geheimer Rat), Nr. 206, S. 3–4.

Vor 1650

Heirat mit Anna Justina Czaplinia, Tochter des Arztes Samuel Czaplinius.

ELAB, Kirchenbuchstelle Alt-Berlin, Signatur 33/7  : St. Nikolai, Taufen 1650–1658, S. 298  ; UBM, Ms. 95, Vorsatzblatt.

1650

Geburt der Tochter Catharina Elisabeth [verh. 6.3.1671 mit Adolph Wilhelm Weber aus Niederaula, J(uris) U(triusque) L(icentiatus).].

Stahr, Bd. 14, Nr. 107.

Zerbst (1651–1656) 17. März /19. April 1651

Behandlung des Grafen Justus Günther von Barby und Walternieburg.

UBM, Ms. 96, S. 197–202.

3. Mai 1651

JM beobachtet drei Sonnen mit einem Zirkel und zwei Bogen.

Magirus (1671b), Bl. B2r.

1.11.1651

JM bekommt das Bürgerrecht von Zerbst geschenkt.

Schulze (1925), S. 31.

Ostern 1652

Vokation als Professor der Mathematik am Gymnasium Illustre in Zerbst.

LASA DE, Z 87 (Hauptarchiv Zerbst), CL. Nr. 16 70a.

1652

Geburt der Tochter Anna Dorothea [verh. 14.10.1675 mit Heinrich Rietmann aus Schaffhausen, Theologe].

Stahr, Bd. 14, Nr. 107  ; Strieder (1788), S.  220  ; Wipf, Hans Ulrich  : Johannes Rietmann, in  : Schaffhauser Beiträge zur Geschichte 58 (1981), 231–35, S. 231.

1652

JM beobachtet im Fürstentum Anhalt den Lauf eines Kometen.

Magirus (1671b), Bl. B2r.

Oktober 1652

Zusätzliche Vokation als Professor der Physik am Gymnasium Illustre in Zerbst.

LASA DE, Z 87 (Hauptarchiv Zerbst), CL, Nr. 16 81r.

  ?.1653– ca. 1.1.1654

JM besucht den kurfürstlichen Hof in Berlin und hat Kontakt mit Friedrich Wilhelm von Brandenburg und SophieElisabeth von Braunschweig-Lüneburg.

AGIZ  : Johannes Magirus an Fürst Johannes IV. von Anhalt-Zerbst  : Zerbst, 3. Juni 1654.

November 1655

JM im Konflikt mit dem Rat der Stadt Zerbst.

AGIZ  : Die Räte der Stadt Zerbst an den Rektor des Gymnasium Illustre  : Zerbst, 12.  November 1655  ; AGIZ  : Johannes Magirus an den Richter von Zerbst, 4.12.1655.

7.4.1656

Resignation JMs an den Fürsten.

LASA DE, Z 87 (Hauptarchiv Zerbst), CL Nr. 16, Bl. 278r  : Johannes Magirus an die Fürsten von Anhalt, Zerbst, 7.4.1656.

318

Biographie

Marburg (1656–1697) 1656

JM erhält die Professur der Mathematik in Marburg.

Strieder (1788), S. 220.

1656

Geburt der Tochter Sophia Justina [verh. 7.11.1678 mit Georg Wick aus Alsfeld, Dr. med.].

Stahr, Bd. 14, Nr. 107  ; Strieder (1788), S. 220.

1659

Geburt der Tochter Maria Catharina [Verbleib unbek.].

Stahr, Bd. 14, Nr. 107.

März 1659

JM erhält zusätzlich zu seiner Mathematik- auch die Geschichtsprofessur.

UAM, Bestand 305a, Nr. 5956.

1660

JM reist im Auftrag des Pfälzischen Ho- UAM, Bestand 305 o (Nachträge II), Nr. 154  : Johannes Magirus an Johann fes nach Den Haag. Caspar von Döringenberg, Marburg, 9.12.1663.

1661

JM erhält die Professur der Medizin.

Strieder (1788), S. 220.

Mai 1664

Geburt der Tochter Hedwig Sophia [Verbleib unbek.].

Stahr, Bd. 14, Nr. 107.

1668

Rückkehr von Naumburg.

HstAM, Best. 5 (Geheimer Rat), Nr. 8143, Blatt 3r–4v.

21.10.1670

Stahr, Bd. 14, Nr. 107. Taufe des Sohnes Wilhelm Magirus [am 9.10.1679 ins Gymn. Marburg aufgenommen, immatrikuliert 3.9.1685 an der Universität Marburg, 13.6.1691 in Frankfurt/Oder  ; danach Verbleib unbek.].

1.7.1672

JM verklagt den Nürnberger Buchdruc- Diefenbacher/Fischer-Pache (2003), ker Endter. S. 121.

1676

JM wird Hessischer Rat.

Gundlach/Auerbach (1927), S. 368.

1678/1693

JM hält sich auf dem hessischen Schloß Wolckerdorf auf.

HStAM, Best. 5 (Geheimer Rat), Nr. 7940 (Dr. Magirus, Professor der Medizin zu Marburg)  ; div. Briefe.

11.2.1697

Tod.

Strieder (1788), S. 220.

Abbildungsverzeichnis Abb. 1  ; 5  : © Stadtarchiv Altenburg, mit freundlicher Genehmigung. Abb. 2  : © Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, mit freundlicher Genehmigung. Abb. 3  ; 6  ; 7  : © Universitätsbibliothek Marburg, mit freundlicher Genehmigung. Abb.4a–c  : © Bildarchiv Foto Marburg, mit freundlicher Genehmigung. Abb. 8  ; 9  : © Universitätsbibliothek Marburg, mit freundlicher Genehmigung. Abb. 10  : © Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, mit freundlicher Genehmigung. Abb. 11  : © Wikimedia Commons. Abb. 12  ; 17  ; 18  ; 19  : © Universitätsbibliothek Marburg, mit freundlicher Genehmigung. Abb. 13  : Frans van Mieris d.Ä., Ärztlicher Hausbesuch (1657). Carmichael, Ann G./Ratzan, Richard M. (Hg.)  : Medizin in Literatur und Kunst (Köln 1994), S. 191, Taf. 62. Abb. 14  : © Wellcome Collections (Open Source). Abb. 15  : © Stadtarchiv Altenburg, mit freundlicher Genehmigung. Abb. 16  : © Bayerische Staatsbibliothek München, mit freundlicher Genehmigung. Abb. 20  ; 23  : © Universitätsbibliothek Marburg, mit freundlicher Genehmigung. Abb. 21  : Jost Amman, Der Balbierer (1568). Abb. 22  : Rembrandt van Rijn, Die Anatomie des Dr. Tulp (1632). Carmichael, Ann G./Ratzan, Richard M. (Hg.)  : Medizin in Literatur und Kunst (Köln 1994), S. 185, Taf. 57. Taf. 1  ; 3–6  : © Universitätsbibliothek Marburg, mit freundlicher Genehmigung. Taf. 2  : Jan Steen, Schwangere Frau beim Arztbesuch (1657). Carmichael, Ann G./Ratzan, Richard M. (Hg.)  : Medizin in Literatur und Kunst (Köln 1994), S. 186, Taf. 55. Taf. 7  : Gerard Dou, Die junge Mutter (1658). Baer, Ronnie  : Gerrit Dou  : 1613–1675. Master Painter in the Age of Rembrandt [National Gallery of Art, Washington, 16 April–6 August 2000  ; Dulwich Picture Gallery, London, 6 September–19 November 2000  ; Royal Cabinet of Paintings Mauritshuis, The Hague, 9 December 2000–25 February 2001] (Washington 2000), S. 55. Taf. 8  : Gerard Dou, Die Wassersüchtige (1663). Laclotte, Michel/Cuzin, Jean-Pierre  : Europäische Malerei außerhalb Frankreichs (München 1982), S. 75.

Tafelteil

Taf. 1  : Titelblatt des Diarium. UBM, Ms. 96.

322

Tafelteil

Taf. 2  : Jan Steen, Schwangere Frau beim Arztbesuch (1657). Prag, Nationalgalerie.

Tafelteil

Taf. 3  : Ein Eintrag in das Diarium aus Berlin. UBM, Ms. 96, S. 51.

323

324

Tafelteil

Taf. 4  : Ein Eintrag in das Diarium aus Zerbst. UBM, Ms. 96, S. 302.

Tafelteil

Taf. 5  : Ein Eintrag aus dem Diarium mit der typischen Mischung aus Fallgeschichte, Fachliteratur und Rezepten. UBM, Ms. 96, S. 533–34.

325

326

Tafelteil

Taf. 6  : Johannes Magirus’ Zeichnung der Befestigungsanlagen von Frankfurt/Oder. UBM, Ms. 392, Bl. 1r.

Tafelteil

Taf. 7  : Gerard Dou, Die junge Mutter (1658). Den Haag, Königliche Gemäldegalerie Mauritshuis.

327

328

Tafelteil

Taf. 8  : Gerard Dou, Die Wassersüchtige (1663). Paris, Louvre.

Quellen- und Literaturverzeichnis

1 Archivalien Berlin, Evangelisches Landeskirchliches Archiv in Berlin (ELAB) Kirchenbuchstelle Alt-Berlin, 9/1  : Domgemeinde, Taufbuch 1616–1659. Kirchenbuchstelle Alt-Berlin, 9/54  : Domgemeinde, Bestattungsbuch 1616–1718. Kirchenbuchstelle Alt-Berlin, 28/4  : St. Marien, Taufen 1639–1648. Kirchenbuchstelle Alt-Berlin, 28/5  : St. Marien, Taufen 1648–1659. Kirchenbuchstelle Alt-Berlin, 33/7  : St. Nikolai, Taufen 1650–1658. Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz (GStA PK) I. HA Geheimer Rat, Rep. 9 Allgemeine Verwaltung, L 1, Fasz. 4, unpag.: Martin Weise an Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg, Berlin, 14.2.1641 (www.aerztebriefe.de/id/00004041). I. HA Geheimer Rat, Rep. 9 Allgemeine Verwaltung, L 1, Fasz. 5, unpag.: Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg an Johannes Cnöffelius, Cölln, 24.4.1655 (www.aerztebriefe.de/id/00020721). VI. HA, Nl Arnheim, F., Nr. 40  : Auszüge aus den Briefen der Maria Eleonore v. Schweden 1626– 1652 aus dem Reichsarchiv zu Stockholm. BPH, Rep. 32, V 46  : Iudicium de morbo, causis eius et morte Illustrissimi Domini Ernesti principis (www.aerztebriefe.de/id/00013596  ; www.aerztebriefe.de/id/00015252  ; www.aerztebriefe.de/ id/00015253  ; www.aerztebriefe.de/id/00015256  ; www.aerztebriefe.de/id/00013604). BPH, Rep. 33, W 50, Vol. 1  : Acta betr. Hofhalt und Reisen der verwitweten Königin von Schweden Maria Eleonora, geb. Markgräfin von Brandenburg und den ihr von Brandenburg und Schweden gewährten Unterhalt. Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz (SBPK) Autogr. I,1769  : Tobias Magirus an Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg, [Frankfurt/Oder, 1643]. Ms. boruss. qu. 81  : Kurtzes, jedoch gründliches Gutachten über Ihre Fürstlichen Gnaden Herrn Ernst Markgrafen zu Brandenburg und Herzogen zu Jägerndorffs Krankheit und todt und derselben Ursache durch Joannes [  !] Magirus (www.aerztebriefe.de/id/00013571). Breslau, Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu (BUWr) M 1571, Bl. 68v–70v  : Christoph Coler an Tobias Magirus, Breslau, 11.2.1648. Dessau, Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Dessau (LASA, DE) Z 18 (Abt. Bernburg), C 9d Nr. 4, Bl. 25  : Stephan Mylius an Unbek., Bernburg (Saale), 9.9.1628 (www.aerztebriefe.de/id/00013475). Z 87 (Hauptarchiv Zerbst), CL, Nr. 16  : Zerbster Gymnasialangelegenheiten 1648–1662, darin  : – Bl. 53r–70r  : Berufungsverfahren als Professor der Mathematik. – Bl. 81r  : Berufung als Professor der Physik. – Bl. 126r–144r  : Urteil des Rektors Heinsius über Johannes Magirus. – Bl. 136r–141r  : Aussage des Johannes Magirus über seine Vorlesungen.

330

Quellen- und Literaturverzeichnis

– Bl. 275  : Vorlesungsverzeichnis des Gymnasium Illustre. – Bl. 278r  : Johannes Magirus an die Fürsten von Anhalt, Zerbst, 7.4.1656 (www.aerztebriefe.de/ id/00036398). – Bl. 280r  : Johannes Magirus an Johannes VI. von Anhalt-Zerbst, Zerbst, 10.4.1656 (www.aerztebriefe.de/id/00036396). Z 87 (Hauptarchiv Zerbst), CL, Nr. 17  : Unfug einiger Gymnasiasten und Soldaten, Bl. 47a–48a  : Johannes Magirus an Johannes VI. von Anhalt-Zerbst, Zerbst, 21.12.1655 (www.aerztebriefe.de/ id/00036397). Z 87 (Hauptarchiv Zerbst), CLVI, Nr. 21  : Der von dem Bürger Poley tot geschossene Gymnasiast Daniel Finger (Inquisitionsakte), 1652  ; darin  : Johannes Magirus an Johannes VI. von AnhaltZerbst, Zerbst, 7.2.1653 (www.aerztebriefe.de/id/00011534). Z 92 (Kammer Zerbst), Nr. 8589, 692 f./708 f.: Johann VI. von Anhalt-Zerbst an Konrad Victor Schneider, Zerbst, o. D. (www.aerztebriefe.de/id/00013378). Frankfurt (Main), Universitätsbibliothek J. C. Senckenberg (UBF) Senckenbergarchiv, Ms. 332 – unpag.: Johannes Magirus an Johann Daniel Horst, Marburg, 12.10.1660 (www.aerztebriefe.de/ id/00018126). – unpag.: Johannes Magirus an Johann Daniel Horst, Marburg, 15./25.3.1661 (www.aerztebriefe. de/id/00018127). Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek (SUB) Cod. Ms. Meibom 151  : Ephemerides (Praxistagebuch Johann Heinrich Bossens), 1651–1655. Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky Sup. ep. 48, Bl. 342  : Johannes Magirus an Johann Daniel Horst, Schwalbach, 16./26.8.1660 (www. aerztebriefe.de/id/00006845). Helmstedt, Stadtarchiv A Nr. 6806  : Acta, das Physicat in Helmstedt betreffend, Bd. 1, unpag.: Bestallungskonzept (für Johann Heinrich Bossen) vom 16.5.1652 (www.aerztebriefe.de/id/00036410). Kassel, Universitätsbibliothek, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek (UB– LMB) 2° Ms. hist. litt. 4 – Johannes Magirus an Hedwig Sophie von Hessen-Kassel, Marburg, 22.10.1670 (www.aerztebriefe. de/id/00020875). – Johannes Magirus an Wilhelm VII. von Hessen-Kassel, Marburg, 22.10.1670 (www.aerztebriefe. de/id/00025519). Marburg, Archiv der Philipps-Universität (UAM) Bestand 305 a (Rektor und Senat) – Nr. 5570 (Professores Medicinae), darin  : Hedwig Sophie von Hessen-Kassel an die Professoren der Universität Marburg  : Kassel, 16.6.1670.

Quellen- und Literaturverzeichnis

Hedwig Sophie von Hessen-Kassel an Rektor, Dekane und Professoren der Universität Marburg, Kassel, 14.1.167. Johannes Magirus an Rektor, Dekane und Professoren der Universität Marburg, Marburg, 18.1.1672 (www.aerztebriefe.de/id/00036408). Hedwig Sophie von Hessen-Kassel an Johannes Magirus, Kassel, 14.6.1671 (www.aerztebriefe.de/ id/00036409). – Nr. 5955 (Professores Matheseos et Physices), darin  : Bl. 23r–v  : Bericht von Rektor, Dekan, Professoren der Universität Marburg an den Geheimen Rat, Kassel, 6.9.1721. – Nr. 5956 (Professoren der Geschichte und Beredsamkeit), darin  : Wilhelm VI. von Hessen-Kassel an Rektor, Dekane und Professoren der Universität Marburg, Kassel, 12.3.1659. – Nr. 7489  : Rektoratsprotokoll (1668) zum Dekanat des Johannes Magirus. Bestand 305 o (Nachträge II)  : – Nr. 154  : Johannes Magirus an Johann Caspar von Döringenberg, Marburg, 9.12.1663 (www. aerztebriefe.de/id/00021255). – Nr. 160  : Auseinandersetzung zwischen den Kindern des Professors Magirus um dessen Nachlass. Marburg, Hessisches Staatsarchiv Marburg (HStAM) Stahr, Kurt  : Sippenbuch Marburg  : Verzeichnis der Bürger der Stadt von 1500–1850, Bd. 14 (Marburg 1957). [maschinenschriftl. Exemplar im Besitz des Staatsarchivs, Standort  : Lesesaal] Best. 4 a (Personalia), – Nr. 59/14 (Briefwechsel der Landgräfin Maria Amalie mit dem Prof. und Leibarzt Joh. Magirus [1682])  : Johannes Magirus an Maria Amalia von Hessen-Kassel, Kassel, 7.1.1682 (www.aerztebriefe.de/id/00036399). Best. 5 (Geheimer Rat)  : – Nr. 206 (Dr. Magirus von Logo bietet dem Landgrafen seine Geheimmittel und Dienste an)  : Johannes Magirus an Karl von Hessen-Kassel, Marburg, 23.5.1691/93 (www.aerztebriefe.de/ id/00036400). – Nr. 7940 (Dr. Magirus, Professor der Medizin zu Marburg), darin u. a.: Bl. 2r–v  : Johannes Magirus an Karl von Hessen-Kassel, Kassel, 3.10.1693 (www.aerztebriefe.de/ id/00036401). Bl. 3r–4r  : Johannes Magirus an Karl von Hessen-Kassel, Kassel, 7.10.1693 (www.aerztebriefe.de/ id/00036402). Bl. 6r–7r  : Johannes Magirus an den Kanzler Nikolaus Wilhelm Goddaeus, Kassel, 7.10.1693 (www. aerztebriefe.de/id/00036403). Bl. 8r–v  : Liste der libri editi. Bl. 10r–11r  : Liste der manuscripta. Des weiteren Schreiben des Fürsten mit Anweisungen Magirus betr. (Erlaubnis, Collegia zu halten  ; Kanonikat etc.). – Nr. 7981 (Kassler Geheimratsakten betr. den Professor der Mathematik zu Marburg Joh. G. Brand, 1681–1682), darin  : Bl. 7r–v  : Johannes Magirus an Karl von Hessen-Kassel, o. O., o. D. (www.aerztebriefe.de/ id/00036404).

331

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Bl. 13r–14r  : Johannes Magirus an Karl von Hessen-Kassel, Marburg, 3./13.1.1682 (www.aerztebriefe.de/id/00036405). – Nr. 8143  : (Leichname für die medizinische Fakultät 1668–1708), darin  : Bl. 3r–v  : Johannes Magirus an Hedwig Sophie von Hessen-Kassel, Marburg, 27.9.1668 (www.aerztebriefe.de/id/00013354). – Nr. 8308 (Bewilligung von Reisegeldern und Gratifikationen an die Professoren der philosophischen Fakultät, Magirus und Lombardius). – Nr. 10571 (Beschwerde der medizinischen Fakultät zu Marburg), darin  : Bl. 15r–16r  : Johannes Magirus an Hedwig Sophie von Hessen-Kassel, Marburg, 9.10.1668 (www. aerztebriefe.de/id/00013355). Bestand 19 b (Landgräflich Hessische Regierung Marburg  : Regierung vor und nach Landgraf Ludwig  IV.)  : – Nr. 1925  : Interzession beim Rat zu Frankfurt wegen des Diebstahls des bei Johannes Franck, Bürger zu Frankfurt, deponierten Schmucks und Geldes der Tochter und des Schwiegersohns des Professors Johannes Magirus zu Marburg. – Nr. 1930 (Angelegenheiten des Professors Johannes Magirus zu Marburg), darin  : Bl. 86r  : Johannes Magirus an Unbek., Marburg, 3./13./23.4.1674 (www.aerztebriefe.de/id/000 36406). Bl. 87r  : Johannes Magirus an [Messieurs], Marburg, 4.3.1674 (www.aerztebriefe.de/id/00036407). Unpag.: Erlaubnis der Heirat seiner Tochter mit Lieutnant Weber, 1671. Unpag.: Bereitstellung einer Kutsche für eine Dienstreise, 1672. Marburg, Universitätsbibliothek (UBM)  : Nachlaß des Johannes Magirus  : Ms. 95  : Vorlesungsmitschrift (Petrus de Spina) des Samuel Czaplinius von 1616, umgenutzt als Notizbuch. Ms. 96  : Diarium. Johannes Magirus, Med. phil. et mathem. Catalogus aegrotorum, in quo ipsorum morbi referentur et cura et successus medicamentorum, medicinataque ipsa recensentur. Berlin 1647. Ms. 97  : Loci communes. Ms. 103  : Notizbuch (ohne Titel). Ms. 391  : Sammelbindung  : Kleindrucke, Blätter, Notizen. Ms. 392  : Notizbuch (ohne Titel). Ms. 664  : Catalogus librorum ex Magiri Bibliotheca, ca. 1697. New York, Columbia University Library David Eugene Smith Historical Collection, Magirus  : Johannes Magirus an den Leiter der Kurfürstlichen Bibliothek, Cölln, 9.1.1684 (www.aerztebriefe.de/id/00016129). Potsdam, Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA) Pr. Br. Rep. 86, Nr. 21  : Eintragungen der Dekane der Medizinischen Fakultät [Frankfurt/Oder] über den Tag ihrer Wahl und über die während ihrer Amtszeit erfolgten Promotionen sowie über Aufnahme neuer Professoren in das Kollegium. Pr. Br. Rep. 86, Nr. 150  : Angelegenheiten der Gerichtsbarkeit der Universität [Frankfurt/Oder]  : Er-

Quellen- und Literaturverzeichnis

klärung von Mitgliedern der Familie Magirus vor dem Officium Academicum über die Regelung von Erbschaftsangelegenheiten, 1654.

Rom, Archivio Storico della Pontificia Università Gregoriana (APUG) APUG 568, S. 135–136  : Johannes Magirus an Athanasius Kircher, Zerbst, 1.10.1655 (www.aerzte briefe.de/id/00017209). Zerbst, Archiv des Gymnasium Illustre (AGIZ) Akten des Gymnasium Illustre, Briefwechsel 1649–1696  : – Johannes Magirus an Johannes IV. von Anhalt-Zerbst, Zerbst, 3.6.1654 (www.aerztebriefe.de/ id/00011539). – Bürgermeister und Räte der Stadt Zerbst an Simon Heinsius, Zerbst, 12.11.1655. – Johannes Magirus an Christian Wilhelm Bube, Zerbst, 4.12.1655 (www.aerztebriefe.de/ id/00011557). Zerbst, Pfarramt St. Bartholomäi Taufregister St. Nicolai, 1622–1663. Taufregister St. Bartholomäi, 1636–1655.

2 Gedruckte Quellen a Schriften des Johannes Magirus

Die zur Zeit nicht mehr nachweisbaren, aber anhand der Quellen belegbaren Drucke wurden mit einem * gekennzeichnet.6 Da durch Magirus’ großen Ausstoß an Kleinpublikationen oft mehrere Schriften im selben Jahr erschienen, wurden Siglen vergeben.

Kalender und Prognostica Johannes Magirus verfasste von 1646 bis 1672 einen Jahreskalender (»Alter und Neuer SchreibCalender«) sowie eine zugehörige astrologische Vorschau (»Prognosticon Astrologicum«), von 1670 bis 1672 zusätzlich einen weiteren Kalender (»Pest- und ansteckender kranckheiten Curwie auch Tugendt-Calender«), ebenfalls mit Vorschau (»Prognosticon und Practica«). Die Reihen sind komplett digitalisiert und online einsehbar unter  : http://zs.thulb.uni-jena.de/servlets/solr/ find  ?qry=Magirus+ (letzter Zugriff  : 8.12.2017). Der bislang nur für das Jahr 1647 erhaltene Schreibkalender für die katholischen Gebiete ist online einsehbar unter  : http://diglib.hab.de/drucke/ne-372/start.htm (letzter Zugriff  : 8.12.2017). In den in dieser Monographie verwendeten Siglen werden mit (Jahreszahl a) die Kalender bzw. (Jahreszahl b) die Prognostica, dabei mit dem Zusatz PK die kurze Serie der Pestkalender gekennzeichnet. Der einzelne Kalender für die katholischen Gebiete trägt die Sigle (1647a2). Die 6 Die Angaben zu den nicht mehr auffindbaren (*) Werken sind entnommen aus  : Strieder (1788), 221–22 sowie einer handschriftlichen Liste der Libri editi des Johannes Magirus  : s. HStAM, Best. 5 (Geheimer Rat), Nr. 7940, Bl. 8r.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Jahreszahlen der Siglen entsprechen hierbei dem Gültigkeitsjahr des Kalenders, nicht dem Jahr des Druckes, da dieses bei fast keiner Kalenderschrift angegeben ist. Es wird deswegen bei vollständiger bibliographischer Angabe mit eckigen Klammern als [erschlossen] gekennzeichnet.

Kollegbeschreibungen Magirus, Johannes (KB1)  : Johannis Magiri. D. Medici und Mathematici der Churfl. Residentz Städte Berlin und Cölln Collegium Mathematicum practicum. Das ist Kurtzer Bericht und Erklärung, Was in seinem Collegio, so er zu Berlin angestellet, tractiret, und welcher Gestalt darinnen verfahren werde, wie auß beygefügter specification mit mehrem zu sehen ist. Auff Begehren unterschiedlicher Vornehmen Personen und Männiglichen zur Nachricht in den Druck gegeben. Berlin  : Christoph Runge 1646. (Derzeit nur nachweisbar in  : Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Sammlungen des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster, GKl 6105  ; Archiv der evangelischen Kirchengemeinde Frankfurt/Oder, Marienbibliothek P 139, S. 783–90.) Magirus, Johannes (KB2)  : Johannis Magiri D. medici et mathematici Berolinensis collegii mathematici practici, quod divino adspirante numine Berolini autor celebrat, epistolica declaratio rogatu philomatematicorum non paucorum ad vitandas crebrae transcriptionis molestias typis expressa. Berlin  : Christoph Runge, 1646 (Derzeit nur nachweisbar in  : Archiv der evangelischen Kirchengemeinde Frankfurt/Oder, Marienbibliothek P 139, S. 771–4  ; Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel  : Signatur 403.47 Quod. (4) [= 40, 2 Bl.], ferner ebd. 205.1 Quod. (12) [= 40, 4 Bl.]) Magirus, Johannes (KB3)  : Johannis Magiri D. medici et mathematici Berolinensis collegii mathematici practici, quod divino adspirante numine Berolini autor celebrat, epistolica declaratio rogatu philomatematicorum non paucorum ad vitandas crebrae transcriptionis molestias typis expressa. Berlin  : [Christoph Runge], 1646. (Plakatdruck  ; derzeit nur nachweisbar in  : Thüringische Universitäts- und Landesbibliothek Jena, 2 A. l. IX, 8, 141.) Magirus, Johannes (KB4)  : Johannis Magiri D. medici & mathematici Berolinensis epistolica declaratio collegii medici mathematici et practici. Quod divino adspirante numine Berolini aperit & apertum usurpat. Berlin  : Christoph Runge, 1646. (Derzeit nur nachweisbar in  : Archiv der evangelischen Kirchengemeinde Frankfurt/Oder, Marienbibiothek P 139, S. 775–82.) Magirus, Johannes (KB5)  : D. Ioannis Magiri exercitia medica und mathematica, So Er Mit der Hülffe Gottes Auff der hohen Schul zu Marburg in Hessen/Anno 1666 angestellet Und So lange es Gott beliebet zu continuiren gedencket. Marburg  : Salomon Schadewitz, 1666. (Derzeit nur nachweisbar in  : Dienstbibliothek des Hessischen Staatsarchivs Marburg, XIII B 262n.)

Vorlesungsverzeichnisse Die Universitätsbibliothek Marburg besitzt unter der Signatur VIII A 1167e# ein Konvolut von Vorlesungsverzeichnissen, die auch solche aus Magirus’ Zeit in Marburg enthalten. Da die Ankündigungen seiner Lehrveranstaltungen indirekt seine Worte wiedergeben, sind sie unter Magirus’ Texten geführt. Erhalten sind die Verzeichnisse  : Wintersemester (WS) 1660  ; Sommersemester (SS) 1662  ; SS  1663  ; WS  1664/65  ; SS  1666  ; SS  1667  ; SS  1668  ; WS  1668/69  ; SS  1669  ; SS  1670  ; WS  1670/71  ; SS  1671  ; SS  1672  ; WS  1672/73  ;

Quellen- und Literaturverzeichnis

SS  1673  ; WS  1673/74  ; SS  1676  ; WS  1676/77  ; SS  1678  ; SS  1669  ; WS  1679/80  ; SS  1680  ; WS  1680/81  ; SS  1681  ; WS  1681/82  ; SS  1682. Ab dem Wintersemester 1682 wird Johannes Magirus nicht mehr als Professor geführt.

Disputationen unter Magirus’ Vorsitz Magirus, Johannes (DISP1)  : Theses astrologicae de principiis Astrologiae et generali prognostico regionum, urbium, locorum, coniunctionum magnarum, tempestatum, bellorum, conversionis, religionum, imperiorum et status hominum. Quas […] decreto et authoritate […] Facultatis Philosophicae in Illustri Academia Marburgensi praeside Joanne Magiro D. […] defendet Balthasar Cnirimius, Spangenbergensis Hassus. Marburg  : Salomon Schadewitz, 1660. Magirus, Johannes (DISP2)  : Disputatio de quibusdam Chaldaeorum, Aegyptiorum, Graecorum, Arabum, et Romanorum principiis et prognosticis genethliacis reiectaneis ut et quorundam historicum erroribus. Quam […] praeside Joanne Magiro […] defendet Johannes Christophorus Schefferus, Cattus. In Auditorio Philosophico h[ora] l[oco]q[ue] c[onsueto] anno Christi MDCLXI. Die IX. Martii. Marburg  : Salomon Schadewitz, 1661. *Magirus, Johannes (DISP3)  : Disputatio mathematica de electionibus reiectaneis. Rs. Jo. Cnirim. Marburg  : [Salomon Schadewitz], 1663. Magirus, Johannes (DISP4)  : Disputatio medico-mathematica de medicinae cum arithmetica, geometria, mechanica, optica, astronomia et geographia coniugio. Praeside Johanne Magiro […] exponet Joannes Georgius Pötterus. Marburg  : Salomon Schadewitz, 1663. Magirus, Johannes (DISP5)  : Disputatio medica ex physiologiae, signorum, diaetae, conservatricis et curatricis doctrinis desumpta. Quam […] praeside Joannes Magiro […] subjiciet Matthaeus Sömmeringius. Marburg  : Salomon Schadewitz, 1663. *Magirus, Johannes (DISP6)  : Disputatio chronologica de diebus, vigiliis et horis. Rs. Jo. Schlottmann. Marburg  : [Salomon Schadewitz], 1670.

Handbücher für den Unterricht Magirus, Johannes (IAM)  : Johannis Magiri D. Janua Architectonicae Militaris, Das ist  : Kurtzer Begriff alles desselben, welches einer, so die Fortification gründlich lernen will auß der Logistica decimali, Geometria, Trigonometria, Und dem Landmessen nothwendig wissen muß. Aus den besten Autoribus zusammen getragen und auff Begehren in Druck gegeben. Frankfurt/Oder  : o. Vlg., 1646. Magirus, Johannes (CF)  : Johannis Magiri D. Medici und Mathematici der Churf. Brandenb. Residentz Städte Berlin und Cölln. Compendium Fortificatorium Oder Kurtzer Begriff der gantzen Fortification in welchem, wie man einen jedweden Ort künstlich und bester massen Befestigen Belägern Und wann er belägert defendiren soll, angewiesen wird. Allen Liebhabern dieser Kunst zu gut zusammen getragen und in Druck gegeben. Berlin  : Christoph Runge, 1646. Magirus, Johannes (CF-Anhang)  : zu (CF) existiert ein achtseitiger Anhang ohne eigenen Titel, der jedoch nicht allen Exemplaren beigebunden wurde (derzeit nur nachweisbar in  : Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 31.6 Bell., einem Band, in dem Janua, Compendium und Anhang zusammengebunden sind). *Magirus, Johannes  : Tractatus de mundo et coelo. Zerbst 1655.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Magirus, Johannes (EG)  : Elementa geometrica in usum iuventutis Hassiacae excerpta a Joanne Magiro. D. Marburg  : Christian Hermsdorf, 1658. *Magirus, Johannes  : Trigonometria triangulorum rectilingorum. Marburg  : [Salomon Schadewitz], 1658. Magirus, Johannes (EA)  : Elementa astronomica ex optimis authoribus antiquis, novis excusis & manuscriptis excerpta a Joanne Magiro. Marburg  : Christian Hermsdorf, 1659.

Sonstige Schriften Magirus, Johannes (AB1654)  : Astrologische Beschreibung von der Anno 1654 den 2. (12.) Augusti vorfallenden Sonnen-Finsternuß zu bessern Unterricht der Jenigen / so diese falls umständlicher informirt zu seyn / begehren / mit sonderlichem Fleisse abgefasset / und mit Verfügung etlicher Vornemer Autorn, und Abrisse / wie diese Finsternuß in unterschiedlichen Orten anzusehen seyn, wolmeinentlich an den Tag gegeben. Nürnberg  : Wolfgang Endter d. Ä., 1654. Magirus, Johannes (DC1665)  : D. Joannis Magiri Discursz von den Cometen, So sich wärender Zeit Von Anno 1660. biß 1665. dieses lauffenden Jahrs, an dem Firmament des Himmels haben sehen lassen. Frankfurt  : Formschneider, 1665. Magirus, Johannes (UPR)  : Doctor. Joann. Magiri kurtzer Unterricht wie man sich für der Pestilenz und Rothen Ruhr vermittelst Göttlicher Hülffe verwahren und selbe im Fall der Noth curieren könne. Dem teutschen geliebten Vatterlande, dem gemeinen Mann, allen frommen Haußvätern und Haußmüttern, sonderlich aber auch den lieben Armen zu Nutz und Dienste gestellet und herauß gegeben. Marburg  : Salomon Schadewitz, 1666.

Neuauflagen und Übersetzungen Schoten, Franciscus (1639)  : Francisci Schoten […] Trigonometria Triangulorum planorum cum sinuum, tangentium & secantium canone accuratissimo. Latine reddita a Ioanne Magiro Germano. Amsterdam  : [Johannes] Janssonius [Van Waesberge], 1639. (Weitere Auflagen  : Leuven  : [Andreas] Bouvetius, 1645  ; Brüssel  : [Verl. unbek.], 1683) Schoten, Franciscus (1640)  : Tabulae Sinuum, Tangentium, Secantium, Ad Radium 10000000 Sambt deroselben gebrauch in solvierung, oder außrechnung aller flachen Triangeln. Durch Franciscum von Scoten, Mathematicum zu Leyden an tag gegeben  : Allen Liebhabern Mathematischer Künste zu gute aus dem Niederländischen transferiret Durch Ioannem Magirum Von Franckfurt an der Oder. Amsterdam  : [Johannes] Janssonius [Van Waesberge], 1640. Trew, Abdias (1672)  : Hn. M. Abdiae Trew bey der Weitberühmten Universität Altdorff wohlbestelten Mathematum und Physices Professoris Seel. Kurtzer und Gründlicher Bericht/Von dem Nutzen deß Nativität stellen  : Aus seinem Nucleo Astrologico außgezogen Und Gott zu Ehren/ auch dem lieben Nechsten zu Nutz/an Tag gegeben/Durch Joannem Magirum, Doctor. Gießen  : Joseph Dietrich Hampel, 1672. Sennert, Daniel (1672)  : Daniel Sennerti D. Methodus Discendi Medicinam publice Anno 1636 Wittenbergae Praelecta Iam Autem D. Ioh. Magiri Serenissimae Landg. Hassiae M. Medic. & Mathes. Prof. Publ. Ordin. in Universitate Marpurgensi notis illustrata et excusa. Marburg  : Joseph Dietrich Hampel, 1672.

Quellen- und Literaturverzeichnis b Gedruckte Quellen anderer Autoren

Aditialia vota (1621)  : Serenissimum ac potentissimum Principem ac Dominum Dn  : Georgium Guilielmum Marchionem Brandenburgicum […] aditialia excipiunt ex calidis & demissis Academicorum animis vota. Frankfurt a. d. Oder  : Hartmann, 1621. Bartholin, Caspar (1645)  : Casp[aris] Bartholini D. & Profes. Regii Institutiones Anatomicae, novis recentiorum opinionibus & observationibus, quarum innumerae hactenus editae non sunt, figurisque secundo auctae ab auctoris filio Thoma Bartholino. Leiden  : Franciscus Hackius, 1645. Becman, Johann Christoph (1706)  : Notitia Universitatis Francofurtanae una cum iconibus personarum aliquot illiustrium, aliorum[que] virorum egregiorum, qui eam praesentia sua ac meritis illustrarunt, professorum denique ordinarium, qui anno seculari Universitatis secundo vixerunt. Frankfurt an der Oder  : [Schrey & Hartmann] 1706. Bergius, Johannes (1645)  : Das Heyl Jacobs. Bey Adelicher Leichbegängniß des weyland HochEdlen, Gestrengen, Vesten und Hochbenambten Herrn Gerhard-Romilian von Kalchun, genand Leuchtmar von dem Hause Leuchtmar, Churfürstl. Brandenburg. gewesenen Vornehmen Geheimbten, auch Kriegs- Hoff- und Cammergerichts Rahtes und Hauptmanns der Graffschafft Ruppin etc. Seligster Gedächtnis In der ThumbKirchen zu Cölln an der Spree am 26/16 Januar dieses 1645. Jahres bey volckreicher Versamblung erkläret duch Johannem Bergium […]. Berlin  : Christoph Runge, 1645. Buchius, Paul (1693)  : The Divine Being and its attributes philosophically demonstrated from the Holy Scriptures, and original nature of things according to the principles of F.  M.  B. of Helmont. London  : o. Verl., 1693. Buck, Friedrich Johann (1764)  : Lebensbeschreibungen derer verstorbenen preussischen Mathematiker überhaupt und des vor mehr denn hundert Jahren verstorbenen großen preussischen Mathematikers Christian Otters […]. Königsberg/Leipzig  : Hartung/Zeise, 1764. Churfürstliche Brandenburgische MedicinalOrdnung und Taxa. Berlin  : Rupertus Völcker, 1694. Claudinus, Julius Caesar [1628]  : Julii Caesaris Claudini Medici et Philosophi Bonon. ac Profess. Ord. De ingressu ad infirmos libri duo, in quibus Medici omne, ex tempore medicinam facturi, munus, sive per se curet, sive cum aliis de curando consultet, accuratissime, tanquam in tabula, delineatum continetur […]. Venedig  : Donatus Pasquardus, 1628. Cremerus, Johannes (1652)  : König Davids Seuffz und Klagestimme, Gebeth und Anruffungsstimme, Danck und Freudenstimme, Abgeleget in dem XIII. Psalmen Und Bey Christlicher Sepultur des Wohlehrwürdigen, Ehrenvesten, Großachtbarn und Hochgelahrten Hernn Marci Friderici Wendelini […] durch M. Johannem Cremerum Siles[ium] der Reformirten Gemeinde Predigern daselbst. Zerbst  : Andreas Betzel, 1652. Coppenius, Johannes (1652)  : Luctus et exequiae super luctuoso obitu viri admodum reverendi excellentissimi clarissimi Dn. Marci Friderici Wendelini […] indictae nomine eiusque Gymnasii a Johanne Coppenio […]. Zerbst  : Andreas Betzel, 1652. Elsholtz, Johann Sigismund (1665)  : Joan. Sigism. Elsholzii, D. & Sereniss. Electoris Brandenburgici Medici Ordinarii Clysmatica Nova, sive Ratio, qua in venam sectam medicamenta immitti possint, ut eodem modo, ac si per os assumta fuissent, operentur  : in animantibus per drastica, in homine per leniora hactenus probata, & adserta. Berlin  : Christoph Runge, 1665. Fahrenholtz, Christophorus (1669)  : Officina Pharmaceutica Electoralis Brandenburgica sive Catalogus Medicamentorum tam Simplicium, quam Compositorum, itemque Arte Chymica praeparatorum, quibus Serenissimi Electoris Brandenburgici Officina Coloniensis Aulica A. MD-

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Quellen- und Literaturverzeichnis

CLXIX. instructa erat. Consensu Medicorum Electoralium exhibet Christophorus Fahrenholtz Pharmacopaeus Elect. Aulicus. Berlin  : Georg Schultz, 1669. Fernel, Jean (1567)  : Io[hannis] Fernelii Ambiani universa Medicina tribus et viginti libris absoluta. Paris  : Andreas Wechelius, 1567. Ficino, Marsilio (1567)  : Divini Platonis opera omnia Marsilio Ficino interprete, recens editio, summo studio, & diligentia a vitiis emaculata, & ad exemplar Graecum fideliter collata. Lyon  : Antonius Vincentius, 1567. Hering, Daniel Heinrich (1784)  : Beiträge zur Geschichte der Evangelischen Reformierten Kirche in den Preußisch-Brandenburgschen Ländern, Bd. 1. Breslau  : Meyer, 1784. Hoë von Hoënegg, Matthias (1643)  : Leich-Predigt Bey dem […] Begräbnüß Des […] Aegidii Strauchens des Jüngern Der Artzney fürnehmen Doctoris und berühmten Practici zu Dreßden  : Welcher den 20. Aprilis seliglich in Gott verschieden und den 25. Aprilis 1643. christlich bestattet worden. Dresden  : Anna Bergen, 1643. Horst, Johann Daniel  : Joh. Danielis Horstii Iudicium de chirurgia infusoria Jo. Danielis Majoris, viri clarissimi. Frankfurt a. Main  : Georg Fickwirt, 1665. Jessenius, Johannes (1668)  : D. Johannis Jessenii a Jessen Eq. Hung. De sanguine, vena secta, dimisso iudicium notis & castigationibus ad hodierna et vera medicinae principia accomodatum a Jacobo Pancratio Brunone […]. Nürnberg  : Michael & Johann Friedrich Endter, 1668. Koch, Henning (1673)  : Herrliche Belohnunge und Sichere Ruhe der Gerechten Welche Sie fürnemlich nach dem Tode von der Hand des Herren empfangen werden […] Bey Hochansehnlicher Begräbnis Des Weyland Edlen Vest und Hochgelahrten Hr. Johannis Henrici Bossen Med[icinae] D[octoran]di und bey hiesiger Stadt Helmstadt gewesenen Wollverordneten Physici Ordinarii, so in dem 54. Jahre seines Alters den 27. Aprilis des 1673. Jahrs […] entschlaffen/ und darauff den folgenden 11. Maii […] zu seiner Ruhestäte gebracht worden, Der Gemein[d]e Gottes erwiesen Von M. Henningo Koch, der Christl. Gemeine zu Helmstadt Diacono. Helmstedt  : Johann Heitmüller, 1673. König, Adolph Balthasar (1792)  : Versuch einer historischen Schilderung der Hauptveränderungen der Religion, Sitten, Gewohnheiten, Künste, Wissenschaften etc. der Residenzstadt Berlin seit den ältesten Zeiten bis zum Jahr 1786. Berlin  : Oemigke, 1792. Magirus, Tobias (1629)  : Polymnemon seu Florilegium locorum communium  : ordine novo, exactiori & ad usum accommodatiori animatum  ; selectioribus etiam sententiis & exemplis ex scriptorum probatissimorum et elegantissimorum Graecorum, Latinorum  ; antiquorum, novorum  ; Philosophorum, Oratorum, Poetarum, Historicorum, Legumlatorum, &c. monumentis consertum […] cura & opera Tobiae Magiri. Frankfurt [Oder]  : Clemens Schleicher & Witwe Daniels, 1629. Magirus, Tobias (1644)  : Eponymologium criticum ex principum sacrorum, secularium, virorum togatorum, sagatorum, locorum insignium, patrum, philologorum, i[uris]c[onsul]torum, medicorum, philosophorum, poëtarum, oratorum, historicum descriptionibus, in utramque partem cognomentorum iuxta, quibus noti ac notati, varietate delenifica locupletius concinnatum. Frankfurt [Main]  : Johannes Pressius, 1644. Macquer, Peter Joseph (1789)  : Chymisches Wörterbuch der Allgemeinen Begriffe der Chymie nach alphabetischer Ordnung. Aus dem Französischen nach der zweyten Ausgabe übersetzt und mit Anmerkungen und Zusätzen vermehrt von Johann Gottfried Leonhard. Vierter Teil von L bis P. Leipzig  : Weidmann 1789. Neuhof, Johann (1666)  : Die Gesantschaft der Ost-Indischen Geselschaft in den Vereinigten Nie-

Quellen- und Literaturverzeichnis

derländern an den Tartarischen Cham und nunmehr auch Sinischen Keiser  : verrichtet durch die Herren Peter de Gojern und Jacob Keisern  ; darinnen begriffen die aller märkwürdigsten Sachen, welche ihnen auf währender Reise vom 1655. Jahre bis in das 1657. aufgestoßen. Amsterdam  : Jacob Mörs, 1666. Praevotius, Johannes (1641)  : Medicina Pauperum. Frankfurt/Main  : Beyer  ; Rötel, 1641. Ragnetanus [= Otter, P. Christian] (1646)  : Specimen problematum hercotectonico-geometricorum quo ut fortificationis (vulgo ita dictae) modi universalis ita sectionis rationalis linearum vestigium exhibetur. Amsterdam  : Johannes Fabel, 1646. Sanctorio, Sanctorio (1603)  : Methodi vitandorum errorum omnium, qui in arte Medica contingunt libri quindecim, quorum principia sunt ab auctoritate Medicorum & Philosophorum principium desumpta, eaq[ue] omnia experimentis & rationibus analyticis comprobata, Sanctorio Sanctorio Iustinopolitano Medico & Philosopho auctore. Venedig  : Franciscus Barilettus, 1603. Sennert, Daniel (1650a)  : Daniel Sennerti Vratislaviensis, Doctoris et Professoris Medicinae […] Operum Tomus Primus, quo continentur  : Epitome scientiae naturalis, Hypomnemata physica, Methodus discendi Medicinam, Institutiones Medicae, & De origine Animarum in brutis. Lyon  : Johannes Antonius Huguetan & Marcus Antonius Ravaudus, 1650. Sennert, Daniel (1650b)  : Daniel Sennerti Vratislaviensis, Doctoris et Professoris Medicinae […] Operum Tomus Secundus, quo continentur  : De Febribus Libri IV nec non Practicae Liber I. II. & III. Lyon  : Johannes Antonius Huguetan & Marcus Antonius Ravaudus, 1650. Sennert, Daniel (1650c)  : Daniel Sennerti Vratislaviensis, Doctoris et Professoris Medicinae […] Operum Tomus Tertius, quo continentur  : Practicae Liber IV. & V., Tractatus de Arthritide  ; Pract. l. VI., Tract. de Consensu & dissensu Chymicorum cum Galenicis & Aristotelis. Et Exoterica. Lyon  : Johannes Antonius Huguetan & Marcus Antonius Ravaudus, 1650. Stock, Werner (1651)  : Speculum mortis, Christliche Todes-Gedanken bey der hoch-gräflichen volckreichen Leichenbegängnis des weyland Hochwohlgebohrnen Grafen und Herrn, Herrn Jost Günther Grafen zu Barby und Mühlingen. Wolfenbüttel  : Johann und Heinrich Stern, 1651. Strieder, Friedrich Wilhelm (1788)  : Grundlage zu einer hessischen Gelehrten- und SchriftstellerGeschichte seit der Reformation bis auf gegenwärtige Zeiten, Bd. 8 (Kassel 1788). Tode, Johann Clemens  : Materia medica aus dem Mineralreiche, die rohen, zubereiteten und zusammengesetzten Arztneyen begreifend, 2. Teil (Kopenhagen 1798). Trew, Abdias (1651)  : Nucleus Astrologiae Correctae, das ist kurtzer Bericht vom Nativitätenstellen, wie man darmit umbzugehen, und was es nutze […], an den Tag gegeben durch M. Abdiam Trew, bey der Universität Altdorff Mathematum und Physices Professorem. Nürnberg  : Jeremias Dümler, 1651. Trew, Abdias (1663)  : M. Abdiae Trew Professoris Physici & Mathematici Astrologia Medica  : Quatuor Disputationibus comprehensa […]. Altdorf  : Hagen, 1663. Ursinus, Benjamin (1619)  : Benjaminis Ursini […] Außführlicher Bericht Von den Cometen, welcher im Jahr 1618. im Novembr. erschienen, und fast biß zu ende deß Decembris ist gesehen worden. Berlin  : Martin Guthe, 1619. Vogler, Valentinus Henricus (1673)  : Programma in funere clarissimi experientissimique viri Iohannis Henrici Bossen, Medic[inae] D[octoran]di, civitatisque Helmstadiensis Medici ordinarii. Helmstedt  : Heinrich David Müller 1673.

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Quellen- und Literaturverzeichnis c Moderne Quelleneditionen 

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Personenegister Agricola, Georg (1494–1555) 217 Von Anhalt, Wilhelm Ludwig (1638–1665) 274 Von Anhalt-Bernburg, Christian II. (1599–1656) 100 Von Anhalt-Dessau, Johann Kasimir (1596–1660) 100 Von Anhalt-Plötzkau, August (1575–1653) 100 Von Anhalt-Zerbst, Johannes VI. (1621–1667) 47; 84*; 100-101; 129; 209 Von Anhalt-Zerbst, Sophia Augusta (1630–1680) 101* Von Barby, Justus/Jost Günther (1598–1651) 110; 112; 127-128; 134*; 167 Bartholin, Caspar (1585–1629) 38; 226* Bartholin, Thomas (1616–1680) 37-40; 209*; 226 Bartsch, Georg (1535–1607) 104* Bech, Philipp (1521–1560) 58 Beckmann, Christian (1580–1648) 96 Bergius, Dorothea (1626–1647) 46-47; 82; 94 Bergius, Conrad (1592-1642) 46* Bergius, Johannes (1587–1658) 46*; 93 Bossen, Johann Heinrich (1620–1673) 70*; 106; 111; 113*; 115*; 116; 120-123; 134; 144-146; 149; 150*; 151-154; 155*; 156; 159-160; 162164; 166; 168; 170; 171-173; 175; 178; 181; 184; 192; 198-199; 202; 205-209; 212; 214215; 284 Bötticher, Otto (1581–1663) 92; 214 Boyle, Robert (1627–1691) 250*; 261 Brahe, Tycho (1546–1601) 70*; 289 Von Brandenburg, Eva Christina (1590–1657) 82 Von Brandenburg, Ernst (1617–1642) 81; 82*; 94; 98; 196; 226 Von Brandenburg, Friedrich I. Wilhelm (1620– 1688) 52; 57; 60; 62; 92*; 94; 140; 224; 232 Von Brandenburg, Georg Wilhelm (1595–1640) 57 Von Brandenburg, Johann Sigismund (1572– 1620) 87

Von Brandenburg/Von Schweden, Maria Eleonora (1599–1655) 94; 125; 128; 133 Von Brandenburg, Luise Henriette (1627–1667) 83; 112; 191* Von Braunschweig-Wolfenbüttel, August II. (1579–1666) 84 Von Braunschweig-Wolfenbüttel, Sophie Elisabeth (1613–1676) 84; 85; 290 Bruno, Jacobus Pancratius (1629–1709) 184; 186* Von Burgsdorff, Konrad (1595–1652) 54; 64-65; 66* Claudinus, Julius Caesar (1550/53–1618) 149; 150; 160 Coler, Christoph (1602–1658) 36; 95 Conring, Hermann (1606–1681) 111*; 123; 144*; 239 Copernicus, Nikolaus (1473–1543) 289 Crocius, Johann Georg (1629–1674) 44 Crüger, Peter (1580–1639) 67-68; 71*; 86; 124 Cunitz (Wachtmeister von Spandau) 52; 297 Czaplinia, Anna Justina (o.A.) 100; 139 Czaplinius, Samuel (o.A.) 100*; 139 Descartes, René (1596–1650) 250; 251-254; 274 Dieterich, Helwig (1601–1655) 92 Von Döringenberg, Johann Caspar (1616–1680) 60*; 135; 136*; 143; 233*; 273 Dou, Gerard (1613–1675) 111 Dürre, Johann (1613–1689) 101 Eichstädt, Lorenz (1596–1660) 192* Endter, Christof (1632–1672) 69* ; 72–73; 138* Fernel, Jean (1497–1558) 140*; 199–200; 227 Ficino, Marsilio (1433–1499) 33; 66 Flaccus, Matthäus (1524–1592) 133 Van Foreest, Pieter (1521–1597) 173 Forman, Simon (1552–1611) 189; 190*; 197 Freytag, Adam (1608–1650) 218; 224; 270*; 297

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Personenegister Galilei, Galileo (1564–1642) 79; 250* Gerhard, Paul (1607–1676) 99 Gierha, Ephraim (o.A.) 101 Glisson, Francis (1596–1677) 240 Von Goethe, Johann Wolfgang (1749–1832) 190; 291 Götz, Johann Christoph (1688–1733) 184 Günther, Jonas (stud./imm. 1642 Frankfurt/ Oder) 267 Handsch, Georg (1529–1578?) 58; 146*; 155; 167; 168*; 183*; 209*; 222; 236*; 240 Harvey, William (1578–1657) 217–218; 243; 248; 252* Van Heer, Henricus (fl. 1645) 239 Heimberger, Dr. (o.A) 101* Van Helmont, Johann Baptist (1580–1644) 256 Von Hessen-Kassel, Hedwig-Sophie (1623–1683) 45*; 55; 57; 133; 136; 139; 242; 280; 283 Von Hessen-Kassel, Karl (1654–1730) 40; 112; 138–140; 143*; 243*; 244* Von Hessen-Kassel, Marie Amalie (1653–1711) 85; 138 Von Hessen-Kassel, Moritz (1572–1632) 59; 62* Von Hessen-Kassel, Wilhelm VI. (1629–1663) 54; 88 Von Hessen-Kassel, Wilhelm VII. (1651–1670) 245 Heurnius, Otto (1577–1652) 204; 225; 226*; 227 Hildebrand, Andreas (1581–1637) 59 Hirschfelder, Michael (?–1602) 59 Hoffmann, Friedrich (1660–1742) 250 Horst, Johann Daniel (1616–1685) 46*; 246* Jessenius Johannes (1566–1621) 184; 186*; 187*; 188*; 259 Jungius, Joachim (1587–1657) 241; 242 Kepler, Johannes (1571–1630) 65*; 66*; 67–71; 77; 86*; 192; 196; 218; 289–290 Kircher, Athanasius (1602–1680) 192 Knöffel, Johannes (fl. 1654-1659) 92* Köppen, Johannes (1638–1644) 129; 186*; 194–195 (Sohn); 202* Krumcrüger, Anna (?–1635) 28

Kuntschius, Elias (1509–1566) (Vater) 58 Kuntschius, Elias (1566–1623) (Sohn) 58 Lentulus, Cyriacus (1620?–1678) 44 Lincker, Konrad Theodor (1622–1660) 262 Lotichius, Petrus (1528–1560) 58 Magirus, Georg (o.A.) 228; 229; 233 Magirus, Joachim (Onkel d. Johannes ) 36; 46*; 51*; 57; 60* Magirus, Joachim (Bruder d. Johannes) 87 Magirus, Tobias (1586–1652) 28; 36–37; 39–41; 45; 46*; 49–52; 56–57; 87; 93; 95; 111; 219 Maius, Christopher (1605–1653) 81–82; 103; 221 Malpighi, Marcello (1628–1694) 173; 174*; 207* Meisner, Christopher (1602–1667) 220 Melanchthon, Philipp (1497–1560) 66–67; 86*; 188; 192; 251 Michaelis, Johannes (1606–1667) 104*; 190* Della Mirandola, Giovanni Pico (1463–1494) 66 Mochinger, Georg (1595–1656) 220 Da Monte, Giovanni Battista (1498–1551) 148*; 151*; 152; 169; 170*; 174 Morhof, Daniel Georg (1631–1691) 274 Mosanus, Jacob (1564–1616) 59 Von Nagłowice, Boguslaus Rej (o.A.) 140 Napier, Richard (1559–1634) 270 Nebel, Daniel (1664–1733) 143 Newton, Isaac (1643–1727) 62; 79; 240; 288 Von Oranien, Friedrich Heinrich (1584–1647) 66*; 232 Origanus, David (1558–1628) 65 Otter, P. Christian (1598–1660) 54; 270 Pancovius/Pankow, Thomas (1622–1665) 34– 35; 116; 133*; 266 Pelargus, Christoph (1665–1633) 219 Peucker, Nicolaus (1620–1674) 53; 95; 224; 228–229 Platter, Felix (1536–1614) 32* Platter, Thomas (1574–1628) 222 Polisius, Melchior (1600–1671) 283 Posthius, Johannes (1537–1597) 58

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Personenegister Praevotius, Johannes (1585–1637) 277–278 Reisel, Salomon (1625–1701) 55; 145*; 238*; 241* Rumpf, Christian (1580–1645) 232 Sanctorius, Sanctorius (1561–1636) 253–54 Savonarola, Giovanni Michele (1384–1464) 169; 268–269 Schmidt, Christoph Friedrich (1631–1711) 54; 133* Schneider, Konrad Victor (1614–1680) 101* Schoten, Frans 270*; 271; 299 Von Schwerin, Otto (1604–1686) 99 Screvelius, Ewald (1575–1647) 227 Sennert, Daniel (1572–1637) 40; 93; 104; 111*; 147; 156; 165; 167; 170 –171; 176; 178*; 180; 182; 188*; 200; 210; 213; 220–222; 224; 227; 239*; 250*; 255; 259–261; 266; 271*; 273*; 278–279 Stahl, Georg (1659–1734) 250 Storch, Johann (1681–1751) 95* Stosch, Bartholomäus (1604–1686) 99 Strauch, Ägidius (1610–1643) 48 Sylvius, Franciscus (1614–1672) 228

Trew, Abdias (1597–1669) 70; 188*; 192–193; 197*; 239*; 273* Tulp, Nicolaes (1593–1674) 228; 230–231. Turquet de Mayerne, Théodore (1573–1655) 109; 149*; 151*; 152; 160; 167; 172; 174–175; 180; 184; 191*; 230; 261*; 277; 285–286; 307 Ursinus, Benjamin (1587–1633) 42; 52*; 54; 65; 68; 192; 218; 289 Vossius, Gerhard Johannes (1577–1649) 90; 91* Walaeus, Johannes (1604–1649) 225–228; 233 Waldschmidt, Johann Jacob (1644–1689) 79 Weinlin, Josaphat (1601–1662) 48*; 59 Weise, Martin (1605–1693) 59; 81–82; 92–96; 98; 103; 112; 118; 124*; 125–127; 179*; 185; 207*; 214; 221; 238 Wendelin, Marcus Friedrich (1584–1652) 45*; 166 Wesenbeck, Matthaeus (1600–1655) 99 Wolff, Hermann (1560–1619) 59; 62*