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German Pages 253 [256] Year 1997
Table of contents :
Vorbemerkung
Einleitung • Logik, Rhetorik, Hermeneutik
I. Alte und neue Logiken
1. Genese und Analyse
2. Für und wider den Syllogismus
3. Logik, Topik und Rhetorik
4. Theorie und Praxis
II. Logische Rhetorik
1. Lektüre und Imitation
2. Realien und Lappalien
3. Logische und rhetorische Argumente
4. Überzeugung und Wirkung
III. Aspekte des Verstehens
1. Analyse als Propädeutik
2. Sprache und Erkenntnis
3. Verstehen und Auslegen
4. Analyse als Interpretation
IV. Normen der Interpretation
1. Skepsis, Gewißheit und Wahrscheinlichkeit
2. Rationalität und Wahrheit
3. Interpretation, Billigkeit und Besserverstehen
4. Autor und Interpret
V. Probleme
1. Sinn und Anwendung
2. Analyse und Geschichte
3. Reproduktion und Rekonstruktion
4. Begründung und Rechtfertigung
Analytisches Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis
1. Quellen
2. Forschungsliteratur
Register
1. Personenregister
2. Sachregister
Klaus Petrus Genese und Analyse
W G DE
Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jürgen Mittelstraß, Günther Patzig, Wolfgang Wieland
Band 43
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1997
Genese und Analyse Logik, Rhetorik und Hermeneutik im 17. und 18. Jahrhundert von
Klaus Petrus
Walter de Gruyter · Berlin · New York
1997
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek —
CIP-Binheitsaufnahme
Petrus, Klaus: Genese und Analyse : Logik, Rhetorik und Hermeneutik im 17. und 18. Jahrhundert / von Klaus Petrus. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1997 Quellen und Studien zur Philosophie ; Bd. 43) ISBN 3-11-015394-7 NE: GT
© Copyright 1997 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Vorbemerkung Diese 1994 verfaßte Studie beschäftigt sich mit Anteilen der Logik, Rhetorik und Hermeneutik am Verhältnis von Textgenese & Textanalyse. Das Szenario bilden Positionen vornehmlich des 17. und 18. Jahrhunderts, die mit Fragen zu Voraussetzungen und Konsequenzen dieses Verhältnisses konfrontiert werden. — Für kritische Hinweise danke ich meinen Lehrern, Andreas Graeser und Lutz Danneberg, ferner Axel Bühler, Alex Burri, Roger Furrer, Jürg Freudiger, Lo Gygi, Katrin Marti, Wolfgang Proß, Caroline Schnyder und Bernhard Roten. Das Buch ist Marianne A. und Roger F. gewidmet (brindis). Bern, im Herbst 1996
Klaus Petrus
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung
V
Einleitung · Logik, Rhetorik, Hermeneutik
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I.
Alte und neue Logiken
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1. 2. 3. 4.
Genese und Analyse Für und wider den Syllogismus Logik, Topik und Rhetorik Theorie und Praxis
8 15 22 30
II. 1. 2. 3. 4.
Logische Rhetorik Lektüre und Imitation Realien und Lappalien Logische und rhetorische Argumente Überzeugung und Wirkung
40 40 49 59 66
III. Aspekte des Verstehens 1. 2. 3. 4.
Analyse als Propädeutik Sprache und Erkenntnis Verstehen und Auslegen Analyse als Interpretation
77 77 91 100 112
IV. Normen der Interpretation
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1. 2. 3. 4.
124 135 146 159
Skepsis, Gewißheit und Wahrscheinlichkeit Rationalität und Wahrheit Interpretation, Billigkeit und Besserverstehen Autor und Interpret
V. Probleme
172
1. Sinn und Anwendung 2. Analyse und Geschichte
172 183
VIH
Inhaltsverzeichnis
3.
Reproduktion und Rekonstruktion
193
4.
Begründung und Rechtfertigung
202
Analytisches Inhaltsverzeichnis
211
Literaturverzeichnis 1. Quellen 2. Forschungsliteratur
221 221 229
Register
236
1. 2.
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Personenregister Sachregister
Einleitung · Logik, Rhetorik und Hermeneutik Obwohl sich die vorliegende Studie mit Autoren und Positionen der frühen Neuzeit auseinandersetzt, bietet sie keine Geschichte der Logik, Rhetorik und Hermeneutik. Weder geht es um die Entwicklung noch um die gegenseitige Beeinflussung dieser Disziplinen. Im Zentrum steht vielmehr das systematische Interesse an der Frage, welche Anteile Logik, Rhetorik und Hermeneutik am Verhältnis von Textgenese und Textanalyse haben. Was das Verhältnis von Genese und Analyse betrifft, wird man sich mit Andeutungen der Autoren begnügen müssen. Wenn Georg Friedrich Meier in §516 der Anfangs gründe aller schönen Wissenschaften zu bedenken gibt, daß niemand Zeichen »verstehen und auslegen« könne, der »nicht selbst die Kunst zu bezeichnen« beherrsche1, so ist diese Äußerung in mehrerer Hinsicht typisch. Zunächst ist damit nur gesagt, daß die Textanalyse (»verstehen und auslegen«) die Textgenese (»bezeichnen«) voraussetzt. Die naheliegende Deutung dieser Art von Voraussetzung besteht in der Annahme eines zeitlichen Verhältnisses von Genese und Analyse. Demgemäß »denken« wir »alsdenn erst die Sachen« und »darauf fallen uns die Worte ein«, mit denen wir die Sachen bezeichnen. Auf der Grundlage dieses Bezeichnungsvorganges sind wir trivialerweise in der Lage, »erst die Zeichen« und »dann auch die bezeichnete Sache zu denken«. Nun weist dieses Verhältnis von Genese und Analyse bei näherem Hinsehen aber mindestens zwei Besonderheiten auf. (1) Meier geht nicht bloß davon aus, daß Verstehen bzw. Auslegen auf das Bezeichnen folgt; er nimmt darüber hinaus eine zeitliche Abfolge an, die sich sowohl innerhalb der Genese als auch der Analyse festmachen läßt. Das Verlaufsschema der Genese setzt »erst« bei den Sachen an und erstreckt sich »dann« von den Gedanken oder Vorstellungen (der Sachen) hin zu den Zeichen, die diese Gedanken artikulieren. Demgegenüber startet die Analyse »erst« bei den Zeichen und versucht »dann« zu den Gedanken zu gelangen, die ihrerseits 1
Vgl. für das folgende Meier 1748ff, II, §515 [korrekt: §516].
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Einleitung
wiederum auf bestimmte Sachen referieren. Mit anderen Worten besteht die erste Besonderheit also darin, daß die Analyse dieselben Phasen durchläuft wie die Genese, jedoch in umgekehrter Reihenfolge. Diese Überlegung führt auf eine Modifikation der obigen Deutung des Verhältnisses von Genese und Analyse. Wenn es korrekt ist, daß die Analyse dieselben Phasen durchläuft wie die Genese, dann liegt die Behauptung nahe, daß die Analyse insofern die Genese voraussetzt, als sie sich an deren Verlaufsschema ausrichtet. Diese Behauptung ist unspektakulär, solange eine zweite Besonderheit außer acht bleibt. (2) Meier spricht nämlich von der »Kunst zu bezeichnen« oder auch —im selben Paragraphen— von der »Bezeichnungskunst«, die als »Wissenschaft der Zeichen« apostrophiert wird und sämtliche »Regeln« umfaßt, mit deren Hilfe wir Gedanken in angemessener Weise bezeichnen können. Analog ist von der »Auslegungskunst« als »Wissenschaft« die Rede, die uns ebenfalls mit Hilfe von Regeln zu verstehen erlaubt, was und auf welche Weise Wörter bezeichnen. Die entscheidende Pointe besteht nun darin, daß Meier im Zuge der Charakterisierung dieser beiden Künste festlegt, die »Auslegungskunst« setze die »Bezeichnungskunst« voraus. Dieser Auffassung zufolge orientiert sich die Analyse also nicht nur am Verlaufsschema der Genese (= 1), sondern auch an den Regeln, die im Rahmen der Genese zur Anwendung gelangen (= 2). Beide Punkte hängen zusammen. Denn im Urteil der damaligen Autoren werden bei der Genese Regeln nicht in beliebiger Hinsicht angewendet; vielmehr wird ihre Anwendung durch das Verlaufsschema der Genese bestimmt. In diesem Sinne bezieht sich die Auffassung, wonach die Analyse die Genese voraussetzt, sowohl auf die Verbindlichkeit der Regeln als auch auf die Verbindlichkeit des Verlaufsschemas, das eine bestimmte Abfolge der Anwendung von Regeln vorschreibt. Vor diesem Hintergrund läßt sich das Verhältnis von Analyse und Genese nun genauer fassen. Sofern sich die Analyse an den Regeln der Genese orientiert, sind diese für die Analyse verbindlich; und sofern sich die Analyse am Verlaufsschema der Genese orientiert und dieses Schema eine bestimmte Reihenfolge der Anwendung der Regeln diktiert, ist diese Reihenfolge für die Analyse ebenfalls verbindlich — und zwar, dem Verlaufsschema der Analyse gemäß, in umgekehrter Richtung. Dieses Umkehr-Verhältnis von Genese und Analyse enthält verkürzt gesagt also zwei Behauptungen: Die erste besagt, daß die Regeln der Genese auch für die Analyse gelten (vgl. dazu Kap. I. 1); die zweite Behauptung legt das Gewicht auf das Verlaufsschema von Genese und Analyse und besagt, daß die
Logik, Rhetorik, Hermeneutik
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Regeln der Genese in der Analyse invers angewendet werden (vgl. dazu Kap. II. 1)2 Beide Behauptungen sind voraussetzungsreich — das läßt sich anhand der Anteile von Logik, Rhetorik und Hermeneutik am Umkehr-Verhältnis von Genese und Analyse verdeutlichen. Naheliegend scheint hier der Beitrag der Rhetorik. Seit alters her werden Fragen der Textgenese unter Hinweis auf rhetorische Lehrsätze traktiert, die im Detail angeben sollen, zu welchem Zweck eine Rede oder Schrift auf welche Weise zu verfassen sei. Um 1700 wird dieser Beitrag der (Schul-)Rhetorik nicht grundsätzlich in Frage gestellt, wohl aber neu überdacht. Insbesondere von seiten der Logik werden Vorbehalte formuliert, die —überspitzt gesagt— eine Verwissenschaftlichung der Rhetorik zur Folge haben. Diese Tendenz wird nicht bloß zum Prüfstein der »neuen Rhetorica«, sondern auch der Logik selbst (Teil I). Will diese als kritisches Korrektiv zu rhetorischen Produktionsanleitungen gelten, muß sie Lösungen anbieten, wie sich der Produktionsprozeß erfolgreich rationalisieren läßt, und noch grundlegender: sie muß ihr Augenmerk erst auf Probleme der Textgenese lenken. 3 Das tra-
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Was ich als »Umkehr-Verhältnis« von Genese und Analyse bezeichne, haben der Sache nach bereits zwei Autoren in Anspruch genommen: Klaus Weimars (literaturwissenschaftliches) Interesse liegt im Bereich der Hermeneutik, genauer im Übergang von der traditionellen »Signifikationshermeneutik« zur sog. »neuen« Hermeneutik (vgl. bereits Id. 1975). In diesem Zusammenhang dient ihm das Umkehr-Verhältnis als Charakteristikum der alten Hermeneutik und entsprechend als Unterscheidungsmerkmal der Konzeptionen nach 1800, um die es Weimar hauptsächlich geht (vgl. Id. 1987, Id. 1989, 347ff sowie Id. 1991; zu Weimars Sympathie für die »neue« Hermeneutik vgl. seine systematischen Ausführungen in Id. 1980, 3. Teil). Die Überlegungen Manfred Beetz' zum Umkehr-Verhältnis sind Bestandteil seiner Analyse der Produktions- sowie Rezeptionsgrundlagen von deutscher Lyrik um 1700 (vgl. Id. 1980); dabei liegt der Akzent auf Fragen des argumentativen Aufbaus literarischer Texte, die Beetz auf der Grundlage eines komplexen Verhältnisses der Disziplinen Logik und Rhetorik (ibid.), aber auch der Hermeneutik zu beantworten versucht (Id. 1981). Bemerkungen zum inversen Verhältnis von Textproduktion und -interpretation finden sich in der Nachfolge von Weimar und Beetz allenthalben, so etwa in der Arbeit von Werner Alexander zur Entwicklung der Henneneutica Generalis, dort speziell im Kontext der Rechtfertigung und Anwendung hermeneutischer Regeln (Id. 1993, z.B. 104, 141). — Es wird keinem entgehen, wieviel an wertvollen Hinweisen, Frageund Problemstellungen ich den Arbeiten der genannten Autoren verdanke.
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Das fällt leichter, wenn man die Beiträge der Humanisten zur Logik nicht leichtfertig übergeht und sich damit begnügt, sie mit dem Etikett >Rhetorialdialektik< zu versehen (vgl. stellvertretend Prantl 1855ff, I, 505ff und Bochenski 1956, aber auch die ambivalente Haltung von Risse 1964, I4ff; dagegen ohne Probleme Howell 1956 und Id. 1971 ); für eine Rehabilitierung der humanistischen Logik vgl. stellvertretend die Ar-
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Einleitung
ditionelle Verständnis von Logik trägt dazu nur wenig bei. Zwar erlaubt ihr pièce de cœur, die Syllogistik, Aussagen über die formale Richtigkeit von Argumentationen; doch bleibt damit außer acht, unter welchen Voraussetzungen Gedanken gefunden werden, wie sie korrekt zu bilden sind und auf welche Weise sich Irrtümer bei der Formation von Gedanken erkennen sowie beheben lassen. Die »neue Logica«, die solche Fragen beantworten will, muß als Erkenntnistheorie auftreten und hat sich um Transparenz sowohl der Erkenntnisvoraussetzungen als auch der formalen wie inhaltlichen Anordnung von Gedanken zu bemühen. Die Ansprüche dieser Logik an die Rhetorik sind massiv (Teil II). 4 Insbesondere die Betonung der Auffindung und korrekten Bildung der Gedanken zwingt die Rhetorik, ihr Interesse am Verbalen zu relativieren oder zumindest in den Dienst einer sachgemäßen Auswahl der Argumente bzw. einer adäquaten Beweisführung zu stellen. Daß die Beweispflicht von einer Logik diktiert wird, die als Erkenntnistheorie dem Formalen kritisch gegenübersteht, führt zu einer Gratwanderung besonderer Art: Auf der einen Seite hat die »logische Rhetorik« Strategien der Textgenese zu entwerfen, die dem logischen Anspruch der Überzeugungsleistung genügt; auf der anderen Seite gilt es, den traditionell rhetorischen Grundsatz der Wirksamkeit von Argument und Argumentation beachten. Der Versuch einer solchen >Rationalisierung< der Textgenese wird durch die erste Behauptung des Umkehr-Verhältnisses legitimiert, nämlich die Verbindlichkeit der Regeln der Textgenese für die Analyse (Teil III). Diese Legitimation erfordert ihrerseits eine Beantwortung der beiden Fragen, (i) was genau analysiert wird und (ii) zu welchem Zweck. Was (i) betrifft, entpuppen sich die Hermeneutiker der Zeit uneingeschränkt als Intentionalisten; es geht um die Ermittlung der Gedanken, die der Autor mitzuteilen beabsichtigt.5 Damit die Regeln der Textgenese für diese Zielsetzung gewinnbringend eingesetzt werden können, ist das rhetorische Verständnis des Produktionsprozesses um eine Reihe erkenntnistheoreti-
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beiten von Jardine 1982 und Ead. 1988. Aspekte der Verwissenschaftlichung der Rhetorik durch die Logik diskutieren, wenn auch mit unterschiedlichen Interessen, z.B. Dyck 1966, Barner 1970, Klassen 1974 und, wie schon erwähnt, Beetz 1980 (z.T. auch Fischer 1968 und Gaede 1978). Mit Voraussetzungen und Konsequenzen dieser Zielsetzung setzt sich Alexander 1993 intensiv auseinander, und zwar vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der Henneneutica Generalis bis Mitte des 18. Jahrhunderts; vgl. dazu auch die Beiträge in den Sammelbänden Unzeitgemäße Hermeneutik (Bühler [ed.] 1994) und Hermeneutik der Aufklärung (Biihler/Cataldi Madonna [eds.] 1993).
Logik, Rhetorik, Hermeneutik
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scher wie sprachphilosophischer Aspekte zu ergänzen. Im Zentrum stehen dabei Strategien der Eingrenzung des Verhältnisses von Sachverhalt und Gedanke auf der einen, Gedanke und Sprache auf der anderen Seite. Was nun den Zweck solcher Eingrenzungen angeht (ii), eröffnen sich wenigstens zwei Optionen: Entweder soll der Autor verstanden werden oder aber dasjenige, was der Autor mitzuteilen beabsichtigt bzw. die Art und Weise, wie er es tut, in bestimmter Weise genutzt werden. Der Entscheid zugunsten dieser oder jener Option wirkt auf den Status der Analyse zurück. Während im ersten Fall die Analyse in der Interpretation des vom Autor Beabsichtigten besteht, fungiert sie im zweiten Fall als Propädeutik der Anwendung dessen, was mit Hilfe des analytischen Verfahrens ermittelt wurde. Beide Auffassungen von Analyse müssen auf ihre Voraussetzungen hin überprüft werden (Teil IV). Insbesondere sind die Bedingungen, unter denen hier wie dort Analyse stattfinden soll, mit den spezifischen Anweisungen zur Interpretation bzw. (Nutz-)Anwendung zu verknüpfen. Diese Verknüpfung basiert auf einer Reihe von Unterstellungen, die die Person des Autors ebenso betreffen wie die Gestalt der Texte. Es ist entscheidend zu sehen, daß solche Unterstellungen zumindest partiell als Reaktion auf skeptizistische Einwände bezüglich des Verhältnisses von Sprache und Erkenntnis aufzufassen sind. Diese Einsicht lenkt nicht bloß auf den normativen Charakter der besagten Präsumtionen; sie führt insbesondere auch auf Fragen der Rechtfertigung von Interpretationen, der Grade ihrer Gewißheit und damit auf Möglichkeiten ihrer Überprüfung. Sämtliche dieser Problemstellungen geben Auskunft über Aufbau und Zielsetzung einer Interpretationstheorie, die sich an der Norm des vom Autor intendierten Sinns orientiert. Daß es sich im Rahmen doktrinaler Auslegungen bei dieser Norm um ein Ideal handelt, bringt Probleme mit sich (Teil V). Gravierend ist hier sicherlich die These der unterschiedlichen Standpunkte von Autor und Interpret. Hat man ein Interesse daran, weiterhin an der >Norm des Sinns< festzuhalten, so bedarf es ausgeklügelter Strategien, um diese unterschiedlichen Perspektiven einander anzunähern. Insbesondere ist zu prüfen, inwieweit solche Annäherungen mit den Grundsätzen autorintentionaler Positionen verträglich sind. In diesem Zusammenhang lassen sich moderate Ansätze, die auf eine umfassende historische Analyse des Umfelds des Autors setzen, von radikalen Auffassungen unterscheiden, die eine systematische Anwendung der Aussagen des Autors auf die Situation des Interpreten vorsehen. Beide Fälle markieren Möglichkeiten, aber auch Grenzen
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Einleitung
der Norm des Sinns. Das läßt sich unmißverständlich am Verlauf der Interpretation ablesen: Mit Hilfe von Einfühlung oder Projektion soll an den Gedanken des Autor partizipiert bzw. eine Basis geschaffen werden, von der aus sich das, was der Verfasser mitzuteilen beabsichtigt, in adäquater Weise reproduzieren oder rekonstruieren läßt. Entsprechend steht hier nicht mehr eine Analyse zur Debatte, die im Sinne des Umkehr-Verhältnisses bei der Sprache ansetzt und über eine Eruierung der Gedanken des Autors zu den verhandelten Sachen fortschreitet. Vielmehr wird die Frage thematisch, wie die Textgenese auf der Grundlage der vorab ermittelten Gedanken des Autors angemessen zu wiederholen sei. Dabei betrifft diese Frage nicht bloß den Verlauf der Auslegung. Eine Theorie, die Interpretationen als Wiederholungen der zu analysierenden Vorlagen zuläßt, hat sich eingehend mit dem Status solcher Auslegungen auseinanderzusetzen, mit ihrer Rechtfertigung und ihrem Anspruch, als begründete Erklärungen der Vorlagen zu gelten. Bereits dieser knappe Problemabriß mag die Schwerpunkte der Arbeit deutlich machen. Es geht um eine Rekonstruktion der Voraussetzungen und Konsequenzen des Verhältnisses von Genese und Analyse. 6 Im Detail verfolge ich mit dieser Rekonstruktion das Ziel, ein Modell des UmkehrVerhältnisses zu entwerfen, das Aussagen über die Beziehung zwischen Textproduktion und Textinterpretation erlaubt. Diese Aussagen tragen notgedrungen den Charakter von Verallgemeinerungen. Das ergibt sich nicht bloß aus der Zielsetzung der Arbeit, sondern auch aus dem Verfahren. Mir liegt nicht an einem detaillierten Inventar von Positionen oder einer minuziösen Darstellung ihrer Entwicklung während eines bestimmten Zeitraums 7 ; obwohl naheliegend (und auch notwendig), verfolge ich also nicht die Absicht, die historische Einschätzung beispielsweise der Hermeneutik um 1700 zu korrigieren. 8 Vielmehr interessieren mich Arft
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Ich werde rundum darauf verzichten, moderne Ansätze in diese Rekonstruktion zu integrieren. Es wird allerdings auch deutlich werden, wie sehr ich von den sprachphilosophischen Überlegungen eines Paul Grice, Peter F. Strawson, John R. Searle und Donald Davidson profitiere. Ohne Zweifel wären Projekte, die das bieten, lohnenswert — insbesondere, wenn sie interdisziplinär ausgerichtet werden. Diesen Blickwinkel hatte bereits Lutz Geldsetzer in seinen Einleitungen zu den von ihm herausgegebenen Texten in Series Hermenéutica (z.B. Id. 1965 und Id. 1969) sowie Beetz 1981, und er spielt offenbar auch für Bühler (ed.) 1994, 3f eine zentrale Rolle. Nach dem schwierigen Start von Hasso Jaeger 1974 werden jüngst immer mehr kritische Stimmen gegen die akkommodative Geschichtsschreibung von Vertretern der sog. Philosophischen Hermeneutik laut; vgl. stellvertretend Danneberg 1993, Cataldi
Logik, Rhetorik, Hermeneutik
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gumente, die von den Autoren im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Genese und Analyse in die Diskussion eingebracht werden. Sie werden schrittweise auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft und, soweit plausibel, als Antworten auf Fragen aufgefaßt, die das Umkehr-Verhältnis aufwirft. 9 Dabei wird sich zeigen, daß viele Antworten gerade von Seiten der Hermeneutiker schlüssig sind — ein Befund, der aus systematischer Perspektive für ihr Projekt, den Intentionalismus, sprechen muß. Der Versuch, das Verhältnis von Genese und Analyse schrittweise zu rekonstruieren, hat den Nachteil, daß vieles von dem (historischen) Szenario, das in den ersten beiden Teilen entworfen wird, vorläufig bleibt und erst im Zuge der Rekonstruktion Gestalt annimmt. Der Vorzug dieses Verfahrens liegt, soweit ich sehe, darin, daß dem Leser immer wieder Möglichkeiten einer alternativen Sichtweise angeboten werden, was zur kritischen Begutachtung der hier vorgeschlagenen Rekonstruktion beitragen mag.
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Madonna 1994 sowie Scholz 1994a. Da die nachfolgende Rekonstruktion nicht mehr als ein Modell bieten wird, sind die hier aufgeworfenen Fragen natürlich nicht erschöpfend. Das heißt: Die Berücksichtigung der Anteile von Logik, Rhetorik und Hermeneutik am Verhältnis von Genese und Analyse führt nicht notgedrungen auf genau jene Fragen, die ich ins Auge fasse; ebensowenig lassen sich die von mir diskutierten Fragen ausschließlich mit Hilfe der drei genannten Disziplinen beantworten — weitere Disziplinen können und müssen einbezogen werden (so z.B. die Theologie und Jurisprudenz, die Klugheitslehre, Sittenlehre sowie Pädagogik).
I. Alte und neue Logiken 1. Genese und
Analyse
Im Jahre 1559 zeigt sich Laurentius Humphredus in De ratione interpretandi überrascht, daß die Auslegungslehre —im Gegensatz zu den meisten anderen Disziplinen— noch nicht als »ars« im Sinne einer Wissenschaft gelten dürfe. 1 Das sollte sich spätestens in den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts ändern. In Johann Conrad Dannhauers Idea boni interpretis et malitiosis calumniatoris von 1630 hängt der Status der Hermeneutik als »scientia philosophica« nämlich davon ab, inwieweit die Auslegung einer Rede oder Schrift 2 regelgeleitet erfolgt. Indem Dannhauer das hermeneutische Problem der Ermittlung des wahren Sinnes (sensus verus) als Anwendungsfall der logischen Unterscheidung von wahr und falsch auffaßt, bestimmt er zugleich die Reichweite der Logik: Will Hermeneutik als Wissenschaft gelten, hat die Auslegung nach Regeln zu erfolgen, die ihre Geltung der Logik verdanken.3 Wie einflußreich Dannhauers Ansatz sein sollte, zeigt nicht zuletzt die 1654 erschienene Logica vêtus et nova des Johannes Clauberg. 4 Auch er behandelt Probleme der regelgeleiteten Auslegung und setzt damit Dannhauers Projekt der Hermeneutica logica fort. Darüber hinaus versucht Clauberg —eindringlicher als der Altdorfer Aristoteliker— die Frage der Geltung hermeneutischer Regeln mit Blick auf mögliche Anwendungs-
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Humphredus 1559, bes. 3f sowie 128ff. Ich werde im folgenden zwischen >Rede< und >Schrift< bzw. >Text< nur dort differenzieren, wo Aussagen über Reden nicht in gleichem Maße auf Texte zutreffen. Vgl. Dannhauer 1630, bes. I, §3 sowie §6f, w o die Zuordnung der Hermeneutik zur Logik syllogistisch demonstriert wird. — Freilich sieht Dannhauer auch Unterschiede zwischen den beiden Disziplinen; im Gegensatz zur Logik versuche die Hermeneutik beispielsweise selbst auf der Grundlage irrtümlicher oder falscher Textpassagen den wahren Sinn zu ermitteln (vgl. ibid., I, §8; dazu auch Kap. IV. 2); zum Verhält-nis von Logik und Hermeneutik bei Dannhauer vgl. allgemein Alexander 1993, 52ff. Vgl. dazu v.a. Hasso Jaeger 1974, 75f.
1. Genese und Analyse
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bereiche zu beantworten. Solche Bereiche gelangen bereits in der Gliederung der Logica zum Ausdruck. In den Prolegomena teilt Clauberg die Logik in zwei Teile, einen genetischen und analytischen5, die ihrerseits in zwei Abschnitte zerfallen: Der genetische Teil behandelt die Bildung und sprachliche Umsetzung eigener Gedanken 6 , der analytische Teil widmet sich der Ermittlung des Sinns sowie der kritischen Beurteilung des ermittelten Sinns. 7 Mit dieser Gliederung ist zugleich die Aufgabenstellung der beiden Teilbereiche der Logik umschrieben: (i) Während sich die Logica genetica, verkürzt gesagt, mit der korrekten Bildung (recta formatio) eigener Gedanken auseinandersetzt, (ii) befaßt sich die Logica analytica mit der angemessenen Auflösung (conveniens resolutio) fremder Gedanken. Claubergs Gliederung der Logik in die besagten Teilbereiche ist keineswegs selbstverständlich. Immerhin unternimmt er damit den Versuch, die traditionelle Auffassung von Logik um die Idee der Logica analytica, näherhin einer Hermeneutik, anzureichern. 8 Die Frage, welchen Stellenwert diese Hermeneutik in der Logik einnimmt, führt auf den Zusammenhang zwischen Logica genetica und analytica. Begründet wird dieser Zusammenhang vor dem Hintergrund der Zielsetzung der Logica.9 Im Gegensatz zu Dannhauer, der Logik im traditionellen Sinne als Schluß- und Beweislehre auffaßt, begreift Clauberg sie als Erkenntnistheorie und bestimmt ihr Ziel entsprechend in der Auffindung und Beurteilung materialer Erkenntnis im Sinne einer Übereinstimmung der Gedanken mit den durch sie repräsentierten Sachverhalten. Dabei distanziert sich Clauberg entschieden von der Idee, dieses Ziel könne ausschließlich mit Hilfe der 5
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Clauberg 1654, Prolegomena, § 106: »Itaque ars logica reperta est, ut mentem humanam ducat, vel ad rectam formationem seu γένεσιν suarum cogitationum, vel ad convenientem resolutionem seu άνάλυσιν alienarum cogitationum. Hinc primo dividitur in GENETICAM & ANALYTICAM.« — Zur folgenden Gliederung vgl. u.a. auch Thomasius 1710a, IV. Cap., 118. Ibid., § 111 : »Prior pars tantum comparata est ad id, ut regatur sermo internus seu cogitatio: posterior insuper formare docet sermonem externum seu orationem, quae cogitationis est interpres.« (Hervorhebungen von mir). Ibid., §120: »Analytica dirigit mentem in resolutione eorum, quae composita sunt, primo, ut intelligamus, quaenam illa sint, sive, ut verum sensum cognoscamus extemi sermonis: deinde, ut percipiamus, an talia sint, qualia esse debent, sive, ut verum a falso, consequens ab inconséquente &c. in sermone interno dignoscamus.« Daß es sich hier um eine Hermeneutik handelt (die Clauberg 1654, Prolegomena, §102 als ars discendi apostrophiert [dazu Kap. III. 1 und 2]), haben bereits Bohatec 1912, 87ff und dann Risse 1970, 62 herausgestellt, wohingegen z.B. Arndt 1965, 43f das unbemerkt läßt (ebenso Id., 1971, 830Für eine solche Begründung vgl. Clauberg 1654, Prolegomena § 102.
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I. Alte und neue Logiken
formalen Lehrstücke der klassischen Logik erreicht werden. 10 Statt dessen ist er vorderhand an einer Erörterung der Voraussetzungen interessiert, unter denen die Übereinstimmung von Gedanke und Sachverhalt zustandekommt. Gemäß der Aufgabenstellung der Logica genetica fordert Clauberg (i*) eine Bereinigung des Verstandes von individuell sowie sozial bedingten Vorurteilen. Nur unter dieser Voraussetzung könne die korrekte Bildung der eigenen cogitationes gelingen bzw. eine adäquate Übereinstimmung von Gedanke und Sachverhalt erzielt werden.11 Was die Logica analytica betrifft, verlangt Clauberg (ii*) eine sorgsame Überprüfung der sprachlichen Umsetzung fremder Gedanken, die letztlich darauf abzielt, eine Rede oder Schrift auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu beurteilen. Auch bei dieser Beurteilung handelt es sich um eine Bedingung materialen Erkenntnisgewinns; der Leser 12 , der eine Schrift »analysiert«, versucht die Gedanken des Autors zu untersuchen (examinatio) bzw. zu evaluieren (dijudicatio), um auf diesem Wege von den Erkenntnissen, die der Verfasser mitteilt, zu lernen.13 Die letzte Bemerkung gibt einen Hinweis, wie man sich den Zusammenhang zwischen Logica genetica und analytica vorzustellen hat. Damit der Leser überhaupt vom Autor lernen kann, muß vorausgesetzt werden, daß sich prinzipiell ausmachen läßt, welches seine Gedanken bzw. der Sinn der zu analysierenden Schrift ist. 14 Und das wiederum hängt davon ab, inwieweit unterstellt werden darf, daß der Autor zum einen weiß, worüber er spricht, und zum andern den Leser nicht absichtlich täuscht 15 , mit 10 Für Gründe und Auswirkungen dieser Distanzierung vgl. Kap. I. 2. 11 Vgl. Clauberg 1654, Prolegomena, §2, w o er deutlich in Anlehnung an Francis Bacon argumentiert (vgl. auch Kap. I. 2). 12 Ich spreche vorläufig noch unterschiedslos von >LeserSchüler< und >Interpret< (Kap. II. 1 hat die Lektüre zum Thema, in Kap. III. 4 kommt die Interpretation zum Zug). 13 Vgl. dazu ibid., § 102. — Diese Zielsetzung der Hermeneutik Claubergs wird für meinen Gedankengang von zentraler Bedeutung sein. 14 Daß es bei der Auslegung fremder Gedanken um die Ermittlung des Sinns bzw. des vom Autor Intendierten geht, steht für Clauberg 1654, III, §3 fest. 15 Vgl. Clauberg 1654, III, §51 sowie §45: »Si author talis est, ut & noverit quid loquatur, & data opera decipere nolit, non nisi unus verus est & ab ipso intentus orationis sensus« (hier in nahezu wörtlicher Übereinstimmung mit Dannhauer 1630, I, §34). Alexander 1993, 75 deutet das Postulat des »bonus & sapiens author« bei Dannhauer und Clauberg als »Reaktion auf die skeptizistischen Theoreme« (dazu auch Kap. IV. 1, 1 2 4 0 und verweist in diesem Zusammenhang auf eine Reihe sprachphilosophischer wie erkenntnistheoretischer Annahmen der antiken Skeptiker (ibid., 36ff) und Augustine (ibid., 40ff).
1. Genese und Analyse
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anderen Worten: daß er nicht vorsätzlich jene Normen und Konventionen verletzt, die eine geregelte Bildung sowie sprachliche Umsetzung seiner Gedanken ermöglichen. 16 Für den Zusammenhang zwischen logica genetica und analytica ist nun entscheidend, daß der Leser davon ausgeht, der Autor habe bei der Bildung und sprachlichen Umsetzung seiner Gedanken die genannten Bedingungen erfüllt. Deutlich wird dies etwa im Zusammenhang mit den circumstantiae, den sogenannten Nebenumständen einer Schrift 17 : Claubergs Forderung, man möge bei der Ermittlung des scopus eine sorgfältige Analyse des Adressatenkreises vornehmen 18 , beruht u.a. auf dem Gedanken, daß die Absicht des Autors leichter zu erfassen sei, wenn man weiß, an wen er seine Schrift gerichtet hat. Und dieser Gedanke wiederum setzt voraus, daß sich der Autor bei der Bildung sowie sprachlichen Abfassung seiner Gedanken einer bestimmten Hörerschaft anpaßt und diese Anpassung nach bestimmten Regeln erfolgt. 19 Clauberg beruft sich an dieser Stelle auf eine Reihe von Vorschriften, die dem Bereich der Rhetorik entstammen. Die Annahme z.B., daß bei der Ermittlung des scopus die Befragung des Themas (quid loquatur), des Schreibstils (qua lingua & stylo utatur author) oder des Adressaten (quos alloquatur) von Belang sei 20 , ist genaugenommen nur dann gerechtfertigt, wenn der Autor seinerseits die rhetorische Vorschrift befolgt hat, dergemäß ein bestimmtes Thema mit Blick auf eine bestimmte Adressatengruppe, mithin zu einem bestimmten Zweck und in bestimmter Manier darzustellen ist, pointierter: wenn der Autor seine Gedanken nach einem vorgegebenen Schema aufgesucht und verfertigt hat, so etwa nach Maßgabe des bekannten Fragekatalogs quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando.21
16 Vgl. ibid., §31 sowie weiter unten. 17 Vgl. ibid., §5, dazu auch Alexander 1993, 67f. — Ich komme auf den Stellenwert der circumstantiae zurück. 18 Vgl. ibid., § 16. Die Berücksichtigung des Adressatenbezugs ist nicht das einzige Mittel zur Ermittlung des scopus-, Ziel und Absicht des Autors werden, vereinfachend gesagt, aus der Analyse der historischen Begebenheiten erschlossen, die zur Entstehung eines Textes beigetragen haben, sowie aus dem Text selbst; dazu ausführlich Kap. III. 4, 121f. 19 Vgl. ibid.; für Clauberg bestimmt der Adressatenkreis nicht bloß das Vermittlungsziel eines Textes, sondern auch die Sprache bzw. Terminologie; in diesem Sinne dürfe beispielsweise von der Darstellungsform einer Rede auf deren Zweck geschlossen werden (ibid., §21). 20 Vgl. ibid., §12-25. 21 Vgl. auch Alexander 1993, lOlf sowie bereits Brinkmann 1980, 4ff (dazu Kap. III. I, Anm. 26). Ich werde auf diesen Fragekatalog vermehrt zurückkommen.
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I. Alte und neue Logiken
Es sind nicht bloß rhetorische Regeln, auf die sich Clauberg beruft, sondern auch solche aus dem Bereich der Logik. Wichtiger als der Stellenwert, den Clauberg den formalen Lehrstücken der (klassischen) Logik einräumt 22 , ist in diesem Zusammenhang die Funktion, die rhetorische wie logische Regeln im Rahmen des Verhältnisses von Genese und Analyse haben. Zum einen sind sie konstitutiv für die Logica genetica; die Kenntnis der besagten Regeln gilt dem Autor als Voraussetzung für die korrekte Bildung und sprachliche Umsetzung seiner Gedanken. Zum anderen spielen sie aber auch in den Bereich der Logica analytica hinein, sofern der Leser mit Hilfe rhetorischer wie logischer Regeln die Gedanken des Autors zu ermitteln und überprüfen versucht. In beiden Fällen handelt es sich also um eine Art Anwendung von Regeln, die für die Textgenese ebenso wie für die Textanalyse verbindlich sind. Wie das Beispiel der circumstantiae zeigt, wird diese Verbindlichkeit für die Textanalyse durch die Annahme einer regelgeleiteten Textgenese begründet: Im Rahmen der Analyse werden nicht beliebige Regeln angewendet, sondern genau jene, die für die Genese verbindlich sind. Der Zusammenhang zwischen Logica genetica und analytica ist somit in Begriffen einer Abhängigkeit der Analyse von der Genese hinsichtlich der Verbindlichkeit der Regeln zu charakterisieren. Diese Charakterisierung hängt eng mit der Zielsetzung der Logica zusammen. Wie gesagt, geht es Clauberg um Erkenntnisgewinn, und zwar auf Seiten des Autors ebenso wie auf seiten des Lesers. Damit der Autor materiale Erkenntnis erlangen kann, muß er sich um die korrekte Bildung und sprachliche Umsetzung seiner Gedanken bemühen. Die entscheidende Pointe des Zusammenhangs von Logica genetica und analytica besteht nun darin, daß unter der Bedingung einer regelgeleiteten Genese der Leser seinerseits ermitteln kann, was der Autor vermitteln wollte, bzw. lernen kann, was dieser ihn zu lehren beabsichtigte. Ist diese Bedingung erfüllt, so dürfte in der Tat nicht bloß die Logica genetica zu einem Gewinn materialer Erkenntnis führen, sondern auch die Logica analytica. Mag Claubergs Gliederung der Logik in die Bereiche Genese und Analyse von vorherrschenden Tendenzen seiner Zeit abweichen, der Sache nach ist sie nicht neu. 23 Petrus Ramus z.B. hatte vor ihm eine vergleichbare Unterscheidung getroffen und die Ansicht vertreten, daß die Genese
22 Vgl. Kap. I. 2, 21f, wo Claubergs Logica historisch verortet wird. 23 Zu der historischen Entwicklung der Genese/Analyse-Tradition vgl. jetzt Danneberg 1996.
1. Genese und Analyse
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eigener Gedanken mit der Analyse fremder in bestimmter Weise zusammenhänge — eine Ansicht, die Ramus auf der Grundlage der forensischen Redepraxis entwickelt 24 und in einem vorwiegend >pädagogischen< Kontext ausgearbeitet hat. 25 Nach Erlernung der Logik, so Ramus, stehen dem Schüler prinzipiell zwei Möglichkeiten offen, die erworbene Kenntnis anzuwenden 26 : Erstens (1) kann er versuchen, literarische Vorlagen —es handelt sich dabei meist um exemplarische Texte— auf ihr Wortmaterial, ihre Argumentationsstruktur sowie Beweisführung hin zu überprüfen. Diese Analyse fremder Gedanken weist zwei Merkmale auf. (a) Im Sinne eines Verfahrens erfolgt sie grundsätzlich mit Hilfe von (logischen) Regeln. So werden z.B. die im Text verwendeten argumenta vom Schüler mit der ihm verfügbaren logischen Terminologie klassifiziert. 27 (b) Was den Verlauf der Analyse betrifft, empfiehlt Ramus dem Schüler, sich am Produktionsverfahren der Vorlage zu orientieren, und zwar in umgekehrter Richtung. Entsprechend hat die Analyse bei der sprachlichen Gestaltung bzw. Ausschmückung der Gedanken anzusetzen (der letzten Produktionsphase der Vorlage) und im Stadium der Auffindung der einzelnen Argumente (der ersten Phase) abzuschließen. Gemäß diesem —wie ich es nennen werde— Umkehr-Verhältnis wird der Schüler also den Text zunächst auf die Verwendung von Tropen und Figuren hin analysieren, ihn sodann in einzelne Teile oder Abschnitte gliedern, eine Klassifikation der in diesen Abschnitten benutzten argumenta vornehmen und schließlich die eruierten Argumentklassen als Korrelate jener loci topici beschreiben, die dem Autor in der Phase
24 Zur humanistischen Dialektik um die Mitte des 16. Jahrhunderts vgl. Risse 1964, bes. 14-78 sowie Jardine 1982, bes. 800ff. und Ead. 1988; zur Situation der Logik und Rhetorik »before Ramus« vgl. McKeon 1942 und Ong 1982, 153ff. 25 Der >pädagogische< Anspruch der Dialektik Ramus' besteht im wesentlichen in der Forderung an den Schüler, er solle die formalen Lehrstücke der klassischen Logik mit Blick auf ihre praktische Anwendung erlernen (s.u.); dazu Tuve 1942, 380f sowie Jardine 1988, bes. 186. 26 Ramus 1543, 44: »Summa igitur, ac prope sola disserendi virtus est in exercitatione, quae interpretatione, scriptione, dictione continetur.« — Ganz im Sinne von Cicero Top. II gliedert Ramus seine Dialektik in verschiedene Teile, wobei sich der erste Teil, inventio, der Auffindung von Argumenten widmet, der zweite, iudicium oder dispositio, hingegen mit deren Darstellung bzw. Beurteilung befaßt (dazu weiter unten); in einem gesonderten Abschnitt, exercitatio, setzt sich Ramus mit der hier angedeuteten Anwendung logischer Kenntnisse auseinander (vgl. dazu ibid., 4 4 0 - Zum Verhältnis von inventio und iudicium bei Ramus vgl. allgemein Ong 1982, 156ff. 27 Zum Verfahren der Analyse vgl. auch Ramus 1546, 92f.
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I. Alte und neue Logiken
der Auffindung der einzelnen Argumente (inventio) als Ausgangspunkt gedient haben. 28 Die zweite Möglichkeit der Anwendung (2) besteht in der Genese eigener Gedanken. Der Schüler verfaßt Texte, und zwar nach Maßgabe der Vorlage, die er analysiert hat. In diesem Sinne ist die Genese zumindest dem Verfahren nach an der Analyse ausgerichtet. Die Analyse legt, wie angedeutet, minuziös die Argumentationsstruktur des Textes frei und liefert auf diesem Wege Hinweise —man möchte schon sagen: Tips— für die Ausarbeitung der eigenen Beredsamkeit. Die Anwendung erfolgt hier also anhand der Genese eines Textes nach den für das analytische Verfahren verbindlichen Regeln.29 Beiden Anwendungen, der Analyse fremder wie auch der Genese eigener Gedanken, liegen bestimmte Annahmen zugrunde. Im Falle von (1) wird vorausgesetzt, daß die Analyse mit den ihr verfügbaren Regeln die Argumentationsstruktur zu ermitteln vermag, und damit, daß die zu analysierende Vorlage nach den besagten Regeln verfaßt wurde. Diese Voraussetzung wird durch die Auszeichnung der Vorlagen als exemplarische Texte eingelöst. Gemäß humanistischen exempta-Theorien handelt es sich bei Vorlagen per definitionem um Texte, die auf vorbildliche Weise regelgeleitet verfaßt wurden. Im Falle von (2) wird vorausgesetzt, daß die bei der Textanalyse angewendeten Regeln in vergleichbarer Weise auch für die Genese und Abfassung eigener Gedanken von Belang sind, so etwa nach der Devise: Es äußert sich nur jener treffend und deutlich, der seine Beredsamkeit durch Nachahmung der besten Autoren ausgebildet hat. 30 Beide Annahmen markieren deutlich den Einflußbereich der Logik sowohl für das Verfahren der Textgenese als auch für dasjenige der Textanalyse. Zum einen bietet die Logik dem Autor Hinweise, wie er einen Text zu schreiben hat. Unter der (humanistischen) Voraussetzung, daß dieser Text regelgeleitet verfaßt wird, liefert die Kenntnis logischer Regeln zum andern dem Schüler bzw. Leser entsprechende Hinweise, wie der Text zu analysieren ist. Insbesondere der zweite Punkt führt auf Clauberg zurück. Wie Clauberg scheint auch Ramus von der Idee geleitet, daß ein nach Regeln verfaßter Text die Analyse nachhaltig erleichtere; und 28 Id. 1543, 45ff. Vgl. für diesen Zusammenhang auch Ongs Versuche einer Rekonstruktion der ramistischen »Methode«, die er als »way of organizing discourse« bezeichnet (Id. 1961, 161f, ferner Id. 1958,225-269). 29 Zum Verfahren der Genese vgl. Id., 1546, 1 lOf. — Zur kontroversen Einschätzung von Genese und Analyse bei Ramus vgl. Hooykaas 1958, 20ff und 64ff sowie Ong 1961, 161. 30 Zur (humanistischen) imitatio-Theoúe vgl. ausführlich Kap. II. 1.
2. Für und wider den Syllogismus
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wie bei Clauberg gründet auch bei Ramus diese Idee auf dem Gedanken, daß die Regeln, nach denen ein Text verfaßt wurde, in gleichem Maße auch für die Analyse dieses Textes verbindlich seien — ein Gedanke, der sich mit Blick auf Ramus' eigene Exerzitien zu bestätigen scheint, wenn er mit dem erklärten Ziel, die Struktur des Textes zu erfassen, eine Rede Ciceros auf einen einzigen Syllogismus bringt. 31
2. Für und wider den
Syllogismus
Nun ist der Stellenwert, den Ramus dem Syllogismus innerhalb seiner logischen Exerzitien einräumt, einerseits unproblematisch. Der syllogistische Nachweis des Zusammenhangs zwischen dem Thema einer Schrift, der quaestio, und den zur Abhandlung dieses Themas herangezogenen argumenta bildet einen festen Bestandteil der im 16., 17. und noch im 18. Jahrhundert praktizierten Disputationskunst. Der Syllogismus dient hier als Darstellungsform zur Gliederung eigener bzw. Beurteilung fremder Gedanken. 3 2 Andererseits hat der Syllogismus zu Ramus' (und auch zu Claubergs) Zeiten einen schweren Stand. Johannes Ludovicus Vives und Laurentius Valla nehmen in diesem Zusammenhang gezielt die scholastische Logik ins Visier und kritisieren, daß es sich hierbei um ein System handle, das zu einem Kanon formaler Regeln erstarrt sei, sich mit unnützen begrifflichen Unterscheidungen abgebe und es folglich versäumt habe, dem Menschen ein Instrumentarium zum richtigen Gebrauch des Verstandes in die Hand zu geben. 33 Diese knappe Charakterisierung der Kritik an der scholastischen Logik deutet bereits an, daß die Vorbehalte nicht den Syllogismus im Sinne einer Darstellungsform betreffen können. In der Tat ist hier ein anderes Verständnis im Spiel. Von den Humanisten wird in erster Linie nämlich bemängelt, daß der Syllogismus als Erkenntnisform nichts tauge. Dieser Kritikpunkt legt denn auch die Vermutung nahe, daß von Seiten der Hu-
31 Ramus 1543, 45ff. 32 Für die historischen Hintergründe des Disputationswesens im 16. Jahrhundert vgl. Horn 1893; über den Stellenwert der ars disputandi im Barock berichtet Barner 1970, 393ff, im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert vgl. v.a. Beetz 1980, 70ff. — Zum Syllogismus als »Denkform« bzw. »Darstellungsform« der Disputation vgl. Schüling 1969, 83f. 33 Zu V i v e s ' Gründen für eine Ablehnung der scholastischen Logik vgl. ausführlich Guerlac 1979, zu Vallas Kritik an der scholastischen Logik vgl. Gerì 1974, 42ff.
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I. Alte und neue Logiken
manisten eine ungerechtfertigte, wenn nicht gar falsche Einschätzung des Syllogismus vorliegt. Zumindest dürfte es schwer sein zu belegen, daß die scholastischen Logiker der Auffassung waren, der Syllogismus trage zur Entdeckung neuer Erkenntnisse bei. Ungeachtet dieses >Mißverständnisses< ist erstens aber zu berücksichtigen, daß eine Reihe von Autoren ihre Syllogismus-Kritik am Disputationsbetrieb, dem bevorzugten Anwendungsbereich scholastischer Logik, ansetzen; und zweitens, daß mitunter dieselben Autoren nicht abgeneigt sind, den Syllogismus wenigstens im Sinne einer Darstellungsform gelten zu lassen. Diese ambivalente Haltung mag auf Anhieb nicht verständlich sein — zumal, wenn die Kritik an der scholastischen Logik allgemein als Ablehnung der Syllogistik gedeutet wird. 34 Verständlicher wird sie, wenn die besagte Kritik als Versuch einer Eingrenzung des Leistungsbereichs von Syllogismen aufgefaßt wird, als vehementer Versuch wohlgemerkt, der die unterschiedlichen Ansprüche an »alte« und »neue« Logiken deutlich macht. Wie kein zweiter setzt Rudolf Agricola in dieser Angelegenheit Akzente. Die scholastische Logik, ein Konglomerat von Lehrsätzen, sei lediglich auf die formale Richtigkeit der Argumentation bedacht. Zwar sei man imstande, mit Hilfe von Syllogismen für einen beliebigen Sachverhalt (res proposita) Gründe und Gegengründe anzuführen, doch vergesse man darüber, den Sachverhalt selbst auf seine materiale Wahrheit hin zu überprüfen. 35 Indem Agricola der Syllogistik jedwelche Einsicht in die materiale Wahrheit bzw. Falschheit von Urteilen abspricht, besteht für ihn auch keine Möglichkeit, mit deren Hilfe beispielsweise Irrtümer zu bekämpfen; denn Irrtümer werden dadurch verursacht, daß Menschen vor dem Hintergrund falscher Prämissen urteilen. 36 Unmittelbar mit dieser Einsicht verknüpft ist —zumindest für Agricola— ein weiterer Kritikpunkt. Mag der Syllogismus zur Überprüfung bekannter Erkenntnisse dienlich sein, zur Findung neuer Wahrheiten ist er es nicht. Spätestens hier werden die Ansprüche der Humanisten an die »neue« Logik deutlich: Sie soll nicht wie die »alte«, scholastische, bloß als »Darstellungslogik« fungieren, die mit ihren Regeln im Grunde genommen doch nur beweisen kann, was längst schon bewiesen oder zumindest bekannt ist.37 Vielmehr hat sie als 34 Diese Deutung dürfte u.a. durch den Umstand begünstigt sein, daß die Kritik an der scholastischen Logik bzw. Syllogistik von den zeitgenössischen Autoren zumeist mit der Kritik an Aristoteles gleichgesetzt wurde. 35 Vgl. Agricola 1528,1, 3, 17 sowie II, 1, 193. 36 Vgl. ibid. sowie II, 1, 178, mit Bezug auf den Disputationsbetrieb. 37 Vgl. ibid., II, 1, 178f; diese Auffassung findet sich z.B. noch bei Wolff 1841, 136;
2. Für und wider den Syllogismus
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»Erfindungslogik« aufzutreten, die der Entdeckung von veritates incognitas dient 38 — schließlich, so Agricola, sei die Entdeckung neuer argumenta gegenüber der Darstellung und Überprüfung der Argumentation vorrangig. 39 Obwohl Agricola also dem inventiven Teil der Logik gegenüber dem judikativen Priorität einräumt, will er letzteren nicht aus der Dialektik verbannt wissen. Im zweiten Buch De inventione dialéctica legt er ausführlich dar, daß die Formen des Argumentierens (wenngleich den Strategien der Auffindung einzelner argumenta untergeordnet) zum Zwecke der Darstellung und Überprüfung vermittelter oder noch zu vermittelnder Erkenntnisse unabdingbar seien. 40 Der Hinweis auf die Erkenntnisvermittlung macht zunächst einmal auf eine Reihe von Parallelen zu Ramus aufmerksam.41 Wie Agricola behauptet auch Ramus die Priorität des inventiven gegenüber dem judikativen Teil der Logik. 42 Die Gründe für diese Vorrangstellung sind mit den bislang diskutierten vereinbar: Der Geltungsanspruch der scholastischen Logik (und insbesondere der Syllogistik) sei auf die formale Richtigkeit von Beweisen beschränkt; ausgeblendet werde somit die Frage der Entdeckung
(vgl. aber auch Id. 1713, Cap. 4, §24 [175f]). 38 Vgl. dazu Uthemann 1985, 406ff. — Arndt 1965, 35 (Anm. 9) macht zu Recht darauf aufmerksam, daß bei der Ausbildung des Begriffs der Findungslogik bzw. »Erfindungskunst« durchaus auch auf scholastisches Gedankengut zurückgegriffen werden konnte. Im allgemeinen aber dürfte das Urteil von Heimsoeth 1912/14, 202f zutreffen, wonach seit der Renaissance >Erfindungskunst< —nun verstanden als Methode zur Bereicherung der Erkenntnis durch neue Wahrheiten— das »Kampfwort« gegen die Scholastik war. 39 Vgl. u.a. Agricola 1528, II, 197. — Damit orientiert sich Agricola (und mit ihm auch Ramus) wohl an Cicero Top., II, 6, der einen »natürlichen« Vorrang der inventio gegenüber dem iudicium behauptet. Inwiefern Cicero tatsächlich einer strikten Unterscheidung zwischen topischer Invention und Rechtfertigungsproblematik das Wort redet, ist umstritten. Nichtsdestotrotz legen eine Reihe von Interpreten ihrer Analyse die Annahme einer solchen Unterscheidung zugrunde, wenn sie vis-à-vis humanistischer Autoren, die die Frage der Vorrangstellung zugunsten der inventio entscheiden, nicht unbedingt wertfrei von »Rhetorialdialektikern« bzw. »Ciceronianern« sprechen; vgl. z.B. Risse 1964, 14ff sowie Hügli 1976, Sp. 553f. 40 Die Betonung der Erkenntnisvermittlung (Faust 1922, 133 spricht von »einer philosophischen Regelung der sprachlichen Mitteilung«) erfolgt bei Agricola unter anderem vor dem Hintergrund der religiösen Überzeugung, daß Gott dem Menschen die Gabe der Rede verliehen habe, damit er sich seinen Mitmenschen mitteile und sie z.B. belehre, erfreue etc. (Id. 1528, I). Ich komme in Kap. I. 4, 32 auf diese religiöse Fundierung der Erkenntnisvermittlung kurz zurück. 41 Zu weiteren Aspekten der Erkenntnisvermittlung vgl. Kap. 1.4, 36ff. 42 Dazu ausführlicher Walton 1971, 292.
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I. Alte und neue Logiken
neuer Argumente. Dieses Defizit glaubt Ramus im ersten Teil seiner Dialektik beheben zu können. Wie Agricola orientiert sich er hierbei an einer auf die Antike zurückgehenden Topik, die mit Cicero als ars inveniendi aufzufassen ist — als Anleitung also, wie mit Hilfe bestimmter Kategorien oder Gesichtspunkte, loci genannt, beliebige Sachverhalte aufgefunden werden können. 43 Trotz der Favorisierung der Topik im Sinne einer systematischen Anleitung zur Findung von Argumenten betont auch Ramus weiterhin die Wichtigkeit der formalen Anordnung der topisch aufgefundenen argumenta. In diesem Sinne werden denn auch im zweiten Teil seiner Dialektik eingehend die Vorzüge der klassischen Schlußlehre für die Beurteilung und Klassifikation von Argumenten diskutiert. Entsprechend der Gliederung in »inventio« und »iudicium«44 bestimmt Ramus seine Dialektik in zwei Richtungen: Es genügt nicht, daß sie dem Menschen eine Methode zur Entdeckung neuer Argumente in die Hand gibt; die Dialektik hat darüber hinaus ein Instrumentarium zu liefern, das die Beurteilung und Klassifikation der gewonnenen Erkenntnisse bzw. deren regelgeleitete Mitteilung ermöglicht — ein Anspruch, der für Ramus insofern von Belang ist, als in seinem Urteil eine Schrift (soll sie analysiert werden) nach bestimmten Regeln verfaßt sein muß.45 So gesehen mündet Ramus' Auffassung, daß Syllogismen im traditionellen Sinne durchaus dienlich und in gewisser Hinsicht gar unverzichtbar seien, letztlich in ein Verständnis von Logik als Findungs- und Darstellungslogik. Zentral an diesem Verständnis ist also der Gedanke, daß die Forderung nach einer Logik der Entdeckung neuer Argumente zwar eine Kritik an der scholastischen Logik bzw. am Syllogismus als Erkenntnisform miteinschließt, diese Kritik aber nicht automatisch Vorbehalte gegenüber dem Syllogismus als Darstellungsform beinhalten muß. Diese ausgewogene Einschätzung des Syllogismus sollte eigentlich auch auf Clauberg zutreffen — zumal immer wieder hervorgehoben wird, daß seine Logica eine Synthese von alter und neuer Logik darstelle. 46 Um zu
43 Mehr dazu in Kap. I. 3. 44 W e n n g l e i c h Ramus' Einteilung der Logik traditionsbildend sein sollte, ist sie — s o Gilbert 1960, 7 5 — doch nicht sonderlich originell, sondern findet sich bereits in antiken Quellen; eine Einsicht, die den Autoren des 17. Jahrhunderts im übrigen nicht neu war, vgl. etwa Micraelius 1661, 695: »Logicam Stoici diviserunt in Inventionem et Judiciam, quos imitatur Ramus.« 45 Vgl. dazu bes. Ong 1982, 175ff sowie die Überlegungen in Kap. I. 1, 14. 46 S o Cassirer 1911, 528f, Scholz 1931, 9 und Risse 1970, 60. D i e Überschrift »Logica vetus et nova« ist um die Mitte des Jahrhunderts unter Cartesianem allerdings üblich.
2. Für und wider den Syllogismus
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verstehen, was damit gemeint sein könnte, ist ein Blick auf das Umfeld Claubergs erforderlich. Ich habe in Klammern bereits darauf hingewiesen, daß es auch zu seiner Zeit schlecht um den Syllogismus steht. Die diesbezüglichen Vorbehalte lesen sich denn auch weitgehend als Reformulierung der bislang genannten, sie unterscheiden sich, auf den ersten Blick zumindest, nur graduell. 47 Erneut ist es die scholastische Logik bzw. die Syllogistik, die ins Kreuzverhör gerät, und wiederum sind es vornehmlich erkenntnistheoretische Gründe, die zu einer Akzentverschiebung von »alter« zu »neuer« Logik Anlaß geben.48 Als prominenter Mitinitiator der Debatte betont René Descartes nachhaltig die Nutzlosigkeit der Syllogistik sowohl für die Vermeidung von Irrtümern als auch für die Entdeckung neuer Wahrheiten. 49 Obgleich Descartes' Empfehlung, man könne die »alte« Logik rundum vergessen 50 , nicht unumstritten bleibt, fällt sein Verständnis von Logik als Erkenntnistheorie auf fruchtbaren Boden. Pierre Gassendis Unterscheidung zwischen dem Aufgabenbereich der traditionellen Schluß- und Beweislehre auf der einen, und der auf Sachverhalte gerichteten Logica nova auf der anderen Seite findet in Jacques Du Roures Gegenüberstellung von scholastischer und cartesianischer Logik die entsprechende Fortsetzung: Vom Studium der scholastischen Logik sei schon deshalb abzuraten, weil sie sich doch bloß mit Wortklaubereien befasse — da halte man sich lieber an die »neue«, die cartesianische Logik, »qui nous apprend à bien conduire nôtre raison, pour découvrir les veritez, que nous sçavons pas«. 51 Ahnlich urteilt John Locke, der wohl wirkungsmächtigste Syllogismus-Gegner: Wer sich lediglich damit abgebe, mit seinem bescheidenen Wissen Wortgefechte auszutragen, der verschwende seine Kräfte, der vergeude seine Zeit, im
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Auf den zweiten Blick aber wird deutlich, daß sich die besagten Vorbehalte zumindest teilweise auch g e g e n die von den Humanisten favorisierte Topik richten (dazu auch Kap. I. 3).
Zur damaligen Situation der Syllogistik vgl. u.a. Schepers 1959, 81, der in d i e s e m Zusammenhang zwischen »Puristen«, »Verächtern« und »Neuerern« unterscheidet; nützliche Differenzierungen der unterschiedlichen Einschätzung der Syllogistik (vor W o l f f ) finden sich bereits bei Walch 1721, 770, 7 7 3 und 777. 49 Descartes 1628, 4 0 6 , ähnlich auch Id. 1637, 19. 50 Ibid., 4 3 9 s o w i e 389, w o Descartes von »syllogistischen Fesseln« spricht, die er abgeworfen habe. 51 D u Roure 1654,1, 183 (Hervorhebung von mir); zur Charakterisierung der cartesianischen Logik vgl. ibid., 181f, zur Abwertung der scholastischen Logik vgl. ibid., 183 und 212.
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I. Alte und neue Logiken
schlimmsten Fall verliere er seinen Ruf. 52 Die scholastischen »Subtilitäten« logischer Analysen, so auch Christian Thomasius 53 , zielen ohnehin nur darauf ab, durch korrekte Formen über Irrtümer hinwegzutäuschen und aus Unsinn Tiefsinn, also vermeintliche Wahrheiten zu schöpfen — ein Urteil, dem noch Immanuel Kant 54 beipflichten wird, wenn er der »sophistischen Kunst« unterstellt, daß sie durch »falsche Spitzfindigkeit« der vier Figuren bloßen »Blendwerken den Anstrich neuer Wahrheiten« verleihe. Die durchwegs negative Einschätzung der scholastischen Logik findet sich selbst bei Verteidigern des Syllogismus. Bezeichnenderweise lastet Gottlieb Wilhelm Leibniz den mißlichen Ruf der Syllogistik der Disputationskunst an. In diesem Geschäft seien Syllogismen nachgerade mißbraucht worden, indem man die Argumentation dilettantisch auf omnis, atqui, ergo beschränkt habe; damit sei der Blick auf die formale Leistung des Syllogismus verstellt und die »Logick« gänzlich verwässert worden. 55 In der Nachfolge Leibniz' versucht auch Christian Wolff den Syllogismus zu rehabilitieren56 — wenn auch mit bescheidenem Erfolg: Nicht nur, was die Anhänger betrifft, die sich um eine Popularisierung seiner Werke bemüht und die Syllogistik auf entsprechend knappem Raum abgehandelt haben. 57 Auch die Kritiker führen die Diskussion auf die plaza major zurück: »[I]ndem man lediglich die Form abmißt«, reklamiert Johann Gottlieb Herder 58 , »verliert man zu sehr die Materie«; daher sei es auch kaum
52 Locke 1690, IV, 679, w o dem Syllogismus der »natürliche, unverbildete Verstand« (native rustick Reason) gegenübergestellt wird; für weitere Gründe gegen den Syllogismus vgl. ibid., 670ff. 53 Thomasius 1691b, 5. Hauptstück, §29f ( 2 7 9 0 ; zu Thomasius' Einschätzung des Syllogismus vgl. Kap. 1.4. 54 Kant 1781/87, Β 80. 55 Leibniz 1696, 520f. 56 Vgl. u.a. Wolff 1713, Cap. 4, §24 (175f). — Bekanntlich hat Wolff unter dem Einfluß von Descartes und Ehrenfried Waither von Tschirnhaus zunächst den Syllogismus mit dem Wahlspruch »Syllogismus non est medium inveniendi veritatem« abgelehnt (vgl. Id. 1718, 119 [dort auch Wolffs Gründe für eine Ablehnung der scholastischen Logik allgemein] sowie Id. 1841, 136). Unter dem Eindruck der Arbeiten von Leibniz bzw. vor dem Hintergrund der Kritik an Tschirnhaus sollte Wolff in der Folge aber zu jenen Autoren gehören, die im Syllogismus das geeignete Mittel zur Findung neuer Wahrheiten betrachteten (vgl. Id. 1841, 136). 57 Vgl. z.B. Formey 1741 ff, w o der Abschnitt über Syllogistik gerade mal fünf Seiten einnimmt. Ähnlich beschränkt sich Gottsched 1733/34,1, §88-91 in seinen Ausführungen zur Syllogistik auf die Erörterung der ersten Figur. 58 Herder 1781, 70f sowie Id. 1899, 157.
2. Für und wider den Syllogismus
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erstaunlich, daß man »über lauter Syllogismen in barbara und celarent die Sache selbst« vergessen habe. Die »Sache selbst«: in guter Tradition fordert Herder hier den Nachweis, die materiale Wahrheit habe gegenüber der formalen Vorrang. 59 Daß dieser Nachweis vor dem Hintergrund der so oder anders eingeschätzten Leistungsfähigkeit des Syllogismus erfolgt, dürfte mittlerweile klar sein. In der Nachfolge Descartes' und Leibniz' betonen Etienne de Condillac sowie Wolff gleichermaßen die »Sache« — mit dem Unterschied allerdings, daß der eine dabei gänzlich auf Syllogismen verzichtet, während der andere sie >erkenntnistheoretisch< aufzuwerten versucht. 60 Innerhalb dieses Spektrums ist nun auch Clauberg anzusiedeln. In Anlehnung an Francis Bacons Kritik an den idola bemüht er sich in erster Linie um eine Analyse der Erkenntnisvoraussetzungen, die auf Bereinigung sozial bzw. individuell bedingter Vorurteile abzielt und damit eine Grundlage schaffen soll, wie man zu materialer Erkenntnis gelangt.61 Wie Bacon und Descartes ist Clauberg ferner der Auffassung, daß die Logica in usu mit ihren favorisierten Bereichen der Schluß- und Beweislehre zur Findung oder Erweiterung von Erkenntnissen kaum beitragen könne. In diesem Sinne legt auch Clauberg den Akzent auf eine Erfindungslogik, die sich anderer Mittel zu bedienen hat, als sie die scholastische Logik anbietet. 62 Und dennoch läßt er die formalen Lehrstücke der scholastischen Logik nicht fallen; als Instrumentarium zur Darstellung bzw. Demonstration eigener sowie zur Ermittlung fremder Gedanken sind für ihn die traditionellen Mittel, wie z.B. Syllogismen, durchaus nützlich. Damit dürfte auch Clauberg den Aufgabenbereich der Logik in zwei Richtungen bestimmen. Es geht zum einen um die Prüfung der Erkenntnisvoraussetzungen, die als methodische Anweisung zu verstehen ist, wie man seinen Verstand richtig gebraucht; hier orientiert sich Clauberg an den erkenntnistheoretischen Ansätzen eines Bacon und Descartes, an der, wenn man so will, »neuen« Logik. Zum andern geht es aber auch um die Darstellung und Beurteilung von Gedanken; in diesem Fall kann sich Clauberg —zumindest was die Darstellungsformen betrifft— auf die »alte« Logik berufen. Dabei schränkt er den Anwendungsbereich der klassi59 Vgl. dazu Klassen 1974, 80f sowie Beetz 1980, 48. 60 Condillac 1780, LV sowie Wolff 1713, Cap. 4, §22 (173). 61 Vgl. Clauberg 1654, Prolegomena, §2 sowie die Bemerkungen zur Zielsetzung der Logica in Kap. I. 1, 12. Für die Orientierung Claubergs an Bacon vgl. die knappen Hinweise bei Risse 1970, 58. 62 Vgl. ibid., I, §1 und §66.
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I. Alte und neue Logiken
sehen Darstellungsformen keineswegs auf die Logica genetica ein, wie das vielleicht zu erwarten wäre. Als Instrument zur Ermittlung fremder Gedanken greift der Syllogismus auch in den Bereich der Logica analytica. In beiden Fällen, sowohl bei der Genese als auch der Analyse von Gedanken, handelt es sich demnach um Probleme der Darstellung und Beurteilung bereits gewonnener Erkenntnisse; um die Frage also, nach welchen Regeln und Gesichtspunkten Erkenntnisse vermittelt bzw. ermittelt werden.
3. Logik, Topik und
Rhetorik
Die Syllogismus-Kritik macht also zunächst einmal die veränderten Ansprüche an »neue« Logiken deutlich; diese sollen nicht bloß beurteilen, »was fürgestellet« ist, sondern auch erfinden, »was noch verborgen« liegt." Darüber hinaus zeigen die Vorbehalte gegenüber der scholastischen Logik aber auch, daß die Gliederung in Erfindungs- und Darstellungskunst noch wenig darüber aussagt, wie diese >Künste< im Detail beschaffen sind. So streiten Bacon und Descartes gleichermaßen dem Syllogismus Erkenntniskraft ab; und das, obwohl ihre Kritik auf unterschiedlichen Voraussetzungen baut und entsprechend auch ihre Anweisungen, wie der Verstand richtig zu gebrauchen sei, voneinander abweichen. Unterschiedliche Voraussetzungen finden sich aber auch dort, wo Ansätze zur ars inveniendi begutachtet werden. Hier gelangt ein Aspekt ins Blickfeld, den ich im letzten Kapitel außer acht ließ. Obgleich die Überlegungen zur Logik als Erkenntnistheorie weitgehend auf der humanistischen Kritik an der zu einem Regelkodex erstarrten scholastischen Logik beruhen, bleiben die Vorschläge der humanistischen Logiker zur Topik keineswegs ungeprüft. Geprüft werden diese Vorschläge etwa unter dem Aspekt des Nutzens der Topik. Dabei setzt Descartes nicht gerade sanft ein: Die Angelegenheit mit den loci topici diene lediglich dazu, eine Fülle von unsoliden Argumenten zur Behandlung unwahrscheinlicher Meinungen zu lancieren; man sei dadurch zwar imstande, über jede Sache ausgiebig zu schwatzen, was dem eigenen Hochmut diene, mit Wissenschaft aber nichts zu tun h a b e . 6 4
63 Vgl. Leibniz 1696,516. 64 So die briefliche Stellungnahme von Descartes 1619, 164f; vgl. dazu auch das Antwortschreiben von Beeckman 1619, bes. 168.
3. Logik, Topik und Rhetorik
23
Der Hinweis auf die Nutzlosigkeit der Topik für die philosophische Praxis führt nicht selten zu einer Diskussion über die methodische Relevanz. Antoine Arnauld und Pierre Nicole machen in diesem Zusammenhang geltend, daß der Nutzen der Topik davon abhänge, ob man von der zu verhandelnden Sache bereits Kenntnis habe.65 Dieser Vorwurf ist ernsthaft. Immerhin zielt er darauf ab, die Topik als Methode zur Entdeckung neuer Argumente zu diskreditieren. Denn sollte sie tatsächlich Sachwissen voraussetzen, dürfte nicht mehr davon die Rede sein, die Topik sei ein Instrument zur inventorischen Forschung; vielmehr —so wird man mit Bacon einwenden^— dient sie bloß als mnemotechnisches Hilfsmittel, das an bereits Bekanntes erinnert und einem ermöglicht, mit zahlreichen Argumenten über nahezu beliebige Sachverhalte zu verhandeln. Die Charakterisierung der Topik als mnemotechné bietet den Anknüpfungspunkt für eine Reihe von Autoren, die behaupten, daß der menschliche Verstand durch topische Suchmethoden verdorben werde. Verdorben werde der Verstand, weil er sich (i) an diese topoi oder loci gewöhne und darob das eigene Nachdenken vergesseó?; nicht minder verdorben werde er (ii) durch den ganzen unnützen »Überfluß«, den diese Suchmethoden erzeugen. Allein aus diesem Grund, so die Logique de Port-Royal, sei es ratsam, die Menschen von der Topik fernzuhalten und ihnen vielmehr beizubringen, »à se taire qu'à parler, c'est-à-dire, à supprimer & à retrancher les pensées basses, communes & fausses [...]«.68 Nun sind die Gründe für die Gefährdung des menschlichen Verstandes durch die Topik in wenigstens einer Hinsicht unklar. Denn während sich (i) unmißverständlich auf die schädliche Wirkung der loci im Sinne von Suchmethoden bezieht, spielt (ii) auf die mit Hilfe dieser loci aufgefundenen Argumente selbst an. Daß es sich hier nicht bloß um einen lapsus linguae handelt, sondern um eine in der Zeit weitverbreitete Konfusion, mag zwar tröstlich sein, die Angelegenheit aber nicht erleichtern. So wird in der Nachfolge von Descartes bzw. Arnauld und Nicole bis weit über die Jahrhundertwende hinaus zum Nachweis der Nutzlosigkeit der Topik immer wieder angeführt,
65 Vgl. Arnauld/Nicole 1662, 293f. 66 Vgl. Bacon 1620,1, 1 Iff sowie Id. 1623, V, 2f, der sich an dieser Stelle auf Aristoteles Top. 8, 14, 163b berufen dürfte. 67 Vgl. im Anschluß an Descartes auch die Aussage von Arnauld/Nicole 1662, 296: »L'esprit s'accoutume à cette facilité, & ne fait plus d'effort pour trouver les raisons propres, particulières, & naturelles, qui ne se découvrent que dans la considération attentive de son sujet.« 68 Ibid.
24
I. A l t e und n e u e L o g i k e n
daß die meisten der loci nicht wirklich stichhaltige Argumente seiend Die Gleichsetzung der loci mit den Argumenten dürfte —wenn auch auf schwer rekonstrierbaren Umwegen— auf die humanistische Rezeption antiker Denker, darunter insbesondere Cicero, zurückgehen.·™ Einen Anhaltspunkt bietet hier zunächst einmal der Umstand, daß im 16., 17. und noch frühen 18. Jahrhundert eine Reihe von Autoren sehr unterschiedlicher Provenienz die Dialektik bzw. Logik eng mit der Topik verknüpfend ι Mindestens zwei Aspekte sind dafür entscheidend. Erstens (a) die Charakterisierung der Dialektik bzw. Logik; sie beruht bei Cicero auf der Gliederung der Rhetorik in die Bereiche inventio, dispositio, elocutio, memoria und pronuntiatioJZ Während im traditionellen Verständnis der Stoiker die Dialektik lediglich die Aufgabe der begründeten Anordnung und Beurteilung von Beweisgründen übernimmt (dispositio), weitet Cicero ihren Kompetenzbereich auf die inventio aus und charakterisiert die Dialektik (darin von der peripatetischen Richtung abweichend) als »ars disserendi«; als solche hat sie nicht bloß Argumente zu beurteilen, sondern auch zu finden.73 Entsprechend stellt Cicero die Dialektik in den Dienst der Rhetorik. Denn sofern sich die ars disserendi mit dem Auffinden und Anordnen bzw. Beurteilen von Argumenten befaßt, deckt sie inhaltlich die beiden ersten Bereiche der Rhetorik ab (nämlich inventio und dispositio) und ist so gesehen »in der Rhetorik e n t h a l t e n . « 7 4 Einmal von Problemen abgesehen, die sich infolge dieser Zuordnung ergeben können, dürfte die
69 Vgl. stellvertretend Gottsched 1729, 21 f. 70 Ein Spektrum an Gründen für die Relevanz Ciceros sowie Quintilians im Humanismus entwirft Jardine 1974, 52ff, Ead. 1977, 149f sowie Ead. 1983, 253ff. Dabei versucht Jardine u.a. aufzuzeigen, daß die humanistische Orientierung an der Rhetorik des Cicero oder Quintilian als konsequente Auseinandersetzung mit scholastischen Überlegungen zur Topik zu verstehen sei (zur Schlüsselrolle von Boethius' De topicis differentiis vgl. Stump 1978, 205ff und 215ff). Im Urteil anderer Autoren ist der Einfluß Ciceros auf die humanistischen Logiker dagegen ein Indiz für die allmähliche Verwässerung der Logik im 16. und 17. Jahrhundert; vgl. Prantl 1855ff, I, 505f, der von einem »gänzliche[n] Rückfall zum Rhetorismus« spricht, ferner Kneale/Kneale 1962, 300f sowie Risse 1964, 14ff. 71 Für einen Überblick vgl. die Begriffsgeschichte der >Dialektik< von Tonelli 1962, bes. 122ff, und Oeing-Hanhoff 1972. 72 Vgl. dazu Cicero De inv., I, 7. 73 Vgl. Id. Top., II, 6, bes. die Kritik an den Stoikern, ferner Id. De orat., II, 38, 157 sowie dazu auch Quintilian Inst. orat. 12, 2, 13. 74 Vgl. Risse 1964, 16: »Die rhetorische Logik des 16. Jh. ist also gekennzeichnet durch ihre Eingliederung in die Rhetorik sowie durch den Vorrang der Topik bei Vernachlässigung der Analytik.« (Ich komme auf diesen Punkt gleich zurück.)
3. Logik, Topik und Rhetorik
25
Einteilung der Logik in einen inventiven und judikativen Teil für die Humanisten selbstverständlich gewesen sein — zumindest findet sie sich nicht bloß bei » C i c e r o n i a n e r n « . 7 5 Alles andere als selbstverständlich aber sollte die Frage der Vorrangstellung der beiden Teile sein. Agricola, Ramus und andere entscheiden mit Cicero gegen Autoren aristotelischer Herkunft: Das Auffinden von Argumenten ist (wie im letzten Kapitel angedeutet) gegenüber der Beurteilung vorgängig bzw. vorrangig, pointierter: Bevor man Argumente beurteilen kann, muß man überhaupt welche finden. Die Streitfrage über den Vorrang von inventio oder iudicium (bzw. dispositio) führt zweitens (b) auf die Charakterisierung der Topik. In der Topica spricht Cicero von einer Methode der Auffindung von Argumenten, der ars inveniendi, und in diesem Zusammenhang von entsprechenden »Suchformeln«, die der Auffindung von Argumenten dienen — loci, topoi oder zuweilen auch (wie im Orator) nota g e n a n n t . 7 6 Die Topik, verstanden als eine solche Methode, gibt dem Rhetor bzw. Autor ein Instrumentarium für die inventorische Forschung oder (wie es in der Nachfolge Ciceros auch heißt?7) »topische inventio« in die Hand. Nimmt man diese Charakterisierung ernst, so könnte man meinen, daß Cicero die Topik auf den Bereich der Invention eingrenzt. Obgleich diese Einschätzung der Sache nach falsch ist, sollte sie für die humanistischen Aristoteliker Anlaß zur Kritik sein. Denn die Eingrenzung der Topik auf die inventio —so ihr Gedanke— setzt diese der Analytik gegenüber, die sich vornehmlich mit dem Bereich des iudicium beschäftigt; eine Gegenüberstellung, die ihrerseits erneut auf die Frage führt, was nun eigentlich Vorrang gegenüber wem hat — Topik oder Analytik, inventio oder iudicium? Daß diese Streitfrage aber zu kurz greift, wußte bereits Agricola und auch Ramus. Ihre Präzisierung der Reichweite der Topik dürfte denn auch kaum überraschen — zumal wiederum mit Blick auf Cicero. Danach bezieht sich die Topik nicht allein auf den Bereich der inventio, sondern betrifft auch Fragen der Anordnung und Beurteilung aufgefundener Argumente. Tatsächlich macht Cicero selbst darauf aufmerksam (und diesen 75 Zumal Aristoteles Top., 8, 1, 155b selbst diese Einteilung vorgeschlagen hatte. 76 Vgl. Cicero Top., II, 8 (dazu auch Quintilian Inst. orat. 5, 10, 20) sowie Id. Orat., 14, 46. Einige Interpreten haben diese terminologische >Vielfalt< kritisiert; Prantl 1855ff, I, 512f spricht Klartext: »Ebenso ekelhaft als dieses Gewäsche ist die grenzenlose Unbestimmtheit in Übersetzung griechischer technischer Ausdrücke [...]. Cicero selbst weiss nicht, wie er topos übersetzen solle; er wählt bald locus bald sedes bald nota [...].« (Hervorhebungen im Text). 77 Dazu Beetz 1980, bes. 120ff.
26
I. Alte und neue Logiken
Punkt müssen die Aristoteliker irgendwie übersehen haben), daß der Rhetor oder Autor bereits in der Phase der inventio abzuwägen habe, welcher Art die gefundenen Beweisgründe seien — ob stark oder schwach, affektiv, mangelhaft oder wie auch immer. Dieses Abwägen nun steht in engem Zusammenhang mit der dispositio, mit jener Phase also, in der die einzelnen Beweisgründe nach bestimmten, vorgeschriebenen Regeln angeordnet werden.78 Daß sich Ciceros Idee einer die inventio und dispositio umfassenden Topik durchzusetzen wußte, zeigen u.a. jene Ansätze, die >ars disserendi< kurzerhand mit >Topik< gleichsetzen; deutlich wird der Stellenwert der Topik auch dort, wo die dispositio der inventio angegliedert und als »inventio secunda« bezeichnet wird — eine gegen Ende des 17. Jahrhunderts durchaus übliche Einschätzung.79 Ebenfalls nicht unüblich ist zu jener Zeit die Auffassung, daß topoi oder loci nebst inventiven und dispositionellen Aufgaben auch solche der sprachlichen Gestaltung, rhetorisch gesprochen: der elocutio übernehmen. Wenngleich es korrekt sein mag, daß nach antiker Vorstellung die mit Hilfe der loci gefundenen argumenta ihre Beweiskraft sowohl aus der vernünftigen Disposition als auch der adäquaten Ausdrucksweise erhalten80, dürfte der Einbezug der elocutio in die Topikdiskussion dennoch verwundern. Ich komme damit der Angelegenheit mit den loci endlich näher. Bislang war von >topoi< oder >loci< lediglich im Sinne von >Suchformeln< die Rede. Die elocutio aber befaßt sich nicht mit formalen Auffindungsbzw. Anordnungsverfahren von Argumenten, sondern mit den Argumenten selbst. Konsequenterweise müßte jetzt von >loci< in einem umfassenderen Sinne gesprochen werden — als methodische Suchformeln ebenso wie als vorgefertigte Formulierungen im Sinne von Gemeinplätzen. Nun bietet eine solche Charakterisierung der loci aber terminologische Probleme. Obgleich in der Tradition die Suchformeln als >loci topici< bezeichnet werden, die besagten Gemeinplätze dagegen als >loci communesloci< und meint damit einmal (wie in seiner Topica) die Suchformeln, ein andermal aber (wie in De inventione) die Argumente selbst.»' Ungenauigkeiten in der Verwendungsweise der
78 Vgl. Cicero De orat., II, 314. 79 Vgl. u.a. Weise 1696, 507 sowie Id. 1706, 665ff; weitere Hinweise bei Beetz 1980, 121 f. 80 Zu dieser »rhetorischen Regel« der gegenseitigen Verknüpfung von inventio, dispositio und elocutio (u.a. bei Cicero De orat., II, 307 belegt) vgl. Lausberg 1960, §§443-452 sowie Id. 1963, §§39-45. 81 Cicero Top., II, 8 und Id. De inv., II, 48-50.
3. Logik, Topik und Rhetorik
27
Ausdrücke bleiben entsprechend nicht aus: Im Fahrwasser Ciceros werden sowohl die loci
communes
zuweilen als Suchtopoi bezeichnete als auch
umgekehrt — w a s üblicher ist— die loci topici als vorfabrizierte Gemeinplätze^ Daß dieses >Mißverständnis< mehr sein kann als bloß ein terminologisches, ist nicht von vornherein auszuschließen. Insbesondere dann nicht, wenn der Nutzen der loci topici
zugleich den Kompetenzbereich der T o -
pik markiert und damit, wenigstens indirekt, jenen der topischen Invention. Der Auffassung von loci topici als Suchmethoden und Gemeinplätzen z u f o l g e wird ihr W e r t gegen Ende des 17. Jahrhunderts entsprechend hoch veranschlagt: Was nutzen uns aber diese Loci Topici? Mehr / als man meynen solte: Denn sie dienen uns in der Invention eines Thematis, in der Partition, in der Disposition, in der Probation, in der Amplifikation / und in der Variation.84 Berücksichtigt man ferner, daß sich — g u t ciceronianisch gedacht— die Invention selbstredend auf die Topik stützt, so bleibt der folgenden Antwort auf die Frage, was genau in den Aufgabenbereich der inventio
fällt,
eigentlich nichts beizufügen: Was gehört zu solcher Invention? Resp. Sonderlich dreyerlei; als: (1) daß man die Materien eines Gedichtes sinnlich erdencke / oder suche / und erfinde. (2) daß man die erfundenen Materien artig und fein elaborire, und componire. (3) Das man in der Elaboration und Composition ein Gedichte Rhetoricè (mit Tropis und Figuris) ausziehe.85 Die Phase der Invention bestimmt demnach den gesamten Produktionsprozeß, von der Auffindung über die Disposition bis hin zur sprachlichen Gestaltung der Argumente. Einmal von der Frage abgesehen, ob es sinnvoll ist, >Invention< (aber auch >Topikoratorischer Schluß< in der damaligen Diskussion vgl. die Hinweise bei Beetz 1980, 179. 106 Vgl. z.B. Weinrich 1721, 66. '07 Auf Abweichungen inhaltlicher Art werde ich im folgenden nur en passant eingehen. 108 Wolff 1713, Cap. 4, §17. 109 Vgl. dazu die zahlreichen Hinweise bei Klassen 1974, 82ff.
68
II. Logische Rhetorik
überrascht es nicht, daß in Rhetorik-Lehrbüchern der Akzent auf die Beweisführung gelegt und deren Relevanz im Ton zeitgenössischer Logiken begründet wird: (i) Will der Autor es vermeiden, »nicht nur eine Brühe aus vielen Worten, ohne Saft und Kraft« zu servieren —so Gottsched—, dann hat er nach den Regeln logischer Beweisführung zu argumentieren und seinen Text demgemäß zu disponieren10 Es fällt auf, daß dieser Begründung eine Forderung zugrundeliegt. Denn genaugenommen meint Gottsched, daß der Autor unter bestimmten Voraussetzungen seine Texte in der und der Weise disponieren muß.111 Dieser Punkt ist wichtig, weil (i) so in Konkurrenz zu einer anderen Forderung tritt, die die Art und Weise der Disposition betrifft und besagt, (ii) der Autor habe die »Form« des Schlusses »so viel als möglich« zu »verstecken«. 112 Auch hier interessiert die Begründung: Lege man die »Logikalische Form« bzw. das »Skelett« der Beweisführung offen dar, so laufe man entweder Gefahr, den Zuhörer oder Leser zu überfordern (hier beruft man sich nicht selten auf das altehrwürdige Wort des Paulus, man solle, wo immer es sich vermeiden lasse, dem Zuhörer keine »starke Speise« vorsetzen 113 ); oder aber man gehe das Risiko ein, den Zuhörer oder Leser zu unterschätzen, ihm gewissermaßen nur »Milch« zu servieren, wo eigentlich »starke Speise« gefragt sei.114 Beide Forderungen weisen Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede auf. Eine Gemeinsamkeit besteht darin, daß sowohl (i) als auch (ii) an den Autor gerichtet sind. Der entscheidende Unterschied liegt in den Akzenten: In (i) wird betont, daß der Autor seinen Text den Regeln logischer Beweisführung gemäß zu disponieren habe; man könnte in diesem Fall also von einer >logischen< Forderung sprechen. Dagegen liegt in (ii) das Gewicht auf dem Umstand, daß, wo immer logische Beweisführungen verwendet werden, diese vor dem Adressaten zu »verstecken« seien; hier handelt es sich entsprechend um eine >rhetorischeschwer< zu rekonstruieren ist. Analog zur Reglementierung rhetorischer Argumente zeigt sich auch hier, daß die Empfehlung der Rückführung umgekehrt die Verwendung >schwieriger< Schlußformen legitimiert. Diese Legimitation lenkt auf die Frage nach der Funktion der in Rede stehenden Empfehlung. Als Anknüpfungspunkt für die Beantwortung dieser Frage mag ein Hinweis in der Logique de Port-Royal dienen. Im Abschnitt »Des syllogismes composés« legen Arnauld und Nicole dem Leser nahe, man solle Sorites wenn immer möglich auf vollständige Schlußketten zurückführen, damit logische Irrtümer vermieden würden; die Erfahrung zeige nämlich, daß der menschliche Geist mit der Verknüpfung mehrerer Schlüsse nicht umzugehen wisse, da er Mühe habe, die Abfolge fehlerfrei zu bilden bzw. zu erfassen. 125 Die Begründung der beiden Autoren macht zweierlei deutlich. Zum einen rechnen sie offenbar damit, daß die Rückführung auf das logische »Skelett« es ermöglicht, die Argumentation eines Textes zu ermitteln und damit auch zu überprüfen, ob sie korrekt verläuft. In diesem Sinne räu-
124 Vgl. z.B. Meier 1748ff, III, §644f ( 2 1 9 0 sowie Reimarus 1756,1 Th, 4. Cap., §155 (243), w o zugleich der »Nutzen« einer solchen Zurückführung diskutiert wird (dazu auch weiter unten). 125 Arnauld/Nicole 1662,235.
4. Überzeugung und Wirkung
73
men Amauld und Nicole der Normalform eine Kontrollfunktion ein. 1 2 6 Zum andern gehen sie aber noch einen Schritt weiter, wenn sie die Überprüfung der Beweisführung als eine Art Dienstleistung auffassen, die der Benutzer von Sorites (oder auch Enthymemen) in Anspruch nehmen kann, wenn er mit Problemen der Konstruktion bzw. Rekonstruktion solcher Schlußformen konfrontiert ist und im Umgang mit diesen also Mühe bekundet. Es dürfte nur naheliegen zu behaupten, daß der Umgang um so vertrauter ist, je einfacher die betreffende Schlußform hinsichtlich ihrer logischen Gestalt aufgebaut ist. Die Verbindung von >Umgang< und >Aufbau< (der Schlußform) eröffnet denn auch eine interessante Perspektive auf die Charakterisierung des Enthymems als »leichter Schluß«. Denn die Rede vom Umgang legt den Gedanken nahe, daß bestimmte Schlußformen mit Blick auf ihre Handhabung »leicht« seien. Demgemäß wäre das Attribut >leicht< nun eher mit >vertraut< in Verbindung zu bringen und das Enthymem entsprechend als »häufig benutzte Schlußform« zu umschreiben, die infolge der Vertrautheit »leicht« handzuhaben ist. Daß diese Sichtweise keinesfalls abwegig ist, zeigt die um 1700 gängige Auffassung, wonach sich der Mensch an den Umgang mit Enthymemen gewöhnt habe, weil in der alltäglichen Rede größtenteils enthymematisch geschlossen werde 1 2 7 — eine Begründung, die Realis de Vienna alias Gabriel Wagner immerhin zur Behauptung hinreißt, der Mensch denke von Natur aus in Enthymemen. 128 Ungeachtet dessen, wie waghalsig diese Behauptung auch sein mag, macht sie deutlich, daß die Zeitgenossen annehmen, der Umgang mit Enthymemen sei vertraut, und damit, daß sich in bestimmten Fällen eine formale Rekonstruktion nicht aufdränge oder gar gänzlich erübrige — eben im Sinne von: Weil Enthymeme vertraut sind, sind sie leicht. Damit wäre zugleich auch die Frage beantwortet, in welchen Fällen sich eine Rückführung der Argumentation auf das logische Skelett erübrigt; sie erübrigt sich, wenn Schlußformen verwendet werden, die hinsichtlich ihrer logischen Gestalt »leicht« zu erfassen sind. Unter der Annahme, daß sich »leicht« gebaute Schlußformen zudem einfacher handhaben lassen, wird die Empfehlung der Rückführung also nichtig, wenn der Umgang mit den entsprechenden Schlußformen »vertraut« ist.
126 Ibid., 340; vgl. auch Wolff 1713, Cap. 4, §26 sowie Müller 1748, 236. 1 2 7 Diese Auffassung wird noch in modernen Logiklehrbüchern vertreten; vgl. dazu etwa Quine 1950, 199: »In everday discourse most logical inference is enthymematic.« 128 Vienna 1691, I OOf.
74
II. Logische Rhetorik
Diese Antwort ist allerdings zu simpel. Denn offensichtlich hängt der Grad der Vertrautheit im Umgang mit Beweisführungen nicht allein von der Komplexität der logischen Gestalt von Schlußformen ab. Das sollten ja die oben angeführten Ausnahmen zeigen. Danach kann es durchaus Formen geben, die zwar komplex gebaut sind, jedoch keine eingehende Überprüfung verlangen (und umgekehrt, daß es Schlußformen gibt, die ihrer Gestalt nach einfach sind und dennoch einer Rekonstruktion bedürfen); ebenso scheint es mitunter gerechtfertigt, schwierige Schlußformen zu verwenden, ohne der Empfehlung einer Rückführung Folge zu leisten (und umgekehrt mag es zuweilen legitim sein, bei Verwendung einfacher Schlüsse eine diesbezügliche Überprüfung zu fordern). Sämtliche dieser Fälle sprechen unmißverständlich gegen eine Eingrenzung der Empfehlung auf »leichte« Schlüsse und somit gegen die Auffassung, die Notwendigkeit einer Rekonstruktion sei einzig von der Komplexität bzw. Einfachheit der in Beweisführungen verwendeten Schlußformen abhängig. Nun ist diese Einsicht aber wenig ergiebig, solange offenbleibt, welche anderen Faktoren bei der Frage, ob das logische Skelett zu ermitteln sei oder nicht, ausschlaggebend sind. Die Antwort der Autoren ist naheliegend, wenn auch nicht unproblematisch: Ob Beweisführungen im erforderlichen Maße abzustützen seien, hänge vom jeweiligen Benutzer ab. 129 Problematisch ist diese Auffassung, weil sie die bisherigen Überlegungen erheblich modifiziert. Sofern dem Benutzer selbst anheimgestellt ist, ob er seine Beweisführung logisch fundieren will oder nicht, wird die Geltung der Empfehlung einer Rückführung nämlich auf den individuellen Umgang des Benutzers mit Schlußformen relativiert. Da dürfte es nur wenig helfen, diesen Umgang mit Hilfe der beiden Komponenten > Kenntnis < und >Erfahrung< abzustützen. Die Schwierigkeit bleibt bestehen. Der Grad der (wissenschaftlichen) Kenntnis bezüglich des Aufbaus förmlicher Schlüsse kann von Benutzer zu Benutzer variieren, und mehr noch die (lebensweltliche) Erfahrung im Umgang mit diesen. Kritiker der >relativistischen< Position haben diesen Punkt gesehen. Im Gegenzug formulieren sie zunächst ihren Vorbehalt: Wenn eingeräumt wird, daß der Autor hinsichtlich der Verwendung bestimmter Schlußformen kenntnis- und erfahrungsreicher sein kann als der Leser, so wird prinzipiell in Kauf genommen, daß er diese Kenntnis bzw. Erfahrung da-
l2y
V g l . zu dieser Position die kritischen Bemerkungen von Gottsched 1736, 2 3 3 , der in d i e s e m Zusammenhang treffend von »Willkühr« spricht.
4. Überzeugung und Wirkung
75
zu mißbraucht, den Leser zu täuschen. 130 In einem weiteren Schritt werden Alternativen skizziert, wie das etwaige Gefälle zwischen Autor und Leser zu vermeiden sei. Der Vorschlag von Gottsched beispielsweise umfaßt zwei Aspekte. Erstens habe die Empfehlung, man möge die von der logischen Normalform abweichenden Schlüsse auf förmliche zurückführen, in jedem Fall zu gelten. Entsprechend traktiert Gottsched die Empfehlung der Rückführung als Forderung im Sinne der Reglementierung, wie ich sie im letzten Kapitel eingeführt habe: Von der Normalform abweichende Schlüsse dürfen nur dann benutzt werden, wenn sie zuvor an förmlichen Schlüssen geprüft wurden. 131 Der zweite Aspekt ergänzt den vorangegangenen in entscheidender Hinsicht: Die besagte Empfehlung habe prinzipiell für alle zu gelten, die abweichende Schlußformen benutzen. Nun ist diese Formulierung allerdings vage. Anhaltspunkte für eine erste Präzisierung liefert Gottsched selbst: Mit >alle< sind »Anfänger« gemeint, die sich immer und immer wieder an »Schlußreden« zu schulen haben, und zwar solange, »bis [sie] eine solche Fertigkeit im gründlichen Denken erlernet haben, daß [sie] solcher Prüfung weiter nicht« bedürfen. 132 Die zweite Präzisierung ist für diesen Zusammenhang die zentrale. Gottsched faßt unter >Anfänger< nicht bloß den (angehenden) Autor, sondern auch den (noch ungeübten) Leser — das wird unter anderm an seiner Auffassung deutlich, daß die didaktische Schulung an »Schlußreden« sowohl der Ausbildung der eigenen eloquentia als auch dem Verständnis fremder Texte dienen solle. 133 Vor diesem Hintergrund dürfte deutlich werden, in welcher Hinsicht Gottscheds Vorschlag die Mängel der relativistischen Position aufzufangen
130
131
So meint Gottsched 1736, 161, daß »die Sophisten unserer Zeiten« uns ob ihrer falschen Gelehrsamkeit »einbilden wollen, sie bewiesen etwas, da doch ihr Geschwätze gar keinen Vernunftschluß in sich hält«. Gottsched 1736, 162 spricht hier von einer »allgemeinen Regel«, die anzuwenden sei, damit »dieses Geplauder nichts bedeutender Worte« vermieden werde: »Man prüfe einen jeden Grund, den man von einem Satze angiebt, nach den Regeln der Vernunftlehre; und sehe, ob er auch eine richtige Folge in einer Schlußrede behaupten kann?« — Die (nicht bloß assoziative) Verknüpfung von rhetorischer und sophistischer Beweisführung ist freilich älteren Datums.
132
Ibid. — Daß die Wendung »solange, bis« die obige Deutung, wonach die Überprüfung in »jedem« Fall erfolgen solle, nicht eingrenzt, macht Gottsched verschiedentlich deutlich; so etwa, wenn er zu bedenken gibt, daß nicht bloß Anfänger, sondern auch Profis »beständiger Uebung« bedürfen (vgl. z.B. ibid., 105).
133
Vgl. dazu auch die Überlegungen zu Melanchthons Zielsetzung der Rhetorik in Kap. II. 1, 42f.
76
II. Logische Rhetorik
mag. Entscheidend ist zunächst der Gedanke, daß Autor und Leser aufgrund der didaktischen Schulung über (annähernd) dieselbe Kenntnis und Erfahrung im Umgang mit »Schlußreden« verfügen. Diese gemeinsame Basis erlaubt es, Beweisführungen korrekt zu konstruieren (so auf Seiten des Autors) bzw. zu rekonstruieren (auf Seiten des Lesers) und Argumentationen, in denen Irrtümer vorliegen, überhaupt als fehlerhafte zu erkennen. 134 Ferner ist wichtig, daß ein etwaiges Gefälle zwischen Autor und Leser allein durch Reglementierung der Textgenese bzw. -analyse vermieden wird. So steht auf seiten des Textproduzenten die Forderung, er möge —etwa mit Blick auf die Ausbildung der eigenen eloquentia— seine Argumentation auf der Grundlage der logischen Beweisführung erstellen; und umgekehrt sieht sich der Textrezipient mit der Forderung konfrontiert, er solle —etwa zum Zwecke des Verständnisses— die Beweisführungen sorgsam auf die logische Struktur hin überprüfen.
134 Zu diesen Fällen vgl. Gottsched 1733/34,1, 184 (§163), mit der »Regel«: »Wer sich also vor allen Irrthümern hüten will, der stelle sich alle seine Beweise in förmlichen Schlußreden vor.« (ibid., §164).
III. Aspekte des Verstehens 1. Analyse
als
Propädeutik
Deutlicher als Gottsched betont Melanchthon im Rahmen seiner imitai/o-Theorie, die Rhetorik müsse sowohl zur Ausbildung der eigenen eloquentia als auch zum Verständnis fremder Texte anleiten. Daß in beiden Fällen die Forderung nach reglementierter Textgenese eine entscheidende Rolle spielt, ergibt sich aus der Einschätzung der exempla: Weil exempla in vorbildlicher Weise die Phasen der inventio, dispositio und elocutio durchlaufen und entsprechend bei der Erfindung, Anordnung und sprachlichen Gestaltung der Gedanken bestimmte Regeln befolgen, sind sie für den angehenden Redner verbindlichDiese Begründung weist eine Reihe von Besonderheiten auf, von denen einige bereits zur Sprache kamen. Zunächst ist der Ausdruck >Verbindlichkeit< zu präzisieren. Im Verständnis von Melanchthon und auch Ramus bieten die exempla Richtlinien für die eigene Textproduktion, mithin für das genetische Verfahren der Imitation. In diesem Sinne soll der angehende Redner oder Autor in seinem Text das Verlaufsschema der Vorlage bewahren und die für die einzelnen Phasen maßgeblichen Regeln anwenden — und zwar so, wie das im vorbildlichen Text exerziert wurde. Beschränkt man sich auf das Verlaufsschema 2 , so muß einer solchen Konzeption zufolge die Genese der Imitation (I) exakt dieselben Phasen in derselben Reihenfolge durchlaufen, wie das in der Vorlage (V) bzw. in dem als vorbildlich erklärten Text der Fall ist: (1) V: inventio —> dispositio —» elocutio (2) I : inventio —> dispositio —» elocutio
1 2
Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. II. 1, 40f. Die Eingrenzung auf das Verlaufsschema dient an dieser Stelle bloß der Veranschaulichung; die in den einzelnen Produktionsphasen verbindlichen Regeln werden im folgenden anhand von Beispielen dargestellt.
78
III. Aspekte des Verstehens
Diese Beobachtung ist trivial, solange außer acht bleibt, daß es für / einiger Kenntnis bezüglich V bedarf. Die entsprechende Kenntnis resultiert aus einer Analyse (A) von V, wobei gilt, daß die Genese in V regelgeleitet verläuft. Nur unter dieser Bedingung erfolgt A selbst regelgeleitet3: (3)
A : elocutio
dispositio —» inventio
Die Forderung nun, daß A regelgeleitet erfolgen soll, ergibt sich ihrerseits aus dem Umstand, daß A sowohl in chronologischer als auch in systematischer Hinsicht die Grundlage für I bildet4, und I wiederum nach Maßgabe von V einzurichten ist: (4) V: inventio
dispositio -» elocutio
i n v e n t i o Wollen< aus der Sichtweise des Autors; Pa)· So gesehen wäre die Tatsache, daß der Interpret den Autor verstehen soll, schlicht und einfach darauf zurückzuführen, daß der Autor es so will. Die beiden Perspektiven sind insofern unvereinbar, als erstens mit >Wollen< jeweils nicht dasselbe gemeint ist; in P¡ ist vom Wollen des Interpreten die Rede (W¡), in Pa dagegen vom Wollen des Autors (WA). Zweitens liegen die Akzente anders; während in P¡ das Gewicht auf W¡ liegt, wird in Ρa das >Müssen< bzw. >Sollen< des Interpreten (S/) betont. Will man dennoch versuchen, die beiden Perspektiven miteinander zu versöhnen, so bieten sich grundsätzlich zwei Strategien an. Die eine (sie ist bei Clauberg angelegt) besteht darin, W¡ normativ zu deuten und gewissermaßen in ein Sollen umzumünzen. Allerdings stellt dieser Versuch keinen ernsthaften Schritt in Richtung einer Versöhnung dar. Denn selbst unter der Annahme, daß der Interpret —will er vom Autor lernen— diesen verstehen muß bzw. soll, handelt es sich hier um ein Sollen, das aus der Perspektive des Interpreten formuliert wird und also klar zu unterscheiden ist vom Sollen, das der Autor fordert. Der analoge Versuch, Wa im Rahmen von Ρa als >Müssen< bzw. >Sollen< (SA) ZU interpretieren, ist vielversprechender. Die vorangegangenen sprachphilosophischen Überlegungen haben nämlich gezeigt, daß die Erkenntnisvermittlung selbst (minimalen) Restriktionen unterliegt. Eine solche besteht trivialerweise darin, daß der Autor mit Worten überhaupt Gedanken verknüpfen muß, ferner, daß er mit den von ihm benutzen Wörtern seine Gedanken zu verbinden hat. Dabei ist zum einen wichtig, daß es
2. Sprache und Erkenntnis
99
sich bei diesen Restriktionen um Bedingungen handelt, die erfüllt sein müssen, wenn der Autor »verstanden seyn will«. Hier bietet sich entsprechend folgende Reformulierung an: (1)
Will A verstanden sein (WA), dann muß A mit Wörtern genau jene Gedanken verknüpfen, die er sprachlich zu artikulieren beabsichtigt (SA).
Zum andern gilt es zu berücksichtigen, daß die Wendung verstanden sein wollen< nichts anderes besagt als >wollen, daß der andere eben das bei den Worten gedenken soll, was der Autor gedacht hatSollens-Analyse< in den Kontext der vorangegangenen Überlegungen zu stellen. Zunächst einmal sagt diese Analyse etwas über das Vermitteln aus: Der Autor muß, will er seine Gedanken vermitteln, bestimmte Bedingungen erfüllen. Zweitens erlaubt sie Aussagen über das Ermitteln bzw. Verstehen: Verstehen als Erkenntnis der Gedanken des Autors ist ebenfalls nur vor dem Hintergrund bestimmter Bedingungen möglich, die der Autor zu erfüllen hat. Entsprechend ist die >Sollens-Analyse< auch für das Verhältnis von Erkenntnisvermittlung und Erkenntnisermittlung aufschlußreich: Die Bedingungen, die für das Verstehen gelten, können vom Interpreten nur dann erfüllt werden, wenn der Autor seinerseits den an ihn gerichteten Anforderungen Folge geleistet hat, oder mit Reimarus: »Soll sich nun ein anderer eben dasselbe klar und deutlich vorstellen, was er [i.e. der Autor] gedacht hat: so ist die erste Pflicht eines Verfassers, daß er selbst klar und deutlich denke.« 72
71 Wolff 1713, 12. Cap., §1. 72 Reimarus 1766, II Th, 1. Cap., §253 (268).
100
III. Aspekte des Verstehens 3. Verstehen und
Auslegen
Gemäß den Schlußbemerkungen des vorangegangenen Kapitels sind die Anforderungen, die an die Erkenntnisvermittlung gestellt werden, für das Ermitteln bzw. Verstehen dessen, was vermittelt wird, in zweierlei Hinsicht konstitutiv. Erstens ist Verstehen durch den Interpreten offenbar nur möglich, wenn der Autor seinerseits bestimmte Bedingungen erfüllt hat. Und zweitens erfolgt die Erkenntnisermittlung —um es vorsichtig auszudrücken— unter dem Gesichtspunkt genau jener Anforderungen, denen der Autor in der Phase der Erkenntnisvermittlung Genüge tut. Der erste Punkt ist insofern bemerkenswert, als offenbar ausgeschlossen wird, daß Verstehen »aus den Worten« bedingungslos möglich ist. Diese skeptische Sichtweise ergibt sich aus (i), daß der Autor seine Gedanken prinzipiell so oder anders artikulieren kann — eine Annahme, die ihrerseits durch die Zurückweisung von (ii) begründet wird, Gedanke und Wort seien notwendigerweise so und nicht anders verknüpft. Im Spektrum dieser beiden Annahmen, (i) und (ii), ist nun auch die im letzten Kapitel diskutierte Anforderung an den Autor anzusiedeln: Will dieser verstanden werden, darf er seine Gedanken nicht in beliebiger Weise mit Worten verknüpfen, sondern muß trivialerweise so reden, daß er verstanden werden kann. Im Sinne der vorangegangenen Überlegungen wird hier also ein Zusammenhang hergestellt zwischen —so könnte man sagen— grundlegendem Zweck ^verstanden werden wollenübereinkommenGewohnheitbekanntgewohnt< und >verständlichFälle< der Erkenntnisvermittlung wesentlich differenzierter ausfallen müssen. 82 Insbesondere ist fraglich, ob der Autor tatsächlich Texte generieren kann, die ausschließlich aus Wörtern bestehen, deren Bedeutung klar festgelegt ist. Statt dessen dürfte es die Regel sein, daß zumindest Teile des Textes im eben erörterten Sinne unterminiert sind. Dieser Befund hat weitreichende Konsequenzen — nicht bloß für den Autor, sondern auch (wie ich später zeigen werde) für den, der die Gedanken des Autors zu ermitteln hat. 83 Zunächst aber der Reihe nach. Dem Autor geht es darum, »verstanden zu seyn.« Um der Unterminiertheit des Sprachgebrauchs entgegenzuwirken, stehen ihm wenigstens drei Möglichkeiten offen 84 : Erstens wählt er unter den (z.B. innerhalb eines Sprachgebrauchs kursierenden) Bedeutungen ein und desselben Wortes die »allergewohnlichste«, »bekannteste«, mithin »verständlichste« aus, das ist: »welche von den meisten in den meisten Fällen mit dem Worte verknüpft wird«. Die zweite Möglichkeit be79 Ibid., §508 (678). 80 Reimarus 1766, II Th, 1. Cap., §254 (269/70). 81 So Meiers Explikation von >zweideutig< in Id. 1752a, §508; vgl. dazu auch Chladenius 1742, §106 (57): »Wenn wir mit einem Worte bald diesen, bald jenen Begriff verkniipffen, so heist das Wort zweydeutig.«
(Hervorhebung im Text).
82 U m s o mehr, als die obige Auflistung möglicher Ursachen der Unterminiertheit unvollständig ist. 83 Dazu die Ausführungen in Kap. III. 4 und insbesondere in Kap. IV. 1. 84 Für das folgende vgl. Meier 1752a, §506.
3. Verstehen und Auslegen
103
steht darin, die Bedeutungswahl auf den von ihm anvisierten Adressatenkreis abzustimmen und sich entsprechend für die einer bestimmten Leserschaft vertrauteste Bedeutung zu entscheiden. Die dritte Möglichkeit weicht von den beiden erstgenannten insofern ab, als hier strenggenommen keine Bedeutungswahl vorliegt. Vielmehr sind Fälle angesprochen, in denen der Autor mit einem Ausdruck »eine neue oder die ungewöhnlichere Bedeutung« verknüpft; hier geht es darum, eine »logische Erklärung« des verwendeten Wortes zu geben, um so »jedermann bekandt« zu machen, »in welcher Bedeutung man das Wort nehme«.85 Sämtliche dieser Möglichkeiten sind darauf angelegt, problematische Fälle durch Anpassung an bestehende oder durch explizite Setzung >neuer< Sprachkonventionen als unproblematisch auszuweisen, um so die Basis jener Redeteile zu erweitern, die dem Sprachgebrauch gemäß sind. In diesem Sinne fungieren die begründete Bedeutungswahl ebenso wie die Erklärung von Wortbedeutungen als Richtlinien oder —wie man mit Meier sagen könnte— als »Regeln«, die dem Autor zur Realisierung seines Ziels dienen, verstanden zu werden.86 Die Rede von »Regeln« hat in diesem Zusammenhang zwei Vorzüge. 87 Erstens wird deutlich, daß diese Regeln (in welcher Weise auch immer) zur Anwendung gelangen; und zweitens, daß die Anwendung mit Blick auf einen bestimmten Zweck (i.e. verstanden zu werden) erfolgt. Der zweite Punkt ist vor dem Hintergrund der >SollensAnalyse< im vorangegangenen Kapitel wichtig. Denn mit der Setzung des Zwecks, verstanden zu werden, ist untrennbar die Forderung an den Autor verknüpft, den Sprachgebrauch zu berücksichtigen — der Autor muß, will er verstanden sein, die Konventionen des Sprachgebrauchs befolgen. Darüber hinaus hängt —sozusagen in umgekehrter Reihenfolge— von der Erfüllung der Autorenforderung ab, inwieweit der Interpret sein Ziel, den Autor zu verstehen, zu realisieren vermag. Bezogen auf den Sprachgebrauch wird diese Abhängigkeit dort signifikant, wo aus der Forderung, Bedeutungen seien ex communi instituto festzulegen, die Vorschrift »folget«, Bedeutungen müßten ex usu hominem erschlossen werden, mit andern Worten: wo die Forderung an den Interpreten, er solle bei der Erkenntnisermittlung die geltenden Sprachkonventionen berücksichtigen, damit begründet wird, daß der Autor seinerseits bei der Erkenntnisvermittlung ebendiese Konventionen beachtet habe: 85 Dazu auch Chladenius 1742, §92 und Reimarus 1766, II Th, 1. Cap., §253 (269). 86 Vgl. dazu Meier 1752a, §506. 87 Für eine Unterscheidung zwischen >Regel< und >Konvention< vgl. weiter unten.
III. Aspekte des Verstehens
104
Wie nun dieses Pflichten eines Schriftverfassers sind [i.e. Beachtung des Sprachgebrauchs], der da will auf eine bestimmte Weise verstanden seyn: so folget auch, daß ein solcher von jedem, der eine gemeine Sprach= und Sachkunde mitbringt, könne verstanden, und nach dieser Regel müsse erkläret werden. 88 Unter der Voraussetzung, daß der Interpret derselben (oder einer verwandten) Sprachgemeinschaft angehört wie der Autor, dürften sich gemäß Reimarus also keine Verstehensprobleme ergeben. Denn als Mitglied einer Sprachgemeinschaft zeichnet sich der Interpret gerade dadurch aus, daß er mit den entsprechenden Regeln des Sprachgebrauchs vertraut ist, mit ihnen umzugehen weiß und entsprechend in der Lage ist, sie wenigstens implizit anzuwenden. Unter diesen Umständen muß der Interpret den Autor verstehen, er kann so gesehen nicht anders. 89 Diese Deutung der Äußerung Reimarus' legt nahe, daß Regeln dann implizit angewendet werden, wenn das Erkennen der Gedanken des Autors »durch» die Wörter unproblematisch ist — offenbar reicht zum Verstehen die »Gewohnheit und Art zu reden, welche iedem, der der Sprache mächtig ist, beywohnet« aus. 90 Umgekehrt legt die obige Deutung auch nahe, daß Regeln dann explizit zur Anwendung gelangen, wenn Verstehen entsprechend problematisch wird und die Bedeutung sprachlicher Zeichen non statim occurat. Daß die hier vorgeschlagene Unterscheidung zwischen impliziter und expliziter Anwendung und —analog dazu— jene zwischen unproblematischem und problematischem Verstehen in der Zeit von Belang ist, läßt sich in verschiedener Hinsicht zeigen. Eine Möglichkeit führt über die Bestimmung der »Dunkelheiten«. In der Regel bezieht sich dieser Ausdruck auf Texte, Stellen oder auf einzelne Wörter, deren Bedeutung dem Interpreten —wie schon vorweggenommen— zufällig nicht sofort einleuchtet (si forte non statim occuratJ91, in diesem Sinne also »dunckel« ist 92 und nicht, wie zu wünschen wäre, »klar und deutlich«. 93 Dabei ist wichtig zu sehen, daß die Formel >klar und deutlich< zwei Facetten des
88 Reimarus 1766, II Th, 1. Cap., §253 (269); vgl. bereits Chladenius 1742, §118f. 89 Oder wie Chladenius 1742, §741 (587) sich neutraler ausdrückt: »Personen, die sich an einerley Zeichen gewöhnet haben, gedencken auch einerley bei denen Zeichen.« 90 Vgl. ibid., §747 (593). 91 Dazu Clauberg 1654, Prolegomena, §103; dazu auch die Überlegungen von Alexander 1993, 79. 92 Zur Bezeichnung >dunkle Stelle< vgl. die Definition bei Chladenius 1742, §164. 93 Vgl. dazu Reimarus 1766, II Th, I. Cap., §253, (268).
3. Verstehen und Auslegen
105
Verstehens beleuchten kann: (a) klar und deutlich ist, was einem unmittelbar einleuchtet — und: (b) klar und deutlich ist, was einem mittelbar einleuchtet. Während (a) besagt, daß eine Stelle für den Interpreten zufällig klar und deutlich ist und somit keine Verstehensprobleme birgt (= unproblematisches Verstehen), legt (b) den Akzent darauf, daß eine dunkle Stelle vorliegt (= problematisches Verstehen), die vom Interpreten erst noch klar und deutlich »gemacht« werden muß (nicht mehr problematisches Verstehen, in diesem Sinne eben: = unproblematisches Verstehen). Einmal von der Frage abgesehen, ob in beiden Fällen unter unproblematisches Verstehen dasselbe zu subsumieren ist, wird deutlich, daß die Überwindung der Verstehensprobleme in (b) nicht durch Verstehen erfolgen kann. Denn die besagte Überwindung soll ja (unproblematisches) Verstehen erst ermöglichen — und zwar mit Hilfe einer Handlung, wodurch Dunkles »klar«, »deutlich«, »besser« (und dergleichen) »erkannt« oder »erklärt« wird. In den meisten Auslegungslehren der Zeit taucht diese Handlung unter dem Etikett >interpretari< bzw. >auslegen< auf und entsprechend das Resultat dieser Handlung unter dem Stichwort >interpretatio< bzw. >Auslegunginterpretan< auf demjenigen des >explicare< fußt: »Einen Satz erklären (explicare) heißt nichts anders, als denselben klar und deutlich vorstellen. Wenn man den Sinn des andern aus seiner Rede erkläret, so heißt solches ins besondere auslegen (interpretan).« Und weiter im Paragraphen: »Daß also die Auslegung (interpretatío) nicht anders ist, als eine klare und deutliche Vorstellung von dem Sinne des andern aus seiner Rede.« 95 Hält man an dieser Stelle inne und beläßt es bei den zitierten Passagen, so wird man enttäuscht sein. Insbesondere finden sich keine Hinweise darauf, daß zwischen Verstehen und Auslegen in dem von mir vorgeschlagenen Sinne von (a) und (b) unterschieden wird. Im Gegenteil muten die aufgeführten Definitionen eher wie Begriffsbestimmungen von >verstehen< an. Das wird deutlicher, wenn man die Charakterisierung des >intelli-
94 Vgl. Meier 1757, §8 und §9. 95 Stiebritz 1741, §271 (Hervorhebungen im Text); zum explicare bei Wolff vgl. Kap. IV. 3, 156, dort im Zusammenhang mit dem vermeintlichen Besserverstehen.
106
III. Aspekte des Verstehens
gere< in Meiers Hermeneutik jener des >interpretari< in Wolffs Grundsätzen des Natur= und Völckerrechts gegenüberstellt (von einem Vergleich dieses >interpretará mit dem >verstehen< in Wolffs Deutscher Logik ganz zu schweigen 96 ). Zunächst Meier 97 : Derjenige versteht die Worte und die Rede, (intelligere vocabula & orationem), welcher aus ihnen die Bedeutungen und den Sinn erkennt. Dann Wolff 9 »: Auslegen (interpretan) ist nichts anders, als auf eine gewisse Art schliessen, was einer durch seine Worte, oder andere Zeichen, hat zu verstehen geben wollen. Daher ist die Auslegung (interpretatio) die Erforschung der Gedankken, welche durch Worte und andere Zeichen angedeutet worden. In beiden Fällen geht es um die Gedanken des Autors, die zu es »erforschen« bzw. zu »erkennen« gilt, oder wie Chladenius in seiner Einleitung bündig sagt 99 : Es ist ferner bekannt, daß wir einen, der redet, alsdenn verstehen, wenn wir aus seinen Worten erkennen, was er gedacht hat. Nun ist es bei genauerem Hinsehen aber gerade die Passage bei Chladenius, die auf Unterschiede zwischen Verstehen und Auslegen führen kann. Zu diesem Zwecke sei erneut Meier bemüht, und zwar zunächst seine Charakterisierung von >verstehenaus den Worten erkennenauslegenklar erkennenklar< ist bei Meier in dieser Kombination keineswegs singulär. In unzähligen Varianten finden sich Formulierungen wie >klar einsehen< oder >auf klare Weise erkennend 0 0 ; oder es lassen sich Wendungen ausmachen, die der Sache nach dasselbe anvisieren, hinsichtlich der Erkenntnisformen aber abgestuft werden, wie beispielsweise >deutlich einsehenklärer< oder >besser erkennen< und
96
Vgl. W o l f f 1713, 2. Cap., § 2 s o w i e Cap. 11, §1 und Cap. 12, §1, ferner Id. 1728, Pars III, Cap. VI., §903.
97
Meier 1757, § 128 (69; Hervorhebungen im Text).
98
W o l f f 1754, II Theil, 19. Hauptstück, § 7 9 4 (587/88); vgl. ausführlicher Id. 1746,
99
Chladenius 1742, §2 (erste Hervorhebung im Text).
Pars IV, Cap. III, §459 (318). 100 Die Angaben der Reihe nach in Meier 1757, §8, §9 und §10.
3. Verstehen und Auslegen
107
>klar, oder wohl gar deutlich erkennenerkennen< offenbar eine Handlung angesprochen ist, die sich auf etwas bezieht, das bereits »klar« ist (so z.B. die Wortbedeutungen bzw. der Zusammenhang von Zeichen und bezeichneter Sache); und umgekehrt dürfte mit >auf klare Weise erkennen< eine Handlung gemeint sein, die sich entsprechend auf etwas richtet, das im oben genannten Sinne »dunkel« ist und aus diesem Grunde erst noch »klar erkannt« werden muß. Gemäß dieser Deutung ist zwischen Verstehen und Auslegen also dahingehend zu unterscheiden, daß ersteres mit klaren Stellen zu tun hat, letzteres dagegen mit dunklen. Auf der Grundlage einer solchen —zugegebenermaßen schematischen— Gegenüberstellung kann davon ausgegangen werden, daß die Tätigkeit des Auslegens ins Spiel kommt, sobald dem Interpreten bestimmte Stellen nicht mehr klar sind. Entsprechend braucht unter der von Stiebritz formulierten Annahme, daß »der Sinn eines Scribenten vor sich schon klar und deutlich« ist, dieser »nicht erst deutlich gemacht zu werden«. 102 Hier ist wichtig zu sehen, daß diese Annahme exakt die Bedingung des Verstehens darstellt (oben, [a]). Deutlicher als bei Stiebritz gelangt dieser Punkt bei Wolff zum Ausdruck: Wenn alle Wörter eine gewisser und bestimmte Bedeutung hätten [...], und wenn die Redenden allzeit ihre Gedancken durch dieselben hinlänglich ausdrückten:; so würde keine Auslegung nöthig seyn: Da aber das Gegentheil geschieht; so ist eine Auslegung nöthig.' 03 Die Tatsache, daß Auslegen voraussetzt, die Bedingung fürs Verstehen sei nicht erfüllt, gibt erneut Aufschluß über den Gegenstands- sowie den Aufgabenbereich der interpretatio. Was den Gegenstandsbereich angeht, beschränkt sich das Geschäft der Auslegung auf dunkle Stellen; und was den Aufgabenbereich betrifft, geht es bei der Auslegung darum, die entsprechenden Dunkelheiten zu beheben und auf dieser Grundlage »Verstehen durch Auslegung« zu ermöglichen. 1 0 4 Wiewohl beide Tätigkeiten, das Verstehen ebenso wie das Auslegen, also darauf abzielen, das vom Autor
101 A u c h hier in der R e i h e n f o l g e : §9, § 11, § 106. 102 Stiebritz 1741, § 2 7 1 , ( 3 6 1 ; Hervorhebungen von mir). 103 W o l f f 1754, II Theil, 19. Hauptstück, § 7 9 5 ( 5 8 8 ; Hervorhebungen von mir), ferner Id. 1746, Pars IV, Cap. III, § 4 6 0 ( 3 1 9 ) . 104 D a z u Chladenius 1742, §671 f.
108
III. Aspekte des Verstehens
Beabsichtigte zu erkennen, ist der entscheidende Unterschied (vorerst) darin zu sehen, daß sich >auslegen< auf jene Stellen richtet, die »schwer zu verstehen« bzw. »dunkel« sind.105 Nun ist dieser Unterschied jedoch weder präzis genug noch erschöpfend. Erschöpfend ist er deshalb nicht, weil ausgeklammert bleibt, auf welche Weise Dunkelheiten zu beheben sind. Diese Frage führt auf meine Unterscheidung von impliziter und expliziter Anwendung von Regeln zurück. Die wichtigsten Aspekte habe ich bereits genannt: Erstens kann davon ausgegangen werden, daß beim Verstehen bestimmte Regeln (des Sprachgebrauchs) implizit zur Anwendung gelangen; und diese Annahme —so der zweite Aspekt— liegt darin begründet, daß der Autor seinerseits diese Regeln befolgt hat. Im Falle von Dunkelheiten (dem Terrain der Auslegung also) liegt die Angelegenheit nun so, daß eine Abweichung oder gar Verletzung jener Regeln vorliegt, die Stellen >normalerweise< als dem Sprachgebrauch gemäß ausweisen. In diesem Sinne hat der Interpret zu prüfen, ob und in welcher Hinsicht dunkle Stellen durch Abweichung oder Verletzung vorherrschender Konventionen verursacht werden; und eine solche Prüfung kann nur auf der Grundlage einer expliziten Anwendung genau jener Regeln erfolgen, die den geltenden Konventionen gemäß sind. Diese Aussage enthält zwei Behauptungen. Die eine (ich nenne sie die Behauptung der Regel) besagt, daß beim Auslegen explizit zur Anwendung gelangt, was durch Sprachkonventionen implizit festgelegt wurde, pointierter: daß beim Auslegen explizit wird, was beim Verstehen implizit ist. Diese Behauptung verlangt eine Präzisierung dessen, was auf der einen Seite implizit, auf der anderen dagegen explizit ist. Bislang habe ich mehr oder weniger unterschiedslos von Konventionen und Regeln gesprochen. In Anlehnung an Chladenius ließe sich nun festlegen, daß beim Verstehen die »Gewohnheit und Art zu sprechen«, also Konventionen operativ sind, wohingegen man sich beim Auslegen auf Regeln beruft. 106 Um diese Unterscheidung mit jener von >implizit< und >explizit< zu verbinden, bedarf es allerdings zweier Zusatzannahmen. Erstens ist davon auszugehen, daß sich die »Gewohnheit und Art zu sprechen« bzw. die geltenden Sprachkonventionen prinzipiell mit Hilfe von Regeln (etwa der Grammatik und Semantik) explizieren lassen, daß solche Regeln also grundsätzlich dazu
105 Vgl. auch die Definition von >Auslegung< bei Thomasius 1691b, 3. Hauptstück, §25 (163/64). 106 Vgl. dazu Chladenius 1742, §747 (593).
3. Verstehen und Auslegen
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geeignet sind, Sprachkonventionen zu beschreiben oder zu erklären 1 0 7 ; und zweitens muß die Annahme geteilt werden, daß es —um Konventionen zu befolgen— nicht erforderlich ist, diese vermittels Regeln zu explizieren. Im Gegenteil liegt der Gedanke nahe, daß Mitglieder einer bestimmten Sprachgemeinschaft Konventionen befolgen (können), ohne über Kenntnis der Regeln zu verfügen, die diese Konventionen beschreiben oder erklären. 1 0 8 Erst vor dem Hintergrund dieser beiden Zusatzannahmen läßt sich sinnvoll behaupten, daß beim Auslegen jene Regeln explizit zur Anwendung gelangen, die beim Verstehen implizit am Werke sind bzw. zur Anwendung gelangen, indem Konventionen befolgt werden. Nebst der terminologischen Konsequenz, daß im Zusammenhang mit Verstehen anstelle von >impliziter Anwendung von Regeln< besser von >Befolgung von Konventionen zu sprechen ist, hat die Behauptung der Regel auch systematische Folgen. Denn behaupten, daß beim Interpretieren jene Regeln explizit zur Anwendung gelangen, die beim Verstehen in Form von Konventionen am Werke sind, heißt immerhin behaupten, daß beim Auslegen nur solche Regeln angewandt werden, die der Möglichkeit nach beim Verstehen implizit benutzt werden, oder negativ formuliert: daß beim Auslegen von Dunkelheiten keine (spezifischen Auslegungs-)Regeln angewendet werden, die beim Verstehen nicht bereits im Spiel sein können. Dieser negativen Formulierung liegt eine Annahme zugrunde, die es unbedingt zu beachten gilt. Wenn Auslegung durch explizite Anwendung bloß jener Regeln erfolgt, die beim Verstehen in Form von Konventionen befolgt werden, dann setzt dies voraus, daß Dunkelheiten generell durch Abweichung von bestehenden Sprachkonventionen charakterisiert sind. Diese Charakterisierung mündet in die —wie ich sie analog nennen möchte— Behauptung der Dunkelheit. Sie besagt erstens, daß alle Dunkelheiten durch irgendwelche Deviationen (oder Verletzungen) von Konventionen verursacht werden, und zweitens, daß sich entsprechend alle Dunkelheiten auf dem Wege expliziter Anwendung von Regeln beheben lassen. Der
107 Vgl. z.B. ibid., §3. — Diese Zusatzannahme blendet, so formuliert, das Problem der kontextuellen Determiniertheit der »Art zu sprechen« aus; vgl. zur Pragmatik ausführlich Kap. III. 4. 108 Diese Annahme dürfte z.B. Meier 1752a, § 162 vor Augen haben, wenn er meint, daß im »gemeinen Leben« eine Reihe von »Regeln« (in diesem Fall jene der »Aufmerksamkeit«) angewendet würden, »ohne an sie zu denken«. Vgl. ähnlich Baumgarten 1769, 2. Hauptstück, §22 (83). Zum Begriff >Regel< vgl. Walch 1726b, Sp. 592.
III. Aspekte des Verstehens
110
zweite Punkt spielt in den Gegenstandsbereich der Auslegung hinein — die interpretatio hätte sich demgemäß mit allen Dunkelheiten zu beschäftigen. Wie ich weiter oben bereits angedeutet habe, ist diese Bestimmung des Gegenstandsbereichs aber zu wenig präzis. Um zu zeigen, in welcher Hinsicht sie einer Modifikation bedarf, lohnt sich der Blick auf Thomasius' Typologie der Dunkelheiten, die er im 3. Hauptstück seiner Auszübung entwirft. 109 Auf Anhieb scheint sich hier die Behauptung der Dunkelheit allerdings zu bestätigen. Unter der Rubrik jener Dunkelheiten, »die aus der innerlichen Bedeutung der Worte her[rühren]« (1), finden sich nämlich Ursachen der Art: »alte Wörter«, »neue Wörter«, »fremde Wörter«, »zweydeutige Wörter«. In sämtlichen Fällen spielt die explizite Anwendung von Regeln insofern eine Rolle, als es sich durchwegs um Wortarten handelt, die Abweichungen von geltenden Sprachkonventionen darstellen; die »alten Worte« beispielsweise sind solche, die »nicht mehr im gebrauch sind«, die »neuen Worte« gelten als Ausdrücke, die »von dem gemeinen Gebrauch abweiche[n]«. 110 Die zweite Rubrik von Dunkelheiten, die Thomasius behandelt, ist mit Blick auf die Behauptung der Dunkelheit problematischer; sie betrifft die »äusserliche Gestalt« der Wörter (2). Problematisch ist sie deshalb, weil nur ein Teil der Dunkelheiten als Deviationen von geltenden Sprachkonventionen bezeichnet werden kann — so Dunkelheiten, die sich ergeben, »wenn entweder keine commata oder puncta zu einer Rede gesezt worden wären / oder dieselben nicht recht stünden« (2.1). 111 Andere Dunkelheiten lassen sich allenfalls im übertragenden Sinne als Abweichungen charakterisieren — wie etwa solche, die durch Textverderbnisse, Verschmutzungen oder Anstreichungen verschuldet werden (2.2).112
109 Vgl. Thomasius 1691b, 3. Hauptstück, §§37ff (167ff); für eine alternative Auflistung vgl. z.B. Chladenius 1742, §671 ff. — Wie bei den Ursachen der Unterminiertheit des Sprachgebrauchs (s.o.), beschränke ich mich im folgenden auf Dunkelheiten, die durch den Gebrauch von Sprache verschuldet werden, im Gegensatz etwa zu solchen, die durch unzulängliche mentale Dispositionen des Autors oder Interpreten verursacht werden (mehr dazu in Kap. V. 1 ). HO Ibid., § 4 4 f ( 168/69). 111 Ibid., §45 ( 168; Hervorhebungen im Text). 112 Vgl. ibid., §38f (167f). — Nicht zuletzt aufgrund dieser problematischen Einschätzung sollte in der Zeit kontrovers sein, inwieweit (2) überhaupt ins Terrain der interpretatio
fällt. Während Dannhauer 1630,1, §18 beispielsweise den Gegenstandsbe-
reich der Auslegung sehr weit faßt und die ars critica als Bestandteil der Auslegungs-
3. Verstehen und Auslegen
111
Schließlich behandelt Thomasius eine dritte Gruppe von Dunkelheiten, die zwar nicht als eigene Rubrik aufgeführt, jedoch in gesonderten Abschnitten untergebracht ist und Fälle der (wie es modern wohl heißen würde) Uninterpretierbarkeit betrifft (3). Prominent sind in diesem Zusammenhang die »bloßen Worte«, »leeren Worte« oder —wie Wolff sie nennt 113 — die »leeren Töne«. Verkürzt gesagt, handelt es sich hierbei um Wörter, die »keine Bedeutung« haben. 114 Sie sind zu unterscheiden von Ausdrücken, mit denen der Interpret (z.B. infolge mangelnder Kenntnis) keinen Begriff zu verbinden vermag. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei den »bloßen Worten« um solche, mit denen der Autor »keinen Begriff verknüpft« hat. 115 In diesem Fall kann der Interpret mit dem entsprechenden Wort (selbst wenn er aufgrund seiner Kenntnis in der Lage wäre) unmöglich einen Begriff verknüpfen und die betreffende Dunkelheit auslegen. 116 Denn hierzu wären Regeln nötig, die ihrerseits mit bestimmten Sprachkonventionen korrespondieren. Eine Konvention aber, die Fälle festlegt, in denen mit einem Wort kein Begriff zu verbinden ist, wird nur schwerlich zu finden sein. Im Gegenteil würde diese >Konvention< notgedrungen jener anderen zuwiderlaufen, die dem Sprachgebrauch gemäß ist und lautet: »Jedes Wort muß eine Bedeutung haben.« 117 Wenigstens hinsichtlich (3) ist die Behauptung der Regel also zu modifizieren: Nicht alle Dunkelheiten können als Abweichungen von bestehenden Sprachkonventionen charakterisiert werden. Nimmt man an dieser Stelle die Überlegungen zur Behauptung der Regel hinzu, so drängt sich folgende Eingrenzung des Gegenstandsbereichs der interpretatio auf: So-
lehre traktiert, will Chladenius 1742, Vorrede, unpaginiert rund hundert Jahre später (2) aus der »Hermeneutick« ausgegrenzt wissen und wälzt entsprechend Kompetenzen ab: (2.1) wird vom »Philologus« behandelt, (2.2.) ist Sache des »Criticus«. 113 Wolff 1713, 12. Cap., §1, dazu auch Id. 1728, §968. 114 Thomasius 1691b, 3. Hauptstück, §127 (215); vgl. auch Stiebritz 1741, §271, 362 sowie Chladenius 1742, §120 (65; Hervorhebung im Text): »Ein leeres Wort heist dasjenige Wort, womit kein Gedanke verbunden ist: oder welches einerley ist, das keine Bedeutung hat.« Dazu auch Meier 1752a, §500 (667), wo »leere Worte« als Ausdrücke bezeichnet werden, die man »ohne Bedeutung« gebraucht. 115 Zu dieser Unterscheidung vgl. Wolff 1713, 2. Cap., §10, ferner Chladenius 1742, §159. 116 Vorausgesetzt, er trachtet nicht —wie das Thomasius 1691b, 13. Hauptstück, z.B. §35 (166/67) anführt— nach »unmöglichen Dingen«. 117 Wolff 1713, 2. Cap., §3 [Überschrift; Hervorhebung von mir], auch Meier 1752a, §498 (665): »Er [i.e. der Ausdruck] muß in der That etwas bedeuten.«
112
III. Aspekte des Verstehens
fern nicht alle Dunkelheiten als Abweichungen bestimmt werden können, lassen sich auch nicht alle Dunkelheiten durch explizite Anwendung von Regeln behandeln. Auf das Geschäft des interpretari bezogen heißt dies, daß sich die Auslegung strenggenommen nur auf Dunkelheiten bezieht, die durch explizite Anwendung von Regeln ausgelegt werden können.
4. Analyse
als
Interpretation
Verstehen richtet sich auf sämtliche, in mündlicher oder schriftlicher Form vorgetragene Zeichen, deren Bedeutung konventionell festgelegt ist. Wo diese Bedeutung forte non statim occurat, da wird das Geschäft des Interpretierens erforderlich, und es muß mit Hilfe des »Wörterbuchs« der »mannigfaltige buchstäbliche Sinn der Rede« gefunden, mit Hilfe der »Grammatik« die »Beugungen einzelner Wörter, und die davon abhängenden Veränderungen der Bedeutungen, desgleichen die Wortfügungen, und die daher rührenden Bedeutungen einzelner Redensarten, und die Veränderungen derselben« überprüft werden. 118 Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Überlegungen dürfte klar sein, daß der Hinweis auf die beiden »hermeneutischen Hülfsmittel« 119 , Wörterbuch und Grammatik, normativ zu deuten ist. Unter der Annahme, daß der Autor seinerseits die geltenden Sprachkonventionen zu befolgen hat, ist die Konsultation von Wörterbuch und Grammatik auch für den Interpreten verpflichtend. Immerhin gilt, daß der, der einen Text verstehen will, mit dem, der schreibt, »einerley Wörter=Buch und einerley Grammatick« teilen muß. 120 Allerdings wäre es falsch, wollte man aus der zuletzt referierten Auffassung folgern, allein Grammatik und Wörterbuch seien zum Verständnis eines Textes erforderlich. Die Gründe gegen eine solche Folgerung liegen, zumindest für die Autoren, auf der Hand: Die Idee, Wortbedeutungen seien ausschließlich ein Produkt der Anwendung von Sprachregeln auf das (dem Mitglied einer bestimmten Sprachgemeinschaft verfügbare) Wort
118 Meier 1757, §147 und §148. 119 Vgl. dazu etwa Clauberg 1654, III, §27, ferner Meier 1757, § 147f, Reimarus 1766, II Th, 1. Cap., §255 (272) sowie Baumgarten 1769, 1. Hauptstück, §5 (21). 120 Vgl. stellvertretend Chladenius 1742, §3; für Chladenius ist die Kenntnis von Grammatik und Wörterbuch ein Indiz dafür, daß der Zuhörer bzw. Leser »der Sprache mächtig« ist: »wer also eine Rede verstehen will, der muß der Sprache, darinnen sie gehalten wird, mächtig seyn.« (ibid., §4).
4. Analyse als Interpretation
113
material, blendet das Problem der kontextuellen Determination von Wortbedeutungen aus. Zu berücksichtigen sei beispielsweise, was dem Wort in unmittelbarer Nähe »vorhergehe« bzw. »nachfolge«; immerhin werde die Bedeutung eines einzelnen Wortes auch durch seine Stellung innerhalb einer »Redensart« oder eines Satzes »bestimmt«. 121 Und damit nicht genug. In nahezu sämtlichen Auslegungslehren der Zeit findet sich darüber hinaus der Hinweis, man solle auch den Verlauf der Argumentation prüfen, das Thema eruieren, die Gattung ausmachen, den persönlichen Stil des Autors analysieren sowie den Adressatenbezug klären; nicht zu vergessen sei endlich die Person des Autors sowie dessen Motive, der Zeitpunkt, zu dem die Schrift verfaßt wurde, und der Entstehungsort. 122 Die Liste ist beachtlich. Obgleich plausibel ist, daß zum Verständnis eines Textes nicht bloß die Ermittlung (lexikalischer) Bedeutungen ausschlaggebend sein kann, bleibt unklar, worin genau der Beitrag der genannten Komponenten bestehen soll. 123 Ganz offensichtlich wird davon ausgegangen, daß bei Verständnisschwierigkeiten (die z.B. einzelne Wörter oder Wortwendungen betreffen) die Berücksichtigung etwa des Stils des Autors Hilfe leisten kann; und umgekehrt wird angenommen, daß z.B. eine detaillierte Analyse von Metaphern mitunter Aussagen über die (vielleicht eigentümliche) Verwendung rhetorischer Figuren erlaubt. 124 In diesem Sinne wird also ein bestimmtes Verhältnis zwischen der Ermittlung von Wortbedeutungen und der Analyse des Stils behauptet, ein Verhältnis, das genaugenommen auf der gegenseitigen Abhängigkeit (Interdependenz) der genannten Komponenten beruht. 125 Wie die obige Liste bereits verrät, 121 Meier 1757, § 159: »Die Bedeutungen der Worte, welche Theile des Textes sind, sind mit einander verbunden, und bestimmen einander [...].« (Hervorhebung von mir; zur »Bestimmung« vgl. auch Crusius 1747, Cap. IX, §633). Dazu auch Clauberg 1654, III, §32; ferner Thomasius 1691b, 3. Hauptstück, §70 sowie Chladenius 1742, Cap. 8, §382 und ibid., Cap. 10, §750 (595) und Baumgarten 1769, 2. Hauptstück, §23 (85) und §25 (940, ferner ibid., 3. Hauptstück, §37 (137). 122 Vgl. stellvertretend die ausführliche Auflistung von Komponenten, die zur »Bestimmung« des »Verstandes« bzw. »Sinns« beitragen, bei Crusius 1747, Cap. IX, §633 (1085f). 123 Crusius 1747, Cap. IX, §634 (1089) beispielsweise spricht sehr allgemein davon, daß eine Analyse der »Umstände« das Verstehen eines Textes »erleichtern« würde; Baumgarten 1769, 3. Hauptstück, §36 (134) meint ähnlich, die Untersuchung der Umstände sei »dienlich«. 124 Vgl. dazu die Überlegungen in Kap. III. 1, 79, dort mit Belegstellen. 125 Chladenius 1742, Cap. 10, §745 spricht in diesem Zusammenhang von einer gegenseitigen »Modification«.
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III. Aspekte des Verstehens
ist die gegenseitige Abhängigkeit von Stil und Bedeutung nicht die einzige Interdependenz. Die Ermittlung beispielsweise des Adressatenbezugs soll Angaben über die Argumentationsstruktur des Textes erlauben, die Gattung über das Thema oder die Person des Autors über dessen Sprachgebrauch. Die Kombinationen lassen sich nahezu beliebig erweitern. Darauf habe ich im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Analyse und Anwendung bereits hingewiesen. 126 Im Augenblick liegen die Akzente anders. Es geht mir nicht darum, sämtliche Kombinationen durchzuspielen, sondern um den Versuch, die Vielzahl der Interdependenzen zu systematisieren. Anknüpfungspunkt bietet dabei die Frage, worauf die in der Liste aufgeführten Komponenten bezogen sind und wodurch sie bestimmt werden. 127 Im Falle (lexikalischer) Bedeutungen beispielsweise handelt es sich um Komponenten (K), die (in der Regel) auf Wörter oder Wortwendungen bezogen sind, also auf Texteinheiten (Te). Bestimmt werden die einzelnen Bedeutungen durch andere Texteinheiten, so z.B. durch Bedeutungen, die mit Wörtern desselben Satzes, in diesem Sinne textintern (i), verknüpft sind: (1)
K(Te,i)
K(Te,i)
Eine analoge Charakterisierung läßt sich im Falle der Interdependenz von z.B. Thema und Bedeutung anbringen — mit dem Unterschied allerdings, daß es sich beim Thema um eine Komponente handelt, die (in der Regel) nicht auf einzelne Textstellen bezogen ist, sondern auf den gesamten Text und mithin das Textganze (Tg) betrifft 128 : (2)
K(Tg,i)
K(Te,i)
Im Falle der Interdependenz von z.B. Gattung und Thema schließlich han-
126 Vgl. Kap. III. 1. — Ich werde auf die Analyse als Propädeutik am Ende dieses Kapitels erneut zu sprechen kommen. 127 Vis-à-vis der unterschiedlichen Einschätzung der besagten Komponenten (vgl. am Beispiel »Person« die Ausführungen von Thomasius 1691b, 3. Hauptstück, §65) kann die folgende Systematik nicht beanspruchen, diese Komponenten hinreichend zu charakterisieren. 128 Weitere Komponenten dieser Art können sein: Gattung, Stil, Adressatenbezug, Argumentationsstruktur; vgl. dazu die Auflistung bei Baumgarten 1769, 3. Hauptstück, §37 (137).
4. Analyse als Interpretation
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delt es sich um eine solche zwischen Komponenten, die gleichermaßen das Textganze betreffen: (3)
K(Tg,i) circumstantiae< auf. Diese circumstantiae betreffen —das wurde ebenfalls bereits ausgeführt— die Umgebung des Textes und beziehen sich somit nicht auf einzelne Wortbedeutungen, sondern auf den Sinn des gesamten Textes. Diese (erste) Charakterisierung der circumstantiae ist insofern wichtig, als damit eine Differenzierung von Bedeutung (significatio) und Sinn (sensus) angezeigt ist. In der Tat unterscheiden eine Reihe von Autoren zwischen >Bedeutung< und >Sinn< derart, daß der sensus orationis sowohl von den Bedeutungen all jener Wörter abhängt, die einen Text ausmachen, als auch von Umständen, unter denen der Autor mit bestimmten Wörtern bestimmte Gedanken verknüpft. 129 Die Gemeinsamkeit der oben aufgeführten Interdependenzen gelangt mit dem Index (i) zum Ausdruck. Im Falle von (1) ist die Angelegenheit klar. Problematischer sind (2) und (3), weil hier Komponenten im Spiel sind, die qua circumstantiae die Textumgebung betreffen. Gleichwohl scheint es sinnvoll, auch in diesem Fall von >textintern< zu sprechen, da die genannten Nebenumstände nur dann ermittelt werden können, wenn der auszulegende Text in Form einer (wie auch immer gearteten) Lektüre konsultiert wird. Diese (zweite) Charakterisierung der circumstantiae ist deshalb wichtig, weil eine Unterscheidung zwischen Nebenumständen angesprochen ist, die auf der Basis einer vorgängigen Lektüre des Textes eruiert werden, und solchen, die einer Lektüre womöglich entbehren. Blickt man erneut in die Quellen, findet sich ein vergleichbarer Unterschied in der Rede von circumstantiae orationis und cirumstantiae auctoris. Während erstere eine wenigstens oberflächliche Lektüre des Textes verlangen (um z.B. die Gattung auszumachen, den Eigenheiten des Stils vorzufühlen oder das Thema zu ermitteln) 130 , können letztere prinzipi-
129 Vgl. z.B. Meier 1757, §104 sowie Baumgarten 1769, 1. Hauptstück, §11 (36). Zur Begriffsgeschichte dieser Ausdrücke vgl. jetzt detailliert Bühler 1996. 130 Baumgarten 1769, 3. Hauptstück, §37 (137) spricht in diesem Zusammenhang von
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III. Aspekte des Verstehens
eil 131 ohne eingehenden Kontakt mit dem Text ermittelt werden (wie etwa die Person des Autors, seine Motive, Zeit und Ort der Schrift). 132 Die Unterscheidung zweier >Arten< von circumstantiae führt auf weitere Interdependenzen. Die eine besteht zwischen Komponenten, die sich auf Texteinheiten beziehen sowie textintern gewonnen werden, und solchen, die das Textganze betreffen und sich prinzipiell unabhängig vom Text, also textextern (e), ermitteln lassen. So können z.B. Angaben zur Person des Autors Aussagen über dessen Sprachgebrauch erlauben & vice versa: (4)
K( T g,e)
K( T e ,i)
Ferner lassen sich Interdependenzen ausmachen zwischen den in (4) an erster Stelle genannten Komponenten und solchen, die auf Textlektüre basieren sowie den sensus betreffen. Beispielsweise vermag die Ermittlung von Ort und Zeit der genannten Schrift bei der Eruierung des Themas Hilfe zu leisten & vice versa: (5)
K ( T g ,e)
K ( T g ,i)
Schließlich ist es denkbar, daß Angaben z.B. zur Entstehungszeit die Konturen der Person des Autors schärfer umreißen können & vice versa: (6)
K(Tg,e) K(Tg,e)
Das hier aufgezeichnete Netz von Interdependenzen soll Auskunft darüber
»Umständen der Rede« und macht deutlich, daß diese eine Ermittlung des »Verstandes« voraussetzen (ibid., 138). 131 Mit >prinzipiell< soll zum einen angedeutet werden, daß die besagten Umstände auch »aus dem Texte selbst erkannt werden« können (Crusius 1747, Cap. IX, §637 [1095]); und zum andern, daß es zu unterscheiden gilt zwischen der Frage, (i) auf welche Weise die Umstände ermittelt werden und der Frage, (ii) inwieweit die Art und Weise der Ermittlung der Umstände über deren Beweiskraft entscheiden kann (vgl. dazu ibid., §644 [1108/09]). 132 Analog zu den »Umständen der Rede« (vgl. Anm. 130) spricht Baumgarten 1769, 3. Hauptstück, §38 ( 137ff) hier von »historischen Umständen«; unter diese Rubrik fallen (a) der »Urheber« einer Rede bzw. eines Textes, (b) jene »Personen, an und zu welchen« eine Rede gerichtet ist, (c) die »Zeit, wenn sie gehalten worden«, (d) der »Ort, wo sie gehalten worden«, und schließlich (e) die »Veranlassung, bei und aus welcher solches geschehen.«; zu den circumstantiae auctoris vgl. auch Thomasius 1691b, 3. Hauptstück, §65 sowie Meier 1757, §23, §162 und §165.
4. Analyse als Interpretation
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geben, was zum Verständnis eines Textes beitragen kann — und damit freilich auch, was bei etwaigen Verständnisschwierigkeiten zu berücksichtigen ist, um entsprechende Verstehensprobleme zu beheben. 133 Trivialerweise setzt dies voraus, daß eine der Komponenten in den jeweiligen Formen der Interdependenzen bereits ermittelt wurde. 134 Ganz so trivial ist diese Voraussetzung jedoch nicht. So stellt sich beispielsweise die Frage, auf welche Weise die Basis dessen erstellt wird, was ermittelt sein muß, um das Netz der Interdependenzen überhaupt flechten zu können. Auf den ersten Blick bieten sich drei Optionen an: Man setzt mit Komponenten der Art K(Te,i) an, oder man beginnt z.B. mit der Frage der Gattung, also mit Komponenten der Art K(Tg,i), oder aber man startet mit Angaben zum Autor, also mit K(Tg,e)· Aus anderer Perspektive formuliert lassen sich diese Optionen auf zwei reduzieren: Entweder beginnt man mit Komponenten, die auf Texteinheiten beschränkt sind (K[Te]), oder mit solchen, die das Textganze betreffen (K[Tg]). Diese Reduktion gibt Anlaß zu dem berühmten zweiten Blick, der die Angelegenheit problematischer erscheinen läßt. Nehmen wir etwa die Interdependenz zwischen Bedeutung und Stil, näherhin den Fall, in dem die Stilanalyse zur Erschließung einzelner Wortbedeutungen beitragen soll. Damit sinnvoll davon gesprochen werden kann, daß die Stilanalyse der Bedeutungsanalyse Hilfe leistet, müssen Angaben über den Stil des Autors vorliegen; und diese Angaben wiederum gründen zwangsläufig auf einer Textlektüre. Geht man davon aus, daß diese Lektüre eine (partielle) Ermittlung von Wortbedeutungen zur Folge hat, dann ergibt sich das Problem, daß die Stilanalyse —um es vertraut auszudrücken— teilweise bereits voraussetzt, was sie eigentlich zu ermitteln hat. Obgleich einige Autoren Formen der hier skizzierten Abhängigkeit von Tg und Te als zirkulär wahrgenommen haben, ist dieses Verhältnis
133 Obwohl man sich darüber einig sind, daß »die Kenntnis eines iedwelchen [i.e. Umstands] brauchbar ist« (Crusius 1747, Cap. IX, §637 [1095]; für eine Ausnahme vgl. Baumgarten 1769, 3. Hauptstück, §36 [134]), ist umstritten, wieviele Umstände und wie genau man diese man kennen muß. Grundsätzlich gilt, »daß man im Interpretiren um so viel besser fortkommen kan, iemehr man von diesen Umständen weiß [...]. Hingegen ist nicht eben nöthig, daß sie alle bekannt sind«. (Crusius 1747, Cap. IX, §637 [1095]). 134 Crusius 1747, Cap. IX, §635 (1090) macht in diesem Zusammenhang den Grundsatz geltend: »Das unbekanntere muß aus dem bekannteren erkannt werden«; vgl. dazu auch ibid., §637 (1095) und §648 (1117).
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III. Aspekte des Verstehens
nicht als problematisch empfunden worden. 135 Auf der Basis des Netzes von Interdependenzen lassen sich hierfür vielleicht Gründe nennen. Um beim obigen Beispiel zu bleiben: Es handelt sich beim Stil zunächst einmal nicht um etwas, was das Textganze ist, sondern vielmehr um etwas, was das Textganze bestimmt; ferner handelt es sich beim Stil lediglich um eine (unter mehreren) Komponenten, die das Textganze bestimmen; schließlich gilt es zu berücksichtigen, daß stilistische Eigenheiten nicht nur auf der Grundlage bereits erschlossener Wortbedeutungen ermittelt werden können. Obwohl der Sache nach korrekt, ist mit dem letztgenannten Punkt dennoch Vorsicht geboten. Denn unter der Annahme, daß der Stil z.B. mit Hilfe von Komponenten der Art K(Tg,i) ermittelt wird, verlagert sich lediglich das Problem: Auch das Thema (als eine solche Komponente) bedarf vorgängig eine auf Texteinheiten abzielende Lektüre. Die letzte Formulierung ist bewußt vage. Immerhin ist im Auge zu behalten, daß die Ermittlung beispielsweise des Themas nicht in jedem Fall eine gründliche Lektüre verlangt. Vielleicht läßt es sich bereits durch den Titel erschließen oder durch das Vorwort, das Inhaltsverzeichnis, durch die Einleitung oder einen oberflächlichen Streifzug durch den gesamten Text. Somit ist wenigstens zwischen einer gründlichen und einer kursorischen Lektüre zu unterscheiden (die sich gegenseitig jedoch nicht auszuschließen brauchen). Clauberg empfiehlt in diesem Zusammenhang eine mehrmalige Lektüre und legt zugleich die Chronologie fest 136 : Zu Beginn lese man kursorisch, man verschaffe sich einen Überblick über das gesamte Werk, ohne sich im Detail von Verständnisschwierigkeiten aufhalten zu lassen; sodann vertiefe man sich, man lese gründlich und befasse sich eingehend mit den schwierigen Passagen. Schließlich gehe man erneut dem Text entlang, setze das Verständnis einzelner Stellen mit dem Gesamtsinn in ein Verhältnis und evaluiere, ob die vormals lokalisierten Schwierigkeiten nunmehr behoben seien. Claubergs Lektüreanweisung ist in verschiedener Hinsicht aufschlußreich. 137 Zunächst einmal werden, zeitlich gesehen, Prioritäten festgelegt. Es geht vorab um Angaben, die auf einer kursorischen Lektüre gründen und den Gesamtsinn betreffen (in meiner Charakterisierung also um Komponenten der Art K[Tg,i])· Damit ist zweitens angedeutet, daß Clauberg
135 Vgl. dazu etwa die Äußerungen von Pfeiffer 1743, 57; zur Zirkelproblematik vgl. Beetz 1981, 613, und jetzt Danneberg 1995b. 136 Vgl. Clauberg 1654, III, §11. 137 Zu weiteren Aspekten des Lektüreverfahrens bei Clauberg vgl. Beetz 1981, 612f.
4. Analyse als Interpretation
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ganz im Sinne der vorangegangenen Überlegungen davon ausgeht, die Kenntnis der »Umstände der Rede« könne für das Verständnis einzelner Textpassagen relevant sein. Deutet man diese Annahme erneut zeitlich, so rechnet Clauberg damit, daß die besagte Kenntnis (da sie beim ersten Lektüredurchgang gewonnen wird) bereits im Vorfeld potentiellen Verständnisschwierigkeiten vorzubeugen vermag — ein Gedanke, der sich (allerdings mit Blick auf die circumstantiae auctoris) auch bei Thomasius findet, wenn er dem Ausleger nahelegt, er solle »anfänglich« die »Person dessen, der da redet« beachten, ferner seinen »Stand«, seinen »affect«, seine »Zuneigung«. 138 Die Pointe dieser >prophylaktischen< Maßnahme wird verständlich, wenn man den Vorschlag Claubergs und Thomasius' mit der Auffassung vergleicht, wonach »die Untersuchung der Bedeutungen [...] vorhergehen« müsse. Im Gegensatz zur Variante von Clauberg und Thomasius zieht dieser Vorschlag —er läßt sich mit Vorbehalten Siegmund Jacob Baumgarten zuschreiben 139 — die Redeumstände erst dann herbei, wenn einzelne Textpassagen bereits als »schwer« oder »dunkel« ausgewiesen wurden. Stellt man die genannten Vorschläge einander gegenüber, so scheinen sie nahezu unvereinbar. Während Baumgarten bei der Bedeutungsanalyse ansetzt, hat man sich laut Clauberg und Thomasius vorab um die Ermittlung der circumstantiae zu kümmern. Freilich ließe sich an dieser Stelle einwenden, daß die Divergenz >bloß< den Ausgangspunkt der Analyse betreffe. Lege man demgegenüber das Augenmerk auf das Ziel der Analyse und erstelle man eine Liste jener Komponenten, die es zum Verständnis des Textes zu berücksichtigen gelte, so ließen sich kaum Unterschiede ausmachen. In beiden Fällen nämlich gehe es darum, genau jene Mittel zu eruieren, die der Autor zum Zwecke der Vermittlung des von ihm Beabsichtigten benutzt habe. Wie sich zeigen wird, ist dieser Einwand nur teilweise korrekt. Vorerst aber ist von Belang, daß er einen Punkt anspricht, den ich im oben entworfenen Netz der Interdependenzen lediglich marginal berücksichtigt habe: den Zweck. In der Tat wird diese Komponente
138 Thomasius 1691b, 3. Hauptstück, §65 (181). 139 Für den vorangegangenen Hinweis Baumgarten 1769, 3. Hauptstück, §36 (135); für ähnliche Formulierungen vgl. ibid., 1. Hauptstück, §5 (20) sowie ibid., 2. Hauptstück, §22 (80). — Obschon Baumgarten das (zeitliche) Primat mit Vehemenz postuliert, ist die hier vorgenommene Zuschreibung im Detail problematisch (s.u.); sie dient denn auch in erster Linie bloß der prägnanten Gegenüberstellung zweier Positionen.
III. Aspekte des Verstehens
120
bei Clauberg und Thomasius ebenso wie bei Baumgarten an prominenter Stelle erwähnt. 140 Der Zweck oder das Motiv —so wird einhellig angenommen— vermag bei etwaigen Verständnisschwierigkeiten wertvolle Hilfe zu leisten; und insofern gilt es, diese Komponente auf schnellstem Wege zu ermitteln — cum igitur aggrederis lectionem alicujus libri: id statim initio, quoad ejus fieri potest, age: ut primum scopum, finem, aut intentionem totius ejus scripti, quod veluti caput aut fades ejus est, protinus vereque notum habeas, qui plerunque paucis verbis notari potest.141 Angesichts der Bedeutung, die dem scopus oder finis allerorts zugemessen wird 142 , habe ich freilich zu rechtfertigen, weshalb diese Komponente bislang eher beiläufig behandelt wurde. Erstens bieten sich Schwierigkeiten bei der Zuordnung. Was die Ermittlung des Zwecks betrifft, ist kontrovers, ob er textintern erschlossen wird oder »anders woher« zu holen ist. 143 Was seine Reichweite angeht, steht man vor dem Problem, daß offensichtlich nicht alle Mittel, die vom Autor eingesetzt werden, notwendigerweise mit dem Zweck verknüpft sein müssen, den er mit seinem Text insgesamt verfolgt. 144 Dieses Problem ist insofern von Belang, als entsprechend nur mit Blick auf den »Hauptzweck« bzw. »Endzweck« davon gesprochen werden kann, daß er das Textganze betrifft — nicht aber von den sog. »Nebenzwecken«.145 Doch selbst für den Endzweck ist die Zuschreibung zum Textganzen verfehlt. Damit komme ich zum zweiten Grund, weshalb sich eine gesonderte Behandlung des Zwecks empfiehlt. Zwischen dem Zweck und den den sensus bestimmenden Komponenten in (1) bis (6) herrscht nämlich nicht eine Relation von der Art einer semantischen Äquivalenz, sondern eine, die sich in der Formel >x ist zweckgemäß< ausdrücken läßt. 146 In die-
140 Vgl. Clauberg 1654, III, §21 (in diesem Zusammenhang auch Dannhauer 1630,1, §84), dann Thomasius 1691b, 3. Hauptstück, §67 s o w i e Baumgarten 1769, 5. Hauptstück. 141 So Flacius Illyricus 1567, 90. 142 Vgl. dazu die Belegstellen in Kap. III. 1, 82f. 143 Beide Optionen diskutiert Crusius 1747, Cap. IX, §644 (bes. 1108); dazu auch Meier 1757, §182 und Baumgarten 1769, 2. Hauptstück, §21 (78). 144 Vgl. dazu ausführlich Crusius 1747, Cap. IX, §637 sowie §644 (1109). 145 Zum Begriff »Endzweck« vgl. Baumgarten 1769, 1. Hauptstück, §11 (dazu auch die Überlegungen von Meier 1757, §181 und §185 zum »ganzen Zweck«), zum Begriff »Nebenzweck« bzw. »Nebenabsicht« vgl. u.a. Crusius 1747, Cap. IX, §637. 146 Dazu etwa Meier 1757, §164 (Hervorhebung im Text) sowie ausführlicher Baumgarten 1769, 1. Hauptstück, §11 (40) und §13 (44).
4. Analyse als Interpretation
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sem Sinne ist also die Art und Weise der Verknüpfung der Gedanken mit Worten, die Wahl des Themas, die Gattung, der Stil sowie die Beweisführung (um nur einige Beispiele zu nennen) entweder mittelbar zweckgemäß, d.h. über Nebenzwecke, oder aber unmittelbar, d.h. über den Endzweck. Nur unter der Voraussetzung einer solchen mittelbaren oder unmittelbaren Verknüpfung mit dem Zweck sowie der Annahme, daß die im Netz der Interdependenzen aufgeführten Komponenten den Sinn bestimmen, wird verständlich, weshalb im Urteil der Autoren der sensus orationis letztlich »dem Endzwecke gemäß« bzw. adäquat sein muß — oder wie Meier sich ausdrückt: Der Zweck der Rede (finis orationis) ist der Zweck, um dessentwillen der Autor, den Sinn der Rede, durch die Rede bezeichnen will. Folglich ist er der Inbegrif aller entferntem Zwecke, deren Mittel der unmittelbare oder mittelbare Sinn der Rede ist.147 An dieser Stelle gilt es innezuhalten. Im Grunde genommen steht uns jetzt das Instrumentarium zur Verfügung, die vorangegangenen Überlegungen in einen größeren Kontext zu stellen. Zunächst geht es um die Unterscheidung zwischen —wie ich das nennen möchte— der Frage der Ermittlung und derjenigen der Adäquatheit des Sinns. Wie bereits dargelegt, erfolgt die Ermittlung des sensus über eine Analyse jener Komponenten, die den Sinn einer Rede bestimmen. Je nach Lektüreverfahren kann diese Analyse zeitlich unterschiedlich verlaufen. Während die >historisch< ausgerichtete Analyse bei den circumstantiae ansetzt, startet die eher >textuell< ausgerichtete Analyse mit einer gründlichen Bedeutungsanalyse. Die Unterscheidung dieser beiden Typen sagt lediglich etwas über den Ausgangspunkt der Analyse aus, nicht aber über das Ziel; hier wie dort geht es, verkürzt gesagt, um die Ermittlung dessen, was der Sinn der Rede ist. Im Unterschied zur Frage der Ermittlung eröffnet jene der Adäquatheit des Sinns keine vergleichbaren Optionen zwischen >historisch< und >textuellFreizügigkeit< im Umgang mit dem zu analysierenden Text ist zweitens auf den Umstand zurückzuführen, daß die Ermittlung beispielsweise der Verknüpfung von Thema und Zweck selbst bereits einem Zweck unterliegt, nämlich demjenigen der produktiven Anwendung der besagten Verknüpfung durch den Interpreten. Bereits in einem früheren Kapitel habe ich den vom Interpreten gesetzte Zweck der produktiven Anwendung jenem der kognitiven Anwendung gegenübergestellt. Der wichtige Unterschied besteht darin, (ii) daß die auf kognitive Anwendung ausgerichtete Analyse den Sinn unbedingt ermitteln muß — schließlich geht es darum, vom Autor zu lernen. Die Gemeinsamkeit beider Ansätze liegt darin begründet, daß im Falle der kognitiven Anwendung ebenfalls ein bestimmter Zweck (i.e. zu lernen) auf den zu analysierenden Text appliziert wird. Und damit ist zugleich ange-
148 Baumgarten 1769, 1. Hauptstück, §8 (30) und §9 (32) sowie ibid., 2. Hauptstück,
§21 (78). 149 Für das folgende vgl. Kap. III. 1, 89f.
4. Analyse als Interpretation
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zeigt, daß auch im Rahmen der kognitiven Anwendung die Frage der Adäquatheit nicht beantwortet werden muß,150 Denn bei diesem Analyse-Typus geht es vordergründig um die Wahrheit dessen, was der Autor sagt, und nicht so sehr um den Zweck, den der Autor mit seinen Aussagen verfolgt. Vor diesem Hintergrund lassen sich abschließend die Konturen der Analyse als Interpretation schärfer umreißen. Charakterisiert wird sie durch ihre Zielsetzung, (iii) die sowohl die Ermittlung des sensus orationis vorsieht, als auch eine Bestimmung dieses Sinns als Mittel zu einem bestimmten Zweck. Gemäß dieser Charakterisierung weicht die Analyse als Interpretation von der Analyse als Propädeutik in zweierlei Hinsicht ab: Anders als bei (i) muß hier der Sinn mit Hilfe der im Netz der Interdependenzen aufgeführten Komponenten ermittelt werden (darin vergleichbar mit [ii]); und anders als bei (i) und (ii) muß hier der Sinn mit dem vom Autor gesetzten Zweck verknüpft werden. Entsprechend geht es bei der Analyse als Interpretation nicht in erster Linie um die Wahrheit des sensus, sondern vielmehr um den sensus verus im Sinne einer Beantwortung der Frage, was der Autor mitzuteilen beabsichtigte.151
150 Freilich besteht die Möglichkeit, daß der vom Autor gesetzte Zweck im docere
be-
steht. 151 Baumgarten 1769, 1. Hauptstück, §6 (22): »Wenn der Verstand einer Rede mit den Gedanken des Urhebers derselben übereinkomt, folglich dem Endzweck gemäß ist, wird er der wahre und richtige genant; wenn solche Vorstellungen gleich mit der Sache selbst, die sie betreffen, nicht übereinstimmen solten.« — Auf die Unterscheidung zwischen sensus verus und Wahrheit des Sinns (die im übrigen problematischer ist, als hier anklingt) gehe ich in Kap. IV. lf sowie V. 1 ein.
IV. Normen der Interpretation 1. Skepsis, Gewißheit und
Wahrscheinlichkeit
Einerlei, ob man die Analyse als Propädeutik oder aber als Interpretation charakterisiert, wird deutlich, daß diese Konzeptionen voraussetzungsreich sind. Allein die Auffassung, der Autor verfolge mit seinem Text eine Absicht, ist nur unter der Annahme sinnvoll, daß er seine Gedanken mit bestimmten Wörtern zu bestimmten Zwecken verbindet, noch grundlegender: daß er mit den von ihm benutzten Wörtern überhaupt Gedanken verknüpft. Nun ist es eine Sache, auf interne Schwierigkeiten bei der Formulierung solcher Voraussetzungen hinzuweisen; eine andere ist es, ihren Stellenwert im Rahmen der Interpretationstheorie zu bestimmen. Denn hier stellt sich heraus, daß die genannten Voraussetzungen nicht als selbstverständlich gelten dürfen, sondern als Reaktion auf eine Reihe skeptizistischer Einwände aufzufassen sind, die die Vermittlung von Erkenntnissen ebenso betreffen wie deren Ermittlung. Grundsätzlich lassen sich zwei Formen von Skeptizismus denken, die für eine Interpretationstheorie von Belang sein können. Der Bedeutungsskeptizismus richtet sich auf das Verhältnis von Gedanke und Zeichen und macht in der Regel zwei Vorbehalte geltend: Erstens sei fraglich, ob jedes Wort tatsächlich auf eine Vorstellung verweise; und selbst unter der Annahme, daß dem so sei, müsse zweitens damit gerechnet werden, daß Autor und Interpret mit demselben Wort unterschiedliche Vorstellungen verknüpfen. Unmittelbar an diesen Vorbehalt schließt der Wahrheitsskeptizismus an: Einmal vorausgesetzt, daß Autor und Interpret mit demselben Wort auch dieselbe Vorstellung verknüpfen, sei dennoch unklar, ob der Autor wisse, worüber er schreibe; und selbst wenn dies zugestanden werde, bleibe weiterhin die Möglichkeit bestehen, daß der Autor vorsätzlich etwas anderes meine als er schreibe.1
ι
Die hier aufgeführten Vorbehalte sind Augustin De mag., XIII, 42ff entnommen. Auf die Rolle des augustinischen Skeptizismus für die Ausarbeitung insbesondere der
1. Skepsis, Gewißheit und Wahrscheinlichkeit
125
Fragt man nach der Begründungsstrategie dieser Varianten des Skeptizismus, so spielt in beiden Fällen die Konventionalitätsthese eine entscheidende Rolle. Weil Gedanken bzw. Bedeutungen nicht auf natürliche Weise mit Wörtern verknüpft sind, kann weder entschieden werden, welche Bedeutungen genau mit Zeichen verbunden sind, noch läßt sich endgültig ausmachen, ob der Autor mit dem, was er schreibt, auch tatsächlich die Wahrheit sagt. Die Moral von der Geschieht' ist unmißverständlich. Sofern die Auffassung geteilt wird, Wörter seien willkürliche Zeichen der Gedanken, gibt es gute Gründe zur Annahme, daß mit Wörtern grundsätzlich unterschiedliche Gedanken verbunden werden können. Auf der Basis dieser Annahme dürfte es nur folgerichtig sein, wenn eingeräumt wird, daß sich nicht mit Gewißheit, sondern allenfalls mit Wahrscheinlichkeit entscheiden lasse, welche Gedanken der Autor mit den betreffenden Wörtern verbunden habe. Obgleich der probabilistische Charakter von Auslegungen nicht in jedem Fall und auch nicht ausschließlich mit Hilfe der Konventionalitätsthese begründet werden muß2, bietet die vorangegangene Argumentation dennoch Anknüpfungspunkte für eine Reihe wichtiger Annahmen, die in anderem Zusammenhang bereits erörtert wurden. Eine solche betrifft beispielsweise die Idee, daß sich die Bedeutungsvielfalt von Wörtern durch Berücksichtigung sprachlicher sowie außersprachlicher Umstände e i n schränken lasse. Nimmt man diesen Gedanken als Reaktion auf die These der Wahrscheinlichkeit, so eröffnen sich zwei Perspektiven. Entweder (I) glaubt man mit Hilfe dieser Umstände die Wortbedeutung mit »Gewißheit« eruieren zu können oder (II) man begnügt sich damit, eine »bedingte Notwendigkeit« zwischen Wort und Bedeutung auszumachen und in diesem Sinne die Interpretation als mehr oder weniger wahrscheinlich auszuweisen. 3 Einmal von Eigenheiten abgesehen, die mit (I) und (II) verknüpft sind 4 , wird vorausgesetzt, daß sich (i) die Umstände überhaupt ermitteln
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3
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Hermeneutica logica hat Alexander 1993,40ff hingewiesen. Die Diskussion zur probabilitas hermeneutica ist mannigfaltig und z.T. auch undurchsichtig; ein Panorama verschiedener Wahrscheinlichkeitsauffassungen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwirft Danneberg 1993, dort mit unzähligen Belegen, und jetzt auch Alexander 1996. Der Ausdruck >mehr oder wenigen soll darauf hinweisen, daß gemäß dieser Auffassung Grade der Wahrscheinlichkeit unterschieden werden; für eine Aufzählung verschiedener »Stuffen der Wahrscheinlichkeit« vgl. z.B. Reimarus 1756, II Th, Cap. 3, §§220ff sowie Id. 1766, II Th, Cap. 3, §§345ff. Im Gegensatz zu (II) geht (I) davon aus, daß es sich bei der »Gewißheit« um eine geradezu inhärente Eigenschaft des »Verstandes« des zu interpretierenden Textes han-
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IV. Normen der Interpretation
lassen und (ii) die ermittelten Umstände für die gewünschte Einschränkung der Bedeutungsvielfalt relevant sind. Bezogen auf (II) bedeutet die Nichterfüllung dieser Voraussetzungen freilich eine Bestätigung des bloß wahrscheinlichen oder gar ungewissen Charakters der Auslegung. Bleiben dem Interpreten beispielsweise »Umstände verborgen« (= i), so kann er unmöglich den Anspruch erheben, seine Auslegung des Textes sei »unstreitig« wahr 5 — ein Problem, dem sich der Interpret im übrigen auch dann gegenübersieht, wenn er eine beachtliche Anzahl von Umständen ermittelt hat. Unter der von Thomasius formulierten Annahme, daß wir es grundsätzlich mit »vielfältigen und fast unzehligen Umbständen« zu tun haben, besteht nämlich die Möglichkeit, daß sich die Kenntnis der Umstände erweitern und damit auch verändern kann. Geht man zudem davon aus, daß sich die »Muthmassungen« des Interpreten bezüglich der Verknüpfung von Wort und Bedeutung auf die ihm bekannten Umstände stützt, dürfte auch nicht überraschen, daß »die Veränderung des geringsten Umstandes / offte auch die Muthmassung / darauff sich die Interpretation 6 gründet / verändern« kann. In gewisser Hinsicht mutet Thomasius' Votum ausweglos an. Immerhin werden die Umstände als Reaktion auf die Behauptung der Wahrscheinlichkeit eingebracht, die ihrerseits aus der Konventionalitätsthese resultiert. Obgleich Thomasius dafür hält, daß sich die Beliebigkeit der Verknüpfung von Wort und Bedeutung durch Umstände einschränken läßt, ist er nicht bereit, die Basis solcher Einschränkungen als gewiß auszuzeichnen. Im Gegenteil: Er begründet, wie gesehen, mit Hilfe der circumstantiae, daß die Auslegung [...] nichts anders als eine deutliche und in wahrscheinlichen Muthmassungen gegründete Erklährung desjenigen [ist] / was ein anderer in seinen Schriften hat verstehen wollen / und welches zu verstehen etwas schwer oder dunckel ist.7 Nun ist Thomasius' Auffassung aber nicht ganz so auswegslos wie vermutet. Denn >wahrscheinlich< muß nicht eo ipso in Abgrenzung gegenüber >gewiß< aufgefaßt werden — zumindest nicht im Zusammenhang mit der
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delt; dazu z.B. Chladenius 1742, 10. Cap., §750 (595). Vgl. z.B. Ahlwardt 1741, §495 (401); ähnlich argumentiert Reimarus 1766, II Th, 1. Cap., §251 (264). Thomasius 1691 b, 3. Hauptstück, §64 ( 180/81 ; Hervorhebungen im Text) Ibid., §25 (163/64).
1. Skepsis, Gewißheit und Wahrscheinlichkeit
127
Auslegung. In Anzeichen unterscheidet Thomasius schon Grade der Wahrscheinlichkeit und unternimmt damit den Versuch, >Gewißheit< als Parameter in der Skala der Sicherheit wahrscheinlicher Auslegungen einzusetzen. 8 So gesehen tritt —wie später auch Crusius deutlich macht— eine »wahrscheinliche« Interpretation nicht mit einer »gewissen« in Konkurrenz, sondern allenfalls mit einer solchen, die »mehr Wahrscheinlichkeit« aufweist und in diesem Sinne (d.h. relativ auf die »als bekannt vorausgesetzten Umstände und Sätze des Verfassers«) »Gewißheit« beanspruchen darf. 9 Die Tragweite der Unterscheidung von Graden der Wahrscheinlichkeit läßt sich ermessen, wenn man nach der Relevanz der zu ermittelnden bzw. ermittelten Umstände fragt (oben, [ii]). Als Beispiel mag in diesem Zusammenhang die Parallelstellenmethode dienen. Wenngleich nicht unumstritten10, gilt dieses Verfahren als beliebte und auch weitverbreitete Strategie, um die Wahrscheinlichkeit von Auslegungen zu erhöhen. 11 Allerdings müssen hierzu einige Bedingungen erfüllt sein. Eine erste betrifft den Zusammenhang zwischen der auszulegenden und der parallelen Stelle. So reicht es nicht aus, daß dieser Konnex auf bloßer Ähnlichkeit beruht; vielmehr müssen die Stellen derart zusammenhängen, daß »dieses Verhält-
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Dazu Cataldi Madonna 1990, 377f. Crusius 1747, Cap. IX, §634 (1088). — Crusius gehört zu jenen Autoren, die den probabilistischen Charakter der Auslegung mit Hilfe der Konventionalitätsthese begründen (z.B. ibid., 1087 sowie Id. 1760, 290; entsprechend geht er davon aus, daß Interpretationen immer wahrscheinlich sind. Crusius' Unterscheidung zweier Arten der Gewißheit von Auslegungen (sie sind »hypothetice demonstrativ« oder weisen »moralische Gewißheit« auf; dazu Id. 1747, Cap. IX, §634 [Hervorhebung im Text]) erfolgt somit innerhalb der Bestimmung der Auslegung als wahrscheinliche. Diese >interne< Lokalisierung der Gewißheit hat zur Folge, daß auf der Skala der Wahrscheinlichkeiten auch der Eintrag >gewiß< auftaucht, und damit also, daß selbst wahrscheinliche Aussagen gewiß sein können. 10 Als entschiedener Gegner der Parallelstellenmethode tritt z.B. Meyer 1666, Cap. XI, §2 hervor. 11 Crusius 1747, Cap. IX, §648 (1116) meint, daß die Parallelstellen »in der Auslegung von sehr grossem Nutzen« seien und die »Gewißheit« (vgl. Anm. 9) der »Auslegung [...] dadurch ungemein vermehrt werden« könne; entsprechend bezeichnet er sie als »eine rechte Hauptquelle der Interpretation« (ibid., 1114). Ähnlich sagt auch Reimarus 1756, II Th, 1. Cap., §174 (309), daß es sich hierbei um die »beste Quelle der Erklärung (i.e. Auslegung)« handle; Chladenius 1742, Cap. 7, §300 (177) spricht von Parallelstellen gar als »gesicherte Erklärung«. — Für vergleichbare Einschätzungen im Rahmen der theologischen Hermeneutik vgl. bereits Flacius Illyricus 1567, 58/60, ferner Francke 1717, 118ff sowie ausführlich Rambach 1729, §IX (276ff).
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IV. Normen der Interpretation
niß zur gegenseitigen Bestimmung des Verstandes brauchbar sey«. 12 Mit Blick auf den parallelismus verbalis besagt diese Forderung somit, daß »die Bedeutungen der Ausdrücke der einen Stelle durch die Bedeutungen der Ausdrücke der anderen bestimmet werden können«, mit Blick auf den parallelismus realis, daß sich entsprechend die »vorgetragenen Sachen« der einen Stelle durch jene der anderen »erklären« lassen. 13 Eine zweite Bedingung betrifft die Auswahl der Parallelstellen. Sowohl beim Wortais auch beim Sachparallelismus gilt der Grundsatz der Nähe.14 Ein Parallelismus ist der »nächste« (parallelismus proximus), wenn er Stellen aus demselben Text enthält, in dem sich die auszulegende Passage findet; er ist ein »näherer« (parallelismus propior), wenn er Stellen umfaßt, die »aus eben dem Schriftsteller genommen« sind; und er ist ein »entfernterer« (parallelismus remotior), wenn »er Parallelstellen der Reden anderer Autoren« enthält, die entsprechend nicht aus derselben »Zeit« oder »desselben Volkes und Alters« stammen müssen.15 Eine dritte Bedingung schließlich betrifft die Stärke der Parallelstellen. Sofern es bei der Auslegung einer Stelle um die Ermittlung der Gedanken geht, die der Autor bezüglich einer bestimmten Sache mit bestimmten Wörtern verknüpft hat, reicht die Homonymie (die aus dem Wortparallelismus gewonnen wird) für sich genommen ebenso wenig aus wie Synonomie (Sachparallelismus).16 Entsprechend wird gefordert, daß die Mutmaßung bezüglich des Verhältnisses von Wort und Bedeutung wo immer möglich auf einen »vermischten Parallelismus« zu stützen sei, also auf den parallelismus verbalis & realis.17 Unabhängig davon, mit welchen Zusatzannahmen diese drei Bedingungen bei manchen Autoren versehen werden, gilt allgemein, daß der nächste (und allenfalls der nähere) Parallelismus, der sowohl auf verbaler als
12 Vgl. dazu etwa Baumgarten 1769, 2. Hauptstück, §32 (120). 13 Ibid. — Vgl. für diese Unterscheidung auch Crusius 1747, Cap. IX, §648f sowie Meier 1757, §151f. 14 Die folgende Unterscheidung — s i e orientiert sich an den Ausführungen von Meier 1757, §152 sowie Baumgarten 1769, 2. Hauptstück, §32 ( 1 2 1 ) — ist nicht zu verwechseln mit jener zwischen der »näheren« und »entfernteren Möglichkeit der Bedeutung«, wie man sie etwa bei Reimarus 1766, II Th, 1. Cap., 255 (272) antrifft. Mit entferntere M ö g l i c h k e i t meint Reimarus die Bestimmung der Bedeutung durch Grammatik und Wörterbuch, wohingegen er unter >nähere Möglichkeit die Bestimmung anhand von »parallel= oder ähnlichen Stellen« versteht. 15 Vgl. auch Reimarus 1766, II Th, 1. Cap., §255 (272). 16 Näheres dazu bei Szondi 1975, 125ff. 17 Vgl. z.B. Crusius 1747, Cap. IX, §649, Meier 1757, §154 (83) sowie Reimarus 1766, II Th, 1. Cap., 255 (272/73).
1. Skepsis, Gewißheit und Wahrscheinlichkeit
129
auch auf sachlicher Ähnlichkeit beruht, Auslegungen »mehr Wahrscheinlichkeit« beschert als jeder andere. Nun ist diese Auszeichnung in mindestens zweierlei Hinsicht aufschlußreich: (a) muß nach Gründen gefragt werden, weshalb eine solche Auszeichnung gerechtfertigt ist; hier zeigt sich, daß den oben genannten Bedingungen selbst wiederum eine Reihe von Annahmen zugrundeliegen. Bereits die Erörterung einer solchen Annahme führt (b) auf Charakteristika eines bestimmten Interpretationstypus, der zugleich ein wichtiger Orientierungspunkt für die Auffassung von der probabilitas hermeneutica bietet. Vorab zu (a). Wie erwähnt, sollen mit Hilfe von Parallelismen Dunkelheiten aufgehellt und auf diesem Wege die Gedanken ermittelt werden, die der Autor durch Worte zu vermitteln beabsichtigt. Damit dieses Ziel erreicht werden kann, ist es erforderlich, daß für den Autor sowohl an der auszulegenden als auch an der parallelen Stelle »dieselben Ursachen« zum Gebrauche »derselben Worte« leitend waren 18 , oder moderner formuliert: daß die Aussagen des Autors in dem zu interpretierenden Text konsistent sind. Daß die Annahme der Konsistenz 19 allerdings auch Probleme birgt, zeigt bereits ein Blick auf den »näheren« Parallelismus, bei dem in der Regel das Œuvre des Autors herangezogen wird. In Anlehnung an die obige Formulierung gilt zwar auch hier, daß der Autor »dasjenige / von dem er einmahl zu reden angefangen / allezeit in seinen folgenden Reden für Augen habe / und selbiges also stillschweigend auch in denen folgenden Reden darunter müsse begriffen werden«. 20 Doch wird diese Forderung nicht selten mit dem Vorbehalt geäußert, daß der Autor durchaus seine Meinung »ändern« könne, und der Interpret somit angehalten sei, die parallelen Stellen z.B. mit einem Zeitindex zu versehen. 21 Auf der Grundlage einer solchen Indexierung ergeben sich mindestens zwei Strategien, wie das Problem der Meinungsänderung zu beheben ist. Die eine Strategie besagt, daß aus den Kandidaten möglicher Parallelstellen nur jene zu verwenden seien, die »von ihm [i.e. dem Verfasser] aus unveränderter Meinung sind geschrieben worden« und also eine Konstanz der Autorenmei-
18 So etwa ibid., § 6 5 0 ( 1 1 2 0 ) . 19 Ich komme auf die Konsistenzunterstellung im Zusammenhang mit der Billigkeitsforderung zurück (Kap. IV. 2 und IV. 3). 20 Vgl. Thomasius 1691b, 3. Hauptstück, §72 (184/85). 21 Chladenius 1742, Cap. 7, §303 (179): »Weil aber ein Schrifft=Verfasser die Stellen nicht auf einmal, sondern zu verschiedenen Zeiten schreibt, da er unterdessen seine Meinung kan geändert haben, so darff man die Parallel=Stellen eines Verfassers nicht ohne Unterscheid zusammen rechnen [...].«
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IV. Normen der Interpretation
nung anzeigen. 22 Die andere Strategie schlägt demgegenüber vor, lediglich die —zeitlich gesehen— letzten Stellen heranzuziehen, da »man seine [i.e. des Autors] letzte Meinung für seine rechte Meinung müsse annehmen«. 23 So unterschiedlich diese Strategien auch ausgerichtet sein mögen, so einheitlich ist ihre Grundlage. Hier wie dort wird davon ausgegangen, daß der Autor weiß, welche Gedanken er mit welchem Wort zu welchem Zwecke verknüpft hat. Begründen läßt sich diese Art von Wissen mit Hilfe eines erkenntnistheoretischen Arguments, wie es etwa von Thomasius vorgetragen wird: Weil die Gedanken des Autors durch dessen Seele verursacht werden, weiß er »gewiß«, welches seine Gedanken sind; und weil Gedanken —wollen sie mitgeteilt werden— nach bestimmten Mitteln >verlangenhermeneutisch gewiß< vs. 28 So die Einschätzung der interpretatio authentica z.B. bei Meier 1757, § 138 (75). 29 Nur im Vorübergehen sei erwähnt, daß diese Überlegung (auf die ich noch zurückkommen werde) dem Umkehr-Verhältnis verpflichtet ist. 30 Was es heißt, daß dem Autor Regeln »bekannt« sind, wird unten erörtert. 31 Vgl. für das folgende Meier 1757, §234 (122).
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IV. Normen der Interpretation
>hermeneutisch wahrscheinlich eine Option. Laut Meier ist der Sinn hermeneutisch gewiß, wenn der Ausleger klar erkennt, daß er »allen denen Regeln gemäß sey, die bey ihm in Betrachtung gezogen werden können«; und hermeneutisch wahrscheinlich ist der Sinn, wenn er »mehreren Regeln zukomme als widerspreche«.32 Die angedeutete Option ergibt sich aus der Charakterisierung der »hermeneutischen Regeln« als solche, »vermöge welcher ein jeder anderer möglicher Sinn verworfen werden muß«. 33 Da diese Charakterisierung sowohl in die Definition von >hermeneutisch gewiß< als auch in jene von >hermeneutisch wahrscheinlich< eingesetzt werden kann, lassen sich entsprechend in beiden Fällen mit Hilfe hermeneutischer Regeln alternative Auslegungen ausschließen oder —in der Terminologie Meiers— die »hermeneutische Notwendigkeit« des Sinns aufzeigen. 34 Eigentlich müßte mit dieser Option die Unterscheidung zwischen >hermeneutisch wahrscheinlich< und >hermeneutisch gewiß< hinfällig werden. Und das wäre in der Tat korrekt, würde der Begriff der h e r meneutischen Regel< nicht noch eine zweite Charakterisierung verlangen. Sie läßt sich der bereits zitierten Definition von >hermeneutisch gewiß< entnehmen. Wie ausgeführt, muß der hermeneutisch gewisse Sinn »denen Regeln gemäß seyn, welche bey ihm in Betrachtung gezogen werden«. Trivialerweise hat es sich hierbei um Regeln zu handeln, die dem Ausleger bekannt sind. Nimmt man in diesem Zusammenhang die authentische Interpretation zur Vorlage, so sind dies näherhin Regeln, die dem Ausleger als Autor seiner eigenen Schrift bekannt sind und den Zeichengebrauch betreffen bzw. das Verhältnis von —allgemein gesagt— Mittel und Zweck. Spätestens mit dem Hinweis auf die Zweck-Mittel-Relation dürfte klar werden, in welcher Hinsicht sich die doktrinale Auslegung an der interpretatio authentica auszurichten hat. Wenn es richtig ist, daß mit der begründeten Einsicht in die Zweck-Mittel-Relation durch den authentischen Ausleger die hermeneutische Notwendigkeit des Sinns aufgezeigt werden kann, so hat der doktrinale Interpret seine Zielsetzung an der authentischen Interpretation zu orientieren, das heißt: er hat sich —wie der au32 Ibid., §239 (124/25). 33 Ibid., §245. 34 Vgl. ibid.: »Die hermeneutische Notwendigkeit, (necessitas hermeneutica), ist diejenige Bestimmung eines Sinnes durch alle hermeneutische Regeln, vermöge welcher ein jeder anderer möglicher Sinn verworfen werden muß. Folglich ist ein jedweder Sinn, welcher hermeneutisch nothwendig ist, entweder hermeneutisch gewiß, oder hermeneutisch wahrscheinlich.« (Hervorhebung im Text).
1. Skepsis, Gewißheit und Wahrscheinlichkeit
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thentische Ausleger— um eine begründete Einsicht in die Zweck-MittelRelation zu bemühen. Wird das Ziel der doktrinalen Auslegung in dieser Weise bestimmt (und die Überlegungen zur Analyse als Interpretation haben gezeigt, daß die meisten Autoren dies tun 35 ), sollte es auch dem doktrinalen Ausleger gelingen, die hermeneutische Notwendigkeit des Sinns aufzuzeigen. Natürlich bleibt die Kluft: Der vom authentischen Ausleger als hermeneutisch notwendig ausgewiesene Sinn ist hermeneutisch gewiß, jener des doktrinalen Interpreten dagegen ist hermeneutisch wahrscheinlich. Der doktrinale Interpret wird nicht mit derselben Gewißheit wie der authentische Ausleger wissen können, welche Regeln diesem als Verfasser seines Textes bekannt sind. Entsprechend kann vom doktrinalen Interpreten auch keine »apodictische Gewißheit« verlangt werden. 36 In jedem Fall muß davon ausgegangen werden, daß die Basis dessen, was ihm bekannt ist, revidierbar ist und seine Auslegungen mithin auf hypothetischen Annahmen, auf »Muthmassungen«, gründen. Der Hinweis auf hypothetische Annahmen führt unweigerlich an den Beginn des Kapitels zurück. Was genau wird angenommen und aus welchen Gründen? Die Überlegungen zur interpretatio authentica weisen die Richtung. Immerhin ist es die authentische Auslegung, die die Erfüllung der Zweck-Mittel-Relation (durch den Autor) als Faktum auszuweisen vermag. Allerdings können sich bereits an dieser Stelle Vorbehalte einschleichen. Denn erstens liegt nicht zu jedem Text eine authentische Auslegung vor; und zweitens ist Authentizität nicht in jedem Fall Garant für eine begründete hermeneutische Erkenntnis. Hat man ein Interesse daran, diese Vorbehalte nicht einfach vom Tisch zu fegen und dennoch an der interpretatio authentica festzuhalten, gilt es entsprechend, die Frage der Beweiskraft der authentischen Auslegung neu zu formulieren. In Fällen, da authentische Auslegungen vorliegen, scheint die Angelegenheit einfach. Sie lassen sich —wie schon erläutert— entweder (i) für die Interpretationspraxis nutzen, und zwar als hermeneutisch zureichender Grund; oder sie werden (Ii) in die Interpretationstheorie eingebaut im Sinne eines Grundsatzes der authentischen Auslegung, der besagt, (1)
daß die Erfüllung der Zweck-Mittel-Relation durch den Autor eine res facti ist.
35 Dazu Kap. III. 4, 121 f. 36 Vgl. dazu z.B. Meier 1757, §24 und §242.
134
IV. Normen der Interpretation
In Fällen nun, da keine authentische Auslegungen vorliegen, läßt sich auf (I) trivialerweise nicht zurückgreifen 3 7 ; wohl aber kann (Ii) geltend gemacht werden. Allerdings muß zu diesem Zwecke die Orientierung an (1) idealtypisch oder —wenn man so will— normativ aufgefaßt werden. Demgemäß besagt der (an der authentischen Auslegung ausgerichtete) Grundsatz der doktrinalen Interpretation, (2)
daß die Erfüllung der Zweck-Mittel-Relation durch den Autor eine res facti sein sollte.
Es gibt mehrere Vorzüge von (2). So liefert eine normative Deutung der Erfüllung der Zweck-Mittel-Relation gute Gründe für die Annahme, daß ein Autor, der gemäß dieser Relation verfährt, in bestimmter Weise auszuzeichnen sei. Wie andere, charakterisiert auch Meier in weitgehender Übereinstimmung mit damaligen Klugheits- und Sittenlehren einen solchen Autor als »weise«, »vernünfftig« oder »klug«. 38 Die Verbindung zur Zweck-Mittel-Relation ergibt sich insofern nahtlos, als unter >Klugheit< die »Beschäftigung« mit »der Einsicht des Zusammenhangs der Zwecke und Mittel« verstanden wird. Nimmt man diese Umschreibung ernst, so ist es nur konsequent, wenn die Annahme der »Klugheit« oder —modern ausgedrückt— die (Zweck-)Rationalitätsunterstellung 39 in den Grundsatz der doktrinalen Interpretation aufgenommen wird: (3)
Soll die Erfüllung der Zweck-Mittel-Relation eine res facti sein, dann muß der Autor (im oben bestimmten Sinne) rational sein.40
Wie gesagt, es handelt sich beim zweiten Teil von (3) um eine Annahme im Rahmen der Interpretationstheorie. Gemäß den vorangegangenen Überlegungen bildet sie aber zugleich einen Bestandteil von (2) und dürfte so gesehen auch die Interpretationspraxis betreffen. Die Unterscheidung
37 Entsprechend stellt sich der erste der oben genannten Vorbehalte in diesem Zusammenhang nicht. 38 Meier 1757, §31; vgl. auch die Charakterisierung von »Weisheit« bei Chladenius 1742, Cap. 10, §726 (575), ferner Reimarus 1756, II Th, 1. Cap., §174 (315). Für Anleihen an damalige Klugheits- und Sittenlehren vgl. auch die Hinweise bei Walch 1726b, 1279-1289. 39 Vgl. für die Nähe zur modernen Bestimmung von Zweckrationalität z.B. die Formulierung von Wolff 1720a, §327 (215). 40 Dazu bündig die Präsumtion bei Crusius 1747, Cap. IX, §636 (1093): »Man präsumiret, daß ein Verfasser dasjenige sage, was sich zu seinem Zwecke schicket.«
2. Rationalität und Wahrheit
135
zwischen Interpretationstheorie und -praxis soll an dieser Stelle lediglich auf den unterschiedlichen Geltungsbereich der besagten Annahme hindeuten. Im Kontext der Theorie —so werde ich in der Folge differenzieren— stellt die Annahme in (3) unter normativen Vorzeichen eine Forderung dar, die an den Autor gerichtet ist und besagt, er solle rational sein. Im Falle der Praxis dagegen verpflichtet die besagte Annahme (wiederum im normativen Sinne) den Ausleger zur Unterstellung, daß der Autor rational sei. Anders formuliert: Während sich die Praxis mit der Frage konfrontiert sieht, weshalb die Unterstellung des Auslegers (i.e. >Der Autor ist rational·) gerechtfertigt sei, muß die Theorie darüber hinaus erklären, aus welchen Gründen die Forderung an den Autor (i.e. >Der Autor soll rational seingerecht< wird verständlicher, wenn man sich allfällige Ungerechtigkeiten sowie deren Konsequenzen ausdenkt. Im ungünstigsten Fall geht der Ausleger vorsätzlich davon aus, daß der zu interpretierende Text keinem oder einem andern als dem vom Autor gesetzten Zweck gemäß eingerichtet ist. Entsprechend wird er dem Autor in seinen Auslegungen falsche oder widersprüchliche Meinungen zuschreiben. Unbillig und damit ungerecht ist diese Vorgehensweise, weil der Ausleger unbegründeterweise die Möglichkeit ausschließt, der Autor habe die (moralische oder anderweitige) Pflicht zur Kommunikation wahrgenommen. 44 Die methodologische Begründung der Unterstellung besagt allgemein, daß hermeneutische Erkenntnis als Ziel der doktrinalen Auslegung nur unter der Voraussetzung billigen Verhaltens gegenüber dem Autor erreicht werden kann. Diese Aussage läßt sich unterschiedlich gewichten.
42 Hierzu die >Sollens-Analyse< in Kap. III. 2, 97ff. 43 Wolff 1753, §582 (für die inhaltliche Verknüpfung von >aequus< und >rectus< bei Wolff vgl. Id. 1746, §465), ferner Meier 1757, §89 und §91. — Obgleich die Rationalitätsunterstellung die wohl wichtigste Form der Billigkeit des Auslegers ist, handelt es sich nicht um die einzige (s.u.); allgemein zur »hermeneutischen Billigkeit« vgl. Scholz 1992. 44 Zur Gestalt des Auslegers als Calumniator vgl. u.a. Clauberg 1654, III, §21 sowie Thomasius 1710a, XIII. Cap., 266f; zur »Erdichtung« von Zwecken und entsprechend zu Formen der »Andichtung« von Sinn durch den Ausleger vgl. die Bemerkungen von Crusius 1747, Cap. IX, §647 (1115); dazu auch Meier 1757, §121, dort im Zusammenhang mit der accommodatio. — Vgl. femer die moralisierenden Äußerungen z.B. von Wolff 1713, 14. Cap., §5 zur »Consequentien-Macherey« (auch Id. 1728, §1046 und Meier 1752a, §565 sowie Id. 1757, §206).
2. Rationalität und Wahrheit
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Gemäß der einen Version betrifft die Voraussetzung billigen Verhaltens den Ausgangspunkt der Interpretation; der zweiten Version zufolge richtet sie sich auf deren Verlauf. Was den Ausgangspunkt angeht, zielt die methodologische Begründung auf eine Beantwortung der Frage ab, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit hermeneutische Erkenntnis überhaupt möglich ist. 45 Die Charakterisierung der hermeneutischen Erkenntnis als Einsicht in die Zweck-Mittel-Relation gibt hier erste Hinweise. Sofern unterstellt werden darf, daß der Autor zweckgemäß handelt, kann auch billig angenommen werden, daß er mit seiner Handlung (i.e. dem Verfassen des Textes) beim Adressaten etwas zu bewirken beabsichtigt. Diese Unterstellung habe ich im Rahmen der >Sollens-Analyse< ausgiebig diskutiert. An dieser Stelle ist lediglich von Belang, daß sie offenbar einen Rückschluß auf eine noch grundlegendere Annahme erlaubt. Geht man nämlich davon aus, es sei der »natürliche Zweck der Rede, daß man verstanden seyn will«, und ist man sich darüber einig, daß die »Gedanken« des Autors den Gegenstandsbereich der Erkenntnisvermittlung bilden, so wird man sich auch damit einverstanden geben, daß der Zweck der Rede darin besteht, »andern seine Gedanken beyzubringen«; und dieses Einverständnis wiederum bildet die Voraussetzung für die (grundlegende) Annahme, wonach »jedes Wort [...] eine Bedeutung« bzw. »jede Rede allzeit einen Verstand« hat. 46 Dieser Gedankengang mag aus moderner Perspektive problematischer erscheinen als aus damaligem Blickwinkel. In der Tat ist die Verknüpfung der drei ersten Aussagen mit der letzten nur einsichtig, wenn die Überzeugung geteilt wird, daß zwischen »Verstand« und »Zweck« eine Beziehung besteht. Diese Überzeugung ist zunächst in konstruktiver Absicht zu formulieren; danach herrscht zwischen den genannten Komponenten nicht eine beliebige, sondern eine konventionell festgelegte Relation. Im Falle der obigen Annahme, wonach der »natürliche Zweck« einer Rede darin besteht, verstanden zu werden, dürfte per conventionem festgelegt sein, daß
45 Auf die Bedeutung von Unterstellungen für den Verlauf der Interpretation komme ich in Kap. IV. 3 zu sprechen. — Wie die zuletzt formulierte Frage bereits andeutet, wird die Unterscheidung zwischen Ausgangspunkt und Verlauf auf eine Charakterisierung der Unterstellung als notwendige Bedingung von Verstehen bzw. Interpretieren auf der einen, als Interpretationsanweisung auf der anderen Seite hinauslaufen (s.u.). 46 Vgl. dazu Baumgarten 1769, §11, ferner Wolff 1713, 2. Cap., §3, Überschrift, sowie Meier 1752a, §498 und Id. 1757, §109. — Auch für Lambert 1764, Semiotik, §302 ist im Rahmen seiner Billigkeitsforderung entscheidend, daß die »Redensart, so wie sie konstruiert wird, einen Verstand haben solle«.
138
IV. Normen der Interpretation
der Verstand der Rede der »eigentliche« bzw. »buchstäbliche« ist. Der Vorzug einer Konventionalisierung der Beziehung zwischen —in diesem Fall— buchstäblicher Bedeutung und Zweck liegt auf der Hand. Immerhin kann nun von der Unterstellung, der Autor handle zweckgemäß, billig abgeleitet werden, daß er »deutlich« bzw. »mit dem Sprachgebrauch rede [...] und Dunkelheit und Zweydeutigkeit verhüte«. 47 In kritischer Absicht muß die besagte Überzeugung ausschließen, daß Wörter »ohne Bedeutung« zweckgemäß sind. Diese Ausgrenzung hat ebenfalls ihren Vorzug. Wird abgestritten, daß sich »ohne Bedeutung« überhaupt etwas bewirken läßt, kann umgekehrt aufgrund der Annahme, der Autor handle zweckgemäß, unterstellt werden, er strebe die von ihm beabsichtigte Wirkung mit Wörtern an, die tatsächlich etwas bedeuten. An dieser Stelle ist eine Zwischenbilanz angebracht. Die Rechtfertigung der Rationalitätsunterstellung mit Hilfe der Zielsetzung der Auslegung hat auf eine Reihe weiterer billiger Annahmen geführt: Gibt es Gründe für die Zuschreibung zweckgemäßen Handelns, so darf auch unterstellt werden, daß mit der Handlung eine bestimmte Wirkung beabsichtigt und diese Wirkung mit tauglichen Mitteln angestrebt wird. Soll Verstehen bzw. Interpretieren in der Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen den vom Autor benutzten Mitteln und dem von ihm gesetzten Zweck bestehen, dann muß also unterstellt werden, daß der Autor genau jene (sprachlichen) Mittel wählt, die seinen Zwecken gemäß sind, und er in diesem Sinne also »klug« bzw. rational handelt. Mit dieser Formulierung möchte ich zweierlei andeuten: Erstens soll klar werden, daß es sich bei der Rationalitätsunterstellung um eine Bedingung handelt; und zweitens, daß diese Bedingung erfüllt sein muß, damit Verstehen bzw. Interpretieren möglich ist, kürzer: daß es sich bei der Unterstellung der Klugheit um eine notwendige Bedingung der Möglichkeit des Verstehens bzw. Interpretierens sprachlicher Zeichen handelt. 48 Mit der Auszeichnung der Rationalitätsunterstellung als notwendige Bedingung ist zugleich der Ausgangspunkt des Verstehens bzw. Interpretierens festgelegt. Der Interpret muß antizipierend, d.h. »ehe er sich an die Auslegung macht«, unterstellen, daß die vom Autor benutzten Wörter etwas bedeuten, daß sie zweckgemäß bzw. »klüglich erwählt« sind, und 47 So Crusius 1747, Cap. IX, §636 (1092) sowie §643 (1106). 48 Vgl. dazu (allerdings auf Wolff bezogen) die knappen Bemerkungen von Cataldi Madonna 1994, 40 sowie Biihler/Cataldi Madonna 1996, L X X X , wo die Zweckrationalität des Autors als »notwendige Bedingung dafür, hermeneutische Wahrheit zu erlangen«, bezeichnet wird.
2. Rationalität und Wahrheit
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damit, daß der Autor über die »Vollkommenheit der Klugheit« verfügt. 4 9 Der antizipierende Charakter der Rationalitätsunterstellung ist deshalb zu betonen, weil er eine Reihe von Auswirkungen auf die Interpretationspraxis hat. Zunächst einmal betrifft er den Gegenstandsbereich des Verstehens bzw. Interpretierens. Bereits im Zusammenhang mit der von Thomasius in seiner Auszübung erstellten Typologie möglicher Dunkelheiten wurde hervorgehoben, daß Wörter »ohne Bedeutung« unter die Rubrik jener Fälle zu subsumieren sind, die sich nicht interpretieren lassen. 50 Unter Hinweis auf die Rationalitätsunterstellung schränken nun auch Autoren wie Meier den Gegenstandsbereich des Verstehens bzw. Interpretierens auf Zeichen ein, die »etwas bedeuten«, und grenzen damit all jene aus, die »thöricht erwählt sind«, d.h. »keine Bedeutung, oder eine schlechte« haben. 51 Natürlich ist Meiers Ausgrenzung »thöricht« erwählter Zeichen nur vor dem Hintergrund seiner Zielsetzung des Verstehens bzw. Interpretierens gerechtfertigt. Lediglich dann, wenn hermeneutische Erkenntnis angestrebt und also unterstellt wird, daß der Autor rational handelt, ist es dem Ausleger möglich, bezüglich der vom Autor zweckgemäß benutzten Zeichen Interpretationshypothesen zu bilden. Im Falle »thöricht« erwählter Zeichen ist die Bedingung der Rationalität jedoch nicht erfüllt; somit können diese Zeichen auch nicht als Grundlage für Interpretationshypothesen dienen. 52 Mit der Eingrenzung des Gegenstandsbereichs der Interpretation mittels Rationalitätsunterstellung ist also zugleich die Basis möglicher Interpretationshypothesen geschaffen. Diese (wie man sie nennen könnte) heuristische Funktion der Rationalitätsunterstellung 53 wird besonders deutlich, wenn man sich noch einmal die Charakterisierung von »klüglich erwählt« vor Augen führt. Wie erwähnt, bezieht Meier diese auf Zeichen, die einem bestimmten Zweck gemäß sind. Entsprechend gilt eine Rede dann als »klüglich erwählt«, wenn sie aus Zeichen besteht, die zweckge-
49
Zu solch antizipierenden Unterstellungen vgl. M e i e r 1757, z.B. § 1 1 , § 1 3 , § 9 5 s o w i e § 1 0 9 , ähnlich C h l a d e n i u s 1742, Cap. 8, § 3 7 9 ( 2 6 3 ) , Cap. 9, § 5 3 6 ( 3 9 9 ) und Cap. 10, § 6 6 7 ( 5 0 9 ) .
50
D a z u die Ü b e r l e g u n g e n in Kap. III. 3, 111.
51
M e i e r 1757, z.B. § 13 und §85: » [ . . . ] so können nur willkührliche Z e i c h e n , die klüg-
52
V g l . ibid., §85: » F o l g l i c h versucht e s ein A u s l e g e r nicht einmal, willkührliche Z e i -
lich erwählt sind, in s o ferne sie dergleichen sind, ausgelegt werden.« chen auszulegen, die thöricht erwählt sind [ . . . ] . « 53
In Kap. IV. 3, 15 l f wird knapp von der evaluativen stellung die Rede sein; dazu auch Petrus 1996b.
Funktion der Rationalitätsunter-
140
IV. Normen der Interpretation
mäß sind. Der klüglich erwählten Rede stellt Meier nun jene gegenüber, die der Autor »ohne Verstand herschwatze, oder zusammenschmiere«. 54 Diese Gegenüberstellung ist u.a. auch bei Wolff wirksam. In seiner Deutschen Logik hält er nachdrücklich fest, daß nur »mit Verstand geschriebene« Schriften, in denen »alles wohl zusammen hängt«, verstanden werden können, nicht aber solche, die »ohne Verstand zusammen geschrieben« und bei denen »das Hintere mit dem Förderen nicht zusammen hanget«. 55 Abgesehen von der bereits diskutierten Eingrenzung des Gegenstandsbereichs des Interpretierens auf »vernünfftige Schrifften«, ist Wolffs Votum aufgrund der Wendung »ohne Verstand geschrieben« aufschlußreich; sie taucht auch in §892 seiner Lateinischen Logik auf: Si compilator verbis connectit, quorum unum ex altero non infertur, vel cumulât, quae sibi mutuo repugnant, sine judicio scriptum suum compilavit. Geht man mit Wolff davon aus, daß Texte sine judicio —weil sie z.B. widersprüchliche Meinungen aufweisen— aus dem Gegenstandsbereich des Interpretierens fallen, kann ex negativo festgelegt werden, daß mit Verstand geschriebene Texte grundsätzlich interpretierbar sind und damit eine geeignete Basis für die Interpretationshypothese bilden, daß der zu interpretierende Text keine widersprüchlichen Meinungen aufweist. 56 Diese Hypothese führt auf einen interessanten Punkt. Offenbar hängt gemäß Wolff die antizipierende Zuschreibung von (Zweck-)Rationalität eng mit der Zuschreibung widerspruchsloser bzw. konsistenter Meinungen zusammen. Bevor auf das Verhältnis dieser beiden Unterstellungen eingegangen wird, gilt es zu klären, was die Konsistenzunterstellung genau besagt. Bereits ein oberflächlicher Blick in die Hermeneutiken der Zeit gibt Hinweise. Bei Thomasius beispielsweise findet sich (im Zusammenhang mit dem Parallelstellenverfahren) der Grundsatz, man solle »nicht leichte« mutmaßen, daß ein Autor »seiner vorigen Meinung werde widersprechen 54 Meier 1757, §110, ferner ibid., §138. 55 Vgl. Wolff 1713, 10. Cap., §23 (dazu auch ibid., §18), ferner ibid., 12. Cap., §1 (dazu auch Id. 1728, §968). Zur Charakterisierung von Schriften, die »ohne Verstand« geschrieben sind, sowie für Gründe, solche Texte nicht zu interpretieren, vgl. auch Stiebritz 1741, §272 (361/62), ferner Crusius 1747, Cap. IX, §628 (1079/80) sowie Lambert 1764, Semiotik, §308. — Eine Eingrenzung des Gegenstandsbereichs der Auslegung auf »mit Verstand verfaßte Schriften« nimmt u.a. schon Clauberg 1654, III, §51 vor, der das Interpretationsgeschäft auf die oratio a sapiente & bono authore prolata beschränkt wissen will. 56 Vgl. dazu auch Id. 1754, §804f.
2. Rationalität und Wahrheit
141
und sich contradiciren«.51 Ganz ähnlich hält Crusius fest, man dürfe nicht »präsumiren«, daß der Autor »sich selbst widerspreche« — andernfalls sähe man sich genötigt, ihm u.a. sachliche Inkompetenz zu unterstellen.58 Die Verknüpfung zwischen Formen der Inkonsistenz und sachlicher Inkompetenz wird durch einen Umweg über Meier verständlicher. An mehreren Stellen der Auslegungskunst werden die Ausdrücke >widersprechend< und >logisch falsch< in einem Atemzug genannt59, wobei sich letzterer klar auf das Verhältnis von »Aussagen« und »Sachen« bezieht. Danach ist eine Aussage (des Autors) logisch wahr bzw. falsch, wenn sie mit den durch sie repräsentierten Sachverhalten übereinstimmt bzw. nicht. 60 Die entscheidende Pointe besteht nun darin, daß für Meier (wie im übrigen auch für Crusius) Aussagen, die im eben bestimmten Sinne wahr sind, auch miteinander verträglich sind, so daß aus der Zuschreibung logisch wahrer Aussagen eo ipso die Zuschreibung miteinander verträglicher Aussagen folgt. 61 Vor diesem Hintergrund dürfte klar sein, daß die Konsistenzunterstellung ein Spezialfall der billigen Annahme darstellt, der Autor halte für wahr, was tatsächlich, d.h. logisch wahr ist.
57 T h o m a s i u s 1691b, 3. Hauptstück, §70 (185; zweite Hervorhebung im Text); vgl. f ü r den Z u s a m m e n h a n g zwischen Parallelstellen-Methode und Konsistenzunterstellung die B e m e r k u n g e n in Kap. IV. 1, 127ff. Zur Konsistenzunterstellung bei T h o m a s i u s vgl. Petrus 1996b. 58 Crusius 1747, Cap. IX, §636 (1091/92): »So lange man von jemanden nicht zuverläßige Beweisgründe der Thorheit, Unbesonnenheit, oder eines Verstandes hat, welcher den vorhabenden Sachen nicht gewachsen ist [...]; so muß man nicht präsumiren, daß er sich selbst widerspreche.« — Zur Konsistenzunterstellung allgemein vgl. auch die Formulierung bei Chladenius 1742, Cap. 9, §536 (399). 59 Vgl. Meier 1757, z.B. §199. 60 Vgl. zu dieser Bestimmung der logischen Wahrheit ausführlich Rüdiger 1709, 27 sowie Id. 1723,1, 92 (dazu auch Thomasius 1710a, 127 sowie die Charakterisierung der logischen Wahrheit in Kap. II. 3, A n m . 86). Für eine Unterscheidung der logischen Wahrheit von der moralischen und metaphysischen vgl. Müller 1728, 106f, f ü r eine Abgrenzung der logischen Wahrheit gegenüber insb. der hermeneutischen, dogmatischen und historischen Wahrheit vgl. Baumgarten 1769, 1. Hauptstück, §6 (23); knappe Charakterisierungen der unterschiedlichen Wahrheitsauffassungen finden sich bei Walch 1726b, 1445f. 61 Vgl. M e i e r 1757, z.B. §170, §175 und §199, ferner Crusius 1747, Cap. IX, §636; zur Konsistcnzunterstellung bei Meier und Crusius vgl. auch die B e m e r k u n g e n von Scholz 1992, 303. — Die auf dem Verhältnis von Wahrheits- und Konsistenzunterstellung basierenden Interpretationshypothesen wären entsprechend so zu formulieren, daß der Autor nicht zwei Aussagen f ü r wahr hält, wenn deren Konjunktion notwendigerweise falsch ist; zu diesem Begriff der Konsistenz (der weiter gefaßt ist als j e n e r der logischen Konsistenz) vgl. Künne 1990, 223.
142
IV. Normen der Interpretation
Mit dieser (durchaus modernen) Deutung der Konsistenzunterstellung verlagert sich der Akzent nunmehr auf das Verhältnis von Rationalitätsund Wahrheitsunterstellung. Wie schon angedeutet, bezieht sich die Wahrheitsunterstellung inhaltlich auf die billige Annahme, daß der Autor für wahr hält, was tatsächlich wahr ist. Bei Meier beispielsweise wird diese Unterstellung an den »Vollkommenheiten« des Autors ausgerichtet. 62 An prominenter Stelle seiner Hermeneutik verlangt er vom Ausleger »hermeneutische Billigkeit«, d.h. die »Neigung eines Auslegers, diejenigen Bedeutungen für hermeneutisch wahr zu halten, welche, mit den Vollkommenheiten des Urhebers der Zeichen, am besten übereinstimmen, bis das Gegentheil erwiesen ist«. 63 Nun findet sich in der Tat unter diesen perfectiones auch die »Wahrheit«. 64 Entsprechend kann Meier vom Ausleger fordern, daß er Interpretationshypothesen zu bilden habe, die der perfectio der Wahrheit gemäß seien, im Klartext: daß er »bey der Auslegung willkührlicher Zeichen, die Bedeutungen, welche logisch [...] wahr sind, denenjenigen vorfzieht], welche logisch [...] falsch sind«. 65 Meiers Forderung lassen sich mehrere Besonderheiten entnehmen. 6 6 Zunächst geht es bei der hermeneutischen Billigkeit darum, bestimmte »Bedeutungen« für hermeneutisch wahr zu »halten«. Die Charakterisierung der »hermeneutisch wahren Bedeutung« als »Absicht um derentwillen der Urheber des Zeichens dasselbe gebraucht« 67 , führt auf die Zielsetzung der Auslegung und damit, zumindest indirekt, auf die Rationalitätsunterstellung zurück: Will der Interpret hermeneutische Wahrheiten gewinnen, hat er den sensus verus zu eruieren; und damit der wahre Sinn ermittelt werden kann, muß er unterstellen, daß der Autor den von ihm verfolgten Zweck mit tauglichen Mitteln anstrebe, mithin rational sei. 68
62
63 64
65 66 67 68
A n dieser Stelle soll noch unberücksichtigt bleiben, daß Meier mitunter von » V o l l kommenheiten des Urhebers« spricht (Id. 1757, z.B. §39), mitunter aber von » V o l l kommenheiten der Zeichen« (Id. 1748ff, z.B. §516); zu diesem Problem, das im übrigen kein terminologisches ist, vgl. die Ausführungen in Kap. IV. 3, 147f. Meier 1757, §39, dort in »Absicht auf GOtt«; im Zusammenhang mit willkürlichen Zeichen vgl. § 8 9 (für diese Formulierung vgl. Baumgarten 1761, §464). D i e perfectio der Wahrheit fällt bei Meier nebst anderen unter die Rubrik der » V o l l kommenheit der Erkenntniß« des Autors, die ihrerseits nur eine unter zahlreichen perfectiones darstellt; vgl. dazu Id. 1757, §197, ferner ibid., §96. Meier 1757, §101, ähnlich ibid., §169 und §199. Zu weiteren Aspekten sowohl des Billigkeitgrundsatzes als auch der Billigkeitsforderung vgl. unten, Kap. IV. 3 und IV. 4. Meier 1757, §17 (9/10), ferner ibid., §118. Vgl. ibid., § 8 9 s o w i e z.B. §121.
2. Rationalität und Wahrheit
143
Der Zusammenhang zwischen der Ermittlung des sensus verus und der Rationalitätsunterstellung führt auf eine zweite Besonderheit der Billigkeitsforderung, die nun den Status der Wahrheitsunterstellung betrifft. Gemäß der Auszeichnung der (logischen) Wahrheit als perfectio des Autors, scheint die Annahme, der Autor halte für wahr, was tatsächlich wahr ist, für die Ermittlung des sensus verus ebenfalls konstitutiv zu sein. 69 Dabei soll der Ausdruck >ebenfalls< insofern streng aufgefaßt werden, als im Urteil Meiers offenbar zum Verstehen sowohl die Rationalitätsforderung (>Der Autor handelt rational) als u.a. auch die Wahrheitsunterstellung (>Der Autor hält für wahr, was tatsächlich wahr istebenbürtige< Einschätzung der Rationalitäts- und Wahrheitsunterstellung hinsichtlich ihres Status legt schließlich eine dritte, zugleich problematische Besonderheit der Billigkeitsforderung nahe. Sie betrifft, in Kürze gesagt, das Verhältnis von hermeneutischer und logischer Wahrheit. Wie andere Autoren bestimmt auch Meier diese Beziehung vornehmlich negativ 71 : Von der hermeneutischen Wahrheit eines Sinns könne nicht auf dessen logische Wahrheit geschlossen werden — »und ebensowenig umgekehrt«. Die Gründe hierfür sind naheliegend. Immerhin kann ein Autor seinen Leser vorsätzlich täuschen oder er kann sich bezüglich bestimmter Sachverhalte irren. 72 Das angedeutete Problem ergibt sich in beiden Fällen (wenngleich aus anderen Motiven) aus dem Umstand, daß der Autor bezüglich dem, was tatsächlich wahr ist, täuschende Absichten hegen oder einem Irrtum erliegen kann, kurzum: daß dasjenige, was er behauptet bzw. vorgibt, logisch falsch sein kann. 73 Nun hat dieses Problem in gewisser Hinsicht aber den Charakter eines Scheinproblems. Denn die Frage, ob dasjenige, was der Autor behauptet, tatsächlich wahr ist, entscheidet keineswegs darüber, ob der Autor die von
69
D a z u ibid., § 8 9 und §99.
70
B e s o n d e r s deutlich wird das b e i s p i e l s w e i s e bei nicht-wörtlichen R e d e w e i s e n ; dieser Punkt ist verschiedentlich und z.T. ausführlich besprochen worden, vgl. Künne 1981 und Id. 1990, 2 2 9 f , S c h o l z 1994b, 5 8 0 f f und Id. 1995, 4 5 f f , D a n n e b e r g 1995a, 9 0 f f s o w i e Petrus 1996b.
71
M e i e r 1757, § 1 1 8 , § 1 2 6 und § 2 3 5 ; vgl. dazu bereits Dannhauer 1630, II, §8, ferner Clericus 1697, 3/4, P f e i f f e r 1743, 2 9 9 s o w i e Baumgarten 1769, 1. Hauptstück, § 6 ( 2 3 und 2 5 ) s o w i e §7 (28). D i e Unterscheidung z w i s c h e n veritas malis veritas
sennonis
objectiva
und for-
( w i e es in der Tradition auch heißt) ist älter.
72
Ibid., § 1 1 8 und § 1 9 9 .
73
Zur Unterstellung der Aufrichtigkeit (oder, wie es in der Zeit heißt, der »Wahrhaftigkeit«) vgl. ausführlich Petrus 1996b, dort auch mit weiterführenden Ü b e r l e g u n g e n zum Verhältnis von Aufrichtigkeits- und Wahrheitsunterstellung.
144
IV. N o r m e n der Interpretation
ihm benutzten Mittel zweckgemäß eingesetzt hat. Grundsätzlich kann ein Autor, der lügt oder sich irrt, als rational bezeichnet werden, und zwar ungeachtet dessen, ob seine Aussagen mit den von ihnen repräsentierten Sachverhalten übereinstimmen oder nicht. 74 Freilich ist diese letzte Aussage nur unter bestimmten Voraussetzungen sinnvoll. Eine solche betrifft beispielsweise die Zielsetzung: Geht es um die Ermittlung des sensus verus, so muß nachgewiesen werden, daß die Meinung des Autors zweckgemäß ist. Im Rahmen dieses Nachweises ist es entsprechend erforderlich, die Rationalitätsunterstellung um jedem Preis aufrechtzuerhalten. Nicht erforderlich ist dagegen eine Bestätigung der Wahrheitsunterstellung. Denn die Meinung des Autors ist eine wahre (im Sinne des sensus verus), weil sie zweckgemäß (und womöglich logisch wahr) ist und nicht schon deshalb, weil sie sich als logisch wahr erweist 75 — oder wie Thomasius bündig sagt: es geht um die »Meinung an und vor sich selbst [ . . . ] / sie mag nun wahr seyn oder nicht«. 76 Thomasius' Stellungnahme ist nicht etwa als Behauptung über den Status der Wahrheitsunterstellung zu verstehen. Daß sich der sensus verus unabhängig von der Wahrheit des Sinns ermitteln läßt, bedeutet nicht, daß auf die Wahrheitsunterstellung verzichtet werden kann. Im Gegenteil ist sich Thomasius —wie andere Autoren auch— der Relevanz dieser Unterstellung bewußt. Seine Stellungnahme ist vielmehr als Aussage über die Zielsetzung des Verstehens bzw. Interpretierens aufzufassen. Qua Vertreter der Analyse als Interpretation geht es ihm im Rahmen der Hermeneutik eben um eine Ermittlung dessen, was der Autor mit welchen Mitteln zu welchem Zwecke beabsichtigt hat — und nicht um die Beurteilung seiner Aussagen hinsichtlich ihrer logischen Wahrheit. 77 Vor dem Hintergrund
74 Vgl. dazu Baumgarten 1769, 1. Hauptstück, §6 (23): »Wenn jemand einen Lügner reden hört, und bekomt lauter irrige Vorstellungen durch seine Rede, so kan er den richtigen, ja den wahren eigentlichen Verstand seiner Rede bekommen, obgleich in allen seinen Aussprüchen und Sätzen nicht eine einige Wahrheit des Inhalts anzutreffen wäre.« — Zur Charakterisierung des »wahren Verstandes« als dem »Endzweck gemäß« vgl. ibid., §6 (22). 75 Vgl. u.a. ibid., §6 (22): »Wenn der Verstand einer Rede mit den Gedanken des Urhebers derselben übereinkomt, folglich dem Endzweck desselben gemäß ist, wird er der wahre und richtige genant; wenn solche Vorstellungen gleich mit der Sache selbst, die sie betreffen, nicht übereinstimmen solten.« 76 Thomasius 1691b, 3. Hauptstück, §31 sowie ibid., §135. 77 Ähnlich wie Thomasius äußert sich auch Chladenius 1742, Cap. 4, §153: »Z.E. Ich finde bey dem Cartes den Satz: man soll an allen Sachen einmal zweifeln. Wenn ich sage, ich verstehe den Satz, und zwar vollkommen, so heist dieses so viel, als mir ist
2. Rationalität und Wahrheit
145
dieser Zielsetzung —und nur vor diesem Hintergrund— zeichnet sich Thomasius entsprechend als jemand aus, der in erster Linie am sensus verus interessiert ist, mag dieser nun (logisch) wahr sein oder nicht.78 Ist die Einschätzung richtig, daß sich für den Anhänger der Analyse als Interpretation Fälle von Täuschung oder Irrtum allein aufgrund der Zielsetzung als Scheinprobleme entlarven, so liegt umgekehrt der Gedanke nahe, daß sich diese bei alternativen Zielsetzungen als echte Probleme erweisen. In Anlehnung an die Überlegungen im vorangegangenen Abschnitt bestünde eine solche Zielsetzung in der Beurteilung, ob die Aussagen des Autors mit den durch sie repäsentierten Sachverhalten übereinstimmen oder nicht. Daß diese Auffassung keineswegs abwegig ist, habe ich im Zusammenhang mit der Analyse als Propädeutik bereits dargelegt. 79 Ein Vertreter dieses Analyse-Typus setzt sich nachgerade zum Ziel, vom Autor zu lernen; entsprechend wird er, um den Sinn kognitiv zu nutzen, dem Verfasser unterstellen, daß dieser für wahr halte, was tatsächlich wahr sei. 80 Freilich ergeben sich auch hier im Detail unterschiedliche Deutungen der Wahrheitsunterstellung. Der einen Deutung zufolge interessiert einzig und allein, ob die Aussagen des Autors aus der Perspektive des Auslegers wahr oder falsch sind. Man könnte diesen Vertreter der Analyse als Propädeutik den >Systematiker< nennen; ihm geht es weder darum,
die Meinung des Cartesii bekannt, sie mag im übrigen richtig oder unrichtig, gegründet oder ungegründet seyn.« — Zum Verhältnis von Ermittlung und Beurteilung vgl. ausführlich Petrus 1996b sowie Id. 1996d, 229f. 78 Daß Thomasius die Frage der Beurteilung der (logischen) Wahrheit des Sinns lediglich im Rahmen seiner Hermeneutik, nicht aber innerhalb seiner Vernunftlehre zurückstellt, wird in §5 des 3. Hauptstückes seiner Auszübung besonders deutlich: »Wollen wir sie [i.e. die anstehende Erörterung] mit dem letzten Hauptstück verknüpffen [i.e. »Von der Geschickligkeit andern die Warheit beyzubringen»] / so können wir sagen / daß wenn wir andern ihre Irrthümer benehmen / oder die Warheit wider die Irrthümer vertheydigen wollen / wir ( 1.) die Irrenden verstehen / und ihre Meinung recht einnehmen; hernach (2.) davon urtheilen / und (3.) die Irrthümer in der That antasten müssen. Von dem ersten handelt dieses Hauptstücke [i.e. »Von der Geschickligkeit andere zu verstehen«, mithin das Hermeneutik-Kapitel], von dem andern wird das folgende [i.e. »Von der Geschickligkeit von anderer Meinungen zu urtheilen«] / und von dem dritten das letzte reden [i.e. »Von der Geschickligkeit anderer Irrthümer zu widerlegen«].« 79 Dazu die Überlegungen insbesondere in Kap. III. 1. 80 Vgl. dazu etwa Clauberg 1654, III, §45, der dem Autor sowohl Aufrichtigkeit als auch sachliche Kompetenz unterstellt (dazu bereits Dannhauer 1630,1, §34): »Si author talis est, ut & noverit quid loquatur, & data opera decipere nolit, non nisi unus verus est & ab ipso intentus orationis sensus.«
146
IV. Normen der Interpretation
daß der Sinn von einem bestimmten Autor intendiert ist, noch ist er darum bekümmert, daß dieser Sinn von einem Autor unter bestimmten Umständen beabsichtigt wurde. Demgegenüber interessiert sich der >Historiker< unter den Anhängern der Analyse als Propädeutik für die historisch bedingte logische Wahrheit, sofern er die Übereinstimmung zwischen Aussage und Sachverhalt auf die Sichtweise der, salopp formuliert, Zeitgenossen des Autors relativiert.81 Ungeachtet dessen, wie die Akzente zwischen >Systematiker< und >Historiker< auch liegen, wird zum einen klar, daß die Vertreter der Analyse als Propädeutik —anders als ihre Nebenbuhler— die Zielsetzung des Verstehens an der Überprüfung der logischen Wahrheit des Sinns ausrichten. Und zum andern wird auch deutlich, daß infolge dieser Zielsetzung die bei den Anhängern der Analyse als Interpretation so zentrale Rationalitätsunterstellung nahezu vollständig ausgeblendet wird: Steht hier die logische Wahrheit des sensus —er mag zweckgemäß sein oder nicht— im Vordergrund, geht es dort um die Meinung an und für sich, mag diese nun logisch wahr sein oder nicht.
3. Interpretation,
Billigkeit und
Besserverstehen
»Wenn er [i.e. der Autor] ohne allen Verstand redet, und seine Rede gar keinen Sinn hat: denn alsdenn kan sie unmöglich verstanden werden.« Diese der Vernunftlehre Meiers entnommene Äußerung 82 macht noch einmal auf eine wichtige Voraussetzung von Verstehen aufmerksam, die im vorangegangenen Kapitel unter dem Patronat der Rationalitätsunterstellung behandelt wurde. Um Texte zu verstehen, müssen sprachliche Zeichen etwas bedeuten sowie »klüglich erwählt« sein. Nur wenn unterstellt 81 Entsprechend würde der >Historiker< —im Gegensatz zum >Systematikerabgelesen< werden kann und der Inter-
89 Ibid., §111. 90 Vgl. ibid., §194: »Alle hermeneutischen Regeln [...] können auch, aus den Vollkommenheiten des Autors, dessen Rede ausgelegt werden soll, in so ferne er ein Autor ist, hergeleitet werden. Folglich hat ein billiger Ausleger einen neuen Grund, warum er bey der Auslegung diese Regeln beobachtet.« (Hervorhebungen von mir); vgl. ferner ibid., §238 (124): »Und da alle hermeneutische Regeln, aus der hermeneutischen Billigkeit, fliessen: so ist, die Vollkommenheit des Textes und des Autors, die Seele aller hermeneutischen Regeln.«
3. Interpretation, Billigkeit und Besserverstehen
151
prêt also eine Reihe logisch-rhetorischer Regeln zu beachten hat 91 ; oder es ließe sich nachweisen, daß —rhetorisch gesprochen— der reglementierte Ablauf der Produktionsphasen von den Sachen und Gedanken bis hin zu deren Anordnung und sprachlichen Gestaltung auf die Klugheit des Autors verweist und entsprechend die Berücksichtigung dieses Verlaufsschemas auch für den Ausleger verbindlich ist. 92 Für die Präzisierung der Interpretationsanweisungen spielen allerdings nicht bloß inhaltliche Komponenten der Unterstellung von Vollkommenheiten eine Rolle, sondern auch formale. Ich beziehe mich hier auf meinen Vorschlag am Schluß des letzten Kapitels, Unterstellungen etwa der Art von Rationalitätsannahmen normativen Charakter zuzuweisen. Solche Unterstellungen sagen demnach (in der Regel) etwas darüber aus, wie der Autor sein sollte (z.B. ein »vernünfftiger Scribent«), nicht aber, wie er tatsächlich ist. 93 Entsprechend sind auch die Interpretationsanweisungen, man habe so oder anders zu verfahren, an Regeln ausgerichtet, die der Autor unter der Voraussetzung bestimmter Vollkommenheiten befolgt haben sollte.94 Nun wäre es allerdings falsch, wollte man aus dieser n o r m a tiven Fundierung< der Interpretationsanweisungen schließen, die daraus resultierenden Interpretationshypothesen (oder gar die Interpretationsbefunde) seien in toto das Produkt eines Bündels normativer Behauptungen. Zwar ist ist es korrekt, daß Interpretationshypothesen überhaupt erst auf der Grundlage normativer Annahmen, die antizpierend ins Spiel gebracht werden, gebildet werden können (das die heuristische Funktion solcher Annahmen); ebenfalls ist es korrekt, daß im Falle konkurrenzierender Interpretationshypothesen der Entscheid zugunsten derjenigen gefällt wird, die mit den normativ unterstellten Vollkommenheiten am besten überein-
91 Dieser Nachweis wäre —wie das in Kap. III. 1, 84 ansatzweise versucht wurde— an den Überlegungen zum (inneren und äußeren) aptum auszurichten. 92 Analog zur vorangegangenen Anmerkung hätte sich dieser Nachweis u.a. an den Ausführungen in Teil I (bes. Kap. 1) sowie Teil II (bes. Kap. 1, 3 und 4) zu orientieren und entsprechend zu dokumentieren, in welcher Hinsicht die Regeln zur inventio, disposino und elocutio für den Interpreten bei der Textauslegung verbindlich sind. 93 Dazu die Ausführungen in Kap. IV. 2, 133f. 94 Vgl. z.B. Chladenius 1742, Cap. 10, §705 (551): »Wie man nun von iedem geschickten Scribenten vermuthen und hoffen kan, daß er in seinem Buche nach den Regeln, wie dergleichen zu verfertigen sind, werde geschrieben und gedacht haben; also könte man hernach auch die Absicht und Einschränckung der Gedancken, die er bey einzeln Stellen gehabt hat, nach denselben allgemeinen Regeln beurtheilen.« (Hervorhebungen von mir).
152
IV. Normen der Interpretation
stimmt (so die evaluative Funktion). 95 Doch handelt es sich bei all diesen Aussagen, wie der Autor sein sollte, letztlich eben nur um »Hypothesen«, also um Sätze, die »man unterdessen, und so lange ohne Beweis als wahr annimmt, bis man durch eine mehrere Erkäntniß die Richtigkeit, oder Unrichtigkeit des angenommenen Satzes erkennet«. 96 Damit ist klar angezeigt, daß weder die Unterstellungen noch die auf ihnen basierenden Interpretationshypothesen sakrosankt sind. Im Gegenteil findet sich in wohl allen Hermeneutiken der Zeit, die im weitesten Sinne über billige Annahmen handeln, der Aufruf zu deren Überprüfung. Prinzipiell bieten sich hier zwei Möglichkeiten an: (i) Die weniger naheliegende (aber nichtsdestotrotz interessante) Variante empfiehlt eine prophylaktische Überprüfung und findet sich etwa bei Meier. An mindestens vier Stellen seiner Auslegungskunst schreibt er, daß der Ausleger »zum voraus«, d.h. »ehe er sich an die Auslegung [...] macht«, hinsichtlich bestimmter Gegebenheiten »versichert« sein müsse 97 — so beispielsweise, was die Vollkommenheiten des Autors betrifft. 98 Interessant ist die Überprüfung »zum voraus«, weil sie unterschiedliche Deutungen zuläßt. Gemäß der einen Deutung vergewissert sich der Ausleger der Vollkommenheiten des Autors, bevor er diesem z.B. Rationalität unterstellt; in diese Sinne erhält die Rationalitätsannahme eine empirische Grundlage. 99 Der anderen Deutung zufolge überprüft der Ausleger unmittelbar nach Unterstellung der Vollkommenheit der Klugheit, aber »ehe er sich an die Auslegung [...] macht«, ob der Autor tatsächlich als klug gelten darf; hier erhält die Rationalitätsannahme —so im Falle einer Bestätigung— eine empirische Absicherung. (ii) Die zweite Möglichkeit der empirischen Überprüfung findet nicht »zum voraus« statt, sondern —wie Chladenius sagt— »nach und nach«. 100 Der Ausleger sammelt im Laufe der Interpretation »data« und fragt, ob diese »eine unerwiesene Eigenschafft des Buches und Verfassers« für »ge95 96 97 98
Zu diesen beiden Funktionen vgl. Petrus 1996b. Chladenius 1742, Cap. 8, §379 (262/63). Meier 1757, §11, §13, §95 und §109. Laut Meier hat diese Überprüfung u.a. mit Hilfe der cirumstantiae auctoris bzw. signalons zu erfolgen. — Das wirft, nota bene, ein interessantes Licht auf die in Kap. III. 4 aufgeworfene Frage, welche Komponenten (im Netz der dort aufgeführten Interdependenzen) bei der Analyse zuerst zu berücksichtigen seien; laut Meier wären das also (wie auch bei Thomasius) Komponenten der Art K(Tgi¡). 99 Diese Deutung ist auch in systematischer Hinsicht aufschlußreich, zumal die Rationalitätsunterstellung hier empirisches Wissen voraussetzt. 100 Vgl. für das folgende Chladenius 1742, Cap. 8, §379 (263/64).
3. Interpretation, Billigkeit und Besserverstehen
153
gründet befinden« und also die »hermeneutische Hypothesis« bestätigen können. 1 0 1 Ist das der Fall, hat der Ausleger allen Grund, die Hypothesis als »ausgemachte Wahrheit« zu nehmen; im umgekehrten Fall freilich wird er sie nicht minder dezidiert als »falsch« verwerfen. Weder (i) noch (ii) tangieren den Status oder die Funktion hermeneutischer Hypothesen. Allenfalls wird ihre Geltung durch die Möglichkeit empirischer Überprüfung zeitlich eingegrenzt 102 ; die »ohne Beweis als wahr« angenommenen Sätze sind für den Interpreten so lange verbindlich, »bis das Gegentheil« dessen »erhellet«, was unterstellt wurde. 103 Im ungünstigsten Fall wird die Hypothese verworfen und durch eine adäquate ersetzt; im günstigeren Falle führt der Erweis des Gegenteils bloß zu einer Reformulierung der Hypothese oder aber zu einer partiellen Revision. Während sich dort der vorab als »vernünfftig« erklärte Autor aus welchen Gründen auch immer als »thöricht« herausstellt, also als einer, der »unvernünftig reden«, »nicht übereinstimmig seyn kan« und dergleichen mehr 1 0 4 , mag sich hier der »vernünfftige Scribent« lediglich in bestimmten Belangen als »närrisch« erweisen. Der letzte Hinweis führt auf einen heiklen Punkt. Denn eigentlich ließe sich nun geltend machen, daß der Ausleger im Falle eines Autors, der sich bloß in bestimmten Belangen als »thöricht« erweist, auch weiterhin seine hermeneutische Hypothese aufrechterhalten kann (und vielleicht sogar soll). 1 0 5 Läßt sich ein Ausleger etwa Meierscher Provenienz zu diesem Schritt überreden, sieht er sich jedoch mit dem Problem konfrontiert, daß er auf einer revisionsbedürftigen Grundlage von Vollkommenheiten Sinnzuweisungen vornimmt. Problematisch sind Zuweisungen dieser Art, weil der Ausleger damit Gefahr läuft, den vom Autor intendierten Sinn zu verfehlen und im Resultat also »nicht« oder »nicht recht« zu verstehen. 1 0 6 Unmittelbar mit dieser Gefahr verknüpft ist eine andere, die in ihren Aus101 Vgl. auch Crusius 1747, Cap. IX, §645 (1110) sowie — i m Zusammenhang mit den »data«— ibid., §654 (1130), ferner Baumgarten 1769, 3. Hauptstück, §36 (135). 102 Zum Problem der Geltung vgl. auch Petrus 1996b. 103 Scholz 1992, 300 bemerkt richtig, daß bei Meier in keiner einzigen Version des Billigkeitsgrundsatzes der Zusatz »bis das Gegentheil erhellet« bzw. »erwiesen wird« fehlt; für ähnliche Formulierungen vgl. Chladenius 1742, Cap. 8, §379 (263), Crusius 1747, Cap. IX, §636 (1091) sowie §642 (1104), Reimarus 1756, II Th, 1. Cap., §174 (315) und Baumgarten 1769, 2. Hauptstück, z.B. §23 (870104 Meier 1757, z.B. §159 bis §166. 105 Ich werde am Ende dieses Kapitels —um es vorwegzunehmen— einen Fall konstruieren, in dem die in Klammern gesetzte Aussage zutrifft. 106 Meier 1757, §128 (70).
154
IV. Normen der Interpretation
Wirkungen noch verhängnisvoller ist. Wenn der Ausleger auf der Basis einer zweifelhaften Unterstellung von Vollkommenheiten einen falschen Sinn »annimt«, so trägt er »den Sinn in die Rede hinein, (sensum orationem infert)« 107 ; und wenn er zudem —wie das in dem hier skizzierten Beispiel der Fall wäre— in Kenntnis seiner zweifelhaften Unterstellung eine solche accommodatio vornimmt, dann gerät er unweigerlich in Verdacht, dem Autor vorsätzlich die »eigenen Meinungen anzudichten«. 108 Dieser Verdacht dürfte —nicht bloß vom Standpunkt Meiers betrachtet— berechtigt sein. Immerhin laufen Formen der Andichtung entschieden dem an der interpretatio authentica ausgerichteten Grundsatz der doktrinalen Auslegung zuwider. Denn es gilt unwiderruflich, daß Autor und Ausleger einerlei und eben dasselbe zu denken haben. 109 Entsprechend lassen sich zwei Fälle denken, in denen diese Zielsetzung verfehlt wird 110 : Entweder »gedenckt« der Ausleger »bey der Stelle« nicht dasjenige, was der Autor gedacht hat bzw. weniger — »in welchem Fall [er] die Absicht des Verfassers übersiehet, oder nicht erreichet«. Oder es denkt der Interpret bei einer Stelle etwas, »woran der Verfasser nicht gedacht hat: in welchem Fall er die Absicht überschreitet« und —so ließe sich für diesen Zusammenhang ergänzen— dem Autor unter Umständen eigene Meinungen andichtet.111 In beiden Fällen wird der Autor nicht so verstanden, wie er sich selbst, d.h. in der Funktion seines eigenen Auslegers versteht bzw. verstanden hätte. Diese Formulierung ist bewußt tendenziös. Denn zum einen ist damit angedeutet, daß es für eine Interpretationstheorie, die sich in der Zielsetzung an der authentischen Auslegung orientiert, nachgerade erforderlich ist, den Autor so zu verstehen, wie er sich selbst versteht; und zum
107 Ibid., §121 (Hervorhebungen im Text). 108 Zum Begriff der accommodatio als »ein in den Text hineingetragener Sinn« vgl. Meier 1757, §122 (66/67) sowie §211, ferner die Definition bei Baumgarten 1761, §463 (zur theologischen Verwendungsweise von >AkkommodationVerstand< nämlich nichts anderes als >unmittelbarer Verstand^ also Vum. Dazu gehört laut Chladenius das, »was uns durch die Worte einer Stelle vorgestellt wird«; wir haben »bey ieder Stelle, die wir lesen und verstehen, eine Vorstellung und Erkäntniß von einer gewissen Sache«, und zwar dieselbe Vorstellung, die auch der Autor gehabt hat. 154 Charakteristisch für Vum ist somit, daß der »Verfasser der Stelle, mit allen seinen Lesern, die die Stelle verstehen, überein kommen muß«.155 Andererseits aber weicht Chladenius von herkömmlichen Auffassungen ab. Denn für ihn bildet Vum zugleich ein Segment des »vollkommenen Verstandes« (Vv). Im Gegensatz zu Vum gehört zu Vv alles dasjenige, »was die Worte nach der Vernunfft und denen Regeln unserer Seele in uns vor Gedancken erwecken können«. 156 Laut dieser Bestimmung fallen unter Vv auch jene Begriffe, die durch »verschiedende Kräffte der Seele, die blosse Einbildungskrafft ausgenommen, hervorgebracht werden«. Chladenius spricht hier vom »mittelbaren Verstand« bzw. von »notwendigen Anwendungen« (An), die zwar auf der Grundlage Vum evoziert werden, hinsichtlich derer Autor und Interpret aber »nicht allemal« übereinkommen müssen. 157 Der letzte Hinweis ist wichtig, weil er erstens eine Abgrenzung gegenüber Vum erlaubt. Während hier eine Übereinkunft von Verfasser und Ausleger unbedingt erforderlich ist, ist sie dort nicht grundsätzlich möglich. Ferner erlaubt dieser Hinweis auch eine Abgrenzung gegenüber der dritten Komponente des vollkommenen Verstandes. Wie nicht anders zu erwarten, handelt es sich dabei um die »zufälligen Anwendungen«, also Az. Im Gegensatz zu An ist Az dadurch charakterisiert, daß die Übereinkunft von Autor und Ausleger überhaupt kein Thema ist. Blickt man an dieser Stelle an den Beginn meiner kurzen Einführung in Chladenius' Bedeutungstheorie zurück, so wird hoffentlich einiges verständlicher anmuten: Az gehört deshalb nicht zum Verstand einer Stelle, weil sie die Anforderung der Übereinkunft von Autor und Interpret nicht erfüllt (und auch nicht zu erfüllen braucht). Erfüllt wird diese Anforderung von VIW, und, mit Vorbehalten, von An. Indes gehört Az zum voll-
154 155 156 157
Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,
§ 6 8 0 (525). z.B. §677 (522/23; meine Hervorhebung). Cap. 4, §155. Cap. 10, §638 sowie ibid., §694 (539).
170
IV. Normen der Interpretation
kommenen Verstand einer Stelle, also zu Vv. Diese Zuordnung ist entscheidend — zumal mit Blick auf Chladenius' Ausführungen zum »vollkommenen Verstehen«. Danach versteht man »eine Rede oder Schrifft vollkommen, wenn man alles dasjenige dabey gedenkt, was die Worte nach der Vernunfft und denen Regeln unserer Seele in uns vor Gedancken erwecken können« 1 5 8 — und dazu gehören nun mal auch die zufälligen Anwendungen. In diesem Sinne mag Az für das (traditionelle) Verstehen einer Stelle nicht relevant sein, wohl aber für das (chladenische) vollkommene Verstehen. Der Stellenwert von Az für das vollkommene Verstehen hat Auswirkungen auf die Einbildungskraft. Wie schon erwähnt, spielt dieses Vermögen an zwei Stellen eine eminente Rolle. Erstens im Bereich von Vum\ hier geht es um die Verknüpfung von Gedanke und Wort, und die dazu erforderte Fertigkeit ist —nebst anderen— die facultas imaginandi. Zweitens im Bereich von Az, wo die arbiträre Bildung von Vorstellungen im Vordergrund steht und entsprechend —nebst anderem— die facultas fingendi gefragt ist. Legt man dieser Zuordnung nun die unterschiedliche Relevanz von Vum und Az für die Verstehensproblematik zugrunde, so wird man feststellen, daß es Chladenius tatsächlich gelingt, die Balance zwischen Autoren· und Interpretenseite herzustellen. Denn sofern Az als Bestandteil von Vv auf der facultas fingendi beruht, muß diese Fakultät auf Seiten des Interpreten für das vollkommene Verstehen einer Stelle konstitutiv sein. Es bleibt demnach die Frage, inwieweit die Auszeichung der facultas fingendi als verstehenskonstitutiv mit den Grundsätzen autorintentionaler Konzeptionen verträglich ist. Immerhin liegt nun der Verdacht nahe, daß Chladenius auf dem Wege dieser Auszeichnung die herkömmliche Zielsetzung des Verstehens bzw. Interpretierens zu untergraben versucht, anders formuliert: daß er im Schilde führt, die Auffassung von Sinn so zu erweitern, daß zu dessen Ermittlung nun auch die facultas fingendi erforderlich ist. Doch man kann beruhigt sein. Denn mit Vum läßt Chladenius die traditionelle Domäne des Sinns unangetastet. Auch steht für ihn die Wichtigkeit der Ermittlung von Vum fest — der unmittelbare Verstand ist klar das »Haupt=Werck«, ja gleichsam die »Seele des übrigen«. 159 Auf der anderen Seite aber ist der obige Verdacht nicht ganz verfehlt. Bereits die Satzkonstruktion, innerhalb derer die eben zitierten Attribute auftauchen (also
158 Ibid., Cap. 4, §155. 159 Vgl. f ü r die folgenden Zitate ibid., Cap. 10, §674 (520; Hervorhebung von mir).
4. Autor und Interpret
171
>HauptwerkSeelemitunter< betont wird und man sich damit begnügt, in den jeweiligen Fällen Gründe für dieses Interesse aufzuführen. Brisanter wird das pragmatische Argument, wenn es allgemein der Legitimation des Interesses an Anwendungen dient. Zu diesem Zweck ist erneut das psychologistische Argument zu bemühen. Wenn davon ausgegangen wird, daß die menschlichen Erkenntnisvermögen an der Begriffsbildung bzw. am Sprachverstehen einen eminenten Anteil haben
7
Ibid., Cap. 7, §261: »Ich verstehe aber durch die Meinungen sowol die Vorstellungen, die wir von Sachen haben, als auch den Willen und die Entschlüssungen, die wir über eine Sache fassen.« (Hervorhebung im Text).
176
V. Probleme
(und zwar unabhängig davon, ob sich dieser Anteil in jedem Fall genau festmachen läßt), dann dürfte es in der Tat legitim sein, sich um eine Ermittlung der auf den jeweiligen Erkenntnisvermögen beruhenden Folgerungen und Empfindungen des Autors zu bemühen. Etwaige Vorbehalte des Dogmatikers gegenüber dem pragmatischen Argument führen an den Beginn des Kapitels zurück. Stellt er die Möglichkeit einer Legitimation des Interesses in Abrede, sieht er sich mit dem psychologistischen Argument konfrontiert. Und das heißt: Er muß die Anteile der Erkenntnisvermögen an der Begriffsbildung bzw. dem Sprachverstehen für nichtig erklären und dem psychologisch fundierten Begriff der Meinung denjenigen des Sinns gegenüberstellen. Diese Gegenüberstellung kann aber nur mit Hilfe einer normativen Setzung erfolgen, die besagt, daß zum Sinn genau dasjenige gehören soll, was der Autor mit Hilfe sprachlicher Ausdrücke mitzuteilen beabsichtigt. Allerdings ist der Hinweis auf die Norm des Sinns in diesem Zusammenhang nicht sonderlich effizient. 8 Denn Chladenius kann nicht vorgeworfen werden, er mißachte diese Norm. Zum einen ist der unmittelbare Verstand ein fester Bestandteil seiner Bedeutungstheorie und nimmt dort sogar den prominenten Platz ein. Und zum andern laufen die notwendigen Anwendungen nicht notgedrungen der traditionellen Bestimmung des Sinns zuwider — zumindest nicht in jenen Fällen, da der Zusammenhang zwischen Sinn und Anwendung gerechtfertigt werden kann. Und selbst in all den >anderen< Fällen mißachtet Chladenius die obige Norm nicht. Denn unabhängig davon, ob sich Anwendungen rechtfertigen lassen oder nicht, wird er daran festhalten können, daß sich der unmittelbare Verstand oder —in der Terminologie des Dogmatikers— der Sinn mit Gewißheit ermitteln läßt. Somit dürfte auch der zu Beginn des Kapitels geäußerte Verdacht des Dogmatikers entkräftet sein, Chladenius würde das Projekt autorintentionaler Auslegungslehren untergraben. Allenfalls könnte ihm vorgeworfen werden, er weite mit seinem Interesse an den Anwendungen die Zielsetzung des Verstehens bzw. Interpretierens aus. Doch setzt dieser Vorwurf erstens eine Korrektur an der Norm des Sinns voraus; demnach müßte nun gelten, daß zum Sinn (im Jargon Chladenius') nur der unmittelbare Verstand gehören soll. Und zweitens wird stillschweigend vorausgesetzt, daß Chladenius die Anwendungen zum Bestand dessen rechnet, was mit dem Anspruch einer Interpretation des zugrundeliegenden Textes auftritt.
8
In anderem Zusammenhang (z.B. Kap. V. 2f ) wird sich aber zeigen, daß diese Norm die einzige Möglichkeit ist, um z.B. gegen idealistische Ansätze vorzugehen.
1. Sinn und Anwendung
177
Um die Tragweite der Korrektur an der Norm des Sinns zu ermessen, ist zu beachten, daß die genannten Voraussetzungen unterschiedliche Bereiche betreffen. Während die erste Voraussetzung Schwierigkeiten einer psychologisch imprägnierten Bedeutungstheorie angeht, zielt letztere auf Probleme einer Interpretationstheorie, die Anwendungen zur Auslegung des Sinns zählt. Beide Theorien können miteinander verhängt sein, sie müssen jedoch nicht. Eine Bedeutungstheorie, die Anwendungen zum vollkommenen Verstand rechnet, sagt noch wenig darüber aus, wie es die dazugehörige Interpretationstheorie mit diesen Anwendungen hält. Obschon es Chladenius gelingt, die »zufälligen Anwendungen« auf der Basis psychologistischer Annahmen als Bestandteil des vollkommenen Verstandes auszuzeichnen, gehören diese nicht zur Auslegung einer Stelle bzw. eines Textes. 9 Nun liegt die Angelegenheit im Falle der notwendigen Anwendungen aber anders. Offenbar hat Chladenius ein Interesse daran, sie in den Rang von Interpretationen zu erheben; und von da her dürfte die obige Unterscheidung zwischen Bedeutungs- und Interpretationstheorie für die Diskussion zwischen dem Dogmatiker und Chladenius nichts Neues bieten. Tatsächlich wird der Dogmatiker versuchen, seine Vorbehalte gegenüber Chladenius' Bedeutungstheorie auf der Ebene der Interpretationstheorie zu wiederholen. Allerdings muß er die Akzente anders setzen. Er darf nicht bloß reklamieren, Chladenius weite mit seinem (pragmatischen) Interesse an den Anwendungen die Kategorie des Sinns aus, sondern er muß darüber hinaus geltend machen, daß Chladenius im Rahmen seiner Interpretationstheorie wenigstens der Möglichkeit nach zulasse, daß die Auslegung die Absicht des Autors überschreite. Diese Akzentverschiebung ist wichtig. In den vorangangenen Kapiteln wurde immer wieder betont, daß eine Überschreitung der Absicht unweigerlich Gefahr läuft, dem Autor falsche Meinungen anzudichten. 10 Die detaillierten Ausführungen Chladenius' zur »Absicht« belegen, daß er sich dieser Gefahr bewußt ist. Will Chladenius aber nicht bloß Problembewußtsein demonstrieren, so muß er einen Weg anbieten, wie sich die Gefahr der Andichtung bannen läßt. Chladenius verfährt zu diesem Zwecke traditionell, indem er erstens Bedeutungs- und Interpretationstheorie miteinander verschränkt. Auf der Ebene der Bedeutungstheorie gilt die »Absicht« des Autors als Demarka-
9 Vgl. dazu die Bemerkungen in Kap. V. 2, 183f. 10 Vgl. z.B. Kap. IV. 3, 153f.
178
V. Probleme
tionslinie und scheidet Intendiertes von Nichtintendiertem. 11 Auf der Ebene der Interpretationstheorie tritt die Absicht entsprechend als Korrektiv zu jenen Sinnzuweisungen auf, die sich nicht mit einem bestimmten Grad an Gewißheit dem Autor zuschreiben lassen. 12 Was die Gewißheit solcher Zuschreibungen betrifft, rekurriert Chladenius zweitens auf die Umstände insbesondere des Autors, des Orts sowie der Zeit des betreffenden Textes, also auf die »historischen Umstände« (wie Baumgarten sagen würde). 13 Auch diese zweite Strategie entspricht herkömmlichen Auffassungen; der Rekurs auf historische Umstände soll möglichen Überschreitungen der Autorenabsicht vorbeugen. Bezogen auf Chladenius' Bedeutungstheorie ist eine solche Auffassung jedoch bemerkenswert. Denn er erhofft sich durch Berücksichtigung dieser Umstände nicht bloß eine »Einschränkung« des unmittelbaren Verstandes einer Stelle. Vielmehr sieht er darin auch eine Möglichkeit, wie für die Plausibilität des Zusammenhangs von Sinn und Anwendung geworben werden kann. Führen wir uns erneut das Chladenische Problem vor Augen. Im Rahmen der Bedeutungstheorie wurde mit Hilfe eines psychologistischen Arguments gezeigt, (i) daß zur »Meinung« des Autors (nebst anderem) Folgerungen und Empfindungen gehören, die sich aber »nicht allemal« aus der Stelle herleiten lassen. Im Kontext der Interpretationstheorie wurde festgelegt, (ii) daß es um die Ermittlung der Meinung des Autors geht, und der Ausleger entsprechend diese Folgerungen und Empfindungen —weil zur Meinung gehörig— zu eruieren hat. Nimmt man (i) und (ii) zusammen, so besteht das Chladenische Problem in Kürze darin, daß die zu analysierenden Stellen nicht allemal Belege der Folgerungen und Empfindungen des Autors sind und für den Ausleger daher die Ermittlung der Meinung des Autors über die Stelle nicht notwendigerweise erfolgversprechend ist. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Hoffnungen, die Chladenius in historische Umstände setzt, besser umreißen. Man könnte hier von einer Suche nach Faktoren sprechen, die irgendwo außerhalb des Textes liegen, die die Empfindungen und Folgerungen des Autors bestimmen und die dem Ausleger, einmal bekannt, als Zeugen dafür dienen, daß diese Empfindungen und Folgerungen tatsächlich jene des Autors sind — selbst 11 Chladenius 1742, Cap. 10, §695 (540): »Die Absicht eines Verfassers bey einer Stelle, oder Buche, oder überhaupt bey seinem Vortrage, ist die Einschränckung der Vorstellung, die er von der Sache, oder bey der Stelle gehabt hat.« (Hervorhebung im Text); vgl. dazu auch Friedrich 1978, I 1 If. 12 Vgl. ibid., §706 (554). 13 Ibid., §707 (555).
1. Sinn und Anwendung
179
wenn sie aus dem Text selbst nicht hergeleitet werden können. 14 Die beiden hervorgehobenen Ausdrücke haben metaphorischen Charakter und müssen daher präzisiert werden. Mit Faktoren »außerhalb« des Textes meine ich erstens solche, die sich dem Autor nicht durch eine Lektüre des zugrundegelegten Textes erschließen (müssen), wie das etwa bei den circumstantiae orationis der Fall ist. 15 Chladenius nennt in §707 seiner Einleitung die »Schule« oder »Secte«, der ein Autor zugehört, die »Lehren«, die er öffentlich vorgetragen, das »Lehr=System«, das er allenfalls vertreten hat, fernerhin die »Zeit«, in der er gelebt, die »Umstände«, in denen er sich befunden, die »Nachrichten«, aus denen er geschöpft hat (und anderes mehr). Diese Auflistung erlaubt eine zweite Präzisierung von >außerhalbzeitgenössisch< und >historisch< sind die »Zeugen« angesprochen. Als Komponenten, welche die Empfindungen und Folgerungen des Autors bestimmen, dokumentieren sie den zeitgenössischen Standort des Autors. In ihrer Funktion als Zeugen aber werden sie vom Ausleger herangezogen und sollen als historische Belege dafür gelten, daß der Autor de facto über Empfindungen und Folgerungen verfügt hat. Freilich hängen die beiden Aspekte, >zeitgenössisch< und >historischwenigstens< nicht im Sinne von >mindestens< zu lesen, im Gegenteil: Hat der Verfasser »nur die Vorstellung der Regung gehabt, nicht aber die Regung und Leidenschafft selbst«, dann darf der Ausleger seinerseits »auch nicht weiter gehen«; und analog darf der Ausleger, hat der Autor »beydes« gehabt, nicht etwa bei der Vorstellung stehenbleiben. 21 Die Frage, weshalb der Ausleger in solchen Fällen weder weitergehen noch stehenbleiben darf, führt auf das Motiv von Chladenius'
18 Ibid., §718 (568). Für die Unterscheidung von (a) und (b) vgl. ibid., §711 und bes. §713 sowie §717, w o Chladenius deutlich macht, daß die Vorstellung einer Leidenschaft — i m Gegensatz zur Leidenschaft selbst— nicht notwendig auf »Erfahrung« gründen müsse, sondern »durch die Einbildungs=Krafft erlernet« werden könne. 19 Zu weiteren Aspekten des punctus opticus, die ich im folgenden nicht behandeln werde, vgl. Friedrich 1978, 198f und 21 Iff sowie Id. 1982, 59ff, der Bezüge zwischen Chladenius' Hermeneutik und seiner Geschichtstheorie herstellt, ferner Henn 1976, 256ff, die sich mit der Rolle des »Sehe=Puncktes« in der Theorie des »Sinnreichen« auseinandersetzt, wie sie Chladenius in Id. 1750 entwickelt hat. 20 Chladenius 1742, Cap. 10, §708 weist mit Recht darauf hin, daß diese Ermittlungsarbeit mitunter langwierig sein könne und zur Folge habe, daß der »Sehe=Punckt« und damit auch die die intendierten Anwendungen bestimmenden Faktoren erst »nach und nach« bekannt würden. 21
Vgl. ibid., §720.
1. Sinn und Anwendung
181
Suche nach den »Zeugen« zurück. Mit Hilfe der historischen Umstände hofft er festlegen zu können, wann genau »in Ansehung« der Anwendungen die Absicht des Autors erreicht, wann sie unterminiert und wann überschritten wird. Durch die Ermittlung des »Sehe=Puncktes« —also (a) bzw. (b)— hat Chladenius diese Fälle nun bestimmt: Es wird die Absicht erreicht, wenn z.B. (a) — (a*) oder (b) — (b*) vorliegt, sie wird unterminiert, wenn (a+b) — (a*) der Fall ist, und sie wird überschritten, wenn (a) — (a*+b*) eintritt. Die Lösung des Chladenischen Problems liefert demnach die historische Analyse. Sie macht den Ausleger mit dem Standpunkt des Autors bekannt und versetzt ihn idealiter in die Lage, die Ursachen der Empfindungen und Folgerungen auszumachen, die aus der zu analysierenden Stelle so nicht hervorgehen. Chladenius spricht im Zusammenhang mit dieser Bekanntschaft bezeichnenderweise davon, daß der Ausleger bzw. Leser dem Verfasser »ähnlich« werde. In der Tat hängt von der Vertrautheit mit dem »Sehe=Punckt« des Autors ab, ob Autor und Ausleger hinsichtlich der Anwendungen »übereinkommen« oder nicht; und insofern liegt der Gedanke nahe, daß der Ausleger dem Verfasser »ähnlich werden muß«, will er dessen Absicht erreichen (und nicht etwa unterminieren oder überschreiten). 22 Wie reizend der Gedanke einer Ähnlichkeit von Autor und Ausleger auch sein mag, er ist nicht ohne Probleme. Zunächst gilt es zu beachten, daß hier nicht von einer >Verwandlung< die Rede ist; der Ausleger bleibt Ausleger, er wird nicht durch Veränderung seiner Disposition und über Nacht schlagartig zum Autor. Die Ähnlichkeit betrifft vielmehr den »Sehe=Punckt«, und zwar im technischen, also optischen Sinne. Der Verfasser sieht etwas mit dem Auge des Autors, er nimmt dessen Standpunkt ein und erhofft sich damit eine Perspektive auf die Dinge, die derjenigen des Autors »ähnlich« oder —wie Chladenius zuweilen sagt— »einerley« ist (z.B. [a] — [a*]).23 Chladenius ist sich der Schwierigkeiten des Ausdrucks >einerlei< bewußt. An prominenter Stelle seiner Einleitung warnt er davor, das »Wort einerley, vor vollkommen einerley« zu nehmen, und er nennt Gründe 24 : 22 Ibid., §720: »Wenn nun der Leser dem Verfasser ähnlich werden, und in dem VerStande die bewegende Stelle mit ihm übereinkommen soll, so muß« z.B. (a) — (a*) oder (b) — (b*) der Fall sein. 23 Vgl. ausführlich Id. 1752, II, §16f ( 3 6 0 und ibid., V, §1 If (100) sowie Id. 1742, Cap. 8, §§309ff (187ff). 24 Für das folgende vgl. Id. 1742, Cap. 8, §310. (Die Unterscheidung von >psycholo-
182
V. Probleme
Die Ursachen, die den jeweiligen Standpunkt bestimmen, sind teils psychologischer Natur: Umstände des »Leibes«, der »Seele«, der »gantzen Person«. Entsprechend lassen sich bei Menschen, verstanden als Individuen, bezüglich dieser Umstände »allemal unzehlige Verschiedenheiten finden«. Teils sind die den Standpunkt verursachenden Komponenten aber auch historischer Art: Umstände der Orts und der Zeit, der Schulen und Sekten, denen der Autor angehört, und dergleichen mehr. Auch hier ist zu beachten, daß sich Menschen aufgrund ihrer unterschiedlichen Plazierung in Raum und Zeit hinsichtlich der genannten Umstände zwangsläufig unterscheiden. Damit wären wir bei (3) der erkenntnistheoretischen Funktion der historischen Analyse angelangt. Indem diese Analyse die genannten Komponenten gerade auch in ihrer Charakterisierung als psychologische und zeitgenössische Ursachen des »Sehe=Puncktes« zu ermitteln vermag, liefert sie zugleich den Beleg, daß die Standpunkte von Autor und Ausleger sowohl in psychologischer als auch historischer Hinsicht individuiert sind, oder aus anderer Perspektive betrachtet: daß sich der Standpunkt des Auslegers immer von demjenigen des Autors unterscheiden wird: (a) — (a*); (b) — (b*). Es wäre vermutlich zuviel gesagt, daß Chladenius diese Unterschiede hermeneutisch nutzt; und wenn, so gewiß in anderer Hinsicht, als dies aus dem »Sehe=Punckt« einer bestimmten Rezeption vorgeschlagen wurde. Chladenius weiß, daß der Ausleger nie zum Zeitgenossen des Autors avancieren wird und daß sein Zugang immer nur ein historischer sein kann, weil er den eigenen, zeitgenössischen Standpunkt nicht aufzuheben vermag. Wenn Chladenius vor dem Hintergrund dieser Einsichten vom Ausleger verlangt, sowohl den Standpunkt des Autors als auch den eigenen (und denjenigen des Lesers) im Auge zu behalten 25 , so ist ihm dabei nicht so sehr um Vorverständnis getan, sondern um den letzten Baustein einer Argumentation, die den Nachweis erbringen soll, daß sich die Meinung des Autors mit Hilfe einer historischen Analyse wenn nicht mit Gewißheit, so doch grundsätzlich ermitteln läßt.
25
gisch< und >historisch< ist bei Chladenius angelegt, wird von ihm aber nicht explizit vorgenommen.) V g l . ibid., z . B . Cap. 8, § 3 2 4 .
2. Analyse und Geschichte 2. Analyse und
183
Geschichte
Im letzten Kapitel wurde der Dogmatiker frühzeitig entlassen, und zwar just an der Stelle, wo er die Korrektur an der Norm des Sinns angebracht und gegenüber Chladenius geltend gemacht hatte, daß zum Sinn nur der unmittelbare Verstand gehöre. Wird diese Korrektur als Ausdruck der Skepsis gegenüber einer Interpretationstheorie betrachtet, die partout »Sehe=Punckte« berücksichtigt wissen will, so hat sie einiges für sich. Denn Chladenius' erkenntnistheoretische Überlegungen führen ja letztlich dazu, daß sich die Meinung des Autors aufgrund der unterschiedlichen Standpunkte von Autor und Ausleger nicht mit Gewißheit ermitteln läßt; und insofern könnte man mit dem Dogmatiker geneigt sein, Chladenius lediglich bis dorthin zu folgen, wo die historische Analyse ins Spiel kommt. Nun gilt es allerdings zu unterscheiden zwischen Motiven, die zu einer historischen Analyse veranlassen, und Konsequenzen, die sich aus einer solchen Analyse ergeben können. Nicht jede Interpretationstheorie, die dem Problem der unterschiedlichen »Sehe=Punckte« in der einen oder anderen Weise Rechnung trägt, ist darauf angelegt, dieses Problem zu lösen. Wenn Thomasius, Wolff oder Meier nahelegen, man solle sich z.B. eingehend mit der »Person« des Autors und seinem Umfeld beschäftigen, so wird bei genauerem Hinsehen deutlich, daß diese Beschäftigung sehr unterschiedlich motiviert ist. Bei Thomasius hat die Ermittlung historischer Umstände den Status einer prophylaktischen Maßnahme, um bereits im Vorfeld der Interpretation unnötige Mißverständnisse zu vermeiden, bei Wolff spielt sie im Zusammenhang mit dem Bessererklären eine Rolle, bei Meier schließlich dient sie der Erhärtung von Vollkommenheitsunterstellungen. 26 Wiewohl in sämtlichen Fällen der Blick fürs Historische geschärft und das Problem der unterschiedlichen Standpunkte sowohl im Zusammenhang mit der Ermittlung des Sinns als auch den Anwendungen präsent ist, wird die historische Analyse im Umgang mit diesem Problem allenfalls punktuell eingesetzt. Natürlich ist nun im Gegenzug zu fragen, wie eine Interpretationstheorie konzipiert sein muß, die mit »Sehe=Punckten« zurechtkommt. Bevor diese Frage schrittweise beantwortet wird, gilt es zu betonen, daß hier nicht etwa nach einer >neuen< Hermeneutik gesucht wird. Das Problem der unterschiedlichen Standpunkte hat sich im Rahmen der herkömmli-
26
V g l . ZU T h o m a s i u s die Ü b e r l e g u n g e n in Kap. III. 3, 1 lOf und III. 4 , 119, zu W o l f f und M e i e r vgl. Kap. IV. 3, 156ff.
184
V. Probleme
chen Zielsetzung der Auslegung ergeben. Chladenius' Ansatz ist fraglos dem Projekt des Intentionalismus verpflichtet. Indem er auf der Grundlage bedeutungstheoretischer Annahmen diese Verpflichtung auf die »Meinung« des Autors ausweitet, ergibt sich eine Kluft zwischen der Perspektive des Autors und derjenigen des Interpreten. Gesucht ist demnach das Profil einer Interpretationstheorie, die diese Kluft so gering wie möglich hält. Man wird sich bei dieser Suche zwangsläufig (i) an der Zielsetzung und (ii) dem Verlauf der Auslegung orientieren. Was (i) betrifft, muß die traditionelle Zielsetzung, wonach zu denken ist, was der Autor gedacht hat (a), mit den Bemühungen um eine Annäherung der Standpunkte von Autor und Ausleger (b) verträglich sein. Was (ii) angeht, wird man die Analyse der historischen Umstände so gewichten müssen, daß sie einen entscheidenden Beitrag zur Realisierung von (i) leistet. Beide Auflagen finden sich in Ansätzen bei Crusius. In §635 vom Weg zur Gewißheit wird in bekannter Manier die Zielsetzung des Verstehens festgelegt: Es geht darum, »daß man bey den Worten eben das dencket, was der Redende gedacht hat« (= a). Entscheidend ist der Kontext dieser Äußerung. Denn Crusius gibt an gleicher Stelle auch zu bedenken, daß die »Bemühung« des Auslegers dahin gehen müsse, »aus der Vergleichung aller Umstände gleichsam den rechten Sehe=Punct zu bestimmen, aus welchem der Verfasser eine Sache angesehen hat, und sich in den Gedancken in denselbigen zu stellen« (= b). Diese Auffassung ist in zweierlei Hinsicht aufschlußreich. Erstens ist sie problemlos mit der traditionellen Zielsetzung verträglich (= i). Crusius geht denn auch soweit, (b) mit Hilfe von (a) zu begründen: »Weil es zum Verstehen [...] gehöret, daß man bey den Worten eben das dencket, was der Redende gedacht hat« und »man daher sich die vorgestellten Sachen gleichsam aus eben dem Gesichts=Puncte [...] vorstellen muß«, aus dem der Autor sie sich vorgestellt hat, »so muß die Bemühung eines Auslegers« in die bereits zitierte Richtung gehen.27 Zweitens gibt Crusius einen Hinweis, wie der »Sehe=Punckt« des Autors zu eruieren ist; es handelt sich (wie bei Chladenius) um die Ermittlung der »Umstände, mit denen er [i.e. der Autor] in Verknüpfung stehet«. Dieser Hinweis enthält seinerseits zwei wichtige Aspekte. Zunächst einmal ist Crusius erkenntnistheoretisch geläutert; auch er glaubt nicht, daß sich die Gesichtspunkte von Autor und Ausleger >verschmelzen< lassen. Der Autor sieht die Sachen nur »gleichsam« aus der Perspektive des Autors. Entsprechend ist Crusius' Auffassung, man solle sich in den »Se27 Crusius 1747, Cap. IX, §635 (1091; Hervorhebungen von mir).
2. Analyse und Geschichte
185
he=Punckt« des Autors »stellen«, metaphorisch und im Sinne einer Annäherung der Standpunkte zu lesen. Der zweite Aspekt betrifft die »Umstände«. Ganz offensichtlich meint Crusius die circumstantiae auctoris, die traditionellerweise —nebst anderen circumstantiae— der »Einschränkung des richtigen Verstandes« dienen. In der Tat finden sich in §633 unter der Rubrik solcher einschränkender Faktoren auch die circumstantiae auctoris, und zwar an erster Stelle. Die entscheidende Pointe besteht nun darin, daß diese Priorität zeitlich aufzufassen ist und somit das erste Stadium auf dem »Erkenntnisweg« markiert, das man bei der Interpretation zurücklegen muß: Es kommt »zuförderst auf die Beschaffenheit der redenden Person an«, also darauf, »in was vor Umständen und Verbindungen er gestanden, zu was vor Zeit, bey was vor Gelegenheit er geredet hat, was vor Wissenschaft, Religion Gewohnheit, Sitten u.s.w. er gehabt hat«. 28 Mit dem Hinweis, worauf es »zuförderst« ankommt, ist (ii) angesprochen. Bereits in einem früheren Kapitel habe ich die Frage der zeitlichen Priorität aufgeworfen, die bestimmten Komponenten bei der Ermittlung des »richtigen Verstandes« zukommt. Im Netz der Interdependenzen sollten die für eine solche Ermittlung relevanten Komponenten aufgeführt sowie die Optionen erfaßt werden, von welcher Warte aus sich dieses Netz flechten läßt. Hier haben sich zwei Varianten ergeben: Entweder geht man bei der Analyse von Interdependenzen aus, die zwischen textinternen Komponenten herrschen, oder aber man macht mit textexternen sowie das Textganze betreffenden Faktoren den Anfang. 29 Crusius favorisiert die zweite Variante. Danach ermittelt man zunächst durch historische Analyse die Umstände des Autors und »stellt« sich in dessen »Sehe=Punckt«; dann erfolgt im traditionellen Sinne die Analyse der sprachlichen Mittel sowie der Argumentationsstruktur, die Bedeutungsanalyse, die Ermittlung der vom Autor ins Auge gefaßten Zwecke und anderes mehr. An diesem Verlaufsschema fällt erstens auf, daß die zuletztgenannten Analysen »gleichsam« aus dem Gesichtspunkt des Autors erfolgen, mit anderen Worten: auf der Grundlage der historischen Analyse. Und zweitens, daß —zeitlich betrachtet— die Auslegung nach der historischen Analyse von der Sprache über die Gedanken hin zu den Sachen verläuft, mit anderen Worten: in umgekehrter Richtung zum Verlaufsschema, das für den Autor verbindlich war. Wie gesagt, diese Umkehrung betrifft den Verlauf nach der historischen Analyse. Wollte man nun die historische Analyse ebenfalls in
28
Ibid., § 6 3 3 ( 1 0 8 5 f ; Hervorhebung von mir).
29
Ich vereinfache für diese Z w e c k e ; vgl. ausführlich Kap. III. 4 , 117.
186
V. Probleme
das Verlaufsschema integrieren, so würde es einen Sprung aufweisen. Denn die historische Analyse ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht am Ende des Verlaufsschemas des Autors ansetzt, sondern am Anfang. Wenn nicht alles täuscht, deutet sich hier eine Abweichung vom herkömmlichen Verlaufsschema, dem Umkehr-Verhältnis, an. Rekapitulieren wir: Unter der Voraussetzung, daß die traditionelle Zielsetzung des Verstehens aufrechterhalten wird, zwingt die Einsicht in die unterschiedlichen Standpunkte zu einer Annäherung des Interpreten an den Autor, die auf dem Wege der Ermittlung der Autorenumstände erfolgt. In diesem Sinne hat die historische Analyse zur Aufgabe, die Basis für eine solche Annäherung zu erstellen und erste Schritte in Richtung einer Einschränkung des wahren Verstandes sowie der Rechtfertigung allfälliger Anwendungen zurückzulegen. Im Detail bedeutet dies, daß dem Ausleger durch die historische Analyse ein erster Blick auf die vom Autor vorgestellten Sachen gewährt wird — ein Blick, den er gemäß traditionellem Verlaufsschema (das von den Wörtern über die Vorstellungen hin zu den Sachen geht) eigentlich erst am Ende seiner Interpretationsarbeit erhalten sollte. So gesehen hinterläßt die angedeutete Abweichung einen seltsamen Beigeschmack. Auf der einen Seite bleibt die traditionelle Zielsetzung unangetastet; und es scheint sogar, daß sie mit den Bemühungen um eine Annäherung der Standpunkte von Autor und Ausleger verträglich ist. Somit gibt es gute Gründe zur Annahme, daß die Abweichung prinzipiell zur Lösung des Chladenischen Problems beitragen kann. Auf der anderen Seite aber hat sie ganz offensichtlich Einfluß auf das Verlaufsschema der Interpretation; und hier ist nun zu prüfen, ob dieses modifizierte Verlaufsschema nicht doch auf die Zielsetzung des Verstehens zurückwirken kann. Um Vorzüge und allfällige Nachteile des modifizierten Schemas zu eruieren, empfiehlt sich der Blick auf eine Auslegungslehre aus dem Bereich der theologischen Hermeneutik, die ein ausgeprägtes Gespür fürs Historische hat. Ich meine die Ansätze von Johann Salomo Semler. Sowohl akademisch wie gedanklich den rationalistischen Grundsätzen allgemeiner Hermeneutiken verpflichtet 30 , setzt sich Semler seit Ende fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts für die Vorrangstellung der »historischen« gegen30 Vgl. dazu detailliert Hornig 1983, 267ff. — Obwohl Semler selbst keine Vergleiche zwischen der »philosophischen« und der »biblischen Hermeneutik« herstellt, werden die Anleihen an die philosophischen Auslegungslehren allenthalben deutlich, so z.B. bei der Rolle der »Critik«, der Billigkeit sowie der Gültigkeit hermeneutischer Regeln für sämtliche Schriften.
2. Analyse und Geschichte
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über der »heilsamen Erkenntnis« ein. Damit distanziert er sich entschieden von der pietistischen Schriftauslegung, die auf Erbauung setzt und die Ermittlung der »historischen Umstände der biblischen Rede« wenn nicht vernachläßigt, so doch zurückstellt. 31 Mit dieser Akzentuierung der historischen Erkenntnis verfolgt Semler letztlich das Ziel, die heilsame Erkenntnis nicht als Ansammlung willkürlicher »Vergeistigungen« verkommen zu lassen, sondern mit Daten zu fundieren, die aus der Ermittlung historischer Umstände gewonnen werden. Diese Zielsetzung legt zum einen das Terrain der Auslegung fest; Semler geht es nicht bloß um historische, sondern auch um heilsame Erkenntnis. 32 Zum andern wird durch die Vorrangstellung der historischen Erkenntnis der Verlauf der Semlerschen Auslegung bestimmt. Wenn tatsächlich beabsichtigt wird, die heilsame Erkenntnis durch historische Daten zu fundieren, ist klar, daß »erstlich die richtige historische Erkenntnis entstehen und nachher erst die heilsame abgewartet werden« muß. 33 Was nun den ersten Bereich —die historische Erkenntnis— betrifft, geht Semler von traditionellen Voraussetzungen aus. Wie seine philosophischen Kollegen rechnet auch er damit, daß der Ausleger durch Bedeutungsanalysen einen Zugang zu den Gedanken des Autors erhält, die ihrerseits auf bestimmte Sachen referieren. 34 Allerdings bemerkt Semler allenthalben Schnittstellen, die das Verhältnis von res — verba gefährden können. Schon bei der Analyse des Wortmaterials stellt sich z.B. das Problem des Sprachgebrauchs oder der Echtheit der Dokumente. Hier gelte es, die »Muthmassungen« darauf abzustützen, »was eigentlich historisch« sei, also auf »taugliche Zeugnisse«. 35 Die Ermittlung solcher Zeugnisse führt laut Semler zwangsläufig auf eine Beschäftigung mit den »historischen Um-
31 Semler 1760, 150: »Es ist also falsch, daß die heilige Schrift stets und zunächst die Erbauung des Menschen bewerkstellige [...].« — Für ein Spektrum an Positionen im Rahmen der pietistischen Hermeneutik, für Probleme und Abgrenzungen vgl. ausführlich Weimar 1975, 45ff sowie Stroh 1977. 32 Es wird sich herausstellen, daß die historische Erkenntnis die heilsame erst ermöglicht. Interpretationstheoretisch soll die historische Fundierung der heilsamen Erkenntnis Fälle ausschließen, in denen dem Text willkürlich ein erbaulicher Sinn unterstellt wird; denn für Semler enthält die »Nachlässigkeit in richtiger Historie [ . . . ] den Grund zu den unrichtigen Auslegungsarten« (Id. 1759, Vorrede, unpaginiert). 33 Semler 1760, 150 (Hervorhebungen von mir). 34 Vgl. ausführlich Id. 1758, 134, ferner Id. 1760, 143ff; sowohl Weimar 1975, 62 als auch Hornig 1994, 216f sprechen von Semlers biblischer Hermeneutik als »Signifikationshermeneutik«. 35 Vgl. dazu Id. 1757, 191.
V. Probleme
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ständen einer biblischen Rede«. Mit Hilfe der »Critik«, der »Grammatik« und der »Logik« soll demnach die Situation des biblischen Autors eruiert, der Adressatenbezug geklärt und die zeitgeschichtlichen Faktoren ermittelt werden, welche die Gedanken des Autors sowie deren sprachliche Umsetzung bestimmen.36 Semler weiß um die Schwierigkeiten dieser Ermittlungen. Insbesondere erhebt er keinen Anspruch, daß sich die historischen Umstände mit Gewißheit rekonstruieren lassen. Nur allzu oft würden diese »gemeiniglich ganz vorausgesetzt als ohnehin bekannt auf beiden Seiten«, also auf selten des biblischen Autors, der seine Vorstellungen in zeitgenössischen »Einkleidungen« präsentiert, und auf Seiten des Adressaten, dem als Zeitgenosse und »nächster Leser« des Autors die Ermittlung der »wirklichen Veranlassung und Absicht« der Schrift weit weniger Probleme schafft als einem modernen Leser. 37 Umso dringlicher scheint daher die Forderung, man solle sich die Faktoren, welche die besagten »Einkleidungen« verursachen, vorstellen können und auf der Grundlage solcher Vorstellungen die Analyse beispielsweise des Sprachgebrauchs vornehmen.38 Spätestens hier werden die Parallelen zu Crusius augenfällig. 39 Semler geht es —chronologisch gesehen— zunächst darum, daß sich der Ausleger mit den historischen Umständen bekannt macht und von dieser Warte aus dann Analysen vornimmt, die im Sinne des Umkehr-Verhältnisses von der Sprache über die Gedanken hin zu den Sachen verlaufen. Man könnte hier (wie im übrigen auch bei Crusius) von einer historischen Indexierung dieser Analysen sprechen: Die Wortbedeutungen, die Tropen und Figuren, der argumentative Zusammenhang und anderes mehr werden unter dem Aspekt historischer »Einkleidungen« untersucht. Indem sich der Ausleger darum bemüht, auf den Rängen der »nächsten Leser« einen Platz zu finden, sieht er sich bestenfalls in der Lage, den Weg von den verba zu den res auf zeitgenössischen Pfaden zurückzulegen. Allerdings ist das nicht die einzige Aufgabe des Auslegers. Semler denkt hier konsequenter als andere Autoren. Die Einsicht in die unterschiedlichen Standpunkte von Verfasser und Interpret soll nicht bloß zu 36
V g l . z . B . Id. 1759, Vorrede, unpaginiert. Zur R e l e v a n z dieser Hilfsmittel, gerade auch für die damalige Debatte um den Vorrang von Vernunft oder Erleuchtung, vgl. Hornig 1994, 2 0 4 f und 2 0 9 f f .
37 38
V g l . ausführlich Id. 1772, 16 (dieser H i n w e i s bei Hornig 1994, 2 0 0 [Anm. 23]). V g l . dazu Id. 1760, 160 und 163. Daß S e m l e r hier explizit von »vorstellen« spricht, wird für meinen Gedankengang in Kap. V. 3, I96f und 2 0 0 zentral sein.
39
D a s ist keine historische Aussage.
2. Analyse und Geschichte
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Annäherungen führen. Auch Semler weiß, daß solche Annäherungen der Gesichtspunkte immer nur approximativ erfolgen können, also niemals zu einer Aufhebung der historischen Situation des Interpreten führen, sondern im Gegenteil die verbleibende Kluft zwischen Verfasser und Ausleger verdeutlichen. Im Gegensatz zu Chladenius oder Crusius bleibt Semler nun nicht vor dieser Kluft stehen; er versucht sie vielmehr zu umgehen. Das geschieht, soweit ich sehe, mit Hilfe zweier Annahmen. Die erste habe ich soeben genannt: Semler geht davon aus, daß sich der Interpret mit den zeitgenössischen Einkleidungen der Vorstellungen vertraut machen und so gesehen ein zeitgenössisches Gewand überziehen muß. Die zweite Annahme schließt hier unmittelbar an und besagt, daß der Interpret —weil er sich ein solches Gewand anziehen muß— grundsätzlich in der Lage ist, sich wiederum zu >entkleidenentkleiden< die Rede. Vom Interpreten wird überdies verlangt, daß er die Gegenstände in zeitgemäßer Weise präsentiert. Und von da her wird man sich fragen dürfen, weshalb der Interpret zuvor mit den Einkleidungen der Vorstellungen des Autors vertraut werden mußte. Es lassen sich mindestens zwei Antworten denken. Erstens gilt es zu beachten, daß der Interpret ja nicht beliebige Gegenstände zeitgemäß verhandeln soll, sondern exakt jene, die der Autor im Blickfeld hatte; und der Weg zu diesen Gegenständen setzt bei den vom Autor
40
S e m l e r 1760, 160f.
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V. Probleme
benutzten Mitteln an und führt von dort auf seine Gedanken. Je besser der Interpret die Umstände kennt, welche diese Gedanken bestimmen, sowie die Mittel, wie sie sprachlich umgesetzt werden, desto fundierter ist der Zugang zu den Gegenständen, über die der Autor berichtet. Die zweite Antwort verlangt eine Zusatzüberlegung. Mit der Empfehlung an den Interpreten, er solle über die Gegenstände des Autors so reden, wie es die »veränderte Zeit« erfordert, verfolgt Semler einen Hintergedanken. Erinnern wir uns: Es geht letztlich um eine Fundierung der heilsamen Erkenntnis. Diese Fundierung verlangt eine sorgsame Berücksichtigung historischer Umstände und damit die Bekanntschaft mit den Einkleidungen der Vorstellungen des Autors. Als erste Bedingung, damit sich heilsame Erkenntnis überhaupt einstellen kann, gilt demnach der historisch gesicherte Weg von den Wörtern zu den Sachen. Allerdings bedarf es noch einer zweiten Bedingung. Denn die Menschen, bei denen sich heilsame Erkenntnis einstellen soll, sind (in diesem Fall) ja Zeitgenossen des Interpreten und nicht des Autors. Entsprechend hat der Interpret einen Weg zu wählen, der seinen Zeitgenossen gemäß ist, er hat eben »auf solche Weise iezt zu reden, als es die veränderte Zeit und andere Umstände der Menschen neben uns erfordern«. Vor dem Hintergrund dieser Annäherung des Interpreten an seine Zeitgenossen gelingt es Semler in der Tat, die Kluft zwischen Autor und Ausleger zu umgehen (s.o.): Durch die historische Analyse wird der Ausleger zunächst (1) mit den Einkleidungen der Vorstellungen des Autors vertraut, und er lernt, die besagten Vorstellungen überhaupt als historisch bedingte zu erkennen. Diese »historische Erkenntnis» erlaubt dem Ausleger sodann, (2) alles dasjenige zu subtrahieren, was die Vorstellungen historisch bestimmen 41 , oder im Jargon: diese der historischen Einkleidungen zu entledigen. Auf der Grundlage dieser Subtraktion ist der Ausleger schließlich angehalten, (3) die vom Autor vorgestellten Gegenstände neu, d.h. den Umständen des Interpreten (und seiner Zeitgenossen) gemäß einzukleiden. Man wird vis-à-vis dieser Auflistung geneigt sein zu behaupten, daß der Interpret hier unterschiedliche Aufgaben erfüllt — zumal sich die Bereiche (1) und (3) problemlos mit den Schlagwörtern >Auslegung< und >Anwendung< besetzen lassen. Tatsächlich spricht Semler davon, daß man »die ganze übrige Hermenevtik auf diese zwey Stüke bringe«, und meint damit die »historische Auslegung« auf der einen (1), die »jetzige Anwen-
41
Von »subtrahieren« und der »Semlerschen Subtraktionsmethode« spricht in diesem Zusammenhang Weimar 1975, 63 und 81.
2. Analyse und Geschichte
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dung« des Ermittelten auf die Situation des Interpreten und seiner Zeitgenossen auf der anderen Seite (3). 42 Es fällt auf, daß Semler (2) nicht eigens bedenkt. Aus systematischer Perspektive ist dieser Bereich jedoch wichtig, weil er die Nahtstelle von ( 1 ) und (3) bildet. Zum einen verlangt (2) vorgängig die Vertrautheit des Interpreten mit den historischen Umständen, zum andern ermöglicht erst die Subtraktion historisch bedingter Faktoren dem Interpreten, über die Gegenstände in zeitgemäßer Weise zu reden. Gewiß lassen sich Gründe finden, weshalb Semler (2) nicht in eigenem Recht behandelt. Im Zusammenhang mit (1) spricht er interessanterweise von »hermeneutischer Fähigkeit«, über die ein Interpret verfügen müsse, und bezieht sich damit sowohl auf die Ermittlung der historischen Umstände als auch darauf, daß der Ausleger diese Umstände zu »unterscheiden« habe. 43 Deutet man >unterscheiden< dahingehend, daß der Interpret die Umstände als historisch bedingte Faktoren auffaßt, welche die Vorstellungen des Autors in bestimmter Weise färben, so wäre damit zugleich die Basis für die Subtraktion geschaffen und in diesem Sinne (2) dem Bereich (1) angegliedert. Diese Deutung hat Konsequenzen. 44 Wenn (2) tatsächlich (1) angehört, wird man sowohl den Begriff der historischen Analyse als auch jenen der historischen Erkenntnis entsprechend weit fassen müssen. Danach würde >historische Erkenntnis< nicht bloß —wie ich das vorgeschlagen habe— >Einsicht in die Einkleidungen der Vorstellungen bedeuten, sondern auch >Einsicht in die historische Bedingtheit dieser Einkleidungen^ und die historische Analyse wäre demgemäß auch mit der Subtraktion zu beauftragen. Geht man ferner davon aus, daß (3) in Semlers Konzeption einen festen Bestandteil der »Hermenevtik« bildet, wird man folgerichtig behaupten dürfen, daß die historische Analyse (nun 1+2) die Voraussetzung für (3) bildet. Das führt auf die Frage, welchem der Bereiche, (1+2) oder (3), Priorität zukommt. Bei Semler scheint die Angelegenheit klar; ihm geht es darum, eine adäquate Basis für die heilsame Erkenntnis zu schaffen. Die
42
V g l . Semler 1760, 161. — Semler ist sich selbst nicht ganz sicher, ob seine Unterscheidung zwischen ( 1 ) und (3) derjenigen von Johann August Ernesti verpflichtet ist (vgl. z.B. seine A u s s a g e in Id. 1783, 21); zur Auseinandersetzung zwischen Semler und J. A. Ernesti vgl. Aner 1929, 2 4 0 s o w i e Hornig 1994, 197ff, der nebst Semlers Schriften noch Stellungnahmen seiner Zeitgenossen diskutiert.
43 Ibid., 160. 44 S o w e i t ich sehe, liest Weimar 1975, 63 (Anm. 188) ähnlich. Seine Interessen sind aber anders gelagert.
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V. Probleme
»Zubereithung einer Stelle zu vortheilshafter Anwendung ihres Hauptinhalts auf den Zustand der Menschen« erfordert entsprechend die Geschiklichkeit des Auslegers [...], wonach er wirklich in die Stelle iener Redenden und Schreibenden trit, nur mit dem Unterschied, daß er iezt Zuhörer und Leser in einer andern Zeit hat, und daß er dis gehörig weis und durch seine Art sich auszudrücken beobachtet.45 Damit der Ausleger »wirklich in die Stelle« des Autors treten kann, bedarf es aber, wie gesagt, der historischen Analyse, und zwar im erweiterten Sinne (1+2). Somit wird auch verständlich, weshalb diese Form der Analyse als Voraussetzung für die besagte »Zubereitung« gilt, oder in Anlehnung an meine früheren Überlegungen formuliert: weshalb die historische Analyse als Propädeutik für (3) fungiert. Die Charakterisierung der historischen Analyse als Propädeutik zieht unweigerlich die Frage nach sich, wie das Verlaufsschema der »beiden Stücke der Hermenevtik« aussieht. Nimmt man in diesem Zusammenhang alternative Propädeutiken zum Vergleich, so z.B. das Modell lectio & imitatio, dann lassen sich mindestens zwei Besonderheiten in Semlers Ansatz ausmachen. 4 6 Anders als bei der Lektüre verläuft bei der »Zubereithung« der Weg von den Wörtern zu den Sachen holprig — das wurde bereits bei Crusius bemerkt. Damit sich der Ausleger überhaupt auf den Pfaden der Zeitgenossen des Autors bewegen kann, muß er zuvor durch historische Analyse die Umstände ermitteln; erst dann kann er mit herkömmlichen Analysen ansetzen, wie z.B. der Ermittlung des sprachlichen Materials oder der Beweisführung. Die zweite Besonderheit beruht vordergründig auf einer Gemeinsamkeit. Wie die imitatio erfolgt auch die zeitgemäße Einkleidung der Gegenstände invers zu den letztgenannten Analysen oder —aus anderer Perspektive— in derselben Richtung, die für den Autor bei der Textgenese verbindlich war. 47 Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch der Unterschied. Die Imitation wiederholt die Textgenese in einem strengen Sinne, sie ahmt nach, geht exakt am Text entlang, richtet ihren ganzen Ehrgeiz darauf, nicht von der Vorlage abzuweichen. Die Semlersche »Zubereithung einer Stelle« dagegen weicht von der Vorlage ab, ja sie muß
45 Semler 1760, I75f. 46 Ich stütze mich hier auf die Überlegungen in Kap. II. 1 und III. 1. 47 Erneut vereinfache ich und nehme an, daß die Vorlage in globo imitiert wird und nicht bloß hinsichtlich bestimmter Aspekte (wie das Thema oder der Umgang mit rhetorischen Figuren &c.).
3. Reproduktion und Rekonstruktion
193
abweichen, d.h. die Gegenstände gerade nicht in der Weise präsentieren, wie der Autor sie behandelt hat; andernfalls mißglückt die vom Interpreten beabsichtigte Annäherung an seine Zeitgenossen. In beiden Fällen, der Imitation wie auch der »Zubereithung«, haben wir es also mit Texten zu tun, die sich hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Vorlage klar unterscheiden, in gewisser Hinsicht sogar Pole darstellen. So könnte man die »Zubereithung« —überspitzt formuliert— als »freie Imitation« bezeichnen und als Charakteristikum festlegen, daß sie (ausgehend von den ermittelten Gegenständen) den Text des Autors von neuem »entfaltet«. Natürlich erfolgt diese >Entfaltung< oder —wie man sie auch nennen könnte— Reproduktion nicht willkürlich. Erstens müssen bestimmte Aspekte der Vorlage bewahrt werden. Bei Semler sind das die »Gegenstände«, über die der Autor in der Vorlage spricht und die es bei der »Zubereithung« im Auge zu behalten gilt. Zweitens darf die Reproduktion nicht nach Gutdünken des Interpreten erfolgen, sondern muß auf die Umstände seiner Zeitgenossen zugeschnitten werden. Die Relevanz beider Bedingungen der Reproduktion wird deutlicher, wenn man mit Semler noch einmal den Akzent auf die heilsame Erkenntnis legt: Weil die Vorlage solche Erkenntnis infolge der veränderten Umstände bei den Zeitgenossen des Interpreten nicht zu verursachen vermag, muß an ihre Stelle ein Text treten, der die Vorlage in angemessener Weise reproduziert (soweit die zweite Bedingung). Damit der Text jedoch überhaupt den Anspruch erheben kann, die Vorlage zu reproduzieren, muß er seinerseits bestimmte Aspekte dieser Vorlage konservieren (die erste Bedingung). Von diesen beiden Bedingungen hängt es ab, ob der Text als Reproduktion der Vorlage gelten darf. Ist er keine Reproduktion, dann liegt der Fehler entweder bei der neuerlichen Behandlung der Gegenstände oder er beruht auf der historischen Analyse. Handelt es sich beim Text jedoch um eine Reproduktion, dann ersetzt er die Vorlage und gilt —auf Semlers Anliegen bezogen— als Grundlage für die heilsame Erkenntnis.
3. Reproduktion
und
Rekonstruktion
Den vorangegangenen Überlegungen zufolge bietet Semlers Hermeneutik eine konsequente Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten rationalistischer Auslegungslehren. Während Chladenius die psychologistische Schiene fährt und über die Berücksichtigung der für die Textgenese und -analyse verbindlichen Erkenntnisvermögen auf das Problem der »Sehe=Punck-
194
V. Probleme
te« stößt, versucht Semler dieses Problem zu umgehen, indem er auf eine sorgsame Überprüfung der historischen Umstände setzt. Anders als Crusius geht es Semler aber nicht darum, daß der Interpret die »Geschichte« des Autors sich aneignet, sondern sie im richtigen Augenblick ersetzt. Damit hat sich Semler nach zwei Seiten abgesichert: Die historische Analyse bannt die Gefahr willkürlicher Sinnzuweisungen an den (biblischen) Text; und die Anpassung der Absichten des Autors auf die Situation des Auslegers sowie seiner Zeitgenossen vermag weitgehend die Probleme einer Rechtfertigung von Anwendungen durch Stellen zu vermeiden. 48 Legt man diese Vogelperspektive ab, zeigt sich allerdings, daß auch Semlers Ansatz Fugen und Risse aufweist. So bleibt unter anderem unklar, welches der richtige Augenblick für die »Zubereithung einer Stelle« ist. Eigentlich müßte er mit dem Abschluß der Analysen zusammenfallen. Hat der Ausleger nämlich mit Hilfe der historischen Analyse die Umstände ermittelt, verfügt er über ein Koordinatensystem, innerhalb dessen die weiteren Analysen stattfinden können; und sind diese Analysen unter dem Gesichtspunkt des Historischen einmal abgeschlossen, dann sollte der Interpret doch in der Lage sein, die historisch bedingten Komponenten der Gedanken des Autors zu subtrahieren. Allerdings ist mit dem Hinweis auf das Koordinatensystem nur wenig gewonnen — zumal Semler selbst eingesteht, daß die Parameter nicht mit Gewißheit ermittelt und daher zuweilen »vorgestellt« werden müssen. Doch selbst dieses Eingeständnis läßt offen, ob es sich beim »Vorstellen« um eine Fakultät handelt; und es bleibt entsprechend unklar, worauf sich diese Fakultät allenfalls bezieht. Fragen dieser Art aber sollten beantwortet werden. Immerhin handelt es sich beim »Vorstellen« um eine Tätigkeit im Rahmen der historischen Analyse, die ihrerseits ja eine wichtige Voraussetzung für die »Zubereithung einer Stelle« darstellt. Insofern dürften die besagten Fragen auf Defizite aufmerksam machen, die allgemein das Verhältnis von (historischer) Analyse und Reproduktion betreffen. Wenn auch nicht Antworten, so doch Anregungen finden sich bei einem Autor, dessen hermeneutische Position in mancherlei Hinsicht derjenigen Semlers ähnelt. In zahlreichen Schriften favorisiert auch Johann Gottfried Herder so etwas wie eine historische Analyse, mit deren Hilfe
48 Chladenius steht ja vor dem Problem, die Anwendungen des Auslegers bzw. Lesers auf der Grundlage der Stellen aus der Vorlage zu rechtfertigen; bei Semler erfolgt diese Rechtfertigung nun auf der Basis der Reproduktion der Vorlage.
3. Reproduktion und Rekonstruktion
195
der Interpret »gleichsam Zeitgenoß« des Autors wird. 49 Anhand »richtiger Zeugnisse« gelte es, den »Zeitgeist« zu erfassen, aus dem heraus der Autor seine Gedanken entwickelt und sprachlich umgesetzt habe. 50 In diesem Zusammenhang fordert Herder erstens solide Kenntnis des Sprachgebrauchs. Unter der Voraussetzung, daß sich der Autor seinen Zeitgenossen mitteilen will, darf angenommen werden, daß er sich einer Sprache bedient, die den Lesern angepaßt ist.51 Weiß der Interpret, wie solche Akkommodationen erfolgen, ist er zugleich imstande, den zugrundegelegten Text »gleichsam« als Zeitgenosse des Autors oder —wie Semler sagen würde— als »nächster Leser« zu verstehen. Nebst dem Sprachgebrauch verlangt Herder zweitens eine sorgfältige Ermittlung der historischen Umstände, wobei das »Leben des Autors«, seine Zugehörigkeit zu Schulen und dergleichen mehr 52 ebenso interessiert wie der »Geist« seiner Zeit. Nicht immer reichen aber die Zeugnisse aus, um sich mit Erfolg in den Zeitgeist des Autors »hinein[zu]versetzen«.53 In diesem Fall sei die »Einbildung« mit Bildern zu füllen, die entweder durch den Text selbst oder durch andere Quellen evoziert werden. Fragt man bereits an dieser Stelle nach den Charakteristika solcher Einbildungen, so wird zum einen deutlich, daß sie sich nicht auf sprachliches Wissen beziehen, sondern auf historisches. 54 In diesem Sinne fungieren Einbildungen als Kompensat für jene Zeugnisse, über die der Interpret de facto nicht verfügt. Zum andern soll der Ausleger via Einbildungen in die Lage versetzt werden, imagina49 Vgl. dazu z.B. Herder 1780/81, 8. Brief, 223. — Zu Aspekten der Hermeneutik Herders vgl. Irmscher 1973; im folgenden profitiere ich von Weimars Ausführungen zu Herder (Id. 1975, 77ff). 50 Id. 1794, 28. — Allgemein gesagt, versteht Herder unter >ZeitgeistGeist der Zeit< u.ä. die Summe der Merkmale (z.B. einer philosophischen Denkrichtung), die eine bestimmte Epoche kennzeichnet und sich dadurch von anderen Epochen unterscheidet; zu Nuancen in der Begriffsbildung vgl. Jons 1956, 57ff. 51 Vgl. etwa Herder 1774, X, 1 lOf. — Diese Annahme ist zentral, weil sie Herders Auffassung stützt, wonach auch der Interpret solche Anpassungen vorzunehmen habe und in diesem Sinne also ein Bestandteil der Idee von der Geschichte als fortwährende Akkommodation darstelle: »[...] die Symbole jetzt gestellet müßten so Zeitartig werden, als sies dort waren.« (ibid. [Hervorhebung im Text]). 52 Vgl. dazu die Auflistung historischer Umstände in Id. 1780/81,42. Brief, 521 f. 53 Id. 1794, 28. — Diese Formulierung suggeriert, daß Herder bloß meint, es seien in bestimmten Fällen nicht genügend Zeugnisse vorhanden, um sich in die »Denkart« des Autors »hineinzuversetzen«; wie weiter unten deutlich wird, kann das aber auch heißen, daß die vorhandenen Zeugnisse keine geeignete Basis abgeben, um sich hineinzuversetzen. 54 Unten gebe ich ein Beispiel solcher Evozierung.
196
V. Probleme
tiv zu ermitteln, wodurch und auf welche Weise die Gedanken des Autors bestimmt wurden. Auf dem Wege einer solchen »Einfühlung« eröffnen sich dem Interpreten sodann Möglichkeiten, die Schrift »im Geiste ihrer Zeit [zu] lesen, d.i. verstehen [zu] lernen«. 55 Die letzten Bemerkungen deuten eine zeitliche Reihenfolge an. In der Tat ist Herder der Meinung, daß sich der Interpret in einer ersten Phase anhand von Zeugnissen und Einbildungen um eine »fiktive« Zeitgenossenschaft 56 mit dem Autor zu bemühen hat, um in einer zweiten Phase diese Bekanntschaft von historischem Ballast zu befreien. Interessanterweise spricht auch Herder in diesem Zusammenhang — w i e schon Semler— von »unterscheiden«: Wer sich auch hier nicht in die Denkart der Zeit stellt, um zu unterscheiden, was zum Wesen der Sache oder zum Beirath gehöre, der vermag schwerlich die Geschichte oder die Meinungen irgendeines, geschweige eines so prägnanten und sonderbaren Zeitalters zu prüfen, in dem diese Bücher geschrieben wurden.57 Auf Anhieb scheinen die Parallelen zu Semler gegeben. Hier wie dort geht es nämlich um eine Unterscheidung historischer Faktoren (welche die Gedanken oder Meinungen des Autors bestimmen) auf der einen, der »Sache« auf der anderen Seite. Herder spricht denn auch gerne vom »wahren Geist der Bücher« und ihrem »Zeitkörper« oder »Zeitkleide«. 58 Der Ausleger hat demgemäß ( l * ) 5 9 den Geist der Bücher in ihrem Zeitkleide zu sehen, um ( 2 * ) zu überprüfen, was »zum Wesen der Sache oder zum Beirath gehöre«, bzw. den »Beirath« von der »Sache« abzusondern und ( 3 * ) den »wahren Geist« zu erfassen.60 Spätestens der »wahre Geist« markiert jedoch Unterschiede zwischen Semler und Herder. Denn im Urteil Herders handelt es sich hierbei gerade nicht um ein >nacktes< Gebilde, das bloß darauf wartet, vom Ausleger neu eingekleidet zu werden. Im Gegenteil dient der Versuch, dem Geist das »Zeitkleide« abzulegen, in erster Linie dazu, den Blick auf die »Sache« nicht unnötig durch allerlei Beiwerk zu verstellen. Nimmt man Herder an
55
Herder 1798b, 177.
56
Dieser Ausdruck von W e i m a r 1975, 78.
57
Herder 1798a, 20 (die erste Hervorhebung von mir).
58
V g l . Id. 1774, X , l l O f ( A n m . 1).
59
D i e Unterscheidung ( [ I * ] bis [ 3 * ] ) erfolgt analog zu jener bei Semler ( [ 1 ] bis [ 3 ] ) in
60
Für die zeitliche A b f o l g e von ( 1 * ) bis ( 3 * ) vgl. z.B. Herder 1780/81, 504.
K a p . V . 2.
3. Reproduktion und Rekonstruktion
197
dieser Stelle beim Wort, so wird verständlich, weshalb für ihn Verstehen »im Geiste der Zeit« nicht —wie für Semler— heißen kann, den Geist im Zeitkleide zu erfassen, sondern ihn nach Unterscheidung und Absonderung des »Beiraths« von der »Sache« zu erkennen. Der Unterschied zwischen Semler und Herder besteht also in (3) bzw. (3*). Bei Semler geht es letztlich um die »Zubereithung einer Stelle«; hierzu wird die Bekanntschaft mit dem Autor erfordert (1), die als Voraussetzung für die Sondierung des >bloß Historischem gilt (2). Man könnte in diesem Fall davon sprechen, daß Semlers Ansatz zwar auf dem Historischen baut, in der Zielsetzung aber eine Anpassung der »Gegenstände« auf die Situation des Interpreten und also eine Überwindung des Historischen vorsieht. Anders Herder: Ihm geht es um ein Verstehen im Geiste der Zeit des Autors. Mit anderen Worten setzt Herder bei dem durch historisches Beiwerk kaschierten Geist an und endet mit dem >gesäuberten< wahren Geist, der indes weiterhin der »Denkart« des Autors verpflichtet und entsprechend als wahrer Geist der Zeit des Autors zu charakterisieren ist. 61 Man mag einwenden, daß Herders Position mit dieser Charakterisierung ins Wanken gerät; und tatsächlich wird bereits ein flüchtiger Blick auf seine Interpretationspraxis diesen Einwand erhärten. 62 Wenn sich Herder mit Schriften des ersten Jahrhunderts auseinandersetzt und darum bemüht ist, den wahren Geist dieser Zeit aus den Texten wie den Kern aus der Schale hervorzuholen 63 , so ist sein Umgang mit diesen Texten zumindest nicht historisch in dem Sinne, daß er seine Auslegung im Jargon der Vorlage abfaßt, deren Disposition tel quel übernimmt usf. Im Gegenteil handelt es sich bei diesen Interpretationen um Texte im Geiste der Zeit bzw. in der Denkart Herders. Allerdings muß dies noch kein Indiz dafür sein, daß Herders Position wankt. Immerhin wird er sich mit einem interpretationstheoretischen Argument zu behelfen wissen und geltend machen, daß sein Ziel nicht darin bestehe, den mit historischem »Beirath« versehenen Geist in Zweitauflage zu erfassen, sondern den wahren Geist zu erkennen. Ist man bereit, diesem Argument zuzustimmen, wird man allerdings nachfragen dürfen, worin sich Herder noch von Semler unterschei-
61
In d i e s e m Sinne stellt sich der Interpret also auf der Grundlage seiner Denkart in die Denkart des Autors und versucht so, den »Geist seiner Zeit« zu erfassen. Dieser Gedanke wird im folgenden im Detail entwickelt. 62 Dazu ausführlich Weimar 1975, 85f. 63 Zu Variationen dieser vornehmlich pietistischen Formel (vgl. z.B. Francke 1717, 197, aber auch Dannhauer 1695, 39, zur Metaphorik allgemein vgl. Spitz 1972, 6167) bei Herder vgl. Weimar 1975, 81 (Anm. 79).
198
V. Probleme
det. In beiden Fällen, (3) und (3*), werden die »Gegenstände« bzw. »Sachen« vom Interpreten auf eine andere Weise präsentiert, als dies der Autor tat; und insofern wird man auch Herder unterstellen, daß er in (3*) eine Art Akkommodation vornimmt, die womöglich sogar die Grundlage für eine nachfolgende applicatio darstellt (wie das bei Semlers »Zubereithung« ja der Fall ist). Man wird keine Mühe haben, einschlägige Passagen zur Bestätigung dieser Unterstellung zu finden. 64 Allerdings ergibt sich dann die Schwierigkeit, diese Aussagen mit Herders Auffassung zu vereinbaren, daß »niemand« auf Applikation »warten« dürfe. 65 In diesem Sinne wäre also zu fragen, wie es Herder gelingt, den wahren Geist z.B. einer Schrift aus dem ersten Jahrhundert in der »Denkart« des 18. Jahrhunderts darzustellen und dennoch zu behaupten, daß es sich bei dieser Darstellung weder um eine Anpassung an die Situation des Interpreten noch um irgendeine Form der Anwendung handelt. Herder selbst gibt keine Antwort auf diese Frage, wohl aber eine Begründung, weshalb man nicht auf Anwendung warten dürfe. Sie lautet knapp: Weil alles Anwendung ist. Vorderhand mutet diese Begründung paradox an. Auf der einen Seite wendet sich Herder zugunsten des Verstehens im Geiste der Zeit des Autors gegen Formen der Anpassung oder Anwendung; auf der anderen Seite aber scheint auch bei ihm die Interpretation das Resultat einer Anpassung an die Situation des Auslegers zu sein66, so daß die Behauptung nicht abwegig ist, der Interpret würde die Denkart des Verfassers aus seiner Sichtweise verstehen. Die Antwort, die ich auf die obige Frage geben möchte, soll zeigen, daß diese Behauptung korrekt ist. Ein erster Anknüpfungspunkt bietet die Wendung »gleichsam Zeitgenoß«. Wie andere vor ihm, deutet auch Herder die Einsicht in die unterschiedlichen Standorte von Ausleger und Autor bzw. die Tatsache, daß der Interpret immer nur »gleichsam Zeitgenoß« des Autors werden kann, als Voraussetzung einer Annäherung der Perspektive des Interpreten an jene des Autors (i). Damit ist angedeutet, daß die besagte Einsicht nicht als Resultat einer mehr oder weniger mißglückten Annäherung der unterschied64 Vgl. z.B. Herder 1780/81, 40. Brief, 506f. 65 Ibid., 509. 66 Soweit Weimars Anlaß, Herders Begründung als »paradoxe Aussage« zu bezeichnen bzw. als Indiz dafür aufzufassen, daß »zumindest die Theorie [i.e. Herders Theorie] am Ende nicht aufgeht« (Id. 1975. 82). Zuvor hatte bereits Jons 1956, 89 Probleme mit der besagten Begründung; seine Lösung ist aber irgendwie nur auf U m w e g e n über Heidegger zu verstehen.
3. Reproduktion und Rekonstruktion
199
liehen Standpunkte aufgefaßt wird, anders formuliert: daß die Perspektive des Interpreten im Zuge der Annäherung nicht aufgegeben wird. Diese Deutung läßt sich unterschiedlich gewichten. Einer schwachen Fassung zufolge (ii) tritt die Perspektive des Interpreten im Zuge der Annäherung in den Hintergrund. Diese Strategie mag Semler im Auge haben: Der Interpret macht sich mit den historischen Umständen vertraut, versucht so die Vorstellungen des Autors zu ermitteln, säubert sie von historisch Belanglosem und schafft damit die Basis für die Anpassung der ermittelten Daten an seine »Denkart«. Der stärkeren Fassung zufolge (iii) bleibt die Perspektive auch während der Annäherung an den Standpunkt des Autors im Vordergrund. Entsprechend erfolgt die Anpassung an die Situation des Interpreten —im Gegensatz zu (ii)— nicht nach Ermittlung der Vorstellungen des Autors bzw. nach deren >SäuberungLicht< und >Dunkel< >Gut< und >Böse< symbolisieren, hat er sich bei >Dunkel< —so die Empfehlung von Herder— allerlei »Finsternißschrecken des Orients« einzubilden. Das Spektrum ist gewaltig, es reicht von »Einöden, Abgründe, wilde Thiere, Räuber« über »Verwünschungen, Zaubereyen« hin zu »Unholden, Unthaten« — und all das »unter dem Vorhange der Nacht«. Entsprechend hat der Interpret bei >Licht< Analoges zu imaginieren, und zwar vor dem »weiten Horizont« eines »schönen Tages«. Wie immer man sich durch solche Assoziationsketten angesprochen fühlen mag, sie machen zweierlei klar: (a) hat Herder ein Interesse daran, den Interpreten unmittelbar an jene Stelle zu führen, an der der Autor seinerseits angesetzt hat — bei den »Sachen«, die seine Vorstellungen evoziert haben. Tatsächlich beläßt es Herder nicht mit der obigen Aufzählung, sondern legt dem Interpreten darüber hinaus nahe, er solle sich das »allgemeine Gefühl« vorstellen, das durch diese »Finsternißschrecken« evoziert werde. Freilich ist an dieser Stelle (i) nicht außer acht zu lassen: Der Interpret verfügt über das entsprechende Gefühl qua Interpret und nicht etwa als Autor oder Hirte, der mit Stock & Schaf durch den Orient zieht. 70 In diesem Sinne ist der Ausleger —hat er das Gefühl einmal in sich erweckt— in der Lage, die Schrift als Kind seiner Zeit »im Geiste ihrer Zeit zu lesen«. Und damit zum zweiten Punkt (b). Herder sagt nicht von ungefähr »lesen«. Verfügt der Interpret imaginativ über die Vorstellungen, die der Autor gehabt hat, so erhält er zugleich Einblick in die erste Stufe des Entstehungsprozesses der Schrift. Auf der Grundlage der durch Einbildung
69 Diese Quelle verdanke ich Weimar 1975, 78. 70 Oder wie Herder an anderer Stelle sagt: »Um uns ist kein Griechenland, kein Rom; wir reden weder vor dem Senat, noch auf dem Markte [...].« (Herder 1780/81, 42. Brief, 521).
3. Reproduktion und Rekonstruktion
201
erworbenen Vorstellungen wird der Interpret dann die Schrift insofern lesen, als er die nächstfolgenden Phasen der Textgenese —so etwa die Anordnung und sprachliche Gestaltung der Vorstellungen— nachzuvollziehen versucht. Analog zu (a) muß hier (iii) berücksichtigt werden: Der Nachvollzug des Produktionsprozesses erfolgt vor dem Hintergrund der »Denkart« des Interpreten; entsprechend findet in der Lektüre des Textes fortlaufend eine Anpassung dessen, was der Autor in den einzelnen Produktionsphasen genetisch entwickelt hat, an die Situation des Interpreten statt.71 Sind die vorangegangenen Überlegungen zu Herder korrekt, dann haben wir es hier mit einem Modell zu tun, das einerseits an die bislang diskutierten Ansätze anknüpft, andererseits aber von ihnen abzuweichen scheint. Was den Anknüpfungspunkt betrifft, bietet Herders Position eine Lösung besonderer Art. Die Anwendung wird von der Lektüre vereinnahmt, sie erfolgt parallel zum Verstehen eines Textes und wird damit schlechterdings hinfällig. Im Detail hat dies —wie auch bei Semler— zur Folge, daß die Auslegung qua Produkt einer solchen fortlaufenden Anwendung die zugrundegelegte Vorlage reproduziert. Der Hinweis auf die Reproduktion mag zugleich verdeutlichen, in welcher Hinsicht Herders Konzeption abweicht. Denn Semlers Reproduktion erfolgt auf der Grundlage einer historischen Analyse nicht bloß im engen (1), sondern im weiten Sinne (1+2). Entsprechend verfährt der Interpret nach Ermittlung historischer Umstände gemäß herkömmlichem Verlaufsschema, also invers von der Sprache zu den Gedanken bzw. Gegenständen; sodann paßt er den ermittelten Sinn auf seine eigene Situation an, indem er den für den Autor verbindlichen Produktionsvorgang iteriert bzw. reproduziert, also von den Gegenständen und Gedanken hin zur sprachlichen Gestaltung fortschreitet. In diesem Sinne fungiert die historische Analyse (1+2) als Propädeutik der Reproduktion. Bei Herder liegt die Angelegenheit nun insofern anders, als sich der Interpret imaginativ die Gegenstände bzw. Gedanken des Autors aneignet
71 Vgl. z.B. Herder 1780/81, 40. Brief, 508: »[...] was ist nun natürlicher, als daß sie diese [i.e. Hl. Schrift], als das was sie ist, zeigen, ihren Text oder seine Situation beleben und solche in jedem kleinen Gliede des Ganges und Fortganges anwendend verfolgen.« (Hervorhebungen im Text); ibid., 511 findet sich das Motto dieser »Methode«: »[...] Fruchtbarkeit, Nutze, lebendige Gegenwart in jedem Momente« (im Text hervorgehoben). Herder spricht hier von »analytischer Methode« bzw. »analytischer Lehrmethode« (was sie meiner Begrifflichkeit zufolge exakt nicht ist, s.u.); vgl. auch ibid., 45. Brief, 542, wo er diese Methode als »fortgehende Analyse« bezeichnet.
202
V. Probleme
und dann deren sprachliche Gestaltung aus der Warte genau dieser Gedanken nachvollzieht. Mit anderen Worten wird bei Herder der Produktionsprozeß bereits auf der Stufe der Semlerschen historischen Analyse wiederholt. Teilt man mit Herder zudem die Auffassung, daß die Interpretation eines Textes die Darstellung des imaginativen Nachvollzugs des Produktionsprozesses sei, müßte folgerichtig zwischen diesem Nachvollzug und der Interpretation Deckungsgleichheit bestehen; hier wie dort wird der Produktionsvorgang der Vorlage iteriert. Entsprechend läßt sich im Falle einer solchen Deckungsgleichheit (und in Abgrenzung gegenüber Semlers Reproduktion) von einer Rekonstruktion der Vorlage sprechen.
4. Begründung
und
Rechtfertigung
Die Rede von Reproduktion und Rekonstruktion ist nicht ohne Hintergedanken. Immerhin bewegen wir uns in Richtung idealistischer Ansätze. In Herders Nachfolge wird denn auch oft und gerne von »Construiren«, »Nachconstruiren«, von »Reproduciren« und »Nachbilden des schon Gebildeten« gesprochen. 72 Daß diese und verwandte Ausdrücke nachgerade inflationär verwendet werden, sollte davor warnen, voreilig Parallelen zu ziehen. In der Tat vertritt die hermeneutische Prominenz von Friedrich Schlegel bis August Boeckh sehr unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage, auf welche Weise und mit welchen Mitteln die Hermeneutik was genau zu leisten habe. Beschränkt man sich aber auf Aspekte, so lassen sich wenigstens Kontinuitäten in den Problemstellungen ausmachen. 73 Für diesen Zusammenhang interessiert die Anwendung. Bereits ein oberflächlicher Blick in die einschlägigen Kompendien verrät, daß sich Herders Ansatz einer fortlaufenden Anwendung durchzusetzen vermochte. Bei Friedrich Schlegel etwa finden sich Reformulierungen der Idee, wonach Anwendung kein Thema sei, weil alles bereits Anwendung ist. Allerdings zeigen sich in diesem Zusammenhang auch Unterschiede zu Herder. Schlegel versetzt seinen Ausleger nicht in das Zeitalter des Autors, sondern läßt ihn per Divination am »Ideal« partizipieren, dessen »Realisation« das zu verstehende Werk sein soll.74 Weil es sich hierbei meist um 72 Zu diesen Begrifflichkeiten vgl. Ende 1973, Kap. II, III und IV. 73 Eine Palette von Aspekten der Hermeneutiken im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert bespricht Weimar 1975, Kap. VI und VII, ferner Id. 1987 und Id. 1991. 74 Schlegel 1963, Frg. 183f (338). — Ich komme auf diesen Punkt im Zusammenhang mit dem Besserverstehen zurück (s.u.).
4. Begründung und Rechtfertigung
203
historische Texte handelt, ermöglicht erst die besagte Partizipation dem Interpreten, den »Buchstaben« (der im Urteil Schlegels »fixierter Geist« ist) »fließend« und auf diesem Wege den »gebundenen Geist frei [zu] machen«. 7 5 Stark verkürzt ließe sich sagen, daß bei Schlegel der Interpret seine Ansichten in den Buchstaben projiziert und den Autor dadurch zu seinem Zeitgenossen macht. Konstitutiv für diese Art von Anwendung (oder passender: Aneignung) ist bei Schlegel unter anderem der Grundsatz des Besserverstehens. In einer prominenten Version lautet er 76 : (1)
Um jemand zu verstehn, der sich selbst nur halb versteht, muß man ihn erst ganz und besser als er selbst, dann aber auch nur und gerade so gut wie er selbst verstehn.
Augenfällig ist zunächst der zeitliche Verlauf des (Besser-)Verstehens (i), der durch Wendungen wie »erst« und »dann« angezeigt ist; ferner, daß es sich beim Besserverstehen offenbar um eine Bedingung des >Gleichverstehens< bzw. Autorenverstehens handelt (ii). Weniger deutlich wird jedoch, wer oder was genau verstanden oder besserverstanden werden soll (iii). Naheliegend ist die Vermutung, daß es auch Schlegel um den Autor geht. Diese Vermutung wird durch die handschriftliche Urfassung von (1) bestärkt, in der nebst »jemand« auch der »Autor« auftaucht. Bei genauem Hinsehen aber zeigt sich, daß diese Deutung zu modifizieren ist. Denn laut Schlegel versteht der Autor nicht sich selbst, sondern den »Sinn« seines Textes. 7 7 Nimmt man diese Korrektur ernst, wird sich entsprechend auch das Verstehen bzw. Besserverstehen des Interpreten nicht auf den Autor beziehen, sondern bestenfalls auf den »Sinn«. Faßt man >Sinn< aus der Perspektive des Autorintentionalisten auf, bietet die vorgeschlagene Modifikation allerdings Probleme; ihr kommt das Verlaufsschema des (Besser-)Verstehens in die Quere (i). Denn laut traditioneller Auffassung wird der Sinn anhand einer Analyse dessen ermittelt, was der Autor mit seinem Text mitzuteilen beabsichtigte; und diese Form der Ermittlung (sowie die Beantwortung der Frage der Adäquatheit des
75 Vgl. ibid., Frg. 1229 (297) sowie ibid., Frg. 274 (344). 76 Id. 1967, Frg. 401 (241). 77 Id. 1963, Frg. 4 3 4 (63): » U m jemand zu verstehen muß man erstlfich] klüger seyn als er, dann eben so klug und dann auch eben so dumm. Es ist nicht genug daß man d[en] eigentlichen] Sinn eines confusen Werks besser versteht, als d[er] Autores verstanden hat.« (Hervorhebungen von mir).
204
V. Probleme
Sinns) führt idealiter dazu, daß Autor und Interpret »einerley und dasselbe denken« 78 — eine Zielsetzung, die in (1) zeitlich gesehen aber erst an zweiter Stelle auftaucht, nämlich nach >danneinzufühlenlokkeren< Verhältnis sprechen müssen. Eine Interpretation, die im Sinne der systematischen Rekonstruktion die Genese der Vorlage wiederholt, geht notgedrungen das Risiko ein, mit dem zugrundegelegten Text zu konkurrenzieren. Denn der Grundsatz des Besserverstehens ist darauf angelegt, die Vorlage zu überbieten oder zumindest in bestimmten Belangen —wie es modern wohl heißen würde— >neu< zu schreiben. 90 Allerdings gilt es fairerweise hinzuzufügen, daß diese Deutung der systematischen Rekonstruktion den Grundsätzen intentionalistischer Konzeptionen verpflichtet ist. Als >locker< kann das Verhältnis zwischen Vorlage und systematischer Rekonstruktion nur insofern bezeichnet werden, als es hier nicht in erster Linie darum geht, den Autor zu verstehen (sondern ihn eben besser zu verstehen). Vis-à-vis der idealistischen Überzeugung von der Priorität des Besserverstehens gegenüber dem Verstehen dessen, was der Autor gedacht hat, wird es sich beim besagten Verhältnis dagegen nicht um ein >lockeres< handeln, sondern um das einzige, das sich konsequent über die Ansichten des Interpreten rechtfertigen läßt und so gesehen der Norm des vom Interpreten zugewiesenen Sinns Rechnung trägt. Vor diesem Hintergrund mag dem Idealisten das Herdersche Verhältnis von Vorlage und historischer Rekonstruktion in mancherlei Hinsicht antiquiert anmuten. So kann er beispielsweise einwerfen, daß Herders Forderung, man möge mit der Denkart des Autors ansetzen, bloß ein Scheininteresse an dem vortäusche, was der Autor gedacht habe — zumal der Zugang zu dessen Denkart auf tönernen Füßen stehe, nämlich auf Einbildungen, die de facto ja ohnehin der Denkart des Interpreten verpflichtet bleiben. Interessanterweise wird auch der Intentionalist an diesem Punkt Anstoß nehmen — allerdings unter ganz anderen Vorzeichen. Herders Position liegt für ihn bereits auf der Schiene der Idealisten. Denn seine Auffassung von Interpretation zielt nicht auf ein Verständnis dessen, was der Autor intendiert hat, sondern auf fortlaufende Anpassung der Gedanken des Autors an die Situation des Interpreten. Hinsichtlich der Frage, wie yo Diese Charakterisierung entspricht in etwa dem, was Weimar als »Einerseits-Andererseits« der Rekonstruktion bezeichnet; einerseits seien Interpretationen qua Rekonstruktionen darauf aus, die Vorlage zu repetieren, andererseits aber sei diese Repetition nicht bloß referierend, sondern auch argumentierend und behaupte somit gegenüber der Vorlage »ihre Selbständigkeit« (vgl. Id. 1989, 356f und Id. 1991, 2010-
4. Begründung und Rechtfertigung
209
sich diese oder jene Art der Anpassung rechtfertigen lasse, wird Herder früher oder später auf die Intensität oder Authentizität der Einfühlung zurückgreifen müssen. In jedem Fall aber kann er zur Rechtfertigung seiner Interpretation —weil es sich dem Typus nach um eine Rekonstruktion handelt— nicht auf eine vorgängige Analyse rekurrieren, die nach herkömmlichem Verlaufsschema, d.h. regelgeleitet von der Sprache auf die Gedanken des Autors führt. So gesehen bleibt Semler gerade noch vom Verdikt des Intentionalisten verschont. Seine Konzeption verlangt nämlich eine vorgängige Analyse der Absichten des Autors. Obgleich er damit der Norm des vom Autor intendierten Sinns gerecht wird, ist Semler nicht von der Pflicht der Rechtfertigung seiner Auslegung befreit. Das gilt umso mehr, als seine Auffassung von Interpretation dem Typus der Reproduktion angehört; und dies bedeutet, daß die Überprüfung dessen, was per Analyse ermittelt wurde, immer nur auf der Grundlage einer Interpretation erfolgen kann, die ihrerseits wiederum bloß eine Sichtweise auf die Vorstellungen des Autors erlaubt, die bereits auf die Belange des Interpreten gemünzt ist. Für den Intentionalisten wird Semlers Ansatz also zum Prüfstein besonderer Art. Auf der einen Seite bietet er eine konsequente Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten intentionalistischer Konzeptionen, darunter insbesondere mit dem Problem der unterschiedlichen Standpunkte von Autor und Ausleger. Dabei ist entscheidend, daß Semler mit Nachdruck zu bestätigen vermag, was Chladenius bereits gesehen hat: Das Problem der »Sehe=Punckte« läßt sich durchaus im Rahmen intentionalistischer Theorien formulieren, und zwar in Begriffen der Ermittlung des wahren Sinns sowie der Anwendung des ermittelten Sinns. Auf der anderen Seite zeigt Semlers Ansatz aber auch, daß der Versuch, die Kluft zwischen Sinn und Anwendung zu schließen, möglicherweise Modifikationen des intentionalistischen Programms zur Folge hat. Allgemein gesagt ergeben sich hier zwei Möglichkeiten. Entweder treffen diese Modifikationen die Strategien zur Ermittlung des Sinns oder aber den Begriff der Anwendung. Was den Begriff der Anwendung angeht, lassen sich wiederum zwei Optionen denken. Die eine Variante sperrt sich dagegen, Anwendungen mit dem Etikett >Interpretation< zu versehen; demgegenüber ist die zweite Variante bereit, Formen der Anwendung als Auslegungen gelten zu lassen. Legt man das Gewicht auf diese zweite Variante, sieht man sich allerdings mit der Frage konfrontiert, auf welcher Grundlage sich solche > Interpretationen rechtfertigen lassen; und man sieht sich insbesondere auch mit der Schwierigkeit konfrontiert, daß die Beantwortung dieser Frage bereits eine Über-
210
V. Probleme
prüfung der Strategien zur Ermittlung des (wahren) Sinnes voraussetzt — die Rechtfertigung von Interpretation ist umso erfolgversprechender, je solider ihre Grundlage ist. Im Rahmen der vorliegenden Studie haben sich wenigstens Möglichkeiten abgezeichnet, wie sich eine solche Grundlage erstellen läßt. Sie hat über eine umfassende Analyse zu erfolgen, die im Sinne des Umkehr-Verhältnisses an der Textgenese ausgerichtet ist und —als Ergebnis einer solchen Ausrichtung— zu zeigen vermag, in welcher Hinsicht Sprache als Mittel fungiert, das der Autor mit welchen Absichten und zu welchen Zwecken benutzt. Ist man bereit, diesen Ansatz nicht von vornherein für aussichtslos zu erklären, sondern ihn schrittweise zu überprüfen (und vielleicht auch mit ihm zu sympathisieren), dann verfügt man zugleich über Eckpfeiler möglicher Modifikationen des autorintentionalistischen Programms: Auf der einen Seite stünde die eben angedeutete Analyse, auf der anderen Seite die Forderung nach Rechtfertigung von Interpretationen. Mit anderen Worten wäre damit also die Bandbreite zukünftiger Bemühungen um einen Intentionalismus bestimmt; sie müssen sich innerhalb genau jenes Bereiches bewegen, in dem die Rechtfertigung noch auf der Grundlage einer an der Genese ausgerichteten Analyse erfolgen kann. Natürlich ist diese Anforderung nicht knapp bemessen. Immerhin wird vom Interpreten verlangt, den Autor und seine Absichten im Auge zu behalten. Daß es mitunter leichter ist, mit wiewohl profundem historischem Wissen eigenen Sinn in die Buchstaben hineinzulesen, als sich um ein Verstehen dessen zu kümmern, was der Autor mitzuteilen beabsichtigte, sagt noch wenig über die Realisierbarkeit der besagten Anforderung aus — zumal in der Regel eine >Theorie< fehlt, wie man eigene Ansichten in Texte zu lesen hat. Wo versucht wird, diesem Manko an Theorie den Anschein des Systematischen zu verleihen, wird man entsprechend keine Unterstützung bei der Ausarbeitung des Intentionalismus erwarten dürfen. Das mag allenfalls dann tragisch sein, wenn man ein historisches Interesse daran hat, die hier diskutierten Ansätze in eine Geschichte der Hermeneutik zu integrieren, die aus der Warte der Philosophischen Hermeneutik und ihren Mitläufern geschrieben wird. Wo das systematische Interesse an der Frage dominiert, welche Anforderungen der Intentionalismus an Bedeutungsund Interpretationstheorien stellt, da wird man sich mit Vorteil an die moderne Sprachphilosophie halten.
Analytisches Inhaltsverzeichnis I. Alte und neue Logiken 1. Genese
und
Analyse
1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3
Logik und Hermeneutik Gliederung der Logica Claubergs Aufgabenbereich der Logic« Voraussetzungen des Verhältnisses von Logica genetica und Logica analytica 1.1.3.1 Verbindlichkeit der Regeln 1.1.4 Reformulierung von 1.1.3 1.2 Ramus'Logik 1.2.1 Anwendung der Logik: Genese und Analyse 1.2.2 Voraussetzungen von Genese und Analyse 1.2.3 Verbindlichkeit der Logik für Genese und Analyse
2. Für und wider den 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4
3.1 3.2 3.3 3.3.1
10 12 12 12 13 14 14
Syllogismus
Der Syllogismus in der scholastischen Logik (Ramus & Co.) Kritik am Syllogismus Kritik an der scholastischen Logik Regelgeleitete Entdeckung von Erkenntnissen Regelgeleitete Vermittlung von Erkenntnissen Der Syllogismus in alter und neuer Logik (Clauberg & Co.) Die neue Logik: Nutzlosigkeit des Syllogismus Zurück zu den Sachen Claubergs Analyse sachlicher Erkenntnis Aufgabenbereich der Logica Claubergs (vgl. 1.1.2): Eine Synthese von alter und neuer Logik?
3. Logik, Topik und
8 8 9
15 15 16 17 18 18 19 20 21 21
Rhetorik
Ansprüche an die neue Logik Kritik an der Topik Konfusionen einer Kritik an den loci Charakterisierung der Logik: inventio und disposino
22 22 23 24
212 3.3.2 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.5 3.6 3.7
Analytisches Inhaltsverzeichnis Charakterisierung der Topik: »Topische Invention« Terrain der Topik Inventio, dispositio und gar elocutio: Fortsetzung einer Konfusion (vgl. 3.3) Nutzen der loci topici Invention ist alles: Kritik Neue Terrains: Logik und Rhetorik und die Phasen der Textgenese Komplementarität von Logik und Rhetorik Anteile von Logik und Rhetorik an der Erkenntnisvermittlung?
25 25 26 27 27 28 28 29
4. Theorie und Praxis 4.1 4.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4 4.5 4.5.1 4.5.1.1 4.5.2 4.6 4.7 4.7.1 4.7.2 4.7.3 4.7.4 4.8
Logik als »praktische Vemunfft=Lehre« Aufgabenbereich der Vernunftlehre (Thomasius) Giederung und Forderungen an die Vernunftlehre Nützlichkeit Kommunikation Praktikabilität und Verständlichkeit Legitimation der Vernunftlehre Verhältnis von Theorie und Praxis Das Problem des Vorurteils Charakterisierung und Verfahren der medicina mentis Das Vorurteil im Übergang von Theorie und Praxis Allgemeinverständliche Erkenntnisvermittlung Probleme der Erkenntnisvermittlung Vorbehalte gegenüber der disputatio Und weitere Vorbehalte Convictio und persuasio Nutzen der Rhetorik Anteile von Logik und Rhetorik an der Erkenntnisvermittlung (vgl. 3.7)
30 30 31 31 32 32 33 33 33 34 35 35 36 36 37 37 38 38
II. Logische Rhetorik 1. Lektüre und 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.5.1 1.5.2 1.5.3
Imitation
Verständlichkeit und Imitation (Melanchthon) Die Norm der Verständlichkeit Abweichungen von der Norm Exemplum und imitatio Lectio und imitatio Verlauf der Lektüre Ziel der Lektüre Pragmatische Lektüre: Wie statt Was
40 40 41 41 42 42 43 44
Analytisches Inhaltsverzeichnis 1.5.3.1 1.5.4 1.6 1.6.1 1.6.2 1.7 1.8 1.9
Die Übersetzung als Gegenbeispiel Nutzanwendungen der Lektüre Imitation und Interpretation (Weise) 1. Gattung der Interpretation 2. und 3. Gattung Die »vollständige Interpretation«: 1., 2. und 3 Nutzanwendungen (vgl. III. 1.2.20 Priorität: disposino vor allem 2. Realien und
2.1 2.2 2.2.1 2.2.1.1 2.2.1.2 2.3 2.3.1 2.4 2.4.1 2.4.1.1 2.5 2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.5.4 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10
3.1 3.2 3.3 3.3.1 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.4.6 3.4.7
44 45 46 46 47 47 48 48
Lappalien
Kongruenz von res und verba Vorrang der verba Konjunktur der Schatzkammern Theorie und Nutzen der Schatzkammern Hilfsmittel der Imitation Reaktion: Akzentuierung der reí (vgl. 2.2) »Erfindung aus den Sachen« Das Projekt der Realien-Sammlungen Fixierung der Realien Wie res zu verba werden Reaktion: Akzentuierung des iudicium (vgl. 2.3) Funktion des iudicium (a) iudicium vs. memoria Pro iudicium Funktion des iudicium (b) Kompromiß: Experienz & Exempla Kritik: Iudicium & Experienz Zwei Kriterien: Erfahr-und Beweisbarkeit der Realien Wieder zu den Sachen (vgl. I. 2.2.2) Wider die elocutio
3. Logische
213
und rhetorische
49 49 49 50 50 51 51 52 52 53 53 54 54 54 55 55 56 57 58 58
Argumente
Die »neue Rhetorica« — Vorbehalte gegenüber der elocutio Für inventio und disposino / Für die Logik? (vgl. I. 3.3.1 ) Logische Forderungen an die Rhetorik Am Beispiel von convictio und persuasio (vgl. 1.4.7.3) Kritik der Logik an Mittel und Zweck der Rhetorik >Logisierung< der Rhetorik: die rhetorischen Argumente Funktion rhetorischer Argumente Reglementierung der rhetorischen durch logische Argumente Überzeugungsleistung und Wirksamkeit Logische und oratorische Wahrheit Oratorische Wahrheit und bloße Wahrscheinlichkeit Nutzen der Reglementierung (vgl. 3.4.3)
59 59 60 60 61 62 62 63 64 64 65 65
214
Analytisches Inhaltsverzeichnis 4. Überzeugung und Wirkung
4.1 4.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.3.1 4.4.4 4.4.4.1 4.4.4.2 4.4.5 4.4.6 4.4.7 4.4.8 4.4.8.1 4.4.8.2
Beweislast — aber wie? Formale Gestaltung der Argumentation: förmliche Schlüsse »Oratorische Schlüsse« als Abweichungen Rückführung auf die logische Normalform (i) Kaschierung der logischen Normalform (ii) Gemeinsamkeiten und Unterschiede von (i) und (ii) Kollision von (i) und (ii) — am Beispiel des Enthymems Wirksamkeit des Enthymems Überzeugungsleistung des Enthymems Das Enthymem — ein »leichter« Schluß? Zwei Ausnahmen Empfehlung der Rückführung (vgl. 4.3.1) Umgang mit Enthymemen Tagtägliche Erfahrung mit Enthymemen Geltungsbereich der Empfehlung (vgl. 4.4.4) Vorbehalte Die Relativisten: anything goes Reaktion: Die Empfehlung als Forderung Geltungsbereich der Forderung (vgl. 4.4.5) Autor und Leser, Textgenese und Textanalyse
66 66 67 67 68 68 69 69 70 70 71 72 72 72 73 74 74 74 75 75
III. Aspekte des Verstehens 1. Analyse als Propädeutik 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.2.1 1.2.2.2 1.3 1.4 1.5 1.5.1 1.5.2 1.5.2.1 1.5.2.2 1.5.3 1.5.4 1.6 1.6.1 1.6.2 1.7
Das genetische Verfahren der Imitation Verlaufsschema: Vorlage, Analyse, Imitation Umkehrverhältnis von Vorlage und Imitation Wiederholungsverhältnis von Vorlage und Imitation Elokutionäre Nutzanwendung durch Imitation Dispositionelle Nutzanwendung durch Imitation Analyse als Propädeutik Verständlichkeit als Norm der Textgenese (vgl. II. 1.2) Verständlichkeit und Verstehen Verstehen: Frage des Wie vs. Was (vgl. II. 1.5.3) Frage des Wozu (der Zweck) Zusammenhang von Was und Wozu Zusammenhang von Wie und Wozu Textinterne und textexteme Faktoren Frage des Wann (die Nebenumstände) Typen der Analyse Bezüge zwischen den Analyse-Typen Freizügigkeit in der Wahl der Typen Ziel und Zweck der Analyse als Propädeutik
77 77 78 78 79 80 80 81 81 82 82 82 83 83 84 85 85 86 86
Analytisches Inhaltsverzeichnis 1.7.1 1.7.2 1.7.2.1 1.7.2.2 1.7.2.3 1.7.3 1.7.4
Sinn vs. Anwendung (vgl. V. 1) Zwei Hermeneutiken? Ziel der >SinnhermeneutikAnwendungshermeneutikSollens-Analyse< 2.6.4 Konsequenzen der Inversion
3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.8.1 3.8.2 3.8.2.1 3.8.3
und
87 87 88 89 89 90 90
Erkenntnis
2.1 2.2 2.3 2.4 2.4.1 2.5 2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.6 2.6.1
3. Verstehen
215
91 91 92 93 93 94 94 95 95 95 96 97 98 98 98 99
Auslegen
Anforderung an die (Erkenntnis-)Vermittlung Der Sprachgebrauch und seine Regeln Unterminiertheit des Sprachgebrauchs Probleme mit dem Sprachgebrauch Bedeutungswahl und Worterklärungen Anforderung an den Autor: Befolgung der Regeln Begründung der Anforderung Implizite und explizite Anwendung der Regeln des Sprachgebrauchs Unproblematisches und problematisches Verstehen Auslegen und Auslegung Verstehen und auslegen / klar und dunkel Auslegen von Dunkelheiten Explizite Anwendung von Regeln bei allen Dunkelheiten Die Behauptung der Regel Auslegen und Regel, Verstehen und Konvention Die Behauptung der Dunkelheit
100 100 101 102 102 103 103 . . . 104 105 105 106 107 108 108 109 109
216
Analytisches Inhaltsverzeichnis
3.8.3.1 Thomasius' Dunkelheiten /1. und 2. Rubrik 3.8.3.2 3. Rubrik 3.8.4 Modifikation von 3.8.3, und zwar mit Hilfe von 3.8.2 4. Analyse als 4.1 4.2 4.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.5 4.6 4.6.1 4.6.2 4.6.2.1 4.6.2.2 4.6.3 4.6.4 4.6.4.1 4.6.5 4.6.6 4.6.6.1 4.6.6.2
110 111 111
Interpretation
Grammatik, Semantik und die hermeneutischen Hilfsmittel Kontextuelle Determinationen — der Einbezug der Pragmatik Was alles es zu berücksichtigen gilt Systematik einer Vielzahl von Interdependenzen Erste Charakterisierung der circumstantiae: Sinn und Bedeutung Zweite Charakterisierung: Unterschiedliche Lektüren Fortsetzung der Systematik (vgl. 4.4) Voraussetzungen im Netz der Interdependenzen Zirkel oder nicht? Kursorische, gründliche, evaluative Lektüre (vgl. 4.4.2) Verlauf der Lektüre bzw. Analyse Ziel der Analyse Focus auf scopus Sensus und scopus Ermittlung und Adäquatheit des sensus Analyse als Interpretation Interpretation vs. Propädeutik (vgl. III. 1.3) Kognitive vs. produktive Anwendung (vgl. III. 1.7.2.1 f) Gegenüberstellung von 4.6.6 und 4.6.6.1
112 112 113 114 115 115 116 117 117 118 118 119 120 120 121 121 122 122 123
IV. Normen der Interpretation 1. Skepsis, Gewißheit 1.1 1.2 1.2.1 1.3 1.4 1.4.1 1.5 1.5.1 1.6. 1.6.1 1.7 1.7.1 1.7.2 1.7.3 1.7.4
und
Wahrscheinlichkeit
Voraussetzungen der Analysen (vgl. III. 1.3 und III. 4.6.5) Bedeutungs-und Wahrheitsskeptizismus Grundlage des Skeptizismus: die Konventionalitätsthese Wider die Beliebigkeit Gleichwohl: der probabilistische Charakter von Auslegungen >Gewiß< vs. >wahrscheinlich< / Grade der Wahrscheinlichkeit Die Parallelstellenmethode Parallelstellen und Wahrscheinlichkeit Eine Annahme von 1.5: Konstanz der Autorenmeinung Ein erkenntnistheoretisches Argument für 1.6 Interpretatio authentica — die Richtlinie! Was kann die doktrinale Auslegung von der authentischen lernen? Hermeneutischer Beweise, hermeneutische Regeln Antwort auf 1.7.1 : die Zielsetzung Hypothesen (vgl. IV. 3.4.20
. . . .
124 124 125 125 126 126 127 128 129 130 130 131 131 132 133
Analytisches Inhaltsverzeichnis 1.7.5 1.7.6 1.7.7
Der Grundsatz der authentischen Auslegung Der Grundsatz der doktrinalen Auslegung Normativität und Rationalität in 1.7.6
2. Rationalität
133 134 134
und Wahrheit
2.1 2.2 2.3 2.4 2.4.1 2.4.1.1
Moralische Begründung der Rationalitäts/0rfortlaufende< Anwendung Stellung der einmaligen Anwendung (Semler) Stellung der fortlaufenden Anwendung (Herder) Noch einmal die Imagination (vgl. 3.3.1) Der Interpret vollzieht nach! Nachvollzug ist Anwendung Alles ist Anwendung: Rekonstruktion
4. Begründung
und
196 196 197 197 198 198 199 199 200 200 201 201
Rechtfertigung
4.1
Reproduktion (vgl. 2.5.11) und Rekonstruktion (vgl. 3.4.6): In Richtung Idealismus 4.2 Alles ist Anwendung (vgl. 3.4.2.1 und 3.4.6) 4.3 Am Beispiel Schlegel: das Besserverstehen 4.3.1 Der Verlauf des Besserverstehen 4.3.2 Ein wenig Systematik (Schlegel ist ambitiös) 4.3.2.1 Autoren verstehen setzt Besserverstehen voraus 4.3.2.2 Gegenstandsbereich und Verlauf von Verstehen 4.3.3 Wie kommt der Interpret zum Ideal? 4.3.3.1 Zwei Antworten 4.3.4 Der externe Maßstab des Verstehens 4.4 Herder und Schlegel: Rekonstruktionen hier und dort 4.4.1 Rechtfertigung systematischer Rekonstruktionen (Schlegel) 4.4.2 Rechtfertigung historischer Rekonstruktionen (Herder) 4.5 Die Norm des Sinns (der Autorintentionalist schreitet ein) 4.6 Das Problem bleibt: Sinn und Anwendung und Möglichkeiten einer Modifikation des Intentionalismus 4.6.1 Anforderung an die Modifikation: Analyse ist alles 4.7 Das Projekt bleibt: Intentionalismus!
202 202 203 203 204 205 205 206 206 206 207 208 208 209 209 210 210
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208, 210 — biblische 186f — dogmatische 87 — juristische 89, 172 — logische 8 — neue 3, 183 — philosophische 186 — pietistische 172-3, 187 — rationalistische 193 — Stellenwert in der Logik 8f — theologische 89, 127, 172, 186 — zetetische 87 — Zielsetzung der 88f Hilfsmittel, hermeneutisches 112, 161f Hypothese (vgl. Interpretationshypothese) 133, 152 — Funktion der 153 — hermeneutische 153, 155, 159 Imitatio (auch Nachahmung) 14, 40-46, 49f, 52, 66, 77-81, 85f, 192f
241
— als Wiederholung 192 — Arten der 44 — genetisches Verfahren der 77 — produktive 79 — und lectio 43f, 192 — Voraussetzung der 44 ingenium 164 Intentionalismus 4f, 7, 184, 203, 208210 Interdependenz 113-117 — Netz der 116-119, 121-123, 152, 185 Interpretation (auch interpretatio; vgl. auslegen, Auslegung, verstehen) — als systematische Rekonstruktion 208 — als Wiederholung 6 — Ausgangspunkt der 137f — authentische 130-134, 154-158 — doktrinale 5, 131-134, 154, 158 — Gattungen der 46-48 — Gewißheit der 5, 125 — logische 48, 59 — oratorische 47 — probabilistische 125-127, 129 — Rechtfertigung der 5f, 91, 209f — Status der 6 — Verlauf der 6, 137, 184, 186 — vollständige 48, 88 — Zielsetzung der 122f, 132f, 136, 138f, 142, 144-146, 149, 154, 158, 162-164, 170f, 176, 184, 186f, 197, 204 Interpretationsanweisung 137, 147f, 150f Interpretationsbefund 151, 160 Interpretationshypothese 139-142, 147, 151 Interpretationspraxis 133-135, 147, 197 Interpretationstheorie 5, 124, 131, 133135, 154-156, 161, 177f, 183f, 210 inventio (auch Auffindung) 4, 9-14, 1618, 24-29, 39, 43, 45, 47, 49-51, 53, 58, 60, 77-80, 85, 151 — geschickte 55, 58f — topische 25, 27 — zerflickte 55, 59 inventio secunda 26
242
Register
Irrtum 4, 16, 19f, 35f, 72, 76, 143-146 judicium 13, 17f, 25, 53-58, 160, 164 K l a r und deutlich 99, 104f, 130, 156, 164 Klarheit 41, 156 Klugheit 36, 57-59, 95, 134, 139, 147, 150f, 159 Klugheitslehre 7, 134 Kommunikation 29, 32, 36, 95, 135 Kommunikationspflicht 32f, 135f Komplementarismus 29f Kongruenz-These 45, 48f Konsistenz 129 — logische 141 Konsistenzunterstellung (s. Unterstellung) Kontext 79, 84, 113, 161 Konvention 11, 101, 103, 108f, U l f — Abweichung von 109-111 Konventionalitätsthese 94, 100, 125-127 Lappalien 28, 57 Lektüre (auch lectio) 42-44, 51-53, 115117, 119, 121, 166, 179, 192, 201 — gründliche 118 — kursorische 118, 121 — mehrmalige 118 — produktionsorientierte 79 — und Imitation 43f, 192 — Verlaufsschema der 43 — vorgängige 115 — Ziel der 43 Lehrsatz, rhetorischer (auch praeceptum) 3 , 4 1 - 4 3 , 4 6 , 48f, 82 loci 25f, 28, 56, 86 — communes 26-28, 49, 52, 54, 57 — topici 13, 18, 22-25, 27, 47, 52, 54, 56, 80 Logik (vgl. Vernunftlehre) 3f, 7f, 13, 24, 27-31, 37, 46f, 49, 53, 59f, 66f, 160, 174, 188 — als Darstellungslogik 16, 18, 22 — als Erfindungslogik 17f, 2 l f — als Erkenntnistheorie 4, 9, 19, 21f, 30, 34, 89 — als Schluß- und Beweislehre 9, 19, 21, 24
— — — — — — — — — — — — — —
alte 16, 19, 21 analytische 9f, 12, 22, 88 cartesianische 19 formale 33, 37 genetische 9f, 12, 22 inventiver Teil der 17, 25 judikativer Teil der 17,25 klassische 13 neue 4, 16, 19, 21f Nützlichkeit der 31 praktische 30, 32/3, 35, 38, 56 rhetorische 24 scholastische 15-17, 19-22, 30, 36 Zusammenhang von genetischer und analytischer 9-12
Material-Katalog 52-55, 57f medicina mentis 34-36 Meinung (vgl. Absicht, Sinn) 45, 47, 129f, 144, 172, 174-176, 178, 182184, 196 — Änderung der 129 — Ermittlung der 178 — falsche 136, 177 — konsistente 140 — widersprüchliche 136, 140 memoria 24, 54f, 57, 160, 163 Metapher 50, 79f, 113 Methode, synthetische 67 Motiv 45, 82, 85f, 113, 116, 120 Mutmaßung (vgl. Unterstellung) 126, 128, 133, 187 Nebenzweck (vgl. Zweck) 120-122 Norm 11, 40, 81 Norm des Sinns (vgl. Sinn) 5f, 171, 176f, 183, 208 Nutz-Anwendung (auch Nutzen; vgl. Anwendung) 5, 44, 48-50, 79, 80f, 86f, 88f 161, 173 — kognitive 88f, 91, 98, 122f, 145 — produktive 89f, 122 Pädagogik (auch pädagogisch) 7, 13, 32f, 4 1 , 4 4 , 48 Parallelstelle 127-129 Parallelstellenmethode 127, 140f persuasio (auch Überredung, überreden;
2. Sachregister vgl. convictio) 37f, 60-64, 66, 84 Philosophische Hermeneutik 6, 210 Phrases-Sammlung 50-52, 54f, 57f — Relevanz der 50 — Struktur der 50, 53 Prämisse 16, 71 — stillschweigende 69-71 Pragmatik 109 Produktionsphase 2, 13, 26f, 43, 77, 100, 151, 201 Produktionsprozeß 3f, 27, 50, 55, 78, 20 lf Rationalität (auch Zweck-) 135, 139f Rationalitätsforderung 135f, 143 Rationalitätsunterstellung (s. Unterstellung) Realie (vgl. Argument) 47, 52f, 55-59, 62f — gute 56-58 — schlechte 56 Realismus, metaphysischer 92 Regel 2-4, 14-16, 18, 26, 75, 77, 103, U l f , 132, 148-151, 168 — Behauptung der 108, 111 — der Beweisführung 68, 70 — der Einbildungskraft 167 — der Klugheit 57-59 — der Vernunftlehre 60, 75, 159 — des Sprachgebrauchs 103f — explizite Anwendung der 104, 108110, 112 — hermeneutische 3, 8, 109, 131f, 186 — implizite Anwendung der 104, 108f — logische 12f, 80, 83, 151 — rhetorische 1 lf, 26, 79, 83, 151 Reglementierung 63-65, 72, 75f Rekonstruktion 6, 202, 207f — historische 207f — systematische 207f Repräsentation 92f, 95, 144 Reproduktion 6, 193f, 2 0 l f , 209 Rhetorialdialektik 3, 17 Rhetorik 3f, 7, 24, 27-30, 36, 38, 49, 60f, 66-68, 71, 77, 84, 160, 163f — Aufgabenbereich der 28, 37 — Gliederung der 24
243
— logische 4, 40 — neue 3, 38, 59 —- Nutzen der 38 — Verwissenschaftlichung der 3f, 61 — Vorrangstellung der 53 — Zielsetzung der 41, 61, 75, 81/2 Rückführung 72-75 Sache (auch res, Ding) lf, 5f, 9, 16, 21-23, 45, 49, 51, 53, 56f, 66, 91-94, 98, 107, 141, 151, 156f, 159, 163167, 175, 185-192, 196, 198-201 Scharfsinn 164f Schluß 67-75 — abweichender 75 — förmlicher 67, 69, 71, 74f — leichter 70, 72-74 — oratorischer 67 Schulrhetorik (vgl. Rhetorik) 3, 58 Sehe-Punkt (auch punctus opticus, Perspektive, Standpunkt) 5, 180-186, 188, 193/4, 198f, 209 Semantik 108 sermo externus 9, 94f sermo internus 9, 94f Sicherheit 127 Signifikationshermeneutik (vgl. Hermeneutik) 3, 187 Sinn (auch sensus) 5, 46-48, 87, 89, 97, 107, 115f, 118, 120-122, 132f, 143, 146, 159, 170, 172-174, 176178, 201, 203, 209 — Adäquatheit des 121-123, 203/4 — falscher 154 — sensus orationis 115, 121-123 — sensus verus 8, 123, 142-145, 158, 161, 163, 171, 173, 209f — Wahrheit des 123 Sinnanwendung (vgl. Anwendung) 87, 123, 173 Sinnermittlung (vgl. Erkenntnisermittlung) 47, 87f, 90, 12lf, 144, 171, 173, 178, 183, 209f Sinnhermeneutik (vgl. Hermeneutik) 8891 Sinnvermittlung (vgl. Erkenntnisvermittlung) 91
244
Register
Sittenlehre 7, 51, 134 Skeptizismus 124f Sollens-Analyse 98f, 103, 137 Sorites 71-73 Sprache 6, 95, 97, 135, 157, 185, 188, 199 Sprachgebrauch 50, 81, 100-103, 108, 111, 114, 116, 138, 188, 195 — Abweichung vom 108 — Arten des 101 — Unterminiertheit des 102, 110 Sprachphilosophie (auch sprachphilosophisch) 5, 210 Stil 39, 41, 43, 49f, 83, 86, 113-115, 117f, 121, 161 subtilitas explicandi 88 subtilitas intelligendi 88 Syllogismus 15f, 18-22, 36, 67, 69f — als Darstellungsform 15f, 18 — als Erkenntnisform 15, 18 — compositus 71 — imperfectus 71 Syllogismus-Kritik 16, 19f, 22 Syllogistik 4, 16f, 19f, 32 — Nutzlosigkeit der 19 — Verteidiger der 20f Synonomie 128 Täuschung (auch Lüge) 143-145 Texteinheit 114, 116f Textganzes 114-118 Topik 18, 22, 24-28, 80 — als mnemotechné 23 — Bereich der 27 — Nutzen der 22f — Nutzlosigkeit der 23 Ubersetzung (auch translatio) 44, 86 Überzeugungsleistung 4, 64f, 69f Umkehrung (auch Inversion, invers) 43, 80f, 97, 103, 185, 192, 201 Umkehr-Verhältnis 2-4, 6f, 13, 43, 78, 83, 131, 186, 188, 199, 210 Uninterpretierbarkeit 111, 139 Unterstellung (auch Mutmaßung, Präsumtion) 5, 10, 81, 95, 126, 134f, 137f, 140, 145, 147f, 152
— der Aufrichtigkeit 143 — der Konsistenz 129, 140-142 — der (Zweck-)Rationalität 134, 136, 138f, 142-144, 146f, 151f — der Vollkommenheiten 15 lf, 154, 183 — der Wahrheit 142-145 — evaluative Funktion der 139, 152 — heuristische Funktion der 139,151 V e r b a l e s 4, 59f, 62, 66 Verlaufsschema 77, 151, 185f, 205 — der Analyse 2, 6, 13, 185-187, 192 — der Genese lf, 28, 97, 186 — der Lektüre 43 — der Vorlage 77 — des Besserverstehens 203, 205 — herkömmliches 186, 199, 201, 209 Vernunftlehre (vgl. Logik) 30-32, 35f, 60, 88, 149 — anwendbare 33 — Aufgabenbereich der 31 — Gliederung der 31, 35 — Nützlichkeit der 31, 135 Verstand (vgl. Sinn) 116, 140, 149, 169 — eigentlicher 138 — mittelbarer 169 — richtiger 185 — unmittelbarer 96, 167-169, 171, 176, 178, 183 — vollkommener 169-170, 172, 177 — wahrer 186 Verständlichkeit 40f, 70, 81, 100, 136 Verständnis 41, 75-77, 81f, 112f, 117119 Verständnisschwierigkeit 113, 117-120 Verstehen (auch intelligere; vgl. auslegen, Auslegung, Hermeneutik, Interpretation, vermitteln) 32, 41, 82, 86, 96, 98-101, 104-108, 112, 138, 146, 153, 156, 159, 162, 168, 197f, 207f — (notwendige) Bedingung von 107, 137f, 147, 158 — chladenisches 170 — Gegenstandsbereich von 96, 139 — mittelbares 105 — problematisches 104f
2. Sachregister — rechtes 158 — traditionelles 170 — unmittelbares 105 — unproblematisches 105 — vollkommenes 170 Verstehensproblem 101, 104f, 117, 170 Vollkommenheit 142, 147, 151, 153 — der Erkenntnis 142 — der Klugheit 147, 152 — der Zeichen 142, 147, 150, 159 — des Autors 142, 147, 149f, 152, 159 Vorstellung (auch Gedanke; vgl. Begriff) 1, 4-6, 9-11, 14f, 29, 36, 39, 82-85, 91-98, 100-102, 106, 115, 121, 124f, 128-131, 137, 148f, 151, 157f, 163, 165-167, 170, 172, 175, 180, 185191, 194, 196, 199-202, 209 Vorurteil 10, 21, 29, 33-36, 60, 63, 163 — Bereinigung des 10, 21, 29 — der Leichtgläubigkeit 34f — der Übereilung 34, 163 — Vermeidung des 35 Vorurteilsanalyse 35 Vorurteilsanfälligkeit 34f Vorurteilsprägung 34 W a h r h e i t (auch wahr) 10, 32, 34, 37f, 61, 64, 88, 123, 125, 141f, 153 — dogmatische 141 — Entdeckung der 17-19, 23, 29 — Findung neuer 16 — formale 21, 60 — hermeneutische 141-143, 150 — historische 141
245
— logische 10, 61, 64f, 141, 143-146 — materiale 16, 21, 60 — metaphysische 141 — moralische 141 — oratorische 64f — unbekannte 17 — vermeintliche 20 Wahrheitserkenntnis 37f Wahrheitsunterstellung (s. Unterstellung) Wahrscheinlichkeit (auch wahrscheinlich) 38, 61, 65, 125f, 129, 132f — Grade der 127 Wiederholung (auch Iteration) 6, 78, 192, 20 lf, 208 Wirksamkeit 4, 64f, 69f Wort (auch verbum, Zeichen) 1 , 6 , 4 5 , 49, 51-53, 58, 92-95, lOOf, 104, 107, 111-113, 121, 124-126, 128, 130, 139, 146-148, 150, 157, 167, 170, 172, 175, 185f, 188-190, 192, 199 Wörterbuch 94, 112, 128 Zeichen (s. Wort) Zirkel, hermeneutischer 117f Zweck (auch scopus, finis; vgl. Absicht) 11, 44f, 82f, 95, 97, 103, 119f, 122, 124, 138, 162, 185, 210 — Ermittlung des 120 — ganzer 120 — grundlegender 100, 136 — natürlicher 137 — Reichweite des 120 Zweck-Mittel-Relation 9 5 , 9 7 , 132-134, 137
Markus Textor
Bolzanos Propositionalismus 23,0 X 15,5 cm. XI, 373 Seiten. 1996. Ganzleinen ISBN 3-11-014961-3 (Quellen und Studien zur Philosophie, Band 41) Kritische Auseinandersetzung mit der von dem Mathematiker und Philosophen Bolzano (1781-1848) vertretenen Lehre von dem, was durch einen Satz ausgesagt wird. Aus dem Inhalt: Logik und Ontologie: Grundbegriffe Bolzanos — Anschauung und Begriff - Propositionalismus und das Problem des wesentlichen Indikators — Objektive Apriorität — Bolzanos objektive Analyse modaler Konzepte — Bolzano über die Grenzen der rein begrifflichen Repräsentation.
Walter de Gruyter
W G DE
Berlin · New York
Barbara Neymeyr ··
Ästhetische Autonomie als Abnormität Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik 23,0 X 15,5 cm. X, 430 Seiten. 1996. Ganzleinen. ISBN 3-11-015229-0 (Quellen und Studien zur Philosophie, Band 42) Erste systematisch-kritische Auseinandersetzung mit Schopenhauers Ästhetik im Kontext seiner Metaphysik des Willens. Die Beantwortung der zentralen Frage, ob die von Schopenhauer postulierte Freiheit des ästhetischen Intellekts als genuine Autonomie zu verstehen ist, führt zu einer neuen Interpretation der komplexen Beziehung zwischen Willen und Intellekt sowie zu einer Problematdsierung der Relation zwischen Autonomie und Herteronomie bei Schopenhauer. Im Hinblick auf erkenntnistheoretische Implikationen und ethische Postulate wird auch das Verhältnis zwischen dem ideenbezogenen Erkenntnisanspruch und der von willensbedingtem Leiden erlösenden Willenlosigkeit in Schopenhauers Ästhetik untersucht. Im Spannungsfeld zwischen Piatonismus und Kantianismus situiert, weist Schopenhauers ästhetische Konzeption eine Fülle heterogener Ansätze und divergenter Argumentationsstränge auf. Aus dem Inhalt: Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik — Schopenhauers Ästhetik der Willenlosigkeit im Verhältnis zu seiner Philosophie des Willens — Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik.
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