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German Pages [448] Year 2015
VERÖFFENTLICHUNGEN DER HISTORISCHEN KOMMI SSION FÜR POMMERN Für die Historische Kommission für Pommern herausgegeben von Nils Jörn, Jürgen Kohler, Michael Lissok, Matthias Schneider und Horst Wernicke R E I HE V: FO R SCH U N GE N Z U R P O MME RSCHE N GE SCHI CHTE Ba n d 4 9
BEATE BUGENHAGEN
D I E M U S I KG E S C H I C H T E ÂS T R A L S U N D S I M 16 . U N D 17. J A H R H U N D E RT
2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die Historische Kommission für Pommern
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Musizierszene. Kupferstich aus Johann Martin Rubert, Musicalischer ARJEN Erster Theil, Stralsund 1647 (Titelblatt), Universitätsbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Mus. 138 © 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Dr. Meinhard Böhl, Leipzig Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22447-9
Für Johann
Inhaltsverzeichnis Verzeichnis der Abkürzungen ............................................................................ 9 Dank ................................................................................................................. 11 Einleitung ......................................................................................................... 13 Stadtgeschichte und Verwaltung Stralsunds im 16. und 17. Jahrhundert........ 29 Stralsunder Währungseinheiten..................................................................... 39 1 Kantorat und Kirchengesang in Stralsund.................................................... 41 1.1 Schulwesen und Kantorat in den pommerschen Kirchenordnungen....... 47 1.2 Das Stralsunder Kantorat und die Organisation des Kirchengesangs ...... 67 1.2.1 Ausbildung der Kantoren und Anforderungen an die Stralsunder Amtsinhaber.............................................................. 85 1.2.2 Anstellung der Kantoren.............................................................. 91 1.2.3 Tätigkeitsbereiche........................................................................ 100 1.2.4 Materielle Verhältnisse................................................................. 165 2 Das Stralsunder Organistenamt ................................................................... 179 2.1 Das Organistenamt in den pommerschen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts ............................................................................. 182 2.2 Die Stralsunder Organisten in nachreformatorischer Zeit....................... 188 2.2.1 Ausbildung der Organisten und Anforderungen an das Amt ........ 223 2.2.2 Anstellung der Organisten........................................................... 232 2.2.3 Dienstverpflichtungen.................................................................. 237 2.2.4 ›Organistenmusik‹ ....................................................................... 245 2.2.5 Materielle Verhältnisse................................................................. 247 2.2.6 Kalkanten.................................................................................... 267 2.2.7 Orgelbau..................................................................................... 270 3 Die Stralsunder Stadtmusik.......................................................................... 289 3.1 Städtische Verordnungen....................................................................... 293 3.2 Das Amt des Kunstpfeifers .................................................................... 302 3.2.1 Terminologie............................................................................... 306 3.2.2 Ausbildung.................................................................................. 307 3.2.3 Anstellung................................................................................... 310 3.2.4 Ausbildung von Lehrjungen und Gesellen.................................... 313 3.2.5 Kunstpfeifergesellen und ›Violisten‹............................................. 315 3.2.6 Musikalische Aufwartung ............................................................ 318 3.2.7 Materielle Verhältnisse................................................................. 322 3.3 Das Amt des Kuren ............................................................................... 325
8 3.4 3.5
Inhaltsverzeichnis
3.3.1 Terminologie............................................................................... 328 3.3.2 Anstellung................................................................................... 329 3.3.3 Ausbildung von Lehrjungen und Gesellen.................................... 331 3.3.4 Musikalische Aufwartung ............................................................ 332 3.3.5 Materielle Verhältnisse................................................................. 336 Die musikalische Zunft ......................................................................... 340 3.4.1 Terminologie............................................................................... 340 3.4.2 Anstellung................................................................................... 341 3.4.3 Musikalische Aufwartung ............................................................ 343 3.4.4 Materielle Verhältnisse................................................................. 346 3.4.5 Mitglieder der Stralsunder Musikantenzunft ................................ 347 Weitere Instrumentalisten ..................................................................... 349 3.5.1  Pfuscher, Böhnhasen und Bierfiedler............................................ 349 3.5.2 Hoboisten.................................................................................... 352
Schlussbemerkungen ......................................................................................... 357 Anhang/Verzeichnisse........................................................................................ 359 Dokumente/Ãœbertragungen.......................................................................... 359 Werkverzeichnisse......................................................................................... 384 Quellen- und Literaturverzeichnis................................................................. 398 Tabellen- und Abbildungsverzeichnis ............................................................ 429 Register......................................................................................................... 431
Verzeichnis der Abkürzungen Zusätzlich zu den in der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart, hg. von Ludwig Finscher, 20 Bde., Kassel/Stuttgart 1994–2007 (= MGG2), gebrauchten Abkürzungen und Sigeln werden im Folgenden verwendet: Adn. Adnex APS Staatsarchiv Szczecin/Archiwum Państwowe w Szczecinie Archiv St. Jakobi, Stralsund AStJ Archiv St. Marien, Stralsund AStM Archiv St. Marien, Stralsund, Nachlass Friedrich Giese AStM GN Archiv St. Marien, Stralsund, Kirchenregister AStM KR Archiv St. Nikolai, Stralsund AStN Archiv St. Nikolai, Stralsund, Kirchenarchiv AStN KA Archiv St. Nikolai, Stralsund, ›Küsterkammer‹ AStN KK Archiv St. Nikolai, Stralsund, Kirchenregister AStN KR Archiv St. Nikolai, Stralsund, Orgelakten AStN OA Archiv St. Nikolai, Greifswald AStNG cnto Cornetto/Zink fag Fagott fl Flöte fl. Gulden (›Floren‹) LAG Landesarchiv Greifswald Lpd. Leichenpredigt ML Mark Lübisch MS Mark Sundisch o. D. ohne Datum pomm. pommersche Reichsarchiv/Riksarkivet Stockholm RA Rep Repositur Rthl. Reichst[h]aler StAG Stadtarchiv Greifswald Stadtarchiv Stralsund StAS ß/ßl Schilling trb Posaune VP Vitae Pomeranorum vl. Violine vla Viola Gambe vla da gamba vlne Violone
Dank Die vorliegende Studie basiert auf einer Quellenrecherche aus den Jahren 2001 bis 2007. Unter dem Originaltitel Die Musikgeschichte Stralsunds von der Einführung der Reformation bis zum Ende des 17. Jahrhunderts wurde die Arbeit 2008 von der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald als Dissertation angenommen. Mein Dank gebührt allen, die zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen haben. Meinem Betreuer Prof. Dr. Walter Werbeck, der mein Interesse für die Stralsunder Musikgeschichte geweckt hat und dem ich – ebenso wie dem Zweitgutacher PD Dr. Peter Tenhaef – zahlreiche wertvolle Anregungen verdanke. Bedanken möchte ich mich auch bei Dr. Lutz Winkler und UMD i.R. Ekkehard Ochs, die mich schon während des Studiums mit Themen der musikalischen Regionalforschung vertraut machten und meine Untersuchungen stets mit Interesse verfolgten. Prof. Dr. Michael North habe ich den Kontakt zum Greifswalder Graduiertenkolleg 619 Fremdheit und Integration im Ostseeraum zu verdanken, der zu einem für mich wichtigen Austausch mit anderen Doktoranden führte. Gespräche mit Ole Kongsted und Prof. Dr. Heinrich Schwab zu verschiedenen Aspekten der musikalischen Ostseeraumforschung gaben mir während der letzten Jahre wichtige Impulse für die vorliegende Arbeit und überzeugten mich immer wieder von der Bedeutung meines Vorhabens. Unvergessen bleiben die zahllosen Stunden, die ich mit Dr. Maciej Ptaszyński in den Szczeciner und Stralsunder Stadt- und Kirchenarchiven geforscht habe und die nicht nur zu einem äußerst ergiebigen fachlichen Austausch, sondern auch zu einer guten Freundschaft geführt haben. Gleichermaßen möchte ich hier Ivo Asmus M.A. von der Greifswalder Universitätsbibliothek/Abteilung Pomeranica nennen, der das Entstehen meiner Arbeit über Jahre mit großem Interesse und fachlicher Unterstützung begleitet hat. Dr. Immanuel Musäus danke ich für seine wertvolle Hilfe bei der Übersetzung lateinischer Quellentexte und für die vielen schönen Konzerte mit Stralsunder Musik des 16. und 17. Jahrhunderts, die wir gemeinsam gespielt haben. Die Hilfe der vielen Bibliothekare, Archivare und sonstigen Mitarbeiter in den verschiedenen Bibliotheken, Staats-, Landes-, Stadt- und Kirchenarchiven war für meine Forschungen von unschätzbarem Wert. Stellvertretend möchte ich an dieser Stelle zwei Mitarbeiter des Stralsunder Stadtarchivs nennen: Dr. Andreas Neumerkel sei für seine wichtigen Anregungen und Quellenhinweise zur Stralsunder Stadtgeschichte gedankt und Petra Skalden für ihre Nachsicht im Umgang mit oft ausufernden Bestellungen. Auch die Unterstützung im Kirchenarchiv von St. Nikolai durch Alexander Urban bleibt unvergessen und soll hier Erwähnung finden. Der Historischen Kommission für Pommern e.V. mit ihrem Vorsitzenden Prof. Dr. Horst Wernicke danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe Forschungen zur pommerschen Geschichte sowie für die großzügige finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung. Der wohl größte Dank gebührt meiner Familie und den engsten Freunden, zuallererst meinen Eltern Christiane und Klaus Bugenhagen, die mich über die Jahre un-
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Dank
eingeschränkt unterstützt und dafür gesorgt haben, dass mein Sohn Johann während der intensiven Arbeitsphasen immer gut betreut war. Meiner Freundin Heike Aé danke ich für das Mutmachen und meinem Mann Matthias Schneider – schließlich – für so vieles: für seine unendliche Geduld, die fachliche Unterstützung und für die vielen gemeinsamen musikalischen Momente mit pommerscher Musik! Beate Bugenhagen, Hamburg, 1. Dezember 2014
Einleitung Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist die städtische Musikgeschichte Stral sunds im 16. und 17. Jahrhundert. Als Thema musikwissenschaftlicher Forschung ist die Stadtmusikgeschichtsschreibung keineswegs neu. Die ersten Untersuchungen zur städti schen Musikgeschichte erschienen bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts1 und bezeugen das »wachsende Informationsbedürfnis in Bezug auf das Musikleben an [...] einzelnen Orten«2 zu dieser Zeit. Im 19. und 20. Jahrhundert setzte sich das Inter esse an der Musikgeschichte einzelner Städte ungebrochen fort und führte zu einer Viel zahl an Veröffentlichungen. Auch der deutsche Ostseeraum blieb dabei nicht unberück sichtigt, wie die frühen Arbeiten Josef Sittards zu Hamburg (1890) oder Carl Stiehls zu Lübeck (1891) zeigen3. Im 20. Jahrhundert folgte eine Reihe weiterer Publikationen zur städtischen Musikgeschichte im Norden, wie etwa wiederum zu Hamburg (Hugo Leich senring, 1922/1982; Liselotte Krüger, 1933), Königsberg (Georg Küsel, 1923), Greifs wald (Hans Engel, 1929), Danzig (Hermann Rauschning, 1931), Stettin (Werner Frey tag, 1936), Lübeck (Johann Hennings/Wilhelm Stahl, 1951/52), Flensburg (Hans Peter Detlefsen, 1961), Rostock (Hans Jürgen Daebeler, 1966; Rüdiger Laue, 1976), Lüne burg (Horst Walter, 1967) oder Wismar (Burkhard Busse, 1968/1970)4. Bereits die ersten Publikationen zur Stadtmusikgeschichte folgten dabei einem so zialgeschichtlichen Ansatz5, denn das städtische Musikleben wird durch die damit be fassten Musikergruppen bestimmt. So stellte auch Sittard in seinen Untersuchungen zu Hamburg6 die hierfür relevanten Berufsstände in den Mittelpunkt. Dieses Vorgehen ist bis in die heutige Zeit kennzeichnend und auch für die vorliegende Studie maßgeblich.
1 1776 veröffentlichte Charles Burney den ersten Band seiner Allgemeinen Musikgeschichte, für die er zuvor die wichtigsten Regionen und Städte Europas bereist hatte: Charles Burney, A general history of music: from the earliest ages to 1789, Bd. 1, London 1776, Reprint BadenBaden 1958. 2 Edler (2000), Forschungsprojekt, S. 13. 3 Josef Sittard, Geschichte des Musik- und Concertwesens in Hamburg vom 14. Jahrhundert bis auf die Gegenwart, Altona/Leipzig 1890, Reprint Hildesheim 1971; Carl Stiehl, Musikgeschichte der Stadt Lübeck: nebst einem Anhang: Geschichte der Musik im Fürstenthum Lübeck, Lübeck 1891. Hamburg zählt geographisch zwar nicht mehr zum eigentlichen Ostseeraum, wird hier jedoch aufgrund der engen Beziehung zur Ostseeregion genannt. Auf die vergleichba ren »sozialen, administrativen und künstlerischen Verhältnisse« im gesamten Ostseeraum ver wies der schwedische Musikhistoriker Carl-Allan Moberg anlässlich des 250. Todestages von Dieterich Buxtehude 1957. Moberg (1958) sprach in diesem Zusammenhang erstmals von einer »Musikkultur des Ostseeraumes«. Vgl. dazu auch Schwab (1989) und Schwab (1994). 4 Siehe die vollständigen Titel der Arbeiten im Literaturverzeichnis. 5 Sozialgeschichte meint die »Geschichte sozialer Strukturen, Prozesse und Handlungen, mit der Entwicklung der Klassen, Schichten und Gruppen, ihrer Bewegungen, Konflikte und Kooperationen«, Kocka (1986), S. 82. 6 Vgl. Sittard (1890/1971), Hamburg.
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Einleitung
Während es in den älteren Arbeiten oftmals bei einer Beschreibung von ›Zuständen‹ blieb7, verfolgen die neueren Veröffentlichungen immer häufiger einen strukturgeschichtlichen Ansatz8. Dieses Vorgehen zielt auf die Rekonstruktion der dem städtischen Musikleben zugrundeliegenden Funktionszusammenhänge, indem einzelne Ämterstrukturen untersucht werden, wie das beispielsweise schon Krüger in ihrer Arbeit zur Hamburgischen Musikorganisation im XVII. Jahrhundert (1933) unternommen hat. Die verschiedenen Amtsbereiche der Musiker entsprechen dabei in der Regel nebeneinander existierenden, sich gegenseitig beeinflussenden und bedingenden Teilstrukturen des musikalischen Lebens9. Den Funktionszusammenhängen in jeweils nur einer dieser Teilstrukturen haben sich – oftmals über längere Zeiträume und die Grenzen einer einzelnen Stadt hinaus – die musikalischen Berufsgeschichten der letzten Jahrzehnte zugewandt. Für den Norden liegen Studien von Arnfried Edler zum Organistenamt (1982), von Joachim Kremer zum Kantorat (1995) sowie von Mirko Soll zum Stadtmusikantentum (2006) vor10. Im Unterschied zu diesen Arbeiten werden in der vorliegenden Untersuchung mit Kantorat, Organistenamt und Stadtmusik die verschiedenen Teilstrukturen im Musikleben Stralsunds gleichermaßen untersucht und zueinander in Beziehung gesetzt. Das Ziel ist ein möglichst vollständiges Bild städtischer Musikgeschichte. Dabei werden sowohl empirische als auch hermeneutische Untersuchungsmethoden angewandt. Das vorliegende Quellenmaterial dient als Ausgangspunkt der Interpretation. Obwohl die vorliegende Studie auf die Organisationsstrukturen innerhalb der musikalischen Ämter und ihre Beziehungen untereinander fokussiert, zielt sie dennoch durchaus auch auf »die Erhellung des Phänomens Musik«11, dient die Erfassung der Strukturen doch allein dazu, die Organisationsformen und Verhältnisse zu beleuchten, die musikalisches Leben erst möglich machten. Sowohl in der allgemeinen Historiographie als auch in der Musikgeschichtsschreibung wurde das Verhältnis von Struktur- und Ereignisgeschichte oft diskutiert12. Das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Betrachtungsweisen – die a) die Struk7 Vgl. dazu Dahlhaus (1977, S. 215), der die »Zustandsbeschreibung« in der Historiographie des 19. Jahrhunderts als »lockerer gefügte Zusammenstellungen von Tatsachen« versteht. Exemplarisch lässt sich dafür neben der Untersuchung von Sittard auch die Arbeit von Engel zur Musikgeschichte Greifswalds (1929/2000) anführen. 8 Ellermeyer (1980, S. 278) beschreibt als Sozialstruktur das »System der zwischenmenschlichen Abhängigkeiten, Distanzen und Hierarchien«. Nach Kocka (1986, S. 83) haben sich in der sozialgeschichtlichen Forschung »strukturgeschichtliche Betrachtungsweisen, vor allem auf die jeweils untersuchten Teilstrukturen bezogen, [...] weitgehend eingebürgert, gewissermaßen als Selbstverständlichkeit«. Dabei ist das strukturgeschichtliche Vorgehen nicht allein auf die Sozialgeschichte beschränkt. Ebd., S. 78. Vgl. zum Strukturbegriff in der Musikwissenschaft auch Dahlhaus (1977), S. 205–235. 9 Vgl. Kremer (1995, S. 3f.) zum Kantorat als Teilstruktur des Musiklebens. 10 Vgl. die vollständigen Titel der Arbeiten im Literaturverzeichnis sowie die Bemerkungen zu den musikalischen Berufsgeschichten unten auf S. 22–25. 11 Edler (1982), S. 2. 12 Vgl. etwa Kocka (1986), S. 73–77, sowie Dahlhaus (1977), S. 205–235.
Einleitung
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turen und Zusammenhänge geschichtlicher Wirklichkeit fokussieren und sich b) den durch individuelle Personen ausgelösten Entscheidungen und Handlungen innerhalb dieser Strukturen zuwenden13 – ist in der Historischen Musikwissenschaft allerdings erst in den 1970er-Jahren wahrgenommen und theoretisch reflektiert worden14. Wie u. a. von Kocka für die allgemeine Geschichtsschreibung gefordert15, werden auch in der vorliegenden Untersuchung Strukturen und Ereignisse gleichermaßen berücksichtigt, da diese einander bedingen und sich gegenseitig beeinflussen. Dies bedeutet, einerseits die Strukturen, d. h. die Funktionszusammenhänge musikalischen Lebens in Stralsund aufzudecken und darzustellen und andererseits stadt- und musikgeschichtliche Ereignisse sowie das individuelle musikalische und nichtmusikalische Handeln von Musikern zu erfassen, innerhalb der bestehenden Verhältnisse zu deuten und nach den Rückwirkungen auf die Strukturen zu befragen16. Dabei wird der Blick auch auf Stralsunder Musikerpersönlichkeiten und ihre Werke gerichtet, ohne dass diese selbst in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt werden. Auch gattungsgeschichtliche Fragen können allenfalls am Rande behandelt werden. Im Folgenden äußere ich mich – mit Blick auf die Vor- und Nachteile für das eigene Vorgehen – exemplarisch zur Anlage und zum Aufbau einiger Stadtmusikgeschichten: Wie schon erwähnt, standen bereits in den frühesten Veröffentlichungen zur Stadtmusikgeschichte die musikalischen Berufsstände im Mittelpunkt des Interesses. Als besonders strukturiert in dieser Hinsicht zeigt sich etwa die Arbeit von Krüger zur Musikgeschichte Hamburgs (1933), in der sie die Amtsstrukturen im (1) Kantorat, (2) Organistenamt und (3) Stadtmusikertum untersucht und darstellt. Dagegen sind die Stadtmusikgeschichten von Hennings und Stahl zu Lübeck (1951/52) oder noch diejenige von Oliver Rosteck zu Bremen (1999) weniger nach musikalischen Berufsständen als nach dem jeweiligen Wirkungsbereich der Musiker gegliedert. Während sich Hennings und Stahl in zwei Bänden (1) dem weltlichen und (2) dem geistlichen Musizierbereich und innerhalb dessen wiederum den einzelnen Berufsständen zuwenden, widmet sich Rosteck zunächst der städtischen Musikorganisation und anschließend der Kirchenmusik. Dieses Vorgehen vermag die zugrundeliegenden Strukturen mit der musikalischen Praxis der Amtsinhaber in deutlicher Weise zu verbinden, birgt aber dennoch Probleme hinsichtlich der Zuordnung vor allem des Stadtmusiker- und Kantorenamtes zum weltlichen/städtischen bzw. geistlichen/kirchlichen Bereich. So befand sich etwa der Kantor seit dem späten 16. Jahrhundert als 13 Vgl. Kocka (1986), S. 73f. 14 Vgl. Dahlhaus (1977), S. 205–235. Dabei wurde die Bedeutung »regionaler Forschung für die Erkenntnis der Strukturen und ihres Wandels« nicht nur von der Historischen Musikwissenschaft, sondern auch von der allgemeinen Geschichtsforschung erkannt. Edler (2000), Forschungsprojekt, S. 17. 15 Vgl. Kocka (1986), S. 73–77. 16 Kocka (ebd., S. 75) zufolge können Ereignisse »aus vorgegebenen, sich verändernden Strukturen erklärt, aber nicht aus diesen voll abgeleitet werden [...], während sie umgekehrt zur Veränderung der Strukturen beitragen«.
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Lehrer zumeist in städtischer Anstellung, musizierte jedoch fast ausschließlich in der Kirche; ähnliche Überschneidungen gab es bei den Stadtmusikanten. Weniger an den musikalischen Berufsständen als an stadtmusikgeschichtlich bedeutsamen Besonderheiten und Ereignissen orientieren sich Engel und Rauschning in ihren Arbeiten zu Greifswald (1929) bzw. Danzig (1931). Zwar mögen diese Untersuchungen stärker auf die jeweilige Stadt und Stadtgeschichte bezogen erscheinen; eine derartige Gliederung steht allerdings insbesondere einem überregionalen Vergleich der Verhältnisse mit anderen Städten entgegen. Für die folgende Darstellung wurde sie daher zugunsten einer Abhandlung nach Berufsständen verworfen. Die Autoren der bislang vorliegenden Stadtmusikgeschichten wenden sich in ihren Studien unterschiedlichen Zeiträumen zu. In den in dieser Hinsicht umfassenden Arbeiten wird die Zeit von der Stadtgründung im Mittelalter bis in das 19. und 20. Jahrhundert hinein behandelt. Die entsprechenden Untersuchungen dienten oftmals zunächst dazu, großflächig Forschungsdesiderate zu beseitigen. Wenngleich diese Arbeiten, wie etwa die von Sittard zu Hamburg (1890) oder von Rauschning zu Danzig (1931), zumeist als durchaus verdienstvoll zu bewerten sind, da sie sich umfassend einem bislang unbearbeiteten Forschungsfeld zuwenden, sind mit der Wahl langer Zeiträume deutliche Nachteile verbunden, besonders dann, wenn Vorarbeiten fehlen. So fällt in diesen Fällen bereits die Archivrecherche zwangsläufig weniger gründlich aus. Oftmals werfen die Arbeiten lediglich Schlaglichter auf die städtische Musikgeschichte, was besonders deutlich an der Untersuchung von Engel zu Greifswald (1929) erkennbar ist. Ein tieferes Eindringen in die organisatorischen Strukturen der verschiedenen Bereiche des Musiklebens – die gründlichen Darstellungen von Hennings und Stahl zu Lübeck (1951/52) ausgenommen – kommt hier oftmals zu kurz. Dennoch dürfen für eine strukturgeschichtliche Betrachtungsweise die zeitlichen Einheiten freilich nicht zu klein gewählt werden, um Funktionszusammenhänge überhaupt aufdecken und Prozesse nachvollziehen zu können17. Während in einem Teil der Stadtmusikgeschichten der behandelte Zeitraum allein aufgrund der vorliegenden Forschungsarbeiten gewählt wurde18, erscheint es sinnvoller, auch in dieser Frage stadt- und musikgeschichtliche Zusammenhänge zu berücksichtigen, um auf überzeugende Weise eine in sich geschlossene Darstellung zu ermöglichen. Krüger etwa bezieht sich in ihren Untersuchungen zu Hamburg (1933) deshalb auf das 17. Jahrhundert, weil sie darin die »Hochblütezeit«19 des städtischen Musiklebens erkennt. Die Musikerpersönlichkeiten der jeweiligen Städte werden in den bisher veröffentlichten Arbeiten in unterschiedlicher Weise berücksichtigt. So stellt beispielsweise Krüger die Persönlichkeit des Hamburger Kantors Joachim Gerstenbüttel in den Mit17 Kremer (1995, S. 7) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass »die zeitliche Erstreckung von Strukturen [...] im allgemeinen diejenige konkreter historischer Ereignisse« übertrifft. 18 Dies trifft etwa auf die Arbeit von Daebeler über Rostock (1966) zu: »Die Begrenzung mit dem Abschluß des 17. Jahrhunderts ist weder allgemein historisch, noch lokal- oder musikgeschichtlich zu rechtfertigen. Sie ist lediglich bedingt durch die bisher auf diesem Gebiet betriebene Forschung und die damit verbundene vorliegende Literatur.« Daebeler (1966), S. 4. 19 Vgl. Krüger (1933), S. 1.
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telpunkt. Während Krüger Gerstenbüttels Wirken in die musikalischen Umstände der Zeit einordnet, erfüllen die Angaben von Laue (1976) zu den Rostocker Kantoren, Organisten und ihren Werken eine eher enzyklopädische Funktion. In der vorliegenden Untersuchung ist eine gesonderte und umfassende Betrachtung der wichtigsten Stralsunder Komponisten und ihrer Werke mit Blick auf biographische Details und gattungsgeschichtliche Einordnungen nicht beabsichtigt und muss speziellen Studien vorbehalten bleiben. Am Ende der Arbeit finden sich jedoch Werkverzeichnisse der kompositorisch aktiven Stralsunder Musiker20. Die ermittelten biographischen Informationen werden hingegen für alle Musiker gleichermaßen in die Darstellung integriert und musikalische Werke in erster Linie vor dem Hintergrund ihrer Funktion für das städtische Musikleben erwähnt. Neben ihrer sozial- und strukturgeschichtlichen Ausrichtung zählen stadtmusikgeschichtliche Darstellungen zur musikalischen Regionalforschung, der bis heute eine unbestritten große Bedeutung beizumessen ist21. Gleichwohl stellen Monographien zur Stadtmusikgeschichte seit den 1980er-Jahren nur noch einen verschwindend kleinen Anteil unter den Neuveröffentlichungen dar. Für den deutschen Ostseeraum bzw. den weitergefassten deutschen Norden in der Frühen Neuzeit sind die Musikgeschichte der Stadt Schleswig im 18. und 19. Jahrhundert von Cornelius Kellner (2009) sowie die Bremische Musikgeschichte. Von der Reformation bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts von Rosteck (1999) die letzten Veröffentlichungen dieser Art. Ähnliches lässt sich in der allgemeinen Geschichtsschreibung feststellen, wo die Stadtgeschichtsforschung – nach einer Vielzahl an monographischen Publikationen zu diesem Thema seit dem Ende der 1970er-Jahre – in der letzten Zeit einen deutlichen Rückgang erfuhr: »Insgesamt ist einerseits eine verstärkte Hinwendung zur Untersuchung größerer Städtelandschaften zu beobachten und andererseits die Beschäftigung mit vielfältigen Detailthemen vor allem aus den Bereichen Politik, Kultur, Kommunikation und Alltag in der Stadt.«22 Ist die Stadt(musik)geschichtsforschung also heute nicht mehr zeitgemäß? Ihre Marginalisierung im Ostseeraum lässt sich in zweifacher Hinsicht begründen: 1. Für viele Städte vor allem des südwestlichen Ostseeraums liegen bereits Untersuchungen zur Musikgeschichte vor23. Neben den Monographien darf dabei die Menge kleinerer Beiträge zu einzelnen Städten nicht unerwähnt bleiben, die oftmals schon am Ende des 19. bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschienen24. Generell sind Studien zur Stadtmusikgeschichte von einer ausreichenden Quellenüberlieferung 20 Vgl. S. 384ff. Darüber hinaus hat die Verfasserin bereits eine Studie zu Leben und Werk des Stralsunder Nikolaiorganisten Johann Martin Rubert vorgelegt: Bugenhagen (2006), Rubert. 21 Vgl. Kremer (2004), S. 110. 22 Labahn (2006), S. 26. 23 Siehe oben S. 13. 24 Auch wenn die regionalgeschichtlichen Arbeiten dieser Zeit oftmals aus der Feder musikwissenschaftlicher Laien stammen und sich durch »extremen Positivismus« und eine »reflexionslose Anhäufung der Ergebnisse« auszeichnen, sind sie hinsichtlich der Quellenerschließung dennoch bis heute zweifellos bedeutsam. Vgl. Edler (2000), Forschungsprojekt, S. 15.
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abhängig, die für eine umfassende monographische Darstellung im Falle vieler kleinerer Städte nicht gegeben zu sein scheint. 2. Seit den 1970er-Jahren haben sich die Perspektiven und Ziele regionalhistorischer Musikforschung verändert. Als Ziel regionaler Musikgeschichtsschreibung bezeichnet Edler das auf einen Vergleich ausgerichtete genaue Erfassen und Darstellen von Strukturen innerhalb »kleiner Räume«25. Auch Kremer fordert für die regionale Musikforschung, »den Vergleich konsequent auf die regionalen Gegebenheiten anzuwenden, die Untersuchungen gerade auf diese Vergleichbarkeit hin anzulegen und so die ›Herausarbeitung übergeordneter Strukturen‹ anzustreben, ohne die lokalen und regionalen Besonderheiten zu ignorieren«. Dabei solle es auch im Bereich der Stadtmusikgeschichte das Ziel sein, »nicht eine einzige Stadtmusikgeschichte ›erschöpfend‹ darzustellen, sondern die Musikgeschichte strukturell ähnlicher, aber sich doch in signifikanten Aspekten unterscheidender Städte«26. Zwar üben Edler und Kremer nicht in jedem Fall Kritik an der bisherigen regionalgeschichtlichen Musikforschung und erkennen an, dass durch sie bereits ein »immenser Aufwand an Erschließungsarbeit«27 geleistet wurde. Mit ihrer Zielsetzung verweisen sie jedoch darauf, dass sich gerade durch die heute zahlreich vorliegenden Vorarbeiten die Ausgangssituation verändert hat. Eine vergleichende Arbeitsweise, wie Edler und Kremer sie empfehlen, bietet dabei unverkennbare Vorteile. Indem sich die erfassten und untersuchten Strukturen in einen größeren Kontext einordnen lassen, werden übergeordnete Zusammenhänge erkennbar, die ihrerseits wiederum Aufschluss über die Organisationsstrukturen kleinerer Regionen zulassen. So zielt auch Rostecks Arbeit über Bremen darauf ab, den Stellenwert der bremischen Musikgeschichte innerhalb Norddeutschlands zu bestimmen28. Die Stadtmusikgeschichtsschreibung ist damit zwar nicht aus dem allgemeinen Blickfeld der Forschung geraten – wie neben den postulierten Zielen von Edler und Kremer auch zahlreiche Tagungen und Konferenzen zur städtischen Musikorganisation in den vergangenen Jahren zeigen29 –, jedoch erscheint sie heute kaum noch in isolierter Betrachtung. Das lässt sich unter den neueren Arbeiten etwa an derjenigen von Bjarke Moe zum Musikkulturel trafik i København og Rostock: musikerrekruttering og repertoirefornyelse i første halvdel af 1600-talett (2010) erkennen, die eine vergleichende Perspektive einnimmt. 25 Edler (ebd., S. 14) versteht den Terminus ›Regionalgeschichte‹ wie folgt: »die Betrachtung kleiner Räume mit dem Ziel einer auf Vergleich angelegten genauen Erfassung einzelner Strukturen«. 26 Kremer (2004), S. 117. 27 Edler (2000), Forschungsprojekt, S. 15. 28 Rosteck (1999), S. 14. 29 So stand etwa der XIV. Internationale Kongress der Gesellschaft für Musikforschung 2008 unter dem Thema Musik – Stadt. Traditionen und Perspektiven urbaner Musikkulturen. Das Thema der Musica-Baltica-Tagung im Mai 2014 in Gdańsk lautete Music-making in Baltic Cities. Various Kinds, Places, Repertoire, Performers and Instruments.
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Dass mit der vorliegenden Studie zur Stralsunder Musikgeschichte gleichwohl für eine auf einen einzigen Ort konzentrierte Musikgeschichte plädiert wird, hat vor allem zwei Gründe: 1. Die Stralsunder und die übergeordnete pommersche Musikgeschichtsschreibung des 16. und 17. Jahrhunderts zählen beide nach wie vor zu den Forschungsdesideraten. Eine erschöpfende Untersuchung städtischer Musikgeschichte dieses Zeitraums, basierend auf intensiven Archivrecherchen und Quellenarbeiten, wie sie beispielsweise mit den Standardwerken von Krüger und Hennings/Stahl für Hamburg bzw. Lübeck vorliegen, ist bisher für keine pommersche Stadt erfolgt30. Die »Außenseiterrolle Pommerns in der Musikgeschichtsschreibung« führte Martin Ruhnke auf die wechselvolle Geschichte des Herzogtums zurück31. Nach dem Zweiten Weltkrieg behinderte zudem die Teilung des Territoriums zwischen Polen und der DDR eine integrale Aufarbeitung der pommerschen Musikgeschichte. Nach der politischen Wende von 1989 hat sich die Archivsituation grundlegend geändert, da die Bestände in den Archiven der ehemaligen DDR, einschließlich der Kirchenarchive, heute weitaus leichter zugänglich sind. Die in Polen befindlichen Archivalien aus der Zeit des pommerschen Herzogtums sind während der letzten Jahrzehnte zumindest in den großen Archiven neu verzeichnet worden und damit leichter auffindbar32. Einer gründlichen Quellenrecherche und Aufarbeitung des Musiklebens steht somit heute nichts mehr im Wege. 2. Da Vorarbeiten zur Stralsunder Musikgeschichte bisher weitgehend fehlen, waren für die Bearbeitung des Themas zunächst langwierige Archivrecherchen notwendig. Schon aus diesem Grund wurde nicht von vornherein ein vergleichender Ansatz gewählt. Dennoch versteht sich die Arbeit auch als Beitrag zur Erforschung der Musikgeschichte Pommerns und des Ostseeraums und ist somit auf eine überregionale Öffnung und Vergleichbarkeit hin angelegt. Auf der Grundlage der vorliegenden Stadtmusik- und musikalischen Berufsgeschichten für den Ostseeraum ist dies ohne Weiteres möglich. Für einen Vergleich bieten sich im Falle Stralsunds vor allem die großen Hanse- und Reichsstädte, wie etwa Hamburg, Lübeck oder Rostock, an, die hinsichtlich ihrer musikalischen Verhältnisse bereits gut erforscht sind, ähnliche Strukturen bei ganz eigenständigen musikalischen Entwicklungen aufweisen33 und durch das Hansebündnis auch politisch und wirtschaftlich mit Stralsund verbunden waren. * 30 Während sich Freytags (1936) gründliche Arbeit zur Stettiner Musikgeschichte auf das 18. Jahrhundert bezieht, ließe sich Engels (1929/2000) Untersuchung zu Greifswald vom 14. bis in das 20. Jahrhundert hinein wohl im besten Falle als unreflektierte Quellensammlung bezeichnen, die aufgrund fehlender Quellennachweise sogar in dieser Funktion nur von begrenztem Wert ist. 31 Ruhnke (1989), S. 251. 32 So etwa der Bestand ›AKW‹ (Herzoglich Wolgaster Archiv) im Staatsarchiv Szczecin/Archiwum Państwowe w Szczecinie, für den heute ein Onlinefindbuch existiert: http://baza.archiwa. gov.pl/sezam/?l=en&mode=show&zespoly_id=72977&word=Wolgast&word2= (2.7.2014). 33 Wie etwa die Lübecker Abendmusiken oder die Hamburger Oper im 17. Jahrhundert.
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Auf der Grundlage des oben benannten Umgangs mit der Thematik sind folgende Themenfelder in die Stralsunder Stadtmusikgeschichtsschreibung einzubeziehen: die musikalische Berufsgeschichte, die musikalische Regionalgeschichte, die Biographik sowie die Stadtgeschichte. Die Vorarbeiten zur Musikgeschichte Stralsunds sind bislang eher rudimentär und bilden keine solide Grundlage, auf der bereits aufzubauen wäre. Auf den unzureichenden Forschungsstand zur Stralsunder Stadtgeschichte wies Stefan Kroll 1997 hin und führte diesen vor allem auf die fehlende Residenzfunktion der Stadt zurück. Die Geschichtsschreibung für Festungs- und Garnisonsstädte wie Stralsund gehört nach Kroll nach wie vor zu den Forschungsdesideraten34. Bis heute wird der Forschungsstand zur Stralsunder Stadtgeschichte des 17. Jahrhunderts durch die Monographien von Herbert Langer (Stralsund 1600–1630: eine Hansestadt in der Krise und im europäischen Konflikt, 1970) und Hans-Joachim Hacker (Die Stadt Stralsund in der frühen Schwedenzeit, 1982) bestimmt. Wenngleich durch die Auflagen der DDR-Geschichtsschreibung geprägt, ist gerade die Studie Langers aufgrund der umfassenden Quellenkenntnis ihres Autors bis heute von hohem Wert. Für die Kirchengeschichte Stralsunds vor und nach der Reformation ist die schon 1961 veröffentlichte Arbeit Hellmuth Heydens zu den Kirchen Stralsunds und ihrer Geschichte nach wie vor grundlegend. Einige neuere Untersuchungen zur Stralsunder Stadtgeschichte beziehen sich auf das späte 17. und beginnende 18. Jahrhundert, die Zeit des Nordischen Krieges, und stellen unterschiedliche Aspekte städtischen Lebens in den Mittelpunkt35. Das aktuelle Forschungsinteresse an den spätmittelalterlichen Entwicklungen in Stralsund und am Konfessionalisierungsprozess im Reformationsjahrhundert hat seit der oben angeführten Einschätzung Krolls zu neuen wichtigen Erkenntnissen geführt. Zu nennen sind hier etwa die Studien von Ralf Lusiardi zum spätmittelalterlichen Stiftungsverhalten in Stralsund (2000), von Sabine-Maria Weitzel zur Ausstattung der Nikolaikirche (2011)36 sowie von Roxane Berwinkel zum Stralsunder Konflikt um das Interim (2008). Aufgrund enger Verflechtungen zwischen dem Kirchenwesen und dem Musikleben sind insbesondere die Veröffentlichungen Weitzels und Berwinkels für die vorliegende Studie bedeutsam. Der Ansatz Weitzels, die Kirchenausstattung von St. Nikolai im Kontext spätmittelalterlicher Liturgie und Frömmigkeitspraxis zu untersuchen, liefert neue Erkenntnisse auch zur vorreformatorischen gottesdienstlichen Musik, wie etwa zu den ›musikalischen Standorten‹ in St. Nikolai oder zur Indienst34 Kroll (1997), S. 23f. 35 Vgl. die Arbeiten von Kroll zu Stadtgesellschaft und Krieg. Sozialstruktur, Bevölkerung und Wirtschaft in Stralsund und Stade 1700 bis 1715 (1997), Grabinsky zu den Brandkatastrophen von 1678/1680 (Die Stralsunder Doppelkatastrophe von 1678/80. Wiederaufbau nach zwei vernichtenden Stadtbränden, 2006), Labahn zur Räumlichen Mobilität in der vorindustriellen Stadt. Wohnungswechsel in Stralsund um 1700 (2006) oder von Zapnik zu Pest und Krieg im Ostseeraum. Der »Schwarze Tod« in Stralsund während des Großen Nordischen Krieges (1700– 1721) (2007). 36 Zu nennen wäre hier eine weitere kunstgeschichtliche Untersuchung, die für die vorliegende Arbeit allerdings kaum relevant ist: Burkhard Kunkel, Werk und Prozess. Die bildkünstlerische Ausstattung der Stralsunder Kirchen – eine Werkgeschichte, Berlin 2008.
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nahme von Musikern bei Stiftungsmessen. Berwinkels Untersuchungen erhellen die lange Phase der Konfessionalisierung in Stralsund im 16. Jahrhundert vor allem vor dem Hintergrund obrigkeitlicher Vorgaben durch Landesherrn und Kaiser, zu denen sich der Stralsunder Rat und die Theologen in besonderer Weise positionierten. Auf Grundlage der hier gewonnenen Erkenntnisse wird deutlich, dass sich die Strukturen des lutherischen Kirchenwesens in Stralsund erst nach der Jahrhundertmitte allmählich und zumeist in Abgrenzung vom übrigen pommerschen Herzogtum festigten, was in gleicher Weise die kirchenmusikalischen Ämter betrifft. Erscheint die städtische Geschichte Stralsunds im 16. und 17. Jahrhundert heute also zumindest partiell aufgearbeitet, so kann dies für das städtische Musikleben der Zeit nicht behauptet werden. Bezeichnenderweise enthält auch die zweite Auflage der MGG37 keinen Artikel zur Musikgeschichte der Stadt. Dies resultiert sicher nicht aus einer nur untergeordneten Bedeutung Stralsunds38, sondern ist allein auf die unzureichende Forschungssituation zurückzuführen. Einzig Willibert Müller lieferte bereits 1928 einen längeren Beitrag zur Stralsunder Musikgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, als er sich Stralsunds liturgisch-musikalischer Reformationsarbeit von der Einführung der evangelischen Lehre (1525) bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648) zuwandte. Auf der Basis gründlicher Quellenarbeit und Analyse bot Müller erste Untersuchungsergebnisse zur musikalischen Praxis der Gottesdienste in Stralsund. Die im Dissertationsverzeichnis von Richard Schaal aufgeführte Arbeit Müllers zur Musikgeschichte Stralsunds bis 1650 muss heute allerdings als verschollen gelten39. Informationen zum Leben, beruflichen Werdegang und zur Werküberlieferung Stralsunder Musiker liegen in einigen wenigen biographischen Beiträgen vor. So veröffentlichte Gerhard Weiss 1956 eine Studie mit wichtigen grundlegenden Informationen zum Leben und Werk des Stralsunder Marienorganisten Johann Vierdanck. Burkhardt Köhler gelang es 2010, aufgrund neuer Forschungen den Kenntnisstand zu Vierdanck zu erweitern. Zu Eucharius Hoffmann, Caspar Movius und Johann Martin Rubert, die neben Vierdanck ebenfalls musikalische Werke in Stralsund schufen, lagen außer kurzen Artikeln in der ersten Auflage der MGG keine weiteren nennenswerten Veröffentlichungen vor40. 37 = MGG2: Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 20 Bde., Kassel/Stuttgart 1994–2007. 38 So gibt es etwa zur Musikgeschichte des zur damaligen Zeit weitaus kleineren und unbedeutenderen Greifswalds einen eigenen Artikel: Ochs (1995). 39 Schaal (1963, S. 89) führt sie unter der Nummer 1665 mit folgender Bemerkung auf: »Im Jahresverz. ohne weitere bibliogr. Angaben mit dem Zusatz ›In Bibliotheken nicht vorhanden‹«. Bei der Jahresangabe »1953« handelt es sich offenbar um ein Versehen. Nachforschungen blieben ohne Erfolg. Kittler (1932, S. 100) bezeichnete die Dissertation 1932 noch als unvollendet. Böhme (1931, S. 335) allerdings lag sie 1931 in ungedruckter Fassung bereits vor. Vgl. dazu auch Engel (1935), Gemeinschaftsmusik, S. 210. 40 Vgl. die Artikel von Ruhnke (1957), Forchert (1961) und Engel (1963). Die Verf. hat in der MGG2 sämtliche Artikel der genannten Stralsunder Musiker aktualisiert und ergänzt: Bugenhagen (2003); dies. (2004); dies. (2005); dies. (2006), Vierdanck.
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Der Stralsunder Orgelbaugeschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart widmete sich Dietrich W. Prost in mehreren Arbeiten41. Seine Untersuchungsergebnisse fließen in die Darstellungen zum Stralsunder Organistenamt ein. Thematisiert wird das Stralsunder Musikleben darüber hinaus in der Pommerschen Musikgeschichte von Werner Schwarz in zwei Bänden (1988/1994)42, mit der der Autor die Lücken in der regionalen Musikgeschichtsschreibung zu schließen versuchte. Auch wenn das Unternehmen zunächst durchaus verdienstvoll erscheint, so verliert es dadurch an Wert, dass Schwarz allein das bereits aus den Beiträgen der 1930er-Jahre vorliegende Material verwertet43, keine selbstständigen Archivrecherchen anstellt und kaum neue Schlüsse zieht. Zudem wird das städtische Musikleben Stralsunds aufgrund nicht ausgewerteter Quellen erst seit dem späten 18. Jahrhundert berücksichtigt, während sich der Autor bei anderen Städten auch früheren Entwicklungen widmet. Für die vorliegende Arbeit sind seine Ergebnisse kaum von Bedeutung. Anders als Schwarz verfasste Köhler seine Studie zur Pommerschen Musikkultur in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (1997) auf der Grundlage eigener Archivrecherchen. Seine Untersuchungen sind nicht nach Städten, sondern nach den Trägern des musikalischen Lebens gegliedert; eine zusammenhängende Darstellung zur Stralsunder Musikgeschichte war nicht intendiert. Für die vorliegende Veröffentlichung sind in erster Linie die biographischen Angaben Köhlers zu verschiedenen pommerschen und insbesondere Stralsunder Musikern sowie seine umfangreiche »Bibliographie pommerscher Musikalien« außerordentlich nützlich. Mit Arno Werners Schrift Vier Jahrhunderte im Dienste der Kirchenmusik. Geschichte des Amtes und Standes der evangelischen Kantoren, Organisten und Stadtpfeifer seit der Reformation liegt seit 1932 eine wichtige Veröffentlichung zur regional übergreifenden musikalischen Berufsgeschichte von Kantoren, Organisten und Stadtmusikern vor. Zuvor hatte sich bereits Johannes Rautenstrauch der Pflege der kirchlichen Musik in Sachsen (1907) vom 14. bis zum 19. Jahrhundert zugewandt und dabei vor allem das Kantorat und das Chorwesen untersucht. Darauf aufbauend widmete sich Dieter Krickeberg 1965 dem Protestantischen Kantorat im 17. Jahrhundert. Auch wenn Krickeberg vor41 Vgl. Prost (1982); ders. (1991); ders. (1996). 42 Der erste Band liefert einen historischen Überblick zur pommerschen Musikgeschichte, im zweiten Band werden ausgewählte pommersche Musiker bzw. Komponisten vorgestellt. 43 Gemeint sind hier die zahlreichen kleinen Veröffentlichungen zur pommerschen Musikgeschichte etwa von Hans Engel, Erdmann Werner Böhme und Günther Kittler, die als Mitarbeiter am musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Greifswald mit der systematischen Erforschung der pommerschen Musikgeschichte begannen. Von 1928 bis 1935 leitete Engel das musikwissenschaftliche Seminar und gründete u. a. einen Verein zur Pflege der pommerschen Musik. Als Vereinsmitteilungsblatt erschien zwischen 1932 und 1941 die Musik in Pommern, in der eine Reihe an Beiträgen der oben benannten Autoren erschien. Vgl. die Veröffentlichungen der genannten Autoren im Literaturverzeichnis sowie Ruhnke (1989), S. 253f., und Ochs (1999), S. 11–13. Außerdem brachte Engel einige Neudrucke älterer pommerscher Musik heraus, darunter Werke von Johann Vierdanck oder von den Stettinern Friedrich Gottlieb Klingenberg und Michael Rohde. Vgl. zu den Ausgaben Stralsunder Musikalien auch das Werkverzeichnis am Ende dieser Arbeit.
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dergründig die mitteldeutsche Situation – und hier das Freiberger Kantorat – im Blick hatte, lieferte er dennoch allgemeine Thesen zu einer Typologie des protestantischen Kantorats auf der Grundlage eines überregionalen Vergleichs. Dem norddeutschen Kantorat gestand er dabei eine im Vergleich zu Mitteldeutschland nur untergeordnete Bedeutung zu, da hier vor allem die Organisten »schon früh als Komponisten und Leiter vokaler Kirchenmusik«44 hervorgetreten seien. Das durch Krickeberg in seiner Arbeit annoncierte ›idealtypische Kantorat‹, das allein auf den mitteldeutschen Gegebenheiten basiert, bedarf heute weiterer Differenzierungen. Darauf verwies bereits Konrad Küster in seinem Beitrag zur Definition des nachreformatorischen Kantorats in den Herzogtümern Schleswig und Holstein (2005). Es erscheint demnach problematisch, allein aus der weniger umfangreichen oder sogar fehlenden kompositorischen Tätigkeit der Kantoren eine geringere Bedeutung des Amtes herzuleiten, ohne ihre eigentlichen Aufgaben in der Schule und bei der Kirchenmusik detailliert zu untersuchen. Die mit dem Kantorat verbundene schulische Lehre ist auch in den Stadtmusikgeschichten bisher kaum ausreichend behandelt worden. So stellten Krüger (1933) und Stahl (1952) in ihren Arbeiten zu Hamburg bzw. Lübeck lediglich die musikalischen Amtspflichten der Kantoren dar und vernachlässigten den für das Amt außerdem bedeutsamen Bereich der nichtmusikalischen Lehre sowie der administrativen Aufgaben. Vor diesem Hintergrund erhalten die neueren Studien Küsters (2005, 2006) zum Kantorat in Schleswig und Holstein (s. o.) sowie zum Wirken des Husumer Kantors Matthias Ebio (Theorie und Praxis im Musikunterricht der Lateinschulen) ihre besondere Relevanz auch für die vorliegende Studie. Die Organisation des Musikunterrichts und die Etablierung der Kantorate im 16. Jahrhundert, u. a. in Pommern, wurden durch Klaus Wolfgang Niemöller in seinen umfassenden Untersuchungen zu Musikpflege und Musikunterricht an den deutschen Lateinschulen vom ausgehenden Mittelalter bis um 1600 (1969) thematisiert, die bis heute als Standardwerk für diese Thematik gelten dürften. Den seit dem Ende des 17. Jahrhunderts zu beobachtenden neuen Entwicklungen im Amt widmete sich Kremer in seiner schon erwähnten grundlegenden Untersuchung zum norddeutschen Kantorat (Das norddeutsche Kantorat im 18. Jahrhundert, 1995). Innerhalb der pommerschen Musikgeschichtsschreibung wurden die Stralsunder Kantoren offenbar aufgrund fehlender musikalischer Überlieferungen vollständig vernachlässigt. Demgegenüber wurden die Organisten vor allem wegen ihrer umfangreichen Werküberlieferung weitaus häufiger bedacht. Schon 1932 veröffentlichte Günther Kittler seinen Beitrag Vom Stande der Organisten in Pommern bis zum 19. Jahrhundert. Kittler beschrieb die Etablierung des Amtes, äußerte sich zum Status der Organisten und suchte nach Verbindungen zwischen dem Organisten- und Kantorenamt in Pommern. Freilich kritisierte er den aufgrund noch ausstehender Archivrecherchen unzureichenden Forschungsstand45.
44 Krickeberg (1965), S. 179f. 45 Kittler (1932), S. 97.
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Für das Organistenamt erweist sich die anfangs erwähnte Studie von Edler zum Nordelbischen Organisten (1982) als grundlegend für jede weitere Erforschung dieses Berufsstandes. Edler ging es in seiner Studie nicht darum, Komponisten und Werke herauszuheben, die »das Bild von dieser Region [Nordelbien] als einer musikalischen Landschaft geprägt haben«46, sondern vielmehr darum, die Bedeutung der Amtsstrukturen als Grundlage musikalischen Wirkens herauszustellen. Seine Untersuchungsergebnisse sind auch für die Erforschung des Stralsunder Organistenstandes zentral, da aufgrund verschiedener Städtebündnisse und Vereinbarungen enge Verbindungen etwa zwischen Stralsund, Lübeck und Hamburg nachgewiesen werden können. Für die Zeit seit der Reformation bis zum Ende des 17. Jahrhunderts untersuchte Edler außerdem, in welcher Weise das Komponieren das Berufsverständnis der norddeutschen Organisten beeinflusste. Da von Stralsunder Organisten zahlreiche musikalische Werke überliefert sind, ist gerade dieser Aspekt auch für die vorliegende Studie bedeutsam. Unter den pommerschen Stadtmusikern ragt im 16. und 17. Jahrhundert vor allem der Stettiner Paul Luetkemann heraus, der eine Reihe musikalischer Werke schuf und damit die Aufmerksamkeit der Musikforscher erlangte47. Exemplarisch sei hierfür der Beitrag Engels zu den Spielleuten und Hofmusikern im Alten Stettin zu Anfang des 17. Jahrhunderts (1932/33) genannt, auch wenn es sich dabei nur um eine nahezu unkommentierte Quellensammlung zu den Stadtmusikern handelt. Das Manuskript einer Arbeit zur Geschichte der Stralsunder Stadt-Kuren aus dem Jahr 1934 liegt im Stralsunder Stadtarchiv vor48. Ihr Verfasser Darmer widmet sich darin der Organisation des Stralsunder Kurenamtes und stellt das zu diesem Thema sorgfältig recherchierte Material umfassend dar. Um die quellenmäßig nur sehr unzureichend dokumentierten Anfänge des weltlichen Berufsmusikertums in der mittelalterlichen Stadt machte sich Heinrich W. Schwab (1982) verdient. Dabei ging es ihm um den Prozess der Etablierung des Kuren- und Stadtmusikeramtes aus dem mittelalterlichen Spielmannwesen heraus. Schwab lieferte in diesem Zusammenhang wesentliche Erkenntnisse auch für Norddeutschland. Da die städtischen Instrumentalisten weitaus weniger als die Organisten und Kantoren von der Einführung der Reformation im 16. Jahrhundert beeinflusst waren und die entsprechenden Kirchenordnungen daher – anders als bei den übrigen musikalischen Berufsständen – als Quelle für die Etablierung des Amtes nichts hergeben, bildet die Arbeit Schwabs auch für die hier vorliegende Erforschung des Stralsunder Stadt- bzw. Zunftmusikantentums die Grundlage. Eine regional begrenzte Studie zur Berufsgeschichte des Stadtmusikantenwesens seit dem 16. Jahrhundert legte erstmals Soll im Jahr 2006 vor (Verrechtlichte Musik: Die Stadtmusikanten der Herzogtümer Schleswig und Holstein), nachdem die Untersuchungen zu den 46 Edler (1982), S. 351. 47 Vgl. den Personenartikel sowie weitere Literatur zu Luetkemann in der MGG2: Schubert (2004). 48 Der Autor wird als »A. Darmer« bezeichnet, der Vorname ist unbekannt. Die Arbeit
ist unter der Signatur Po 4o 466 1+2 verzeichnet.
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Stadtmusikanten zuvor zumeist in Stadtmusikgeschichten integriert erschienen waren49. In seiner Arbeit, die im Übrigen als Pendant zu der Edlerschen Studie zum Nordelbischen Organisten gedacht war50, widmete sich Soll zunächst der historischen Entwicklung des Berufsstandes vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, um anschließend systematisch unterschiedliche Fragen des Berufsalltages zu bearbeiten. Dabei sind vor allem seine Ausführungen zur Ausbildung, Anstellung, musikalischen Aufwartung und zu den materiellen Verhältnissen im Stadtmusikantenwesen für die vorliegende Untersuchung interessant, da sie die Grundlage für einen überregionalen Vergleich bieten. In ihrem Ergebnis bleibt die Darstellung Solls allerdings an der Krise und Auflösung des Berufsstandes im 18. und 19. Jahrhundert orientiert und beschränkt sich auch in den systematischen Betrachtungen zumeist auf diesen Zeitraum. * Dass die Autorin der vorliegenden Untersuchung den Zeitraum vom Durchbruch der Reformation bis zum Ende des 17. Jahrhunderts in den Mittelpunkt stellt, hat mehrere Gründe. Zunächst war eine Begrenzung schon allein wegen der erforderlichen gründlichen Archivrecherchen geboten. Die geplante Eingrenzung auf das 17. Jahrhundert erwies sich dabei als nicht sinnvoll, da vor allem die Entwicklungen nach Einführung der Reformation, die einen immensen Einschnitt in das gesellschaftliche Leben des 16. Jahrhunderts bedeutete, als wesentlich für das Verständnis der Strukturen im 17. Jahrhundert erscheinen und für Stralsund und Pommern bisher kaum ausreichend erforscht wurden. Auch konnte dem Quellenmaterial in erster Linie für das 16. Jahrhundert eine Reihe an neuen Erkenntnissen entnommen werden, die auch die bisherigen Untersuchungen zum 17. Jahrhundert in neuem Licht erscheinen lassen. Das 17. Jahrhundert zeigt sich nach der Etablierung der musikalischen Ämter als Zeit ihrer Konsolidierung und Blüte51. Auch das Stralsunder Musikleben befand sich um die Jahrhundertmitte auf später kaum mehr erreichtem Niveau und bietet sich aus diesem Grund für eine Untersuchung an. Im Unterschied zur ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in der sich ein musikalischer Stilwandel vollzog, wie auch an dem in Stralsund entstandenen musikalischen Repertoire zu beobachten ist, veränderten sich die Organisationsstrukturen der musikalischen Ämter seit dieser Zeit kaum noch. Die Eingrenzung des Untersuchungszeitraums nach hinten markiert den durch das neuentstandene bürgerliche Konzertwesen begründeten Wandel im Musikleben des 49 Vgl. vor allem Detlefsen (1961) zu Flensburg. 50 Vgl. das Vorwort in Soll (2006), o. S.: »Der Gedanke, analog zu Arnfried Edlers Monographie ›Der Nordelbische Organist‹, eine musikwissenschaftliche Forschungsarbeit über das Stadtmusikantenwesen Schleswig-Holsteins zu verfassen, war bereits während meiner Magisterarbeit [...] gereift.« 51 Edler (1982), S. 6. Edler sieht die Bevorzugung des 17. Jahrhunderts und die damit verbundenen verschobenen Wertmaßstäbe in den musikalischen Berufsgeschichten allerdings kritisch. Vgl. ebd.
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18. Jahrhunderts, der sich auf die musikalischen Ämter in unterschiedlicher Weise auswirkte und einer gesonderten Untersuchung bedarf. Nicht zuletzt wird die Wahl des Untersuchungszeitraumes auch durch die bislang unbefriedigende Forschungssituation bestimmt. Die Umstrukturierungsprozesse im Musikleben des 18. Jahrhunderts, die etwa zur Auflösung des Stralsunder Kantorats führten52, setzen eine genaue Kenntnis der musikalischen Strukturen des 17. Jahrhunderts voraus, die bisher allerdings zu den Forschungsdesideraten zählen. Die Wahl Stralsunds als Untersuchungsgebiet liegt insofern nahe, als Größe53 und politische Bedeutung der Stadt auf ein reges Musikleben im städtischen und kirchlichen Bereich schließen lassen. Dem pommerschen Landesherrn gegenüber verhielt sich die Stadt in vielen Belangen souverän; auch unter den pommerschen Landstädten nahm Stralsund eine Sonderstellung ein. Verschiedene Bündnisse führten zu engem Kontakt mit den großen Hansestädten, wie etwa Hamburg, Lübeck oder Rostock, was sich entsprechend auch auf das Stralsunder Musikleben auswirkte. Zudem bestanden Beziehungen zu anderen See- und Handelsstädten innerhalb des gesamten Ostseeraums, in dem ähnliche Gegebenheiten im Musikleben auch den Austausch von Musikern beförderten. * Die Arbeit ist wie folgt gegliedert: Dem Hauptteil ist eine kurze Darstellung zur Geschichte Stralsunds und der städtischen Verwaltung im Untersuchungszeitraum vorangestellt mit den für die Thematik relevanten politischen und sozialen Rahmenbedingungen. Dem Verständnis der materiellen Verhältnisse dient ein kurzer Überblick über die Währungsverhältnisse in Pommern und Stralsund. Der Hauptteil der Untersuchung besteht aus drei Kapiteln, die den für das Stralsunder Musikleben relevanten musikalischen Berufsgruppen gewidmet sind: (1) den Kantoren, (2) den Organisten und (3) den Stadtmusikern. Im Zentrum stehen die Strukturen der Ämter und deren Wandel. Methodisch wird dabei stets gleichartig und angelehnt an die Arbeiten von Edler, Kremer und Soll vorgegangen. Die Reihenfolge der Kapitel ist nur bedingt als Rangfolge der Berufsstände zu verstehen. Aufgrund unterschiedlichster Tätigkeitsbereiche in den Ämtern wäre eine solche auch nur schwerlich festzulegen und den jeweils angelegten Kriterien entsprechend variabel. Hinsichtlich ihrer kompositorischen Aktivitäten nähmen die Stralsunder Organisten sicher den ersten Rang ein. Doch waren es die Kantoren, die bis nach Mitte des 18. Jahrhunderts die gottesdienstliche Musik an den drei Stralsunder Hauptkirchen organisierten und leiteten und die für lange Zeit den höchsten gesellschaftlichen Status unter den Musikern genossen. Obwohl eine analoge Gliederung innerhalb der einzelnen Kapitel zu Vergleichszwecken beabsichtigt war, ließ sich diese nicht durchgängig realisieren. Zu berücksichtigen 52 Vgl. Bugenhagen (2007). 53 Neben Stettin war Stralsund die größte Stadt im pommerschen Herzogtum.
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waren vielmehr die Besonderheiten der jeweiligen Berufsgruppen. So nimmt etwa die Darstellung der schulischen Strukturen im Kantoratskapitel einen breiten Raum ein. Allen Kapiteln gemein sind Darstellungen zur musikalischen Ausbildung der Berufsstände, den jeweiligen Anstellungsmodalitäten, der (musikalischen) Aufwartung und den materiellen Verhältnissen. Da es nicht bei einer ausschließlich strukturgeschichtlichen Darstellung bleiben soll, werden auch die Viten und das (musikalische) Wirken der jeweiligen Amtsinhaber thematisiert. * Die vorliegende Arbeit basiert im Wesentlichen auf der Auswertung archivalischer Quellen. Der Archivalienbestand zur Geschichte Stralsunds in der Frühen Neuzeit ist umfangreich und vielfältig. Über den größten Quellenbestand zum Stralsunder Musikleben im 16. und 17. Jahrhundert verfügt das Stralsunder Stadtarchiv54, das Archivalien vom 13. Jahrhundert bis zur Gegenwart verwahrt. Im Verlauf seiner Geschichte hatte das Stralsunder Stadtarchiv kaum Verluste zu beklagen. Dennoch liegen für die Zeit bis zum Ende des 16. Jahrhunderts nur wenige Belege zum musikalischen Leben in Stralsund vor, während das 17. Jahrhundert in dieser Hinsicht relativ gut dokumentiert ist. Ein geschlossener Quellenbestand zum Stralsunder Musikleben existiert nicht. Die direkt oder indirekt mit dem Musikleben verbundenen Informationen waren vielmehr den in unterschiedliche Reposituren gegliederten Aktenbeständen zu den einzelnen Stralsunder Verwaltungsbereichen zu entnehmen55. Für den Bereich der Kirchenmusik, in dem alle drei der untersuchten musikalischen Berufsstände agierten, wurde vor allem der als Repositur 28 (Stralsunder Kirchen) gelagerte Aktenbestand herangezogen56. Darin enthalten sind u. a. die von den Stralsunder Kirchen an das Stadtarchiv übergebenen Rechnungsbücher von der Mitte des 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts57. Außerdem sind hier die das Kirchenwesen betreffenden handschriftlichen und gedruckten Verordnungen der pommerschen bzw. schwedischen Obrigkeit, des Stralsunder Rates und des Geistlichen Ministeriums zusammengefasst. Auch die Bestallungsdokumente kirchlicher Bediensteter, wie Organisten und Küster, sowie die Visitationsprotokolle und Kirchenmatrikeln lagern in diesem Bestand. Für das Kantorat waren vor allem die Archivalien der Repositur 22 (Stralsunder Gymnasium) sowie die handschriftlich überlieferte Schulgeschichte des Stralsunder
54 Im Folgenden: StAS. 55 Vgl. dazu die detaillierten Findbücher im StAS. 56 Die Repositur 28 enthält Archivalien von der Mitte des 15. bis in das 20. Jahrhundert. 57 Zu den ältesten Rechnungsbüchern zählt dabei das unter der Signatur Rep 28-533 gelagerte Einnahme- und Ausgabebuch der Nikolaikirche für die Zeit von 1548–1574. Ein noch älteres Register (1530–1576) zu den Einnahmen und Ausgaben im Michaelisquartal der Marienkirche ist unter der Signatur Rep 28-636 zu finden.
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Rektors Adolf Gideon Bartholdi aus der Mitte des 18. Jahrhunderts von Interesse58. Auf diesen Quellen basiert auch die durch Ernst Heinrich Zober (1799–1869) verfasste verdienstvolle Schulgeschichte Stralsunds von der Gründung des Gymnasiums 1560 bis in das 19. Jahrhundert hinein59. Von besonderem Wert sind dabei die als Urkundliche Anhänge veröffentlichten und sorgfältig erstellten Transkriptionen wesentlicher und zum Teil heute nicht mehr auffindbarer Dokumente zur Stralsunder Schulgeschichte. Auskünfte zur Stralsunder Kurrende, die mit dem Amt des Küsters am Hospital zum Heiligen Geist verbunden war, sind in den Akten der Repositur 9 (Das Kloster zum Heiligen Geist) und der Repositur 23 (Stralsunder Schulen) enthalten. Das Stralsunder Stadtmusikantentum betreffende Archivalien lagern heute in erster Linie in den Reposituren 3 (Gerichtswesen), 18 (Polizeiwesen) und 38 (Städtische Finanzverwaltung). Während die Repositur 38 vor allem Material zur Amtsbesetzung und zu Besoldungsfragen der Stadtmusiker enthält, informieren die in der Repositur 3 befindlichen Rats- und Gerichtsquellen über Streitigkeiten zwischen den einzelnen Musikerständen. Die infolge der Streitigkeiten erlassenen Rats- und Gerichtsentscheidungen benennen die musikalischen Zuständigkeiten der Stralsunder Stadtmusiker, Kuren und (musikalischen) Zunftangehörigen, etwa für das Musizieren auf Hochzeiten. Die Einhaltung der städtischen Erlasse und Verordnungen lag dabei in der Verantwortung der Stralsunder Polizeibehörde; Übertritte in diesem Zusammenhang sind in den Akten der Repositur 18 dokumentiert. Neben den erwähnten Reposituren wurden die Stralsunder Bürgerbücher60, die Tauf-, Trau- und Sterberegister der einzelnen Kirchen61 sowie die ebenfalls im Stadtarchiv befindlichen Testamente und Personalschriften zu prosopographischen Zwecken herangezogen. Neben dem Stralsunder Stadtarchiv verfügen die Stralsunder Kirchenarchive von St. Nikolai, St. Marien und St. Jakobi über relevantes Material62. Dabei handelt es sich vor allen Dingen um Rechnungsbücher, Bestallungsunterlagen von Organisten und anderen kirchlichen Bediensteten sowie um Dokumente zum Orgelbau. Der Erschließungsstand des Materials lässt allerdings noch zu wünschen übrig: Findhilfsmittel liegen nur teilweise vor63, die Archivalien erscheinen in der Regel nur unzureichend verzeichnet und waren auch nur eingeschränkt zugänglich. Eine systematische und vollständige Auswertung des dort vorliegenden Materials war daher nicht in jedem Fall möglich. Allerdings befindet
58 StAS Hs. 434: Adolf Gideon Bartholdi, Stralsundische Schul-Geschichte aus zuverläßigen Nachrichten gesamlet und verfaßet von A. G. B. d. G. R. Bartholdi war von 1740 bis 1755 Rektor der Stralsunder Lateinschule. Im Folgenden: Bartholdi (StAS Hs. 434). 59 Vgl. Zober (1839) bis Zober (1858). 60 Diese liegen heute in digitalisierter Form vor. 61 Die Einträge aus den Stralsunder Kirchenbüchern liegen als alphabetische Kartei im StAS vor. 62 Im Folgenden: AStN (Archiv St. Nikolai), AStM (Archiv St. Marien) und AStJ (Archiv St. Jakobi). 63 Über einen umfangreichen Archivalienkatalog verfügt die Stralsunder Jakobikirche. Auch für St. Nikolai liegt ein Katalog vor, in dem jedoch nicht das gesamte Material verzeichnet ist.
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sich ein großer Anteil der kirchlichen Archivalien heute im Stralsunder Stadtarchiv und ist dort verzeichnet und einsehbar. Um Kontakte und Verbindungen Stralsunder Musiker in die benachbarten Städte des pommerschen Herzogtums aufzeigen und diesen nachgehen zu können, waren ergänzende Recherchen im Greifswalder Stadtarchiv64, im Archiv der Greifswalder Nikolaikirche65, im Landesarchiv Greifswald66 und im Staatsarchiv Stettin67 unerlässlich. Ergänzt wurde die Arbeit außerdem durch die Auswertung gedruckten Quellenmaterials, das sich ebenfalls im Stralsunder Stadtarchiv und darüber hinaus in verschiedenen Bibliotheken und anderen Archiven befindet. In diesem Zusammenhang seien die Musikalien Stralsunder Provenienz genannt, die heute in ihren originalen Drucken in den unterschiedlichsten Bibliotheken und Archiven lagern und für die Untersuchung herangezogen wurden68. Die für das pommersche Herzogtum oder speziell für Stralsund zahlreich erlassenen Verordnungen mit Bedeutung für das Musikleben (Hochzeitsordnungen, Begräbnisordnungen) sowie relevante Personalschriften bzw. Gelegenheitsdrucke ließen sich gedruckt oder ungedruckt in den bereits aufgeführten Archivbeständen oder aber in der Greifswalder Universitätsbibliothek finden. Darüber hinaus sind die von Emil Sehling (1911) neuveröffentlichten pommerschen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts zu nennen, die vor allem einen Einblick in die Institutionalisierung des Kantoren- und Organistenamtes in den ansonsten nur unzureichend dokumentierten ersten Jahrzehnten nach Einführung der Reformation liefern.
Stadtgeschichte und Verwaltung Stralsunds im 16. und 17. Jahrhundert Die politische Bedeutung und wirtschaftliche Kraft Stralsunds im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit resultieren u. a. aus der günstigen geographischen Lage der Stadt. Am Sund gegenüber der Insel Rügen gelegen, eingebettet in Teiche und nur über Dämme erreichbar69, verfügte Stralsund über günstige Handelsbedingungen und über
64 Im Folgenden: StAG. 65 Im Folgenden: AStNG. 66 Das Landesarchiv Greifswald (im Folgenden: LAG) wurde 1946 eingerichtet, um die 1942 ausgelagerten ehemaligen Bestände des Staatsarchivs Stettin aufzunehmen und zu verwalten. Das gelang nur teilweise; heute verfügt das Archiv über einen Teil der ehemaligen Stettiner Bestände. 67 Archiwum Pánstwowe w Szczecinie (im Folgenden: APS). Vgl. zu den frühneuzeitlichen Beständen an Nordica, Baltica und Sueco-Pomeranica im APS auch Porada (2005). 68 Im StAS befinden sich nur einige wenige Musikalien pommerscher Provenienz in den Beständen der Repositur Pommern. 69 Im Norden ist die Stadt durch den Sund begrenzt, auf der Landseite gibt es drei langgezogene natürliche Teiche. Mit dem Land ist Stralsund durch zwei breite Dämme (Knieper- und Frankendamm) und drei schmale Dämme (Küter-, Hospitaler-, Tribseer Damm) verbunden. Von Rügen gelangte man auf dem kürzesten Weg nach Schweden. Vgl. Langer (1970), S. 14f. Ewe (1995, S. 9) spricht Stralsund gar den Charakter einer »Wasserburg« zu.
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Abbildung 1: Stralsund im Plan des schwedischen Kartographen Johannes Staude (1647)
eine vorzügliche Verteidigungsposition bei Angriffen70. Während der kriegerischen Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft im Ostseeraum wurde die Stadt zu einem der umkämpftesten Ziele im 17. Jahrhundert. Hinsichtlich seiner Bevölkerung zählte Stralsund im 16. und 17. Jahrhundert zu den deutschen Mittelstädten, wie auch Rostock oder Stettin, mit Einwohnerzahlen zwischen 8000 und 16.00071. Berwinkel zufolge hatte Stralsund in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ca. 12.500 Einwohner72; für das frühe 17. Jahrhundert ermittelte Langer etwa 14.000 bis 15.000 Einwohner73. Die soziale Zusammensetzung der Bevöl70 Die günstigen Handelsbedingungen betreffen vor allem den Seehandel; darüber hinaus lag Stralsund an der West-Ost-Landhandelsroute von Hamburg über Lübeck und Rostock bis nach Danzig. Langer (1970), S. 17. Bei Angriffen boten die vorgelagerten Inseln Dänholm und Rügen Schutz von der Seeseite. Ewe (1995), S. 10. Wernicke (1989, S. 259) verweist allerdings auf Probleme aufgrund des zu zwei Seiten offenen Seezugangs. 71 Langer (1970), S. 20f. Rostock wurde 1594 von ca. 14.800 Menschen bewohnt, Stettin 1597 von 13.500 Menschen. Lübeck hingegen hatte um 1600 bereits 22.570 Einwohner. 72 Berwinkel (2008), S. 39. 73 Langer (1970), S. 19f. Die Berechnung erfolgte auf Grundlage der Haussteuerregister, nach denen sich die Anzahl der Stralsunder Wohngebäude ermitteln lässt. Die ersten zuverlässigen
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kerung im frühen 16. Jahrhundert erscheint dabei, ähnlich wie in Rostock oder Lübeck, relativ ausgewogen: Der größte Anteil der Bewohner zählte zur Mittel (41,7 %) bzw. zur Unterschicht (45,7 %), die – gegenüber einer zahlenmäßig geringeren Oberschicht (12,6 %) – annähernd gleich große Gruppen bildeten74. Durch Pestepidemien75 und Kriegseinfall reduzierte sich die Stralsunder Bevölkerung im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts stark und wird von Hacker mit nur noch etwa 7300 Menschen am Ende des 17. Jahrhunderts angegeben76. Zu einem erneuten Anstieg der Einwohnerzahlen kam es erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts77. Die größte wirtschaftliche Bedeutung für die Stadt trugen der Schiffbau und der Fernhandel. Auch der pommersche Chronist Thomas Kantzow (1505–1542) bescheinigte den Stralsundern am Ende des 16. Jahrhunderts ein »Gemuete […] [das] nur zu der Kaufmannschaft und Schiffahrt geneigt« sei78. Dabei übertraf der Handel die gewerbliche Produktion an Umfang und Bedeutung bei Weitem79. Schon im Mittelalter zählte die Stadt zu den bedeutendsten Fernhandelsstädten in Nordeuropa, beteiligte sich aktiv an hansischen Unternehmungen und profitierte von den damit verbundenen Privilegien80. Gehandelt wurden vor allem Luxuswaren wie Tuche, Pelze, Wein, Honig und Wachs; Agrarprodukte wie Malz, Roggen, Mehl und Bier zählten zu den wichtigsten Ausfuhrprodukten81. Jedoch spielte der Export von Waren für die Stadt eine nur untergeordnete Rolle, größere Bedeutung erlangte sie als Zwischenhandelsplatz82. Seit 1293 zählte Stralsund zu den Städten des sogenannten Wendischen Quartiers, einem aus dem Hansebündnis entstandenen Zusammenschluss der Ostseestädte Lübeck, Stralsund, Wismar, Rostock und Greifswald. Aufgrund gemeinsamer Handelsund politischer Interessen pflegte die Stadt seitdem und bis in das 17. Jahrhundert hinein vor allem enge Verbindungen mit Lübeck83, an dessen Seite sich Stralsund als
Angaben zur Einwohnerzahl auf der Basis von Volkszählungen stammen aus den 1760erJahren. Vgl. Kroll (1997), S. 114. 74 Berwinkel (2008), S. 39f. Die Eingruppierung orientiert sich am Vermögen der Bürger. Vergleichend führt Berwinkel Augsburg an, wo nur 8,5 % der Bürger zur Oberschicht und 86,5 % zur Unterschicht zählten. Unklar bleibt allerdings, auf welches Jahr sich die Berechnungen Berwinkels für Stralsund beziehen. Bei Wernicke (1989, S. 261) finden sich für das Jahr 1534 leicht abweichende Zahlen: 40,1 % Mittelschicht, 53,3 % Unterschicht, 5,6 % Oberschicht. 75 Folgenschwere Pestepidemien lassen sich in Stralsund 1549, 1565, 1601, 1625, 1629 und 1636 nachweisen. Vgl. Coch (1964). 76 Hacker (1982), S. 22. 77 Kroll (1997), S. 116. 78 Zit. nach Gaebel (1908), Bd. 2, S. 174. 79 Schildhauer (1992), S. 43. 80 Vgl. zu den Handelsbeziehungen Wernicke (1989), S. 259. 81 Ewe (1995), S. 13; Wernicke (1989), S. 259. 82 Wernicke (1989), S. 259. 83 Ebd.
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»wirtschaftlich stärkste und in hansischen Angelegenheiten aktivste Hansestadt« unter den wendischen Städten zeigte84. Ihre feste Verankerung im Hansebündnis beeinflusste auch die politischen Entscheidungen der Stadt enorm und verhalf ihr machtpolitisch zu einer außerordentlich starken und bemerkenswerten Position innerhalb des pommerschen Herzogtums85: Stralsund führte nicht nur die Städtekurie unter den pommerschen Landstädten an86, sondern bewahrte sich außerdem ein Maß an politischer Unabhängigkeit vom Landesherrn, das von keiner anderen Stadt im Herzogtum erreicht wurde87. Die Zugehörigkeit zur Hanse auf der einen und zum pommerschen Territorium auf der anderen Seite bestimmte die Politik Stralsunds bis in das 17. Jahrhundert hinein88. Ihre Autonomie gegenüber dem Landesherrn stellte Stralsund etwa bei Einführung der lutherischen Lehre im 16. Jahrhundert deutlich unter Beweis. Während sich die pommerschen Herzöge Barnim IX. und Philipp I. erst 1534 zur Reformation bekannten und eine Kirchenordnung für Pommern beauftragten89, hatte der Stralsunder Rat mit der Kirchen- und Schulordnung von Johannes Aepin (1499–1553)90 die Reformation schon 1525 selbstständig und unabhängig vom Landesherrn eingeführt. Sowohl die erste (1535) als auch die zweite pommersche Kirchenordnung (1563) stieß in Stralsund auf Widerstand und wurde nicht akzeptiert91. Außerdem verwehrte man der herzoglichen Visitationskommission 1535 den Zutritt zur Stadt und berief sich vielmehr auf die eigene Kirchenordnung und die Hoheit des Rates über das Kirchenwesen. Trotz zahlreicher Konflikte mit der Landesobrigkeit bewahrte Stralsund seine Autonomie in kirchlichen Fragen bis in das 17. Jahrhundert hinein. Als Stadt Lübischen Rechts, der das Stadtrecht 1234 durch den Rügenfürsten Wizlaw I. verliehen worden war92, verfügte Stralsund über einen starken Stadtrat, der sich aus der reichen Kaufmannschaft formiert hatte. Die politische Gewalt – Legislative, Exekutive und Jurisdiktion – lag in der Hand von Bürgermeistern und Ratsherren93, 84 Ebd. 85 Vgl. dazu Berwinkel (2008), S. 49. 86 Den Vorrang Stralsunds gegenüber Stettin thematisiert auch Thomas Kantzow (1539): Stralsund habe »durch ihre Gewalt und Reichtumb […] so herfurgebrochen, daß sie vor Stettin den Vorgang in der Landschaft erlangt«. Zit. nach Gaebel (1908), Bd. 2, S. 173. 87 Der Status Stralsunds kam dem einer Reichsstadt zumindest nahe. Berwinkel (2008), S. 50 bzw. 42. Landesgesetze etwa wurden nur anerkannt, wenn sie mit dem lübischen Recht und dem Willen des Rates übereinstimmten. 88 Ebd., S. 27. 89 Sehling (1911), S. 304–306. Johannes Bugenhagen (1485–1558) wurde beauftragt, die erste pommersche Kirchenordnung zu verfassen. Siehe dazu auch die Ausführungen unten auf S. 51 90 Zu Aepin vgl. unten S. 48–50. 91 Vgl. Berwinkel (2008), S. 37, bzw. Ptaszyński (2013), S. 188. 92 Ewe (1995), S. 9. 93 Vgl. zum lübischen Recht Ebel (1967), S. 10f. Die städtische Jurisdiktion Stralsunds wurde durch das Niedergericht, Waisengericht, Konsistorialgericht und das Kammergericht gewährleistet. Kroll (1997), S. 121.
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die im Übrigen auch das Kirchen- und Schulwesen beaufsichtigten und somit Dienstherren sämtlicher angestellter Musiker in der Stadt waren. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Verschuldung Stralsunds94 kam es seit dem Ende des 16. Jahrhunderts zu andauernden Auseinandersetzungen zwischen Rat und Bürgerschaft95, in deren Verlauf auch der Landesherr versuchte, seine Position gegenüber der Stadt zu stärken96. Mit dem Erbvertrag von 1615 waren die Bemühungen des Pommernherzogs Philipp Julius zumindest teilweise erfolgreich: Formal erkannte Stralsund sein Untertanenverhältnis zum Landesherrn und die damit verbundenen Pflichten an97. Die Kirchenhoheit des Stralsunder Rates blieb allerdings unangetastet, und so orientierten sich Ratsherren und Bürgermeister auch in der Folgezeit weniger an den Vorgaben der Landesregierung als an den Interessen des Hansebündnisses98. Als folgenreich für die innerstädtische Politik ist der 1616 im Ergebnis der langjährigen Auseinandersetzungen geschlossene Bürgervertrag zwischen Herzog, Rat und Vertretern der Stralsunder Bürgerschaft zu werten: Während die politische Macht des Rates durch diesen beschnitten wurde, sollte die im Kollegium der sogenannten Hundertmänner vertretene Bürgerschaft seit dieser Zeit an der Administration des Gemeinwesens und an der Verwaltung der städtischen Finanzen beteiligt sein99. Auch die zentrale Stadtkasse, die ›Achtmannskammer‹, aus der die Besoldung des Rates und der städtischen Diener, darunter auch der Ratsmusikanten, erfolgte, stand fortan unter bürgerschaftlicher Verwaltung100. Der Bürgervertrag von 1616 bestimmte die Grundzüge der städtischen Verwaltung Stralsunds und bildete bis 1870 das gültige Verfassungsdokument der Stadt101. Bedeutung erlangte er darüber hinaus auch für die Quellenüberlieferung. So führten die vertraglich festgelegten Verbesserungen in der städtischen Verwaltung zu einer sorgfältigeren Buchführung: Seit 1616 liegen die städtischen Einnahme- und Ausgaberegister lückenlos vor. 94 Die finanziellen Anforderungen an die Stadt u. a. von Seiten des Landesherrn waren stark gestiegen. Vgl. Langer (1970), S. 173–178. 95 Dabei ging es in erster Linie um ein stärkeres politisches Mitspracherecht der Bürgerschaft, um mehr Transparenz in der Finanzverwaltung und um die Visitation der Kirchengüter. Vgl. ebd., S. 171. 96 Ebd., S. 161–221. Das Interesse des Landesherrn zielte dabei auf die Hoheit über das Kirchenwesen, die damit verbundene Ordination der Geistlichen und den Umgang mit den Kirchengütern. 97 Ebd., S. 204. Gemeint sind u. a. der Erbhuldigungseid sowie die Zahlung von Landessteuern. Außerdem wurden dem fürstlichen Hofgericht Kompetenzen als Gerichtsinstanz zugestanden. 98 1615 – kurz nach Unterzeichnung des Erbvertrages – schlossen Stralsund und die anderen wendischen Städte trotz Warnung des Pommernherzogs eine Allianz mit den Niederlanden. Ebd., S. 219f. Die Hanse war zu dieser Zeit allerdings bereits deutlich geschwächt. 99 Langer (1970), S. 216f. 100 Kroll (1997), S. 122f. 101 Langer (1970), S. 216.
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Im Zuge der Verhandlungen von 1616 wurden außerdem das Stralsunder Bürgerrecht reformiert sowie eine Reihe neuer Verordnungen erlassen, die das gesellschaftliche Leben der ständischen Zugehörigkeit entsprechend reglementieren sollten. Die Reform des Stralsunder Bürgerrechts zielte zunächst darauf, »müßiges Gesindel« aus der Stadt fernzuhalten, während alle, die eine »eigene (Haus-)›Wirtschaft‹ halten bzw. bürgerliche Nahrung in der Stadt oder den Vorstädten treiben« wollten, das Bürgerrecht zu erwerben hatten102. Als dem städtischen Gemeinwesen zugehörig, hatten die Träger des Bürgerrechts Anspruch auf bestimmte Privilegien und Rechte103 und waren im Gegenzug verpflichtet, städtische Aufgaben zu übernehmen104 sowie Abgaben und Steuern zu zahlen105. Die gesamte festangestellte Musikerschaft Stralsunds (Organisten, Kantoren, Ratsmusikanten) blieb aufgrund ihrer Anstellung in kirchlichen bzw. in städtischen Diensten vom Bürgerrechtserwerb und den damit verbundenen Verpflichtungen befreit106. Lediglich für die in berufsständischen Vereinigungen organisierten Instrumentalisten war der Bürgerrechtserwerb erforderlich, damit sie ihrem Berufsgeschäft nachgehen konnten107. Jedoch konnten auch sie durch ihren Dienst bei der Kirchenmusik erwirken, von den Steuerzahlungen und den übrigen Verpflichtungen befreit zu werden108. Seit der Bürgerrechtsreform von 1616 war die Stralsunder Bürgerschaft in drei Stände unterteilt109. Zum ersten Stand zählten die Stralsunder Kaufmannschaft, Doktoren, Advokaten, Apotheker und die Mitglieder der Gewandschneiderkompanie, der Brauer, Mälzer und Krämer110. Auch wurden die im Kirchendienst stehenden Kantoren und übrigen Lateinschullehrer sowie die Organisten vermutlich schon zu Beginn des 102 Zit. nach ebd., S. 217, sowie Kroll (1997), S. 121. Vgl. auch Adelung (1793, S. 1265) zum Bürgerrecht: »Der Inbegriff aller Gerechtsamen, welche ein Bürger in der engern Bedeutung in Ansehung seines Nahrungsgeschäftes zu genießen hat.« 103 Dazu zählten etwa ein Mitspracherecht in der Stadtpolitik, Privilegien in der Berufsausübung, ein städtischer Gerichtsstand oder die wirtschaftliche Absicherung im Notfall. Vgl. Fahrmeir (2005), Sp. 575. 104 So etwa beim Brandschutz, der Verteidigung oder in der Abfallwirtschaft. Ebd. Für die Stralsunder Bürger waren außerdem der Wachtdienst und die Einquartierung des Militärs verpflichtend. 105 Zu den ›onera‹, den bürgerlichen Lasten, zählten das Schoßgeld für sämtliche private Besitztümer, das städtische Wachtgeld und die je nach Bürgerstand zu zahlende Kopfsteuer. Vgl. Hacker (1979), S. 18, 24. 106 Ausgenommen war auch das Militär. Die städtischen Diener hatten das Bürgerrecht nur dann zu erwerben, wenn sie eigene Grundstücke kaufen wollten. Kroll (1997), S. 121. 107 Für den Erwerb des Bürgerrechts mit Eintragung in das Bürgerbuch waren eine Gebühr zu entrichten, ein Bürgereid zu leisten sowie zwei Bürgen zu stellen. Vgl. dazu auch Fahrmeir (2005), Sp. 575–580, und Kroll (1997), S. 121. 108 Vgl. dazu unten S. 345. 109 Seit dieser Zeit wurden nur noch drei Bürgergeldsätze unterschieden, nachdem es zuvor eine Vielzahl verschiedener Gebührensätze gegeben hatte. Vgl. Langer (1970), S. 217. 110 Vgl. hierzu und im Folgenden Kroll (1997), S. 120. Für die vollständige Auflistung der Berufe siehe Dähnert (1786/1788), S. 972f.
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17. Jahrhunderts dem ersten Bürgerstand zugerechnet, wie es einem Stralsunder Gerichtsvermerk für das Jahr 1650 zu entnehmen ist: »[…] wie es dan mit bey den Cantzelisten, Organisten, Schulbedienten Küstern dienern und auch andern so nicht burger seyn zuhalten und in was Stande sie angesehen werden sollen, und daß die Schul-bediente, so viel derer in d[en] lateinisch Classibus aufwarten in dem ersten, die aber in den deutschen Classibus in den andern Stand gesetzet werden sollen. die Organisten bleiben im ersten, Küster und diener aber im letzten Stande. Advocati im ersten, Procuratores in andern Stande jedoch deß sie auch in solchen Stande die Contributiones und das bürgergeld erlegen 3. Jan. 1650.«111
Dem zweiten Stralsunder Bürgerstand wurden die »Viergewerke« – Bäcker, Schuster, Schneider und Schmiede − zugerechnet, außerdem die meisten übrigen Handwerksämter, Schiffer, Schreiber, Privatschullehrer und die städtischen Instrumentalisten, zu denen sowohl die Ratsmusikanten als auch die Zunftmusiker zu zählen sind112. Den dritten Bürgerstand bildeten die unbedeutenden Handwerksämter (Maurer, Zimmerleute, Schornsteinfeger), Fuhrleute, Fischer, Bootsleute, Tagelöhner, Küster und Diener113. Neben der Ständeordnung war das gesellschaftliche Leben Stralsunds durch eine Reihe weiterer Ratsverordnungen für verschiedenste öffentliche und private Bereiche reglementiert: In Polizei- und Kleiderordnungen etwa waren das Ausmaß und die Gestaltung privater Feierlichkeiten sowie die standesgemäße Kleidung für die Stralsunder Einwohnerschaft festgelegt, Feuerordnungen regelten die Zuständigkeiten im Brandfall, Brotordnungen gaben Gewicht und Preise für Backwaren vor, in Begräbnisordnungen lassen sich die standesgemäßen Bestimmungen für Begräbnisse finden und durch Hochzeitsordnungen wurden u. a. die musikalischen Zuständigkeiten geregelt. Wurde das Alltagsleben durch die zahlreichen Verordnungen zwar stark reglementiert, so dienten diese doch auch dem Schutz des Gemeinwohls114. Die Einhaltung der Bestimmungen wurde vom Stralsunder Rat überwacht, der die volle Gerichtsbarkeit in der Stadt besaß. Spätestens 1623 übertrug er die Aufsicht einer städtischen Polizeibehörde115. Zuvor waren mit diesen Aufgaben vermutlich die sogenannten Weinherren
111 StAS Rep 3-1487 Alphabetisches Register über rechtliche Vorgänge (Bruchstück) F–P 16.–18. Jh. [»Kleiderordnung«]. Die Lateinschullehrer (u. a. Kantoren) zählten schon wegen ihrer akademischen Ausbildung zum ersten Stand. Vgl. auch Dähnert (1786/1788, S. 972): »Doctor, Licentiat, Magister«. 112 Nach der Stralsunder Bürgertabelle bei Dähnert (1786/1788, S. 972f.) zählte sowohl der Kunstpfeiffer als auch der zunftmäßig organisierte Spielmann zum zweiten Stand. Dies änderte sich auch im Verzeichnis der Kammergefälle von 1711 nicht. Vgl. StAS Rep 3-1537 Kammergericht: Verzeichnis der Kammergefälle um 1711, fol. 20. 113 Vgl. das Zitat. 114 Soll (2006), S. 34–38. 115 1623 ist die Stralsunder Polizeibehörde erstmals nachweisbar. Vgl. StAS Findbuch – Repositur 18 – Polizeiwesen [Einleitung].
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betraut gewesen, die außerdem über den städtischen Ratskeller und die Lustbarkeiten der Stadt wachten116. * Seit der Reformation beanspruchte der Stralsunder Rat die vollständige Kirchenhoheit und wehrte sich im 16. und 17. Jahrhundert erfolgreich gegen die Patronatsansprüche des Landesherrn. Dieser berief sich auf die bis ins Mittelalter zurückreichende Zugehörigkeit der Stralsunder (Filial-)Kirchen zur Kirche von Voigdehagen, über die er als Landesherr das Patronat innehatte117. In Stralsund betrachtete man diese Institution nach der Reformation allerdings als hinfällig. Vielmehr sah man die Kirchenhoheit als auf den Rat übergegangen an und beauftragte einen eigenen städtischen Superintendenten als ›Primarius Pastor‹ und Vorsteher des Geistlichen Ministeriums, der u. a. die städtischen Prediger in ihr Amt zu setzen hatte118. Neben dem Superintendenten waren an den drei Hauptkirchen St. Nikolai, St. Marien und St. Jakobi als ›Provisorate‹ bezeichnete Vorstände für die kirchlichen Angelegenheiten zuständig119. Im Zusammenwirken von Rat, Superintendent und Provisoraten wurden sämtliche Entscheidungen im Kirchenwesen getroffen. Die Einteilung Stralsunds in vier Stadtquartiere orientierte sich u. a. an den verschiedenen Pfarrbezirken. Während das Nikolai-, das Marien- und das Jakobiquartier jeweils über eine eigene Pfarrkirche verfügten, war das vierte und kleinste Stadtquartier nach dem schon im Mittelalter errichteten St.-Jürgen-Hospital benannt. Hinsichtlich ihrer Einwohnerschaft waren die Stralsunder Stadtquartiere sozial unterschiedlich strukturiert, was sich u. a. aus der Art ihrer Bebauung schließen lässt. Während im Jakobi- und Marienquartier eine »eher kleinteilige Bebauung mit ›Buden‹ und ›Kellern‹ vorherrschte«, sind im Nikolai- und Jürgensquartier vornehmlich Häuser nachweisbar120. 116 Kroll (1997), S. 123f. 117 Vgl. Heyden (1961), Kirchen, S. 12. 118 Ebd., S. 204. 119 Nach Kroll (1997, S. 123) bestanden die Provisorate (im frühen 17. Jahrhundert?) aus jeweils sechs Kaufleuten, die im betreffenden Kirchspiel wohnen mussten. Hoeth (1991, S. 22) gibt für das 16. Jahrhundert an, dass die Anzahl in den einzelnen Kirchspielen variierte (St. Nikolai: 4, St. Marien/St. Jakobi: je 7). 120 Labahn (2006), S. 77. Die Bezeichnungen resultieren aus der individuell festgelegten Besteuerungsart für die Gebäude, abhängig von ihrer Größe und Qualität. Vgl. dabei den von anderen norddeutschen Hansestädten abweichenden Gebrauch des Begriffes ›Bude‹ in Stralsund. Während man in Hamburg, Bremen und Lübeck »die dürftig ausgestattete[n] Wohngebäude der ärmeren Stadtbewohner« als Buden bezeichnete (vgl. Kroll/Pápay 2003, S. 98f.), sind Buden in Stralsund nach Kroll (1997, S. 238 und 240f.) als »normale Häuser« zu verstehen. Sie waren zwar deutlich kleiner als die als Häuser versteuerten Gebäude, verfügten jedoch »in aller Regel ebenfalls über zwei bewohnbare Stockwerke«. Als Bewohner von Buden lassen sich Kaufleute und Handwerker bis hinab zum Tagelöhner ausmachen. Budenbewohner verfügten zwar vermutlich nur über einen mäßigen Wohnkomfort, beschäftigten jedoch mitunter sogar Gesinde. Ebd.
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St. Nikolai, am Alten Markt gelegen, gilt dabei als Ratskirche der Stadt121. Das amtliche Auftreten des Rates ist allein für diese Stralsunder Kirche bezeugt122; hier fanden sowohl Ratssitzungen als auch amtliche Verhandlungen statt123, und in den ›burspraken‹ wurden die Einwohner über Neuigkeiten informiert, wie etwa neu erlassene städtische Verordnungen. Auch die Superintendentur war mit dem Pastorat an dieser Kirche verbunden124. Weitzel lehnt dennoch den Begriff der ›Ratskirche‹ für ihre Untersuchungen zur vorreformatorischen Zeit ab, weil er ein nur »einseitiges Bild der Nutzung einer Pfarrkirche« evoziere und das Patronat über die Kirche eben nicht beim Rat, sondern beim Landesherrn lag125. Da in der vorliegenden Studie allerdings die Zeit seit Einführung der Reformation thematisiert wird, in der der Rat die Hoheit über das Kirchenwesen beanspruchte und sich eine Vorrangstellung der Nikolaikirche auch in musikalischen Fragen manifestiert, wird im Folgenden für St. Nikolai am Begriff der ›Ratskirche‹ Stralsunds festgehalten. * Im Verlauf des 17. Jahrhunderts erschütterten mehrere kriegerische Auseinandersetzungen das städtische Leben Stralsunds, in deren Folge die Stadt ihre Autonomie verlor. Folgenreich war vor allem die mehr als zweimonatige Belagerung durch die kaiserlichen Truppen unter Wallenstein während des Dreißigjährigen Krieges126. Die Auseinandersetzungen von 1628, bei denen es um Stralsund als wichtigen strategischen Punkt im Ostseeraum ging, führten zum Abschluss eines Allianzvertrages mit Gustav II. Adolf von Schweden: Stralsund erhielt militärische Unterstützung im Kampf gegen die kaiserlichen Truppen und konnte die Belagerung erfolgreich abwehren127, band sich im Gegenzug jedoch zunächst für 20 Jahre an die europäische Großmacht und wurde schwedische Garnisonsstadt. Damit hatte Stralsund seine politische Selbstständigkeit
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Heyden (1961), Kirchen, S. 23f. Weitzel (2011), S. 231. Zaske (1964), S. 37f. Hoeth (1991), S. 28. Dennoch betont Weitzel die enge Verbindung von pfarrkirchlichem und politischem Zentrum im Bauensemble von Kirche und Rathaus und stellt außerdem fest, dass städtischer Rat und Kirchenverwaltung von St. Nikolai auch in personeller Hinsicht seit dem 14. Jahrhundert eng verzahnt waren. Weitzel (2011), S. 232f., 30, 140; ebenso Kunkel (2008), S. 21, Anm. 43. Dagegen verwendet Berwinkel (2008, S. 44) durchaus den Begriff der ›Ratskirche‹: »St. Nikolai galt als die eigentliche Ratskirche.« 126 Vgl. zur Wallensteinschen Belagerung Langer (1970), S. 222–262. 127 Hilfe war auch aus Dänemark gekommen. Vgl. ebd., S. 238: »Auf Grund der im Frühjahr 1628 bestehenden internationalen Lage war Dänemark die erste Macht, die im Stralsunder Konflikt intervenierte. Ihrer Hilfe ist es zum großen Teil zu verdanken, daß Stralsund nicht von Wallenstein eingenommen wurde.« Zu Konflikten zwischen den dänischen Truppen und der Stralsunder Bevölkerung vgl. ebd., S. 241f.
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verloren128. Die ständige Einquartierung von etwa 2000 bis 5000 Soldaten während des gesamten 17. Jahrhunderts wirkte sich auf den städtischen Haushalt belastend aus129. Für Schweden war Stralsund aufgrund seiner guten Verteidigungsposition und der Nähe zum schwedischen Festland von großer militärisch-strategischer Bedeutung130 und diente als ›Eintrittspforte‹ für die militärischen Interventionen auf deutschem Territorium. Wirtschaftliche Interessen waren für die Schweden im 17. Jahrhundert noch zweitrangig131; in die Verwaltung und Gesetzgebung griff die schwedische Krone kaum ein132. Dies änderte sich auch nach dem Abschluss des Friedens von Osnabrück nicht, der 1648 die Rechtsgrundlage für die schwedische Herrschaft in ganz Pommern schuf. Die pommersche Greifendynastie war zu dieser Zeit – mit dem Tod des letzten Pommernherzogs Bogislaw XIV. († 1637) – bereits ausgestorben. Von dieser Zeit an war Stralsund (bis 1815) Teil des schwedisch-pommerschen Territoriums. Obwohl die schwedische Herrschaft kaum in die Verwaltung der Stadt eingriff, blieb sie dennoch nicht ohne Auswirkungen. Als wirtschaftlich hinderlich erwiesen sich etwa die durch Schweden eingeführten hohen Hafenzölle133. Außerdem diente Stralsund nach 1628 als Ausgangspunkt der kriegerischen Unternehmungen des Schwedenkönigs und war dadurch auch von den Folgen seiner Großmachtpolitik unmittelbar betroffen. So wurde die Stadt 1678 vom brandenburgischen Kurfürsten, der sich im Krieg mit Schweden befand, belagert und beschossen134. Die Verluste waren erheblich, fast die Hälfte der Wohnstätten wurde zerstört135. Zusätzlich sorgte ein verheerender Stadtbrand zwei Jahre später endgültig für leere Kassen136. Während das damit verbundene persönliche Leid der Bevölkerung zum größten Teil undokumentiert blieb, lässt sich die Notlage der Stadt zu dieser Zeit anhand der städtischen und kirchlichen Ausgaberegister nachweisen: Die Entwicklung der Gehälter stagnierte und blieb, wie auch im Falle der Musikerschaft zu erkennen, deutlich hinter anderen Hansestädten zurück. Zum Ende des Jahrhunderts besserten sich die finanzielle und die wirtschaftliche Situation kurzzeitig, bevor die große Pestwelle von 1710/11137 sowie die anschließende Belagerung während des Großen Nordischen Krieges erneut schwere Rückschläge für die Stadt bedeuteten. Während Labahn die 1670er-Jahre als Tiefpunkt in der Stralsunder 128 Ebd., S. 245. 129 Hacker (1979), S. 26f., sowie Langer (1970), S. 252. Während der Belagerung 1628 waren 1000 Stadtsöldner, 2000 dänische und 1700 schwedische Soldaten in der Stadt. Langer (1970), S. 238, Anm. 85. 130 Grabinsky (2006), S. 31, sowie Langer (1970), S. 253. 131 Erst im 18. Jahrhundert wurde Pommern zu einem wichtigen Getreidelieferanten für Schweden. Langer (1970), S. 253. 132 Grabinsky (2006), S. 31. 133 Langer (1970), S. 253. 134 Labahn (2006), S. 76. 135 Ewe (1995), S. 157f. 136 Vgl. zu den Verlusten aus der Belagerung von 1678 und dem anschließenden Stadtbrand vor allem Grabinsky (2006). 137 Zapnik (2007).
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Geschichte ansieht138, gelten für Langer gar die gesamten vierzig Jahre zwischen 1675 und 1715 als »düsterste Zeiten der Stralsunder Geschichte«139.
Stralsunder Währungseinheiten Der folgende kurze Überblick soll dazu dienen, die in der anschließenden Untersuchung benannten Stralsunder Währungen und Währungsverhältnisse im 16. und 17. Jahrhundert zu erläutern. Zur Vereinfachung wurde in der vorliegenden Studie in der Regel die in Stralsund gebräuchliche Zahlungs- und Rechnungseinheit Mark Sundisch (= MS) verwendet; andere Währungen wurden gegebenenfalls in diese umgerechnet. Neben der Mark Sundisch sind im Zahlungs- und Rechnungsverkehr der Stadt als größere Einheiten außerdem der pommersche Gulden (= fl. [Florin]) sowie der Reichstaler (= Rthl.) anzutreffen. Als kleinere Einheiten sind die Lübischen Schillinge (= ß) und Pfennige feststellbar. Der pommerschen Münzgeschichte im Untersuchungszeitraum widmet sich Joachim Krüger in seiner 2006 erschienenen Arbeit Zwischen dem Reich und Schweden. Die landesherrliche Münzprägung im Herzogtum Pommern und in Schwedisch-Pommern in der frühen Neuzeit. Darin bezeichnet Krüger die Geschichte der sundischen Währung im Gegensatz zur lübischen als ein Desiderat der geldgeschichtlichen Forschung140. Der Aufbau der sundischen Währung erfolgte seit dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts analog der lübischen. Recheneinheit war die Mark. Nachdem zwischen der sundischen und der lübischen Währung zunächst ein Wertverhältnis von einer Mark Lübisch (= 1 ML) zu anderthalb Mark Sundisch (= 1,5 MS) bestand141, wurde das Verhältnis durch die Münzreform des pommerschen Herzogs Bogislaw X. am Ende des 15. Jahrhunderts auf 1 : 2 gesenkt142. Zwischen den verschiedenen Währungen in Stralsund und Pommern galten seit dieser Zeit folgende Verhältnisse: 1 Mark Lübisch (ML) = 2 Mark Sundisch (MS) = 16 Schillinge (ß) 1 Gulden pomm. (fl.) = 3 Mark Sundisch (MS) = 24 Schillinge (ß) 1 Reichsthaler (Rthl.) = 5 Mark Sundisch (MS) = 32 Schillinge (ß)
Im Jahre 1622 wurde die Währungsgleichheit zwischen den beiden Teilen des pommerschen Herzogtums – Pommern-Wolgast und Pommern-Stettin – aufgehoben143; im Teilherzogtum Pommern-Wolgast änderte sich das Verhältnis der Mark Lübisch zum Reichstaler. Galten bisher 32 Schillinge (ß) gleich einem Reichstaler, waren es nunmehr 48 Schillinge (ß). Das bedeutete, dass die Mark Lübisch und die sich daran orientie138 Labahn (2006), S. 77. 139 Langer (1970), S. 254. 140 Krüger (2006), S. 34. 141 Ebd. 142 Ebd., S. 37. 143 Vgl. zum Abschluss des Hamburger Vertrages von 1622 ebd., S. 133–136.
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rende Mark Sundisch im Teilherzogtum Pommern-Wolgast leichter waren als die auch nach 1622 im Stettiner Landesteil gebräuchliche Mark Lübisch. Folgende Währungsverhältnisse lassen sich nach 1622 in Stralsund feststellen: 1 Mark Lübisch (ML) = 2 Mark Sundisch (MS) = 16 Schillinge (ß) 1 Gulden pomm. (fl.) 1 Reichsthaler (Rthl.)
= 3 Mark Sundisch (MS) = 6 Mark Sundisch (MS)
= 24 Schillinge (ß) = 48 Schillinge (ß)
Die schwedische Provinzialregierung übernahm die Währungsverhältnisse zunächst und beseitigte die Diskrepanz zwischen Pommern-Wolgast und Pommern-Stettin nicht144. Somit blieben die beschriebenen Verhältnisse im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts zunächst bestehen und glichen sich erst nach Übernahme des Leipziger Münzfußes 1690/91 in den Landesteilen allmählich an145.
144 Ebd., S. 277. 145 Ebd., S. 236–240.
1  Kantorat und Kirchengesang in Stralsund Kantorat und Kirchengesang Stralsunds waren im 16. und 17. Jahrhundert eng an die Entwicklung des Schulwesens gebunden. Träger der gottesdienstlichen Musik waren die Schüler der 1560 neu begründeten protestantischen Lateinschule, an der sich das Stralsunder Kantorat als gelehrtes Amt146 im Verlauf des 16. Jahrhunderts etablieren konnte. In der Verantwortung der Kantoren – als höhere Lateinschullehrer – standen neben der Lehre musikalischer und nichtmusikalischer Unterrichtsfächer außerdem die Organisation und Leitung der Stralsunder Kirchenmusik. Zur Erfüllung ihrer musikalischen Verpflichtungen waren den Kantoren weitere Lateinschullehrer beigeordnet. Um die Etablierung des Stralsunder Kantorenamtes im 16. Jahrhundert u. a. anhand der überlieferten Kirchen- und Schulordnungen nachzeichnen zu können, erscheint ein kurzer Blick auf das Stralsunder Schulwesen in vorreformatorischer Zeit sinnvoll.
Das Stralsunder Schulwesen in vorreformatorischer Zeit Schon im Mittelalter führte der Bedarf feierlichen liturgischen Kirchengesangs zur Gründung von Schulen147. Latein- und Gesangsunterricht befähigten die Schülerschaft, die für die gemeine Bevölkerung zumeist unverständliche lateinischsprachige Liturgie musikalisch auszuführen148. Neben den Stifts- und Domschulen gewannen im Spätmittelalter vor allem die Stadtpfarrschulen der einzelnen Kirchen an Bedeutung, auf deren Grundlage sich das Schulwesen des 16. Jahrhunderts etablierte149. Nachrichten über pommersche Schulen vor dem 16. Jahrhundert sind nur spärlich überliefert, wie bereits Wehrmann feststellte150. Auch aus Stralsund liegen nur vereinzelte Informationen vor151. Träger des mittelalterlichen Schulwesens waren zunächst die Klöster. Seit dem 13. Jahrhundert ist die Existenz von Schulen am Stralsunder Katharinen- (1251) und Johanniskloster (1254) bezeugt152. Mit der Gründung kommunaler Pfarrschulen an den Hauptkirchen der Stadt wurde den Klöstern vermutlich
146 Sowohl die wissenschaftliche Lehre als auch die Beschäftigung mit den alten Sprachen galten in der Frühen Neuzeit als Indizien der Gelehrsamkeit. Vgl. Döring (2006), Sp. 368–373, sowie Bugenhagen (2012), S. 189. 147 Vgl. Niemöller (1969), S. 589. 148 Ebd. 149 Vgl. zur Entwicklung des spätmittelalterlichen Schulwesens auch Seifert (1996), S. 223– 226. Zur Stellung der Musik vgl. insbesondere Niemöller (1969), S. 581–610. 150 Wehrmann (1905), S. 1. 151 Vgl. zum Stralsunder Schulwesen vor und in den ersten Jahrzehnten nach der Reformation Bartholdi (StAS Hs. 434); Kirchner (1823); Zober (1839); Adam/Fabricius (1898) und Panck (1899). 152 Kirchner (1823), S. 5f.
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schon bald das Bildungsmonopol entzogen153; dennoch bestanden auch die Stralsunder Klosterschulen bis kurz nach Einführung der Reformation weiter. Als letzter Stralsunder Prior und Theologieprofessor an einer dieser Schulen verließ Henricus Wendt 1525 die Stadt154. Die Stralsunder Pfarrschulen wurden im Verlauf des 13. oder aber im 14. Jahrhundert gegründet. Schon in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts werden drei Schulen benannt: »scola S. Nicolai, S. Jacobi« und die »scola antiqua apud cymiterium S. Petri«155. 1319 verlieh Wizlaw III., Fürst von Rügen156, dem städtischen Magistrat dauerhaft das Patronat über die in Stralsund befindlichen Schulen157. Niemöller zufolge war auch die Einrichtung von Stadtpfarrschulen vor allem musikalisch motiviert und folgte dem »Bedürfnis, den Gottesdienst auch in der Pfarrkirche mit feierlichem Gesang zu halten«158. Wenngleich die Bindung zur Kirche dadurch eng war, verfügte dennoch der städtische Rat als Patronatsherr über die schulischen Verwaltungsangelegenheiten159. In der Folgezeit verpachtete der Stralsunder Rat die städtischen Pfarrschulen an verschiedene, zum Teil namentlich bekannte Rektoren160, die sich als ›regentes chori‹ um den musikalischen Kirchendienst bemühten und daraus den größten Teil ihrer Einnahmen bezogen161. 153 Die Bezeichnung ›Pfarr-‹ oder ›Kirchenschule‹ ist dabei irreführend, da zumeist der städtische Rat das Patronat über diese Schulen innehatte (daher mitunter auch ›Ratschule‹). Die Verbindung zu den einzelnen Pfarrkirchen bestand vor allem in musikalischen Dienstleistungen durch Lehrer und Schüler. Vgl. dazu Seifert (1996), S. 223. Dass die weltliche Obrigkeit Schule und Erziehung der Jugend zu beeinflussen suchte, entsprach dem wirtschaftlichen Aufschwung und gewachsenen Bildungsbedürfnis der Städte im Spätmittelalter. Vgl. dazu Niemöller (1969), S. 590f. 154 Panck (1899), S. 5. 155 Zit. nach Wehrmann (1896), S. 155. Zur Geschichte der Stralsunder St.-Peter-Kirche, die 1321 letztmalig erwähnt wird, vgl. Heyden (1961), Kirchen, S. 13–15. 156 Dabei handelt es sich um den vermutlich als Minnesänger bekannten Wizlaw von Rügen, der den in Stralsund ansässigen »Magister Vnghelarde« als seinen Lehrer angibt. Zu Wizlaw III. vgl. Brunner (2007). 157 Fabricius (1862), S. 59, Nr. 769: »Fürst Wizlaf verleihet der Stadt Stralessund die Lehnware über alle Schulen in derselben. 1319. […] Dat wi [...] vnsen leuen Ratmannen vnde oldermannen vnde den menen borgheren tů deme Stralessunde gheuen vnde laten hebben eweliken de lenware in alle den scolen in der siluen stat tů deme stralessunde«. 158 Niemöller (1969), S. 589. 159 Ebd., S. 591: »Es bestanden [...] zwei Autoritäten, deren Neben- und Miteinander meist durch eine sinnvolle Teilung der Kompetenzen geregelt war. Die Stadt hatte als Oberherr die Verwaltung der Schule, sie berief den Schulmeister, gewährte ihm gewisse Rechte [...]. Die Schule blieb aber weiterhin die Dienerin der Kirche.« 160 Vgl. dazu Panck (1899), S. 11–15. 161 Niemöller (1969), S. 595: »Die Renumerationen für kirchliche Dienstleistungen überstiegen alle anderen Einnahmen des Schulmeisters, den Gesangspflichten hatte er auch einen Großteil seiner Zeit zu opfern.«
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Neben den musikalisch-liturgischen Erfordernissen diente das Schulehalten außerdem dazu, durch Latein- und Musikunterricht geistlichen Nachwuchs auszubilden162. Dabei war die Ausbildung zum Kleriker mit einer Lebensversorgung durch kirchliche Pfründen verbunden, die keinen geringen Anreiz für den Schulbesuch zu dieser Zeit darstellten. Die Stralsunder Stadtpfarrschulen an St. Nikolai, St. Jakobi und St. Marien163 bestanden neben einer Reihe niederer Bei-, Winkel- oder Klippschulen164 bis in das 16. Jahrhundert hinein, wobei die Nikolaischule wohl die bedeutendste darunter war und in der Stralsunder Kirchenordnung des pommerschen Generalsuperintendenten Johannes Knipstro (1555) als »grote schole« bezeichnet wurde165. Jede Stralsunder Pfarrschule verfügte über einen Rektor und wahrscheinlich über weitere Lehrer, über die jedoch keine Nachrichten vorliegen. Den Schülern gewährte man immerhin die »Freyheit, sich eine [Schule] davon, auch außer ihrem Kirchspiel zu erwählen«166. Für den Kirchengesang zeichneten noch bis in das 16. Jahrhundert hinein die jeweiligen Rektoren verantwortlich. Als Pächter der jeweiligen Schule waren sie auf die Einnahmen aus dem Chorsingen bei den zahlreichen liturgischen Feiern (etwa bei Prozessionen, Seelenmessen und Marienfesten) unbedingt angewiesen und hatten davon auch die übrige Lehrerschaft zu bezahlen167. Dass die musikalischen Verpflichtungen des Rektors schon aus diesem Grund zumeist vor dem übrigen Schulunterricht benannt wurden, erscheint daher nur folgerichtig168. Die außer dem Rektor angestellten Lehrer – die gewöhnlich als »locati«, »socii«, »collaboratores« oder »hypodidascali« bezeichnet wurden169 –, standen ihm in der Schule und beim musikalischen Kirchendienst unterstützend zur Seite. Nur einige wenige Dokumente unterrichten über die musikalische Praxis im vorreformatorischen Stralsunder Gottesdienst. Dazu zählt eine Stiftungsurkunde des Ratsherrn Everd Drulleshagen von 1437, die die Beteiligung des Schülerchores der Nikolaischule unter der Leitung des Schulmeisters und seiner Locaten am Krameraltar in St. Nikolai vorsah. Drulleshagen verfügte 1437 neben der Almosenvergabe an Bedürftige am Krameraltar außerdem fünf »singende Messen« jährlich, die dort »jeweils am Vortag herausragender Feste« zur Zeit der ersten Gebetsstunde (Prim) gefeiert werden sollten170. Die Stiftung einer musikalisch ausgestalteten Messe am Altar der Kramer, 162 Vgl. ebd., S. 589. 163 Die Rektoren der Marien-Kirchschule sind seit 1428 bekannt. Vgl. Panck (1899), S. 12f. 164 Bei der Zusammenlegung der Stralsunder Kirchenschulen 1560 gab es wenigstens sechs derartige Schulen. Ebd., S. 20. 165 Sehling (1911), S. 551. Siehe zu Knipstros Kirchenordnung unten S. 61. 166 Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 391. 167 Vgl. Niemöller (1969), S. 597f. 168 Ebd., S. 596. 169 Ebd., S. 599. 170 Weitzel (2011), S. 162–164. Die Messen sollten am Vortag des Trinitätsfestes, von Mariä Geburt, Allerheiligen, Mariä Empfängnis und der Kreuzauffindung gefeiert werden. Ebd., S. 163f.
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für die Drulleshagen außerdem einen Organisten vorsah171, ist Weitzel zufolge durchaus bemerkenswert – »unde de scholemeister to sunte nicolawese unde syne locaten mit eren scholren scholen desse myssen mede synghen«172 –, da die Messfeiern an den zahlreichen Nebenaltären in St. Nikolai in der Regel nur als ›stille‹, gelesene Messen stattfanden173. Ein drastisches Bild des vorreformatorischen Gottesdienstes malt darüber hinaus der Stralsunder Kirchenvorsteher und spätere Bürgermeister Franz Wessel (1487– 1570) in seiner Schrift Etlike Stücke, wo idt vormals im pawestdhome mit dem gadesdenste thom Stralsunde gestahn, beth vp dadt jar 1523, dadt sehele her Casten Ketelhodt dorch scickunge des Allmechtigen dadt reine wordt gades anhoff tho predigende, dorch her Frantz Wessell borgermeister thom Sunde beschreven Anno 1550 174. An den Festtagen entlang des Kirchenjahres beschreibt Wessel die gängige Liturgiepraxis sowie den Ablauf sakramentaler Handlungen in Stralsund vor der Reformation175. Wessel, der zunächst praktizierender Katholik gewesen war, zeigt sich dabei als ein entschiedener Verfechter der neuen Lehre176. Dass seine Schrift um das Jahr 1550 – in der Zeit der konfessionellen Auseinandersetzungen um das Interim – entstanden ist, mag seine mutmaßlich oft übertriebenen Darstellungen erklären, die jedoch im Einklang mit Luthers Kritik am übermäßigen Pomp der katholischen Messe stehen177. Kirchengesang erwähnt Wessel an mehreren Stellen, etwa in den Beschreibungen einer Frühmesse in der Adventszeit – »Disse misse warde eine gantze stunde mit singende, infigurerende vp orgelenn, spelende vndt mit solkem brasse [Lärmen], alse men meist bedencken konde« –, der Feier der Christmesse – »Dar was solck singendt, klingendt; dar weren iungen bestellet: etlige stunden vp der orgelenn, etlige vp dem 171 Siehe dazu S. 180. 172 StAS Kramer-Urkunden 8 (1437). 173 Weitzel (2011), S. 164. St. Nikolai verfügte zu Beginn des 16. Jahrhunderts über 56 Altäre, die zunächst von Einzelpersonen und Familien und später auch von berufsständischen Vereinigungen gegründet worden waren. Die an diesen Altären gefeierten Votivmessen, für die auch Priesterstellen gestiftet wurden, dienten dazu, Buße zu tun sowie für das Seelenheil vorzusorgen. Vgl. ebd., S. 131–134. 174 Siehe die Quelle bei Zober (1837). Das Jahr 1523 bezeichnet das Auftreten des Reformators Christian Ketelhut in Stralsund. Vgl. dazu S. 48, Anm. 197, und zu Wessel Pyl (1897) sowie Berwinkel (2008), S. 204. 175 Vgl. auch Weitzel (2011), S. 32f. 176 Am Ende seines Berichts schreibt er: »Men heft alle disse vorgeschreuen gruwell hir thom Stralsunde geholden beth vp dadt jhar 1523 in de stille weke«, zit. nach Zober (1837), S. 20. 177 Luther (Kirchenpostille): »Daher siehestu, dass der Papisten Werk in Orgeln, Singen, Kleider, Läuten, Räuchern, Sprengen, Wallen, Fasten u. s. w. sind wohl schöne, grosse, viele, lange, breite und dicke Werk, aber es ist kein gut und nützlich oder hülflich Werk darinnen, dass man wohl mag von ihnen sagen das Sprichwort: Es ist schon böse. […] Derselbige [der Glaube] kann wohl mehr sein in einem Müllerknecht, denn in allen Papisten und kann mehr erwerben, denn alle Pfaffen und Mönche mit ihren Orgeln und Gaukelwerk […].« Zit. nach Rietschel (1893/1971), S. 18.
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predigtstole, etlige im torme, etlige achter dem chore« –, einer Osternacht – »Denne hen tho chore, sungen eine lange mette van IX lectien woll 3 stunde lanck« oder an Fronleichnam – »dar gesungen, geklungen, georgelt, gepipet, gegyget vndt wes ein ider men erdencken konde«178. Außerdem wurde bei der Feier der Grablegung Christi am Karfreitag gesungen: »De gantze schole stunden dar langest heer, sungen vndt grunseden alse hungerige sögenn […] vnd jeder ij efte 3 jungens einen sunderigen sanck, wo in den agenden woll sus tho vinden […]. So sanck men denne 3 dage den namiddagh dustere mettenn.«179
Neben den Schuljungen erwähnt Wessel außerdem sogenannte »coralen«, bei denen es sich vermutlich um bezahlte Chorsänger handelte, deren Anstellung Bugenhagen in der pommerschen Kirchenordnung von 1535 ausdrücklich ablehnte180.
Musik und Unterricht unter dem Einfluss von Reformation und Humanismus Die kirchliche Neuorientierung des 16. Jahrhunderts wirkte sich auf das Lateinschulwesen zunächst nachteilig aus, da sich die Verbindung von Schulbesuch und kirchlichem Pfründenerwerb nunmehr gelöst hatte und die Motivation der Schüler zum Schuleintritt dadurch beträchtlich sank181. Auch bot der durch Luther propagierte Gebrauch des Deutschen in der Liturgie weniger Veranlassung zum Erlernen der lateinischen Sprache182. Aus dieser Entwicklung resultierte eine regelrechte deutsche Bildungskrise, in der die Gesamtzahl der Immatrikulationen an den Universitäten zwischen 1520 und 1530 zunächst auf etwa ein Drittel sank. Auch die pommersche Landesuniversität Greifswald »hörte praktisch für Jahrzehnte zu bestehen auf«183. Luther reagierte 1524 mit seinem Aufruf An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und haben sollen auf diese Entwicklung184; zahlreiche Kirchen- und Schulordnungen 178 Zit. nach Zober (1837), S. 3–4, 10, 13. 179 Zit. nach ebd., S. 7. 180 Siehe dazu S. 52 (Zitat). Da Wessel den »Coralen« mehrfach einen unzüchtigen Lebenswandel unterstellt, kann es sich wohl kaum um jüngere Schüler gehandelt haben: »Vndt vnder dissen missen weren gemeinliken de coralen vndt suß de jungenn papenn in den bursen, so dadt de dören ein tidtlanck apen stunden, vndt sick dar etlike frowen und megede vorgingen vndt quemen so im dustern in de bursen vndt gingen de kerken vorby«; »[d]e frowen, so gude kundschop mit den choralen vndt scholgesellen hedden«, zit. nach Zober (1837), S. 3, 11. 181 Vgl. dazu Niemöller (1969), S. 616f., sowie Seifert (1996), S. 253–258. 182 Niemöller (1969), S. 617. 183 Seifert (1996), S. 257. In Bugenhagens Kirchenordnung für Pommern von 1535 heißt es dazu: »wo överst solcke universitet nicht genogsam würde vorsorget, möchte se vorfallen wo tom Griepswolde gescheen«, zit. nach Sehling (1911), S. 333. 184 Vgl. die Lutherschrift bei Aland (1991), Bd. 5, S. 70–77, und Bd. 7, S. 226–229.
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folgten, so auch für Stralsund und später für das gesamte pommersche Herzogtum. Doch sollte es noch einige weitere Jahrzehnte dauern, bis sich nach den Auseinandersetzungen um das Augsburger Interim gefestigte Strukturen im protestantischen Schulwesen herausbildeten185. Der Musik- bzw. ›Singe‹-Unterricht erhielt seinen festen Platz darin vor allem vor dem Hintergrund der gottesdienstlichen Musikpraxis. Luther stand der vokalen Musik unbestritten positiv gegenüber, stellte er doch das Wort in das Zentrum des Gottesdienstes und verstand auch den Gebrauch geistlicher Vokalmusik im Dienst von Wortverkündigung und Gotteslob186. Entsprechend räumte er der vokalen Musik einen Vorrang vor der instrumentalen ein und sprach der Musikausübung überhaupt ethisch-erzieherische Funktionen zu. Musik zählte fortan nicht nur zu den notwendigen Lehrfächern der Lateinschulen, sondern sollte auch an Mädchen- und einfachen Schreibschulen unterrichtet werden187, und gesangliche Fertigkeiten wurden zur zwingenden Voraussetzung bei der Einstellung von Schulmeistern188. Eine neue Bedeutung im lutherischen Gottesdienst erlangte im Verlauf des 16. Jahrhunderts der Gebrauch der deutschen Sprache. Nachdem die Gemeinde im lateinischen Gottesdienst der katholischen Kirche eine vorwiegend passive Rolle eingenommen hatte, sollte sie fortan durch die Verwendung des Deutschen – nicht zuletzt in gemeinsam zu singenden Kirchenliedern – stärker am gottesdienstlichen Geschehen beteiligt werden, um die Botschaft des Evangeliums zu verstehen und weitertragen zu können. Auswirkungen hatte dies auch auf die Kirchenmusik, die sich seit dem späten 16. und vor allem seit dem frühen 17. Jahrhundert zunehmend deutscher Texte bediente. Gleichwohl blieb der Altsprachenunterricht an den Lateinschulen unbestritten bedeutsam. Luther sah darin eine wesentliche Voraussetzung für den Umgang mit der Heiligen Schrift; zudem standen die alten Sprachen im Fokus des humanistischen Bildungsideals der Zeit189. Die Bestrebungen der an der Sprache orientierten Humanisten, für die Musik zunächst kaum eine Rolle spielte, führten auch in Stralsund am Ende des 16. Jahrhunderts dazu, dass die starke Beanspruchung der Schüler durch den musikalischen Kir-
185 Vgl. zu Stralsund und dem Augsburger Interim etwa Berwinkel (2008). Auch Seifert (1996, S. 283) stellt fest, dass eine dauerhafte Reorganisation des Kirchen- und Schulwesens erst mit Schaffung einer gültigen Rechtsgrundlage durch den Augsburger Religionsfrieden von 1555 ermöglicht wurde. 186 Vgl. dazu etwa Mahrenholz (1937) oder Krummacher (1994). 187 Vgl. etwa die pommersche Kirchenordnung Bugenhagens: »unde wenn se [die ›junkfrowen‹] des avendes ut gaen, schal men een eine halve stunde över singen düdesche psalmen unde leeren se solmiseren unde etwas van der musica«, zit. nach Sehling (1911), S. 338. 188 Vgl. Mahrenholz (1937), S. 5–8. 189 Niemöller (1969), S. 613. Unter humanistischem Einfluss wurden antike Autoren in den Lektürekanon und Griechisch als neues Unterrichtsfach in das Lehrprogramm der Lateinschulen aufgenommen. Seifert (1996), S. 251.
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chendienst deutlich kritisiert und daraufhin eingeschränkt wurde190. Gleichwohl zeigte sich in der Praxis, dass sich humanistische Bildungsinhalte und musikalischer Kirchendienst etwa bei der Einstudierung lateinischsprachiger Gesänge für den Gottesdienst durchaus gut verbinden ließen und somit »sprachliche Elemente im Zusammenhang von Text und Musik« auch das Interesse der Humanisten finden konnten191. Neben den vornehmlich deutsch ausgerichteten Sonntagsgottesdiensten mit großer Gemeindebeteiligung standen die Werktagsgottesdienste, in denen das Singen lateinischsprachiger Kirchenmusik nicht zuletzt den Spracherwerb fördern sollte192. Trotzdem trat die Musik infolge des humanistischen Einflusses im späten 15. und 16. Jahrhundert gegenüber anderen Fächern und Unterrichtsinhalten an den Schulen deutlich zurück193.
1.1 Schulwesen und Kantorat in den pommerschen Kirchenordnungen Die rechtliche Grundlage für die Organisation des lutherischen Kirchenwesens und somit auch für die Anstellung von Kirchenbediensteten nach der Reformation bildeten die Kirchenordnungen. Diese enthielten zumeist auch Bestimmungen zum Schulwesen194, mit denen man die Umorganisation bestehender bzw. die Errichtung neuer Schulen regional voranzutreiben suchte. Den Kirchen- und Schulordnungen lassen sich Auskünfte zur Einrichtung von Schulen sowie zur Etablierung des Kantorenamtes auch in Stralsund und im gesamten pommerschen Herzogtum entnehmen; allerdings erscheint der Wert dieser Quellen begrenzt, da ihre Vorgaben ganz offensichtlich nur zum Teil zeitnah in die Realität umgesetzt wurden. Die detaillierte Überlieferung zur Organisation des Stralsunder Schulwesens setzt mit dem Jahr 1560 ein, in dem durch Zusammenlegen der drei Pfarrschulen die Stralsunder Lateinschule gegründet wurde. Die anfangs beschriebene Bildungskrise der 1520er-Jahre hatte zuvor auch um Pommern keinen Bogen gemacht und der »klägliche Zustand der [pommerschen] Schulen«195, den Niemöller attestiert, änderte sich auch in den Folgejahren kaum, zumal sich die pommersche Landesobrigkeit erst 1534 offiziell und mit einer Kirchenordnung zur Reformation bekannte. In Stralsund hatte man die neue Lehre zu dieser Zeit schon längst angenommen und mit der Kirchen- und Schulordnung von Johannes Aepin bereits 1525 eine der ersten reformatorischen Ordnungen überhaupt verabschiedet.
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Vgl. dazu S. 113–115 sowie 162f. Niemöller (1969), S. 612. Vgl. dazu S. 144. Niemöller (1969), S. 616. Vgl. zum Verhältnis von Schul- und Kirchenordnungen Hettwer (1965), S. 10. Niemöller (1969), S. 90.
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Die Kirchen- und Schulordnung von Johannes Aepin (1525) Die Kirchen- und Schulordnung Johannes Aepins entstand im Zuge der innerstädtischen Konflikte um die alte und neue Kirchenlehre in Stralsund zu Beginn der 1520erJahre. Die Kunde von der Lehre Luthers hatte die Stadt schon 1518 erreicht196; die ersten evangelischen Prediger kamen 1523197. Aufgeheizt durch zusätzliche Konflikte zwischen Bürgerschaft und Rat198 entluden sich die innerstädtischen Spannungen bei dem am 10. April 1525 als ›Stralsunder Kirchenbrechen‹ bekannten Sturm auf die Bildwerke in St. Nikolai und in den Klöstern St. Johannis, St. Katharinen und St. Brigitten199. Nunmehr zum Handeln gezwungen200, beauftragten der Stralsunder Rat und die Bürgerschaft den ehemaligen Bugenhagen-Schüler Johannes Aepin, eine Kirchenordnung für die Stadt zu verfassen201. Aepin hielt sich seit 1524 in Stralsund auf und hatte auf dem Hof des Johannisklosters eine neue höhere Schule gegründet202, an der zumindest kurzzeitig auch der spätere Lübecker Superintendent Hermann Bonnus (1504–1548) lehrte203. 196 Vgl. die Einträge der Berckmannschen Chronik in: Mohnike/Zober (1833), S. 27f. 197 Besondere Bedeutung erlangte Christian Ketelhut (um 1492–1546), den Bugenhagen im Kloster Belbuck auf die Schriften Luthers hingewiesen hatte und der durch Bogislaw X. 1522 wegen »Irrlehre« amtsentsetzt worden war. In Stralsund traf Ketelhut auf teilweise Unterstützung der Bürgerschaft und des Rates, die sich der neuen Lehre gegenüber aufgeschlossen zeigten und den Prediger veranlassten, in der Stadt zu bleiben. Vgl. Pyl (1882); zur reformatorischen Bewegung in Stralsund siehe hier und im Folgenden Berwinkel (2008), S. 43–49, S. 196. 198 Ebd., S. 46. 199 Vgl. dazu etwa Heyden (1961), Kirchen, S. 146–149, sowie Kunkel (2008), S. 127–131. Die Auseinandersetzungen zwischen den Altgläubigen und den Lutheranhängern sind in zahlreichen Spottliedern (Gedichten) von beiden Seiten dokumentiert, die sich »zumeist in schmutzigen, zotenhaften Skandalgeschichten« ergehen. Vgl. dazu Heyden (1961), Kirchen, S. 142f. Siehe auch die Ausgabe Zobers, Die Spottlieder der evangelischen Stralsunder auf die römisch-katholische Priesterschaft aus den Jahren 1524–1527, Stralsund 1855. 200 Die instabilen innerstädtischen Verhältnisse bedrohten nicht zuletzt Stralsunds Position im Hanseverbund, der rebellierenden Gemeinden mit Sanktionen bis hin zum Ausschluss drohte. Berwinkel (2008), S. 41, sowie Langer (1970), S. 190. 201 Vgl. Sehling (1911), S. 540. Aepin (eigentlich Johannes Hoeck) war Schüler von Bugenhagen, hatte in Wittenberg studiert und wurde nach seinem Stralsunder Aufenthalt (1524– 1529) Pastor an St. Petri in Hamburg. Von 1532 bis zu seinem Tod war er Hamburger Superintendent. Vgl. Scheible (1998), Sp. 132. 202 Nach Lehmann (1861, S. 2) kam Aepin 1524 zunächst nach Greifswald, um dort an einer der Kirchenschulen zu unterrichten und die neue Lehre zu verbreiten. Als sich der Greifswalder Rat und die Universität den Neuerungen entgegenstellten, ging er nach Stralsund. Vgl. auch Panck (1899), S. 17, und Kirchner (1823), S. 27f. 203 Vgl. dazu Panck (1899), S. 18f. Bonnus stammte aus dem westfälischen Quakenbrück und hatte in Wittenberg studiert. 1530 wurde er Rektor des Katharineums in Lübeck und kurze Zeit später auf Initiative Bugenhagens Superintendent der Stadt. Bedeutung erlangte er auch als Verfasser von Kirchenliedern. Vgl. Schmidt-Beste (2000), Sp. 352f.
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Die von Aepin verfasste Kirchen- und Schulordnung begründete die reformatorische Neugestaltung in Stralsund204. Nach 1528 erschien ein von den Stralsunder Predigern unterzeichneter Anhang zu dieser Ordnung, um die noch strittigen Punkte zu klären205. Zunächst nur als temporäre städtische Regelung gedacht206, hatte Aepin dennoch eine der ersten reformatorischen Ordnungen im gesamten deutschsprachigen Raum vorgelegt207, auf die sich der Stralsunder Rat und die Geistlichkeit auch in den Folgejahren beziehen sollten. Innerhalb Pommerns bekannte sich Stralsund mit dieser Ordnung als erste Stadt im Herzogtum zur Reformation; die Bestimmungen zum neueinzurichtenden Schulwesen erschienen nur ein Jahr nach Luthers Aufruf von 1524. Ganz im Sinne der neuen Lehre sah Aepin es als obersten Zweck des Schulehaltens an, den christlichen Glauben und das Evangelium zu verbreiten: »Frie scholen vor de inwahner to holden, [...] is nödig, soferne wi denken, de erkentnuss des evangelii der hiligen schrift lenger to beholden.«208 Wie auch Luther empfahl er, eine Jungen- und eine Mädchenschule in Stralsund einzurichten, um alle Kinder zu erreichen209. Den unterschiedlichen Bildungsansprüchen der männlichen Schulbesucher sollte dabei mit einer lateinischen und einer deutschen Sektion an der Jungenschule entsprochen werden: »dat twe scholen schölen upgerichtet werden, [...] in der einen latin und düdesch to leren, in der anderen de metken to underwisende«210. Als Lehrpersonal sah Aepin zunächst nicht weniger als drei Personen vor – »denn idt werden upt allermindeste dree personen to solcker scholen genog sin«211 –, von denen wohl zumindest der »latinsche scholmeister«212 möglichst akademisch gebildet sein sollte. Ein Kantor wird nicht explizit erwähnt, vielmehr sollte der Küster den Kirchengesang anleiten, wie es noch lange in kleinen Städten und Dörfern die Regel bleiben sollte: »Idt is ock vor god angesehen, dat de desulvige köster, dewile he stedes der karcken mot wachten, de psalmen dem volke lehre, aversinge un anheve, dat se eindrechtlig singen.«213 204 Siehe den Publikationsbefehl und die Ordnung nebst Anhang bei Sehling (1911), S. 542– 548. Ein handschriftliches Exemplar ist in StAS Rep 28-1 überliefert. Siehe zur Ordnung Aepins außerdem Heyden (1957), Bd. 1, S. 214f. 205 Sehling (1911), S. 547f. Der neu verfasste Anhang wurde wie folgt begründet: »dat etlicke artickel darinne remedia und declarationes van nöden«, zit. nach ebd., S. 547. 206 Vgl. Ptaszyński (2013), S. 157. 207 Vormbaum (1860, S. 1) erwähnt lediglich die Leisniger Kastenordnung von 1523 als noch frühere reformatorische Ordnung. 208 Zit. nach Sehling (1911), S. 543 (Kirchen- und Schulordnung für Stralsund 1525). 209 »[…] sin twee scholen van nöden: in der eenen, dar de jungen knaben, in der andern, dar de magedeken underwiset werden«, zit. nach ebd. Vgl. auch Hettwer (1965), S. 12. 210 Zit. nach Sehling (1911), S. 546 (Publikationsbefehl des Rates zur Stralsunder Kirchenund Schulordnung von 1525). Für Mädchen war eine höhere Bildung zur damaligen Zeit noch nicht vorgesehen. 211 Zit. nach ebd., S. 543 (Kirchen- und Schulordnung für Stralsund 1525). 212 »[…] dat de latinsche scholmeister gode lehre den kindern vorgeve«, zit. nach ebd. 213 Zit. nach ebd.
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Im Vergleich zu späteren Ordnungen erscheinen die Bestimmungen Aepins noch wenig konkret214. Dies betrifft sowohl die äußeren Bedingungen der Schuleinrichtung, wie etwa die Besoldung und Versorgung der Lehrer, zu denen sich Aepin nur am Rande äußert215, als auch Inhalt und Organisation des Unterrichts, wozu es lediglich heißt: »Alles, wat der scholen uptolegen is, is allene dit, dat se de kinder mit allem vlite in rechtdhonigen künsten underwisen und lehren, nha gades wort to leven.«216 Auch die Neugestaltung der Kirchenmusik zählte zunächst nicht zu den vordringlich zu klärenden Angelegenheiten; hier reichte es offenbar aus, dem Küster die Anleitung zum Kirchengesang zu übertragen. Der Schülerschaft traute man dies – wohl aufgrund schlechter Erfahrungen – jedenfalls nicht zu: »Denn so datsulve [die Anleitung der Gemeinde zum Gesang] den schölern würde upgelegt, würde idt in korten jaren de olde reie.«217 Die Dienste des Rektors oder »Scholmeisters« an der Kirchenmusik, die nach Niemöller in vielen pommerschen Städten bis um 1600 zur Regel werden sollten, werden in der Ordnung Aepins noch nicht explizit benannt218. Ungeklärt blieben zunächst auch die gottesdienstlichen Zeremonien. Da man hierin Freiheit walten lassen wollte, »so ferne se der hiligen geschrift nicht wedderstreven«, sollten die Prediger erst »up gelegene tidt […] den ceremonien […], ock ere mathe geven«219. 1529 verließ Aepin Stralsund und wurde Pastor an St. Petri in Hamburg220. Die von ihm gegründete Stralsunder Schule löste sich vermutlich bald nach seinem Weggang auf und die Schüler traten in die Pfarrschule von St. Nikolai ein221. Aus den folgenden Jahren gibt es kaum Nachrichten über das Stralsunder Schulwesen, und es bleibt fraglich, ob die frühzeitigen Bestimmungen der Aepinschen Ordnung überhaupt umgesetzt wurden. Die Existenz einer Mädchenschule lässt sich jedenfalls nicht belegen; die Pfarrschulen an den drei Stralsunder Hauptkirchen existierten zunächst weiter, was – wie auch Wehrmann feststellt – einem »Stillstand in der weiteren Entwicklung der [...] eingeleiteten Reform des Stralsundischen Kirchen- und Schulwesens« gleichkam222. Wesentliche Neuerungen im Schulwesen waren durch die Ordnung Aepins trotz der frühzeitigen Bemühungen des Rates und der Geistlichkeit offenbar also nicht erreicht worden. Doch waren die Voraussetzungen für eine erfolgreiche und vor allem beständige Umstrukturierung des Stralsunder Schulwesens in den ersten Jahren nach der Reformation wohl kaum gegeben. So gab es noch keine rechtlichen Vorgaben auf Landesebene, da sich die pommersche Landesobrigkeit zu dieser Zeit noch nicht zur 214 215 216 217 218 219
Vgl. dazu auch Müller (1928), S. 5. Siehe Anm. 225. Zit. nach Sehling (1911), S. 543. Zit. nach ebd. Niemöller (1969), S. 93–95. Zit. nach Sehling (1911), S. 547 (Anhang zur Stralsunder Kirchen und Schulordnung, nach 1528). Vgl. dazu auch S. 58. 220 1539 verfasste er eine Kirchenordnung für Hamburg. Sehling (1913), S. 483–485. 221 Panck (1899), S. 20. 222 Wehrmann (1905), S. 6f.
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Reformation bekannt hatte223. Außerdem fehlte es an geeignetem Schulpersonal, um die neuen Ideen umzusetzen. Wie bei den Predigern wirkten wohl auch in der Lehrerschaft zunächst die schon vor der Reformation Tätigen weiter224. Ungeklärt blieb auch die Besoldung von Geistlichkeit und Schullehrern, für die zunächst der Umgang mit dem Vermögen aus Kirchen- und Stiftsgütern zu regeln war225.
Die pommersche Kirchenordnung von Johannes Bugenhagen (1535) Während sich der Stralsunder Rat schon 1525 zur Reformation bekannt hatte, reagierte die pommersche Landesobrigkeit erst mehr als ein Jahrzehnt nach dem ersten Auftreten lutherischen Gedankenguts im Lande. Dabei ging es den Pommernherzögen Barnim IX. und Philipp I. mit der Einberufung des Treptower Landtages 1534 zunächst vor allem darum, die Ordnung und Sicherheit im Herzogtum wiederherzustellen, die aufgrund religiös motivierter Konflikte zwischen alter und neuer Lehre gefährdet erschienen226. Mit der Ordnung des pommerschen Kirchenwesens in Vorbereitung auf den Treptower Landtag wurde Johannes Bugenhagen227 betraut, der nicht nur bereits die Kirchenordnungen für Braunschweig (1528), Hamburg (1529) und Lübeck (1531) verfasst hatte, sondern auch in Schulfragen nicht unerfahren war228. Mit einer Kirchenordnung für Pommern sollte er auch hier landesweite Vorgaben schaffen. 1535 erschien die in Wittenberg gedruckte und in drei Teile gegliederte Kerckenordeninge des ganzen Pamerlandes als rechtliche Grundlage für das pommersche Kirchenwesen229. Für Stralsund ist die Bedeutung dieser Ordnung begrenzt. Mit dem Verweis auf die eigene Kirchen- und Schulordnung Aepins distanzierte sich der städtische Rat von der
223 Trotz seiner souveränen Position blieb Stralsund nicht gänzlich unbeeinflusst von obrigkeitlichen Vorgaben. 224 Vgl. zur Geistlichkeit Berwinkel (2008), S. 48f. 225 Zwar wurde mit der Aepinschen Ordnung und dem Anhang von »nach 1528« versucht, auch die kirchlichen Finanzen neu zu regeln (die Bestimmungen dazu nehmen den größten Raum in der Ordnung ein). Die Kirchendiener sollten aus dem »gemenen kasten« »belehnt« werden (vgl. Sehling 1911, S. 543 sowie 546). Weiterführende Bestimmungen gibt es allerdings nicht, und eine angemessene Besoldung erhielten sie wohl auch in den Folgejahren und sogar -jahrzehnten noch nicht. Vgl. dazu auch unten S. 59f. 226 Heyden (1957), Bd. 1, S. 226–231. 227 Bugenhagen stammte aus dem pommerschen Wollin, hatte in Greifswald studiert und war seit 1504 Rektor der Treptower Stadtschule. 1517 wurde er Lektor am Kloster Belbuck, wo nach Heyden (1957, Bd. 1, S. 200–202, hier S. 202) »die erste, zunächst gewiß noch heimliche Lutheranhängerschaft [Pommerns] zu suchen sei«. 1521 reiste Bugenhagen nach Wittenberg und wurde ein Vertrauter Luthers. 228 Bugenhagen hatte zwischen 1504 und 1521 als Schulleiter in Treptow gewirkt. Niemöller (1969), S. 90. 229 Vgl. die Ordnung bei Sehling (1911), S. 328–344. Der erste Teil der Ordnung handelt vom Umgang mit den Kirchendienern, der zweite Teil von den kirchlichen Kassen, im dritten Teil geht es um die gottesdienstlichen Zeremonien.
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Verordnung und nahm sie nie an230. Konflikte hatte es im Übrigen schon bei der Verabschiedung von Bugenhagens Ordnung auf dem Treptower Landtag gegeben, da sich die Landesobrigkeit und die pommerschen Landstände nicht über den Umgang mit dem Kirchengut und die Frage der Klöster einigen konnten. Die Vertreter der Adelskurie verließen daraufhin den Landtag und die erste pommersche Kirchenordnung wurde ohne Einwilligung der Landstände und ohne ordentlichen Landtagsabschied erlassen231. Im gesamten Herzogtum zog sich die Anerkennung der pommerschen Ordnung durch die Landstände bis in die 1540er-Jahre hin232. Obwohl sich der Stralsunder Rat und die Geistlichkeit von den Bestimmungen der Kirchenordnung distanzierten, seien Bugenhagens Bemerkungen zum pommerschen Schulwesen im Folgenden dennoch skizziert, um die Etablierung des Stralsunder Kantorenamtes vor dem Hintergrund der Entwicklungen im gesamten Herzogtum nachzeichnen zu können: In den großen Städten Pommerns sollten nach Bugenhagen bessere weiterführende Schulen eingerichtet werden, um dorthin »de knaben [zu] schicken [...], wenn se wat geleret hebben«233. Wie Aepin sah auch Bugenhagen wenigstens drei Lehrer als erforderliches Schulpersonal an den Lateinschulen vor, benannt werden Rektor und Subrektor234. Ein Kantor wird auch hier nicht explizit erwähnt, und das Singen deutscher Psalmen »mit den leien« sollte weiterhin dem Küster übertragen bleiben235. Ansonsten sollte der gewöhnliche musikalische Kirchendienst in die Hände von Schülern und Lehrern gelegt werden: »Tom sosten, so darf me ock neene sunderlike personen hir to holden mit gelde, wo men vorhen plach, mit den chorheren unde chorscholeren, sunder men geve den scholaubeiders ein redlick lohn eins vor alle, unde bevele een dese sake mit.«236
Weitaus ausführlicher als Aepin es getan hatte, widmete sich Bugenhagen den für ein funktionierendes Schulwesen maßgeblichen äußeren Bedingungen237. Das Lehrpersonal etwa, das bereits zu dieser Zeit aus möglichst »gelerde[n] lüde[n]« bestehen sollte, 230 Vgl. Berwinkel (2008), S. 37, 39. 231 Vgl. dazu ebd., S. 52f., sowie Ptaszyński (2013, S. 157): »Die Kirchenordnung wurde ohne Vorwort der Herzöge veröffentlicht, hatte also nicht die Gestalt eines herzoglichen Erlasses oder Gesetzes.« Als Vertreter Stralsunds hatten Christian Ketelhut und der spätere pommersche Generalsuperintendent Johannes Knipstro am Treptower Landtag teilgenommen. 232 Berwinkel (2008), S. 53. 233 Zit. nach Sehling (1911), S. 333 (Pommersche Kirchenordnung 1535). 234 »[…] dat men kinder scholen ringer denn mit dreen personen nicht holden kan«, zit. nach ebd. sowie ebd., S. 334. 235 Vgl. ebd., S. 333. Im Übrigen erhoffte man sich von den Küstern, dass »se tom predik amte mit der tidt gefordert mögen werden«, zit. nach ebd. 236 Zit. nach ebd., S. 340. Im dritten Teil der Kirchenordnung (»Van ceremonien«) ist in den Bestimmungen zur sonntäglichen Messe auch einmalig von einem Kantor die Rede: »De scholmeister eder cantor hevet balde an da düdesch benedictus […]«, zit. nach ebd. 237 Vgl. dazu auch Hettwer (1965), S. 39.
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sei angemessen zu versorgen und zu besolden, um es möglichst lange an der Schule zu halten: »hir to is ock van nöden, dat men eerlike besoldinge bestelle, dem scholemeister unde gesellen, dat [...] se gerne bi uns bliven«238. Allerdings stellte sich gerade die Besoldung der Kirchendiener in den Jahren nach Einführung der neuen Lehre als ernstzunehmendes Problem dar, war doch der Umgang mit den kirchlichen Gütern und Klöstern nach wie vor ungeklärt. Dass es in diesem Zusammenhang obrigkeitlicher Entscheidungen bedurfte, mag das folgende Zitat verdeutlichen: »Dewile överst wi prediker vormerken, dat unse löfflicke landesförsten eren hochvorstendigen reden hir tor steden bevalen hebben, van den geistlicken güderen to ratschlagen und tovorordnen wo her men de parheren und predicanten, scholmeister unde scholgesellen; item köster unde organisten einem iewelicken na gelegenheit besolden schal, so bidde wi demödichlick unde underdenichlick. dat hir eine gude acht unde upseent vlitich geholden möchte werden, wat einem iewelicken, na gelegenheit sines amptes unde des ördes, to eerlicker husholdinge van nöden.«239
Konkrete Gehaltsvorgaben machte Bugenhagen für die einzelnen Kirchendiener nicht, bestimmte aber, dass Schulmeister und Gesellen mit freiem und möbliertem Wohnraum und »eerlike[r] besoldinge« aus dem gemeinen Kasten zu versehen seien240. Ihren Lebensunterhalt hatten sie darüber hinaus mit den Einkünften aus den Akzidentien – »van dem sange to grave«, »went de brüt in der kercken wil singen laten« – und dem von den Schülern zu entrichtenden Schulgeld (»precio«) zu bestreiten241. Bugenhagens Forderung nach gelehrtem, d. h. akademisch gebildetem Schulpersonal mag seine hohen inhaltlichen Ansprüche an das pommersche Lateinschulwesen unterstreichen, realisieren ließ sie sich zu dieser Zeit vermutlich aber noch nicht242. Hinsichtlich der Lehrinhalte und der Organisation des Unterrichts verweist Bugenhagen auf Philipp Melanchthons Unterricht der Visitatoren in Sachsen (1528) bzw. auf die darin enthaltene kursächsische Schulordnung: »Lection unde övinge schölen angestellet werden na aller mat, wo in der Sasseschen visitation geschreven.«243 Me238 Zit. nach Sehling (1911), S. 333. 239 Zit. nach ebd., S. 332. 240 »Men schal des magisters unde siner gesellen wöningen vörsorgen mit dischen verslaten unde unvorslaten, unde mit etliken sponden unde spinden, welke bi den wöningen bliven schölen also inventaria.« Zit. nach ebd., S. 333. 241 Zit. nach ebd. Der Begriff ›Akzidentien‹ bezeichnet den Nebenerwerb der Musiker etwa durch das Musizieren auf Begräbnissen oder Hochzeiten. 242 Auch im Predigeramt lässt sich eine neue, zweite Generation, die nunmehr fast ausnahmslos akademisch gebildet war, erst seit den 1540er-Jahren nachweisen. Berwinkel (2008), S. 142f. 243 Zit. nach Sehling (1911), S. 333. Vgl. die Kursächsische Schulordnung bei Vormbaum (1860), S. 1–8. Auch die übrigen Kirchenordnungen Bugenhagens orientierten sich hinsichtlich des Schulwesens an der kursächsischen Ordnung, was zu vergleichbaren Verhältnissen führte. Vgl. dazu auch Hettwer (1965), S. 35–54. Zwischen der Wittenberger und der pommerschen Geistlichkeit bestanden zahlreiche enge Kontakte: Neben Bugenhagen stand
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lanchthons Visitationsbuch und die Ordnung für die kursächsischen Lateinschulen waren infolge der von Luther initiierten Kirchen- und Schulvisitation im Kurfürstentum Sachsen entstanden244 und fanden weit über die Grenzen Kursachsens hinaus – insbesondere im norddeutschen Schulwesen – Beachtung245. Als Lehrinhalte führt die kursächsische Schulordnung Latein, Religion und Musik auf. Griechisch, Hebräisch und Deutsch seien auszuklammern, um die Kinder nicht »mit solcher manchfeltickeit [zu] beschweren«246. Ihrem Wissen und Können entsprechend seien die Schüler in drei »Haufen«247 (= Klassen) zu teilen. Musikunterricht war für alle Schüler gemeinsam vorgesehen, und zwar in der »erste[n] stunde nach mittag teglich [...], alle, klein und gros«248. So legte es Bugenhagen auch für den pommerschen Musikunterricht fest: »Van der stunde överst to singen in der musica, wert ock dorch de visitatores vorschafft, eder de stunde na der mältid is gut dar to.«249 Der dritte Teil der pommerschen Kirchenordnung von 1535 handelt von den gottesdienstlichen Zeremonien. Während an den Sonntagen »in einer iglicken parre« über den Tag verteilt dreimal gepredigt werden sollte, war für die Werktage jeweils eine Predigt vorgesehen250. Die musikalischen Verpflichtungen der Schüler bei den Gottesdiensten waren umfangreich: Sie hatten in der samstäglichen Vesper, sonntags in allen drei Gottesdiensten (Mette, Messe, Vesper) und darüber hinaus auch an den übrigen Werktagen morgens und nachmittags zu singen251. Doch sollte man sie zumindest in den Frühgottesdiensten der Werktage »nicht över ein verndel van der stunde laten singen«252, damit sie weder die Lust am Kirchengesang noch Zeit für ihre Schulstudien verlören. Zu singen waren Hymnen in deutscher und lateinischer Sprache nach dem Kirchenjahr, Psalmen mit den zugeordneten Antiphonen sowie liturgische Gesänge im
auch der Stralsunder Superintendent und spätere pommersche Generalsuperintendent von Pommern-Wolgast Jakob Runge (1527–1595) in engem Kontakt zu Melanchthon. Berwinkel 2008, S. 201. Schon von daher verwundert es nicht, dass der sächsische Schulplan für die Entwicklung des pommerschen Schulwesens Bedeutung erlangte. 244 Vgl. dazu Hettwer (1965), S. 23–25. Die Visitation wurde aufgrund ungenügender Vorbereitungen vorzeitig abgebrochen, dennoch veröffentlichte Melanchthon sein Visitationsbuch. Vgl. zum Inhalt ebd., S. 25–29. 245 Vgl. Vormbaum (1860), S. 4. 246 Zit. nach ebd., S. 5. 247 »Zum dritten, Ists not, das man die kinder zurteile yn hauffen.« Zit. nach ebd. Dem ersten »Haufen« sollten diejenigen Kinder angehören, die das Lesen noch erlernen mussten. Die Kinder der zweiten Klasse sollten bereits lesen können und sich mit der (lateinischen) Grammatik beschäftigen. Der dritten Klasse gehörten die geschicktesten Kinder aus der zweiten Klasse an. Ebd., S. 5–8. 248 Zit. nach ebd., S. 6. 249 Zit. nach Sehling (1911), S. 333 (Pommersche Kirchenordnung 1535). 250 Ebd., S. 329. 251 Vgl. ebd., S. 340–342. Lediglich am Mittwochnachmittag und am Sonnabendmorgen sollten sie davon befreit sein. 252 Zit. nach ebd., S. 342.
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Wechsel zwischen Chor, Prediger und Gemeinde253. Außerdem hatten die Schüler lateinische und deutsche Lektionen aus der Bibel zu übernehmen. Klar benennt Bugenhagen den Nutzen, den das Singen lateinischer Kirchenmusik im Gottesdienst auch für den Spracherwerb der Schüler bedeutete. Deutsche Gesänge waren vor allem für die Gottesdienste mit großer Gemeindebeteiligung vorgesehen, wie etwa am Sonntag; lateinisch sang man vor allem unter der Woche254.
Der Visitationsrezess von Johannes Bugenhagen für Stralsund (1535) Nachdem schon die erste pommersche Kirchenordnung vom Stralsunder Rat abgelehnt worden war, verwehrte man 1535 auch der herzoglichen Visitationskommission, die es sich zum Ziel gemacht hatte, die Landtagsbeschlüsse und Vorgaben der Kirchenordnung umzusetzen, erfolgreich den Zutritt zur Stadt255. Erneut fürchtete der Stralsunder Rat, neben seinen kirchlichen Gütern auch generell an Einfluss über das Kirchenwesen zu verlieren, und wertete die landesobrigkeitlichen Visitationen als Eingriff in seine politische Selbstständigkeit256. 1535 blieb es daher – nach Abzug der Visitationskommission – bei einigen wenigen Empfehlungen Bugenhagens für das Kirchenwesen der Stadt, die auch das Schulwesen und die Besoldung der Kirchenbediensteten betrafen. Allerdings wurden auch diese Empfehlungen vom städtischen Rat keinesfalls vorbehaltlos angenommen und umgesetzt, wie Heyden zu berichten weiß: »Doch wurde zunächst nichts aus den Ratschlägen Bugenhagens. Zwar nahm der [Stralsunder] Rat Kenntnis davon und versprach, sich ›zu bequemer Zeit‹ darüber mit der Bürgerschaft zu bereden, auch mit dem Herzog sich auseinanderzusetzen. Vorerst aber blieb es beim alten.«257
Nicht zuletzt unter dem Vorwand, »dass die politischen Verhältnisse eine so grosse Aufwendung für Kirchen und Schulen nicht gestatteten«258, wehrte sich der Rat gegen die Vorschläge. 253 Siehe dazu auch die Ausführungen unten auf S. 142–145. 254 Sehling (1911), S. 340. Vgl. das Zitat unten auf S. 144. Am Ende der Kirchenordnung von 1535 finden sich einige deutschsprachige Mess- und Offiziumsgesänge mit Noten. Vgl. dazu S. 143. 255 Vgl. dazu Heyden (1957), Bd. 1, S. 230; Berwinkel (2008), S. 37; sowie Ptaszyński (2013), S. 157. In Greifswald und Stettin erzwangen die Herzöge den Zutritt der Kommission. Berwinkel (2008), S. 56. 256 Vgl. Berwinkel (2008), S. 55f.; Heyden (1957), Bd. 1, S. 240; sowie Sehling (1911), S. 306f. Vgl. zum Widerstand der Stadt die bei Heyden (1961, Protokolle, S. 76f.) abgedruckten Protokolle der Kirchenvisitation. 257 Heyden (1957), Bd. 1, S. 240. Vgl. den Visitationsrezess Bugenhagens bei Sehling (1911), S. 548–550. 258 Panck (1899), S. 21.
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Für die vorliegende Studie sind die Bestimmungen des Visitationsrezesses von 1535 dennoch insofern bedeutsam, als Bugenhagen mit ihnen auf die konkreten Stralsunder Verhältnisse reagierte. Dies zeigt sich unter anderem an seinen Vorgaben für das Schulwesen, die darüber hinaus deutliche Parallelen zu den ebenfalls von ihm verfassten Festlegungen für Hamburg oder Lübeck aufweisen259. Für Stralsund empfahl Bugenhagen, nur eine Lateinschule an St. Nikolai einzurichten, an der immerhin sechs Lehrende unterrichten sollten: »Item eine guede schole schal bi sunte Nicolaus kerken geholden werden, und darin ein gelerder scholmeister mit viff gesellen.«260 Durch Zusammenlegung der drei Pfarrschulen ließ sich das zur Verfügung stehende Lehrpersonal in einer Einrichtung konzentrieren. Niemöller stellte vergleichbare Absichten Bugenhagens auch für Hamburg, Lübeck und Schleswig-Holstein fest261. Das Lehrpersonal an der Stralsunder Lateinschule sollte aus Schulmeister, Subrektor, drei weiteren als »pedagogi« bezeichneten Lehrern und einem »Kantor« bestehen. Erstmals benennt Bugenhagen hier – an dritter Stelle nach dem Subrektor – einen speziell für den Musikunterricht verantwortlichen Kantor. Ob es zu dieser Zeit an den Stralsunder Pfarrschulen bereits als Kantoren bezeichnete Lehrer gab, ist ungewiss, da über die Lehrenden an diesen Schulen keinerlei Nachrichten vorliegen. In der Klassenaufteilung orientierten sich Bugenhagens Bestimmungen wiederum an der kursächsischen Schulordnung von 1528: »als magister Philippus Melancht on beschreven hefft in dem boke der visitatoren to Sassen«262. Der Rektor sollte die Schüler zunächst in drei Klassen teilen, später aber, »wen die kinder gelerder werden, schall die rector van den dren classibus vier classes maken«263. Darüber hinaus äußerte sich Bugenhagen zur Besoldung der Lehrer und wies dabei, wie auch in Lübeck und Hamburg264, dem Kantor den dritten Rang nach Rektor und Subrektor zu, mit einem allerdings deutlich niedrigeren Gehalt: Während der Rektor 120 Gulden und der Subrektor noch 100 Gulden erhalten sollten, sah Bugenhagen für den Kantor nur 40 Gulden vor. Zusätzliche Einnahmen konnten die Schullehrer wiederum aus den Akzidentien und dem gleichmäßig aufzuteilenden Schulgeld der Schüler erzielen265. Dass Bugenhagen 1535 für Stralsund überhaupt einen Kantor vor-
259 Vgl. Sehling (1913), S. 339–345 (Lübeck) und 495–499 (Hamburg). 260 Zit. nach Sehling (1911), S. 549. 261 Vgl. Niemöller (1969), S. 185. Zu den Vorteilen nur einer höheren Schule äußert sich Bugenhagen beispielsweise in der Lübecker Kirchenordnung von 1531 (»Worümme överst idt gut si, men eine gude schole unde nicht mehr hir uptorichtende [...]«). Sehling (1913), S. 339. 262 Zit. nach Sehling (1911), S. 549. 263 Zit. nach ebd. Für Lübeck sah Bugenhagen bereits 1531 die Teilung der Schülerschaft in fünf Stufen vor. Vgl. Sehling (1913), S. 340–342. 264 Ebd., S. 342 und 497. 265 Vgl. Sehling (1911), S. 549.
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sah266, resultierte dabei sicher in erster Linie aus der Größe der Schule und dem organisatorischen Aufwand, den das Bestreiten der Kirchenmusik an allen drei Hauptkirchen der Stadt bedeutete. Ob die Annahme Küsters, dass die Anstellung von Kantoren durch den um den Griechischunterricht erweiterten Sprachenkanon – der »stets über der Stufe des Kantors angesiedelt« war – notwendig geworden war267, auch auf die Stralsunder Verhältnisse zutrifft, bleibt ungewiss. Nimmt man auch hier die kursächsische Schulordnung zum Maßstab, so zählte das Griechische 1535 noch nicht zum Lehrprogramm der pommerschen Schulen; ob es in Stralsund dennoch bereits zu dieser Zeit unterrichtet wurde, ist nicht bekannt268. Die Zusammenlegung der drei Kirchenschulen, wie Bugenhagen sie schon 1535 empfohlen hatte, erfolgte allerdings erst 1560 mit der Gründung des Stralsunder Gymnasiums. Mit immerhin sechs Lehrenden hätte die von Bugenhagen konzipierte Stralsunder Schule 1535 zu den größten Schulen im Herzogtum gezählt269. Während Rat und Geistlichkeit Stralsunds sowohl die pommersche Kirchenordnung von 1535 als auch die herzoglichen Visitationen abgelehnt hatten, suchten sie im selben Jahr vielmehr Verbindungen zu den westlichen Hansestädten und verständigten sich auf dem Hamburger Theologenkonvent 1535 gemeinsam mit Hamburg, Lübeck, Bremen, Rostock und Lüneburg über den Umgang mit der neuen Lehre und den kirchlichen Zeremonien270.
Die pommersche Agende von 1542 und die Jahre zwischen erster und zweiter pommerscher Kirchenordnung Um die landesobrigkeitlichen Bestimmungen umzusetzen und den Ausbau des pommerschen Kirchenwesens voranzutreiben, wurden in der Folgezeit Superintendenten und Generalsuperintendenten in ihren jeweiligen Städten und Bezirken eingesetzt, die Synoden und Generalsynoden abhielten und der reformatorischen Ordnung in Pom266 Auch in den Visitationsabschieden für Greifswald und Wollin sieht Bugenhagen 1535 als »Kantoren« betitelte Lehrer vor. Vgl. ebd., S. 549, 512 und 554. Außerdem ist in den Bestimmungen für Stettin von 1539 ein Kantor erwähnt. Vgl. Heyden (1961), Protokolle, S. 292. 267 Küster (2005), S. 77. 268 Erst in der pommerschen Kirchenordnung von 1563 wird auch Griechisch als Lehrinhalt aufgeführt. Vgl. Sehling (1911), S. 404. In Stralsund gab es spätestens 1560 bei Gründung der Lateinschule Griechisch, unterrichtet vom Subrektor. Zober (1839), S. 37. 269 Vgl. zur Anzahl des Lehrpersonals an den pommerschen Schulen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auch Wegner (2000), S. 32 (Karte »Schulen in Pommern im 16. Jahrhundert«). Für Hamburg und Lübeck sah Bugenhagen 1529 bzw. 1531 sieben Lehrende (Rektor, Subrektor, Kantor, vier Pädagogen) vor. Vgl. Sehling (1913), S. 497 und 342. 270 Vgl. Sehling (1911), S. 541. Im Ergebnis entstand eine 17 Artikel umfassende Ordnung, die Johannes Knipstro als Vertreter Stralsunds mit unterzeichnete. Vgl. Sehling (1913), S. 540–543.
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mern eine gewisse Stabilität verliehen271. Nötig geworden war nun auch eine ausführlichere Agende zur pommerschen Kirchenordnung von 1535, die 1542 erarbeitet und von sämtlichen Landständen – diesmal auch von Stralsund – angenommen wurde272. Viele Fragen der gottesdienstlichen Zeremonien hatte man in der Treptower Kirchenordnung zunächst offengelassen und hierfür die von Luther proklamierte Freiheit in Anspruch genommen, selbst Entscheidungen zu treffen, die sich an den Grundsätzen des Glaubens in der Bibel zu orientieren hatten273. Die pommersche Agende von 1542 erweiterte die Bestimmungen zu den gottesdienstlichen Zeremonien, die in der Bugenhagenschen Ordnung von 1535 noch nicht in ausreichendem Maße behandelt worden waren. Erarbeitet wurde sie von den pommerschen Generalsuperintendenten Paul von Rode und Johannes Knipstro; Bugenhagen revidierte die Ordnung vor ihrer Publikation274. Erweitert erscheinen die Bestimmungen von 1542 in erster Linie durch die nunmehr vollständig aufgenommenen Wortlaute etwa von Vermahnungen, Bekenntnissen und der Einleitung in die Predigt der sonntäglichen Messe. Wie schon in der pommerschen Kirchenordnung von 1535 sind wiederum auch die Singe- und Lesepflichten der Schülerschaft an den Sonn- und Werktagen aufgeführt, wobei einige liturgische Stücke, etwa das Gloria, in ihrem Ablauf und in der Verteilung ihrer einzelnen Bestandteile auf den Priester, den Schülerchor, die Gemeinde und die Orgel genauer beschrieben werden275. Zu den weiterhin behandelten, für das Schulwesen jedoch nicht relevanten Themen der Agende zählt u. a. der Umgang mit Beichte, Taufe und den Kranken. Die außerdem aufgeführten Bestimmungen zur musikalischen Gestaltung von Begräbnissen und Hochzeiten sollen später thematisiert werden276. Obwohl die beschriebenen Maßnahmen – das Verabschieden von Kirchenordnungen und Agenden, die Bestellung von Super- und Generalsuperintendenten, das Abhalten von Synoden und Generalsynoden – die neuen kirchlichen Strukturen in Pommern zunehmend stärkten, kann von gesicherten Verhältnissen im Kirchenwesen wohl erst nach der Jahrhundertmitte gesprochen werden277. Ende der 1540er-Jahre hatte vor allem das Religionsedikt Karls V. (›Augsburger Interim‹) zu komplexen Auseinandersetzungen zwischen Kaiser, pommerscher Landesobrigkeit, den Landständen und nicht zuletzt den Predigern geführt, die in Stralsund schließlich die Entlassung des Superintendenten Johannes Freder (1510–1562) nach sich zogen278. 271 Sehling (1911), S. 309. 272 Berwinkel (2008), S. 54. 273 Ebd., S. 140. Vgl. die Agende bei Sehling (1911), S. 354–370. 274 Ebd., S. 322. 275 Vgl. dazu Bugenhagen/Schneider (2010), Bugenhagen, S. 125–127. 276 Vgl. unten S. 159ff. 277 Nach Berwinkel (2008, S. 55, Anm. 218) erst in den 1570er-Jahren. 278 Vgl. zum Konflikt um das Interim ebd., zu Freder darin vor allem S. 138–163. Freder (1510–1562) hatte in Wittenberg studiert und stand in engem Kontakt zu Martin Luther.
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Als problematisch erwiesen sich auch die je neu zu definierenden Positionen des Kirchenpersonals – der Prediger, Küster, Organisten und Kantoren –, deren sozialer Status innerhalb der Gemeinden erst langsam wuchs und deren Besoldung aus dem Vermögen der alten Kirche zunächst gerechtfertigt werden musste279. Mehrfach etwa prangerten die Stralsunder Geistlichen in diesem Zusammenhang die prekäre finanzielle Situation der Prediger an, wie auch der 1547 zum Superintendenten und Vorsteher des Geistlichen Ministeriums berufene Freder, der seine Klage mit einem Vers aus 1 Kor 9,14 stützte: »Christus secht, dat ein Arbeider synes lones wert sy.«280 Schon im Vorjahr hatten die Stralsunder Prediger beklagt, dass die Pfarrstellen unterbesetzt seien, und den Rat um Bestand und Sicherheit im Kirchenwesen gebeten281. Auch Aepin, einst Verfasser der Stralsunder Kirchenordnung und inzwischen Superintendent in Hamburg, verwies den Stralsunder Rat 1547 darauf, dass sich ohne eine ausreichende Besoldung und Unterstützung kaum geeignete Männer für den Kirchendienst finden ließen und man über die Verwendung des Kirchenguts neu nachdenken solle282. Ohne Frage war das Predigeramt in den ersten Jahrzehnten nach Einführung der Reformation gesellschaftlich noch wenig attraktiv. Sogar über den obersten Prediger an St. Nikolai berichtet Heyden: »Knipstro selbst bekannte, er hätte an den Türen betteln gehen müssen, wenn nicht seine Frau durch Nähen für den Unterhalt gesorgt hätte.«283 Von einer »zweiten Generation« lutherischer Geistlichkeit in Pommern, die aufgrund ihrer akademischen Bildung die Professionalisierung im Amt deutlich beschleunigte, ist erst seit etwa der Jahrhundertmitte auszugehen284. Dass es vor diesem Hintergrund um die weniger zentralen Kirchenämter von Kantor und Organist zunächst noch deutlich schlechter bestellt gewesen sein muss, liegt nahe. Folglich ist es in Stralsund wohl nicht der Quellenlage anzulasten, dass sich dauerhaft angestellte Kantoren erst seit Gründung des Stralsunder Gymnasiums 1560 und auch Organisten erst nach der Jahrhundertmitte nachweisen lassen – dass geeignete Anstellungsstrukturen also tatsächlich erst seit dieser Zeit existierten. 1537 wurde er Konrektor am Hamburger Johanneum und drei Jahre später Pastor am Dom. Von 1547 bis 1549 war er Stralsunder Superintendent. Wölfel (1999), Freder, S. 99. 279 Nach Berwinkel (2008, S. 146f.) stellt sich dies – »einer sich neu konstituierenden gesellschaftlichen Schicht geistlicher Amtsträger einen festen Platz innerhalb des Gemeinwesens zuzuweisen« – als Grundproblem bei der Entwicklung reformatorischer Kirchenstrukturen dar. Begründet waren die Schwierigkeiten vor allem in dem verlorenen Vertrauen in die Amtsträger der alten Kirche. 280 Zit. nach ebd., S. 146. 281 Ebd., S. 59. 282 Ebd., S. 130. Aepins erneute Bemühungen in Stralsund standen im Zusammenhang mit der Berufung Freders zum Superintendenten. 283 Heyden (1961), Kirchen, S. 162. Johannes Knipstro (1497–1556) war seit 1528 oberster Stralsunder Prediger und hatte die Aufsicht über die Stralsunder Geistlichkeit inne. 1535 wurde er Generalsuperintendent für Pommern-Wolgast. Berwinkel (2008), S. 196f. 284 Vgl. Berwinkel (2008, S. 142f.), die den Beginn des Generationswechsels in den 1540erJahren ansetzt, sowie Ptaszyński (2013, S. 159), der dafür die 1550er-/60er-Jahre angibt.
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Gestützt wird diese These durch die Bemühungen um eine zweite pommersche Kirchenordnung zu dieser Zeit. Der Greifswalder Professor und spätere Generalsuperintendent von Pommern-Wolgast Jakob Runge (1527–1595) schrieb 1556 an den pommerschen Herzog: »Wir haben eine schone Kirchen Ordnung, aber aufs Papier gemalet, gleich wie der feigen bauwm, mit schonen blettern one fruchte.«285 Die Bestimmungen der ersten pommerschen Kirchenordnung von 1535 waren zu dieser Zeit längst überholt286 und verlangten danach, an die aktuellen Verhältnisse angepasst zu werden. Auch Barnim IX. von Pommern-Stettin erkannte die Notwendigkeit, da »alle Unrichtigkeit und Ungehorsam daher komme, dass unsere Pommersche Kirchenordnung, zu Treptow Anno 1534 gestellet, nicht gehalten wird«287. Runge, ein enger Vertrauter Melanchthons288, wurde in diesem Zusammenhang nicht müde, die Missstände in Pommern aufzuzeigen: »Demnach sehen E[ure] F[ürstliche] G[naden], das nirgend an keinem Ort unter den Evangelischen so viel ich weis der Kirchenstand, Studia und Schulen so ubel stehen und gehalten werden alß hie.«289 Wiederum werden der Umgang mit dem Kirchengut und die schlechte Bezahlung der Kirchendiener kritisiert: »Es ist offenbar, das in Pomern so geringe Stipendia sind in Kirchen und Schulen, als sonst in keinem andren Lande, und mangelt zum meren Teil daran, das die Kirchengute zerrissen werden und in keine rechte Ordnung gebracht sind, das auch die Leute kegen Kirchen und Schulen so hart und undanckbar sind und viele meinen, alles was dahin gewendet wird, sei verloren.«290
Überdies beklagte Runge, dass die Verordnungen der ersten pommerschen Kirchenordnung nur unzureichend umgesetzt worden seien: »Und ist ein erbermlich Ding, das wir gantze zwe und zwentzig Jar [1534–1556] das Evangelium gehabt mit einer offentlichen, gemeinen Kirchen-Ordnung der Landesfursten, das dieselbe noch bissanher nicht in das Werck gesetzet ist und der Verwustung der Kirchen gesteuret.«291
285 Zit. nach Ptaszyński (2013), S. 160. Vgl. zu Runge Berwinkel (2008), S. 201. 286 Ptaszyński (2013), S. 158f. So sollte nach der Ordnung Bugenhagens der Bischof von Kammin an der Spitze der protestantischen Kirche in Pommern stehen. Dazu ist es nicht gekommen. Auch werden die Synoden und die sich seit den 1550er-Jahren formierenden Konsistorien als kirchliche Gerichtsinstanzen in der ersten pommerschen Kirchenordnung noch nicht erwähnt. 287 Zit. nach Sehling (1911), S. 322. 288 Ptaszyński (2013), S. 160. 289 Zit. nach ebd., S. 160, Anm. 27. 290 Vgl. Runges Bedenken von Gebrechen in den Kirchen und Schulen in Pommern (1556) in der Ausgabe von Uckeley (1909), S. 57. 291 Zit. nach ebd., S. 59.
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Vor diesem Hintergrund präsentierte Runge 1559 seinen Entwurf einer neuen pommerschen Kirchenordnung, der auf Landtag, Synoden und Generalsynoden anschließend umfassend diskutiert, 1563 offiziell verabschiedet und 1569 mit einer Agende versehen wurde292. Kirchenordnung und Agende von 1563 bzw. 1569 bildeten »die Grundlage des pommerschen Kirchenwesens« und waren bis weit in das 17. Jahrhundert hinein gültig293.
Der Entwurf einer Stralsunder Kirchenordnung von Johannes Knipstro (1555) Im Falle Stralsunds hatten die durch das Interim ausgelösten Uneinigkeiten zwischen dem Rat und den städtischen Predigern den pommerschen Landesherrn veranlasst, für eine Schlichtung und Klärung der Verhältnisse zu sorgen. Noch in den 1550er-Jahren wurde der Generalsuperintendent für Pommern-Wolgast Johannes Knipstro beauftragt, eine Kirchenordnung für die Stadt zu verfassen, die 1555 von Knipstro »samt allen predicanten« unterzeichnet wurde294. Ob diese Ordnung allerdings auch vom Rat rechtskräftig verabschiedet wurde, ist ungewiss. Da zumindest jedoch die Stralsunder Geistlichkeit zugestimmt hatte, bleibt nach Sehling anzunehmen, dass die Ordnung »den geltenden Stand der Dinge wiedergibt«295. Knipstros knappe Ordnung zielte in erster Linie darauf, die Zuständigkeiten an den einzelnen Pfarr- und Klosterkirchen zu regeln, um Streitigkeiten unter den Predigern zu vermeiden. Neben der jeweils erforderlichen Anzahl an Predigern führt er vor allem die unterschiedlichen Gottesdienstzeiten und damit verbundenen musikalischen Verpflichtungen der Stralsunder Schüler an (vgl. Tabelle 12 auf S. 125). Zur Ausgestaltung der Gottesdienste äußert sich Knipstro nicht näher, sondern verweist vielmehr auf die Bestimmungen der pommerschen Kirchenordnung296. Die von Knipstro angeführten Gottesdienstformen mit musikalischer Beteiligung der Stralsunder Schülerschaft unterscheiden sich kaum von den durch Bugenhagen in der Kirchenordnung von 1535 bestimmten. Schülergesang ist wiederum in Mette, Messe und Vesper am Sonntag, in der samstäglichen Vesper und an den übrigen Werktagen im Frühgottesdienst und in der Vesper vorgesehen. Allerdings sollte werktags allein an St. Nikolai – »diewile de grote schole dar is« – die Vesper gesungen werden297.
292 Vgl. die Kirchenordnung und Agende bei Sehling (1911), S. 376–480. 293 Ebd., S. 326. Rampe (2003, S. 14) zufolge galten die Ordnungen Bugenhagens bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts in Norddeutschland nahezu unverändert. Pommern allerdings besaß mit der Ordnung von 1563 bereits eine – nicht von Bugenhagen verfasste – Nachfolgeordnung, wie auch Hamburg, wo 1556 die Kirchenordnung von Johannes Aepin publiziert wurde. Sehling (1913), S. 484f. 294 Siehe zu Knipstro S. 59, Anm. 283. 295 Vgl. Sehling (1911), S. 541. Vgl. die Ordnung ebd., S. 550–552. 296 Ebd., S. 551: »Wo idt in der kerkenordeninge gevatet ist«. 297 Zit. nach ebd., S. 551.
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Die zweite pommersche Kirchenordnung (1563) und ihre Agende (1569)298 Auch der zweiten pommerschen Kirchenordnung, die von vielen Geistlichen gelobt und diesmal mit einem Vorwort des Herzogs versehen war299, stimmten die Stralsunder Prediger – nicht zuletzt auf Anweisung des Rates – nicht zu. Wiederum sahen sie ihre Privilegien eingeschränkt und verwiesen auf eigene Entscheidungen im Umgang mit der neuen Lehre300. Doch boten die nunmehr weitaus präziser und klarer formulierten Verordnungen Runges der Stadt kaum noch Interpretationsmöglichkeiten in den Auseinandersetzungen mit der Landesobrigkeit301. Zu einem Streitpunkt wurde wiederum die Frage um die Ordination der Geistlichen, die man in Stralsund selbst vornehmen und keinesfalls nur dem pommerschen Generalsuperintendenten überlassen wollte. In den folgenden Jahren entbrannte ein langwieriger Streit zwischen dem pommerschen Generalsuperintendenten Runge und dem Stralsunder Superintendenten Jakob Kruse um die Verordnungen in der zweiten pommerschen Kirchenordnung. Kruse kritisierte Runges Kirchenordnung auf der Grundlage seines Glaubens scharf und musste 1586 sein Stralsunder Amt infolge der Streitigkeiten aufgeben302. Den Autonomiebestrebungen der Stadt gegenüber dem Landesherrn tat dies jedoch auch zukünftig keinen Abbruch. Im Vergleich zur Vorgängerordnung von 1535 erscheinen die Bestimmungen der zweiten pommerschen Kirchenordnung von 1563 wesentlich umfangreicher und detaillierter. Geregelt werden nunmehr nicht nur die äußeren Bedingungen im Schulwesen, wie etwa die Anstellungsmodalitäten der Lehrer, ihre Versorgung mit Wohnraum, die Zuständigkeiten in Besoldungsfragen oder bei den Akzidentien, sondern es lassen sich erstmals auch ausführliche Angaben zu den Unterrichtsinhalten, den Bildungsund Erziehungszielen der einzelnen Schulstufen bis hin zu empfohlenen Lehrbüchern finden303. Als Unterrichtsinhalte werden die deutsche und lateinische Sprache, der Katechismus und die Musik aufgeführt. Für die oberste Klasse sollten der Erwerb des Griechischen sowie arithmetischer und astronomischer Grundkenntnisse hinzukommen: »Id is ock nödich, dat dise knaben [veerde classis] geleret werden, elementa arithmetices et sphæræ.«304 Wie von Bugenhagen schon im Stralsunder Visitationsrezess 298 299 300 301
Siehe die Ordnung bzw. Agende ebd., S. 376–419 bzw. S. 419–480. Ptaszyński (2013), S. 166f. Ebd., S. 162–188. Ebd., S. 189. Interessanterweise berief sich der Stralsunder Rat in den Auseinandersetzungen mehrfach auf die Kirchenordnung Bugenhagens, die die Stadt jedoch nie angenommen hatte. 302 Er sah die Rechte der Gemeinden sowie die Freiheit des Christenmenschen darin vernachlässigt. Dazu ausführlich ebd., S. 183–186. 303 Für den Grammatikunterricht werden die Lehrwerke von Aelius Donatus, Hermann Bonnus oder Philipp Melanchthon und als griechische Sprachlehre der Graecae Grammatices methodvs von Lucas Lossius (Frankfurt am Main 1553) empfohlen. Außerdem sollten die Schüler im Lateinunterricht, wie üblich, mit den Werken antiker Autoren, wie Cicero, Vergil oder Ovid, bekannt gemacht werden. Vgl. Sehling (1911), S. 401–404. 304 Zit. nach ebd., S. 404.
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vorgesehen, wurde auch in der pommerschen Kirchenordnung von 1563 empfohlen, die Schüler in zunächst vier Klassen zu teilen, doch konnten es auch »mer effte weiniger classes sin, na einer jederen stad unde scholen gelegenheit«305. Bei einer Verteilung der Schülerschaft auf sogar fünf Klassen seien der Unterrichtsstoff zu erweitern und für die oberste Klasse neben einer intensiveren griechischen Sprachlehre außerdem Hebräischunterricht sowie Naturlehre aufzunehmen306. Die vorgeschlagene Anzahl der Schullehrer richtete sich nach der Größe der Schule. Wurden bislang lediglich im Stralsunder Visitationsrezess Kantoren benannt, werden sie in der zweiten pommerschen Kirchenordnung nunmehr als Lehrpersonal größerer Schulen explizit vorgeschrieben und sollten – wie schon in den Empfehlungen für Stralsund erkennbar – die Stellung nach Rektor und Kon- bzw. Subrektor einnehmen: »In groten steden [...] schölen gude particularia sin, dar ein ludirector si, mit einem guden conrectore, cantore unde mit twen, dren effte mer collaboratoribus, na gelegenheit jeders ordes.«307
Als zentrale Aufgabe des Kantors wird die Musiklehre benannt, die an prominenter Stelle und noch vor der Sprach- und Katechismuslehre erwähnt wird: »Sunderlick överst schal in groten steden [...] eine gude musica geholden werden, unde de kinder darin underrichtet unde exerceret, desgeliken ock in poetica, [...] de catechismus Lutheri unde grammatica.«308
Im Musikunterricht hatte der Kantor die Schüler im ein- und mehrstimmigen Kirchengesang zu unterweisen; in kleineren Orten sollte dies »de scholmeister sülvest doen effte dorch sine gesellen bestellen«309 lassen. Die Musiklehre war von der (unteren) ersten bis zur dritten Klasse vorgesehen, wobei der Figuralmusik erst ab Klasse drei besondere Beachtung zukam: »De drüdde classis. [...] De musica choralis unde figuralis mot mit disen knaben vlitich gedreven werden, alle dage up de twelfte stunde.«310 Auch die deutliche Unterteilung in Musiklehre und praktischen Singeunterricht, wie sie auch in den Lektionsplänen der Stralsunder Lateinschule von 1560 vorgesehen war311, wurde erst in dieser Klasse vorgeschrieben, in der 305 Zit. nach ebd., S. 401. 306 »Dar ock in der visitation würde nödich bevunden, an etliken örden 5 classes antorichten, darin men authores graecos, elementa ebraeae grammaticae, physicam, libellum de anima, unde der geliken lesen möchte.« Zit. nach ebd., S. 404. 307 Zit. nach ebd., S. 399. 308 Zit. nach ebd. 309 Zit. nach ebd., S. 403. Für die erste (unterste) Klasse heißt es: »De scholmeister schölen en ock leren, effte leren laten de düdeschen gesenge.« Zit. nach ebd., S. 401. 310 Zit. nach ebd., S. 402f. 311 In Stralsund waren 1560 sechs bzw. sieben Lateinschulklassen eingerichtet worden (die Nulla war eine Vorbereitungsklasse). Die oberen drei Klassen (Quarta bis Sekunda) hatten am
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»twe dage in der weke de præcepta musices vlitich gelesen, mit exemplis vorkleret unde examineret, unde den knaben ingebildet, dem geliken twe dage in cantu figurali effte chorali de tempore trüwliken mit den knaben gesungen, de praecepta repeteret unde ad usum gebracht werden [sollten].«312
Wie zu dieser Zeit üblich, stand die Musiklehre im Dienste des Kirchengesangs, wurde anhand praktischer Beispiele gelehrt und sollte die Knaben möglichst rasch zum Blattsingen befähigen. Die Gesänge wurden dabei mittels Solmisation einstudiert; in den Lehrinhalten für die zweite Klasse heißt es dazu, dass »wenn choral gesenge latin effte düdesch in der schole proponeret werden, schölen dise kinder mit den anderen solmiseren unde singen, unde also na der hand ad musicam gewennet werden, dat se voces musicales unde solmiseren leren.«313
In der Kirchenordnung von 1563 wird außerdem erstmals die Einrichtung einer Kurrende erwähnt, zu der sich Bugenhagen 1535 noch nicht explizit geäußert hatte314. Regelmäßige Visitationen durch Ratsherren, Geistlichkeit und Schulpatrone sollten die Qualitätssicherung im Schulwesen gewährleisten. Die Abgeordneten hatten »alle verendeel jar mit den pastoribus unde patronen de scholen [zu] visiteren [...] mit erkündiginge, wo idt umme de lectiones, catechismus, grammatica, musica, exercitia latinæ linguæ, disciplin unde umme der scholen dener levend, wandel unde alle nodtrofft gelegen si, dar mit in allen nödigen dingen beteringe geschee.«315
Der Superintendent sollte nicht nur von Zeit zu Zeit die Schulen visitieren, sondern auch bei der Annahme von Schullehrern sowie bei schulischen Examina hinzugezogen werden316. In finanziellen Notlagen hatten neben den Kirchen auch Rat und Bürgerschaft für das Schulwesen aufzukommen: »Wo de kercke nicht so vormögen is [...] so is de rat alse patron der scholen schüldich, van der stad inkamende, effte mit hülpe der börgerschop to contribueren unde to helpen.«317 Die Einrichtung des pommerschen Schulwesens hatte in den Bestimmungen der Kirchenordnung von 1563 nunmehr weitaus konkretere Formen angenommen. Zumindest an den großen Schulen des Herzogtums waren Kantoren als Schul- und Mu-
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Montag und Dienstag theoretischen und am Donnerstag und Samstag praktischen Musikunterricht. Vgl. unten S. 113. Zit. nach Sehling (1911), S. 402f. Zit. nach ebd., S. 402. Ebd., S. 400. Vgl. zur Einrichtung der Stralsunder Kurrende vor allem S. 134–138 in dieser Arbeit. Zit. nach Sehling (1911), S. 399. Ebd., S. 399, 400 und 404. Zit. nach ebd., S. 400.
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siklehrer spätestens seit Einführung dieser Ordnung vorgesehen. Wenn auch die Bestimmungen sicher nicht überall zeitnah und entsprechend umgesetzt wurden, galten sie dennoch als verbindlich für das gesamte Herzogtum. Dabei sollten »[d]e praeceptores [...] van diser ordeninge nichts vorenderen, ane vörgaenden raht unde consens unser superintendenten unde pastoren unde der scholen vorordenten provisoren in dersülvigen stadt«318. Mit der 1569 beigefügten Agende wurden die Bestimmungen zu den gottesdienstlichen Zeremonien noch einmal weitaus detaillierter beschrieben, als es in der ersten pommerschen Kirchenordnung (1535) und ihrer Agende (1542) der Fall gewesen war. Offensichtlich zielte die Agende nicht darauf ab, liturgische Abläufe gegenüber früheren Agenden zu verändern, sondern eher konkret zu beschreiben, was bisher noch nicht eindeutig geregelt war. Die im Kapitel IV (»Ordeninge der ceremonien, gesenge unde lectien, in den kercken, in steden unde wor scholen sint«319) enthaltenen Bestimmungen betreffen auch die Mitwirkung von Schülerchor und Kantor. Detaillierte Ausführungen gibt es etwa zur liturgischen Gestaltung von Vespern und Metten sowie zur Gestaltung der Messe mit Abendmahl. Dabei sollten die Schüler angehalten werden, Gesänge und Lesungen angemessen auszuführen: So waren die »psalmodiæ unde andere cantica nicht pro forma […] sunder mit vorstande unde christliker andacht, tor beteringe« zu singen und die Lektionen »distincte unde dütlick [zu] lesen«320. Mit der Zeit sollten Gemeinde und Schülerchor mit den deutschen Kirchengesängen vertraut gemacht werden: »Also kan men ock to tiden singen düdische hymnos, edder wo se nicht vorhanden sint, andere düdische psalmen de nicht gar gewöhnlick sint, up dat se den kindern unde dem volke bekand unde gemene werden.«321 Damit alle in gleicher Weise die Lieder lernten, sollten die Gesänge in der Messe an Sonn- und Festtagen strophenweise im Wechsel von Schülerchor und Gemeinde ausgeführt werden: »dat de vörgesettenen gesenge ummeschichtich gesungen werden, dat dat chor unde dat volk einen vers umme den andern singe, up dat se alle to gelick den schölern unde der gemeine gebrücklick werden«322. Die Schüler mit dem Repertoire vertraut zu machen, stand auch hinter der Bestimmung für die Samstagsvesper, nach der jeweils zwei bis drei Psalmen vom Chor zu singen waren: »van dixit dominus antofangende, bet to ende des psalters, unde alse denn wedder anfangen«323. Am Ende sowohl der Kirchenordnung als auch der Agende findet sich wiederum ein Notenanhang mit lateinischen und deutschen Gesängen. Der Anhang von 1563 enthält lateinische und deutsche Präfationen nach dem Kirchenjahr, das niederdeutsche Vader vnse, die gesungenen Einsetzungsworte zum Abendmahl, das deutsche Agnus Dei, Benedictus, Magnificat und Nunc dimittis. Interessant am noch weitaus 318 319 320 321 322 323
Zit. nach ebd., S. 401. Ebd., S. 434–441. Zit. nach ebd., S. 435 (Vesper am Samstag oder am Festabend). Zit. nach ebd., S. 436. Zit. nach ebd., S. 439 (Messe). Zit. nach ebd., S. 435.
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ausführlicheren Notenanhang der Agende von 1569 sind die niederdeutschen Übersetzungen etwa zum Gloria in der Messe324.
Der Entwurf einer Stralsundischen Kirchenordnung von Balthasar Prütze [Preusse] aus dem frühen 17. Jahrhundert Balthasar Prützes Entwurf einer Stralsundischen Kirchenordnung war nur eine der Reformschriften, die dieser Stralsunder Ratsherr infolge der politischen Auseinandersetzungen zwischen Rat und Bürgerschaft im frühen 17. Jahrhundert verfasst hatte. Da Prütze das Verhalten der oberen Ratsherren selbst kritisiert hatte, wurde er von 1613 bis 1616 unter Hausarrest gestellt. Neben seinem Entwurf einer Stralsundischen Kirchenordnung legte er auch einen Vorschlag für eine Stralsunder Verfassung vor325. Prützes Kirchenordnung zielte zunächst darauf ab, Konflikte zwischen dem Stralsunder Rat und den städtischen Predigern zu vermeiden326, ein Ziel, das schon Knipstro 1555 mit seiner Kirchenordnung verfolgt hatte. Die pommersche Kirchenordnung von 1563 bezeichnet Prütze als »eine an sich selbst Christliche wolbedachte, aber doch uns in etlichen puncten unbequeme Kirchen-Ordnung«327. Trotz des anfänglichen Widerstandes gegen diese Ordnung hatte man deren Bestimmungen in Stralsund offenbar zum großen Teil dennoch umgesetzt, wie von Prütze zu erfahren ist: »haben wir unß bis nuher, so viel ohn abbruch Christlicher allgemeiner, und sonderbahrer freyheit geschehen können, derselben willig gebrauchet, und E. E. und andachten die Kirchenämpter in Lehr und Ceremonien darnach zu führen committiret und anbefohlen«328
Die strittigen Punkte der Ordnung veranlassten den Ratsherrn nunmehr, ein neues Regelwerk zu schaffen, in dem er sich u. a. ausführlich mit dem ›modus electionis‹ bei der Wahl der Kirchen- und Schuldiener befasste. Zu Konflikten hatte dabei vor allem der Umgang mit den nicht dem Provisorat zugehörigen Predigern geführt, die von der Wahl der Kirchendiener ausgeschlossen blieben und sich infolgedessen »beschwehrt[en,] das etliche mahl ihre judicium nicht attendirt, sondern Ihnen ungenehme mitgehülffen zugeordnet« worden waren329. Prütze schlug daher vor, die Kommission je nach Status
324 Die Notenanhänge sind bei Sehling (1911) nicht enthalten. 325 Vgl. zu Prützes Reformschriften Langer (1970), S. 196–199. 326 Ebd., S. 198. Deutlich spricht Prütze sich für die städtische Kirchenautonomie Stralsunds aus und wehrt sich gegen die Einflussnahme des pommerschen Herzogshauses: »Nun seind aber die Fürsten für ihre Persohn die Kirch zu Regiren eben so geschickt, als wann mann einen Priester mit einem Schwerdt gürtet.« StAS Rep 28-22 Entwurf einer Stralsundischen Kirchenordnung von Balthasar Preusse (um 1600) 17. Jh. 327 Ebd. 328 Ebd. 329 Ebd., Nr. (§) 28.
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der zu erwählenden Person – Superintendent, Prediger, Organist, Kantor – zu erweitern330. Hinsichtlich der Annahme von Schullehrern unterschied er zwischen Rektoren und Kantoren auf der einen und den übrigen Schullehrern auf der anderen Seite. Die Leitungsposition des Rektors sowie das kirchenmusikalisch ausgerichtete Amt des Kantors verlangten nach Meinung Prützes nach einer speziell zusammengesetzten Wahlkommission, um einerseits den vielfältigen Anforderungen an die Ämter gerecht zu werden und andererseits Streitigkeiten zwischen den Zuständigkeitsbereichen (Schule und Kirche) zu verhindern. Doch nicht nur in dieser Hinsicht hob Prütze die besondere Stellung des Kantors unter den Schullehrern heraus. Während er für die höheren Schullehrer einen Magisterabschluss für unabdingbar hielt, ließe sich nach Prütze im Falle des Kantors darauf verzichten, sofern der Kandidat sich als musikalisch geeignet erweise331. Im Zusammenhang mit dem Modus electionis liefert der Entwurf Prützes auch Einblicke in den Wahlvorgang bei der Besetzung von Kantoren- oder Organistenämtern, die weiter unten genauer untersucht werden sollen332. Vorschläge machte Prütze darüber hinaus auch zur Besoldung des Schulpersonals und setzte sich für eine Erhöhung der Festgehälter ein. Das für den Kantor vorgeschlagene Fixum von 233 fl 8 ß (= 700 MS) entspricht etwa dem Doppelten des zu Prützes Zeit tatsächlich gezahlten Kantorengehalts333. Vermutlich wurden aber nicht nur die Gehaltsvorschläge Prützes nicht in die Realität umgesetzt: Ebenso bleibt unklar, inwieweit seine Bestimmungen zur Wahl des Schul- und Kirchenpersonals angewendet wurden. Streitigkeiten um die Besetzung der Auswahlkommissionen lassen sich jedenfalls auch in der folgenden Zeit noch nachweisen334.
1.2  Das Stralsunder Kantorat und die Organisation des Kirchengesangs Im Gegensatz zum Organisten, dessen Dienstverpflichtungen sich vorrangig auf die musikalische Gestaltung des Gottesdienstes beschränkten und somit relativ klar zu umreißen sind, war der Tätigkeitsbereich des schulisch wie kirchlich beschäftigten Kantors weitaus umfassender und vielschichtiger. In erster Linie war der Kantor Lehrer und füllte dieses Amt in Stralsund, wie noch zu zeigen sein wird, in gleichem Maße wie die übrige Lehrerschaft aus. Außerdem hatte er musikalische Verpflichtungen bei der Organisation und Leitung der Kirchenmusik. Dass sich das über die Amtspflichten hinausgehende musikalische Engagement von Organisten und Kantoren aufgrund ihrer 330 Ebd., vgl. zur Organistenwahl auch Nr. (§) 51. 331 Vgl. dazu ausführlicher unten S. 87f. 332 Vgl. unten S. 92–94. 333 StAS Rep 28-22 Entwurf einer Stralsundischen Kirchenordnung von Balthasar Preusse (um 1600) 17. Jh, Nr. (§) 54 und 67. Das vorgeschlagene Rektorengehalt beträgt 900 MS, der Konrektor sollte, wie auch der Kantor, 700 MS jährlich erhalten. Vgl. zu den tatsächlich gezahlten Stralsunder Kantorengehältern unten S. 167. 334 Siehe unten S. 235f.
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unterschiedlichen Tätigkeiten und dienstlichen Belastungen unterscheiden musste, verwundert kaum. Im Folgenden seien zunächst die Struktur und die Organisation des Stralsunder Lateinschulwesens vorgestellt, um der Stellung und Funktion des Kantors innerhalb der Institution Schule nachgehen zu können.
Gründung und Organisation des Stralsunder Gymnasiums335 1559 beschloss der Stralsunder Rat, die drei Kirchenschulen zu vereinen: »Anno M.D.LX hefft ein erbar radt alle scholen, lateinisch vnnd dudesch, in ein getagenn.«336 Ein Jahr später – am 20. April 1560 – wurde die Schule eröffnet337. Auch in anderen Städten an der Ostsee – etwa in Rostock, Greifswald, Danzig oder Lübeck – richtete man zu dieser Zeit neue Schulen ein338. Schulaufsicht Das Patronat über die Schule hatte der Stralsunder Rat inne. Außerdem wurde mit Gründung der Schule ein sogenanntes Scholarchat als Schulaufsichtsbehörde eingerichtet, wie es auch die pommersche Kirchenordnung von 1563 für Schulvisitationen vorsah: »In steden schölen twe ratsherren to der scholen vorordent werden, de […] mit den pastoribus unde patronen de scholen visiteren.«339 Die Besetzung des Stralsunder Scholarchats variierte. Nach Gründung der Schule gehörten zunächst drei Ratsmitglieder – ein »rein weltliches Triumvirat«340 – dazu; ein Jahr darauf räumte man auch der Geistlichkeit die Mitaufsicht über das Schulwesen ein341. Der Visitationsordnung des Stralsunder Rektors Caspar Jentzkow zufolge zählten 1594 »zween vnsers Mittels [Rat] vnd zwei aus der Bürgerschaft vnd dann viere aus dem Ehrwürdigen Ministerio, als nämlich den Pastorn vnd obersten Caplan zu St. Niclas, Pastorn zu St. Marien vnd Pastorn zu St. Jacob, also [...] acht qualificirte Personen«342 zum Scholarchat. 1643 scheint die Anzahl mit Bürgermeister, Syndikus, einem weiteren Ratsmitglied und dem städtischen Superintendenten oder einem anderen Theologen aus unbekannten Gründen wieder reduziert worden zu sein343. 335 Die Schule im Stralsunder Katharinenkloster wurde zunächst als »nie schole«, »grote schole«, »S. Katharinen=Schule« und ab 1591 schließlich als »Gymnasium« bezeichnet. Zober (1839), S. 4, und ders. (1841), S. 1. 336 Zit. nach Zober (1839), S. 31. Vgl. auch ebd., S. 1. 337 Im Katharinenkloster, das das Gymnasium beherbergen sollte, waren vor Eröffnung der Schule zunächst Baumaßnahmen nötig. Ebd., S. 3. 338 Ebd., S. 2. 339 Zit. nach Sehling (1911), S. 399. Auf die Einrichtung schulischer Aufsichtsbehörden verweist auch Krickeberg (1965, S. 44) für Freiberg: »Es gab ferner eine Art Fachausschuss des Rates für die Schule, der sich aus den sogenannten Schulinspektoren zusammensetzte.« 340 Zober (1839), S. 12. 341 Ebd. 342 Zit. nach Zober (1841), S. 60 und 13. 343 Zober (1848), S. 9.
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Die den Scholarchen auferlegten Pflichten lassen ernsthafte Bemühungen um ein funktionierendes Schulwesen erkennen. Der Stralsunder Schulordnung von 1643 nach sollten sie »vor Allem die Schule sorgfältig beauffsichtigen, auf die Haltung der Gesetze sowol Seitens der Lehrer als der Schüler sehen, etwanige Uebertretungen rügen und Alles aufbieten, um Wissenschaft und gute Sitte in Kraft zu halten«344. Wie schon die pommersche Kirchenordnung von 1563 schrieb auch die Stralsunder Visitationsordnung von 1594 vierteljährliche Visitationen vor, die jedoch »nimmer auf gleiche Tage vnd Stunde, sondern wenn man sich dessen am wenigsten versiehet, [...] unverwarnet« erfolgen sollten345, um Einblick in die realen, ungeschönten Zustände nehmen zu können. Nach Einführung der neuen Schulordnung von 1643 sollte gar »Einer der Scholarchen monatlich wenigstens einmal die Schule visitiren, alle Klassen besuchen, auf das Treiben der Lehrer und Schüler achten, untersuchen, ob dem Lectionsplan strenge Folge geleistet und der Unterricht dem Fassungsvermögen der Schüler angepaßt sei.«346
Bei den Schulvisitationen ging es also nicht allein darum, dass die Lektionspläne eingehalten wurden, sondern dass auch der Lehrstoff didaktisch und methodisch angemessen vermittelt wurde. Notwendige Veränderungen waren mit den zuständigen Lehrern und Schülern zu beraten347. Verantwortung übernahmen die Mitglieder des Scholarchats zudem bei finanziellen Sorgen der Lehrerschaft348. Zwangsläufig führten die dem Scholarchat zugesprochenen Kompetenzen zu Auseinandersetzungen mit den Stralsunder Schullehrern. Am Ende des 17. Jahrhunderts etwa wehrte sich die Lehrerschaft gegen Visitationen eines offenbar unrechtmäßig erweiterten Scholarchats. Zwar wurden der städtische Rat und der Superintendent weiterhin als Aufsichtsinstanzen akzeptiert, die Eingriffe der niederen Geistlichkeit wurden jedoch deutlich abgelehnt. Die in diesem Zusammenhang überlieferten Protestschreiben beleuchten nicht nur das Verhältnis zwischen Lehrerschaft und Geistlichkeit, sondern bezeugen auch das Selbstverständnis der Stralsunder Schullehrer als Pädagogen: »Nun wissen wir wol, daß die Schulen mitgehören ad hierarchiam ecclesiasticam; daraus folget aber nicht, daß wir a Rev. Minist. dependiren. Wir dependiren samt dem Ehrw. Minist. von einem Episcopo, der ist Nobilissimus Senatus. [...] Was für eine Confusion würde entstehen, wenn einem jeden Prediger die Macht sollte gegeben sein über die Schule, wie dem Herrn Superintendenti? Was hätte denn der Herr Superintendens voraus, [...] was wollte werden, wann alle Lehrer wollten Bischöfe sein? [...] wo sind wol Amtspersonen, die so viele Inspectores über sich haben, als wir sieben Collegae auf solche Weise haben 344 Zit. nach ebd. 345 Zit. nach Zober (1841), S. 60. 346 Zit. nach ebd., S. 10. 347 Ebd. 348 Vgl. S. 169.
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würden, wenn nicht nur die verordneten Herren Scholarchae sammt dem Herrn Superintendente und Rectore [...], sondern auch alle übrigen Herren Prediger die Macht haben sollten, uns nach ihrem Gefallen zu visitiren.«349
Unbestritten blieb jedoch die Unterordnung der Schullehrer bei der »Kirchenarbeit«: »Im Uebrigen gestehen wir ihnen willige Folge in observanda taxi ecclesiastica bei unserer Kirchenarbeit, und sind schuldig, ihnen zu gehorchen als unsern Lehrern.«350 Die hier angeführten Zitate entstammen einem 30 Punkte umfassenden Schreiben, mit dem die Stralsunder Lehrer auf den ihrer Meinung nach unerlaubten Besuch von Predigern im schulischen Unterricht reagierten351. Neben der protestierenden Lehrerschaft versuchten auch die Prediger gemeinsam mit dem Superintendenten, ihr Handeln zu rechtfertigen. Die Entscheidung in dieser Angelegenheit wurde dem Rat als Schulpatron übertragen, der das Visitationsrecht allein den dazu berufenen und oben aufgeführten Personen zusprach, den Predigern allerdings auch das Recht einräumte, die Schule von Zeit zu Zeit zu besuchen. In welcher Absicht dies geschehen sollte, bleibt dabei unklar. Das Verhältnis zwischen Geistlichkeit und Schullehrern entspannte sich auch in der Folgezeit nicht. 1703 führten Unterrichtsbesuche von Geistlichen zu erneuten Protesten der Lehrer, die beim Eintreten der Theologen aufhörten zu dozieren, um ihnen dieses demonstrativ zu überlassen352. Vermutlich belasteten solche Konflikte auch die Zusammenarbeit von Schullehrern und Predigern bei der Kirchenarbeit, wenngleich dies undokumentiert blieb. Schulklassen Bei ihrer Gründung verfügte die Stralsunder Schule über sieben Latein- und eine deutsche Klasse und ging dabei weit über das dreistufige Modell Melanchthons für Kursachsen hinaus353. Noch im 16. Jahrhundert kam zu den benannten Klassen eine Kurrendeklasse hinzu354. Seit wann genau diese bestand, ist allerdings unklar. Die Differenzierung im Lateinschulbereich in immerhin sieben Klassen setzte eine ausreichende Schüleranzahl voraus und lässt somit auf die Größe der Schule schließen355. Notwendigerweise verfügten vielklassige Schulen über einen großen Lehrkörper und in der Regel über eine entsprechende Anzahl an Klassenräumen. Aus der starken Gliederung der Schülerschaft resultierte außerdem in der Regel eine differenzierte Ver349 350 351 352 353
Zit. nach Zober (1858), S. 80f. Zit. nach ebd., S. 80. Vgl. das komplette Schreiben ebd., S. 79–81. An dem Protest war auch der Kantor Hermann Scheven beteiligt. Vgl. ebd., S. 12f. Allerdings hatte auch Melanchthon nichts gegen Schulen mit einer größeren Klassenanzahl einzuwenden. Sein dreistufiges Modell sollte vor allem in den kleineren Städten Kursachsen anwendbar sein. Vgl. Seifert (1996), S. 301. 354 Vgl. Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 393. 355 Siehe dazu auch S. 57, mit Anm. 269.
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teilung der Lehrinhalte auf die einzelnen Schulstufen356, wenngleich von der Anzahl der Schulklassen nicht zwangsläufig auf die ›Höhe‹ von Lehre und Schule geschlossen werden kann, wie Seifert etwa am dreiklassigen Schulmodell Melanchthons nachgewiesen hat357. In Stralsund bildeten Nulla, Septima, Sexta, Quinta, Quarta, Tertia und Sekunda den Lateinschulbereich. Bei der Nulla handelte es sich offenbar um eine Vorbereitungsklasse358 für den Besuch der Lateinschule, die im Falle ausreichender Leistungen nicht durchlaufen werden musste. Noch im Verlauf des 16. Jahrhunderts kamen für die Septima und die Sexta die Bezeichnungen Unter- und Obersexta auf359. Zu den sieben Lateinschulklassen kam eine große deutsche Klasse für Schüler mit weniger hohen Bildungsansprüchen hinzu. Ihre Entscheidung für einen der Schultypen trafen die Schüler bei Schulaufnahme: »Darup schall der rector scholae fragen, wortho die knab geneigt is; jfft he latinisck edder düdisck leren will. Erclert he sick denne, dat he thom latine geneigt, so schall he dat jntredelgeldt van ehm entfangen vnnd ehm fordt seggen jn wat classe he jn der latinischen schola sitten [...] schole. Will he auerst men dudisck leren, so schall he ene thon dudescken praeceptorn wiesen; die schall dat jnspringellgeldt van ehm fordern, nach entfangung dessuluen ene fortt annhemen.«360
Eine Sonderstellung besaß die Stralsunder Kurrendeklasse. Zwar gehörten die Kurrendaner, die sich ihren Lebensunterhalt hauptsächlich durch das Singen auf den Straßen verdienten, de jure zur Schule dazu. Geleitet wurde die Klasse aber durch den Küster des Hospitals zum Heiligen Geist, der kein offizielles Mitglied des Lehrkörpers war: »Und obzwar auch von der neunten Nummer der Currendarien Rechnung geführet wird; so stunden doch diese unter einem Lehrer, der zum Collegio nicht gehörte.«361 Dennoch nutzte der Heilgeistküster die Räumlichkeiten der Schule für seinen Unterricht und wirkte mit den Kurrendanern zumindest seit dem Ende des 16. Jahrhunderts musikalisch in den Werktagsgottesdiensten mit362. Darüber hinausgehende Verbindun-
356 Der Begriff ›Stufe‹ wird hier und im Folgenden synonym mit ›Klasse‹ verwendet. Die in der pommerschen Kirchenordnung von 1563 empfohlene Eröffnung einer zusätzlichen Klasse in den großen pommerschen Lateinschulen sollte etwa mit erweiterten Lehrinhalten im Griechischen, Hebräischen und in der Naturlehre verbunden sein. Vgl. dazu auch S. 63. 357 Seifert (1996, S. 301f.) stellt das Modell Melanchthons dem neunklassigen Schulmodell des Straßburger Rektors Johannes Sturm gegenüber und stellt fest: »Auch im späteren 16. Jahrhundert kann die Anzahl der Klassen zwar als Indiz für die Größe und Güte einer Schule, nicht jedoch für ihre ›Höhe‹ gelten.« 358 Zober (1839), S. 4. 359 Ders. (1841), S. 2. 360 Zit. nach Zober (1839), S. 40. 361 Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 393, 404, und Zober (1858), S. 3. 362 Vgl. S. 138 in dieser Arbeit.
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gen und Verpflichtungen, wie etwa die Unterweisung der Kurrendaner durch den Kantor oder andere Lehrer der Schule, gab es offenbar nicht. 1617 wurden unter dem Stralsunder Rektor Andreas Helwig eine Prima eingerichtet und die Septima bzw. Untersexta gleichzeitig abgeschafft. An der Anzahl von sieben lateinischen Klassen änderte sich somit nichts, sie wurden lediglich umbenannt. Die Schule verfügte fortan über folgende Klassen: Nulla, Sexta, Quinta, Quarta, Tertia, Sekunda und Prima363. Hinsichtlich der Klassenanzahl gab es am Stralsunder Gymnasium im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts keine gravierenden Veränderungen. Nach 1650 entstanden zwei deutsche Klassen mit den Bezeichnungen Septima und Oktava: die ›Germani superiores‹ und ›Germani inferiores‹364. Zwischen 1673 und 1679 wurden außerdem die Quinta und Quarta der Lateinschule zusammengelegt, aber dennoch von zwei Lehrern, u. a. vom Kantor, unterrichtet365. Hinsichtlich der Zählweise und Anzahl der Klassen hatte man sich bereits bei Gründung der Stralsunder Schule – im Gegensatz zu den Bestimmungen der pommerschen Kirchenordnung – nicht am dreiklassigen Schulmodell Melanchthons, sondern an dem durch Johannes Sturm propagierten neunklassigen Modell der protestantischen Gelehrtenschule orientiert, das außer in Süddeutschland vor allem in den großen Hansestädten aufgegriffen wurde. Erkennbar wird dies auch an der Zählweise der Klassen: Zählte man im Schultyp Melanchthons von unten nach oben, so galt im Sturmschen Modell – und damit auch in Stralsund – die Prima als oberste Klassenstufe366. Um in die nächste Klassenstufe versetzt zu werden, hatten die Stralsunder Schüler eine Prüfung abzulegen367, da es sich bei den Lateinschulklassen nicht um Jahrgangs-, sondern um Leistungsklassen handelte. Entsprechende Prüfungen fanden in Stralsund, wie auch in der pommerschen Kirchenordnung (1563) bestimmt368, zunächst zweimal jährlich öffentlich statt369. Mit Einführung der neuen Lektionspläne von 1617 wurde Zober zufolge nur noch einmal jährlich – 14 Tage vor Ostern – geprüft. Dazu waren auch die Stralsunder Einwohner geladen, die sich aktiv an der Befragung beteiligen durften370. Auswärtige Schüler, die bereits anderswo eine Lateinschule besucht hatten, wurden bei der Schulaufnahme examiniert und ihrem Leistungsstand entsprechend einer Klasse zugeteilt371. 363 364 365 366 367 368
Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 396, und Zober (1848), S. 3. Ebd., S. 7. Vgl. dazu auch S. 104 in dieser Arbeit. Seifert (1996), S. 301. Vgl. ebd., S. 302. »[…] de knaben, so vlitich gewesen unde geschickt bevunden, cum solemnitate in superiorem classem vel locum promoveret«, zit. nach Sehling (1911), S. 404. Die Prüfungen sollten in der vorösterlichen Fastenzeit und zu Michaelis erfolgen. 369 Zober (1839), S. 13. 370 Ders. (1848), S. 8, 10. 371 Vgl. die entsprechenden Bestimmungen der pommerschen Kirchenordnung von 1563 bei Sehling (1911), S. 401.
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Lehrer Der Klassenanzahl entsprechend lassen sich mit Rektor, Konrektor, Kantor, Subrektor, Concentor I, Concentor II und Succentor (bei Bartholdi auch: Concentor III372) bereits 1560 sieben Lehrer an der Stralsunder Lateinschule feststellen373. Bei vier von diesen Lehrern verweisen bereits die Bezeichnungen – Kantor, Concentor I und II, Succentor – auf ihre speziellen musikalischen Verpflichtungen. An der deutschen Klasse unterrichteten zwei Lehrer, die als Schreib- und Rechenmeister, deutsche Praeceptoren, Germanici primi und secundi oder hinsichtlich ihrer kirchenmusikalischen Verpflichtungen auch als Succentor II und III bezeichnet wurden374. Den Lateinschullehrern waren sie u. a. aufgrund ihrer nicht zwingend erforderlichen akademischen Bildung im Rang nachgeordnet. Der Küster des Heilgeisthospitals war zwar einziger Lehrer und Leiter der Kurrendeklasse, zählte jedoch nicht zum ordentlichen Kollegium der Schule375. Die Lehrer waren ihrer Rangfolge im Kollegium entsprechend vornehmlich einer Klassenstufe zugeordnet: »Sonst schall by einem jedern classe alle mahll ein sonderlick praeceptor thogegen sien«376, heißt es in der Stralsunder Schulordnung von 1561. Bis 1591 allerdings fand der schulische Unterricht – den Lektionsplänen von 1560 zufolge – zunächst zum Teil klassenübergreifend statt, was auch in der schulischen Raumsituation begründet gewesen sein mag377. Gemeinsam unterrichtet wurden die drei oberen (Quarta bis Sekunda) und die zwei unteren Schulstufen (Sexta und Quinta). In Nulla und Septima als vielleicht größte Klassen wurde separat gelehrt. Spätestens nach Einführung der zweiten Stralsunder Schulordnung von 1591 wurde stufen- bzw. klassenweise mit entsprechender Verteilung der Lehrerschaft unterrichtet. Davon ausgenommen blieb allein der Musikunterricht, der nach wie vor klassenübergreifend stattfand und in der Verantwortung des Kantors und der ihm nachgeordneten Concentoren bzw. des Succentors lag.
372 373 374 375 376
Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 403, sowie Zober (1841), S. 3. Ders. (1839), S. 4f. Ebd., S. 33, und Zober (1841), S. 3. Siehe S. 33f. in dieser Arbeit. Zit. nach Zober (1839), S. 41 (»Die älteste Schulordnung für das Stralsunder Gymnasium, vom Dec. 1561«). Da sich die Lehreranzahl bereits 1561 reduziert hatte (u. a. war das Subrektorat nicht besetzt), sollte die Klassenanzahl dieser Entwicklung notfalls wiederum angepasst werden. 377 Zober (ebd., S. 8) verweist auf die räumlichen Bedingungen zu dieser Zeit: »Auch lassen sich in der That nur fünf Räume nachweisen, in welchen unterrichtet werden konnte.« Vier Räume wurden dabei für den Unterricht der Lateinklassen und einer für die deutsche Sektion genutzt.
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Seit 1592 waren die Lehrer der Stralsunder Lateinschule wie folgt auf die Klassen verteilt378:379 Lehrer Rektor/Konrektor Subrektor Kantor Concentor I Concentor II Succentor
Klasse: nach 1592 Sekunda Tertia Quarta Quinta Obersexta/Sexta Untersexta/Septima
nach 1617 Prima Sekunda Tertia Quarta Quinta Sexta
nach 1643 Prima Sekunda Quarta Tertia Quinta Sexta
1673–1679379 Prima Sekunda Quarta/Quinta Tertia Quarta/Quinta Sexta
Tabelle 1: Verteilung der Klassen und Lehrer
Die Nulla hatte offenbar keinen eigenen Klassenlehrer und wurde vermutlich von den unteren Lateinschullehrern oder aber den deutschen Praeceptoren unterrichtet. Über die Lehrinhalte der einzelnen Schulstufen und die Zuständigkeiten der Lehrer informieren die später noch zu behandelnden Lektionspläne der Stralsunder Schule. Neue Lektionspläne wurden in Stralsund in den Jahren 1560, 1591, 1617, 1643 und um 1681 verabschiedet. 1591 und 1643 erfolgte dies im Zusammenhang mit neuen Schulordnungen. Schüler Für Lehre und Aufsicht zogen die Lehrer ältere Schüler unterstützend hinzu, die – als ›Paedagogi‹ oder ›Custodi‹ bezeichnet – jüngeren Schülern Nachhilfe erteilten und Aufsichtspflichten übernahmen380. Die Paedagogi nahmen zur Unterstützung des Kantors wohl auch an der samstäglichen Singestunde teil381. Hilfe erhielt der Kantor darüber hinaus von Chorpräfekten, -adjunkten und -censoren, bei denen es sich ebenfalls um ältere Schüler handelte, die sowohl organisatorisch als auch musikalisch für das ›Umsingen‹ der schulischen Chöre verantwortlich waren. In ihrem Gründungsjahr hatte die Stralsunder Schule etwa 350 Schüler382. Wie diese auf die einzelnen Klassen verteilt waren, ist unbekannt, doch lässt die Gesamtzahl der Schüler auf ausgesprochen starke Klassen schließen. Zober zufolge war über378 Seit dieser Zeit war das Subrektorat wieder besetzt. Vgl. Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 323, und Zober (1841), S. 29–31. 379 Vgl. dazu auch die Ausführungen zur Stellung des Kantors im Kollegium auf den S. 102– 104. Nach 1679 galten wiederum die 1643 herbeigeführten Verhältnisse. 380 Zober (1839), S. 10f. Bei den ›Paedagogi‹ handelte es sich um »ältere, vorgeschrittenere frühere Schüler«, die auch im Krankheitsfall der Lehrer einsprangen. Sie wohnten als Hauslehrer bei den Eltern wohlhabender jüngerer Schüler und wurden als dem Lehrkörper der Schule zugehörig betrachtet. Ebd. und ders. (1848), S. 12. 381 Vgl. dazu unten S. 113, mit Anm. 638. 382 Zober (1839), S. 5. Bei Gründung der Schule waren es sogar 500 Schüler, doch sank die Anzahl schon im ersten Vierteljahr deutlich auf nur noch 350.
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raschenderweise oftmals die oberste Klasse – Sekunda bzw. Prima – am zahlenmäßig stärksten383. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts sank die Schülerzahl auf zunächst 300384 und zum Ende des Jahrhunderts auf 200 bis 250 Schüler. Pest und Krieg führten in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zu weiteren Einbrüchen, sodass sich die Schülerzahl bis 1730 um die Hälfte reduzierte385.
Die Stralsunder Kantoren des 16. und 17. Jahrhunderts386 Amtszeit 1560–1562 1562–1563 1563– ~1581 ~1581–1591 1592–1623 1623–1646 1646–1671 1671–1676 1676 1676–1711
Kantor Johannes Lyrman Joachim Otto (?) Eucharius Hoffmann Jacob Ludovici Andreas Herlitz Johannes Hoevet Tobias Woltersdorff Heinrich Prumenthal Augustin Burmeister Hermann Scheven
Tabelle 2: Amtszeiten der Stralsunder Kantoren
Johannes Lyrman [Lirman, Lirmann, Lireman, Lyrmann, Lyrander] Als Stralsunder Kantor ist Lyrman 1560 durch ein Schreiben der Lehrerschaft an den städtischen Rat bezeugt387. Vermutlich ist er identisch mit dem in den Rostocker (1555) und Greifswalder (1559)388 Matrikeln als »Deminensis« erwähnten Johannes Lyrman. Bartholdi nennt ihn in seiner Schulgeschichte nicht389. Im Januar 1562 musste Lyrman seines »anstößigen Benehmens wegen bei der Einführung der beiden deutschen Schulpräceptoren« sein Amt niederlegen und zugleich seine ›Burse‹ räumen390. Weitere Informationen zu seinem Lebensweg gibt es nicht.
383 Ders. (1858), S. 18, und Zober (1848), S. 6. 384 Ebd., S. 7. 385 Zober (1858), S. 18. Vgl. dazu auch die allgemeine Entwicklung der Stralsunder Bevölkerungszahlen oben auf S. 30f. 386 Sofern bekannt, sind die Lebensdaten der Kantoren in Klammern beigefügt. 387 Lyrman unterschreibt als »Johannes Lyrman Cantor«. Vgl. Zober (1839), S. 47. 388 Schäfer (1919), S. 559; Friedländer (1893), S. 252. 389 Vgl. Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 184. 390 Vgl. Zober (1839), S. 5, 29f., und ders. (1841), S. 31. Zu den Wohnverhältnissen der Kantoren siehe unten S. 171.
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Joachim Otto (1536–6.9.1565) Nachfolger Lyrmans wurde wahrscheinlich der 1536 in Stralsund geborene Joachim Otto391. Zober zufolge hatte Otto in Rostock studiert, lässt sich in den Rostocker Matrikeln allerdings nicht nachweisen392. Von 1562 bis 1563 war er vermutlich Kantor an der Stralsunder Lateinschule und wechselte 1564 in das Predigeramt an St. Nikolai. Er starb schon ein Jahr später, am 6. September 1565, an der Pest393. Eucharius Hoffmann [Hofman, Hoffman]394 (um 1540–10.5.1588) Eucharius Hoffmann, der sich auf den Titelblättern seiner Werke als »FRANCO HELTBVRgensi[s]«395 bezeichnet, stammte aus dem fränkischen Heldburg im heutigen Kreis Hildburghausen in Thüringen. Köhler zufolge wurde Hoffmann um 1540 geboren396; 1561 ist er an der Jenaer Universität nachweisbar397. Bei dem 1566 in Rostock immatrikulierten Wendelin Hoffmann (»Heldburgensis Francus«) handelt es sich vielleicht um einen Bruder des Kantors398. 1563 übernahm Hoffmann das Stralsunder Kantorat399 und bezeichnete sich noch 1580 als Kantor400. Vermutlich 1581 wechselte Hoffmann – wohl als Nachfolger Philipp Wegeners – ins Stralsunder Konrektorat401. 1588 wurde er »zum
391 Zober (1839), S. 5, 29f., und ders. (1841), S. 31. 392 Vgl. Zober (1839), S. 5, Anm. 13, und Schäfer (1919). Ob es sich bei dem 1547 in den Greifswalder Matrikeln (Friedländer 1893, S. 219) erwähnten Joachim Otto um den späteren Stralsunder Kantor handelt, ist ungewiss. Nach dem von Zober angegebenen Geburtsjahr wäre Otto zu dieser Zeit erst elf Jahre alt gewesen. Seifert zufolge (1996, S. 199) lag das durchschnittliche Immatrikulationsalter an den Universitäten bei etwa 16 Jahren, allerdings war »ein Großteil der Studenten […] folglich noch um einiges jünger«. Möglich waren außerdem Vorimmatrikulationen, von denen jedoch nicht automatisch auf den später tatsächlich besuchten Studienort geschlossen werden kann. 393 Zober (1870), S. 378. 394 Vgl. zu Hoffmann auch Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 184f., Ruhnke (1957) sowie Bugenhagen (2003). 395 Vgl. den Titel seiner CANTICA SACRA NOVEM (Greifswald 1582) im Werkverzeichnis auf S. 385. 396 Köhler (1997), S. 495. Folgt man dieser Angabe, wäre Hoffmann zu seinen Jenaer Studienzeiten allerdings schon 21 Jahre alt gewesen. 397 Mentz/Jauernig (1944), S. 161. 398 Schäfer (1919), S. 383. 399 Er gibt im Vorwort seiner MVSICÆ PRACTICÆ PRÆCEPTA (Wittenberg 1572) vom Juli 1571 an, seit acht Jahren Kantor in Stralsund zu sein. 400 Siehe den Titel von Hoffmanns Erstem theil geistlicher Lieder (Rostock 1580) im Werkverzeichnis auf S. 385. 401 Auf den Titelblättern der CANTICA SACRA NOVEM (1582) sowie der DOCTRINA DE TONIS heißt es 1582: »Conrectore Stralsundanæ Scholæ«. Zober (1841, S. 30f.) führt Hoffmann nicht als Konrektor auf, berichtet aber vom Wechsel Wegeners an die Universität Greifswald um 1577. Als Nachfolger Wegeners benennt Zober Antonius Möller, der allerdings erst 1591 nachweisbar ist. Hoffmanns Amtszeit als Stralsunder Konrektor (um 1581 bis 1588) fügt sich demnach gut in die Angaben Zobers ein. Von 1581 liegt auch eine Be-
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Mithelfer in S. Marien Kirche im heiligen Predigampt [...] berupfen«402, wo er am 28. April 1588 seine Antrittspredigt hielt, jedoch schon einige Tage später (am 10. Mai) verstarb403. Hoffmann hinterließ eine Reihe musikalischer und musikpädagogischer Werke. Seine vier- bis achtstimmigen Vokalkompositionen, darunter Tenormotetten älteren Stils, sind zum Teil noch in lateinischer Sprache verfasst404. Von Bedeutung für den pommerschen Musikunterricht sind vor allem seine MVSICÆ PRACTICÆ PRÆCEPTA (Wittenberg 11572), die auch von Seiten der pommerschen Kirchenobrigkeit als offizielles Lehrbuch empfohlen wurden405 und sich – wie die Wiederauflagen zeigen – einiger Beliebtheit erfreuten406. Mit seinen musikalischen Werken deckte Hoffmann – u. a. im Auftrag des Stralsunder Rates – den Bedarf an neuer Kirchenmusik nach Einführung der Reformation407. Jacob Ludovici408 Herkunft und Identität von Hoffmanns Nachfolger sind unbekannt. Ludovici hatte das Stralsunder Kantorat wohl seit Hoffmanns Wechsel ins Konrektorat um 1581 inne409. Ob er identisch mit dem in den Universitätsmatrikeln zu Wittenberg (1568), Leipzig (1569), Rostock (1572) und/oder Frankfurt a. d. Oder) (1575)410 erwähnten »Rupinensis« Jacobus Ludovici/Ludwig ist, bleibt ungewiss.
402
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werbung des Stargarder Kantors Joachim Belitz um das zu dieser Zeit vermutlich vakante Stralsunder Kantorat vor. Siehe dazu S. 93. StAS Rep 28-179 Bestallung des Eucharius Hofmann zum Predigeramte a. d. Marienkirche 1588. In dem Schreiben berichtet der Generalsuperintendent von Pommern-Wolgast Runge, dass Hoffmann ihn – ausgerüstet mit einem Brief des Stralsunder Rates – um Examinierung, Ordination und Institution als Prediger gebeten habe. Runge musste ihn auf die Zeit nach Ostern vertrösten und beklagt sich über die »schriftliche Praesentation, welche der Erbar Radt Euchario hat gegeben«, da diese »in gemein dermassen ist formiret, das einer der sie lieset, nicht kan wissen ob sie den General Superintendenten zu Güstrow oder in der Marck Brandenburg oder zu Stettin, oder im Hertzogthum Braunschweig oder mich ungeschickten hir in Pomrischer Wolgastischer Regirung angehet«. Hintergrund sind auch hier vermutlich noch immer die Streitigkeiten zwischen dem Stralsunder Rat und der Landesobrigkeit um die Kirchenhoheit in der Stadt. Runge bat um eine neue »Praesentation« und um Stillschweigen in dieser Angelegenheit. Fabricius/Lobes (1723), S. 59 (Nr. 46), und Zober (1841), S. 31. Unter anderem XXIIII. CANTIONES (1577), CANTICA SACRA NOVEM (1582). Vgl. zum Werk Hoffmanns auch Engel (1935), Kompositionen. Vgl. etwa die Vorrede des pommerschen Generalsuperintendenten Jakob Runge in der dritten Auflage des Werkes (Hamburg 1588). Siehe dazu auch S. 120f. in der vorliegenden Arbeit. Vgl. zu den Auflagen das Werkverzeichnis im Anhang auf S. 386. Vgl. dazu unten S. 152 und 156f. Vgl. zu Ludovici auch Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 185. Zober (1841, S. 31) gibt dafür erst 1588 an. Förstemann/Hartwig (1894/1976), S. 144b; Erler (1909), Bd. 1, S. 274; Schäfer (1919), S. 590; Friedländer (1887), S. 244.
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Abbildung 2: Andreas Herlitz – Stralsunder Kantor von 1592 bis 1623
Andreas Herlitz (1565–23.9.1623)411 Andreas Herlitz entstammte einer wohlhabenden Zeitzer Familie und wurde dort 1565 als zweitältester von drei später in Pommern wirkenden Brüdern geboren412. Er besuchte die Lateinschule in Weyda, der Heimatstadt seiner Mutter. Anschließend studierte er – zum Teil gemeinsam mit seinem Bruder Elias – in Leipzig (1582)413, Greifswald (1586)414 und Wittenberg (1587)415 und wurde 1588 Kantor in Prenzlau416. Nach zwei Jahren wechselte Herlitz 1590 ins Greifswalder Kantorat417 und wurde wiederum zwei Jahre später (1592) als Kantor nach Stralsund berufen418. Sein Bruder Elias übernahm im selben Jahr das Organistenamt an St. Nikolai. Zum Amtsantritt von Andreas Herlitz verfassten Elias und David Herlitz jeweils
411 Vgl. zu Herlitz auch Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 185–193. 412 Elias Herlitz (1566/67–1615; siehe unten S. 193) war Stralsunder Nikolaiorganist; David Herlitz (1557–1636) war Professor für Mathematik und einer der berühmtesten deutschen Astronomen, Rektor der Greifswalder Universität (1597) und später Mediziner in Stargard und Lübeck. Er verfasste zahlreiche Schriften. Vgl. die von Nils Herlitz (1888–1978), Jurist und Nachfahre der Herlitz-Familie, verfasste Familiengeschichte: Herlitz Familie Arkiv (HFA) I Släkthistoria (Ms.). Ich danke Marco Pohlmann-Linke (Greifswald) für seine Bemühungen und der Familie Herlitz für die Bereitstellung des Manuskripts, das sich in einem Exemplar auch in der Greifswalder Universitätsbibliothek befindet: Herlitz (1931). Vgl. zu David Herlitz auch Pyl (1880). 413 Erler (1909), Bd. 1, S. 181. Der Matrikeleintrag stammt von 1582. In der Lpd. für Andreas Herlitz (StAS A 4o 262 Nr. 11, fol. F) heißt es davon abweichend: »Darauff er denn ferner im 18. Jahre seines alters/ Anno 1583. mit seinem seligen Bruder Elia, nach Leipzig auff die Academiam verschickt worden.« 414 Friedländer (1893), S. 331. Auch in Greifswald studierten die Brüder gemeinsam. 415 Förstemann/Hartwig (1894/1976), S. 353b. 416 Köhler (1997), S. 494. 417 Zober (1841), S. 31. 418 Für Köhlers (1997, S. 494) Angabe, Herlitz sei von 1596 bis 1614 Kantor in Greifswald gewesen, gibt es keine weiteren Anhaltspunkte.
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ein lateinisches Glückwunschgedicht419. Auch zur Hochzeit von Andreas Herlitz mit Margareta Gesewitz aus Prenzlau 1593 schrieb David Herlitz ein Gedicht, das heute in den Vitae Pomeranorum in der Greifswalder Universitätsbibliothek überliefert ist420. Herlitz blieb bis zu seinem Tod am 23. September 1623 Stralsunder Kantor421. Stellenangebote in Hamburg und Zeitz (vor 1614) hatte er offenbar ausgeschlagen, was er später bedauerte422. Im Stralsunder Stadtarchiv ist die von Heinrich Boltenius gehaltene Leichenpredigt auf Andreas Herlitz überliefert423. Das von David Herlitz für seinen Bruder gesetzte Epitaph mit Bildnis in St. Nikolai in Stralsund ist offenbar nicht erhalten424. Ein Sohn des Kantors, Andreas (I), war zunächst Kantor in Kiel (1622–1625) und anschließend in Lübeck (ab April 1625), wo er am 24. Januar 1630 verstarb425. In Stralsund hatte er ein Stipendium der Lateinschule erhalten426. Johannes Hoevet [Hövet, Haupt] (begr. 4.2.1646)427 Hoevet entstammte einer angesehenen Stralsunder Familie und studierte 1611 an der Rostocker Universität428. Nach seinem Amtsantritt als Stralsunder Kantor (1623) hei-
419 Siehe das Werkverzeichnis auf S. 384. 420 Problema Medicum | M. Dauidis Herlicij Medici, & Mathematici in | Academia Gryphisuualdensi, | AD | ANDREAM | HERLICIVM CANTO= | REM […] FRA- | trem charissimum, celebrantem nuptias […] cum pudicissima Virgine MARGA- | RETA GESEVITIA, D-GRu Sign. VP 83/XXXIX (1593), 469–472. Bei den Vitae Pomeranorum handelt es sich um eine Sammlung von Personalschriften. 421 Vgl. die Lpd. in: StAS Sign. A 4o 262 Nr. 11, fol. F iij, sowie StAS Rep 28-1029a St. Nikolai Kirchenregister 1602–1628 [25.9.1623]. Am 25.9.1623 wurde er begraben. 422 »Solcher querelarum aber hette ich vielleicht nicht bedurfft, wen ich vor etlichen iahren dem glucke nicht auß dem wege gelauffen vnd die ahngebotenen conditiones sowohl in der stadt Hamburg, als in meinem patria außgeschlagen hette.« Zit. nach Zober (1848), S. 75. Zober druckt hier eine Klage Herlitz‘ an die kirchliche Visitationskommission von 1614 ab. 423 StAS Sign. A 4o 262 Nr. 11. 424 Allerdings gibt es eine – qualitativ schlechte – Aufnahme des heute verlorenen Bildnisses in der Herlitzschen Familiengeschichte (vgl. Anm. 267). Siehe das Bildnis oben auf S. 78. 425 Vgl. Stahl (1952), S. 50. 426 Zober (1841), S. 17. 1621 und 1622 erhielt Andreas Herlitz eine finanzielle Unterstützung von St. Nikolai in Stralsund für das Studium seines Sohnes in Greifswald. Vgl. StAS Rep 28-1029a St. Nikolai Kirchenregister 1602–1628 [30.8.1621, 12.6.1622]. Ob es sich dabei um denselben Sohn handelte, der dem Giese-Nachlass zufolge bereits 1612 als Sänger am Wolgaster Hof aufwartete und für den Andreas Herlitz den pommerschen Herzog Philipp Julius um eine gute Schulausbildung und ein Stipendium nach der Mutation gebeten hatte, bleibt ungewiss. Vgl. AStM GN (Ordner »H«). 427 Vgl. zu Hoevet auch Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 192, und Dähnert (1755), S. 89. 428 Schäfer (1919), S. 350: »Haupt, Johannes – ›Sundensis Pomeranus‹«.
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ratete er am 11. Oktober 1624 Catharina Herlitz, die Tochter seines Amtsvorgängers429. Hoevet wurde am 4. Februar 1646 in Stralsund begraben430. Ein gleichnamiger, 1672 in Stralsund geborener Nachkomme der Familie war von 1699 bis 1701 Rektor der Rostocker Lateinschule431. Tobias Woltersdorff († 13.1.1671)432 Woltersdorff stammte aus Kyritz in Brandenburg433. Er studierte 1643 in Greifswald434 und verwaltete das Stralsunder Kantorat bereits 1646 im Gnadenjahr der Witwe Hoevets435. 1647 heiratete Woltersdorff Margareta Hoevet, die Tochter seines Vorgängers436. Er starb am 13. Januar 1671 und wurde zwei Tage später beerdigt437. Mattheson zufolge war Woltersdorff musikalischer Lehrer des Rostocker Marienkantors Gottfried Krause438. Heinrich Prumenthal [Brumendahl, Brummendahl, Brummendal, Prummenthal] (22.11.1635–31.1.1676)439 Prumenthal wurde am 22. November 1635 in Stralsund geboren440. In den Greifswalder und Wittenberger Matrikeln lässt sich 1650 bzw. 1657 ein »Henricus Prummen429 Schubert (1987), Nr. 2988. Von St. Nikolai bekam Hoevet zu seiner Hochzeit 24 MS. Vgl. AStN R 19/N 6 Paetzken Register 1613–1654 [1624], fol. 29. 430 Vgl. StAS Hs. 377 Todten Register von S. Marien Kirche 1629–1685 [1646], fol. 131v, und AStN R 33a Begräbnis-Register 1629–1673 [1646]. 431 Neumann (1930), S. 116. 432 Vgl. zu Woltersdorff auch Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 192f. und 355. 433 Er nannte sich »Kirizensis Marchiacus«. Vgl. Friedländer (1893), S. 623. 434 Ebd. 435 Vgl. StAS Rep 38-1526 Städtisches Ausgaberegister 1647, fol. 28: »Den 24. May. auf E. E. hochw. Rahts Verordnung Dno. Cantori Tobiae Woltersdorff, das er in des Vorigen Cantoris Witwen gnaden Jahr bey der schulen Undt in Kirchen aufgewartet, Undt der Witwen alte accidentia zur fließen laßen, Ihme bezahlett 270 fl = 810 MS.« 436 Schubert (1987), Nr. 3007. Auch Woltersdorff bekam anlässlich seiner Hochzeit 24 MS von St. Nikolai. AStN R 19/N 6 Paetzken Register 1613–1654 [1647], fol. 82. 437 Zober (1848), S. 38, sowie AStN R 33a Begräbnis-Register 1629–1673 [15.1.1671]. 438 Mattheson (1740/1910), S. 143f. Woltersdorff habe ihn in der »Singekunst« unterwiesen und »in den musikalischen Chor aufgenommen«. Außerdem hatte Krause offenbar in Stralsund Klavierunterricht bei (Johann?) Neukrantz, über den sich in Stralsund allerdings keine weiteren Informationen finden lassen. Nach dem Studium in Greifswald war Krause, wie Mattheson berichtet, noch einmal in Stralsund und wirkte hier als Notar, bevor er 1682 schließlich Kantor in Rostock wurde. 439 Vgl. zu Prumenthal auch Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 355–357. 440 Die Lebensdaten lassen sich dem in St. Nikolai in Stralsund überlieferten Epitaph mit Bildnis Prumenthals (siehe Abb. 3 auf S. 81) entnehmen. In einer Inschrift unterhalb des Porträts des Verstorbenen heißt es: »Herr | Henricus Prum[m]enthal | Musices Director und wollverdienter | Collega des Gymnasÿ in Stralsund | ist gebohren ANNO 1635 d. 22. November | gestorben ANNO 1676 d. 31. January | Seines Alters 40: Jahr 2 Monath | und 9 Tage.« Oberhalb des Bildnisses befinden sich zwei weitere Inschriften: »Herr ich bin zu |
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Abbildung 3: Heinrich Prumenthal – Stralsunder Kantor von 1671 bis 1676
gering aller Barmhertzig: | keit und aller Treüe die | du an deinem Knechte | gethan hast« und »Ehre sey | Gott in | der Höhe«.
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thal, Stralsundensis« bzw. ein »Henricus Prumendal, Strals. Pomeranus« nachweisen, bei dem es sich vielleicht um den Stralsunder Kantor handelte441. 1671 erwarb Prumenthal das Stralsunder Bürgerrecht442 und heiratete im selben Jahr Maria Woltersdorff, die Tochter seines Amtsvorgängers443. Prumenthal starb, wie übrigens auch seine Frau, am 31. Januar 1676444. Auf seinen und den Tod von Frau und Schwiegermutter hin erschien im selben Jahr eine von Stralsunder Theologen und Lehrern der Lateinschule verfasste Epicedien-Sammlung445. Das Bildnis Prumenthals auf seinem Epitaph in der Stralsunder Nikolaikirche zeigt den Kantor mit einem Notenblatt. Darauf sind Text und Melodie der letzten beiden Zeilen aus der Schlussstrophe des Liedes »Jesus, meine Zuversicht« (Text von Louise Henriette, Kurfürstin von Brandenburg, Melodie von Johann Crüger) notiert.
Notenbeispiel 1
Christian Bernhard Prummenthal, vermutlich ein Sohn des Kantors, war 1692 als Primaner an der Aufführung von Jacob Wolfs Feuer= Und Schwerdt=Bühne/ Der Durchleuchtigsten Pomeris Ältesten Tochter Aktinoporthmus/ Sonst Strahlsundische Mnemosyne genant (Stralsund 1692) an der Stralsunder Lateinschule beteiligt446.
441 Friedländer (1894), S. 37; Weissenborn (1934), S. 561. Allerdings war Prumenthal zu dieser Zeit erst fünf bzw. zwölf Jahre alt. Siehe die Bemerkungen zum Immatrikulationsalter oben auf S. 76, Anm. 392. 442 StAS Bürgerbücher (digitalisiert). Dass er das Kantorat übernehmen würde, stand zu dieser Zeit vermutlich noch nicht fest – als Schullehrer nämlich blieb er vom Bürgerrechtserwerb ausgenommen. Vgl. dazu oben S. 34. 443 Schubert (1987), Nr. 3045. Im Ausgaberegister der Nikolaikirche heißt es dazu: »7. Oct. Auff meine Hhl. Collegen consens des Sehl. Cantoris Tobias Woltersdorffen Wittwen zu ihrer Tochter Hochzeit mit itzigen Cantore wegen der Kirche verehret 30 MS Heinrico Prummenthal«, StAS Rep 28-554 St. Nikolai Landregister 1655–1680 [1671]. 444 Um dieselbe Zeit verstarb auch die Schwiegermutter Prumenthals und wurde gemeinsam mit Tochter und Schwiegersohn am 4. Februar 1676 beerdigt: »4.2.1676: Hinrich Brummenthal Cantor, mit seiner frauwen und frauwen Mutter, beerdiget frey o MS«, AStN R 34 Begräbnisregister 1654–1693 [1676], fol. 544. 445 StAS Sign. A 4o 263 Nr. 37: Freunde in derNoht/ Freunde in dem Tod/ Sind gewesen Der WohlEhrenveste/ VorAchtbare und Wolgelahrte Herr Henricus Prummenthal/ Musices Director, und wohlverdienter Collega des Gymnasii in Stralsund/ […] (Stralsund 1676). 446 Wolfs Feuer= Und Schwerdt=Bühne (1692), in: D-GRu Sign. 523/ Ob 581 1 + 2, S. 20f.
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Augustin Burmeister († 7.5.1676)447 Burmeister stammte aus Anklam und verstarb am 7. Mai 1676 nach nur sieben Wochen im Stralsunder Amt448. Studiert hatte er in Greifswald (1668) und Rostock (1674)449. Im Stadtarchiv Stralsund ist ein auf den Tod Burmeisters veröffentlichter Druck mit Epicedien Stralsunder Lateinschullehrer überliefert450. Hermann Scheven [Schevenius] († 1711)451 Scheven stammte aus Mühlhausen im heutigen Landkreis Waldeck-Frankenberg und war spätestens seit Oktober 1676 Kantor in Stralsund452. Zober zufolge hatte Scheven gemeinsam mit zwei Brüdern bereits 1668 das Stralsunder Gymnasium besucht und dabei »Unterstützungen« (wohl ein Stipendium) genossen453. Für dasselbe Jahr lässt sich Scheven mit seinen Brüdern Hinrich und Johann Martin an der Greifswalder Universität nachweisen454. Über seine Stralsunder Amtszeit gibt es kaum Quellen. Zober zufolge habe Scheven »über ein Menschenalter hindurch den Ruhm eines geschickten Musik=Directors und wackern Lehrers« genossen455.
Caspar Movius [Mau] (26.10.1610–24.1.1671)456 Caspar Movius zählt nicht zu den Stralsunder Kantoren, hat jedoch der Schule als Sub- und Konrektor eine Vielzahl musikalischer Werke hinterlassen und soll deshalb an dieser Stelle erwähnt werden. Movius wurde am 26. Oktober 1610 in Lenzen an der Elbe geboren457. Er
447 Vgl. zu Burmeister auch Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 358. 448 Vgl. Zober (1848), S. 38; StAS Hs. 377 Todten Register von S. Marien Kirche 1629–1685 [7.5.1676], fol. 308; sowie AStN R 34 Begräbnisregister 1654–1693 [1676], fol. 562. 449 Friedländer (1894), S. 120; Schäfer (1919), S. 131. 450 Vgl. StAS Sign. A 4o 263 Nr. 38: Pereximium, doctissimum, atq[ue] humanissimum Dn. Augustinum Burmeisterum Musicæ in Gymnasio Stralesundensi Directorem (Stralsund 1676). 451 Vgl. zu Scheven auch Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 359f. 452 StAS Rep 28-554 St. Nikolai Landregister 1655–1680 [1676]. Zober (1848, S. 38) gibt den Amtsantritt erst für 1677 an, allerdings hatte Scheven bereits am 17. Oktober 1676 »die Jungfer Anna Margrete Smiterlowen« geheiratet und war im Trauregister bereits als »Cantor« bezeichnet worden. Vgl. Schubert ( 1987), Nr. 3064. Nach dem Tod seiner ersten Frau (Vgl. StAS Hs. 377 Todten Register von S. Marien Kirche 1629–1685, fol. 329v [5.5.1678]), ging Scheven 1680 eine zweite Ehe mit Catherina Hochmuthes ein. Vgl. Schubert (1987), Nr. 3073. 453 Zober (1848), S. 38. 454 Friedländer (1894), S. 113. Der Matrikeleintrag für Hermann Scheven (»Müllhauso-Waldeccus ex Westphalia«) stammt vom 11. Februar 1668. Hinrich und Johann Martin Scheven ließen sich am 30. März desselben Jahres einschreiben. Zober (1848, S. 38) gibt die Herkunft der Schevenbrüder mit Minden an, belegt diese Angabe jedoch nicht. 455 Ebd., S. 38. 456 Vgl. zu Movius auch Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 299–303, und Bugenhagen (2004). 457 Ich danke Georg Grüneberg (Genealogisches Archiv in Lenzen) für diese Auskunft.
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studierte von 1628 bis 1634 vermutlich in Rostock458 und wurde im selben Jahr als Subrektor an das Stralsunder Gymnasium berufen. 1661 ging Movius, nach dem Tod seiner ersten Ehefrau Maria Rölen459, eine zweite Ehe mit Maria Kiejnen, geb. Struck(es), ein460. Aus seiner ersten Ehe stammten wenigstens vier Kinder. 1667 stieg Movius zum Stralsunder Konrektor auf461 und verblieb in diesem Amt bis zu seinem Tod am 24. Januar 1671462. Sein Sohn Friedrich (1641–1696) war Syndikus in Stargard463 und Professor464 am Stettiner Gymnasium. Wie die Überlieferung zeigt, waren Movius’ ausschließlich geistliche Kompositionen im gesamten Ostseeraum ausgesprochen beliebt. Im Catalogus Librorum des Gymnasiums im dänischen Frederiksbørg etwa sind sowohl seine HYMNODIA SACRA, sein TRIUMPHUS MUSICUS SPIRITUALIS als auch seine Cithara Davidica aufgeführt465. Auch im schwedischen Strängnäs-Gymnasium waren die HYMNODIA SACRA in der Fassung von 1639 sowie der TRIUMPHUS MUSICUS vorhanden466. Ein Musikalienverzeichnis der Kathedralschule im finnischen Turku aus den 1670er-Jahren führt Movius’ PSALMODIA SACRA NOVA von 1636 auf467. Movius verwendet im Übrigen als 458 Hofmeister (1895), S. 72. Auf dem Titelblatt seiner 1634 in Rostock erschienenen HYMNODIA SACRA bezeichnet sich Movius als »SS. Theol. Studioso«. Siehe das Werkverzeichnis auf S. 388. Bei dem 1629 in den Matrikeln der Greifswalder Universität (Friedländer 1893, S. 514) erwähnten Licentiaten Caspar Movius handelt es sich offenbar um einen gleichnamigen Theologen, der nach Jöcher (1751/1961, S. 718) aus Parchim stammte, Pastor in Cauen in Litauen wurde und bereits 1639 verstarb. 459 Vgl. StAS Test. M 11. 460 Schubert (1987), Nr. 3019. Die Hochzeitsfeier fand im Haus des Kantors Woltersdorff statt. Ebd. Von seinem Sohn Friedrich ist ein Gelegenheitsdruck anlässlich der Hochzeit seines Vaters überliefert. StAS Sign. A 4o 264 Nr. 60: Kindliche Pflicht/ Welche/ da sein hochgeehrter/ hertzlieber Herr Vater/ Herr Casparus Movius/ wolverdienter SubRector des Gymnasii [...] Sich mit der [...] Frauen/ Fr. Maria Strukes/ Sehl. Hn. JOHAN KIEJNEN/ vornehmen Bürger und Handels-Mann daselbst hinterlassenen Witwen anderweit in den Stand der heiligen Ehe begeben im Jahr 1661 (Stralsund 1661). 461 StAS Rep 22-49a Berufung von Lehrern des Gymnasiums 1601–1721 [14.12.1666, 17.12.1666]. Vgl. die entsprechende Vokation im Anhang auf S. 360. 462 Überliefert ist ein Testament von Caspar Movius aus dem Jahre 1665, das detaillierte Auskünfte zu den Kindern des Konrektors liefert. Den testamentarischen Angaben zufolge war Movius ausgesprochen wohlhabend. Vgl. StAS Test. M 11. Bartholdi (StAS Hs. 434, fol. 301) berichtet, dass er bereits 1663 an einer Lungenkrankheit litt. 463 Vgl. den Trauerdruck zum Tod von Friedrich Movius im Stralsunder Stadtarchiv: StAS A fol. 314 Nr. 73. 464 Jöcher (1751/1961), S. 718. 465 Catalogus Librorum Viri Clarissimi M. Alberti Bartholini In Regio Gymnasio Fridericiburgensi, dum vixit, Rectoris emeriti (Hafniae/Kopenhagen 1663), In Qvarto Nr. 36, 37; In Octavo Nr. 10. Ich danke Bjarke Moe für diese Auskunft. Vgl. Movius‘ Werke im Werkverzeichnis auf S. 388f. 466 Vgl. Davidsson (1976), S. 49f., 52, 59f. 467 Viergutz (2005), S. 70. Außerdem sind seine HYMNODIA SACRA (1. + 2. Auflage) sowie eine vermutlich nicht überlieferte Hochzeit-MUSIC des Subrektors für zwei Singstimmen
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erster pommerscher Komponist den Generalbass. Die in den Sammlungen von 1634, 1636 und 1639 erschienenen Konzerte sind mit zwei bis drei Vokalstimmen und Generalbass geringstimmig besetzt. In der HYMNODIA SACRA von 1639 textiert Movius den Generalbass allerdings für eine rein vokale Aufführung468. Neben 20 Konzerten enthält die Sammlung außerdem vier Gelegenheitswerke des Musikers anlässlich von Hochzeiten und einer Magisterverleihung offensichtlich aus seiner Rostocker Studienzeit. Dass Movius mit der Anlage seiner Konzerte auch auf die örtlichen Gegebenheiten reagierte, mag die Vorrede der PSALMODIA SACRA NOVA verdeutlichen. Hier heißt es: »Allhier hastu/ lieber Leser/ meine Psalmodiam novam, die du wegen der wenigen Stimmen/ vnd etlicher massen leichter Materiæ, füglich nach belieben wirst gebrauchen können. Hette sie zwar wol mit einem buntern Kleide behangen/ vnd besser mit Farben anstreichen sollen: Aber weil ich erfahren/ daß meine vorige Hymnodia eben darumb/ dieweil sie nicht gar zu schwer colorirte Sachen in sich gehabt/ zimbliche Liebhaber gefunden […] habe ich diese auch nur schlecht vnd recht abschicken wollen.«469
Gleichzeitig kündigt er an, dass von ihm »künfftig noch etwas mehres an Concerten/ etwa die Teutschen Evangelia/ oder andere vielstimmige Gesänge« zu erwarten seien470. 1640 erschien sein TRIUMPHUS MUSICUS SPIRITUALIS für sechs bis acht Vokaloder Instrumentalstimmen (Hoch-/Tiefchor) und Generalbass als sein einziges größer besetztes Werk471.
1.2.1 Ausbildung der Kantoren und Anforderungen an die Stralsunder Amtsinhaber Wie für die höheren Lehrämter an den Lateinschulen der Zeit üblich, zählte auch für Kantoren der Besuch von Lateinschule und Universität zum regulären Bildungsweg472. Den übrigen musikalischen Berufsständen – Organist und Stadtmusiker – war der Kantor als ›litteratus‹ damit hinsichtlich seiner Ausbildung in der Regel überlegen473. Außerdem bestimmte die akademische Bildung auch den gesellschaftlichen Status der Kantoren: Sie zählten – wie auch die anderen Lateinschullehrer – zum ersten der drei und fünf Instrumente in einem Lübecker Auktionskatalog von 1695 verzeichnet. Rose (2008), S. 176, 184f. 468 Vgl. dazu unten S. 153. 469 Vgl. die Vorrede im Generalbassstimmbuch der PSALMODIA SACRA NOVA (1636). Die Sammlung enthält 26 geistliche Konzerte nach dem Kirchenjahr, beginnend mit der Passionszeit, sowie vier Magnificatvertonungen im fünften bis achten Kirchenton. 470 Ebd. 471 Enthalten sind zehn Konzerte auf zumeist Psalmtexte. 472 Vgl. Krickeberg (1965), S. 35. 473 Vgl. allerdings die Ausführungen auf S. 224–227 zum Universitätsstudium der Organisten.
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Bürgerstände, während die Lehrer »in den deutschen Classibus in den andern [zweiten] Stand gesetzet« wurden474. Die für ihren Beruf notwendigen musikalischen Voraussetzungen – sängerische und chorleiterische Fertigkeiten sowie musiktheoretisches Wissen – erwarben die Kantoren zumeist »nebenher privatim«475 bzw. während ihrer eigenen Lateinschulzeit.
1.2.1.1 Akademische Ausbildung Eine akademische Ausbildung wurde für Kantoren weniger aufgrund ihrer musikalischen Amtsverpflichtungen als ihrer Aufgaben als (Alt-)Sprachenlehrer erforderlich, wie es auch Küster feststellt: »Als ›collega tertius‹ war er [der Kantor] für die umfassende, auf Syntax ausgerichtete Zusammenführung der elementaren Lateinkenntnisse zuständig. Dies – mehr als der Musikunterricht oder gar die Musikerfunktion in der Kirche – umschreibt sein Tätigkeitsspektrum und begründet, warum Kantoren Akademiker sein sollten.«476
Umgekehrt lässt es sich als Indiz für ein stärker musikalisch ausgerichtetes Kantorat deuten, wenn bei der Besetzung des Amtes im 17. Jahrhundert auf universitäre Bildung verzichtet wurde. Niemöllers Bemerkung, dass im nachreformatorischen 16. Jahrhundert »nicht einmal an den bedeutenden Schulen [...] der Cantor immer eine Universitätsausbildung« besaß477, ist der zunächst schrittweisen Etablierung des Amtes während dieser Zeit geschuldet. Zur Vorschrift wurde die akademische Ausbildung für das höhere Lehramt erst im Verlauf des 16. Jahrhunderts, wie es Ptaszyński auch für die pommersche Geistlichkeit feststellt478. In Stralsund suchte man jedoch offenbar bereits seit Gründung der Schule nach gut qualifizierten Fachkräften im Kantorat und auf den übrigen höheren Lehramtsposten. Schon seit 1560 lassen sich nahezu alle Stralsunder Kantoren an Universitäten nachweisen479. 474 StAS Rep 3-1487 Alphabetisches Register über rechtliche Vorgänge (Bruchstück) F–P
16.–18. Jh. [3.1.1650, »Kleiderordnung«]. Siehe auch oben S. 34f.
475 Stahl (1952), S. 51. 476 Küster (2005), S. 79. 477 Niemöller (1969), S. 640. Dem widerspricht die Aussage Werners (1932/1979, S. 121): »Universitätsbildung war für die Verwaltung des städtischen Kantorats überall Voraussetzung.« Doch führt Werner das Beispiel Adam Puschmanns an, der ohne Universitätsstudium 1569 Kantor in Görlitz wurde. 478 Ptaszyński (2010), S. 88. Siehe auch S. 59, Anm. 284 in dieser Arbeit. Seifert (1996, S. 274) zufolge stieg der »Anteil der akademisch oder höherschulisch gebildeten Geistlichkeit« bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts »bis nahe an die Hundertprozentgrenze an«. 479 Vgl. die biographischen Angaben zu den Kantoren oben auf S. 75–83 sowie die Tabelle zu ihrem Universitätsbesuch unten auf S. 88. Im Übrigen hatte schon Bugenhagen in der pommerschen Kirchenordnung von 1535 die Anstellung »gelerder lüde« im Schulamt gefordert. Vgl. Sehling (1911), S. 333.
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Als zukünftige Lateinschullehrer hatten die Kantoratsanwärter wenigstens die Artistenfakultät zu absolvieren480. Dass sie darüber hinaus oftmals studierte Theologen waren, kann aus dem Übertritt etlicher Kantoren in theologische Ämter geschlossen werden. Seifert bezeichnet das gymnasiale Lehramt in diesem Zusammenhang gar als »Warte- und Durchgangsstellung für das protestantische Pfarramt«481. Von den drei ›oberen‹ Stralsunder Schullehrern – Rektor, Konrektor, Subrektor bzw. Kantor482 – wurde Bartholdi zufolge schon seit Schulgründung ein Magisterabschluss verlangt483. Da sich allerdings in den ersten Jahren seit Bestehen der Schule nicht immer geeignete Kandidaten für sämtliche Lateinschullehrerposten finden ließen, gab es zunächst auch Ausnahmen von dieser Regelung484. Dennoch hatte vermutlich schon der erste Stralsunder Kantor nach Schulgründung, Johannes Lyrman, einen Magisterabschluss erworben: »Ultimo Januarii anni 1559 celebrata est honorifica magistrorum et baccalaureorum promotio communi facultatis decreto. [...] Magistrandi: [...] dns. Johannes Lyrander, Deminensis.«485 Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts festigten sich die Vorgaben aufgrund einer entspannteren Personalsituation. Im Falle der Stralsunder Kantoren wurden mit zunehmend gesicherten Amtsstrukturen offenbar auch die musikalischen Fähigkeiten der Bewerber stärker beachtet: Nach Prützes Kirchenordnung für Stralsund (Anfang 17. Jh.) konnte bei guter musikalischer Eignung auf den Magisterabschluss des Kantors verzichtet werden: »und soll man zu den obern Classiby keinen wehlen, der nicht Magister ist, er würde dan zum Cantorat, 480 Seifert (1996, S. 235–240) führt als Diziplinen der Artistenfakultät (lateinische) Grammatik, Logik, Naturwissenschaften und Mathematik und gelegentlich auch Griechisch und Hebräisch an. Allerdings war Hebräisch als dritte Sprache der von den Humanisten angestrebten Dreisprachigkeit (›trilinguitas‹) vielerorts nur Bestandteil der theologischen Ausbildung. Ebd., S. 334. Bugenhagen (Pommersche Kirchenordnung von 1535) sieht folgende Ausbildungsinhalte für die Artistenfakultät der Greifswalder Universität vor: lateinische Grammatik, Dialektik und Rhetorik, Arithmetik, »elementa sperica […] unde der gliken«, zit. nach Sehling (1911), S. 334. 481 Seifert (1996), S. 334. Ein Besuch der theologischen Fakultät setzte die Ausbildung an der Artistenfakultät voraus. Ebd., S. 205. Vgl. zum Übertritt der Lehrer in andere Ämter auch S. 98–100 in der vorliegenden Studie sowie zur Ausbildung der Kantoren Küster (2005), S. 80–90, insbesondere S. 89: »Keinesfalls kann davon die Rede sein, daß sie [die Kantoren] im Vergleich mit ›richtigen‹ Pastoren oder den Inhabern höherer Schulämter über minderwertige akademische Erfahrungen verfügten. [...] Keiner dieser Kantoren war also Schmalspurtheologe.« 482 Subrektor und Kantor waren lange gleichgestellt. Zwischen 1561 und 1592 war das Subrektorat zudem unbesetzt. 483 Vgl. Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 93. Die Magister- bzw. Doktorpromotion stellte nach Bakkalaureatspromotion und Lizenzerwerb den höchsten zu erreichenden Studienabschluss dar. Vgl. Seifert (1996), S. 203. Auch nach der Hamburger Schulordnung von 1634 hatten die drei oberen Lehrer – Rektor, Konrektor und Tertius – einen Magisterabschluss vorzuweisen. Kremer (1995), S. 321. 484 Vgl. Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 93. 485 Friedländer (1893), S. 252.
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als sonderlich darzu geschickt«486. Ganz offensichtlich war dies der besonderen Verantwortung geschuldet, die dem Stralsunder Kantor vor allem als Musikdirektor über die Kirchenmusik an den drei Hauptkirchen der Stadt zukam. Musikalisch qualifizierte Kandidaten waren hier unabdingbar. Von ähnlichen Ausnahmen im Umgang mit Universitätsabschlüssen berichtet auch Krickeberg für das stärker musikalisch ausgerichtete mitteldeutsche Kantorat. Ihm zufolge waren »die Lehrer der oberen Klassen [...] in großen Städten [...] [zwar] oft Magister«, der Kantor Sethus Calvisius an der Fürstenschule Pforta etwa hatte diesen Abschluss jedoch nicht487. Als Studienorte der Stralsunder Kantoren lassen sich, wie in der folgenden Tabelle dargestellt, vor allem die heimischen Universitäten in Greifswald oder Rostock sowie außerdem die Universitäten des mitteldeutschen Raums in Wittenberg, Jena und Leipzig feststellen488: Name
Herkunft
Jahr der Universität Immatr.
Johannes Lyrman
Demmin
Joachim Otto Eucharius Hoffmann Jacob Ludovici
Stralsund Heldburg (Neu-)Ruppin (?)
Andreas Herlitz
Zeitz
Johannes Hoevet Tobias Woltersdorff Heinrich Prumenthal
Stralsund Kyritz Stralsund
Augustin Burmeister
Anklam
Hermann Scheven
Mühlhausen
1555 (?) 1559 (?) ? 1561 1568 (?) 1569 (?) 1572 (?) 1575 (?) 1582 1586 1587 1611 1643 1650 (?) 1657 (?) 1668 1674 1668
Rostock (?) Greifswald (?) Rostock489 Jena Wittenberg (?) Leipzig (?) Rostock (?) Frankfurt/Oder (?) Leipzig Greifswald Wittenberg Rostock Greifswald Greifswald (?) Wittenberg (?) Greifswald Rostock Greifswald
Amtsbeginn als Stralsunder Kantor 1560 1562 1563 ~1581
(1588 Prenzlau) (1590 Greifswald) 1592 1623 1646 1671 1676 1676
Tabelle 3: Universitätsbesuch der Stralsunder Kantoren489 486 StAS Rep 28-22 Entwurf einer Stralsundischen Kirchenordnung von Balthasar Preusse
(um 1600) 17. Jh., Nr. (§) 54. Vgl. zu Prützes Ordnung auch oben S. 66f.
487 Calvisius war nur Bakkalaureus. Krickeberg (1965), S. 38. In Rostock lässt sich Laue zufolge (1976, S. 63) bei 30 von 34 Kantoren des 17. Jahrhunderts ein Magistertitel nachweisen. 488 Siehe für die Quellennachweise zu den Universitätsmatrikeln die biographischen Angaben zu den Stralsunder Kantoren oben auf den Seiten 75–83. Im 17. Jahrhundert gab es im deutschen Reichsgebiet 13 protestantische Universitäten, Basel und Königsberg ausgenommen. Seifert (1996), S. 292. Vgl. zu den Studienorten der pommerschen Geistlichkeit vergleichend auch Ptaszyński (2010), S. 81f. und 98–102. 489 Vgl. ZOBER (1839), S. 5. In den Rostocker Matrikeln ist er allerdings nicht nachweisbar.
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Zur Dauer des Studiums können auf Grundlage der vorliegenden Daten nur bedingt Aussagen getroffen werden. Während Eucharius Hoffmann bereits zwei Jahre nach seinem Studienbeginn in Jena das Stralsunder Kantorat übernahm, studierte Andreas Herlitz immerhin sechs Jahre an drei verschiedenen Universitäten490. Bei Johannes Hoevet liegen zwischen Immatrikulation und Amtsbeginn in Stralsund sogar zwölf Jahre. Ob sich die Studienorte und -zeiten der Stralsunder Kantoren allerdings tatsächlich vollständig erfassen ließen, bleibt ungewiss491. Ebenso ist unbekannt, mit welchen Tätigkeiten die späteren Kantoren – wie etwa im Falle Hoevets – die Zeit zwischen Studienabschluss und Amtsübernahme in Stralsund überbrückt haben. In Schleswig-Holstein lagen zwischen Erstimmatrikulation und Berufung in ein Kantorat fünf bis acht Jahre492.
1.2.1.2 Musikalische Ausbildung Die musikalische Ausbildung zählte nicht zu den regulären Studieninhalten auf der Artistenfakultät. Mitunter waren spätere Kantoren schon im Elternhaus musikalisch geprägt worden, wie etwa im Falle von Andreas Herlitz493. Werner zufolge erwarben sie ihre musikalischen Grundlagen jedoch vor allem durch Musikunterricht und Singedienste während ihrer eigenen Lateinschulzeit494. Krickeberg führt exemplarisch wiederum Sethus Calvisius an, der während seiner Lateinschulzeit zunächst Kurrendaner war und seine musikalischen Fertigkeiten später bei studentischen Singediensten an der Leipziger Universität vertiefen konnte495. Auch für die Musiklehre griffen die Kantoren vermutlich auf die in ihrer eigenen Schulzeit erworbenen Kenntnisse zurück496. Welche konkreten musikalischen Anforderungen an die Stralsunder Kantoratsbewerber gestellt wurden, ist nicht bezeugt. Den Bestimmungen der Kirchenordnungen und Lektionspläne zufolge hatten die Kantoren im Amt in erster Linie chorale und figurale Musiken einzustudieren497. Dafür waren sowohl musiktheoretische Kenntnisse als auch sängerische und chorleiterische Fähigkeiten nötig, die vermutlich in den Be490 Häufige Universitätswechsel waren im späten 16. Jahrhundert nicht ungewöhnlich und sind nach Küster (2005, S. 89) vor allem zwischen 1590 und 1620 nachweisbar. Ptaszyński (2010, S. 100) gibt an, dass ca. 10 % der pommerschen Pastoren zwischen 1560 und 1618 drei oder mehr Universitäten besuchten. 491 Auch nach Ptaszyński (2010, S. 79) sind die Universitätsmatrikel keinesfalls zuverlässige Quellen, um auf die Studiendauer oder sogar auf Studieninhalte schließen zu können. 492 Küster (2005), S. 89. 493 Vgl. S. 78 und 193. 494 Werner (1932/1979), S. 121. 495 Krickeberg (1965), S. 35–37. 496 Vgl. dazu Küster (2005), S. 89: »[...] daß diese Personen die musiktheoretischen Grundlagen, die ihnen im Unterricht eines Kantors vermittelt worden waren, ebenso weitergeben konnten wie die Musik, verwundert nicht.« 497 Vgl. etwa die Bestimmungen der pommerschen Kirchenordnung von 1563 bei Sehling (1911), S. 403.
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werbungsverfahren geprüft wurden und die man etwa dem Stralsunder Kantor Andreas Herlitz ›post mortem‹ bestätigte: »In seiner Amptsbestallung hat er beydes in der Schuel vnd Kirch trewlich vnd fleissig auffgewartet [...] vnd dem Choro in der Kirchen/ durch Gottes Gnaden in das 32. Jahr also fürgestanden [...] vnd wegen seines herrlichen angestalten Musicgesangs/ darin er ein Meister gewest/ von einheimischen vnd außheimischen Leuten geehret vnd gerühmet ist worden. Also/ daß zu besorgen/ wir werden dieses Orts so leichtlich dergleichen guten Cantorem nicht bald wieder bekommen.«498
Ob die Kantoren außerdem über Fertigkeiten im Instrumentalspiel verfügen mussten, ist nicht bekannt. Der spätere Rostocker Marienkantor Gottfried Krause wurde von dem Stralsunder Kantor Tobias Woltersdorff zwar in der »Singekunst« unterwiesen, seinen Klavierunterricht nahm er jedoch bei (Johann?) Neukrantz und nicht bei Woltersdorff499. Krickeberg zufolge sanken die Anforderungen an die akademische Ausbildung der Kantoren im Verlauf des 17. Jahrhunderts500; im Gegenzug schenkte man ihren musikalischen Fähigkeiten – darunter zunehmend auch der Komposition – stärkere Beachtung: »In manchen großen Städten wurde es im Lauf des 17. oder auch schon 16. Jahrhunderts selbstverständlich, daß man nur einen Komponisten von Rang ins Kantorat berief; in kleineren Städten allerdings begnügte man sich zuweilen damit, daß der Kantor wenigstens theoretisch etwas von der Komposition verstand.«501
Überträgt man die von Krickeberg für Mitteldeutschland gemachten Beobachtungen auf das Stralsunder Kantorat, so bliebe anzunehmen, dass keiner der Amtsinhaber im 17. Jahrhundert über eine besondere musikalische Befähigung verfügte, denn Kompositionen von Stralsunder Kantoren liegen aus dem gesamten 17. Jahrhundert nicht vor. Dennoch waren die Anforderungen an die Stralsunder Kantoren keinesfalls gering und auch das Amt nicht unbedeutend. Vielmehr zeigt sich hier ein Amtsverständnis im Stralsunder Kantorat, das sich offenbar deutlich von dem mitteldeutschen unterschied und keinesfalls auf das Komponieren ausgerichtet war, wie im Folgenden weiter darzulegen ist.
498 StAS Sign. A 4o 262 Nr. 11 [1623], fol. F ij (Lpd. auf Andreas Herlitz). 499 Vgl. oben S. 80, Anm. 438. 500 Krickeberg (1965), S. 174: »Noch seltener als zwischen 1600 und 1650 begegnen nach der Jahrhundertmitte Magister unter den Kantoren.« 501 Ebd.
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1.2.2  Anstellung der Kantoren Die Anstellung der Lateinschullehrer oblag dem Stralsunder Rat als dem Patronatsherrn der Schule502; ein Mitspracherecht hatten außerdem die jeweiligen Scholarchen503. Zu den genauen Anstellungsmodalitäten im Stralsunder Kantorat liegen nur wenige Nachrichten vor; auch Vokationen sind nicht erhalten. Allerdings ist ein umfangreicher Briefwechsel zwischen dem Rat und Stralsunder Lehramtsanwärtern außerhalb des Kantorats überliefert, der Rückschlüsse auch auf die Anstellung von Kantoren erlaubt504.
1.2.2.1  Herkunft der Stralsunder Kantoren In seiner Studie zur evangelischen Geistlichkeit in den pommerschen Herzogtümern macht Ptaszyński die Beobachtung, »dass die landesherrlichen Pfarren offener für eigene Landsleute waren als die Pfarren unter adligem oder städtischem Patronat«, und erklärt dies so: »[D]ie Herzöge vermieden fremde Einflüsse, indem sie die Ausbildung ›ihrer‹ Theologen selbst steuerten. Im Gegensatz dazu waren Städte und Adlige weiterhin für überterritoriale Bündnisse und Freundschaften offen.«505 Auf diese Weise ließe sich wohl auch das Interesse des Stralsunder Rates an ›fremden‹ Kantoratsinhabern erklären, wenngleich es hier nicht zu einem regelrechten Übergewicht auswärtiger Kandidaten kam: Seit Gründung der Schule bis zum Ende des 17. Jahrhunderts bekleideten mit Otto, Hoevet und Prumenthal drei einheimische sowie mit Lyrman und Burmeister zwei Kantoren aus der näheren pommerschen Umgebung das Amt, während es mit Hoffmann (Heldburg/Thüringen), Herlitz (Zeitz/Sachsen), Woltersdorff (Kyritz/Brandenburg) und Scheven (Mühlhausen/Hessen) immerhin vier Kantoren von außerhalb Pommerns gab. Dass in Stralsund wie auch in anderen pommerschen Städten506 mitteldeutsche Bewerber unter den auswärtigen Kandidaten bevorzugt wurden, mag in erster Linie das Interesse an gut ausgebildeten Fachkräften bezeugen. Schließlich hatten die mitteldeutschen Amtsbewerber zumeist schon ihre eigene Schulzeit an den musikalisch florierenden Lateinschulen etwa in Thüringen oder Sachsen absolviert und genügten daher den musikalischen Anforderungen an das Kantorat unter Umständen eher als ihre norddeutschen Konkurrenten507. Zudem war Stralsund eine in der Tat für überregionale Beziehungen offene Stadt, wenn auch diese zumeist auf die hansischen Verbindungen ausgerichtet waren. Den Kontakt in den Norden knüpften die von außerhalb 502 Zober (1839), S. 6. 503 Siehe zur Besetzung des Scholarchats S. 68 in dieser Arbeit. 504 StAS Rep 22-49a Berufung von Lehrern des Gymnasiums 1601–1721. 505 Ptaszyński (2010), S. 78. 506 Vgl. Köhlers (1997, S. 47) These, man habe in Pommern »mit Absicht [...] die Bestallung mitteldeutscher Cantoratsbewerber betrieben«. 507 Krickeberg (1965, S. 178f.) zufolge kamen 60–70 % der norddeutschen Kantoren von auswärts, vor allem aus Thüringen.
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nach Stralsund gekommenen Kantoren in der Regel bereits während ihrer Studienaufenthalte: Herlitz, Woltersdorff und Scheven studierten an der Greifswalder Universität; Hoffmann lässt sich nur in Jena nachweisen, ist aber vielleicht mit seinem Bruder (?) Wendelin zum Studium nach Rostock gelangt508.
1.2.2.2  Berufliche (Vor-)Erfahrungen Berufspraxis brachten offenbar nur wenige Stralsunder Kantoren bereits bei ihrer Anstellung mit. Als dritte Station nach Lateinschule und Universität hat Krickeberg die Besetzung eines kleinen Kantorats in der Ausbildung der Freiberger Kantoren ermittelt, das zumeist vor dem Wechsel in ein bedeutenderes Schulamt stand509. Über derartige berufliche Vorerfahrungen, die für die Arbeit an einer großen Lateinschule, wie es die Stralsunder zweifellos war, durchaus von Vorteil waren, verfügte jedoch lediglich Andreas Herlitz, der zuvor Kantor in Prenzlau und Greifswald gewesen war. Für wenigstens vier der Stralsunder Kantoren des 16. und 17. Jahrhunderts – Lyrman, Hoffmann, Woltersdorff, Burmeister – war das Stralsunder Amt offenbar der Beginn ihrer beruflichen Laufbahn. Bei Hoevet und Scheven lassen die langen Zeiträume zwischen Universitätsimmatrikulation und Stralsunder Anstellung zumindest vermuten, dass sie bereits berufliche Erfahrungen im Kantorenamt sammeln konnten. Für die übrigen drei Kantoren sind Aussagen aufgrund fehlender Quellen nicht möglich. 1.2.2.3 Anstellungsverfahren Über die Anstellung der Lateinschullehrer entschieden der Rat als Patron der Schule sowie das Scholarchat einschließlich des darin vertretenden Superintendenten oder anderer Theologen. Ein Mitspracherecht hatte darüber hinaus vermutlich auch der Rektor der Schule, wie in der pommerschen Kirchenordnung von 1563 vorgesehen war: »Wor ock nödich, in groten particular scholen, conrectores unde cantores to holden, schölen desülven dorch den rat edder patronen, mit des pastoris unde scholmeisters wille bestellet unde angenamen werden.«510
Die zugrundeliegenden Rechtsvorschriften lieferten nach der Reformation zunächst die Kirchenordnungen; Einblicke in die Anstellungsmodalitäten u. a. von Schullehrern gewährt darüber hinaus auch der Entwurf einer Stralsundischen Kirchenordnung von Balt508 Siehe die biographischen Angaben oben auf S. 76. Hoffmann war mit dem Rektor der Rostocker Lateinschule Nathan Chytraeus bekannt, wie ein Gelegenheitsdruck zu Chytraeus‘ Hochzeit (NVPTIIS/ NATHANIS/ CHYTRAEI MENCINGII/ ET GERTRVDIS PRENGE=/RIAE VIRGINIS RO=/STOCHIENSIS, Rostock 1568) zeigt, der auch einen Beitrag des Stralsunder Kantors enthält. 509 Krickeberg (1965), S. 37: »Die drei Stationen Lateinschule, Universität und kleineres Kantorat waren für den Werdegang [...] der meisten Freiberger Dom-Kantoren wesentlich.« 510 Zit. nach Sehling (1911), S. 400.
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hasar Prütze aus dem frühen 17. Jahrhundert, wenngleich Prützes Bestimmungen nicht rechtsverbindlich wurden. Wie bei den Organisten regelte sich auch die Anstellung der Kantoren nach dem Patronatsrecht, das das Präsentations- (›ius praesentandi‹), Auswahl- (›ius eligendi‹) und Bestätigungsrecht (›ius vocandi‹) umfasste511. Ius praesentandi Um geeignete Kandidaten für vakante Lehramtsposten präsentieren zu können, suchten Rat und Scholarchat gezielt nach »tüchtigen Personen«512. Während man potenzielle Kandidaten für die ›normalen‹ Lehrämter in der näheren Umgebung fand, bemühte man sich im Falle des Kantorats vermutlich auch über die pommerschen Landesgrenzen hinaus513. Interesse am Stralsunder Kantorenamt bekundete der Stargarder Kantor Joachim Belitz im Jahre 1581. Nachdem Eucharius Hoffmann ins Stralsunder Konrektorat übergetreten war, hatte es mit Belitz Unterredungen wegen der Besetzung der Stelle gegeben. In Erwartung einer offiziellen Antwort wandte sich Belitz 1581 an den Stralsunder Alexander Gilisch, der offenbar ein Freund und Ansprechpartner in dieser Angelegenheit war: »da es aber Ja sein kündte [...] das ich von einem Erbarn Rathe schrifftlich vociret würde, weill den herrn meine Person und sonsten die gelegenheidt bekandt, wolte ich mich als dan, das ihrs eingefallen tragen soltet, genügsam ercleren.«514
Bekommen hat Belitz den Posten nicht. Angesichts des schulisch wie musikalisch geprägten Berufsbildes des Kantors bleibt zu vermuten, dass sich die Stralsunder Amtsbewerber neben einer Probelektion auch einer musikalischen Überprüfung zu stellen hatten. Krickeberg zufolge schenkte man dieser besondere Beachtung, da die Anwärter zwar »auf der Universität über den wissenschaftlichen Stoff geprüft worden [waren], den sie in der Schule zu lehren hatten. In der Musik jedoch hatten sie keinerlei Prüfung abgelegt«515. Ähnlich äußert sich Werner516. In der Regel wurden solche musikalischen Proben im Gottesdienst unter Anwe-
511 Vgl. die Anstellungsmodalitäten im Organistenamt unten auf S. 232–236. 512 StAS Rep 28-22 Entwurf einer Stralsundischen Kirchenordnung von Balthasar Preusse (um 1600) 17. Jh., Nr. (§) 28. 513 Vgl. StAS Rep 22-49a Berufung von Lehrern des Gymnasiums 1601–1721. Die Akte enthält eine Vielzahl von Anfragen an Kandidaten aus Greifswald, Anklam, Rostock oder Stettin, bei denen es sich allerdings nicht um Kantoratsbesetzungen handelt. 514 StAS Rep 38-82 Anfrage des Kantors Joachim Belitz aus Stargard an Alexander Gilisch wegen der Besoldung der Stralsunder Kantoren 1581. 515 Krickeberg (1965), S. 40f. 516 Werner (1932/1979), S. 123.
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senheit der Geistlichen, der Ratspersonen und der Gemeinde abgehalten517. Nachweise aus Stralsund sind dazu allerdings nicht überliefert. Belegt ist hingegen die Examinierung von Lehramtskandidaten durch Superintendent und Rektor, mit der neben der fachlichen Kompetenz auch die konfessionelle Gesinnung der Kandidaten überprüft werden sollte518. Verfügten die Kandidaten über einen Magisterabschluss und waren auch hinsichtlich ihrer Religion ›unauffällig‹, konnten sie von der Examinierung ausgenommen bleiben, wie es Prütze in seinem Entwurf einer Stralsundischen Kirchenordnung vorschlägt: »Magistros zu examinieren ist von unnöthen, es were dann, das Sie der religion halber Vordechtig weren, die übrigen werden billig – durch den Superintendenten und Rectorem examiniret.«519
Während man Prütze zufolge zwar möglichst nicht nur einen Kandidaten für die »Probe« gewinnen sollte520, blieb die Kandidatenauswahl bei der Besetzung des Kantorenamtes dennoch vermutlich klein. Nähere Angaben gibt es auch dazu nicht. Ius eligendi Nach absolvierter Examinierung erfolgte die Wahl des Amtsinhabers. Vor allem die Zusammensetzung der Wahlkommission hatte Prütze zufolge in Stralsund des Öfteren zu Streitigkeiten geführt521. In der Regel wählte man geheim522; vor Beginn der Wahl hatten alle Kommissionsmitglieder einen Eid abzulegen. Nach erfolgter Wahl räumte man eine Frist von drei Tagen ein, in der Einwände hinsichtlich des privaten und/oder beruflichen Lebenswandels des Kandidaten öffentlich geäußert werden konnten523. Nach Ablauf dieser Frist wurde der Kandidat vom städtischen Rat offiziell bestätigt und erhielt seine Bestallungsurkunde.
517 Nötig war vor allem die genaue Examinierung von Berufseinsteigern. Es ist vorstellbar, dass man den Kandidaten, um die man sich aufgrund von Empfehlungen gezielt bemüht hatte (s. o.), eine derartige Überprüfung erließ. 518 Vgl. dazu auch Krickeberg (1965), S. 42: »Vor seiner ›Konfirmation‹ mußte er [Christoph Demantius] nochmals ein fachliches Examen ablegen; außerdem prüfte das Konsistorium, ob seine religiösen Überzeugungen mit der Augsburger Konfession und der Konkordienformel übereinstimmten.« 519 StAS Rep 28-22 Entwurf einer Stralsundischen Kirchenordnung von Balthasar Preusse (um 1600) 17. Jh., Nr. (§) 54. 520 Ebd., Nr. (§) 28. 521 Siehe dazu S. 66f. sowie 235. 522 Wie man im Falle mehrerer Kandidaten dabei genau verfuhr, erläutert Prütze (ebd.). Siehe dazu das Organistenkapitel unten auf S. 235. 523 StAS Rep 28-22 Entwurf einer Stralsundischen Kirchenordnung von Balthasar Preusse (um 1600) 17. Jh., Nr. (§) 28.
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Ius vocandi Bestallungsurkunden Stralsunder Kantoren sind nicht überliefert. Doch dürften sich diese wohl nicht wesentlich von den Anstellungsdokumenten für andere Stralsunder Lehrämter unterschieden haben524, die zwar über Besoldung und Beförderungsmöglichkeiten, jedoch kaum über die tatsächlichen Amtsgeschäfte der Lehrenden informieren525. Exemplarisch sei auf die im Anhang befindliche Bestallungsurkunde für Caspar Movius bei dessen Übertritt vom Stralsunder Sub- ins Konrektorat verwiesen526. Nach der Vokation erfolgte die feierliche ›Introduktion‹ der Lehrer durch den Rektor mit der üblichen Übergabe von Schlüsseln und Rute und der Ermahnung der Jugend527, wobei die Stralsunder Kantoren, wie ihre Kollegen in Lübeck oder Hamburg, vermutlich auch eine lateinische Rede zu halten hatten528. Kremer zufolge dienten diese Reden zumeist dazu, die theologischen Aspekte der Kirchenmusik zu erörtern und zu bekräftigen, wie etwa die Einführungsansprache des Hamburger Kantors Christoph Bernhard zeigt529.
1.2.2.4 Amtsbezeichnungen Die allgemein verwendete Berufsbezeichnung des Kantors wurde im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts durch Zusätze ergänzt, mit denen die Amtsinhaber ihren musikalischen Vorrang zunächst innerhalb des Schulkollegiums sowie späterhin innerhalb des gesamten städtischen Musiklebens zu bezeichnen suchten. Nachdem sich Eucharius Hoffmann auf den Titelblättern seiner Werke vom Ende des 16. Jahrhunderts noch ›nur‹ als »Cantor« betitelt hatte530, heißt es in der zweiten Stralsunder Schulordnung von 1591: »Cum primario Cantori institutio et gubernatio cantus ecclesiastici in omnibus templis demandata sit, operam ille dabit, ut pueri in musica deinceps accurate exerceantur, ut reliquarum quoque parochiarum cantoribus, qui pueris musicis non abundant, sine suae
524 Vgl. StAS Rep 22-49a Berufung von Lehrern des Gymnasiums 1601–1721. 525 Vgl. dazu auch Küster (2005, S. 74), der für Schleswig-Holstein feststellt, dass die in den Dienstanweisungen der Kantoren enthaltenen Formulierungen, die »von Ort zu Ort nahezu identisch und oft über Generationen praktisch unverändert beibehalten« wurden, eher »die Treue im Dienst betonen, als daß sie konkrete Aufgaben zur geforderten Tätigkeit enthielten«. 526 Siehe Dok. 2 im Anhang auf S. 360. 527 Das von Zober (1858, S. 102–110) angegebene Verzeichniß sämmtlicher gelegenheitlicher Schulschriften unter den Rectoren Vehr, Wolf, Pyl und Bartholdi (1681–1754) verweist auch auf musikalische Gelegenheitsdrucke anlässlich von Einführungsfeiern. Siehe dazu unten S. 178. 528 Vgl. Stahl (1952), S. 51, und Kremer (1995), S. 64. 529 Ebd., S. 64f. 530 Siehe das Werkverzeichnis von Hoffmann im Anhang auf S. 385–387.
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parochiae dispendio semper ubi opus erit subministrare aliquot mediocriter canentes possit.«531
Neben dem »Cantor primarius« – dem ersten Kantor der Schule – werden hier die »Cantores reliquiarum parochiarum« benannt, für die ansonsten die Begriffe ›Con-‹ oder ›Succentoren‹ üblich waren und die hier in der Funktion untergeordneter ›Nebenkantoren‹ begegnen, welche den musikalischen Dienst an St. Marien und St. Jakobi versahen. Als »Cantor et Musicus primarius« bzw. als »Musicus und Cantor primarius« wird Andreas Herlitz (1623) in seiner Leichenpredigt betitelt532, wobei die Unterscheidung von »musicus« und »cantor« hier wohl noch die mittelalterliche Auffassung vom (1) »Theorie treibenden« und das Wesen der Musik durchschauenden ›Musicus‹ und (2) vom liturgisch-musikalisch tätigen ›Cantor‹ widerspiegeln dürfte533. Die Bezeichnung Cantor primarius begegnet auch für Herlitz‘ Amtsnachfolger. Den musikalischen Vorrang des Kantors bezeichnet schließlich auch der im 17. Jahrhundert aufkommende Titel eines ›Musikdirektors‹ bzw. eines ›Director Musices‹. Im Unterschied zum ›Cantor primarius‹ weist diese Bezeichnung nunmehr über den schulischen Verantwortungsbereich hinaus und betitelt den Kantor als Leiter der gesamten Kirchenmusik. Kremer zufolge zielte diese Bezeichnung der Kantoren vor allem darauf, sie mit den Leitern der höfischen Kapellen gleichzustellen534. In Stralsund begegnet der Titel eines Musikdirektors weitaus später, als Krickeberg es in seiner Untersuchung feststellt. Während die mitteldeutschen Kantoren schon »um 1620 begannen […], sich ›Directores Musices‹ zu nennen«535, lässt sich der Titel in Stralsund erst in den 1670er-Jahren finden. Erstmals wird Heinrich Prumenthal sowohl auf seinem in St. Nikolai überlieferten Epitaph536 als auch in den 1676 gedruckten Epicedien ein »Musices Director, und wohlverdienter Collega des Gymnasii in Stralsund«537 genannt. Danach erscheint der Titel für alle weiteren Stralsunder Kantoren des 17. Jahrhunderts538. 531 Vgl. die Stralsunder Schulordnung von 1591 bei Zober (1841), S. 56. 532 Vgl. die Lpd. auf Andreas Herlitz in: StAS Sign. A 4o 262 Nr. 11 [1623], Titelblatt und Memoria Defuncti. Die Bezeichnung »Cantor primarius« begegnet auch für den Rostocker Marienkantor, der den anderen Kantoren der Stadt übergeordnet war. Vgl. dazu Laue (1976), S. 60. 533 Vgl. dazu Gurlitt (1950), vor allem S. 552–558. 534 Kremer (1995), S. 145. 535 Krickeberg (1965), S. 173 sowie 104f. 536 Siehe S. 177 in dieser Arbeit. 537 StAS A 4o 263 Nr. 37. Im Titel der Epicedien auf den Tod Prumenthals, seiner Frau und Schwiegermutter (vgl. oben S. 82) wird auch der Vorgänger Prumenthals – Tobias Woltersdorff – als »gewesener Mus: Direct. allhie in Stralsund« bezeichnet. Zu Lebzeiten von Woltersdorff lässt sich dieser Titel allerdings noch nicht nachweisen. Im Hochzeitsregister wird er 1647 noch »Cantor primarius« genannt. Schubert (1987), Nr. 3007. 538 Vgl. etwa die auf den Tod von Burmeister veröffentlichten Epicedien von 1676:
StAS A 4o 263 Nr. 38. Zu Scheven vgl. Zober (1858), S. 20.
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Innerhalb der Stadt diente der Titel eines Musikdirektors, den sich die Kantoren selbst zulegten539, in erster Linie dazu, die musikalischen Hierarchien zu benennen. Zedlers Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste von 1732 zufolge wurde unter einem Director Musices verstanden, wer »bey Aufführung einer Musick [...] solche anordnet, regieret, und überhaupt das Haupt ist aller, sowohl Vocalisten als Instrumentisten, welche nach jenes Befehl und Tact sich in allem richten müssen.«540
Diese Aufgabe hatten die Stralsunder Kantoren vermutlich schon seit Etablierung des Amtes bis in das 18. Jahrhundert hinein inne. Mit der zunehmenden Bedeutung der figuralen Kirchenmusik im Gottesdienst wuchs das gesellschaftliche Ansehen der Kantoren seit dem späten 16. und beginnenden 17. Jahrhundert. Erst nach Mitte des 18. Jahrhunderts – nach Auflösung des Stralsunder Kantorats – ging der Titel des Musikdirektors auf die Organisten über541. Der These Krickebergs, nach der sich »die Lübecker Kantoren nicht als ›Directores Musices‹ bezeichneten«, weil sie »nicht komponierten«542 und »vorwiegend nur in einer Kirche die Musik betreuten«, muss mit Blick auf die Stralsunder Verhältnisse klar widersprochen werden. Zwar leitete der Stralsunder Kantor die Figuralmusik hier wechselweise an allen drei Hauptkirchen, kompositorisch aktiv war bis auf Eucharius Hoffmann jedoch keiner der Stralsunder Amtsinhaber. Dennoch trugen zumindest die Stralsunder Kantoren des späten 17. Jahrhunderts alle den Titel eines Musikdirektors, was ganz offensichtlich nicht davon abhängig war, ob sie komponierten, sondern auch hier das gewachsene Selbstbewusstsein der Kantoren als Hauptverantwortliche für die gesamte Kirchenmusik widerspiegelt. Dabei mag das oben angeführte Zitat Zedlers den damit verbundenen Aufwand ansatzweise verdeutlichen: Als Leiter der Kirchenmusik waren die Stralsunder Kantoren sowohl dafür verantwortlich, das Repertoire auszuwählen, die Sänger und eventuellen Instrumentalisten an allen drei Kirchen zusammenzustellen als auch die Musik an einer der Kirchen selbst zu führen543. Daneben oblagen ihnen weitere musikalische Verpflichtungen, wie der Musikunterricht an der Lateinschule oder die Oberaufsicht über die schulischen Singechöre. Das Komponieren von Musik hingegen war für das Stralsunder Amtsverständnis offenbar irrelevant und spielte deshalb auch für den Titel des Musikdirektors keine Rolle. Im Übrigen trugen spätestens seit den 1640er-Jahren neben den Stralsunder Kantoren auch die Kunstpfeifer den Titel eines Musikdirektors, der sich allerdings nur auf ihre Aufsicht über die instrumentale Musik in der Stadt bezog544. 539 Krickeberg (1965), S. 104. 540 Zedler (1732–1754), Bd. 22, Sp. 1487. 541 Vgl. Bugenhagen (2007), S. 149. 542 Krickeberg (1965, S. 105f.): »Zum Amt des Director Musices gehörte das Komponieren.« 543 Vgl. dazu S. 126f. 544 Vgl. unten S. 306f.
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1.2.2.5  Wechsel in andere Kirchenämter Verschiedentlich wurde bereits darauf hingewiesen, dass das gymnasiale Lehramt nur eine ungeliebte »Warte- und Durchgangsstellung für das protestantische Pfarramt«545 bzw. »nur eine Etappe innerhalb der geistlichen Laufbahn«546 darstellte und erst später – seit Mitte des 17. Jahrhunderts – zum Lebenszeitposten wurde. Die Probleme häufiger Amtswechsel im Schulwesen hatte man allerdings schon bei der Erarbeitung der zweiten pommerschen Kirchenordnung (1563) erkannt und zum Schutz der Jugend versucht, dagegen vorzugehen: »Unde schal de overicheit eines jederen ordes, de vorseinge doen, dar mit de scholmeiser, so vele mögelick (dewile vele voranderinge der preceptoren der jöget schedlick) up gewisse jar mögen bestellet, unde so verne se sick recht schicken, beholden, unde nicht lichtlick ane erhefflike orsaken vorlaten werden.«547
Küster zufolge diente auch das schleswig-holsteinische Kantorat zwischen 1550 und 1650 zunächst als Qualifikationsposten für theologische und höhere Schulämter. Die durchschnittliche Amtszeit der Kieler Kantoren betrug während dieser Zeit nur fünf bis sechs Jahre548. In Kiel, wie an den anderen größeren Schulen in Schleswig und Holstein, scheint das Kantorat demzufolge lediglich ein Durchgangsposten gewesen zu sein549. Einen Wandel – den »Übergang in die zweite Phase der Kantoratsentwicklung«550 – datiert Küster für Schleswig-Holstein erst auf die Mitte des 17. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit wurden die Amtszeiten der Kantoren deutlich länger als zuvor551. Anders stellen sich die Verhältnisse in Stralsund dar. Amtswechsel sind hier in nur zwei Fällen aus dem 16. Jahrhundert zu beobachten: So wechselte der Kantor Joachim Otto nach einer Amtszeit von vermutlich nur zwei Jahren 1564 ins Predigeramt. Weitaus länger war die Amtszeit von Eucharius Hoffmann, der erst nach etwa 18 Jahren zunächst Konrektor (um 1581) und später Prediger (1588) in Stralsund wurde552. Ähnlich lange amtierten auch seine Nachfolger im 17. Jahrhundert, die das Amt allerdings stets bis zu ihrem Tode innehatten.
545 Seifert (1996), S. 334. Nach Ptaszyński (2010, S. 82) war das Schulamt eine »ungemochte ›Vorstufe‹« für Theologen, worauf Begriffe wie »Schulschweiß« oder »Eselsarbeit« in Briefen hinweisen. 546 Küster (2006), Theorie, S. 70. 547 Zit. nach Sehling (1911), S. 400. 548 Küster (2006), Theorie, S. 70. Die längste Amtszeit war die des Kantors Marcus Wriedt, der neun Jahre amtierte. 549 Ebd. 550 Ders. (2005), S. 81. 551 Ebd.: Den »17 [Kieler] Kantoren in den hundert Jahren zwischen 1560 und 1651 [stehen] nur sieben in den folgenden 130 Jahren gegenüber«. 552 Vgl. StAS Rep 28-179 Bestallung des Eucharius Hofmann zum Predigeramte a. d. Marienkirche 1588.
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Der von Küster für Schleswig-Holstein nachgewiesene häufige Amtswechsel der Kantoren ist in Stralsund also nicht zu belegen. Ihre durchschnittliche Amtszeit betrug schon zwischen 1560 und 1646 (Tod Hoevets) immerhin etwa 14 Jahre und war damit weitaus länger als die ihrer Kieler Kollegen. Von einem Qualifizierungscharakter des Stralsunder Kantorenamtes kann demnach nicht gesprochen werden. Vielmehr scheinen der hohe gesellschaftliche Status – als Leiter der Kirchenmusik – sowie ein vergleichsweise gesichertes Einkommen die Stralsunder Stelleninhaber an ihr Amt gebunden zu haben. Bei der übrigen Stralsunder Lehrerschaft sind Amtswechsel weitaus häufiger zu beobachten553. Dass stärker musikalisch ausgerichtete Amtsstrukturen die Kantoren unter Umständen länger an ihr Amt binden konnten, weist Küster etwa am Beispiel des Husumer Kantors Matthias Ebio nach, der sein Amt als Ausnahmefall in Schleswig-Holstein 57 Jahre lang versah und auch musiktheoretische Werke veröffentlichte554. Ebio war 1632 – wohl zugunsten seiner musikalischen Pflichten – zum Quartus herabgestuft worden, hatte jedoch fast zeitgleich eine beträchtliche Gehaltserhöhung erhalten. In der damit verbundenen, sich allmählich durchsetzenden Individualisierung des Kantorenamtes, das sich als zunehmend »musikalisches Amt« in Schleswig-Holstein von den übrigen Lehrämtern zu distanzieren begann, sieht Küster die Ursache für die längeren Amtszeiten der Kantoren in der Folgezeit. Ähnlich äußert sich Krickeberg, wenn er die seltenen Amtswechsel der mitteldeutschen Kantoren als »Zeichen für den Aufschwung des Kantorats und für seine Entwicklung zum Musikdirektorat«555 versteht. Entsprechend lassen sich die Stralsunder Verhältnisse interpretieren, die hinsichtlich der Attraktivität des Kantoratspostens seit dem späten 16. Jahrhundert allerdings wohl kaum mehr Veränderungen unterworfen waren. Nach kurzen Amtszeiten der ersten beiden Kantoren (Lyrmann und Otto)556 hatte sich das Stralsunder Kantorat offenbar schon im Verlauf des 16. Jahrhunderts zu einem attraktiven Posten entwickelt, den seit Andreas Herlitz (1592) sämtliche Amtsinhaber als Stellung fürs Leben verstanden. Nicht unbedeutend ist in diesem Zusammenhang die Position der Stralsunder Lateinschule als zweitwichtigste Schule im Herzogtum neben dem Stettiner Pädago-
553 Sie wechselten in höhere Schulämter oder aber ins Predigeramt. Vgl. dazu Zober (1841), S. 29–34. Ähnliches berichtet Krickeberg (1965, S. 101) auch für Freiberg: »Auch in Freiberg verließ vom Rektor bis zum Quintus jeder zweite oder dritte Lehrer zwischen 1570 und 1730 seinen Beruf; die meisten von ihnen wurden Pfarrer. Die Kantoren aber bildeten hier eine Ausnahme.« Als Ursache führt Krickeberg an, dass »die aufblühende Kirchenmusik und das steigende ›inoffizielle‹ Ansehen ihres Leiters die Kantoren an ihr Amt banden«. 554 Küster (2006), Theorie, S. 70: »[E]r [Ebio] war damit der erste, der an einer dieser Schulen den Kantorenposten als Lebensstellung ausfüllte – konkret hierfür war seine Stellung im Zuge einer Schul-Erweiterung der 1630er-Jahre individuell umdefiniert worden.« 555 Krickeberg (1965), S. 129–131. 556 Die kurze Amtszeit Burmeisters war durch dessen Tod begründet.
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gium557. Auch am berühmten Lübecker Katharineum versahen die Kantoren ihr Amt bereits seit dem Ende des 16. Jahrhunderts zumeist bis zu ihrem Tode558. Das Stralsunder Kantorat verlor im Verlauf des 17. Jahrhunderts nicht an Attraktivität. Für einen Wechsel in andere Schulämter oder ins Predigeramt hatten die Amtsinhaber daher offenbar keine zwingenden Gründe. Sie erhielten ein vergleichsweise ansehnliches Fixum559, genossen als höhere Lateinschullehrer und Leiter der Kirchenmusik einen gehobenen Sozialstatus und außerdem Freiraum für die Organisation und Aufführung von Musiken.
1.2.3 Tätigkeitsbereiche Der Tätigkeitsbereich der Kantoren war vielschichtig. Krickeberg verweist auf die typische Vereinigung des wissenschaftlichen und musikalischen Lehrers sowie des Choralund Figuralkantors im protestantischen Kantorat des 17. Jahrhunderts560. Kremer differenziert die genannten Tätigkeitsbereiche, die er als »pädagogisches« und »liturgisch-gottesdienstliches« Handeln bezeichnet, und erweitert sie um den »repräsentativ-zeremoniellen Bereich«561, unter dem er in erster Linie die Mitwirkung des Kantors bei Hochzeiten und Begräbnissen versteht562. Welches Gewicht nun musikalischer und anderer Unterricht auf der einen sowie die praktische Musikausübung auf der anderen Seite in den unterschiedlichen deutschen Kantoraten einnahmen, war regional und zeitlich verschieden. Krickeberg stellt besonders zwischen den Kantoraten in Nord-, Mittel- und Süddeutschland unterschiedliche Ausprägungen fest und misst dem deutlich musikalisch geprägten mitteldeutschen Kantorat die größte und dem süddeutschen die geringste Bedeutung bei563. Daraus resultiert eine mitteldeutsche Norm, die, wie Küster formuliert, zu einer »pauschalen Geringschätzung nahezu aller norddeutschen Kantorate« führte564. Krickebergs Einschätzung des norddeutschen Kantorats als ein »traditionell [...] weniger bedeutendes 557 So heißt es etwa in einer 30 Punkte umfassenden Rechtfertigungsschrift des Stralsunder Lehrerkollegiums anlässlich der Schulvisitation durch Geistliche von ca. 1697: »Unser Gymnasium ist nächst dem Paedagogio oder Gymnasio in Stettin das vornehmste im Lande.« Zit. nach Zober (1858), S. 81, sowie StAS Rep 22-49a Berufung von Lehrern des Gymnasiums 1601–1721. 558 Die durchschnittliche Amtszeit der Lübecker Kantoren betrug im 17. Jahrhundert 21,2 Jahre. Vgl. Stahl (1952), S. 50: Johannes Sesemann (1598–† 1624), Andreas (I.) Herlitz (1625–† 1630), Martin Lincke (1630–† 1662), Samuel Francke (1663–† 1679), Jakob Pagendarm (1679–† 1709). 559 Vgl. dazu unten S. 167. 560 Krickeberg (1965), S. 19. Diese Vereinigung entspricht nach Krickeberg dem am weitesten verbreiteten Typ des Kantorats. 561 Kremer (1995), S. 60–62. 562 Ebd., S. 69–74. Krickeberg rechnet diesen Tätigkeitsbereich des Kantors seinem Handeln als Choral- bzw. Figuralkantor zu. 563 Vgl. Krickeberg (1965), S. 178–182. 564 Küster (2005), S. 72.
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Amt als in Mitteldeutschland«565 erscheint dabei insofern problematisch, als das Kantorat innerhalb der großen norddeutschen Städte trotz anderer Schwerpunktsetzungen dennoch ein zentrales und keineswegs »weniger bedeutendes Amt« darstellt. Kennzeichnend für die Verhältnisse im Norden ist vor allem der Einfluss der Organisten als Komponisten und Leiter vokaler Kirchenmusik, die jedoch – anders als im Süden – hier nicht die Kantoren ersetzten566. Auch das Stralsunder Kantorat erscheint vor diesem Hintergrund als deutlich norddeutsch geprägt. Im Unterschied zu Mitteldeutschland komponierten die norddeutschen Kantoren nicht oder kaum und überließen dies in der Regel den Organisten, die aufgrund ihrer geringeren Amtsverpflichtungen zeitlich weitaus weniger belastet waren und sich damit zusätzliche Verdienste sichern konnten. Dem hohen sozialen Rang, den die Kantoren als höhere Lateinschullehrer und Leiter der Kirchenmusik genossen, tat ihre fehlende kompositorische Betätigung dabei keinen Abbruch. Im Gegenteil blieben die Stralsunder Kantoren hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Stellung den Organisten sogar überlegen und waren mit schulischem Unterricht in Musik und in anderen Fächern sowie mit der Verantwortung über die gesamte Kirchenmusik vermutlich auch über die Maßen ausgelastet. Im Vergleich von mittel- und norddeutschem Kantorat manifestiert sich demzufolge lediglich eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung, die jedoch nicht zwangsläufig für eine generell geringere Bedeutung des Amtes spricht567. Parallelen in den Tätigkeitsbereichen der Stralsunder Kantoren werden vor allem zu den größeren norddeutschen Kantoraten, etwa in Lübeck oder Hamburg, erkennbar, was in generell vergleichbaren Strukturen des Musiklebens begründet ist. Die zu beobachtenden Bereiche des pädagogischen, liturgisch-gottesdienstlichen und repräsentativ-zeremoniellen Handelns sind auch für das Stralsunder Kantorat kennzeichnend und sollen im Folgenden in ihrer Entwicklung dargestellt werden.
1.2.3.1  Schulischer Unterricht »Festigkeit im Bekenntnis und in der Gelehrtensprache« waren nach Paulsen die Schulziele der protestantischen Lateinschulen des 16. Jahrhunderts568. Entsprechend erscheinen auch in Stralsund die Katechismuslehre und die am humanistischen Bildungsideal ausgerichtete Lehre der alten Sprachen als die beiden wesentlichen Säulen des Lateinschulunterrichts. Die Lehrer der protestantischen Lateinschulen unterrichteten im Großen und Ganzen dieselben Fächer, allerdings – ihrer Stellung im Kollegium entsprechend – auf unterschiedlichen Schulstufen und somit auch auf unterschiedlichem Niveau. Der Musikunterricht fand dagegen klassenübergreifend statt und lag in der Verantwortung des Kantors sowie weiterer, ihm zugeordneter Lehrer, worauf später 565 Krickeberg (1965), S. 180. 566 Ebd., S. 179f. 567 Für das Kantorat in Schleswig-Holstein stellt Küster (2005, vor allem S. 80–90) in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine eher theologische Ausrichtung fest. 568 Paulsen (1919), S. 465.
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noch genauer einzugehen ist. Neben dem Musikunterricht war der Kantor für die Latein- und Katechismuslehre in seiner Klasse zuständig. 1.2.3.1.1  Die Stellung des Kantors im Kollegium In der Regel entsprach die Stellung eines Schullehrers innerhalb des Kollegiums der ihm für den Unterricht zugeordneten Schulstufe. Als Latein- und Katechismuslehrer war der Kantor in den Stellenplan integriert. Als Musiklehrer war er jedoch Fachlehrer und bildete eine Ausnahme569. Bei Gründung der Stralsunder Schule war der Kantor zunächst dem Rektor und Konrektor nachgestellt und nahm die (dritte) Position vor dem Subrektor ein570. Die Stellung des Kantors als ›Tertius‹ entsprach der zu dieser Zeit an den größeren Lateinschulen üblichen571 und wurde auch von Stahl für das Lübecker Katharineum und von Leichsenring für das Hamburger Johanneum festgestellt572. Auch die Nichtbesetzung des Stralsunder Subrektorats zwischen 1561 und 1592573 veränderte die Position des Kantors zunächst nicht. Vermutlich teilten sich Rektor, Konrektor und Kantor den Unterricht in den »tribvs svpremis classibvs«, einschließlich des Griechischunterrichts, für den der Subrektor 1560 zunächst zuständig gewesen war574. Zunehmend unklar werden die Positionen von Kantor und Subrektor jedoch 1592 mit der Wiederbesetzung des Subrektorats. Beide Ämter erscheinen in den Quellen abwechselnd an dritter oder vierter Position, wie es auch Bartholdi bemerkt: »Rektor, Konrektor, Subrektor, Cantor«, »wiewol etliche derselben, als Herlitz [1592–1623] und Hövet [1623–1646] über dem Subrekt. stehen«575. Trotz dieser Konfusionen ist zumindest die Klassenzuteilung seit 1592 eindeutig. Lehrer der Tertia war nunmehr der Subrektor, während dem Kantor die Quarta zugewiesen wurde576. An dieser Rei569 Vgl. dazu auch Krickeberg (1965), S. 48. 570 Vgl. Zober (1839), S. 4. 571 An kleineren Lateinschulen nahm der Kantor oftmals die zweite Stelle ein. Vgl. Sannemann (1903), S. 11. 572 Stahl (1952), S. 20, zum Lübecker Kantor: »Er [der Kantor] nahm in dem aus sieben ›Scholepersonen‹ bestehenden Kollegium die dritte Stelle ein.« Leichsenring (1922/1982), S. 17, zum Hamburger Kantor: »Es wurden aber nur sieben Lehrer angestellt. [...] Die sieben Lehrer sind folgende: Der Rektor, der Subrektor, der Kantor, weiter die vier ›pedagogi‹ oder ›kindermeister‹, für jedes Kirchspiel einer.« 573 Vgl. Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 124. 574 Vgl. die Lektionspläne von 1560 bei Zober (1839), S. 36–38, zu den drei oberen Klassen insbesondere S. 36f. 575 Bartholdy (StAS Hs. 434), fol. 401. Vor dem Subrektor wird der Kantor beispielsweise im Rats- und Scholarchatsbeschluss von 1621 wegen des Gnadenjahres für Lehrerwitwen genannt. Vgl. StAS Rep 22-14a Scholarchat: Protokolle von Verhandlungen zwischen Senat und Scholarchat über verschiedene Fragen des Gymnasiums und des allgemeinen Stralsunder Schulwesens 1621–1729 [30.4.1621]. 576 Siehe hier und im Folgenden S. 170 in dieser Arbeit.
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henfolge änderte sich auch durch die 1617 zusätzlich eingeführte Prima nichts, die fortan von Rektor und Konrektor unterrichtet wurde. Lehrer der Sekunda wurde der Subrektor; der Kantor war Lehrer der Tertia. Finanziell blieben beide Ämter – zumindest hinsichtlich ihres Fixums – vermutlich bis nach der Mitte des 17. Jahrhunderts gleichgestellt577. Dass der Kantor 1592 bei der Klassenzuteilung zugunsten seiner musikalischen Verpflichtungen herabgestuft wurde, wie Küster es für den Husumer Kantor Ebio feststellte578, ist zumindest denkbar, wenn auch Herlitz sich im Unterschied zu Ebio wohl nicht über eine Gehaltserhöhung freuen konnte. Die Neuregelung im Stralsunder Kantorat erfolgte nämlich nicht während der Amtszeit eines Kantors, sondern im Jahr der Amtsaufnahme von Herlitz. Neuerliche Veränderungen in der Stellung des Kantors brachten schließlich die schulischen Umstrukturierungsmaßnahmen von 1643 mit sich, die zunächst vor allem darauf zielten, disziplinarische Missstände zu beseitigen und das Lehrprogramm genauer einzuhalten579. Offenbar konnte auch der Rektor Andreas Helwig, der die Geschäfte schon seit 1617 verwaltet hatte und 1643 bereits 71 Jahre alt war, das Amt nicht mehr zur Zufriedenheit von Rat und Scholarchat ausführen580. Er wurde in den Ruhestand entlassen, sein Nachfolger wurde Benedict Bahr581. Dem Stralsunder Kantor – zu dieser Zeit Johannes Hoevet – wurde im Zuge der Maßnahmen von 1643 die Quarta zugewiesen, nachdem er zuvor noch Lehrer der Tertia gewesen war: »Wehren auch [...] der Cantor, doch ohne seinen Schimpff, ad Quartam verwiesen werden möchte«582. Dass man durchaus mit Protesten des Kantors rechnete, mag die Formulierung »doch ohne seinen Schimpff« signalisieren. Die Tertia als Klasse des Kantors wurde dem ihm vormals nachgestellten ersten Concentor (in diesem Fall Johannes Alberti) zugesprochen: »Albertus müße ad classem Cantoris transferiret, und der Cantor [...] alß 4tae präficiret werden.«583 Über die genauen Gründe für die Versetzung des Stralsunder Kantors »zurück an die hintern Classes« kann nur spekuliert werden; offiziell ging es um eine »beßere Ordnung in den Lectionen«584. Finanzielle Nachteile entstanden dem Kantor durch seine
577 Gehaltsangaben für Kantor und Subrektor liegen für 1637 und dann erst wieder für 1664 vor. 1637 erhielten Kantor und Subrektor das gleiche Fixum, seit 1664 erhielt der Subrektor mehr. Vgl. dazu auch S. 167. 578 Siehe Küster (2005), S. 92, sowie oben S. 99. 579 Vgl. Zober (1848), S. 4f., 9–11, und die dazu überlieferten Dokumente ebd., S. 61–66. Als Verbesserungsmaßnahme war u. a. eine stärkere Kontrolle durch das Scholarchat beabsichtigt. Ebd., S. 9–11. 580 Vgl. zu Helwig Zober (1858), S. 1–5. 581 Vgl. zu Bahr ebd., S. 5–8. 582 Zit. nach Zober (1848), S. 62. 583 Zit. nach ebd., S. 62f. 584 Zit. nach ebd., S. 64.
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Versetzung nicht. Zwar stand er als Klassenlehrer nunmehr hinter dem ihm vormals nachgeordneten ersten Concentor zurück, finanziell blieb er ihm jedoch überlegen585. Wie die weiter unten noch zu behandelnden Veränderungen in den Lektionsplänen zeigen586, führten die Umstrukturierungsmaßnahmen von 1643 dazu, dass nicht nur der Kantor versetzt, sondern auch der allgemeine Musik- und Singeunterricht an der Stralsunder Lateinschule eingeschränkt wurde. Da der Schülergesang für die gottesdienstliche Praxis in Stralsund dennoch nach wie vor unentbehrlich war, bleibt anzunehmen, dass die kirchenmusikalischen Verpflichtungen seit dieser Zeit nicht mehr von der gesamten Schülerschaft übernommen werden sollten, sondern einem ausgewählten, in Chören organisierten Schülerkreis unter der Leitung des Kantors vorbehalten bleiben sollten. Vielleicht also zielte auch die Versetzung des Kantors von 1643 darauf, ihn in diesem Zusammenhang und zugunsten der Musik in seinen wissenschaftlichen Verpflichtungen zu entlasten, wie es Küster für Husum (1632) oder auch Krickeberg für Zeitz (1670)587 beschrieben haben. Darüber hinaus mag bei der Versetzung des Kantors auch die bereits eingeschränkte Leistungsfähigkeit Hoevets eine Rolle gespielt haben. Hoevet war 1643 vermutlich um die 50 Jahre alt und verstarb bereits drei Jahre später. Neben ihm wurde jedenfalls auch der zweite Concentor, Eucharius Büssow, von der Quarta auf die Quinta herabgestuft, weil »man nicht getrawen könne, daß man mit ihme die Intention zur Verbeßerung der Schulen werde erreichen können«. Gleichzeitig ermahnte man ihn »zu mehrem Fleiß« bei der Schularbeit588. Die hier beschriebenen Veränderungen blieben für den Rest des 17. Jahrhunderts bestehen. Der Kantor blieb weiterhin Lehrer der Quarta, die von 1673 bis 1679 mit der Quinta kombiniert und in dieser Zeit von zwei Lehrern – Kantor und Concentor II – unterrichtet wurde589. Finanziell stand der Kantor bis zum Ende des Jahrhunderts zwar hinter dem Subrektor zurück590, erhielt jedoch mehr Fixum als die beiden Concentoren. 1.2.3.1.2  Nichtmusikalischer Unterricht Lektionspläne von 1560 Die Verpflichtungen des Kantors als Latein- und Katechismuslehrer sind den im Folgenden exemplarisch und auszugsweise zitierten Lektionsplänen von 1560 zu entnehmen591:
585 1637 bekam der Concentor I ein jährliches Fixum von 456 MS. 1664 erhielt er etwa 500 MS jährlich. Dem Kantor wurden in diesen Jahren unverändert 600 MS gezahlt. Ebd., S. 5. 586 Siehe dazu unten S. 117f. 587 Siehe S. 99 in dieser Arbeit sowie Krickeberg (1965), S. 129. 588 Zit. nach Zober (1848), S. 62. 589 Vgl. ebd., S. 4f. 590 Vgl. die Gehaltsübersicht unten auf S. 167. 591 Zober (1839), S. 36–38.
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Klassenstufe Inhalt »Cantor leget etymologiam Philippi593, quam diligenter ediscent puerj et memo2–4592 riter recitabunt« (Sprachunterricht) 4 »interea Quartanj recitabunt catechismum Cantorj« (Katechismus) 5–6 »Cantor etymologiam Philippj minorem« (Sprachunterricht) »Cantor audiet hos recitantes memoriter catechismum« (Katechismus) »Cantor et primus Concentor emendabunt scripta« (Sprachunterricht) »Cantor et primus Concentor dictabunt per vices argumentum scribendj« (Sprachunterricht) Tabelle 4: Nichtmusikalischer Unterricht des Kantors (Lektionspläne von 1560)592593
Die Lektionspläne von 1560 lehnten sich zunächst an die kursächsische Schulordnung an594, wichen von dieser jedoch sowohl hinsichtlich der Klassenanzahl als auch der Aufnahme des Griechischunterrichts ab. Zwischen 1560 und 1591 fand der Unterricht klassenübergreifend durch Zusammenfassung der drei oberen (Quarta bis Sekunda) und zwei unteren Schulstufen (Sexta/Quinta) statt. Nur Nulla und Septima als vielleicht größte Klassen wurden separat unterrichtet. Der Kantor lehrte während dieser Zeit sowohl in den drei oberen Schulstufen als auch in der zusammengefassten Sexta und Quinta Latein und Katechismus bzw. Religion. Für die Quarta, Tertia und Sekunda waren neben ihm noch der Rektor, Konrektor und zumindest pro forma auch der Subrektor (sein Amt war zu dieser Zeit unbesetzt) zuständig. Am Unterricht in Sexta und Quinta wirkten neben dem Kantor und Subrektor außerdem die beiden Concentoren mit. Bemerkenswert erscheint, dass neben den Con- und Succentoren auch Rektor, Konrektor und Subrektor für den Unterricht in der Nulla und Septima eingeteilt waren, der Kantor von der Lehre in diesen unteren Klassen jedoch ausgenommen blieb. Vermutlich reagierte man mit dieser Regelung auf seine zusätzlichen Verpflichtungen als Musiklehrer. Stundenreduzierungen aufgrund ihrer Pflichten bei der Kirchenmusik erhielten die Stralsunder Kantoren, wie auch die Con- und Succentoren, in dieser und offenbar auch in späterer Zeit nicht. Folgende Stundenzahlen der einzelnen Lehrer lassen sich den Lektionsplänen von 1560 entnehmen595:
592 Die arabischen Nummern entsprechen hier und im Folgenden den Schulklassenbezeichnungen: 1 = Prima, 2 = Sekunda, 3 = Tertia usw. 593 Vermutlich handelte es sich dabei um eine der lateinischen Sprachlehren Philipp Melanchthons. 594 Zober (1839), S. 7. 595 Die Zuständigkeiten der einzelnen Lehrer sind nur im Lektionsplan von 1560 aufgeführt. Für die spätere Zeit ließe sich anhand der Klassenpläne zwar auf die Stundenanzahl der jeweils zugeordneten Lehrer schließen, allerdings bleibt dabei unklar, ob die Lehrer wirklich sämtlichen Unterricht in ihrer Klasse übernommen haben.
106 Lehrer Rektor Konrektor Kantor Subrektor Concentor I Concentor II Succentor
Kantorat und Kirchengesang in Stralsund Stundenanzahl 17 18 20–23 20–23 20–23 20–23 30
Tabelle 5: Wöchentliche Stundenanzahl der Lehrer/wiss. Unterricht (Lektionspläne von 1560)
Der Kantor war demnach ebenso stark wie seine Kollegen in die schulische Lehre eingebunden und hatte seine Pflichten in der Kirchenmusik zusätzlich zu erfüllen. Lektionspläne von 1591 Die zweite Stralsunder Schulordnung von 1591 fußt, wie das entsprechende Ratsdekret verdeutlicht596, auf den humanistischen Schulprogrammen von Johannes Sturm und war nach Zober »nichts weiter als eine mit großer Umsicht erweiterte und besonders gewendete Umarbeitung der von [...] Sturm schon früher in verschiedenen Schriften niedergelegten Methode«597. Im Mittelpunkt der Sturmschen Programme stand »das Lehren der lateinischen Sprache und die möglichst getreue Imitation Ciceros«598, dessen Schriften zu den wichtigsten Themen im Stralsunder Lateinunterricht der oberen Klassen zählten599. Nach Einführung der Schulordnung von 1591 erfolgte der Unterricht offenbar stufenweise mit entsprechender Verteilung der Lehrerschaft auf die einzelnen Schulstufen. Ob die Lehrer allerdings sämtlichen Unterricht – ausgenommen die Musik – in ihren Klassen selbst erteilten, lässt sich nicht ermitteln, da die Lektionspläne zwar die 596 Vgl. Zober (1841), S. 35f. 597 Ebd., S. 7. Zober (ebd., S. 6) bemerkt zur Stralsunder Schulordnung: »Wenige Schulen mögen aus jener Zeit eine so umfangreiche Schulordnung aufzuweisen haben, die zugleich einen so tüchtigen und praktischen Geist athmet.« Neben der Anlehnung an Sturm wird im Ratsdekret zur Schulordnung von 1591 (ebd., S. 35) außerdem auf die Orientierung an den Schulprogrammen von Johannes Rivius (1500–1553, Inspektor für die sächsischen Fürstenschulen), Nathan Chytraeus (1543–1598, Rektor der Rostocker Lateinschule), Fabricius (gemeint ist offenbar der Rektor der Meißener Fürstenschule Georg Fabricius, 1516–1571) sowie der »schola Aldorphiana Norimbergensium«, der Altdorfer Akademie bei Nürnberg, verwiesen. Zu Chytraeus hatte Eucharius Hoffmann offenbar gute Kontakte. Vgl. S. 92, Anm. 508. 598 Hettwer (1965), S. 102f. Vgl. zum Einfluss von Sturm auf die Stralsunder Schulordnung ebd., S. 91–103. 599 Vgl. die entsprechenden Lektionspläne bei Zober (1841), S. 39 (Quarta), 40f. (Tertia) und 42f. (Sekunda).
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Unterrichtsstunden für die einzelnen Klassen, jedoch keine Angaben zu den jeweils Lehrenden enthalten. Der Kantor war hinsichtlich des nichtmusikalischen Unterrichts seit 1591 bis 1617 wohl Klassenlehrer der Quarta und gab hier folgenden Unterricht (vgl. Tabelle 6 auf der folgenden Seite)600. Zusätzlich zu den üblichen Lehrinhalten erscheint nunmehr der Griechischunterricht am Samstag.
600 Vgl. ebd., S. 39.
»Perficiatur etymologia ex grammatica Nathanis Chytraei, quae tota ex Philippo commodissime confecta est« (Sprachunterricht)
8–9
Dienstag
Mittwoch
»Stylo impendatur quotidiano« (Sprachunterricht)
[wie am Donnerstag?]
»Colloquia Corderij, [wie am Donnerstag?] quae interpretanda restant, explicentur eodem modo quo epistolae Ciceronis; item Ludovici Vivis dialogi, sententijs ex his ipsis sub finem horae depromptis, exactis et custoditis« (Sprachunterricht)
»Evangeliorum graecorum lectio« (Griechisch)
(Musik)
(Musik)
»Calliographias exercitium«
»Literas graecas cognoscant et paulatim legere discant idque ex etymologiae praeceptis, quae in sequenti curia erunt mandanda memoriae« (Griechisch)
Samstag
»Nomenclatoris fiat »Augeantur opes latinae repititio et in eodem fiat linguae et diarijs custodiprogressio« (Sprachunter- antur« (Sprachunterricht) richt)
Freitag
»Repetitio corporis doctrinae germanici instituatur, cui subjiciatur dictum aliquod insigne latinum cum interpretatione Lutheri« (Religion)
Donnerstag »Syntaxis Nathanis [wie am Donnerstag?] Chytraei explicetur, exemplis apertis illustretur« (Sprachunterricht)
Tabelle 6: Nichtmusikalischer Unterricht des Kantors in der Quarta (Lektionspläne von 1591)
[wie am Montag?]
»Catechesis latina Lutheri recitetur, cui adjungatur dictum sacrae scripturae latinum cum intepretatione Lutheri germanica et quidem singulis decurijs singula reddenda dentur« (Katechismus) 9–10 »Nomenclatoris fiat »Augeantur opes latinae »Disticha Catonis eadem repititio et in eodem fiat linguae et diarijs custodi- ratione qua Cic. epist.; progressio« (Sprachunter- antur« (Sprachunterricht) proponantur progymricht) nasmata prosodiae; exercitium autem poesios hic erit poetarum solutis versibus suis numeris et locis restituendis« (Sprachunterricht) 12–13 »Calliographias exerciti- (Musik) um non intermittatur, integris Cic. epistolis, quas audiverunt illarumque versionibus germanicis, quas a praeceptore acceperunt, describendis« (Sprachunterricht) 13–14 »Epistolae Ciceronis a »Sub finem horae a »Styli exercitatio hebSturmio collectae explisingulis decurijs singulae domaria suscipiatur« centur; ad etymologiae et exigantur sententiae, (Sprachunterricht) syntaxeos regulas omnia inprimis ex Cic. epp. vel diligentissime revocentur, si ibi non reperiantur ex examinentur, verborum alijs ipsius libris desuminflexio non negligatur« tae, quas pridie a prae(Sprachunterricht) ceptore cum germanica interpretatione acceptas in diaria retulerunt« (Sprachunterricht) 14–15 »Stylo impendatur quo- [wie am Montag?] tidiano« (Sprachunterricht)
Montag
Zeit
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Lektionspläne von 1617, 1643 und ~1681 Mit den Lektionsplänen von 1617, 1643 und ~1681 änderten sich die nichtmusikalischen Unterrichtsinhalte für den Kantor kaum601. Seit 1643 war der Kantor nicht mehr Lehrer der Tertia, sondern unterrichtete ›wieder‹ die Quarta602. Aufgrund des niedrigeren Leistungsstandes der Schüler auf dieser Stufe war der Aufwand für die Unterrichtsvorbereitung der nichtmusikalischen Fächer für den Kantor nunmehr vermutlich geringer. Ob die erwähnte Zusammenlegung von Quinta und Quarta 1673 zu einer Klasse, die nunmehr von zwei Lehrern unterrichtet wurde603, als Reaktion auf die vermehrten musikalischen Belastungen des Kantors zu verstehen ist, bleibt unklar. Dauerhaft war sie nicht: Spätestens 1680 waren die Klassen wiederum getrennt604. Generell bleibt festzustellen, dass den Stralsunder Kantoren für ihre zusätzlichen musikalischen Verpflichtungen im 17. Jahrhundert kein (nichtmusikalischer) Unterricht erlassen wurde, wie Krickeberg es etwa aus Leipzig (1634), Freiberg (1640) oder Zeitz (um 1670) berichtet605. Vielmehr zeigen sich auch hier Parallelen zu anderen Kantoraten im Norden, wie etwa in Schleswig-Holstein, über die Küster berichtet: »Es ist nicht erkennbar, dass den späteren ›musikalischer‹ orientierten Kantoren der Herzogtümer der Lateinunterricht erlassen wurde.«606 Zusätzlich zu dem durch die Lektionspläne vorgeschriebenen Unterricht fanden Zober zufolge spätestens mit der neuen Schulordnung von 1643 »nicht selten noch Privatstunden in den Räumen des Gymnasiums« statt607. Inwieweit auch die Kantoren daran beteiligt waren, ist allerdings unbekannt. 1.2.3.1.3 Musikunterricht Nach Krickeberg war der Kantor »als Musiklehrer […] der einzige ausgesprochene Fachlehrer der Schule«608. Dies trifft grundsätzlich auch auf Stralsund zu, wenngleich hier wohl auch die Griechischlehre in der Verantwortung eines einzigen Lehrers lag609 und der Kantor außerdem nicht allein für den Musikunterricht zuständig war610.
601 Vgl. die Pläne von 1617 (Tertia) bei Zober (1848), S. 45f.; von 1643 (Quarta) ebd., S. 57f.; und von ~1681 (Quarta) bei dems. (1858), S. 86. 602 Er war schon zwischen 1592 und 1617 Lehrer der Quarta gewesen. Allerdings gab es zu dieser Zeit noch keine Prima an der Stralsunder Lateinschule. Seine Stellung entsprach also der eines ›Tertius‹, während er nunmehr – nach 1643 – zum ›Quartus‹ wurde. 603 Siehe oben S. 72. 604 Vgl. die Lektionspläne von ~1681. Zober (1858), S. 86f. 605 Vgl. Krickeberg (1965), S. 120, 125, 129. 606 Küster (2005), S. 90. 607 Zober (1848), S. 14. 608 Krickeberg (1965), S. 48. 609 Vgl. dazu S. 57, Anm. 268 sowie S. 102 in dieser Arbeit. 610 Dies beobachtet Krickeberg (1965, S. 50f.) allerdings auch für Freiberg.
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Die parallele Unterweisung in der Musiktheorie und -praxis auf unterschiedlichen Schulstufen, wie etwa in den Stralsunder Lektionsplänen von 1560 oder 1617 vorgesehen611, weist darauf hin, dass neben dem Kantor weitere Lehrer am Musikunterricht beteiligt waren. Vermutlich standen dem Kantor die für die Leitung des Kirchengesangs an St. Marien und St. Jakobi abgeordneten Concentoren sowie der erste Succentor zur Seite, die wohl vorrangig die unteren Schulstufen – 1560 Sexta und Quinta – in der »Musica« unterrichteten612. Ähnliches berichten Krickeberg für Freiberg im Jahr 1570 (wo der Kantor unter der Woche die Stufen eins bis drei und der Bakkalaureus die Stufe vier unterrichtete613), Krüger für Hamburg (»Nur die Schüler der drei obersten Klassen nahmen danach an dem Musikunterricht des Kantors teil«614) und Stahl für Lübeck (»Nur bei den drei Oberklassen ist hier der Kantor als Lehrer angegeben; der gleichzeitige Unterricht in den unteren Klassen muß also von einem anderen Lehrer erteilt worden sein«615). 1617 erteilte offenbar der Lehrer der fünften Klasse – der Concentor II – den Musikunterricht in der Tertia am Donnerstag und Freitag: »Musica et calligraphia praesente praeceptore classis V.«616 1643 wurde der Singeunterricht zur Mittagsstunde in der Quinta vom ersten Succentor – dem Lehrer der Sexta – erteilt: »Scribendi et canendi ars exercebitur (et scribendi quidem apud classicum, canendi vero apud sextae classis praeceptorem)«617. Ob auch die samstägliche Singestunde unter der Mithilfe dieser Lehrer stattfand, lässt sich den Quellen nicht entnehmen. Die Inhalte des Musikunterrichts an den protestantischen Lateinschulen zielten vor allem auf die musikalische Praxis des Kirchengesangs. Der »Bildungsfaktor der Musik«618 spielte zu dieser Zeit noch keine Rolle, da die Musik für die berufliche Ausbildung – abgesehen vom Kantorat – unwesentlich war619. Im Zentrum des Unterrichts stand das »Erlernen von einfachen deutschen Kirchenliedern und Psalmen durch Vorsingen und Nachsingen«620 für den gottesdienstlichen Gebrauch. Niemöller betont die Sonderstellung des Musikunterrichts im Fächerkanon der Schulen, die sich durch die zeitliche Disposition ausschließlich zur Mittagsstunde und
611 Siehe die entsprechenden Lektionspläne auf S. 112 und 116 sowie bei Zober (1839), S. 36– 38, und dems. (1848), S. 44–47. 612 1560 übernahm diesen Unterricht vermutlich der Concentor I, der am Montag, Dienstag und Donnerstag um 12 Uhr nicht anderweitig mit Unterricht belegt war und am Mittwochmittag gemeinsam mit dem Kantor unterrichtete: »12. Cantor et primus Concentor dictabunt per vices argumentum scribendj«, zit. nach Zober (1839), S. 36–38. 613 Krickeberg (1965), S. 50. 614 Krüger (1933), S. 21. 615 Stahl (1952), S. 51. 616 Zit. nach Zober (1848), S. 46. 617 Zit. nach ebd., S. 57. Vgl. auch S. 117 in dieser Arbeit. 618 Niemöller (1969), S. 654f. 619 Krickeberg (1965), S. 49. 620 Niemöller (1969), S. 659.
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die im Gegensatz zu anderen Schulfächern klassenübergreifende Organisation des Unterrichts zeigt621. Wie in der kursächsischen Schulordnung empfohlen, legte auch die pommersche Kirchenordnung von 1535 ausschließlich die Mittagsstunde zwischen 12 und 13 Uhr für den Musikunterricht fest: »Van der stunde överst to singen in der musica, wert ock dorch de visitatores vorschafft, eder de stunde na der mältid is gut dar to«622. Dass man zu dieser Zeit in der Regel keine ernsthaften Studien betrieb, verdeutlicht etwa ein Eintrag in die Güstrower Schulordnung von 1602: »balt auf eßenn soll keiner studiren«623. In Stralsund war die Mittagsstunde jedoch nicht allein für den Musikunterricht reserviert. Zwischen 12 und 13 Uhr fanden außerdem Schreibübungen (»Dictatur rursus argumentum scribendj«624, »Scribere discant«625, »Calliographias exercitium«626, »Exercitium scriptionis, aut exhibentur scripta«627), Wiederholungsübungen zur Grammatik (»Rector repetet grammaticam Bonnij, declinabit, conjugabit«628) sowie Vokabelübungen (»Succentor [...] adscribet duo vocabula«629) statt. Zwischen 1591 und 1617 wurden in der Mittagsstunde außerdem Geschichte und Astronomie für die Sekunda gelesen630. Abgesehen von den letztgenannten Lehrgegenständen hatten die übrigen mittäglichen Unterrichtsstunden – auch die Musik – Übungs- und Wiederholungscharakter und zählten zu den sogenannten Exerzitien, für die man die Mittagsstunde als geeignet empfand631. Der Musikunterricht an den Lateinschulen gliederte sich in der Regel in praktische und theoretische Unterweisung. In der pommerschen Kirchenordnung von 1563 heißt es zum Verhältnis von Theorie und Praxis für die »drüdde classis«: »dat twe dage in der weke de præcepta musices vlitich gelesen, mit exemplis vorkleret unde examineret, unde den knaben ingebildet, dem geliken twe dage in cantu figurali effte chorali de tempore trüwliken mit den knaben gesungen, de praecepta repeteret unde ad usum gebracht werden.«632
Auch das Lesen der »praecepta musices«, der theoretischen Musiklehre, diente dabei ausschließlich dazu, möglichst rasch das Vom-Blatt-Singen der im Gottesdienst benötigten Choral- und Figuralmusik zu erlernen. Dazu waren üblicherweise die Grundele621 Vgl. ebd., S. 649–686. 622 Zit. nach Sehling (1911), S. 333. 623 Zit. nach Niemöller (1969), S. 660. 624 Zit. nach Zober (1839), S. 37 (Lektionsplan 1560: Sekunda, Tertia, Quarta). 625 Ders. (1841), S. 37 (Lektionsplan 1591: Sexta). 626 Ebd., S. 39 (Lektionsplan 1591: Quarta). 627 Zober (1858), S. 86f. (Lektionsplan ~1681: Tertia, Quarta, Quinta, Sexta). 628 Ders. (1839), S. 37 (Lektionsplan 1560: Septima). 629 Ebd., S. 38. (Lektionsplan 1560: Nulla). 630 Zober (1841), S. 42 (Lektionsplan 1591: Sekunda). 631 Vgl. Niemöller (1969), S. 662. 632 Zit. nach Sehling (1911), S. 403.
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mente der Notation, Intervalle, Claves (= Tonbuchstaben und Schlüssel) und Voces (= Solmisationssilben) und für die Figuralmusik darüber hinaus auch die Grundlagen der Mensuralnotation nötig. Die Stunden für die ›praecepta‹ und den ›usus‹ waren in Stralsund bis in die 1640erJahre annähernd gleichmäßig verteilt, wie es auch die pommersche Kirchenordnung von 1563 vorgesehen hatte633. Niemöller zufolge war es nicht unbedingt die Regel, dass auch der musiktheoretische Unterricht gleichermaßen berücksichtigt wurde: »Nur eine begrenzte Zahl von Lateinschulen erstrebte eine vertiefte theoretische Grundlegung und teilte deshalb etwa den vierstündigen Gesamtunterricht in zwei Stunden für die Praecepta und zwei Stunden für die Exercitia.«634 In Stralsund und in Pommern insgesamt war dies jedoch zumeist der Fall635. Die Stellung des Musikunterrichts an der Stralsunder Lateinschule im 16. und 17. Jahrhundert soll im Folgenden anhand der überlieferten Lektionspläne nachgezeichnet werden: Lektionspläne von 1560 636 Stufe 2–4
Montag »Cantor leget praecepta musices«
Dienstag »praecepta musices«
Donnerstag »Cantor [...] cantabit«
Freitag Musik (»Diebus Veneris ab hora 12. usque ad 3. repetentur septimanalia«)
5–6
»Musica«
»Musica«
»Musica«
»Musica«
7
Samstag »Cantor [...] cantabit« »Cantor repetet cum paruis cantum choralem, antiphonas, responsoria, hymnos etc.« »Cantor repetet cantum choralem« »Cantabunt et scriptum exhibebunt cantum choralem Cantorj«
Tabelle 7: Musikunterricht zur Mittagsstunde (Lektionspläne von 1560)
633 Allerdings erhielten nur einige der Klassen sowohl praktischen als auch theoretischen Unterricht. Vgl. das Kapitel zum Musikunterricht an der Stralsunder Lateinschule auf S. 109ff. 634 Niemöller (1969), S. 664. 635 Für Pommern schreibt Niemöller: »Mit ganz wenigen Ausnahmen wurden nach den Lektionsplänen überall am Montag und Dienstag die ›praecepta musicae‹ gelesen, am Donnerstag und Freitag das ›exercitium musices‹ gehalten.« Ebd., S. 109. 636 Vgl. Zober (1939), S. 35–39.
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Schon die Lektionspläne von 1560 sahen einen umfangreichen Musikunterricht in Theorie und Praxis vor. An fünf Tagen wöchentlich – Montag, Dienstag, Donnerstag, Freitag, Samstag – wurde von der Sexta bis zur Sekunda Musikunterricht erteilt – deutlich getrennt in Theorie und Praxis aber wohl nur für die drei oberen Schulstufen: Quarta, Tertia und Sekunda hörten am Montag und Dienstag die praecepta musices und sangen am Donnerstag und Samstag. Der Musikunterricht in Sexta und Quinta wurde am Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag nur als »Musica« bezeichnet und lag vermutlich in der Verantwortung des ersten Concentors. Was man sich inhaltlich darunter genau vorzustellen hatte und ob auch bereits in den unteren Lateinklassen musiktheoretischer Unterricht erteilt wurde, wird nicht weiter erläutert. Am Samstag waren alle ›lateinischen‹ Klassenstufen vereint. Auch die Septima kam hinzu, für die sich der Musikunterricht offenbar auf die samstägliche Singestunde beschränkte. Hier hörte der Kantor die Kirchengesänge ab637 und bereitete die Schüler auf die gottesdienstlichen Zeremonien am Samstag und Sonntag vor, wie es auch die in der Schulordnung von 1591 enthaltenen Paedagogorum leges belegen: »12. Diebus Sabbati hora 12 et alijs quoque horis exercitio musico destinatis in puncto horae adero, et in melodijs postridie in templis decantandis una cum alijs me exercebo aut mulctam, de qua inter collegas convenerit, exsolvere non gravabor.«638
Die Schüler der deutschen Klasse und der Kurrendeklasse nahmen am Singeunterricht offenbar nicht teil. Lektionspläne von 1591639 Die Lektionspläne der zweiten Stralsunder Schulordnung von 1591 räumten dem Musikunterricht weniger Raum ein. An den humanistisch orientierten Schulprogrammen des Straßburger Rektors Johannes Sturm ausgerichtet, stellten sie nunmehr vor allem die lateinische Sprachlehre ins Zentrum des Unterrichts640.
637 Vgl. Niemöller (1969), S. 96. 638 Zit. nach Zober (1841), S. 53. Die Paedagogorum leges richteten sich an die oben (siehe S. 74) bereits erwähnten »Paedagogi«. 639 Vgl. Schulordnung und Lektionspläne bei Zober (1841), S. 35–56. 640 Vgl. dazu auch oben S. 106 sowie Zober (1841, S. 6) zur Einführung der Schulordnung von 1591: »Der eigentliche Angelpunkt aber, um den sich aller Unterricht mehr oder weniger drehte, war das Lateinische. Alle Lectionen waren nur Mittel zur Erreichung des Einen Hauptzieles: ein ciceronischer Lateiner zu werden.« Vgl. dazu auch Hettwer (1965), S. 102f.
114 Stufe 2 3
4
Kantorat und Kirchengesang in Stralsund Montag
Dienstag
Donnerstag
Freitag
»Musicorum præceptorum fiat explicatio; eorundem ostendatur usus«
»Musicae exercitium instituatur«
»Musicorum præceptorum fiat explicatio; eorundem ostendatur usus« »Musica praecepta«
»Musicae exercitium instituatur«
»Ad praecepta musica audienda admittantur«
5
6
Samstag »Musica« »Musica«
»Musices exer citium choralis, etiam figuralis si quidam inveniantur idonei« »Psalmos germanicos canant evangelio convenientes« »Psalmum germanicum canant, evangelio convenientem«
Tabelle 8: Musikunterricht zur Mittagsstunde (Lektionspläne von 1591)
Musiktheorie spielte im Unterrichtskonzept Sturms offenbar keine Rolle, wurde jedoch »zusätzlich in Stralsund betrieben«641. Die nunmehr stärker sprachliche Ausrichtung642 führte dazu, dass der musikalische Unterricht nur noch in der Quarta (Dienstag, Donnerstag und Samstag) und in der Tertia (Montag bis Samstag, Mittwoch ausgenommen) stattfand. Dabei umfassten die Pläne für beide Schulstufen auch weiterhin sowohl die Musiktheorie als auch die Praxis. Die Quarta bekam am Dienstag (hier offenbar freiwillig: »Ad praecepta musica audienda admittantur«) und am Donnerstag theoretischen Musikunterricht, die Tertia hingegen am Montag und am Donnerstag mit gleichzeitiger praktischer Anwendung: »Musicorum præceptorum fiat explicatio; eorundem ostendatur usus«643. Die übrigen Schulstufen – Sexta, Quinta, Sekunda – nahmen lediglich an der samstäglichen Singestunde teil und wurden zur Mittagsstunde an den verbleibenden Tagen in anderen Exerzitien – unter anderem im Schönschreiben (»Calliographias exercitium«) – unterrichtet644. Unklar bleibt, wie man die für die Sekunda in der zweiten Stralsunder Schulordnung angegebenen Lehrinhalte umzusetzen gedachte. Die Musik wird hier gemeinsam 641 Ebd., S. 101. 642 Während das Sturmsche Lehrprogramm gleichermaßen auf das Lateinische und Griechische abzielte, hatten die Stralsunder Bestimmungen, das Griechische betreffend, allerdings nur eine »mediocris linguae [...] cognitio« zum Ziel. Vgl. den Lektionsplan der Sekunda bei Zober (1841), S. 42. Vgl. dazu auch Hettwer (1965), S. 100. 643 Vgl. Zober (1841), S. 37–43. 644 Vgl. die Lektionspläne ebd.
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mit »dialectices, rhetorices, arithmet. [...] [und] astronomiae rudimenta« aufgeführt; neben ihrem ›Gebrauch‹ sollte auch das ›Verständnis‹ derselben angestrebt werden (»musicae intelligentia, scientia, usus, exercitatio«). Für den Unterricht in den oberen Klassen – womit vermutlich auch die Sekunda gemeint ist – wird überdies das Singen vierstimmiger Buchananscher Psalmen erwähnt645. Im Lektionsplan dieser Klasse jedoch spielte die Musik – abgesehen von der samstäglichen Singestunde – keine Rolle, und die Mittagsstunde war anderweitig belegt646. Vielleicht jedoch hatten die Sekundaner die für das Singen wesentlichen theoretischen Kenntnisse auch bereits in der Quarta und Tertia erworben und erhielten aus diesem Grunde keinen (musik-)theoretischen Unterricht mehr. Vorstellbar ist auch, dass man ihnen wegen des anstehenden Übergangs zur Universität und den damit verbundenen intensiven Vorbereitungen den Musikunterricht nunmehr ersparte. Sexta und Quinta waren nach den Lektionsplänen von 1591 – bis auf den Samstag – vom Musikunterricht nunmehr ganz ausgenommen. Vielleicht sollte es mit Einführung der neuen Schulordnung auch für die unteren Klassen zunächst vor allem darum gehen, Grundkenntnisse des Lateinischen zu erwerben647. Neben dem musikalischen Unterricht wurden auch die Gesangsverpflichtungen der Schüler eingeschränkt: Das gottesdienstliche Singen unter der Woche – im Frühgottesdienst und in der Vesper – wurde nunmehr allein den Kurrendanern zugewiesen648. Um die verbleibenden Gottesdienste an den Sams- und Sonntagen musikalisch vorzubereiten, betrachtete man offenbar – für Sexta, Quinta und Sekunda – die samstägliche Probe als ausreichend. Lektionspläne von 1617649 Wiederum verändert und deutlich erweitert erscheinen die Bestimmungen der Lektionspläne von 1617. Täglicher Musikunterricht unter der Woche – den Mittwoch ausgenommen – stand nunmehr auf dem Programm der vier oberen Klassen (Quarta bis Prima). Eine Unterteilung in Theorie und Praxis erfolgte zumindest für Tertia, Sekunda und Prima650, wobei der theoretische Musikunterricht die praktische Anwendung nicht ausschloss651. Die Quartaner bekamen am Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag Unterricht in den musikalischen Grundlagen, offenbar kombiniert mit Schönschreib-
645 Siehe dazu unten S. 123f. 646 Zober (1841), S. 42f. 647 Auch in Freiberg bekamen die unteren Schulstufen 1570 keinen Musikunterricht. Krickeberg (1965), S. 51f. 648 Vgl. Zober (1841), S. 45. Ähnliche Bestimmungen werden von Krickeberg (1965, S. 56f.) für Freiberg beschrieben: Der kursächsischen Kirchenordnung von 1580 zufolge sollten die Werktagsgottesdienste nur von den Schülern der deutschen Schule gesungen werden. 649 Vgl. auch Zober (1848), S. 44–47. 650 Die drei oberen Klassen hatten am Montag und Dienstag theoretischen und am Donnerstag und Freitag praktischen Musikunterricht. Vgl. ebd. 651 Siehe den Lektionsplan der Prima: »Musicae lectio et exercitium«.
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übungen: »Musicae initia et calligraphiae exercitium«. Für Sexta und Quinta war auch jetzt kein Musikunterricht vorgesehen. Stufe 1
2
3
4
Montag »Musicae lectio et exercitium, a Cantore« »Musicae praecepta et exercitia, cum Primanis« »Superiores ad musicae praecepta et exercitia admittantur, caeteri calligraphiam exerceant« »Musica initia et calligraphiae exercitium«
Dienstag »Musicae lectio et exercitium, a Cantore« »Musicae praecepta et exercitia, cum Primanis« »Superiores ad musicae praecepta et exercitia admittantur, caeteri calligraphiam exerceant« »Musica initia et calligraphiae exercitium«
Donnerstag Freitag Samstag »Musicae exerci- »Musicae exerci- »Musica choratium« tium« lis aut figuralis« »Musica«
»Musica«
»Musica et calligraphia praesente praeceptore classis V.«
»Musica et calli- »Musica chographia praesen- ralis« te praeceptore classis V.«
»Musica initia et calligraphiae exercitium«
»Musica initia et calligraphiae exercitium«
5
6
»Musica choralis aut figuralis«
»Musica choralis« »Psalmos germanicos canant, evangelio convenientes« »Germanicos psalmos canant«
Tabelle 9: Musikunterricht zur Mittagsstunde (Lektionspläne von 1617)
Verpflichtend für alle sechs Lateinschulklassen war wiederum die samstägliche Singestunde. Sekunda und Prima probten dabei Choral- und Figuralmusik, Quarta und Tertia nur Choralmusik und Sexta und Quinta das Singen deutscher Psalmen652. Warum man die Bestimmungen zum Musikunterricht mit Einführung der neuen Lektionspläne wiederum auf die vier oberen Klassen erweiterte, ist unbekannt. Vielleicht hatte man die gesanglichen Fertigkeiten der Schüler nach den Einschränkungen von 1591 als zunehmend unbefriedigend empfunden oder aber der Kantor Andreas Herlitz, der 1592 – ein Jahr nach Verabschiedung der neuen Schulordnung und Lektionspläne – ins Amt gekommen war, hatte darauf gedrungen.
652 Siehe Tabelle 9.
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Lektionspläne von 1643653 Stufe 5
Montag »Scribendi et canendi ars exercebitur (et scribendi quidem apud classicum, canendi vero apud sextae classis praeceptorem)«
Dienstag »Scribendi et canendi ars exercebitur (et scribendi quidem apud classicum, canendi vero apud sextae classis praeceptorem)«
Donnerstag »Scribendi et canendi ars exercebitur (et scribendi quidem apud classicum, canendi vero apud sextae classis praeceptorem)«
Freitag »Scribendi et canendi ars exercebitur (et scribendi quidem apud classicum, canendi vero apud sextae classis praeceptorem)«
Tabelle 10: Musikunterricht zur Mittagsstunde (Lektionspläne von 1643)
Mit Verabschiedung der dritten Stralsunder Schulordnung von 1643 traten wiederum neue Lektionspläne in Kraft, die jedoch kaum Hinweise auf den Musikunterricht enthalten. Auch die gemeinsame Singestunde am Samstag wird nicht mehr erwähnt. Die Musik wird unter den allgemeinen Lehrzielen zwar weiterhin benannt – »nec omnino sint ignari rudimentorum mathematicorum, imprimis quae ad musicam et arithmeticam pertinent«654 –, in den Lektionsplänen für die einzelnen Schulstufen erscheint jedoch weder die theoretische noch die praktische Musiklehre. Nur für die Quinta heißt es zur Mittagsstunde am Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag: »Scribendi et canendi ars exercebitur«. Allerdings lag dieser Unterricht nicht in der Verantwortung des Kantors, sondern des Lehrers der sechsten Klasse (Succentor): »canendi vero apud sextae classis praeceptorem«. Ob tatsächlich also nur noch die Quintaner Musikunterricht erhielten, ist nicht zu ermitteln. Dass jedoch die Mittagsstunde (12–13 Uhr) zumindest in den Lektionsplänen der drei oberen Klassen nicht belegt ist, mag wiederum darauf hindeuten, dass man den Singeunterricht zur Mittagszeit nicht mehr als regulären Schulstoff verstand655, sondern als vom Lehrplan unabhängige Dienstleistung für die Kirche, die nur noch von einem Teil der Schülerschaft wahrgenommen wurde, nämlich den später zu behandelnden schulischen Singechören656. Ähnliches weiß Krickeberg über die Figuralmusik in Freiberg zu berichten657. Die ›normale‹ Stralsunder Schülerschaft sollte jedenfalls nicht durch das Singen von ihren wissenschaftlichen Studien abgehalten werden, wie es auch ein Eintrag aus einem Ratsprotokoll von 1643 zeigt: »Die Stunden, so zu den Studijs verwendet werden sollen, müßen von dem Cantore zum Singen nicht verwendet wer-
653 654 655 656 657
Vgl. die Lektionspläne bei Zober (1848), S. 57–61. Zit. nach ebd., S. 56f. Siehe S. 111. Vgl. unten S. 133ff. »Sie [die Schulleitung] fürchtete vielmehr, daß die Schüler durch die Proben von den Studien abgehalten würden. So konnte es ihr nur willkommen sein, wenn die Figuralmusik in erster Linie von den Chorschülern ausgeführt würde.« Krickeberg (1965), S. 57f.
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den.«658 Auch diese Regelung zielte auf eine allgemeine Verbesserung des Stralsunder Schulwesens, um das man sich 1643 bemühte. Lektionspläne von ~1681659 Stufe Montag 1 »Musicae Exercitium« 2 »Musicae Exercitium«
Dienstag »Musicae Exercitium« »Musicae Exercitium«
Mittwoch »Musicae Exercitium« »Musicae Exercitium«
Donnerstag »Musicae Exercitium« »Musicae Exercitium«
Freitag »Musicae Exercitium« »Musicae Exercitium«
Samstag »Musicae Exercitium« »Musicae Exercitium«
Tabelle 11: Musikunterricht zur Mittagsstunde (Lektionspläne von ~1681)
Erneut erwähnt wird der Musikunterricht – als »Musicae Exercitium« – in den Lektionsplänen von 1681 täglich zur Mittagsstunde. Offenbar hatten jedoch nur die Sekundaner und Primaner daran teilzunehmen. Für die unteren Klassen war während dieser Zeit Schreibunterricht – »Exercitium scriptionis« – vorgesehen660. Weitere Informationen, wie etwa zur Aufteilung von theoretischem und praktischem Unterricht an den einzelnen Wochentagen, enthalten die Lektionspläne nicht. Fazit Für den Musikunterricht an der Stralsunder Lateinschule waren vermutlich der Kantor, die beiden Concentoren und der erste Succentor zuständig. Dabei oblag dem Kantor die theoretische und praktische Musiklehre in den oberen Schulstufen, während die anderen Lehrer den Unterricht in den unteren Stufen übernahmen. Die theoretische Musiklehre war den oberen Klassen – Quarta bis Sekunda bzw. Tertia bis Prima – vorbehalten, deren Schüler im Gottesdienst nicht nur choraliter, sondern auch figuraliter musizierten. Über die Anzahl und Verteilung der wöchentlichen Musikstunden sowie den Anteil von Theorie und Praxis informieren die überlieferten Lektionspläne. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts wurde der musikalische Unterricht reduziert; auch die theoretische Musiklehre verlor an Bedeutung. Als geradlinig erweist sich diese Entwicklung dennoch nicht. Nachdem sich die zweite Stralsunder Schulordnung (1591) am humanistisch geprägten Bildungsideal Johannes Sturms orientiert hatte, das der Musiklehre eine nur untergeordnete Rolle zuwies, erscheinen die Bestimmungen der Lektionspläne von 1617 hinsichtlich des Musikunterrichts wiederum deutlich erweitert. Dennoch bleibt die Bedeutung der Lektionspläne als Quellen begrenzt. So mag die Sonderstellung des allein im Dienste des Kirchengesangs stehenden Musikunterrichts im Verlauf des 17. Jahrhunderts dazu geführt haben, dass die Musikstunden anders als der übrige Unterricht nicht mehr vollständig verzeichnet wurden bzw. nur für einen ausgewählten Schü658 Zit. nach Zober (1848), S. 63. 659 Vgl. ders. (1858), S. 85–87. 660 Vgl. ebd., S. 86.
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lerkreis relevant waren. Auffällig ist, dass die Lektionspläne von 1643 kaum mehr Angaben zum musikalischen Unterricht enthalten und nicht einmal die Musikstunde am Samstag erwähnen. Wiederum erweitert erscheinen die Bestimmungen von ~1681. Ob und wie die in den Plänen enthaltenen Bestimmungen tatsächlich umgesetzt wurden, ist unklar, auch wenn das Scholarchat zu regelmäßigen Kontrollen verpflichtet war. Wie sich der Musikunterricht an der Stralsunder Lateinschule im Verlauf des 17. Jahrhunderts tatsächlich gestaltete, lässt sich somit nicht endgültig klären. Unbestritten bleibt das gesamte 17. Jahrhundert hindurch der Bedarf schulischer Singedienste bei der Kirchenmusik. Auch blieb die Musik als Unterrichtsinhalt im Lehrprogramm der Stralsunder Lateinschule verankert, wenngleich sie unterschiedlich stark in die Schulprogramme und Lektionspläne integriert wurde. Die Hintergründe für einen reduzierten musikalischen Unterricht in den Lektionsplänen von 1591 und 1643 lassen sich nur zum Teil aufdecken, doch führten die musikalischen Einschränkungen im Lateinschulbereich vermutlich zu erweiterten Verpflichtungen etwa für die schulischen Singechöre, deren Bedeutung für die gottesdienstliche Figuralmusik im Verlauf des 17. Jahrhunderts wuchs. Musikalische Lehrwerke Anders als für die wissenschaftlichen Fächer wird für den Musikunterricht an den Lateinschulen in der Regel kein spezielles Lehrbuch benannt661. Auch die Lektionspläne der Stralsunder Lateinschule enthalten dazu keinerlei Hinweise, wohl aber ausführliche Informationen zu den lateinischen oder griechischen Grammatiklehren. Der Kirchenordnung von 1563 zufolge war in Pommern die Musiklehre von Nikolaus Listenius in Gebrauch. Dabei handelte es sich wohl nicht um die Erstausgabe des Werkes (Rudimenta musicae in gratiam studiosae juventutis diligenter comportata A. M. Nicolao Listenio, Wittenberg 1533), sondern um die erweiterte Fassung MVSICA NICOLAI LISTEnij, ab authore denuo recognita, multisq[ue] nouis regulis & exemplis adaucta (Wittenberg 1537)662, die ebenfalls zahlreiche Wiederauflagen erlebte und als das »am weitesten verbreitete Lehrbuch der Musik an den Lateinschulen Mitteldeutschlands, Pommerns, Württembergs und Österreichs im 16. Jahrhundert« gilt663. Die Wahl dieses Lehrbuchs für Pommern erfolgte vermutlich auf Initiative Bugenhagens, der ein Vorwort für den Traktat geschrieben hatte. Doch bewährte sich der Gebrauch der MVSICA in Pommern nicht, da man die Musiklehre als zu schwer und zu schnell voranschreitend empfand: »Dewile överst des Listenii musica, so jtzund in den scholen gebruket wert, den kindern to swar unde behende«664. Niemöller erwähnt in diesem Zusammenhang eine Beschwerde über den Stettiner Kantor Vitus Garleb, der – wie es die Stettiner Lektionspläne vorschrieben – 1576 aus Listenius gelesen hatte: 661 Vgl. Niemöller (1969), S. 664. 662 Ein Faksimiledruck einer späteren Ausgabe (1549) erschien 1927. Siehe Listenius (1549/1927) im Literaturverzeichnis. 663 Von Loesch (2004), Sp. 202. 664 Zit. nach Sehling (1911), S. 403 (Pommersche Kirchenordnung 1563).
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»Wann die musica vom Herrn Cantore interpretirt wird, will niemand hören und beschweren sich die auditores, daß sie seine Interpretation wenig nützen möge.«665 Verglichen mit dem zur damaligen Zeit außerdem populären COMPENDIOLVM MVSICÆ PRO INCIPIENTIBVS des Braunschweiger Rektors Heinrich Faber (Braunschweig, Frankfurt/Oder, Nürnberg 1548), das in erster Linie auf das bloße Verständnis der Notation hinsichtlich von Tonhöhe und Tondauer zielte666, war Listenius‘ MVSICA in der Tat schon dadurch anspruchsvoller, dass sie neben dem »bloßen Tonvorrat«667 der ›musica choralis‹ auch die mehrstimmige ›musica mensuralis‹ behandelt668. Obwohl auch Listenius eine Vielzahl an praktischen Beispielen verwendete und den Schwerpunkt somit auf den »usus« legte669, empfand man den Stoff und die Texte seiner Musiklehre offenbar als wenig verständlich und verfügte nach diesen Erfahrungen, dass für den schulischen Gebrauch im pommerschen Herzogtum »eine andere korte unde lichtere musica« mit den »nödigesten praecepta vor de kinder mit groten boeckstaven« verfasst und gedruckt werden solle670. Auf Fabers COMPENDIOLVM griff man dabei nicht zurück, sondern versprach sich vielmehr Abhilfe durch Eucharius Hoffmanns MVSICÆ PRACTICÆ PRÆCEPTA (Wittenberg 1572), wie dem Vorwort des Generalsuperintendenten für Pommern-Wolgast Jakob Runge in der dritten Auflage des Lehrwerks (Hamburg 1588) zu entnehmen ist: »Inter quos hac ætate gratia meritò debetur Viro doctissimo Euchario Hoffmanno, qui præcepta Musicæ Practicæ, monstratis fundamentis, a veteribus artificibus tradita in hoc libello studiose contexuit et exemplis eadem illustravit. Cumq Listenij Musica brevior, alicubi etiam obscurior & mutila sit, & in publicato Ordine Ecclesiarum Pomeraniæ alia in vsum juventutis promissa, existimo Præceptores in Scholis utiliter hac Methodo Eucharij nostri posse uti quam animadvertent re ipsa ingenijs juvenilibus fore aptam & utilem.«671
665 Zit. nach Niemöller (1969), S. 110. Im Lektionsplan von 1576 heißt es: »cantor musicam Listenii exponit«. Ebd. 666 Küster (2006, Theorie, S. 73) spricht von einer »radikalen Reduktion des Stoffes auf Elementares«. Behandelt werden fünf Kernthemen in dialogischer Form: 1. Claves (= Tonbuchstaben und Schlüssel), 2. Voces (= Solmisationssilben), 3. Cantus (= Unterscheidung der Hexachorde), 4. Mutatio (= Weitung der Sechs-Ton-Räume) und 5. Figurae (= Notation von Tönen und Pausen). Küster vermutet, dass sich Faber auch aufgrund seines Rektorenamtes inhaltlich beschränkte und nur um die Voraussetzungen zum Singen bemühte, wie es seinen musikalischen Dienstpflichten entsprach. Ebd., S. 72. 667 Ebd., S. 73. 668 Vgl. ebd. sowie von Loesch (2004), Sp. 202. 669 Ebd. 670 Zit. nach Sehling (1911), S. 403 (Pommersche Kirchenordnung von 1563). 671 Vgl. das Vorwort in der dritten Auflage der MVSICÆ PRACTICÆ PRÆCEPTA (fol. A 6v).
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Auch Runge konstatiert hier noch einmal – mehr als zwanzig Jahre nach dem Erscheinen der zweiten pommerschen Kirchenordnung von 1563 –, dass die Musiklehre von Listenius zwar kürzer als die von Hoffmann, jedoch unverständlich und außerdem lückenhaft sei. Hoffmanns Musiklehre, die sich im Übrigen auf Fabers COMPENDIOLVM beruft, sei hingegen den »jugendlichen Begabungen angemessen und nützlich«. Das Vorwort zur ersten Auflage der MVSICÆ PRACTICÆ PRÆCEPTA (1572) schrieb der Stralsunder Superintendent Jakob Kruse (Crusius)672, der sich zunächst zur Entstehung der Musiklehre äußert und dabei berichtet, dass Hoffmann sein Lehrwerk bereits seit einigen Jahren in handschriftlicher Form verwende673. Allerdings verschwende die Jugend dadurch unnötig viel Zeit mit dem Abschreiben, was Hoffmann nicht zuletzt veranlasste, die Musiklehre in den Druck zu bringen. Ausgesprochen konservativ erscheinen die nachfolgenden Ausführungen zur alten und modernen Kirchenmusik, in denen Kruse ein Plädoyer für die Musik der alten Meister einlegt, ohne sich hierzu näher zu äußern. In diesem Sinne sei jedenfalls auch Hoffmanns Musiklehre zu verstehen, die vor allem darauf ziele, der Jugend die Musik der alten Künstler nahezubringen: »Sæpè cogito, vt inter eloquentiam, sapientiam, et grauitatem senilem. atque iuuenilem, ingens est discrimen: Ita inter Musicos veteres et recentes quoque esse. Itaque fauore atque beneuolentia dignos esse existimo, qui quoquo modo iuuentutem ad cognoscenda et amanda veterum artificium opera, quæ in Mißis maximè elucent, inuitant. Quod cum hic quoque faciat libellus, debet et hoc nomine Studiosis Musices esse gratior. Bene vale.«674
Hoffmanns Musiklehre ist in elf Kapitel unterteilt und nach einigen allgemeinen Vorschriften (»Mvsicæ Præcepta communiora«) den folgenden Themen gewidmet: (1) Voces (= Solmisation) (2) Claves (= Tonbuchstaben und Schlüssel) (3) Scalae (= Skalen) (4) Genera (= Tongeschlechter) (5) Notæ (= Notation/Notenwerte) (6) Pausæ (= Pausen) (7) Intervalla (= Intervalle) (8) Mutationes (= Überschreitung von Hexachordgrenzen) (9) Toni (= Kirchentöne) (10) Tactus (= Taktarten) (11) Prolatio, Tempus & Modus (= Proportionen) 672 Vgl. zu Kruse Ptaszyński (2013), S. 169–174. 673 In einer weiteren Vorrede vom 15.7.1571 berichtet Hoffmann selbst, dass er acht Jahre mit dem Buch gearbeitet habe, bevor es 1572 im Druck erschien. 674 Vgl. die Vorrede von Kruse, o. S.
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Nach einer erotematisch konzipierten Einführung in die jeweilige Thematik folgen jeweils illustrierende Notenbeispiele für zumeist mehrere Stimmen. Schon in der ersten Auflage seines Lehrwerks von 1572 beruft sich Hoffmann auf die Tonartenlehre Heinrich Glareans und widmet sich im neunten Kapitel nicht nur den herkömmlichen acht Modi, sondern außerdem dem Äolischen, Hypoäolischen, Ionischen und Hypoionischen sowie dem Tonus peregrinus. Den Schluss des Lehrwerks bildet eine Kurzfassung des zuvor Beschriebenen – ein »Compendiolum« –, das den Inhalt der Kapitel eins bis acht zusammenfasst, auf die Notenbeispiele dabei jedoch verzichtet. Inhaltlich gehen Hoffmanns MVSICÆ PRACTICÆ PRÆCEPTA über die Musiklehre Fabers hinaus und erscheinen auch ansonsten nicht wenig anspruchsvoll. Vermutlich war dies der Grund dafür, dass sich auch Hoffmanns Musiklehre nicht in ganz Pommern durchsetzen konnte. Verwendet wurde das Lehrwerk außer in Stralsund auch in Greifswald, wie etwa von Lehmann angegeben675. An der Stettiner Ratsschule hingegen gebrauchte man 1573 offenbar die MVSICÆ PRACTICÆ ELEmenta (Magdeburg 1571) von Gallus Dressler, in Schlawe 1590 die EROTEMATA MVSICÆ PRACTICÆ (Nürnberg 1563) von Lucas Lossius676 und in Stargard ab 1604 die Præcepta Mvsicæ Practicæ (Stettin 1604) von Peter Eichmann677. Ob und wie lange man in Stralsund anhand der Hoffmannschen Musiklehre unterrichtete, ist unbekannt. Nach ihrem Erscheinen 1572 in Wittenberg erlebten Hoffmanns PRÆCEPTA noch wenigstens zwei weitere Auflagen (Rostock 1578 und Hamburg 1588), waren also offenbar nicht unpopulär. Zehn Jahre nach Erscheinen der MVSICÆ PRACTICÆ PRÆCEPTA veröffentlichte Hoffmann mit seiner DOCTRINA DE TONIS (Greifswald 1582) ein weiteres musiktheoretisches Werk für den Gebrauch im musikalischen Unterricht, das nunmehr ganz der Lehre von den zwölf Modi gewidmet ist. Schon in der Vorrede der DOCTRINA, die Hoffmann im Übrigen an mehrere namentlich genannte (ehemalige?) Schüler adressierte, bezeichnet er die Lehre von den Kirchentönen als den »würdigsten« Teil der Musiklehre, da man nicht singen könne, ohne die »Töne« zu kennen und zu verstehen. Ein musiktheoretisches Werk wie seine DOCTRINA sei daher schon lange erwartet worden678. In sieben Kapiteln befasst sich Hoffmann zunächst mit Begrifflichem (1), dann mit dem Ursprung der Kirchentöne (2), ihrer Anzahl und Aufteilung (3), der Einteilung in Dur und Moll (4), der Unterscheidung und dem Erkennen der Töne (5 und 6) und schließlich mit dem speziellen Umgang mit den Kirchentönen (7), 675 Zit. nach Lehmann (1861), S. 37 und 150: »Autores in artibus non varient temere: sed retineant eos, qui semel approbati sunt et recepti, ne tenere aetas praeceptorum varietate turbetur. In grammatica latina uterque libellus Nathanis Chytraei [...], in Musica Stoffmannus.« 676 Dabei handelt es sich allerdings nicht um einen originären Beitrag Lossius‘, sondern um eine Zusammenstellung aus verschiedenen Musiklehren der Zeit, etwa von Agricola, Listenius oder Faber. Vgl. Merten (2004), Sp. 492. 677 Niemöller (1969), S. 111. Vgl. zu Eichmanns Musiklehre auch Ruhnke (2001), Sp. 154. 678 Vgl. die Vorrede des Werkes vom 12. Oktober 1582.
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wobei er zahlreiche musikalische Beispiele etwa von Orlando di Lasso oder Clemens non Papa anführt. Auch die DOCTRINA erlebte 1588 eine Wiederauflage; zudem erschien 1605 ein Auszug des Werkes, betitelt als Brevis synopsis de modis seu tonis musicis (Rostock 1605). Musikalisch ›umgesetzt‹ bzw. illustriert hatte Hoffmann die Glareansche Lehre von den zwölf Kirchentönen bereits in seinen XXIIII. CANTIONES […] ACOMMODATÆ AD XII. TONOS von 1577679. Gegliedert nach »Scala Dvra« und »Scala Molli« bietet Hoffmann darin jeweils zwölf vornehmlich lateinischsprachige vier- bis sechsstimmige Motetten, die er vermutlich auch für die eigene kirchenmusikalische Praxis benutzte680. Auf die Erfordernisse des Lateinschulunterrichts und der gottesdienstlichen Praxis reagierte auch der Stralsunder Subrektor Caspar Movius einige Jahre später mit seiner Cithara Davidica, sive odae Buchanani super Psalterium von 1639 für zwei Singstimmen und (textierten) Generalbass681. Schon die Statuten der Stralsunder Schulordnung von 1591 berichten für den Unterricht der oberen Klassen vom Gesang Buchananscher Psalmen, die vom Kantor zu dieser Zeit noch vierstimmig zu setzen waren: »[I]n supremis autem ordinibus psalmos Davidis varijs carminum generibus a Buchanano donatos, quibus si cantor suam cuilibet pro carminum genere peculiarem accommodaret melodiam et quatuor vocibus eas decantari curaret et haec ratio continuaretur: fiet profecto, ut et suavissime canerent et citra laborem omnes illos psalmos adolescentes mandarent memoriae.«682
Bei den Psalmen Buchanans handelt es sich um lateinische Paraphrasen Davidischer Psalmen, die der schottische Philosoph Georg Buchanan (1506–1582) in horazischen Versmaßen verfasst und unter dem Titel PSALMORVM DAVIDIS PARAPHRASIS POETICA erstmals 1566 in Genf veröffentlicht hatte. 1585 erschien unter demselben Titel eine von dem Rostocker Rektor Nathan Chytraeus veröffentlichte und musikalisch ergänzte Ausgabe der Buchananschen Paraphrasen683. Dafür hatte Chytraeus 40 homophone vierstimmige Sätze von dem Rostocker Kantor Statius Olthof (1555– 1629) erhalten, die dieser zum Teil selbst geschrieben und zum Teil anderen Sammlungen entnommen hatte (u. a. aus Martin Agricolas Melodiae scholasticae, Wittenberg 1557). Wie die Vorlage Buchanans war auch die Ausgabe von Chytraeus außerordentlich populär und erlebte viele Auflagen684. Vermutlich war diese Sammlung auch in 679 Bossuyt (1981), S. 285. 680 Die Motetten tragen zum Teil Widmungen an Stralsunder Musikerkollegen Hoffmanns. Vgl. unten S. 192, 217 und 275. 681 Siehe die Werke von Movius im Anhang auf S. 388f. 682 Zit. nach Zober (1841), S. 36. 683 Die Ausgabe von 1585 ist heute nicht mehr nachweisbar, dafür jedoch wenigstens neun weitere Auflagen seit 1588 aus der Corvinus-Druckerei in Herborn. Vgl. Waczkat (2004), Sp. 1370. 684 Ebd.
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Stralsund bekannt und in Gebrauch, zumal Eucharius Hoffmann in Kontakt zu dem Rostocker Rektor stand und sich auch die Schulordnung von 1591 auf Chytraeus beruft685. Zu den Unterrichtsinhalten zählten die Buchananschen Psalmen in Stralsund bis in das 18. Jahrhundert hinein. Erst 1722 wurde im Zuge von Verbesserungen des Stralsunder Schulwesens von dem Scholarchatsmitglied Johannes Hagemeister gefordert, »die lateinischen Gesänge aus dem Buchanano abzustellen [...], weiln die Wenigsten ihrer schweren Construction halber solche verstehen«, und durch »Verse aus einem [deutschen] geistlichen Liede« zu ersetzen, »welche bey der Jugend mehr Andacht und Erbauung erwecken würden«686. Offenbar dienten die Psalmen Buchanans nicht allein der lateinischen Sprachlehre, sondern gehörten – von unterschiedlichen Komponisten gesetzt – auch zum gottesdienstlichen Repertoire687. Movius reagierte mit seinen Vertonungen von 1639 vermutlich vor allem auf den musikalischen Stilwandel zu dieser Zeit. Seine Psalmvertonungen nach Buchanan waren, anders als es noch die Schulordnung von 1591 bestimmt hatte, nicht mehr vier-, sondern nur noch zweistimmig gesetzt und verfügten über eine (textierte) Generalbassstimme.
1.2.3.2 Kirchengesang Das gottesdienstliche Handeln von Kantor und Schülerschaft unterlag liturgischen Vorgaben, die durch Kirchenordnungen und Agenden festgelegt waren. Diese wiederum waren von theologischen Positionen abhängig, die »der Musik im gottesdienstlichen Geschehen eine unterschiedliche Rolle beimessen konnten«688. 1.2.3.2.1  Die Stralsunder Gottesdienste Über das liturgisch-gottesdienstliche Handeln von Kantor, Schülerschaft und den übrigen abgeordneten Lehrern informieren vor allem die Agenden der pommerschen Kirchenordnungen (1542 und 1569). Angaben zu den Stralsunder Gottesdienstzeiten und der Beteiligung der Schülerschaft lassen sich darüber hinaus der Ordnung Johannes Knipstros (1555) entnehmen, deren Bestimmungen sich kaum von denen der pommerschen Ordnungen unterscheiden.
685 686 687 688
Vgl. S. 92, Anm. 508, sowie S. 106, Anm. 597 in dieser Arbeit. Zit. nach Zober (1858), S. 31. Vgl. dazu auch Finscher (1997), Sp. 1893. Kremer (1995), S. 158.
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Kantorat und Kirchengesang in Stralsund St. Nikolai Sonntag lat. Mette Katechimuspredigt Messe Vesper Predigt (»Sermon«) Sonnabend (lat.) Vesper Montag–Freitag Predigt (»Sermon«) Vesper Katechismuslesung ,
689 690
6 Uhr
St. Marien
St. Jakobi
7:30 Uhr 13/15 Uhr 14 Uhr
(5 Uhr) 6 Uhr 7:30 Uhr (14 Uhr) 13 Uhr
6 Uhr 12 Uhr 7:30 Uhr 13 Uhr
14 Uhr
14 Uhr
14 Uhr
6:30 Uhr689 (6:30 Uhr)690 14 Uhr 14 Uhr (Mo + Do)
St. Johannis – 6 Uhr
Heilgeist – 6 Uhr
15–16 Uhr
–
–
(6:30 Uhr) 14 Uhr (Di + Fr)
Tabelle 12: Stralsunder Gottesdienstzeiten nach Knipstros Kirchenordnung691
Musikalisch war die Stralsunder Schülerschaft vor allem sonntags an Mette, Messe und Vesper in den drei Pfarrkirchen beteiligt. Da »de latinsche metten und die misse to samende waret alto lange«, trennte man beides voneinander: »schöle dat latinsche singent in alle dreen carspel kerken allene voraff gesungen werden«692 und begann in St. Nikolai und St. Jakobi um 6 Uhr, in St. Marien »vor der predige des catechismi« (vor 6 Uhr693) mit dem Singen der lateinischen Mette. Zwischen Mette und Messe, die in allen drei Pfarrkirchen um 7:30 Uhr begann, konnten »die kinder […] to hus gahn und sick wermen«694. Der sonntägliche Vespergottesdienst begann in St. Nikolai um 13 Uhr – »Namiddage umme seiers [Zeiger] ein scholen in allen carspel kerken vesper gesungen werden«695 –, dies allerdings in Verbindung mit einer Mittagspredigt, die für St. Jakobi
689 »Und wer ser gut, dat die schöler halweg VII […] to chor gingen hir to S. Nicolaus, up dat die sermon ehr mochte angefangen werden, und up den slach VIII geendiget, umme mennigerlei orsake willen.« Zit. nach SEHLING (1911), S. 551. 690 »In den anderen carspelen to Marien und to S. Jacob könen ock de schöler wol ehr to chor gahn […] up dat de sermon up de rechte klockstunde sick endigen muchte.« Zit. nach ebd. 691 An den Katechismuspredigten und -lesungen (dunkler hinterlegt) waren die Schüler nicht beteiligt. 692 Zit. nach Sehling (1911), S. 551. 693 An St. Marien wurde um 6 Uhr der Katechismus gepredigt. Zit. nach ebd., S. 550. 694 Zit. nach ebd., S. 551. 695 Zit. nach ebd.
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zuvor um 12 Uhr, für St. Nikolai nach der einstündigen lateinischen Vesper um 14 Uhr696 und für St. Marien um 13 Uhr mit (anschließender Vesper) geplant war697. Die lateinische Samstagsvesper fand nach Knipstro in allen drei Kirchen um 14 Uhr statt: »Des sonnavendes to tween schal men to de vesper lüden, und na utwisinge unser Treptoweschen ordeninge latinsche vesper gesungen werden. [...] Dit schal lickförmich in allen carspelen geholden werden.«698 Zudem lassen sich von Montag bis Freitag musikalisch eingeleitete Frühpredigten um 6:30 Uhr an den drei Kirchen nachweisen. Ein Vespergottesdienst wurde in der Zeit vor der Gründung des Stralsunder Gymnasiums unter der Woche offenbar zunächst nur an St. Nikolai gefeiert699. An den anderen beiden Kirchen wurde während dieser Zeit an jeweils zwei Tagen der Katechismus verlesen700. Nach Gründung der Schule 1560 änderten sich die Verhältnisse: Nunmehr sang man am Montag Vesper in St. Nikolai, am Dienstag in St. Marien und am Donnerstag in St. Jakobi701. Über die erwähnten Gottesdienste hinaus gab es Katechismuspredigten an der Johanniskirche und an Heilgeist sowie umschichtig an den drei Pfarrkirchen702, im 17. Jahrhundert außerdem Betstunden703, an denen die Schüler jedoch musikalisch nicht beteiligt waren. 1.2.3.2.2  Con- und Succentoren Da der Kantor den Kirchengesang aufgrund paralleler Gottesdienstzeiten an nur einer der drei Stralsunder Pfarrkirchen musikalisch leiten konnte, standen ihm auch für den liturgisch-gottesdienstlichen Tätigkeitsbereich andere Lehrer der Lateinschule zur Seite, wie es auch aus Lübeck704, Hamburg, Bremen, Verden und Flensburg705 berichtet wird. Die Organisation und Gesamtleitung des Kirchengesangs an allen Kirchen der Stadt lagen dabei dennoch in der Verantwortung des Kantors: »Cum primario 696 An St. Nikolai wurde offenbar vor der Predigt eine lateinische und danach eine deutsche Vesper gesungen: »Namiddage umme seiers [= Zeiger] ein scholen in allen carspel kerken vesper gesungen werden: […] to S. Nicolaus vor deme sermone, welker volgen schal umme seiers twe, und darnha eine dudesche vesper«, zit. nach ebd. 697 »to Marien överst schal de sermon gescheen to einem, und de vesper darnha.«, zit. nach ebd. 698 Zit. nach ebd. 699 »Des namiddages överst schal allene to S. Nicolaus, diewile de grote schole dar is, umme seiers II die korten vesper psalmen mit den antiphen gesungen werden und lectiones latin, dudesk, kortlik gelesen und utgelecht werden […] Oeverst dit singent, lesent und interpreteren schal over anderhalff verndel van der stunde nicht vorlenget werden«, zit. nach ebd. Vgl. auch oben S. 61. 700 In St. Marien am Montag und Donnerstag und in St. Jakobi am Dienstag und Freitag. Sehling (1911), S. 552. 701 Zober (1839), S. 36. 702 Sehling (1911), S. 550. 703 Vgl. S. 129 (Zitat unten) in dieser Arbeit. 704 Stahl (1952), S. 21. 705 Kremer (1995), S. 47.
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Cantori institutio et gubernatio cantus ecclesiastici in omnibus templis demandata sit [...].«706 Als musikalischer Leiter trat der Stralsunder Kantor vor allem an der Ratskirche St. Nikolai in Erscheinung, die schon in dieser Hinsicht eine musikalische Vorrangstellung genoss707. Bereits vor Zusammenlegung der drei Kirchenschulen hatte sich an St. Nikolai die größte und bedeutendste Schule befunden. Mit der musikalischen Leitung der Kirchenmusik an St. Marien und St. Jakobi waren die beiden Concentoren sowie der erste (lateinische) Succentor (im Zitat: die 3 Concentoren) beauftragt: »Concentores heißen in der Sprache unserer Alten die 3 übrigen lat. Klassen Lehrer, welche dem Cantori zu Hülfe den Choral Gesang in den Kirchen bestellen müßen: derer der erste diese dienste in St. Marien, der andere in St. Jacobi, der dritte mit Abwechslung in Jacobi und Nicolai abwartet.«708
Zweiter Concentor und erster Succentor werden in den Quellen mitunter auch die »zwei Jacobaei« genannt, worin sich ihre kirchenmusikalische Verbindung zur Jakobikirche niederschlägt. Als Lehrer der Lateinschule zählten die beiden Concentoren zum studierten Personal und vermittelten den unteren Schulstufen mit Latein- und Katechismuslehre die üblichen Unterrichtsgegenstände, wie ein Auszug aus den Lektionsplänen von 1560 zeigt (siehe Tabelle 13)709. Darüber hinaus unterrichteten die Concentoren sowie der erste Succentor auch Musik in den unteren Schulstufen710.
706 Zit. nach Zober (1841), S. 56. 707 Ihr Vorrang äußerte sich außerdem in höheren Festgehältern für die Nikolai- und für die Marienorganisten. Vgl. unten S. 253. Auch genoss St. Nikolai nicht nur den Status einer Rats-, sondern auch den einer ›Repräsentationskirche‹. Hochstehende Festivitäten etwa zu politischen Anlässen fanden in dieser Kirche statt. Vgl. unten S. 259f. 708 Bartholdi (StAS Hs. 434), fol. 193. Bartholdi bezeichnet alle drei unteren Lateinschullehrer als Concentoren, weist jedoch darauf hin, dass der unterste von diesen auch als Succentor bezeichnet wurde. Vgl. zu den Stralsunder Lehrern oben S. 73f. In Lübeck werden die neben dem Kantor für den Kirchengesang zuständigen Lehrer abweichend als »Pedagogi« bezeichnet. Vgl. Stahl (1952), S. 21. Im Folgenden werden der unterste Lateinschullehrer weiterin als Succentor (I), die beiden darüberstehenden Lehrer als Concentoren I + II bezeichnet. 709 Vgl. Zober (1839), S. 37f. 710 Vgl. dazu oben S. 109f.
128 Stufe 5–6
7
Kantorat und Kirchengesang in Stralsund Mo, Di, Do, Fr 8–9 Uhr »Concentor primus selectiores epistolas Ciceronis cum diligentj repetitione grammatices«
Mi 7–8 Uhr »Concentor primus prouerbia Salomonis«
Sa 7–8 Uhr »Concentor primus prouerbia Salomonis«
9–10 Uhr »Cantor et primus Concentor emendabunt scripta«
13–14 Uhr »Concentor secundus collo12–13 Uhr quia Lossij« »Cantor et primus Concentor dictabunt per vices argumentum scribendj« 7–8 Uhr 8–9 Uhr »Singulj recitabunt 8 voca- »Secundus Concentor audibula secundo Concentorj« et recitantes catechismum germanice et lectionem scriptam emendabit« 9–10 Uhr »Primus Concentor grammaticam Bonnij praeleget 9–10 Uhr »Secundus Concentor et lectionem scriptam emendabit argumentum ex emendabit ac examinabit Germanico versum« notatores etc.« 12–13 Uhr 14–15 Uhr »Secundus Concentor dic»Concentor secundus adscribet his sententiam ex tat aliud argumentum« Salomone eamque exponet et inde repetet grammaticam, declinabit, conjugabit [...]«
7–8 Uhr »Secundus Concentor audiet hos recitantes catechismum vt dieb. Mercurij; emendabit sripturam« 9–10 Uhr »Concentor primus exponet Latinum catechismum« 13–14 Uhr »Secundus Concentor exponet euangelium dominiciale«
Tabelle 13: Lehrverpflichtungen der Concentoren (Lektionspläne von 1560)
Die Aufgaben der Con- und Succentoren im Rahmen der Kirchenmusik werden von Bartholdi klar benannt. Sie hatten »dem Cantori zu Hülfe den Choral Gesang in den Kirchen« zu bestellen. Darüber hinaus waren sie auch an den Leichenbegängnissen musikalisch beteiligt711. Die Aufführung figuraler Musiken oblag demzufolge in Stralsund dem Kantor, wie es Kremer auch für Lübeck berichtet – »daß sich die Tätigkeit des Kantors vorwiegend auf den Bereich der Figuralmusik erstreckte und im Bereich des Choralgesangs die Mitarbeit der Schullehrer [...] eingeplant war«712 –, wenngleich in Lübeck auch die für den Kirchendienst eingeteilten »Pedagogi« mitunter figurale Musiken aufzuführen 711 Siehe S. 129. 712 Kremer (1995), S. 47.
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hatten713. Ob auch die Stralsunder Concentoren zuweilen Figuralmusik ohne Beteiligung des Kantors – vielleicht unter der Leitung eines Organisten – aufführten714, bleibt ungewiss. Dass sie sich jedoch zumindest am Ende des 17. Jahrhunderts durchaus nicht nur als ›Gehilfen‹, sondern als selbstständig agierende Kantoren verstanden, bezeugt der im Zusammenhang mit der Besetzung der Concentur an St. Nikolai überlieferte Briefwechsel: »Gleichwie in Rostock, Berlin und andern Stäten in einer jeden Parochia besondere Cantores bestellet seyn, welche an ihrer Gemeine und Kirchspiel alleine verbunden seyn: so hat Ampl. Magistratus auch an diesem Orte gewisse Praecentores parochiales von undenklichen Jahren her an einer jeden Kirche verordnet, welchen die genaue observance sowoll der Kirchen-Ceremonien, als auch derer in der Policey-Ordnung vorgeschriebenen rituum bey denen Leichen anvertrauet worden.«715
Der hier angeführte Vergleich mit den Rostocker Verhältnissen, wo vier auf die Hauptkirchen der Stadt verteilte Kantoren für die Kirchenmusik zuständig waren716, legt die Vermutung nahe, dass auch die Stralsunder Concentoren im späten 17. Jahrhundert durchaus figural musizierten. In Rostock jedenfalls versah »um 1700 wieder jeder Kantor […] den gesamten musikalischen Dienst – darunter auch figurales Musizieren – in seiner Kirche«717. Vom Umfang der kirchenmusikalischen Verpflichtungen für die Stralsunder Concentoren vermag die überlieferte Eingabe zweier Concentoren (hier als ›Praecentoren‹ bezeichnet) aus dem Jahr 1697 einen Eindruck zu vermitteln: »Haben Praecentores ohnedem in ihren Kirchen ihre vielfältige Mühewaltung, indem sie nicht allein alle Mittwochen und Sonnabend in den Bet-Stunden und Vespern, sondern auch an allen Sonn-, Fest- und Bettagen, sowoll im kalten Winter als heißen Sommer, beständig den Gottesdienst bestellen.«718
713 Stahl (1952), S. 54. 714 Siehe unten S. 245–247. 715 Zit. nach Zober (1858), S. 94. Der Eingabe der Praecentoren Johannes Kempe und Michael Willich beim Scholarchat zufolge (Sept. 1697) waren die Concentoren auch an den Leichenbegängnissen beteiligt. 716 Während Laue (1976, S. 128) die vier Rostocker Kantoren nicht zum eigentlichen Lehrkörper der Schule zählt: »Der Kantor gehörte in Rostock nicht zum eigentlichen Lehrkörper, sondern hatte nur einen ›Lehrauftrag‹ und den Rang eines dritten und vierten Lehrers«, rechnet Neumann (1930, S. 32) sie jedoch dazu. Ihm zufolge bestand das Lehrerkollegium aus »Rektor, dem Konrektor, den 3 Präzeptoren oder Classici und den 4 Kantoren«. Der Marienkantor als »Cantor primarius« oder »Cantor generalis« genoss dabei den Vorrang. Vgl. Laue (1976), S. 128. 717 Kremer (1995), S. 49. 718 Zit. nach Zober (1858), S. 94.
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Wie die Concentoren waren auch die Succentoren neben ihrem sonstigen Unterricht am musikalischen Kirchendienst beteiligt, und zwar sowohl der Succentor der Lateinschule als auch die beiden Succentoren der deutschen Schule719. Bartholdi erwähnt die wechselweise Verpflichtung des dritten Concentors (= lat. Succentor) an St. Jakobi und St. Nikolai. Als musikalische Leiter des Schülergesangs wirkten sie dabei vermutlich nur vertretungsweise. Vorrangig waren sie damit betraut, »unter dem Gottesdienst die Knaben in guter Disciplin [zu] erhalten und in zustoßenden Nothfällen für ihre Collegen operam vicariam im Vorsingen [zu] praestiren«720. Ob und inwieweit die musikalischen Fertigkeiten der Con- und Succentoren für die Leitung der Musik an der ihnen jeweils zugeordneten Kirche wirklich ausreichten, ist nicht bekannt. Sicher mussten sie in der Lage sein, die Musik anzustimmen, für den richtigen Einsatz der Knaben bei den Gesängen und deren ordnungsgemäße Ausführung im Wechsel mit der Gemeinde und/oder dem Organisten zu sorgen sowie darüber hinaus auch einige Passagen selbst zu singen. Vermutlich profitierten sie dabei vor allem von den während ihrer eigenen Lateinschulzeit erworbenen musikalischen Kompetenzen. Anzunehmen ist ferner, dass generell sämtliche Lehrer der Lateinschule, unabhängig von ihrer Position, musikalische Fähigkeiten bei ihrer Anstellung nachzuweisen hatten, wie es auch Sannemann und Kremer berichten721. Einige wenige Angaben zu den musikalischen Kompetenzen der Stralsunder Concentoren liefert Bartholdi: So habe der Concentor Simens (Amtszeit: 1584–1592)722 »wol schon vor der Zeit manche Jahre an der Schalnmay gedienet«723; Eucharius Bützow (Amtszeit: 1632–1643)724, ebenfalls Concentor, war Chorschüler unter dem Rektor Joachim Drenckhan gewesen725. Neben Kantor, Con- und Succentoren hatten nicht zuletzt die oberen Lehrer der Lateinschule – Rektor, Kon- und Subrektor – gottesdienstliche Verpflichtungen und waren entsprechend auf die Stralsunder Kirchen verteilt. Die Angaben in den Quellen dazu variieren. Zober gibt die folgende Verteilung an726:
719 Allerdings lässt sich bei diesen Lehrern wohl nicht von musikalischen Ämtern, sondern lediglich von Funktionen sprechen, wie es auch Kremer (ebd., S. 48) bemerkt. 720 Zit. nach Zober (1858), S. 94. 721 Sannemann (1903), S. 13; Kremer (1995), S. 130: »Für die unteren Lehrer war dagegen eine Lehrprobe verpflichtend. Darüber hinaus sollten sie wegen der Kirchendienste ›gleichfalls in praesenti der HH. Visitatoren, Rectoris, Cantoris und den übrigen Praeceptorum, so dem Choro vorstehen, die Probe choraliter singen.‹« 722 Vgl. zu Simens Zober (1841), S. 32. 723 Bartholdi (StAS Hs. 434), fol. 193. 724 Vgl. zu Bützow Zober (1848), S. 20. 725 Bartholdi (StAS Hs. 434), fol. 198. 726 Zober (1841), S. 3. Bei Bartholdi ist eine abweichende Verteilung zu finden: St. Nikolai – Konrektor, Subrektor, Kantor, Succentor; St. Marien – Rektor, Concentor I, Succentor; St. Jakobi – Concentor II und III.
Kantorat und Kirchengesang in Stralsund Kirche St. Nikolai St. Marien St. Jakobi
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Abgeordnete Lehrer Rektor, Kantor, Succentor I (=Â 1. Lehrer der deutschen Klasse)727 Konrektor, Concentor I, Succentor II (=Â 2. Lehrer der deutschen Klasse) Subrektor, Concentor II und III (=Â lat. Succentor)
Tabelle 14: Kirchendienst der Stralsunder Lehrer727
Rektor, Kon- und Subrektor hatten wohl keine musikalischen Verpflichtungen, repräsentierten jedoch die Leitung der Lateinschule und übernahmen sicher auch Aufsichtspflichten728. 1.2.3.2.3  Verteilung der Schülerschaft bei der Kirchenmusik Die Organisation und Verantwortung für die gottesdienstliche Kirchenmusik lagen in den Händen des Kantors. In Hamburg, wo »nach 1550 [...] zum ersten Mal in einer Schulordnung dem Kantor die Verantwortung für die Bestellung der Vokalmusik in den vier Hauptkirchen übertragen« wurde, bedeutete dies Folgendes: »De Cantor schall vorschaffen, dat in den Choren alles einförmigh und glich na dem Ordinario tho gahe und gesungen werde, und dat de Gesänge, so in der Scholen gelehrt werden, up dat de velen Confusiones und unardige Hulent in den Kercken mögen nabliven.«729
Der Kantor war demzufolge für die Einhaltung der liturgischen Bestimmungen und für eine qualitativ angemessene Ausführung der Gesänge zuständig. Als Sänger standen ihm die Schüler der Lateinschule zur Verfügung, die auf die Gottesdienste an den verschiedenen Kirchen verteilt wurden. In Stralsund erfolgte dies entsprechend ihres Kirchspiels: »Pueri igitur secundum distinctionem templorum parochialium diebus dominicis ante et post meridiem signo dato in vicinas templi scholas veteres convenient et ex ijs praeceptoribus praesentibus modeste in templum prodibunt.«730
An St. Nikolai verfügte der Kantor über die meisten und vermutlich auch begabtesten Sänger der Schule. Wurden an St. Marien und St. Jakobi zusätzliche Sänger benötigt, 727 Zober führt hier drei Concentoren und zwei Succentoren auf. Als dritter Concentor wird der unterste Lateinschullehrer bezeichnet. Mit Succentor I ist in Tabelle 14, abweichend von der Darstellung oben auf S. 73, demzufolge der erste der beiden deutschen Lehrer (dort Succentor II) gemeint. 728 Vgl. Niemöller (1969, S. 108) zu Stralsund. 729 Zit. nach Krüger (1933), S. 23. 730 Zit. nach Zober (1841), S. 45 (Stralsunder Schulordnung 1591: »VII. De diebus festis et cantu ecclesiastico«).
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hatte der Kantor zwar auszuhelfen, konnte jedoch mittelmäßige Schüler dorthin schicken731. Die Aufteilung der Schülerschaft entsprechend ihres Kirchspiels, wie sie in Stralsund praktiziert wurde, führte etwa in Lübeck mehrfach zu Protesten. So beklagte der Lübecker Kantor Andreas Herlitz (I) (Sohn des Stralsunder Kantors) 1627, dass man durch die Trennung der Chöre »an keinem Orte etwas Gutes und Rechtschaffendes zuwege bringen könne«732. Derartige Probleme entstanden sicher auch in Stralsund, wenn auch Klagen in diesem Zusammenhang nicht nachzuweisen sind. Zu den Gesangsdiensten bei der Kirchenmusik wurden neben den Lateinschülern auch die Schüler der deutschen Klasse(n) herangezogen, die »so woll als die latiniscken mit tho chor gahn vnnd singen scholen, wor tho sie geschickt vnnd hen verordent werden«733. Auch sie sangen in der jeweiligen Kirche ihres Kirchspiels: »Diese knaben sollen sich des morgens ein viertel für sieben jn jre caspel kirchen mit den latinischen versamlen vnd nach der predigt die ceremonien verrichten helffen.« »Zu drey [...] sie mit den latinschen jn die kirche gehen vnd vesper singen, ein jeder jn sein kaspel; darnach gehen sie zu haus.« »Des sonntages gehen sie mit den andern zu chor ein jder jn sein casper, zu jder zeit, als zur metten, messen, vesper.«734
Da die deutschen Schüler ihre für den Kirchendienst abgeordneten Lehrer nicht in jedem Fall dabei hatten, sollten »sie dennest den latiniscken praeceptorn vnderdenich vnnd gehorsam sien«735. Neben den üblichen Gesangsverpflichtungen in den Gottesdiensten übernahm ein Teil der Stralsunder Schülerschaft zusätzliche Gesangsdienste in speziellen Chören. Vor allem die finanziell schlechtergestellten Schüler waren in Chören organisiert und verdienten ihren Lebensunterhalt u. a. durch das Umsingen auf den Straßen. Neben einer ›Kurrende‹, die in der Regel aus mittellosen Schülern mit geringen Bildungsansprüchen bestand736, lassen sich in Stralsund außerdem mehrere aus Latein- und vielleicht auch aus deutschen Schülern bestehende Chöre nachweisen, die als ›Symphonistae‹ bezeichnet wurden. Zusätzlich zum normalen Unterrichtsbetrieb sangen die Symphonistae mehrmals wöchentlich in den Straßen der Stadt und waren durch die regelmäßige Praxis musikalisch vermutlich weitaus versierter als ihre nicht in speziellen Chören organisierten Schulkameraden. Ob auch die Symphonistae für die gewöhnliche Kirchenmusik je nach Kirchspiel verteilt wurden und dort den jeweiligen Sängerstamm 731 732 733 734 735 736
Siehe das Zitat aus den »Leges praeceptorum« von 1591 auf S. 95f. Stahl (1952), S. 58, 20 und 49. Zit. nach Zober (1839), S. 42. Zit. nach ebd., S. 38f. Zit. nach ebd., S. 42. Vgl. zur Kurrende unten S. 134ff.
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der Chöre bildeten oder aber als besonders geübte Sänger nur dem Kantor an St. Nikolai zur Verfügung zu stehen hatten, ist ungewiss. Die Existenz von drei als Symphonistae bezeichneten Chören zur Amtszeit des Stralsunder Rektors Joachim Drenckhan mag darauf deuten, dass diese Chöre für das Singen an jeweils einer der Hauptkirchen zuständig waren737. Wieviele Schüler dem Kantor und den Con- bzw. Succentoren für die Musik im Gottesdienst an den verschiedenen Kirchen zur Verfügung standen, lässt sich nicht ermitteln. Wenigstens im 16. Jahrhundert war es in Stralsund aber offenbar möglich, sechs- bis achtstimmige Figuralmusiken aufzuführen, wie die Kompositionen von Eucharius Hoffmann vermuten lassen. Auch unter den Werken von Caspar Movius befinden sich noch bis zu achtstimmige Kompositionen738. 1.2.3.2.4  Schulische Singechöre Die an den Lateinschulen des 16. und 17. Jahrhunderts nachzuweisenden Singechöre dienten vor allem der Armenfürsorge und ermöglichten es finanziell schlechtergestellten Knaben, ihren Schulbesuch zu finanzieren. Wie schon erwähnt, bezogen die Mitglieder der schulischen Singechöre ihre Einnahmen aus dem regelmäßigen Umsingen auf den Straßen, wo sie Almosen erhielten und mit Naturalien versorgt wurden. Außerdem erfüllten sie – an der Seite ihrer Schulkameraden aus besseren Verhältnissen – die üblichen Gesangsdienste bei der Kirchenmusik. Die feste Verbindung der Gesangsdienste mit der Armenfürsorge erscheint dabei nicht unproblematisch, worauf auch Niemöller verweist. Vielen Bürgern galt das Singen dadurch als »niedere Dienstleistung«739, was dazu führte, dass vor allem die finanziell besser gestellten Bürgerkinder oftmals versuchten, sich »den lästigen Pflichten des Chorsingens [in der Kirche] [zu] entziehen«740. Schließlich waren die kirchlichen Gesangsdienste nicht nur zeitaufwendig, sondern in den überfüllten sonntäglichen Gottesdiensten vor allem für die kleinen Schüler sicher auch in anderer Hinsicht unerfreulich. So beklagten die Stralsunder Lehrer 1560 etwa die rauen Sitten im sonntäglichen Gottesdienst:
737 Siehe dazu auch S. 149–152. 738 Vgl. die Werkverzeichnisse von Hoffmann und Movius im Anhang auf den Seiten 385–387. und 388f. Dabei war jedoch nicht unbedingt an eine rein vokale Aufführung gedacht, wie es schon der Titel von Movius’ TRIUMPHUS MUSICUS SPIRITUALIS vorgibt: »Mit 6. und 8. Stimmen sampt dem Basso Continuo: Also gestellet/ Daß sie in Mangel der Musicanten, auch ohne Instrumenten oder einem Corpore, zu Chor […] gar füglich mögen gesungen werden.« 739 Niemöller (1969), S. 665f. Dies zeigt auch die in Lübeck nachzuweisende Redewendung: »Die Brotfresser [...] mögen singen, sie andern habens nicht nötig«, zit. nach Stahl (1952), S. 52. Stahl (ebd., S. 52f.) zufolge war der Lübecker Chorus symphoniacus bereits am Ende des 16. Jahrhunderts in Verfall geraten. 740 Niemöller (1969), S. 665.
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»Auch brauchen ethliche gemeine leute des heiligen tages im chor grosse vmbescheidenheit mit den schülern, fast in allen kirchen, dringen sie aus der ordnung, stossen sie hin vnd herwidder vnd lassen jnen kein raum jm chor, ja vertreiben vns selbst schier vom pulpt hinweg, da doch für zeiten solche leute jns chor nicht kommen dorften.«741
Sie forderten in diesem Zusammenhang, dass »man diesen punct mit den h. predicanten beredete, das sie solche leut vermanen, das sie sich im chor geschickter hielten vnd die schüler nicht also jres gefallens ausstiessen.«742
Während die Eltern finanziell besser gestellter Schüler ihre Kinder infolge derartiger Umstände von den Singediensten zu befreien suchten, waren die Schüler der Singechöre von den Gesangsdiensten finanziell abhängig und garantierten den Kantoren und Concentoren somit einen festen Stamm an Sängern bei der Kirchenmusik. Zwar konnten sie bei den kirchlichen Verrichtungen keine Einnahmen erzielen, hätten durch ihre Abwesenheit jedoch wohl den Ausschluss aus den Singechören riskiert. Kurrende und Kurrendarius Kurrenden waren aus dem Mittelalter übernommene743 Einrichtungen der Armenfürsorge, die es mittellosen und verwaisten Knaben ermöglichten, sich durch Gesangsdienste ihren Lebensunterhalt sowie kostenlosen Schulbesuch zu verdienen744. Bugenhagen hatte sich bei Einführung der Reformation zunächst gegen das Umsingen der armen Schülerschaft gewandt: »Man soll aber nicht leiden, daß die Schüler um Brot gehen, als bisher geschehen ist, man überkäme sonst die Stadt voll Bettler.«745 Einige Jahre später – in der pommerschen Kirchenordnung von 1535 – legitimierte Bugenhagen das Betteln vor den Türen, sofern dadurch den armen Kindern der Schulbesuch ermöglicht werden konnte: »dar mede överst arme kinder nicht van der schole gedrungen werden, schal men den idt van nöden is, vor den dören to bedelen, nicht vorbeden.«746 Da die Armenfürsorge Anliegen des lutherischen Kirchenwesens war747 und die 741 Zit. nach Zober (1839), S. 35. 742 Zit. nach ebd. 743 »Das Umsingen in der Kurrende war [...] ein vom Mittelalter übernommenes Privileg der armen Schüler.« Niemöller (1969), S. 668. Die mittelalterliche Armenfürsorge war vor allem der Lehre von der Werkgerechtigkeit geschuldet. Vgl. Heyden (1965), S. 68f. 744 Adelung (1793, S. 1355) definiert »Currende« als ein »Collectivum, arme Schüler, welche auf den Gassen um ein Almosen singen, und deren ganze Anstalt«. 745 Niemöller (1969), S. 668 (Brief Bugenhagens an den Hamburger Rat von 1526). 746 Zit. nach Sehling (1911), S. 333. 747 Vgl. etwa die Bestimmungen der pommerschen Kirchenordnung von 1535 zur Einrichtung eines Armenkastens. Ebd., S. 336–338. Auch in der Aepinschen Ordnung von 1525 wird die Versorgung der Armen durch den ›gemeinen Kasten‹ verfügt; das Betteln wird ihnen jedoch untersagt: »De armen lüde, so se ut dem gemenen kasten genogsam könen versorget
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Gesangsdienste der Kurrendaner für die kirchenmusikalische Praxis zunehmend unverzichtbar wurden748, erklärte man die Einrichtung einer Kurrende nach dem Wittenberger Vorbild in der zweiten pommerschen Kirchenordnung (1563) schließlich zum Ziel. So sollten »der scholmeister unde cantor […] de armen unde frömden knaben darto gewennen, dat se vor den dören singen, ostiatim latina responsoria de tempore und antiphonas«, damit »mit der tidt de currende, alse to Wittenberge angerichtet werde«749. Niemöller betont das besondere Verdienst der Reformatoren um die Kurrende, die diese Form der Armenfürsorge zu einer geordneten Institution gemacht hatten750. Zu Beginn der 1560er-Jahre hatten sich bereits die ersten Kurrenden in Pommern geformt751; bis 1600 gab es sie in vielen pommerschen Städten752. Die Stralsunder Kurrendaner werden erstmalig in der zweiten Schulordnung von 1591 wegen ihrer musikalischen Beteiligung an Leichenbegängnissen erwähnt: »Et quidem in plebeiorum funus illi tantum prodibunt, qui in currendariorum uti vocantur, sunt numero.«753 Schon zu dieser Zeit bildeten die Kurrendaner eine eigene Klasse an der Stralsunder Schule754, die auch das 16. und 17. Jahrhundert hindurch bestand755 und zumindest am Ende des 17. Jahrhunderts mit immerhin 40 Knaben erstaunlich groß war756. Als Folge von Pest und Krieg reduzierte sich die Anzahl der Stralsunder Kurrendaner bis 1721 allerdings auf nur noch zehn Knaben757. Weiterführende Angaben zur Größe und Zusammensetzung der Kurrendeklasse sowie zum Alter der Kurrendaner gibt es nicht. Die 40 Knaben, die der Klasse 1695 angehörten, waren unterschiedlich lange dabei:
748 749 750 751 752
753 754 755 756
757
werden, schall me nicht up den straten edder in den karcken to beddelen tolaten.« Zit. nach ebd., S. 544f. Siehe etwa S. 115 und 138 in dieser Arbeit. Zit. nach Sehling (1911), S. 400. Niemöller (1969), S. 669: »Die Reformatoren sorgten aber dafür, daß aus dem lästigen bloßen Betteln auch einzelner Schüler eine geordnete Institution geschaffen wurde.« Heyden (1965, S. 72) führt einen Eintrag ins Greifswalder Visitationsregister von 1557 als erstes direktes Zeugnis für die Existenz einer Kurrende in Pommern an. Heyden (ebd.) nennt neben Greifswald auch Barth, Stettin und Stolp. Köhler (1997, S. 69) berichtet von einer Wolgaster Schulordnung von 1601, die auch Bestimmungen zur Kurrende enthält. Die Rostocker Kurrende wurde 1571 gegründet. Vgl. Laue (1976), S. 125. Zit. nach Zober (1841), S. 44. Ebd., S. 3, sowie Bartholdi (StAS Hs. 434), fol. 393. Zober (1848, S. 7) berichtet von kleinen Unregelmäßigkeiten zum Ende der 1660er-Jahre. StAS Rep 23-79 Senat: Die Kurrende 1701–1767 [8.10.1695]. Das Verzeichnis listet die Kurrendeknaben namentlich auf. Angegeben wird auch, wie lange sie zur Kurrende gehörten. Die Rostocker Kurrende bestand wohl zur Zeit ihrer Gründung (1571) aus 20 Knaben. Vgl. Laue (1976), S. 125. Ein aus Wolgast überlieferter Entwurf einer ausführlichen Kurrendeordnung aus dem 18. Jahrhundert informiert über die übliche Anzahl an Kurrendanern zu dieser Zeit: »§ IX. Numerus ordinarius der Currendaner ist etlicher kleinen Orten acht, zehen, bis zwölf, an größeren Orten viel mehr.« Zit. nach Heyden (1965), S. 78. StAS Rep 23-79 Senat: Die Kurrende 1701–1767 [8.12.1721].
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einige erst seit einigen Wochen, andere bereits das vierte Jahr, keiner jedoch offenbar länger als vier Jahre758. Lehrer der Stralsunder Kurrendeklasse war der als ›Kurrendarius‹ bezeichnete Küster der Hospitalkirche zum Heiligen Geist. Die Verbindung der Kurrende mit dem Küsteramt des Hospitals war vermutlich darin begründet, dass es sich auch beim Heilgeisthospital um eine Einrichtung der Kranken- und Armenfürsorge handelte759. Die Amtspflichten des Kurrendarius waren vielfältig und umfassten sowohl pädagogische, musikalische als auch kirchliche Dienste. Einem Schreiben des Küsters Johannes Legeto von 1651 zufolge musste dieser »drey Tage in der wochen in S. Nicolaij Kirche dreij Tage ohn Teglicher bete stunden in der H. Geistes Kirchen singen, hernacher alle Tage mit den Currendarijs in Regen vndt schlaggen herumb gehen vndt vmb die almosen singen auch alle Tage zweij Stunden in der Schule die selben informiren.«760
Über eine akademische Ausbildung verfügten die Küster in der Regel nicht. Sie zählten auch nicht zum ordentlichen Lehrerkollegium der Stralsunder Schule761. Häufig jedoch begegnen sie als Lehrer unterer privater Schulen in dieser Zeit762. In den Bewerbungsverfahren um das Küsteramt hatten die Amtsanwärter in erster Linie die Qualität ihrer »stimmen vnd art, so wohll im lesen, alls singen«763 zu beweisen. Im Besetzungsverfahren um die Nachfolge Legetos764 1656 etwa waren von den Bewerbern vor kirchlichem Provisorat und Vertretern des Scholarchats »Zween Psallmen« zu singen »vnd ein Capitel aus dem Evangelisten Johanne« zu verlesen765. Für seine Aufwartungen wurde der Kurrendarius von kirchlicher und schulischer Seite entlohnt. Das tägliche Umsingen wurde ihm durch einen monatlich gezahlten Abschlag von zwölf Schillingen (= 1,5 MS) vergütet766. Hinzu kamen Erträge aus den 758 Ebd. [8.10.1695]. 759 Vgl. dazu die Ausführungen unten auf S. 219. 760 StAS Rep 28-318 Acta Senatus Sundensis betreffend den Küster an der Heilgeist-Kir-
che 1651–1899 [13.8.1651].
761 Siehe oben S. 71. 762 So führte der Heilgeistküster Johann Artmer (Küster ab 1701) neben seiner Anstellung am Hospital und als Kurrendarius noch eine private Schule. Vgl. StAS Rep 23-79 Senat: Die Kurrende 1701–1767 [4.5.1702]. Folgende Heilgeistküster bzw. Kurrendarii lassen sich im 17. Jahrhundert nachweisen: Isaak Maaß (vor 1617–† 2.6.1645) (vgl. AStN KR R 33a Begräbnis-Register 1629–1673 [2.6.1645]), Johannes Legeto (bis 1656), Henning Iken (bis 1662), Joachim Warneke (1662–nach 1666), Christian Burow († 1701), Johann Artmer (ab 1701). 763 StAS Rep 9-194 Acta des Klosters zum Heiligen Geist in Stralsund betreffend den Küster 1652 [23.1.1656]. 764 Legeto hatte »schendtlicher weise, die Kirche, jugend vnd seine Ehefraw verlaßen, vnd [war] mit einem frembden Weibe davon gelauffen«. Ebd. [12.1.1656]. 765 Ebd. [23.1.1656]. 766 StAS Rep 23-79 Senat: Die Kurrende 1701–1767 [8.10.1695].
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Akzidentien, vor allem aus dem Singen bei Begräbnissen, sowie die Versorgung mit Naturalien, wie etwa mit Brot767 oder Schuhen768. Mit einem Jahresfesteinkommen von 66 Gulden (= 198 MS)769 bzw. 56 Reichstalern (= 366 MS)770 erhielten die Heilgeistküster Joachim Warneke bzw. Christian Burow von Schule und Kirche ein recht ansehnliches Gehalt, das im Falle Burows sogar etwas mehr als einem halben Kantorenfestgehalt zu dieser Zeit entsprach771. Wohl nicht zuletzt aus Verdienstgründen scheint das Amt des Heilgeistküsters recht begehrt gewesen zu sein772, wenngleich zumindest einige der Heilgeistküster noch Nebenämter ausübten, wie z. B. private Schulämter, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Unterricht der Kurrendaner beschränkte sich auf zwei Stunden täglich (9–10 Uhr, 13–14 Uhr), in denen sie vom Küster im Lesen, Schreiben, Rechnen und vermutlich auch im Singen unterwiesen wurden. Die Bildungsansprüche dieser Klasse waren demzufolge offenbar noch weitaus niedriger als die der sogenannten deutschen Schüler773. Überlegungen der Stralsunder Schulleitung, die Unterrichtszeiten für die Kurrendaner zu verlängern, gab es am Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Allerdings ging es dabei wohl weniger um eine verbesserte Ausbildung als darum, Konflikte zu vermeiden, die aufgrund mangelnder Beaufsichtigung zunehmend aufkamen. So empfand man es »für die currendarriis [als] viel zu wenig, daß sie nur eine stunde morgenß, und eine stunde nachmittags sollen informiret werden«, da sie »entweder die ubrige Zeit auff der Gaße lauffen, oder allerlei Bülerei treiben, und niemand ist, der darauff siehet«774. Ob sich daraufhin etwas änderte, ist nicht dokumentiert. Täglich nach ihrer ersten Schulstunde zogen die Kurrendaner für Almosen in Form von Geld und Naturalien singend durch die Stralsunder Straßen. Beaufsichtigt und angeleitet wurden sie dabei vom Kurrendarius775. Die erzielten Einnahmen wurden in 767 Am Montag, Donnerstag und Freitag wurde dem Kurrendarius das Weißbrot der Stralsunder Bäcker ins Haus geliefert. Vgl. ebd. [Schreiben Burows, o. D.]. 768 Mit Schuhen wurde der Küster wegen der umfangreichen Laufdienste versorgt. Vgl. StAS Rep 28-1029 Matricul aller Gottsheuser der Stadt Stralsundt 1614 [St. Marien], fol. 149v. 769 Joachim Warneke gibt an, jährlich 18 fl. »wegen der Schull« und 48 fl. »wegen der Kirchen« zu beziehen. Vgl. StAS Rep 9-194 Acta des Klosters zum Heiligen Geist in Stralsund betreffend den Küster 1652 [um 1677]. 770 Warnekes Nachfolger Christian Burow († 1701) gibt einen Verdienst von quartaliter 14 Rthl. (= 84 MS) an. Vgl. StAS Rep 23-79 Senat: Die Kurrende 1701–1767 [Schreiben Burows, o. D.]. 771 Der Kantor bezog 1693 ein jährliches Fixum von 600 MS. Siehe unten S. 167. Unklar bleibt allerdings die starke Diskrepanz zwischen den Gehältern von Warneke und Burow. 772 Vgl. StAS Rep 9-194 Acta des Klosters zum Heiligen Geist in Stralsund betreffend den Küster 1652 [u. a. 12.1.1656]. 773 Vgl. oben S. 71. 774 StAS Rep 23-79 Senat: Die Kurrende 1701–1767 [o. D.]. 775 In Wolgast wurde der Kurrendechor beim Umsingen durch einen vom Kantor beauftragten Präfekten geleitet. Vgl. Köhler (1997), S. 69, sowie zur Leitung der Kurrendechöre außerdem Niemöller (1969), S. 669.
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einer Büchse gesammelt und erst nach Ablauf von vier Wochen geteilt. Feststehende Beträge fielen dabei der Schule (für Holz), dem Küster (12 ß), der für Schließdienste und Reinigungsarbeiten verantwortlichen »Schulschließerin« und schließlich den zwei »Kiepenjungen« zu, die die ›ersungenen‹ Naturalien zu transportieren hatten776. Der Kantor wurde an diesen Einnahmen nicht beteiligt, stand also auch in dieser Hinsicht nicht mit der Kurrende in Verbindung. Mit dem Bildungsprogramm der zweiten Stralsunder Schulordnung von 1591, das vermehrt auf den Altsprachenunterricht setzte, sollten die Lateinschüler von ihren vielfältigen musikalischen Verpflichtungen zumindest teilweise befreit werden. In diesem Zuge wurde das Singen in den Werktagsgottesdiensten auf die Kurrendaner übertragen: »De diebus profestis autem et cantibus earundem ecclesiasticis usitata ratio nonnihil mutanda videtur et ita instituenda, ut ijs obeundis tam praeceptorum quam discipulorum studia deinceps non impediantur, sed ij custodi cujuslibet templi peragendi mandentur, quibus currendarij singulis paroecijs deputati sedulo et tempestive adsint eosque canendo adjuvent.«777
Vermutlich sangen die Kurrendaner darüber hinaus gemeinsam mit den deutschen Schülern und den Lateinschülern in den sams- und sonntäglichen Gottesdiensten. Dabei hätte sich der offenbar einzige Kontakt zwischen den Kurrendanern und dem Kantor bzw. den Concentoren der Lateinschule ergeben. Symphonistae Neben den Kurrendanern zählten auch andere Sänger mit offenbar höheren Bildungsansprüchen zur finanziell bedürftigen Stralsunder Schülerschaft, wie es die Chorschülergesetze vom Beginn des 17. Jahrhunderts belegen: »In numerum symphonistarum canendo stipem quaerentium recipiuntur scholastici pauperiores et peregrini, qui aliquamdiu in schola nostra versati probaverunt praeceptoribus pietatem, modestiam et in discendo diligentiam. Nemo irrepat inscio Rectore (et Cantore), cui stipulata manu in legum observantiam compromittant.«778
Mit den Chorschülergesetzen (Leges ostiatim canentium) aus der Amtszeit des Rektors Joachim Drenckhan (1607–1616) liegen die ersten Informationen zu den als ›Symphonistae‹ bezeichneten Singechören der Stralsunder Lateinschule vor. Die Chorschülerge776 StAS Rep 23-79 Senat: Die Kurrende 1701–1767 [8.10.1695]. 777 Zit. nach Zober (1841), S. 45. Auch in Hamburg waren der Kantor und andere Lehrer des Johanneums an der musikalischen Ausgestaltung der Werktagsgottesdienste nicht beteiligt. Diese lag in den Händen des Küsters oder »der ordinaire Schulmeister bey einer jeden Kirche«. Zit. nach Kremer (1995), S. 161. 778 Zit. nach Zober (1841), S. 62. Vgl. die Chorschülergesetze (Leges ostiatim canentium) ebd., S. 61f., sowie im Anhang dieser Arbeit (Dok. 1) auf S. 359. Zur finanziellen Bedürftigkeit der Chorsänger vgl. auch Niemöller (1969), S. 671f.
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setze, die nach Bartholdi bis in das 18. Jahrhundert hinein Gültigkeit besaßen779, regelten vor allem die Modalitäten für das Umsingen in den Straßen. Bartholdi berichtet von einer großen Anzahl an Sängern zu dieser Zeit, die immerhin drei Chöre – vermutlich für jede der Pfarrkirchen einen – bestellen konnten780. Über die Zusammensetzung, Stärke und das Repertoire der Symphonistae ist allerdings fast nichts bekannt. Zu den Chören zählten vermutlich die finanziell bedürftigen Schüler aus den einzelnen Lateinschulklassen und vielleicht auch den deutschen Klasse(n), die sich, wie die Kurrendaner, zum Umsingen in den Straßen versammelten, aber auch gemeinsam mit den übrigen Schülern die normalen kirchlichen Gesangsdienste versahen781. Im Unterschied zu den Kurrendanern hatten die Symphonistae als Latein- oder ›deutsche‹ Schüler offenbar höhere Bildungsansprüche. Beim Singen in den Straßen unterschieden sie sich zudem durch ihr musikalisches Repertoire. Schon die Bezeichnung ›Symphonistae‹ deutet auf den Gebrauch figuralen Repertoires hin, wie auch Niemöller bemerkt: Als »Symphoniaci« (= Symphonistae) bezeichnete man ihm zufolge »diejenigen armen Schüler, die [...] mehrstimmige Stücke vor den Häusern anstimmten«782. Folglich grenzten sich die Stralsunder Choristen schon in ihrer Bezeichnung von den vermutlich nur einstimmig singenden Kurrendanern ab, wie es auch aus Braunschweig oder Güstrow belegt ist783. Um ein Symphonista zu werden, hatten die Schüler neben ihrer finanziellen Bedürftigkeit ein tadelloses Verhalten im Schulalltag nachzuweisen. Dass sich mitunter auch begüterte und offenbar sogar schulfremde Schüler in die Chöre einschlichen, bezeugt ein vom Stralsunder Scholarchat erlassenes Dekret von 1646, das die Aufnahmebedingungen für die Chöre neu regelte und nunmehr – über Rektor und Kantor hinaus – das Scholarchat entscheiden ließ784. Finanzielle Bedürftigkeit war seitdem kein unbedingtes Kriterium mehr, um in den Chor aufgenommen zu werden. »Der Musik wegen« hatte man bereits in den 1643 zusammen mit der dritten Schulordnung erneut veröffentlichten und nur leicht veränderten Chorschülergesetzen785 eingeräumt, auch begüterte Schüler aufzunehmen: »Ex urbanis si qui lautioris fortunae recipi cupiant, 779 »Man findet auch noch unter seiner [Rektor Drenckhan] eigenen Hand die noch gebräuchlichen Leges ostiatim canenticum, die er also zuerst eingeführet.« Bartholdi (StAS Hs. 434), fol. 138. Bartholdi war von 1740 bis 1755 im Amt. 780 Ebd. An der Stralsunder Lateinschule lernten zu dieser Zeit vermutlich zwischen 200 und 300 Schüler. Zober (1848), S. 6–7. 781 Vgl. dazu auch Niemöller (1969), S. 672. 782 Ebd., S. 671. 783 Die Braunschweiger Schulordnung von 1596 enthält Bestimmungen zu den »Symphoniaci und currendarii«. In Güstrow wurde 1602 zwischen dem »choro musico« und der »currenda« unterschieden. Vgl. ebd. Niemöller (ebd.) erwähnt in diesem Zusammenhang auch eine Flensburger Schulordnung von 1589, nach der figural singende Symphoniaci und choral singende Kurrendaner unterschieden wurden. Krüger (1933, S. 47f.) berichtet für Hamburg, wo erste Nachrichten über eine Kurrende erst 1604 vorliegen, von einer Trennung im Gebrauch figuraler und choraler Musik durch »Symphoniacy« und »Melici«. 784 StAS Rep 22-1f Currende 1646–1717 [6.4.1646]. 785 Vgl. die Chorschülergesetze von 1643 (Leges ostiatim canentium) bei Zober (1848), S. 55f.
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tum demum recipiuntor, si ita illud expetant, ut non tam lucri cupiditate, quam musicae artis perficiendae desiderio teneri videantur.«786 Zeitgleich zu diesem Beschluss stufte man den Kantor zum Quartus herab und schränkte, wie schon berichtet, die schulische Musiklehre ein, was als Indiz für die zunehmende (musikalische) Bedeutung der Symphonistae gelten mag787. Indem es nunmehr jedem Schüler der Schule – unabhängig von seinen finanziellen Verhältnissen – ermöglicht wurde, Symphonista zu werden, ließ sich nicht allein die Anzahl der Chorsänger vergrößern, sondern vermutlich auch das Leistungsniveau steigern. Geleitet wurden die Stralsunder Symphonistae beim Umsingen durch ältere Schüler bzw. Sänger, die den Chören als ›Präfekten‹, ›Adjunkten‹ und ›Censoren‹ vorstanden788: »In singulis choris Praefectus cum Adjuncto constituitor, et praeter hos Censor morum, cujus cura esto, ne quis parum modeste se gerat neque absit, nisi impetrata venia.«789 Während die Präfekten und Adjunkten die musikalischen Belange – wie etwa die Stimmenverteilung beim Singen – regelten (»In describendis cantionibus et officio faciendo morem Praefecto gerere nemo recusato«790), achteten die Censoren in erster Linie auf Disziplin und Ordnung. Für ihre Arbeit im Chor wurden sie separat entlohnt791. Die beim Umsingen erzielten Einnahmen hatte der Präfekt beim Rektor oder Kantor abzuliefern: »5. Collectam pecuniam hora 12. apud Rectorem et [vel] Cantorem deponito cum pixidis praefecto regens, et ne quid ante distrubutionem decerpatur praevideto«792. Sie wurden dort bis zur leistungsabhängigen (!) Verteilung unter den Sängern verwahrt. Welche Maßstäbe Rektor und Kantor für ihre Beurteilungen dabei ansetzten (»Peritiam singulorum Rector et Cantor exploranto, ut inde judicium fiat, quota pecuniae pars ad singulos jure pertinere possit«793), ob ein separates Vorsingen erfolgte oder die Chorschüler nach den Berichten der Präfekten und Adjunkten beurteilt wurden, bleibt ungewiss. Anders als für die Kurrendaner, die neben dem vom Küster erteilten Unterricht offenbar nicht anderweitig musikalisch unterwiesen wurden, war für die Symphonistae eine zusätzliche Musikstunde am Samstag nach dem Vespergottesdienst vorgeschrieben: »6. Diebus Saturni post vespertinas preces spatio horae praecinunto in schola omnes«794. Wer diese Stunde erteilte – Kantor, Concentor oder Chorpräfekt –, ist nicht belegt. Die Existenz von drei vermutlich ähnlich zusammengesetzten Chören (›Symphonistae‹) sowie einer zusätzlichen Kurrende erforderte es, dass die zu ›durchsingenden‹ Straßen genau verteilt wurden: »3. Platearum distributionis accurata passim et semper 786 787 788 789 790 791 792 793 794
Zit. nach ebd. Siehe dazu oben S. 117–119. Vgl. dazu auch Niemöller (1969), S. 669. Zit. nach Zober (1848), S. 56 (Leges ostiatim canentium 1643). Zit. nach ebd. Vgl. ebd.: »De distributione«. Zit. nach Zober (1841), S. 62. Zit. nach dems. (1848), S. 56. Zit. nach Zober (1841), S. 62, und dems. (1848), S. 56.
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habetor ratio sine confusione«795. Den Chorschülergesetzen nach sangen die Stralsunder Symphonistae am Beginn des 17. Jahrhunderts unter der Woche täglich von 10 bis 12 Uhr: »Apud heros suos a decima ad duodecimam meridianam ab hospitio et commissis pueris abessendi potestatem peregrini modeste roganto«796. Den Lektionsplänen von 1591 und 1617 zufolge war diese Zeit unterrichtsfrei, und den Symphonistae entstanden durch das Umsingen somit keinerlei Versäumnisse hinsichtlich des normalen Schulunterrichts797. Neben den Symphonistae durchzogen auch die Kurrendaner sowie »fahrende Schü798 ler« täglich singend die Straßen der Stadt. Das mehrstimmige Figurieren blieb dabei wohl allein den Symphonistae überlassen. Bei der hohen Frequenz, mit der die verschiedenen Schülerchöre täglich die Stralsunder Straßen durchzogen, erscheint es fragwürdig, ob daraus nennenswerte Einkünfte zu erzielen waren. Zwar berichtet Niemöller, dass die Singumgänge der Symphoniaci im Vergleich zu den Kurrendanern in der Regel sehr viel seltener stattfanden und bereits dadurch als etwas Besonderes galten799 – in Stralsund scheint dies – zumindest am Beginn des 17. Jahrhunderts – allerdings nicht der Fall gewesen zu sein. Im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts reduzierte sich die Anzahl der Singumgänge offenbar. Darauf verweist etwa ein Ratsbeschluss von 1717. Nachdem ein zu langes Singen der Chöre – bis in den Abend – offenbar für Ärgernis unter der Stralsunder Bevölkerung gesorgt hatte, legte der Rat fest, dass »nach alter Gewohnheit« lediglich zweimal unter der Woche gesungen werden sollte, »damit die leute wann sie gar zu offten und geschwinde sich wieder einfinden nicht unwillig werden«800. Von wann diese alte Gewohnheit allerdings stammte, wird nicht erwähnt. Angaben zum Repertoire der Stralsunder Symphonistae gibt es kaum. In den Chorschülergesetzen wird lediglich darauf verwiesen, dass nur anständige und ernsthafte geistliche Stücke erklingen durften: »7. In nullius gratiam cantantor, quae levitatis indicium prae se ferunt, pietatem violant et honestas aures offendunt, sed tantum musico concentu digna.«801
795 796 797 798
Zit. nach Zober (1841), S. 62. Zit. nach ebd. Vgl. ebd., S. 37–43, und Zober (1848), S. 44–47. Zober (1848, S. 7) zufolge wurde das Singen der Vaganten, der fahrenden Schüler, kurz nach Mitte des 17. Jahrhunderts aufgrund von Trunkenheit und Krawallen zunehmend zu einem Ärgernis. 1656 beschloss man daher, »dass hinführo keine Vaganten alhie zu singen admittiret werden sollten, eß sey den, dass sie beim Rector scholae sich angegeben, hospitia gesucht oder sonst dem examini sich submittiret haben und nach Befindung von demselben Licenz dazu erlanget«. 799 Niemöller (1969), S. 672. 800 StAS Rep 22-1f Currende 1646–1717 [16.10.1717]. 801 Zit. nach Zober (1841), S. 62. Dabei ist die Erwähnung des »concentus« nicht unbedingt ein Indiz für Mehrstimmigkeit, sondern besagt lediglich, dass beim Singen ein »Zusammenklang« erreicht werden sollte.
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Die von Niemöller aufgezeigten Privilegien der Symphoniaci, die – im Gegensatz zu den Kurrendanern – im Stehen vor den Häusern wohlhabender Einwohner singen durften und damit höhere Einnahmen erzielten802, gab es in Stralsund zumindest am Ende des 17. Jahrhunderts offenbar nicht (mehr?). Auch die Kurrendaner sangen zu dieser Zeit bereits im Stillstand803. Fazit Die zum Zwecke der Armenfürsorge eingerichteten Singechöre an der Stralsunder Lateinschule standen in unterschiedlichem Verhältnis zum Kantor. Während die Kurrende mit ihrem Lehrer, dem Küster des Heilgeisthospitals, zwar in der Schule unterrichtet wurde, jedoch darüber hinaus kaum Verbindungen zu Schule, Lehrerschaft und Kantor hatte, oblag diesem die Aufsicht über die als ›Symphonistae‹ bezeichneten Singechöre. Zwar wurde das Umsingen dieser Chöre in den Straßen der Stadt durch ältere Schüler (Präfekten, Adjunkten) musikalisch beaufsichtigt; beim Gottesdienst und bei den Akzidentien standen die Symphonistae dem Kantor jedoch vermutlich als musikalisch besonders versierte und geübte Sänger vor allem für Aufführungen von Figuralmusik zur Verfügung804. Wie die von Bartholdi erwähnten drei Singechöre zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf die Stralsunder Kirchen verteilt wurden, ist ungewiss. Doch liegt es nahe, dass die Chöre für das Singen an jeweils einer der Hauptkirchen zuständig waren und dort gemeinsam mit den außerdem zum Gesang verordneten ›deutschen‹ und ›lateinischen‹ Schülern den Kirchendienst versahen. 1643 wurden die Chöre der Symphonistae im Zuge von Veränderungen an der Lateinschule auch für finanziell nicht bedürftige Schüler geöffnet, wodurch sich die Anzahl der Sänger vergrößern und die sängerische Qualität vermutlich verbessern ließ. Während man die übrige Schülerschaft zu dieser Zeit zugunsten des Schulunterrichts von den Gesangsdiensten zu befreien versuchte, erlangten die Symphonistae im Gegenzug eine offenbar größere Bedeutung für die musikalische Praxis. 1.2.3.2.5 Choralmusik Nach Gottfried Ephraim Scheibels Zufällige[n] Gedancken Von der Kirchen=Music (1721) lassen sich die Anlässe zur kirchenmusikalischen Betätigung in »ausserordentliche und ordentliche Zeiten«, d. h. Werk- und gewöhnliche Sonntage sowie »hohe sonderbahre Feste/Begräbnisse/Braut=Messen« unterteilen805. Figuralmusik war dabei vor
802 Vgl. Niemöller (1969), S. 672: »Auch in der Art ihres Umsingens bestanden Unterschiede. Während die Currenden singend durch die Straßen zogen, trugen die Symphoniaci [...] ihr Stück jeweils nur stehend vor einzelnen Häusern vor.« 803 Vgl. dazu StAS Rep 23-79 Senat: Die Kurrende 1701–1767. 804 Vgl. dazu auch Niemöller (1969), S. 672. 805 Zit. nach Kremer (1995), S. 65.
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allem für die hohen Festtage vorgesehen, während an den gewöhnlichen Sonn- und Werktagen in der Regel choraliter musiziert wurde. Hatte man in der altkirchlichen Praxis vornehmlich lateinisch musiziert, führte die an der Wortverkündigung ausgerichtete lutherische Theologie nunmehr zur Einführung deutschsprachiger Kirchenmusik in den Gottesdienst des 16. Jahrhunderts. Wie es die pommersche Kirchenordnung von 1563 bezeugt, sprach und sang man in den pommerschen Städten des 16. Jahrhunderts zunächst niederdeutsch806. Während sich in den Städten das Hochdeutsche als Kirchensprache seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts allmählich durchsetzte, hielt sich auf dem Land das Niederdeutsche noch bis weit in das 17. Jahrhundert hinein807. Die neuen Kirchengesänge in niederdeutscher Sprache waren dabei u. a. in den Kirchenordnungen und Agenden enthalten, wie etwa am Ende der pommerschen Kirchenordnung von 1535 (das »düdesche Benedictus«, das »Dudesche Agnus Dei«, das »Dudesche Magnificat vnd Nunc dimittis« oder »Dat dudesche Si bona« für den Gebrauch bei Leichenbegängnissen808) oder in den Notenanhängen der nachfolgenden Agenden und Kirchenordnung809. Wie es die pommersche Kirchenordnung von 1569 vorgibt, sollte das gottesdienstliche Repertoire der Chöre – Antiphonen, Psalmen, Responsorien und Hymnen – außerdem der Psalmodia, hoc est, Cantica sacra veteris ecclesiæ selecta (Nürnberg 1553)810 von Lucas Lossius entnommen werden: »Darümme schal men bi allen kercken Lossii cantional köpen.«811 Lossius war Konrektor am Lüneburger Johanneum und hatte mit seiner Psalmodia eine umfangreiche Auswahl an Gesängen für den gottesdienstlichen Gebrauch vorgelegt, die zwar aus der altkirchlichen Praxis stammten, jedoch textlich den Bedürfnissen der Reformation angepasst worden waren. Das für den Gebrauch an den Lateinschulen bestimmte Buch war im 16. Jahrhundert weit verbreitet und erlebte mehrere Auflagen812. Ausgeführt wurden die Gesänge in der Regel alternatim, d. h. im Wechsel zwischen Liturg, Schülerchor, Gemeinde und mitunter auch dem Organisten813. Neben den neuen Kirchengesängen in deutscher bzw. niederdeutscher Sprache wurde das lateinische Repertoire der alten Kirche bis in das 18. Jahrhundert hinein weiterverwendet814. Luther selbst hatte dafür plädiert,
806 Vgl. dazu Mohnike (1831), S. X. 807 Ebd., S. Xf. 808 Sehling (1911) führt die Gesänge nicht auf. Vgl. daher die pommersche Kirchenordnung bei Buske (1985), S. 148 (70), fol. E iiiv–E vir im Faksimiledruck. 809 Vgl. dazu S. 65f. 810 Lossius (1553) = DKL 155310. 811 Zit. nach Sehling (1911), S. 438. 812 Vgl. Merten (2004). 813 Vgl. dazu S. 238f. 814 Vgl. Kremer (1995), S. 65.
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»daß [...] lateinische Gesang de tempore da sind blieben, wie wohl sie dennoch von den neuen Heiligen=Gesängen fast übertäubet und auch schier nichts gelten. Doch behalten wir sie fest und gefallen uns von Herzen wohl.«815
Den Kirchenmatrikeln von 1614 an St. Nikolai ist zu entnehmen, dass das altkirchliche Repertoire in Stralsund zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch vorhanden war: Neben mehreren Responsorienbüchern und Psalterien werden hier auch Gesänge Johannes Ockeghems aus dem 15. Jahrhundert aufgeführt816. Der Gebrauch des altkirchlichen lateinischen Repertoires war dabei einerseits dem anfänglichen Mangel an deutschsprachigen Gesängen geschuldet, diente den Lateinschülern andererseits jedoch auch zu sprachlichen Übungszwecken. Entsprechend sahen die Bestimmungen der pommerschen Kirchenordnung lateinische Stücke vor allem für die Werktagsgottesdienste mit geringer Gemeindebeteiligung und deutschsprachige Gesänge für die sonntäglichen Zeremonien mit großer Gemeindebeteiligung vor: »Desem allem na stelle wi christlike ceremonien dar ut de iungen geövet werden mit gades wörde van kinderen up latinisch, wenn de gemeene nicht vorhanden is unde nicht mit singet, düdesch överst, went de gemeene vorhanden unde mit singet.«817
Wurde an den hohen Festtagen die Messe lateinisch gefeiert, so sollte man zumindest einige deutsche Gesänge einfügen: »Ane alleene dat me idt denne ock nicht vor unrecht achte to tiden up etlike feste wenn me will to singende etlicke introitus latine, gloria in excelsis, alleluia eder christlike sequentz, latinisch prefatien, sanctus, agnus dei etc., wor gude scholen sind in den steden, alse dat men all liekewol dar manck [= dazwischen, darunter] düdesch singe, gade to lave unde tor beteringe unser ganzen gemeene.«818
Im Verlauf des 17. Jahrhunderts trat der Gebrauch des Lateinischen in der Kirchenmusik allmählich zurück, wie es auch an den figuralen Kompositionen Stralsunder Provenienz zu erkennen ist. Während die Kompositionen von Eucharius Hoffmann aus den 1570er- und 1580er-Jahren noch zum großen Teil in lateinischer Sprache erschienen waren, vertonte Caspar Movius in den 1630er-Jahren nunmehr fast ausschließlich deutsche Texte. Neben der Verwendung der deutschen Sprache sah der protestantische Gottesdienst darüber hinaus auch eine aktive Beteiligung der Gemeinde vor. Schon der pommerschen Kirchenordnung von 1535 zufolge sollte die Gemeinde an Sonn- und Festtagen deutsche Kirchenlieder und Psalmen singen: »Des sondage morgens eder up de hiligen 815 816 817 818
Zit. nach Mahrenholz (1937), S. 10. StAS Rep 28-1029 Matricul aller Gottsheuser der Stadt Stralsundt 1614, fol. 67, 79, 79v. Zit. nach Sehling (1911), S. 340. Zit. nach ebd.
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dage schal me vor de predekie einen düdeschen psalmen singen, unde na der predekie ock mit dem volk.«819 Dabei diente das Singen deutscher Psalmen »tor beteringe der gemeine unde der kinder«, damit die Lieder den »schölern unde der gemeine gebrücklick werden«820. Die Lieder sollten »nicht to hastich, ock nicht to langsam, mit einer guden pronunciation«821 gesungen werden. Ihren Platz fanden sie etwa während der Kommunion in der sonntäglichen Messe. Hier wurden »die düdischen psalme« von Kantor/ Concentoren, Schülerchor und Gemeinde »ummeschichtich [...] einen vers umme den andern«822 gesungen. Wechselweises Singen von Gemeinde und Schülerchor ist auch in der Stralsunder Kirchenordnung von Johannes Knipstro bezeugt: »und wen de gemene kerke mit singet, so schölen se [die Schüler] mit ehn ein vers umme den andern singen.«823 Offenbar nicht alternatim wurde die Gemeinde in den Gesang nach der Epistellesung einbezogen: »dar up singt de ganze kercke einen düdeschen psalm«824. Der pommerschen Agende von 1542 nach sollten darüber hinaus nach der Kollekte »die leien, und sunderlick die handwerkes gesellen, singen etlike düdesche psalmen«825. Dem Kantor bzw. den Concentoren oblag es, neben dem eigenen Gesang darüber zu wachen, dass die Gesänge ordnungsgemäß ausgeführt wurden. Sie gaben vermutlich die Einsätze und stimmten die Gesänge an. Gesangbücher Die zahlreichen Neudichtungen von Kirchenliedern nach der Reformation finden sich in den Gesangbuchdrucken der Zeit. Bereits in den 1520er-Jahren lassen sich erste Übersetzungen von Lutherliedern ins Niederdeutsche nachweisen826. Als Verfasser von Kirchenliedtexten trat in Stralsund u. a. Johannes Freder, Pastor an St. Nikolai und städtischer Superintendent von 1547 bis 1549, hervor827. Seine Kirchenlieddichtungen – darunter »Ach leue Herre Jesu Christ« – wurden auch über die pommerschen Sammlungen hinaus bekannt; im Stettiner Gesangbuch von 1576 stammen noch 13 Lieder von Freder828. Auch der in den 1520er-Jahren kurzzeitig als Stralsunder Schullehrer wirkende Hermann Bonnus829 machte sich später um den Kirchengesang verdient: 1545 erschien sein ENCHIRIDION/ Geistlike/ Lede vnd Psal-/ men vppet nye/ gebetert, eine Sammlung 819 820 821 822 823 824 825 826 827 828
Zit. nach ebd., S. 340 (Pommersche Kirchenordnung von 1535). Zit. nach ebd., S. 435 und 439 (Agende zur pommerschen Kirchenordnung 1569). Zit. nach ebd., S. 340 (Pommersche Kirchenordnung von 1535). Zit. nach ebd., S. 439 (Agende zur pommerschen Kirchenordnung 1569). Zit. nach ebd., S. 550 (Stralsunder Kirchenordnung von Johannes Knipstro 1555). Zit. nach ebd., S. 341 (Pommersche Kirchenordnung von 1535). Zit. nach ebd., S. 356 (Agende zur pommerschen Kirchenordnung 1542). Mohnike (1831), S. IXf. Siehe zu Freder S. 58, Anm. 278. Vgl. dazu Mohnike (1831), S. LVII, sowie ders. (1840), S. 14–34. Bei Mohnike (1840, S. 15–34) sind 22 Lieddichtungen Freders abgedruckt. Siehe unten zum Stettiner Gesangbuch von 1576. 829 Vgl. S. 48, Anm. 203.
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mit niederdeutschen Gesängen in Lübeck830. Aus Bonnus‘ Feder stammen zwei bis heute gebräuchliche Strophen des Liedes »Och wy armen Sünders«831. Das erste pommersche Gesangbuch erschien 1576 in Stettin in niederdeutscher Sprache; ein Exemplar ist im Stralsunder Stadtarchiv erhalten: Psalme/ | Geistlicke Lede | vnd Gesenge/ van D. Mar= | tino Luthero: Ock velen anderen | Christliken Leerern vnd Godtseligen | Mennern gestellet. | Mit flyte thosamende gele= | sen/ dorchgeseen vnd in gude | Ordeninge gebracht/ | Mit einem Richtigen Register der | Gesenge/ De vp Sondage vnde | Festdage gesungen werden/ Vnd mit | den Euanglien vnd Festen | auerein kamen. | Ordeninge der Gesenge in dessem Bo= | ke/ vindestu na den Voerreden. | Gedrückt tho Olden Stettin | dorch Andream Kellner. | M.D.LXXVI.832
Es umfasst fünf Abteilungen: (1) Psalmen Davids, (2) Gesänge zum Katechismus, (3) Hymnen und Festgesänge zum Kirchenjahr, (4) christliche Gesänge »van den vörnemesten Artikeln vnser Christlicken Leer« sowie (5) Begräbnisgesänge833. Ein hochdeutsch gefasstes Gesangbuch für den Wolgaster Teil des pommerschen Herzogtums folgte 1592. Vom pommerschen Herzog Ernst Ludwig initiiert, war vermutlich auch der Generalsuperintendent für Pommern-Wolgast Jakob Runge an der Herausgabe dieses Gesangbuchs beteiligt: Ein | PSALMBVCH | Darin Geistli- | che Lieder Psalmen vnd lobge- | senge von D. Mart. Luth. vnd an- | dern Gottseligen Lerern vnd Christen | gestellet/ in folgender ordenung | sind gesetzt. | Zum ersten/ Etliche Psalmen Dauids gesangsweise | Zum andern/ Der Catechismus gesangsweise. | Zum dritten/ Die Festgesenge so durchs gantze | Jar gebreuchlich. | Zum vierdten/ Allerley Geistliche Lieder von | den fürnemsten heuptstücken vnser Christli- | chen Religion. | Auffs newe mit fleiß zugerichtet vnd aus | andern Psalmbüchern zusamen gebracht/ sampt | einem Register der gesenge/ so auff die Sontage | vnd Feste können gesungen werden/ vnd | mit den Euangelien vnd festhisto- | rien vbereinstimmen. | Zu ende dieses Buchs/ findet man auch etliche | Christliche Gebedtlein/ wen man zum Abend- | mal des HERRN gehen wil. | Gryphißwalt/ Anno 1592.834
In seinem Aufbau folgt es dem Stettiner Vorgängerdruck in nahezu identischer Weise: Der erste Teil enthält wiederum Vertonungen von Psalmen Davids unter Angabe bekannter ›Töne‹ oder aber mit notierten Melodien. Im zweiten Teil finden sich die »sechs stücke des Catechismi/ sampt den Morgen vnd Abendsegen/ anch [sic!] das Benedicite vnd Gratias gesangsweise gesetzt«. Es folgen die lateinisch- oder deutschsprachigen 830 = DKL 154502. 831 Schmidt-Beste (2000), Sp. 353, sowie Wölfel (1999), Bonnus, S. 50. 832 = DKL 157606. Das Gesangbuch ist überliefert in: StAS Po 8° 483. Vgl. außerdem Mohnike (1831), S. XI. 833 Ebd., S. Xf. 834 = DKL 159206. Vgl. auch Mohnike (1831), S. XI–XIII. Das Gesangbuch ist (ohne Titelblatt) überliefert in: D-GRu Sign. 527 FuH 45938.
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Festgesänge (Hymnen, Sequenzen, Lieder, Messteile) durch das Kirchenjahr, beginnend mit der Adventszeit. Im vierten Teil schließlich finden sich »allerley Christliche Gesenge/ von den fürnemsten Heuptarticeln/ Christ= | licher Lehre«, darunter Lieder auf das pommersche Herzogshaus sowie einige Begräbnisgesänge, die hier nicht in einem separaten fünften Teil zusammengefasst sind. Das Gesangbuch endet mit einem umfangreichen Register, das die Gesänge sowohl alphabetisch als auch nach ihrem Gebrauch an den Sonn- und Festtagen aufführt. Vermutlich wurden in Stralsund zunächst die pommerschen Gesangbücher von 1576 und 1592 neben Liedersammlungen von außerhalb Pommerns verwendet; über eine eigene Druckerei verfügte die Stadt im 16. und im frühen 17. Jahrhundert noch nicht835. Eine überaus dürftige Quellenlage beklagt in diesem Zusammenhang im Übrigen auch Gottlieb Mohnike: »Nirgends finden wir auch bemerkt, welche kirchliche Liedersammlungen bis in die Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts hier in Stralsund in Gebrauch gewesen sind, und noch weniger werden hier in der Stadt gedruckte Sammlungen angeführt.«836
1645 schließlich erschien das erste Stralsunder Gesangbuch bei dem nunmehr (seit 1637) in der Stadt ansässigen Verleger Michael Meder. Es enthielt 408 Lieder und entstand nach Mohnike auf Meders private Initiative hin837. Nicht erhalten ist offenbar ein zweiter Teil dieses Gesangbuchs von 1654: Ernewertes Gesangbuch, Darinnen 408 Geistreiche Psalmen und Lieder [...] Jetzo zum andernmal [...] Gedruckt zu Stralsund durch und in verlegung Mich. Meders [...] 1654838. Drei weitere Stralsunder Gesangbuchdrucke lassen sich im 17. Jahrhundert nachweisen, von denen vor allem der folgenden, 1665 erschienenen Veröffentlichung eine besondere Bedeutung zukommt: Geistreiches Gesang=Buch/ Darinnen 347. mehrentheils | neue außerlesene Geist= und Krafft= | reiche Psalmen und Lieder/ zu Beförde= | rung der privat und öffentlichen Kirchen= | Andacht ordentlich zusammen getragen/ | und unter bekante sonst an= | muthige Melodien | gestellet839. In seiner Vorrede zu diesem Gesangbuch 835 Bake (1934), S. 137. Mohnike zufolge stammt das älteste in Stralsund gedruckte Buch von 1629. Mohnike (1831), S. LV. Vgl. zur Stralsunder Druckereigeschichte auch Schmidt (1907), S. 664–666. 836 Mohnike (1831), S. LV. Mohnike informiert über einige Greifswalder Gesangbuchdrucke. Ebd., S. XIII–XVI. 837 Ebd., S. LXI. Das von Mohnike als verschollen bezeichnete Gesangbuch ist erhalten in: StAS Sign. Po 8° 463, konnte jedoch leider nicht eingesehen werden. Vgl. zu Meders Aktivitäten Schmidt (1907), S. 664–666. 838 Zahn (1889–1893/1997), Bd. 6, Nr. 627a. Vergleiche dazu auch die entsprechenden Einträge in der Mainzer Gesangbuchbibliographie (Datenbank): http://www.zdv.uni-mainz.de/ scripts/gesangbuch/search.php (22.6.2014). 839 = DKL 166510. Sowohl bei Zahn (1889–1893, Bd. 6, Nr. 627b) als auch im DKL wird dieses Gesangbuch als Ander Theil des 1654 erschienenen Stralsunder Gesangbuchs bezeichnet. Der Titel des in Greifswald erhaltenen Exemplars weist allerdings nicht darauf hin: DGRu Sign. 527/FuH 15627. Es war wiederum bei Michael Meder erschienen.
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widmet sich der Stralsunder Superintendent und Pastor an St. Nikolai Bernhard Gossmann (1622–1691)840 zunächst der Rolle der Musik und des Singens aus theologischer Sicht. Zur Auswahl der 347 Gesänge äußert sich anschließend der Verleger Meder: »[…] dabey aber zugleich erwehnen wollen/ daß bey Außsuch und Erwehlung derselben [Lieder] zwar guten Theils auf den Styl einer netten und fliessenden Poesi gesehen/ deßhalb aber auch nicht eben die jenige/ dabey sich etwa ein besonderer Geist zur Auffmunter= und Erqvickung einer Gott=ergebenen Seelen verspüren lassen/ dahinden blieben.«841
Die Lieder des Stralsunder Gesangbuchs von 1665 sind zunächst nach dem Kirchenjahr geordnet: von Weihnachten bis zum Michaelistag. Es folgen Lieder zum Katechismus, zu Taufe, Beichte und Buße, zu Krankheit (»Jn Pestilentz«), Not (»Jn Armuht«) und Unglück (»Jn grossem Ungewitter«) bis hin zu Morgen-, Abend-, Tisch- und Reise-Gesängen. In zwei Registern werden die Lieder wiederum alphabetisch nach ihrem Textbeginn (am Ende des Buches) sowie nach ihrer Verwendung an den Sonn- und Festtagen im Kirchenjahr aufgeführt (zu Beginn des Buches). 55 Gesängen ist sowohl eine Melodie im Notenbild als auch eine bezifferte Generalbassstimme beigefügt842. Dazu zählen acht Gesänge Johann Crügers (»J. C.«), sechs Lieder des Rostocker Marienorganisten Nicolaus Hasse (»N. H.«)843 sowie mit »Gott ist mein Hirt«844 auch eine Vertonung des Stralsunder Nikolaiorganisten Johann Martin Rubert (»J. M. R.«). Mit »Hast Du denn Liebster dein Angesicht gäntzlich verborgen«845 ist in diesem Gesangbuch außerdem die älteste Fassung der Melodie nachweisbar, die heute mit dem Lied »Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren« verbunden ist846. Die beiden außerdem nachweisbaren Stralsunder Gesangbuchdrucke des 17. Jahrhunderts enthalten keine Melodien und sind vermutlich auch ansonsten weitaus weniger aufwendig gestaltet als das Stralsunder Gesangbuch von 1665. Lediglich einen Auszug bietet der 1671 veröffentlichte Gesangbuchdruck: Außzug | Etlicher Geistlicher 840 Vgl. zu Gossmann Heyden (1973), S. 104f. Gossmann stammte aus Westfalen, hatte in Rostock studiert und wurde 1659 Pastor an St. Nikolai in Stralsund. 1664 wurde er Stralsunder Superintendent. 841 Vgl. die Vorrede zum Gesangbuch. 842 In einem Fall ist der Gesang für zwei Cantus und Generalbass gesetzt (»Ach was sol ich Sünder machen«, S. 253 im Gesangbuch). 843 Vgl. im Gesangbuch: S. 71f.: »O Traurigkeit, o Hertzeleid«, S. 271–274: »Sollen Herr die Eyvers-Ruhten«, S. 295f.: »Jesu meine Sonne«, S. 317–319: »Ich bin ein Schaaf, wer ist der Hirt«, S. 433–437: »Du liebe Unschuld du«, und S. 650f.: »Liebster Bräutgamb denckst du nicht«. Vielleicht kam der Kontakt zu Hasse über Gossmann zustande, der in Rostock studiert hatte. Vgl. Anm. 840. 844 Gesangbuch, S. 315–317. 845 Ebd., S. 653f. Die Melodie ist bei Zahn (1889–1893/1997) unter Nr. 1912 zu finden. 846 Die Angabe Engels (1963, Sp. 1038), dass diese Melodie auf Rubert zurückgehe, ließ sich nicht belegen.
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| Lieder/ | Aus dem ohnlängst allhie | gedruckten Gesang=Buch/ wel= | che bey der Christlichen Gemeine in | den Kirchen einzuführen gut be= | funden worden847. Nicht mehr von Meder, sondern von dem Stralsunder Buchbinder Georg Löffler wurde das 1685 erschienene Stralsunder Gesangbuch Neu zugerichtetes und | vermehrtes | Stralsundisches | Gesangbuch/ | Darinnen viel geistreiche | Psalmen und Lieder/ Alte und | Neue/ wie sie in der Evangelischen | Kirchen gebräuchlich/ | Iber [sic] voriges mit einigen Lie= | dern und Gebeten vermehret. | Dabey angefüget | Ein erbauliches Gebet=Büch= | lein/ darinnen an statt der Vorrede zu | finden/ hochgelahrter Männer Schrif= | ten/ Sprüche und Reim=Ge= | betlein/ | Mit leßlicher Schrifft gantz | neu verfertiget verlegt848. Neben den eigenen lokalen bzw. regionalen Veröffentlichungen erwarb und verwendete man in Stralsund auch andere, überregional erfolgreiche und bekannte Gesangbuchdrucke. Ein entsprechender Musikalienankauf ist etwa im Ausgaberegister der Nikolaikirche bezeugt: »Anno 1660 den 25 November habe ich auff deß Cantore sein Instendiges begeren die Kirche zum besten Krügers Sangebuch gekaufft dafür mit bant gegeben 6 MS 6 ß.«849
Kantor war zu dieser Zeit Tobias Woltersdorff, und mit »Krügers Sangebuch« ist vermutlich Johann Crügers Praxis pietatis melica gemeint, aus der man auch Lieder in das Stralsunder Gesangbuch von 1665 übernahm. 1695 wurde durch die Nikolaikirche für den »Cantorij [Hermann Scheven] auf dem Chor zugebrauchen Gekaufft das große Lunnenburgsche Gesangbuch von 2000 Gesange wofür an Adam Reuman bezahlet 8 MS«850. Es handelt sich dabei um das von Johann Stern verlegte Lüneburgische Gesangbuch von 1686851. Als Verfasser von Kirchenliedtexten benennt Mohnike die Nikolaipastoren und Stralsunder Superintendenten Georg Zeamann (1580–1638) und Johann Baudewin (1641–1699) sowie den Stralsunder Schulrektor und späteren Pfarrer an St. Jakobi Peter Vehr (1644–1701)852. 1.2.3.2.6 Figuralmusik Mohnike zufolge gab es in Stralsund »drei Sonntage hinter einander […] abwechselnd in den drei Hauptkirchen eine solche Kirchenmusik [Figuralmusik]«; »an jedem vierten Sonntag feierte [pausierte] man«853. Vermutlich also rotierte die Aufführung figuraler 847 Erhalten ist das Gesangbuch in D-W Sign. Tl 12. 848 Vgl. den Eintrag in der Mainzer Gesangbuchbibliographie (wie Anm. 838). Das Gesangbuch ist in D-Gs erhalten. 849 AStN KR R 26 Bänkeregister 1656–1685, fol. 4r. 850 AStN KR R 27 Bänkeregister 1686–1710, fol. 132v. 851 = DKL 168606. 852 Mohnike (1831), S. LIX–LXI. Vgl. zu den Nikolaipastoren auch Heyden (1973), S. 104f., und zu Vehr Zober (1858), S. 54–56. 853 Mohnike (1831), S. CVII.
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Musiken in Stralsund ähnlich wie in Hamburg, wo zu Beginn des 17. Jahrhunderts sechs figurale Musiken pro Hauptkirche und Jahr vorgesehen waren, »die vermutlich den höchsten Feiertagen vorbehalten waren«854. Infolge der zunehmenden »Protektion des Kantorats und der Kirchenmusik«855 wurde die Hamburger Figuralmusik – Kremer zufolge – im Verlauf des 17. Jahrhunderts allerdings stark ausgeweitet. Schon 1657 wurde an jedem Samstag in der Vesper und an jedem Sonntag in zwei Gottesdiensten figural musiziert856. Auch in den Hamburger Nebenkirchen erklangen nun Figuralmusiken857. Als Bestandteil des schulischen Programms wird das Singen von Figuralmusik neben der Choralmusik schon in der pommerschen Kirchenordnung von 1563 benannt: »De musica choralis unde figuralis mot mit diesen knaben vlitich gedreven werden, alle dage up de twelfte stunde.«858 In den Gottesdiensten fand Figuralmusik vermutlich vor allem ›sub communione‹ in der sonntäglichen Messe sowie in den Vespergottesdiensten statt. So sollte es nach den Bestimmungen der pommerschen Agende von 1569 für die sonntägliche Vesper »Figural gesank, wor grote gude canterien sint« geben859. An der Stralsunder Lateinschule war das Singen figuraler Musik vor allem den oberen Lateinschulklassen vorbehalten, wie die Lektionspläne von 1591 und 1617 zeigen. Die musikalische Leitung oblag dabei dem Kantor860. Getragen wurde die gottesdienstliche Figuralmusik außerdem vermutlich von den Symphonistae, den Singechören der Stralsunder Lateinschule861. Mit der Figuralmusik rotierten auch die musikalischen Pflichten des Kantors an den drei Hauptkirchen. Dass der Stralsunder Kantor die Musik nicht ausschließlich an St. Nikolai, sondern auch an den anderen beiden Hauptkirchen der Stadt leitete, wird etwa aus dem überlieferten Briefwechsel zur Besetzung der Stralsunder Con- und Succenturen im späten 17. bzw. frühen 18. Jahrhundert deutlich. In einem Schreiben der Stralsunder Concentoren Johann Kempe und Michael Willich an das Stralsunder Scholarchat heißt es 1697, »daß die Praecentores [gemeint sind die Concentoren] zum wenigsten in der Zeit, wen der Hr. Cantor in ihren Kirchen musicirete, allda können entbehret werden. Resp.: Quod non; weil sie auch alsdan im Chor allemahl mit ihrem Gesange den Gottesdienst anfan854 Kremer (1995), S. 67. Vgl. auch Krüger (1933), S. 33, und Edler (1982), S. 55f. Im Gegensatz dazu gab es in Lübeck an allen Festtagen figurale Musiken in St. Marien. In den übrigen vier Hauptkirchen leitete der Kantor jeweils viermal jährlich eine figurale Musik. Stahl (1952), S. 54f. 855 Kremer (1995), S. 66. 856 Ebd., S. 67. 857 Ebd. 858 Zit. nach Sehling (1911), S. 403. 859 Zit. nach ebd., S. 439. 860 Vgl. S. 128. 861 Vgl. dazu auch für Freiberg Krickeberg (1965), S. 57f., und für Lübeck Stahl (1952), S. 54.
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gen, nachmahls über den coetum acht haben müßen, daß kein Aergerniß in den Kirchen angerichtet werde.«862
Unabhängig davon, ob der Kantor an einer Kirche figural musizieren ließ, hatten die übrigen für den Kirchendienst abgeordneten Lehrer ihren musikalischen Dienst zu versehen. In einem Scholarchatsdekret von 1726 wird darauf verwiesen, dass der Kantor zwar für den Kirchendienst an St. Nikolai zuständig war, jedoch auch an den anderen Kirchen musikalisch agierte: »[…] auch ab actis Scholarchatus unwidersprechlich ist, daß der Ehrn Cantor, soweit Er durch Abwartung und Dirigirung der Music in denen übrigen Kirchen daran nicht behindert wird, in der St. Nicolai=Kirche die Praecentur jederzeit gehabt.«863
Als Hinweis auf konzertierende Figuralmusiken außerhalb von St. Nikolai sind auch die 1660 errichteten Musikemporen im Mittelschiff der Marienkirche zu werten864, die an die für die Lübecker Abendmusiken errichteten Musikemporen erinnern mögen. Zwar ist in diesem Zusammenhang darauf zu verweisen, dass eventuell auch die abgeordneten Con- und Succentoren oder die Organisten – wenn in ihrer Kirche nicht musiziert wurde – figurale Musiken leiteten865, üblicherweise jedoch lag die Musik »auf der Orgel« auch außerhalb von St. Nikolai in den Händen des Kantors. Darauf lässt sich noch aus einigen Quellen des frühen 18. Jahrhunderts schließen. 1705 etwa beklagte der Marienorganist Andreas Schick, dass sich bei den vom Kantor geleiteten Musiken auf der Orgel mitunter nicht dazugehörige Personen auf der Empore befänden. Der Rat empfahl, rechtzeitig zu erscheinen und die Tür zu verschließen: »Wann Suppl: Cantor und Musicante mit ihren Leuten zu rechter Zeit auff der Orgel sich einstellen und nach sich die Thüre verschliessen lassen, wird dem geklagten beschwerden von an- und zu lauffen von andern zur Music nicht gehörenden leuten hoffentlich zur genüge gewehret werden können.«866
Auch in einem überlieferten Gottesdienstplan zur Institution des Stralsunder Superintendenten Schröder von 1701 heißt es mehrfach: »auff der Orgel musicirt der Cantor«867. Geht man davon aus, dass die drei zu Beginn des 17. Jahrhunderts als Symphonistae bezeichneten Chöre auf die drei Kirchen verteilt waren, so verfügten vermutlich alle 862 Zit. nach Zober (1858), S. 94. 863 Ebd., S. 95. 864 Vgl. Rost (2006), S. 9. 865 Vgl. die Ausführungen zur ›Organistenmusik‹ unten auf S. 245–247. 866 StAS Hs. 619 Schriftensammlung des Landrats Hermann Berend Wulfradt, 1552–1778 [11.11.1705], fol. 596. Die Beschwerde von Schick ist nicht überliefert. 867 StAS Rep 28-181 Acta Ministerii Sundensis. Vocation, Ordination und Institution der Prediger von 1598 bis 1762 [10.5.1701].
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Kirchen über einen verlässlichen Sängerstamm für figurale Aufführungen, der durch die Schüler der oberen Klassen noch aufgefüllt werden konnte. Gefördert wurde die gottesdienstliche Figuralmusik in den Städten, wie es Krickeberg darlegt, fast überall vom Rat868, der damit wohl in erster Linie repräsentative Absichten verfolgte. In seiner Funktion als Schulpatron konnte der Rat das Schulprogramm der Lateinschulen beeinflussen und darüber hinaus auch die gottesdienstlichen Zeremonien, da ihm auch die Aufsicht über das Kirchenwesen oblag. Dass schon dem Stralsunder Bürgermeister Nicolaus Gentzkow (1502–1576) an figuraler Kirchenmusik gelegen war, bezeugt seine Beschwerde von 1563: »hadde wi den leven osterdag, dar nichts anders dan allein choral gesungen ward, lahm gnug«869. Gentzkow initiierte in diesem Zusammenhang offenbar ein Gespräch mit den Stralsunder Schullehrern, um den Kirchengesang zu verbessern, und beauftragte seinen Bürgermeisterkollegen, »hern Bartholomeum Sastrow [...], mit dem Rectore der scholen vnd sinen gesellen ernstlick toreden, dat id chor mit guden gesengen wol vorgesehen vnd keine confusiones gemaket würden.«870 Noch im selben Jahr wurde Eucharius Hoffmann Kantor der Stralsunder Lateinschule, der sich in Kirche und Schule als ausgesprochen fähiger Amtsinhaber erwies. Vermutlich hatte man sich wegen des qualitativ unbefriedigenden Kirchengesangs nach Gründung der Schule gezielt nach einem kompetenten Kantor umgesehen und einen solchen in Hoffmann vermutet. Dieser erweiterte in den Folgejahren systematisch – und vielleicht von Rat und Scholarchat beauftragt – das kirchenmusikalische Stralsunder Repertoire und schuf darüber hinaus musiktheoretische Werke für den Lateinschulunterricht871. Hoffmanns kompositorische Aktivitäten, die sich von sämtlichen späteren Stralsunder Amtsinhabern deutlich unterscheiden, sind vermutlich dem zunächst großen Bedarf an geeigneten Musikalien und theoretischen Lehrwerken nach Gründung der Schule 1560 geschuldet. Entsprechend lesen sich seine Äußerungen sowohl in den musiktheoretischen Werken872 als auch etwa im Vorwort zu seinem Ersten theil geistlicher Lieder (1580), in dem der Kantor schreibt: »Dieweil aber derselben schöne Melodeyen bey den gemeinen Sangbüchlein gar nicht/ oder ja gar falsch gedrucket werden/ so hab ich frommen Christen/ sonderlich aber meiner befohlen jugent/ zu gut dieselbigen angefangen [...] in jrer gewohnlichen weise vnd notten zugeben.«873
Für seine unmittelbaren Amtsnachfolger bestand offenbar keine Notwendigkeit mehr zum Komponieren, da durch Hoffmanns Werke nunmehr ein zunächst ausreichender Fundus an Musikalien vorlag. 868 869 870 871 872 873
Krickeberg (1965), S. 172. Zit. nach Zober (1870), S. 232f. Zit. nach ebd. Siehe oben S. 119–124. Vgl. ebd. Vorrede zu Erster theil geistlicher Lieder (1580), Tenorstimmbuch.
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Ein erneuter Bedarf an Figuralmusik entstand erst nach dem musikalischen Stilwandel im frühen 17. Jahrhundert, als man die motettischen Kompositionen von Hoffmann vermutlich zunehmend als altmodisch empfand. In dieser Zeit fühlte sich der Stralsunder Subrektor Caspar Movius berufen, den Bedarf an figuralen Musiken neueren Stils zu decken und legte in den 1630er-Jahren mehrere Sammlungen mit geistlichen Konzerten unter Verwendung des Generalbasses vor. Wie die zweite Ausgabe seiner HYMNODIA SACRA von 1639 belegt, hatte sich das Generalbassprinzip jedoch bis zum Ende der 1630er-Jahre noch nicht vollständig durchgesetzt. Da Movius von Aufführungen seiner Werke gehört hatte, bei denen der Generalbass nicht instrumental besetzt, sondern solmisiert wurde874, legte er nunmehr einen textierten Vokalbass vor, der sowohl gesungen werden konnte als auch als Generalbassstimme zu verstehen war. Die Beteiligung von Instrumentalisten an der Stralsunder Kirchenmusik lässt sich bereits im 16. Jahrhundert belegen. Zu dieser Zeit dürften sie in der gebräuchlichen Motettenliteratur entweder die Vokalstimmen mitgespielt oder sie teilweise ersetzt haben. Im 17. Jahrhundert waren sowohl die Ratsmusikanten als auch die zunftmäßig organisierten Instrumentalisten zum Musizieren in der Kirche verpflichtet875 und hatten – Prost zufolge – an Sonn- und Festtagen in nicht nur einer Stralsunder Kirche musikalische Dienste zu leisten876. In den von Stralsunder Musikern im Verlauf des 17. Jahrhunderts veröffentlichten größer besetzten Werken neueren Stils werden mehrfach variable Besetzungsmöglichkeiten angegeben, vermutlich, um damit der musikalischen Situation in der Stadt selbst Rechnung zu tragen oder aber die Werke an die Aufführungsbedingungen andernorts anzupassen. Movius verweist beispielsweise auf dem Titelblatt seines TRIUMPHUS MUSICUS SPIRITUALIS von 1640 darauf, dass die sechs- bis achtstimmigen Konzerte mit Hoch- und Tiefchor »also gestellet« wurden, »[d]aß sie in Mangel der Musicanten, auch ohne Instrumenten oder einem Corpore, zu Chor und sonst daheim gar füglich mögen gesungen werden«877. Auch Vierdanck gibt an, dass seine geistlichen Vokalkonzerte von 1643 auch unter Auslassung von Stimmen aufgeführt werden können: »Sonsten ist auch zu erinnern/ daß in Vnterschiedlichen etliche Stimmen können auß-
874 Vgl. »Praefatio ad Lectorem« in: HYMNODIA SACRA (1639): »da Jch noch in der Löblichen Universitet Rostock mich auffgehalten/ zun offtern gehöret/ […] daß bei Musicalischen Gesellschafften vnnd Zusammenkunfften diese Stücklein nur bloß ohne Jnstrumenten gemacht und gesungen würden/ darzu sich doch der General: Bass ohne Texte/ so von manchem nicht ohne grossen Verdruß der Zuhörer nur solmisiret ward/ im geringsten nicht reimete.« 875 Vgl. dazu die Ausführungen zu den Stralsunder Instrumentalisten unten auf S. 318–320, 332 und 343–345. 876 Prost (1996), S. 2. Siehe auch unten S. 247. 877 Siehe den Titel im Werkverzeichnis auf S. 388f.
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gelassen werden«878. In Ruberts Musicalischer Seelen Erquickung von 1664 sind einige Instrumentalstimmen ebenfalls als ›si placet‹ markiert879. Alternative Besetzungen werden jedoch nicht nur hinsichtlich der Instrumental-, sondern auch – wenn auch weitaus seltener – der Vokalstimmen angeführt. So gibt Vierdanck an, dass die Diskantstimmen im ersten Teil seiner Geistlichen Konzerte von 1641 »in mangel der Discantisten/ wol in der octav alß Tenori gesungen werden« können880. Einschätzungen zu den gesanglichen Fähigkeiten der Stralsunder Schülerchöre sind dabei nur bedingt möglich. Jedoch umfasste das musikalische Repertoire offenbar auch bis zu zehnstimmige Motettenliteratur und wich kaum von dem vergleichbarer anderer Städte ab881. Ob, wie häufig und in welcher Qualität die Musik in Stralsund allerdings aufgeführt wurde, ist kaum mehr zu ermitteln. Da zudem ein großer Teil der Musikalien Stralsunder Provenienz in der Stadt selbst nicht überliefert ist, lassen sich kaum Untersuchungen zu ihrem Gebrauch anstellen. Anspruchsvolle Gesangspartien sind in den geistlichen Vokalkompositionen von Johann Vierdanck und Johann Martin Rubert aus der Mitte des 17. Jahrhunderts enthalten. Ob diese von den Schülern der Stralsunder Lateinschule zu bewältigen waren, muss dahingestellt bleiben. Zumindest in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gab es jedoch zusätzliche Sänger für die Kirchenmusik in Stralsund, deren Anstellung Bugenhagen in seiner pommerschen Kirchenordnung von 1535 noch verboten hatte882: So lässt sich zwischen 1654 und 1656 der »singer« und »Musicante« Stenheuser an den Stralsunder Kirchen nachweisen883. Informationen zu seiner Herkunft und seinem musikalischen Einsatz fehlen. Von der Anstellung eines Sängers berichtet auch ein Schreiben des Nikolaiorganisten Johann Martin Rubert an die Provisoren der Nikolaikirche vom Beginn des Jahres 1664884. Auf Empfehlung des Königlich Dänischen Kapellmeisters, zu dieser Zeit Kaspar Förster d. J.885, habe sich ein Sänger in Stralsund vor Rat, Bürgerschaft und Geistlichkeit hören lassen und bereits einige Zeit seine Dienste in der Stadt verrichtet. Da der leider nicht namentlich erwähnte Sänger dafür nicht ausreichend entlohnt wurde, bat Rubert um eine entsprechende Bezahlung der musikalischen Aufwartungen886. Warum sich Rubert und nicht der für die Figuralmusik verantwortliche Kantor Tobias 878 Vgl. die Vorrede zu Vierdancks Ander Theil Geistlicher Concerten (1643). 879 Vgl. auch Webber (1996), S. 103f. 880 Vgl. die Vorrede (»Erinnerung an den Leser«) in Vierdancks Erster Theil Geistlicher Concerten (1641). 881 Vgl. die nachfolgenden Ausführungen zum figuralen Repertoire. 882 Vgl. Sehling (1911), S. 340, sowie S. 52 in dieser Arbeit. 883 Vgl. AStN R 33a Ausgaberegister 1629–1673 [1653–1655]. Im Ausgaberegister der Jakobikirche ist lediglich von einem »Musicanten« die Rede. StAS Rep 28-883 St. Jakobi Ausgaberegister [1654–1656], fol. 192v–214v. 884 AStN KK [Schreiben des Nikolaiorganisten Johann Martin Rubert an die Provisoren der Nikolaikirche, 5.1.1664]. 885 Vgl. Warnecke (2001), Sp. 1487. 886 Vgl. Dok. 10 im Anhang, S. 371.
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Woltersdorff um die Bezahlung des Sängers bemühte, wird dabei nicht erwähnt. Vielleicht jedoch hatte der Organist Kontakte zum dänischen Hof887 und hatte sich persönlich um die Anstellung des Sängers bemüht. Möglicherweise ist es kein Zufall, dass im selben Jahr – 1664 – auch Ruberts Musicalische Seelen Erquickung, eine Sammlung kleinbesetzter geistlicher Konzerte, im Druck erschien. Wie lange der Sänger in Stralsund blieb, ist unklar. Zahlungen an ihn lassen sich in den städtischen und kirchlichen Ausgaberegistern nicht nachweisen.
Figurales Repertoire888 Angaben zu dem in Stralsund verwendeten figuralen musikalischen Repertoire enthalten die überlieferten Kirchenmatrikel. Nach den Matrikeln von 1614 verfügte der Kantor über »Bodenschatzes Florilegium, Ertely symphoniae sacra, Huseleri Cantiones sacra, Musicalischer Zeitt Vortreiber, Demantij Conuiualium Inn achtt Bücher Inn Weiß Pergament«889. Dabei handelt es sich um vier- bis zehnstimmige Motettensammlungen älteren Stils, wie sie zu dieser Zeit noch an den meisten Lateinschulen im Gebrauch waren: die weitverbreitete Motettensammlung Florilegium Portense von Erhard Bodenschatz (1. Auflage von 1603), Sebastian Erthels890 Symphoniae sacrae (1611) für sechs bis zehn
Abbildung 4: Titelkupfer aus Johann Martin Ruberts Musicalischer Seelen Erquickung, Stralsund 1664888
887 Rubert war auch an den Krönungsfeierlichkeiten für Christina von Schweden im Jahre 1650 beteiligt. Vgl. unten S. 204. 888 Das Titelkupfer zeigt neben Rubert als Komponist der Sammlung (rechts), ausgestattet mit einer Notenrolle, vermutlich den schon erwähnten Bernhard Gossmann (links), Pastor an St. Nikolai. Gossmann bezeichnet hier die Textgrundlage des Werkes: »Auß Hochgelahrter Männer Predigten entlehnet«; beide Männer repräsentieren die Verkündigung des Evangeliums durch die Musik. Der untere Bereich der Darstellung spiegelt den Vanitas-Gedanken wider. Vgl. dazu auch Bugenhagen (2014), Musik im Bild. 889 StAS Rep 28-1029 Matricul aller Gottsheuser der Stadt Stralsundt 1614, fol. 147 und 147v. 890 Erthel (um 1555–1618) war Benediktinermönch in Garsten (Österreich) und hinterließ eine Reihe zumeist großbesetzter vokaler und vokal-instrumentaler Kompositionen. Vgl. Beer (2001).
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Stimmen, Hans Leo Hasslers Cantiones sacrae (1591) für vier bis acht (und mehr) Stimmen und Johann Christoph Demantius’ Convivalium concentuum farrago (1609) für sechs bis acht Stimmen. Bei dem Musicalischen Zeitt Vortreiber handelt es sich vermutlich um die von Albert Göhler aufgeführte und 1609 erschienene Sammlung allerl. seltzamer, lächerlicher Vapores u. Humores, ehrlicher Collation u. Schlafftrunksbossen, [Quodlibet, Judenschul u. andere kurzweilige Liedlein] [...] von mehrerley [vilerley] fürtreffl. Musicis891 für vier bis acht Stimmen, die vermutlich nicht zum gottesdienstlichen Repertoire zählten. Über die genannten Musikalien hinaus waren in Stralsund wohl die Werke der hier wirkenden Musiker Eucharius Hoffmann, Caspar Movius, Johann Vierdanck, Johann Martin Rubert und Daniel Schröder vorhanden und in Verwendung892. Im Stralsunder Stadtarchiv sind neben Movius‘ PSALMODIA SACRA NOVA (1636) und der HYMNODIA SACRA (in der Ausgabe von 1639) außerdem vier umfangreiche handschriftlich überlieferte Stimmbücher mit etwa 100 Motetten aus dem 16. Jahrhundert erhalten893. Von den ehemals wenigstens sechs Stimmbüchern – unter dem Titel Mensuralia – sind nur Alt, Tenor, Sexta Vox und Bass erhalten. Auf den Umschlagseiten befindet sich ein Besitzvermerk – »Sum Matthaei Rubachij Grimmensis Pomerani. Anno à partu virginis 1585« –, der auf die Entstehungszeit der Handschrift im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts schließen lässt894. Ob Rubach sich – vielleicht als Schüler der Lateinschule – in Stralsund aufgehalten hat und die Sammlung hier in Gebrauch war, lässt sich nicht mehr ermitteln. Die Stimmbücher enthalten Motetten älteren Stils, wie etwa von Jakob Meiland, Clemens non Papa, Ludwig Senfl, Josquin Deprez, Heinrich Isaac oder Orlando di Lasso. Darüber hinaus gibt es Motetten regionaler Herkunft, wie etwa von Eucharius Hoffmann, dem Danziger Kantor Franciscus de Rivulo oder dem Rigaer Kantor Paulus Bucenus895. Eine Verbindung nach Stralsund liegt u. a. aufgrund der Hoffmannschen Motetten in der Sammlung nahe. Auch gleicht das Repertoire den von Hoffmann in seine Musiklehre aufgenommenen Musikbeispielen, die sich offenbar im Besitz des Kantors befanden und vielleicht auf diesem Weg auch in die Stimmbücher Rubachs gelangten. Wie Stralsunder Quellen belegen, hatte Hoffmann bereits zu Beginn der 1570erJahre eine Sammlung mit Gesängen für den Kirchengebrauch zusammengestellt und wurde dafür von städtischer Seite reichlich entlohnt:
891 Zit. nach Göhler (1902/1965), Tl. 1, S. 54 (Nr. 1113). 892 Siehe die entsprechenden Werkverzeichnisse im Anhang auf S. 384. Schröders Werke sind nicht überliefert. Vgl. unten S. 214f. 893 StAS Hs. 229 Stimmbücher des Mattheus Ruback. 894 Über Rubach ist fast nichts bekannt. Giese zufolge hatte er in Greifswald studiert. Vgl. AStM GN. 895 Vgl. Niemöller (1969), S. 100. Es ist davon auszugehen, dass sich die Motetten zumindest zum größten Teil in anderen gedruckten Quellen wiederfinden lassen. Die Motetten Hoffmanns sind seinen XXIIII. CANTIONES von 1577 entnommen.
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1572: »40 MS dem cantori euchario hoffman vor de gesenge so he tosamen getagen hedde in den karken to gebrukende: vth bouck der hern bürgermeistere, gegeue den 19 Januarij« 1573: »40 MS dem cantori Euchario hoffman tom andere Male: vth bouck der hern bürgermeistere: vor desuluigen karken gesenge de he dat vorige jar ouerreicht. gegeuenden 25 februarij«896
Die Höhe des Honorars legt nahe, dass es sich bei den »gesengen« um figurales Repertoire handelte. Dabei ging es dem Stralsunder Rat als Auftraggeber ganz offensichtlich wiederum um die Verbesserung des Kirchengesangs. Ob Hoffmann dafür neues Notenmaterial anschaffen musste oder aber die Gesänge aus seinem oben erwähnten privaten Fundus und den Musikalien der Kirchen handschriftlich zusammenstellte, ist unklar. Einige Jahre nach Hoffmanns Tod übersandte der Stettiner Kantor am Herzoglichen Pädagogium Philipp Dulichius dem Stralsunder Rat einige seiner Motetten. Um welche Werke es sich dabei genau handelte, ist nicht bekannt; überliefert ist lediglich ein begleitender Brief von Dulichius aus dem Jahr 1590897, in dem der Kantor schreibt, dass er mit seinen Motetten einen in erster Linie pädagogischen Auftrag verfolge. Sie dienten dazu, »die praecepta vmb bessers verstandes willen, mit exempliß« zu versehen. Nach Stralsund hatte er seine Werke gesandt, weil auch dort »in Kirchen vnd Schulen […] eine wolbestellete Musicam« vorhanden sei898. Welche Absichten Dulichius darüber hinaus mit der Übersendung der Motetten verfolgte, ist unklar. Dass er es auf eine Anstellung in Stralsund abgesehen hatte, hält Otfried von Steuber für unwahrscheinlich899. Zum musikalischen Repertoire der Schülerchöre außerhalb der Stralsunder Gottesdienste zählten vermutlich die von Elias Herlitz in seiner Musicomastix als Zwischenspiele aufgeführten vier- bis fünfstimmigen weltlichen Vokalsätze älteren Stils von Johann Knöfel, Leonhard Lechner, Orlando di Lasso, Thomas Mancinus, Johannes Eccard, Jacob Regnart und Gregor Lange [Langius]900. Für den Neuerwerb von Musikalien wurde im frühen 17. Jahrhundert der Kantor Andreas Herlitz von den drei Kirchen separat und mehr oder weniger regelmäßig entlohnt: »Das ich Andreas Herlitz, Cantor alhier zum Strahlsunde, die 14 Reichsthaler nicht mehr als vorm iahre, nehmlich 1613, voll empfangen [...] – Im ahnfang aber etliche viel iahr [...] nur 5 thaler auß allen dreyen kirchen bekommen, biß endlich solch honorarium (welchs ich vor kein stipendium zu halten erachte) vff viel bitten vnd ahnlangen, auch weil man vermerket, das die vnkosten wegen meiner gesangbücher gewachsen, vermehret 896 StAS Rep 28-638 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1566–1608 (»vthgyff« 1572/73). 897 Siehe von Steuber (1998). 898 Zit. nach ebd., S. 151. 899 Ebd., S. 153. 900 Vgl. Arnheim (1916), S. 102f., und Böhme (1931), S. 334. Vgl. zur Musicomastix außerdem unten S. 193–195.
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worden. Derhalben ich hochdienstlich bitte, solches geld nicht in mein stipendium zu rechnen. [...] Dieses [...] ist mir gegeben worden ad subleuationem sumptuum, so mir vff die bücher gangen.«901
Dabei beklagt Herlitz, es sei nicht unbedingt die Regel, dass das musikalische Repertoire vom Kantor selbst anzuschaffen sei: »[...] noch 14 Rthl. von den drey Kirchen, dorumb, das ich meine eigenen libros cantionum gehaltten, welche sonsten in andern Städten von einem Erbarn Rathe oder den Diaconis der Kirchen geschaffet werden.«902
Auch der pommerschen Kirchenordnung von 1563 zufolge waren eigentlich die Diakone – die als Rats- und Bürgerschaftsmitglieder die Aufsicht über den Kirchenkasten hatten903 – für die Anschaffung der Musikalien zuständig. Sie sollten »bi de kercke köpen partes unde sankböker, desülvigen schal de cantor vorwaren unde dar vör antwerden«904. Herlitz allerdings erwarb die Musikalien mit dem an ihn gezahlten Zuschuss offenbar selbst. Den Kirchenmatrikeln von St. Marien aus dem Jahre 1614 zufolge besaß auch »der Organist [...] 27. Sangbücher Michaelis Praetorij Inn Weiß Pergament«905. Um welche Werke von Praetorius es sich dabei handelte, lässt sich nicht entnehmen. Vorstellbar wären Teile seiner zwischen 1605 und 1610 erschienenen Musae Sioniae oder geistlicher Concert Gesänge. Da sich der Eintrag auf die Bücher in der Bibliothek der Marienkirche bezieht, ist anzunehmen, dass der Marienorganist Nikolaus Petersen gemeint ist. Durch einen Vermerk im Ausgaberegister der Nikolaikirche von 1612 lässt sich überdies eine Verbindung zwischen dem Braunschweiger Kapellmeister Praetorius und Stralsund herstellen. Am 13. Mai des Jahres wurden an einen Schiffer »Vor de Böcker so de Brunschwikesche Capellmeister S. Niclas Kercken vorehret hefft, thor fracht geuenn 1,14 MS«906. In welchem Verhältnis die Nikolaikirche bzw. der Nikolaiorganist Elias Herlitz zu Praetorius stand und ob es sich bei den erwähnten »27. Sangbüchern« in der Marienkirche um die bereits 1612 angelangte »Fracht« oder aber um weitere Musikalien von Praetorius handelte, ist unklar. Vermutlich jedoch erhielt Praetorius über diesen Kontakt nach Stralsund auch die später veröffentlichte Disposition der Maaßschen Orgel in St. Nikolai907. 901 Zit. nach Zober (1848), S. 75. 902 Zit. nach ebd. 903 In der pommerschen Kirchenordnung von 1563 heißt es, dass als Kastenaufseher zwei Mitglieder aus der Bürgerschaft und zwei Ratsmitglieder gewählt werden sollten. Diese Aufseher wurden als Diakone bezeichnet. Sehling (1911), S. 409. 904 Zit. nach ebd., S. 400. 905 StAS Rep 28-1029 Matricul aller Gottsheuser der Stadt Stralsundt 1614, fol. 147v. 906 StAS Rep 28-1029a St. Nikolai Kirchenregister 1602–1628 [13.5.1612]. 907 Vgl. Praetorius (1619/1664), Organographia, S. 167, sowie S. 274 in dieser Arbeit.
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Dass sich auch die Stralsunder Organisten am Beginn des 17. Jahrhunderts für die neuen musikalischen Entwicklungen, vornehmlich das Generalbassprinzip, zu interessieren begannen, liegt auf der Hand. Die späteren Kirchenmatrikel enthalten keine weiteren Informationen zu dem in Stralsund befindlichen Repertoire. Abgesehen von Gesangbüchern sind auch weitere Angaben zu Stralsunder Musikalienkäufen im späteren 17. Jahrhundert rar. Lediglich im Kirchenregister von St. Nikolai findet sich 1664 ein Eintrag: »Etzliche Neuwe Musicalesche Stücke so zu Vnserer Kirchen in gebrauch nötig Erachtet zu der Kirchen Eigenthumblich gekaufft unt einbinden laut deß Cantore Zettel«908. Worum es sich dabei handelte, wird nicht erwähnt. 1.2.3.2.7 Begräbnisse und Hochzeiten Der repräsentativ-zeremonielle Tätigkeitsbereich des Kantors stellte Kremer zufolge aufgrund seines »regelmäßigen Vorkommens einen wesentlichen Teil [...] [seines] Handlungsbereiches dar«909. Neben den regelmäßigen gottesdienstlichen Verpflichtungen musizierten der Kantor und die übrige dazu abgeordnete Lehrerschaft mit ihren Schülern auf Hochzeiten und Begräbnissen. Die daraus erzielten Einnahmen bildeten einen wesentlichen Teil ihres Lebensunterhaltes. Schon im Visitationsrezess Bugenhagens für Stralsund von 1535 war vorgesehen, dass die »scholgesellen« für Hochzeiten und Begräbnisse zu »gebrauchen« und entsprechend zu entlohnen seien: »Item wenehr dat jmants doe scholgesellen to einer brutlacht edder to begrefnisse einen doden bruken will, so schall men ehn darvor gewanlick drankgelt geven.«910 Begräbnisse Die Zuständigkeiten der Stralsunder Lehrer für die Begräbnisse der einzelnen Kirchspiele richteten sich nach der oben angeführten Verteilung der gottesdienstlichen Verpflichtungen911. Bartholdi spricht in diesem Zusammenhang von analog organisierten »Kirchen- und Leichendiensten«912. Dem Kantor oblag auch bei Begräbnissen die musikalische Oberaufsicht; die Dienste selbst teilte er mit den für das jeweilige Kirchspiel abgeordneten weiteren Lehrern. Die Beteiligung der Schülerschaft variierte und richtete sich u. a. nach dem sozialen Status des Verstorbenen, wie im Folgenden weiter auszuführen sein wird. Als grundlegende Bestandteile protestantischer Begräbnisse lassen sich der Umbzw. Trauerzug und die gottesdienstlichen Zeremonien unterscheiden913. Der sängerische Einsatz der Schüler begann vor dem Trauerhaus und setzte sich sowohl während 908 AStN KR R 26 Bänkeregister 1656–1685, fol. 13r. 909 Kremer (1995), S. 71. 910 Zit. nach Sehling (1911), S. 549 (Visitationsrezess und Kirchenordnung für Stralsund von 1535). 911 Vgl. oben S. 130f. 912 Vgl. Bartholdi (StAS Hs. 434), fol. 403. 913 Vgl. Kremer (1995), S. 228, sowie Seils (2001), S. 139.
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der Prozession zum Kirch- oder Friedhof als auch anschließend in der Kirche fort. Die jeweils abgeordneten Lateinschul- bzw. ›deutschen‹ Lehrer gingen bei der Prozession neben den Schülern her und achteten auf einen ordnungsgemäßen Gesang und auf Disziplin: »[…] vnnd scholen sick die Rector mit synen gesellen, beide latinisck vnnd dudesck, nicht schemen vp den gassen neuen den knaben herthogahnde ›chorstocke in den henden to hebben‹ vnnd achtung vff sie thogeuen.«914
Je nach sozialem Stand des Verstorbenen waren die Begräbnisse unterschiedlich ausgestaltet. Unterschieden werden konnte etwa nach Anzahl der geläuteten Glocken, der Sterbelieder, der singenden Schüler, der (getragenen) Kerzen und Kreuze, nach der Üppigkeit des Leichenschmuckes oder der Anzahl der Mitgehenden überhaupt915. Über ihre Funktion als Trost und Schmuck der Feierlichkeiten hinaus kam der Musik bei Begräbnissen auch eine symbolische Bedeutung zu. So galt der Begräbnisgesang als Zeichen von Gottesfurcht und eines christlichen Lebens und kennzeichnete zudem ein ›ehrliches‹ Begräbnis916, das – nach Bugenhagens pommerscher Kirchenordnung (1535) – nicht allen zuteil werden sollte: »[…] mit herrlicker begreffnisse, dat is mit christlikem gesange, schölen de vorachters des wordes unde sacraments nicht begraven werden, denn wi ehres lovens nene tüchenisse weten.«917
Den Bürgerständen entsprechend waren die Stralsunder Begräbnisse in drei Klassen unterteilt und unterschieden sich schon nach Art des kirchlichen Geläuts. Die älteste Stralsunder Schulordnung von 1561918 erwähnt: (1) Begräbnisse, »wor men [...] tho allen kercken luden leth«, (2) »wor men [...] jn einer kercken luden leth« und (3) »wor men auerst nicht luden leth«. Die Beteiligung der Schule erfolgte entsprechend: (1) als »gantze scholl«, (2) als »halue scholl« und (3) offenbar mit nur einigen Schülern (»wor men auerst nicht luden leth vnnd den doden glieck woll mit scholern vnnd gesengen will begrauen laten«)919.
914 Zit. nach Zober (1839), S. 42. 915 Vgl. Seils (2001), S. 141. 916 Vgl. Kremer (1995), S. 72. 917 Zit. nach Sehling (1911), S. 329. 918 Siehe Zober (1839), S. 39–43. 919 Zit. nach ebd., S. 42. Im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts änderten sich die Modalitäten offenbar. Der Begräbnisordnung von 1773 zufolge wurde nunmehr auch bei den Begräbnissen des unteren Standes in einer Kirche geläutet. Bei Begräbnissen des zweiten Standes läutete man in zwei Kirchen. Vgl. StAS Rep 28-377 Acta Senatus Sundensis betreffend die Zeremonien bei Leichenbegängnissen 1722 [Verordnung wegen der Ceremonien bey Leichenbegängnissen, 29.10.1773].
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Wie sich die jeweiligen Sängergruppen in der ersten Zeit nach Gründung der Stralsunder Schule genau zusammensetzten, ist unbekannt. Klarer erscheinen die Verhältnisse am Ende des 16. Jahrhunderts. 1591 wurden die Begräbnisse des dritten Standes auf die Kurrendaner übertragen, die im Falle mehrerer zeitgleich stattfindender Bestattungen von der deutschen Schülerschaft unterstützt werden sollten: »Et quidem in plebeiorum funus illi tantum prodibunt, qui in currendariorum uti vocantur, sunt numero; quibus si frequentatiora sint funera, pauci ex germanicae scholae discipulis et quidem ex illis, e quibus mortuus est efferendus, paroecijs addentur.«920
Auch diese Regelung diente vermutlich dazu, den Lateinschülern mehr Zeit für ihr Schulstudium zu gewähren921. Bei Begräbnissen des zweiten Standes – wenn nicht in allen Kirchen geläutet wurde und nur die »halbe Schule« teilnahm – sangen die Schüler des entsprechenden Kirchspiels: »sin vero in duobus aut uno duntaxat, eos adesse convenit, qui in singulis paroecijs ad id sunt constituti«922. Nur die Verstorbenen des ersten Standes wurden unter der Beteiligung der gesamten Schule bestattet: »In opulentorum autem et honoratiorum funeribus, si praesertim in omnibus templis campanarum fiat pulsatio, universus discipulorum collegarumque adsit coetus.«923 Musikalisch geleitet wurden die Begräbnisse des ersten Bürgerstandes erwartungsgemäß vom Kantor: »In funeribus honoratioribus volumus totum coetum in choris uni Cantori relinqui regendum.«924 Das musikalische Repertoire bei Begräbnissen umfasste die zu dieser Zeit üblichen deutsch- und lateinischsprachigen Sterbegesänge, von denen die pommersche Kirchenordnung von 1535 bereits einige aufführt: »Wenn me den scholemeister to solcker bogreffnis fodert, schal he singen: Si bona etc., düdesch eder latinisch, eder: Ut deper noth etc., Midden wi etc., Erbarm di etc., bet up dat graff, bi dem grave: Wi gelöven etc., unde Mit frede etc.«925
Die Gesänge waren den unterschiedlichen ›Stationen‹ während der Begräbnisfeierlichkeiten zugeordnet, wie in der pommerschen Agende von 1542 zu lesen ist: »Vor der dor scholen se singen einen psalm, nomlicken: Erbarm di miner o herr godt. Und darup: Mit frede und freude, efft: Si bona suscepimus dützesch effte latinisch, und dar na dat lick hen dragen und singen: Ut deper noth, dat vader unse, den loven [= den 920 Zit. nach Zober (1841), S. 44. Ähnliches berichtet Sannemann (1903, S. 15) für Braunschweig. Auch hier waren ab 1596 bei kleineren Begräbnissen nur die Kurrendaner zuständig. 921 Vgl. dazu S. 113–115. 922 Zit. nach Zober (1841), S. 45. 923 Zit. nach ebd., S. 44f. 924 Zit. nach ebd., S. 56 (Leges praeceptorum, 1591). 925 Zit. nach Sehling (1911), S. 342. Es handelt sich um folgende Begräbnislieder, die größtenteils Johann Walters Wittembergisch geistlichem Gesangbuch (1524/1878) entnommen sind: »Si bona suscepimus« (»Haben wir das Gute empfangen«), »Aus tiefer Not schrei ich zu Dir«, »Mitten wir im Leben sind«, »Erbarm dich mein, o Herre Gott«, »Wir glauben all an einen Gott«, »Mit Fried und Freud ich fahr dahin«.
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Glauben], dar na idt ferne tom grave is. Bime grave singe me: Midden wi im levend sint, und darna in die kercken gan mit dem gesange: Mit fred und freud ick far dar hen, so me idt nicht hefft vorhen gesungen, efft mit dem respon: Si bona suscepimus düdesch effte latinisch.«926
Dabei unterschieden sich die Begräbnisse in Stralsund auch hinsichtlich der Sprache der Sterbegesänge. So waren bei Beerdigungen oberer Standespersonen – vermutlich in Anpassung an den Bildungsgrad des Verstorbenen – lateinische Gesänge vorzuziehen; bei Beerdigungen des zweiten und dritten Standes hingegen sang man deutsch: »Cantiones autem in plebeiorum funeribus sint germanicae, in locupletum et optimatum latinae.«927 Vermutlich hob sich das für Begräbnisse oberer Standespersonen gebräuchliche Repertoire darüber hinaus auch von dem ansonsten üblichen ab und umfasste neben dem Choralgesang sicher auch figurale Musiken; der Kantor verfügte bei diesen Begräbnissen jedenfalls über die gesamte Schülerschaft928. Neben den genannten allgemein üblichen Sterbegesängen sind aus Stralsund außerdem drei Trauermusiken des Nikolaiorganisten Johann Martin Rubert überliefert, die dieser in den Jahren zwischen 1660 und 1663 verfasste929. In Stralsund wurde vermutlich nur die 1663 veröffentlichte Musicalische Grabschrifft auf den Tod des früheren Greifswalder Universitätsprofessors und späteren Stralsunder Rektors Johannes Hieronymus Staude aufgeführt. Es handelt sich dabei um einen schlichten Kanon für zwei Singstimmen über einem Bass auf einen Text Paul Flemings930. Spätestens in der Schulordnung von 1591 lassen sich Bemühungen erkennen, die Stralsunder Lateinschüler wenigstens teilweise von ihren Gesangsdiensten zu befreien931. Beklagt wurden einerseits die den Schülern durch die Leichenbegleitungen auferlegten hohen zeitlichen Belastungen, andererseits auch die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken. In einer an den Rat gerichteten Klage der Stralsunder Lehrer aus dem Gründungsjahr der Schule (1560) heißt es dazu: »Nu müssen wir offt eine gantze stunde für der thüren stehen, ehe man das funus aus dem hause treget. Darnach gehet schier eine stunde hin mit den ceremonien in der kirchen, also das wir zu zeiten ante horam quartam a funere nicht widderkommen können, vnd müssen also zwo gantzer stunden dazu haben, da man sunst mit einer kündt zukommen; dardurch den die jugent gröblich verseumbt wirt. Vnd ist vns solchs auch für vnser personen nicht weinig verdrieslich, sonderlich bej winterzeiten, do wir müssen offt mit den 926 Zit. nach Sehling (1911), S. 365. 927 Zit. nach Zober (1841), S. 45. Allerdings konnten auch bei Beerdigungen des oberen Standes zum Trost (und allgemeinen Verständnis) deutschsprachige Gesänge in der Kirche erklingen: »quibus admovendos affectus in templis postea germanicas admisceri placet«, zit. nach ebd. 928 Ebd., S. 56 (Schulordnung von 1591: »XIV. Leges praeceptorum«). 929 Vgl. Ruberts Werke im Anhang auf S. 390–394. 930 Vgl. zu den anderen beiden Trauermusiken S. 202 und 205f. 931 Siehe oben sowie S. 113–115.
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knaben eine stunde lang jn schne, regen vnd vngewetter stehen vnd frieren. [...] Man kündt auch das bierschencken, welchs für der thür geschicht, wol nachlassen.«932
Der Forderung der Lehrerschaft, dass »hie abermahl verordent werden [müsste], das die leute mit den funeribus auff itzt bemelte zeit bereit weren, damit man nicht [...] lange für den thüren vertziehen dorfft, sonderlich vmb der kleinen kinder willen, die offt des winter jn den funeribus grossen frost leiten müssen; zum andern auch darumb, das es nach dren bald finster wirt«933,
sollte der Rat durch entsprechende Abkündigungen im Gottesdienst nachkommen. Um den Schülern im Anschluss an das Singen wiederum zu ermöglichen, am Unterricht teilzunehmen, sollten Leichenbegleitungen nur von 14 bis 15 Uhr stattfinden934. Obrigkeitliche Maßnahmen waren dabei unumgänglich, da einige Eltern ihren Kindern das Begräbnissingen bereits verboten hatten – »Auch klagen viel bürger selbst darüber, vnd willen deshalben nicht haben, das jre kinder sollen mit gehen«935 –, der Rat jedoch für die Musik garantieren musste. 1591 wurde der Beginn des Leichensingens schließlich auf 15 Uhr und damit auf die Zeit nach dem Schulunterricht verschoben936. Die Klagen wegen zu hoher Belastungen der Schüler durch die Begräbnisdienste endeten damit jedoch nicht937. Hochzeiten Analog zur Stralsunder Ständeeinteilung wurde zwischen freien/ganzen, halbfreien/halben und gemeinen Hochzeiten unterschieden938; hinzu kamen die »armer lude kosten« in der Hochzeitsordnung von 1570. Gestattet waren Eheschließungen zunächst von Montag bis Mittwoch939, später auch am Donnerstag940. Wie bei den Begräbnisdiensten richteten sich auch die Zuständigkeiten der Stralsunder Lateinschullehrer beim Hochzeitssingen nach ihrem Kirchendienst. Die Kurrendaner waren allerdings – vermutlich wegen des anspruchsvolleren Repertoires – am 932 933 934 935 936 937
Zit. nach Zober (1839), S. 35. Zit. nach ebd., S. 36. Ebd., S. 8. Zit. nach ebd. S. 35. Zober (1841), S. 14. Noch 1643 heißt es in den Ratsprotokollen: »Nicht weniger auch werde die Jugend durch die deductiones funerum von den Exercitijs behindert.« Zit. nach dems. (1848), S. 62. 938 Die jeweils erste Bezeichnung bezieht sich auf die Stralsunder Hochzeitsordnung von 1570, die jeweils nachfolgende Bezeichnung auf die Ordnungen von 1670 und 1702. 939 »Die sontagskosten sint allerdinge [seit der Reformation] abgeschaffet, vnd einem jedern vp nachfolgende werckeldage hochtidt thoholden frey gestellet: als mantage, dingstage, middeweken, bet vp den Donnerstag, doch densuluigen vthgeschlaten.« Hochzeitsordnung 1570, zit. nach Zober (1866), S. 168. 940 »Die Sonntags Hochzeiten seyn allerdings abgeschaffet/ und einem jeden auff nachfolgende Wercktage Hochzeit zu halten freygestellet/ als Montags/ Dienstags/ Mittwochs/ und Donnerstags.« Hochzeitsordnung 1702: D-GRu Sign. 520/Ob 579 (2) Adn. 6, Cap. VIII.
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Singen bei Brautmessen nicht beteiligt. Dem Kantor oblag auch für das Hochzeitssingen die Oberaufsicht941. Eine musikalische Beteiligung bot sich für Schüler und Lehrer sowohl während der Trauung in der Kirche als auch bei der anschließenden »Mahlzeit«942. Zum musikalischen Repertoire zählten neben den gängigen Kirchenliedern speziell für den Anlass komponierte Gelegenheitsmusiken, wie sie aus dieser Zeit zahlreich überliefert sind und insbesondere für Hochzeiten der oberen Bürgerstände verfasst wurden. Das anlässlich von Hochzeiten entstandene Repertoire erscheint dabei verglichen mit den Begräbnismusiken anspruchsvoller und erfordert oftmals die Beteiligung von Instrumentalisten943. Wie bei den Leichenbegleitungen waren Rat und Scholarchat auch bei Hochzeiten darauf bedacht, die Schüler durch ihre Gesangsverpflichtungen möglichst wenig vom Unterricht abzuhalten. Am Hochzeitssingen waren daher, wie es auch in der pommerschen Kirchenordnung von 1563 gefordert wird, nur einige Schüler beteiligt: »Men schal ock vorordenen, wenn brutlachten sint, dat nicht der wegen de ganze schole unde alle kinder vorsümet werden.«944 Der zweiten Stralsunder Schulordnung von 1591 nach sollten nur so viele Knaben zum Hochzeitssingen verpflichtet werden, wie für die Musik nötig waren. Das musste nicht unbedingt eine Beschränkung des Repertoires auf geringer besetzte Stücke bedeuten, sondern ist vermutlich als Hinweis auf die eher solistische Besetzung der Gesangsstimmen zu werten. Nachdem die schulischen Gesangsdienste bereits 1591 eingeschränkt worden waren, vermehrten sich die Klagen um eine zu starke Inanspruchnahme der Schüler im Zuge der Umstrukturierungen von 1643 erneut, weil durch »die Bräutmeßen [...] viel Zeit der Jugend entwendet werde«945. Um Abhilfe zu schaffen, sollte seit dieser Zeit nunmehr »niemand mehr als der Cantor und 3 od 4 Knaben zu solchen festivitatis auffwartung leisten dürfften, die andern wol in der schule bleiben«946. Großbesetzte Vokalmusik, wie es sie zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch gegeben hatte, zählte seit 941 Zober (1841), S. 56 (Leges praeceptorum). 942 Vgl. die Stralsunder Hochzeitsordnung von 1702: D-GRu Sign. 520/Ob 579 (2) Adn. 6, Cap. XIV, fol. D2. Vgl. zu den Stralsunder Hochzeitsordnungen auch die Ausführungen im Stadtmusik-Kapitel auf S. 293f. 943 Vergleiche in diesem Zusammenhang etwa die im Appendix der zweiten Auflage der HYMNODIA SACRA (1639) veröffentlichten Hochzeitskonzerte von Caspar Movius für drei Singstimmen oder das dem Stralsunder Stadtmusiker Dieterich Hilmer Hoyoul 1643 zu seiner Hochzeit gewidmete geistliche Konzert von Johann Vierdanck Ich freue mich im Herrn für vier Singstimmen, fünf Instrumente und B. c. Vgl. die Neuausgabe des Konzerts von Weiss: Johann Vierdanck, Geistliche Konzerte, Bd. 1, Kassel 1988, S. 206–215: Vierdanck/ Weiss (1988). Die Hochzeitsmusiken von Movius sind für Rostocker Trauungen komponiert. Auch von Rubert liegen Hochzeitskompositionen vor, allerdings aus seiner Hamburger Zeit. Vgl. die Werke in den Werkverzeichnissen auf S. 388–394. 944 Zit. nach Sehling (1911), S. 400. 945 Zit. nach Zober (1848), S. 63. 946 Vgl. StAS Rep 28-1389 Ratskirchenarchiv: Klagen und Beschwerden des Geistl. Ministeriums 1644–1696 [nach 1654].
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dieser Zeit demzufolge nicht mehr zum Hochzeitsrepertoire. Dies entsprach allerdings dem musikalischen Stilwandel in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Aus der Feder Stralsunder Komponisten, wie etwa Caspar Movius‘, Johann Vierdancks oder Johann Martin Ruberts, entstanden in der Folge zahlreiche kleinbesetzte geistliche Konzerte, die sich solistisch mit nur einigen wenigen Sängern aufführen ließen. Der Stralsunder Kantor bediente sich für das Hochzeitssingen wohl der talentiertesten Knaben; besondere Bedeutung kam dabei sicher den Symphonistae zu.
1.2.4  Materielle Verhältnisse947 Kantoren zählten, wie auch Prediger, Organisten oder Küster, zu den Kirchenbediensteten und sollten »in erer friheit unde immunitet, na christliker art, wo van olders [...] fri sin, van allen börgerliken lasten edder besweringen«948. Wie bei den Organisten und städtisch bestallten Instrumentalisten setzte sich ihr Einkommen aus einem quartaliter gezahlten Fixum und den Erträgen aus den Akzidentien zusammen. Angaben zur Besoldung der Stralsunder Kantoren des 16. und 17. Jahrhunderts sind sowohl in der handschriftlich überlieferten Schulgeschichte Bartholdis sowie in den darauf basierenden Beiträgen Zobers überliefert. Weitere Informationen lassen sich den kirchlichen Rechnungsbüchern entnehmen. Während sich das Kantorenfixum im Untersuchungszeitraum relativ problemlos ermitteln lässt, geben die Quellen für die unregelmäßigen Einnahmen aus den Akzidentien nur wenig her. Abschließende Aussagen zur tatsächlichen Höhe der Kantorengehälter sind daher kaum möglich.
1.2.4.1 Fixum Das Fixum der Schullehrer wurde zum größten Teil aus dem Vermögen der Kirchen, Klöster und Hospitäler bestritten, die jeweils quartaliter festgelegte Beträge zu entrichten hatten949. Daran hielt man in Stralsund das gesamte 16. und 17. Jahrhundert hin947 Vgl. zu den allgemeinen Preis- und Lohnentwicklungen im 16./17. Jahrhundert die Ausführungen zu den materiellen Verhältnissen der Organisten auf S. 247–249. 948 Zit. nach Sehling (1911), S. 418 (Pommersche Kirchenordnung von 1563). Vgl. dazu auch S. 34. 949 Nach der pommerschen Kirchenordnung von 1535 (Sehling 1911, S. 338) sollte die Besoldung der Kirchendiener und Schulpersonen aus dem sogenannten »Schatkasten« der Kirchen erfolgen: »Ut desem kasten schölen de schatkasten heren utrichten alle quatertemper alle besoldinge der kerckendeenere grot unde klein unde scholpersonen.« Die Einnahmen im »Schatkasten« bestanden aus dem vom Rat gesammelten und der Kirche überantworteten Opferpfennig, den Einnahmen aus kirchlichen Gütern, Begräbnisgeld etc. Ebd. 1672 betrug der Beitrag der drei Pfarrkirchen zur Besoldung der Schullehrer jeweils 180 fl. (= 540 MS). Die Beiträge der Klöster und Hospitäler waren etwas höher. So entrichtete St. Jürgen 200 fl., das Kloster St. Annen 280 fl. und das Hospital zum Heiligen Geist 380 fl. Vgl. Zober (1848), S. 3f. und 81. Offenbar kamen jedoch die Kirchen und Klöster den Zahlungen nicht immer termingerecht nach. Von 1667 liegt eine an die Provisorate der Kirchen gerichtete Ermah-
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durch fest. Erst am Ende des 17. Jahrhunderts überlegte man kurzzeitig, die üblichen Modalitäten zu ändern, nachdem die Stralsunder Lehrerschaft 1693 bei der königlichen Visitationsbehörde in Greifswald ihre zu geringe Besoldung beklagt hatte950. Doch scheiterte der Vorschlag der Behörde, die Besoldung zu erhöhen und zum einen Teil nunmehr aus der Stadtkasse und zum anderen, wie gehabt, aus dem Vermögen der Kirchen und Klöster zu zahlen, am Widerstand von Rat und Bürgerschaft951. Trotz der zu dieser Zeit bereits eingeschränkten musikalischen Dienstleistungen der Schülerschaft – so war das Singen unter der Woche bereits seit 1591 Aufgabe der Kurrende – hielt man in finanzieller Hinsicht weiterhin an der engen Verbindung zwischen Kirche und Schule fest952. Die Höhe des Kantorengehaltes war abhängig vom Status des Kantors innerhalb der Lehrerschaft. Erste Vorschläge zur Kantorenbesoldung in Stralsund hatte schon Bugenhagen in seinem Visitationsrezess von 1535 gemacht. Er sah für den Kantor an der Kirchenschule von St. Nikolai jährlich 40 Gulden (= 120 MS) vor953. Hinter Rektor und Subrektor, für die Bugenhagen ein jährliches Fixum von 120 Gulden (= 360 MS) bzw. 100 Gulden (= 300 MS) bestimmte, sollte der Kantor demzufolge deutlich zurückbleiben und eher auf einer Stufe mit dem ihm nachgeordneten ersten »pedagogus«954 stehen. Doch blieben die Angaben von Bugenhagen auch in diesem Punkt nur Empfehlungen. Erste Informationen zu den tatsächlich gezahlten Festgehältern im Stralsunder Kantorat stammen vom Ende des 16. Jahrhunderts. Der Kantor wird hier als Tertius dem Rektor und Konrektor nachgeordnet und steht auf einer Stufe mit dem Subrektor955. Dem Fixum der Schullehrer wurde das von den Schülern zu zahlende Schulgeld zugeschlagen. Nachdem bis 1591 lediglich auswärtige Schüler das ›pretium‹ (auch ›didactro‹) zahlen mussten956, hatten nach Einführung der zweiten Stralsunder Schulordnung des Stralsunder Rates vor, die Anteile zur Schullehrerbesoldung pünktlich beizubringen. StAS Rep 22-14b Varia des Scholarchat aus andern Beständen gesammelt [29.3.1667]. 950 Aufgrund der angespannten finanziellen Situation Stralsunds zum Ende des 17. Jahrhunderts (vgl. die Ausführungen zur Stadtgeschichte auf S. 29–39) wurden die Lehrergehälter während dieser Zeit nicht immer regelmäßig und in voller Höhe gezahlt. 1697 klagten die Lehrer: »[…] da wir ohnedieß wegen Vorenthaltung unsrer Besoldung in Bedruck und Noth stecken«, zit. nach Zober (1858), S. 81. 951 Ebd., S. 6. 952 Dem Stralsunder Rat war natürlich vor allem daran gelegen, die Stadtkasse zu schonen. 953 Vgl. Sehling (1911), S. 549. 954 Als »pedagogi« bezeichnete Bugenhagen die drei dem Rektor, Subrektor und Kantor nachgeordneten Lateinschullehrer. Siehe auch S. 56. Der erste »pedagogus« sollte jährlich 30 fl. (= 90 MS), der zweite 20 fl. (= 60 MS) und der dritte 15 fl. (= 45 MS) erhalten. Sehling (1911), S. 549. 955 Siehe dazu auch S. 102f. Darauf verweist auch Andreas Herlitz 1614: »Er [Subrektor Martin Schwartz] ist mir aber tempore sui Subrectoratus im stipendio gleich gemachet.« Zit. nach Zober (1848), S. 75. Spätestens 1664 war der Subrektor dem Kantor finanziell übergeordnet. Ebd., S. 5. 956 Vgl. Zober (1839), S. 7.
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nung sämtliche Schüler – ausgenommen die Kurrendaner und Symphonistae – Schulgeld zu entrichten957. In seinem Visitationsrezess hatte Bugenhagen vorgeschlagen, das Schulgeld gleichmäßig zu verteilen: »Item die scholemeister und gesellen scholen dat pretium, so sie van den scholern krigen, gelike deilen, also dat die eine so vele darvon kricht als die ander.«958 Die Praxis sah jedoch anders aus und gewährte dem Rektor als Schulleiter den doppelten Anteil: »Von dem didactro [...] bekompt gleicher gestalt der Rector quintam, reliqui singuli decimam partem. Die vbrigen Knaben sind Gratisten oder auch Currendarij, dauon nichts zu haben.«959 Die nachfolgende Übersicht gibt Auskunft über die Festbesoldung der Stralsunder Kantoren und der ihnen über- bzw. gleichgeordneten lateinischen Schullehrer. Zu Vergleichszwecken enthält die Tabelle außerdem Angaben zum Lübecker Kantorenfixum960. Jahr 1591
Rektor 300 MS
Konrektor 255 MS
Subrektor vakant
1597 1601 1603 1609 1635 1637 1664 1693
360 MS 500 MS (?) ~457 MS 480 MS
300 MS 330 MS 366 MS ~400 MS
255 MS 288 MS 318 MS ~350 MS
804 MS 1200 MS 1500 MS
732 MS 900 MS 900 MS
600 MS ~700 MS ~700 MS
Kantor 180 MS/ 210 MS961 255 MS 288 MS 318 MS ~350 MS962 510 MS 600 MS 600 MS 600 MS
Lübeck
222 MS (Ende 16. Jh.)
360 MS (1630) 660 MS (1667)
Tabelle 15: Jahresfixa von Rektor, Konrektor, Subrektor und Kantor 961,962
Die Entwicklung des Stralsunder Kantorenfixums zeigt Parallelen zur Gehaltsentwicklung im Organistenamt, die später noch genauer beleuchtet werden soll. Nach einem kontinuierlichen Anstieg der Gehälter bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts lassen sich 957 Ders. (1841), S. 4. 1591 betrug das quartaliter zu entrichtende Schulgeld 8 ß Sundisch (= 1 MS). Ebd. 1614 hatten finanziell gut situierte Schüler 6 ß (= 0,75 MS), die anderen 4 ß (= 0,5 MS) zu zahlen. Vgl. Zober (1848), S. 81. 958 Zit. nach Sehling (1911), S. 549 (Visitationsrezess für Stralsund 1535). 959 Zit. nach Zober (1848), S. 81. 960 Folgende Quellen liegen den Angaben zugrunde: Zober (1841), S. 4; ders. (1848), S. 5; ders. (1858), S. 113; StAS Rep 22-14b Varia des Scholarchats aus andern Beständen gesammelt [5.1.1664 und 1693]; Stahl (1952), S. 22 und 51; Krüger (1933), S. 27. Die Währungen wurden angeglichen. 961 Einer Supplikation Andreas Herlitz’ zufolge betrug sein Anfangsgehalt bei Anstellung lediglich 60 fl.: »Mein stipendium ist im ahnfang meines dienstes nicht mehr als 60 fl. gewesen.« Zit. nach ZOBER (1848), S. 76. 962 Andreas Herlitz gibt an, dass sein Gehalt um 1614 auf 120 fl. jährlich (= 360 MS) verbessert wurde. Ebd., S. 75.
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nach 1637 – zumindest im Kantorengehalt – keine weiteren Veränderungen feststellen. Erinnert sei dabei an die finanziellen Probleme der Stadt durch Belagerung und Stadtbrände, die dazu führten, dass offenbar auch die Lehrergehälter in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zumindest teilweise stagnierten963. Verglichen mit Lübeck erscheinen die Stralsunder Kantorengehälter recht ansehnlich. Bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts hinein bezogen die Stralsunder Kantoren ein offenbar sogar höheres Fixum als ihre Lübecker Kollegen. Auffallend wandelte sich das Gehaltsverhältnis zwischen Rektor und Kantor in Stralsund. Entsprach das Rektorenfestgehalt am Ende des 16. Jahrhunderts nicht einmal dem Anderthalbfachen des Kantorenfixums, erhielt der Rektor 1664 bereits ein doppelt so hohes Gehalt wie der Kantor und 1693 schließlich sogar das Zweieinhalbfache seines Kollegen. Auch im Vergleich zu den Gehältern von Konrektor und Subrektor stieg das Rektorengehalt in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts überproportional stark an. Doch blieb der Kantor dabei stärker zurück als die übrigen Lateinschullehrer. Auch blieb er als einziger Lehrer der Lateinschule von der zwischen 1637 und 1664 erfolgten Gehaltserhöhung ausgenommen, die dazu führte, dass nun auch der Subrektor ihm hinsichtlich seines Festgehaltes finanziell überlegen war964. Auf längere Sicht brachte die Versetzung des Kantors von der Tertia auf die Quarta (1643) finanzielle Nachteile für den Kantor mit sich. Zwar stand er hinsichtlich seiner Besoldung auch im späteren 17. Jahrhundert nach wie vor an vierter Position innerhalb des Kollegiums – aufgrund seiner eingeschränkten Unterrichtspflichten im wissenschaftlichen Bereich blieben ihm Gehaltserhöhungen in dieser Zeit offenbar jedoch verwehrt. Klagen der Amtsinhaber über finanzielle Notlagen und zu niedrige Gehälter liegen sowohl aus dem 16. als auch aus dem 17. Jahrhundert vor. Doch betrifft dies nicht allein die Kantoren, sondern sämtliche musikalischen Berufsstände. 1614 etwa bat der Stralsunder Kantor Andreas Herlitz im Zuge einer Kirchenvisitation um ein höheres Festgehalt. Herlitz beklagte, dass er für seine zehnköpfige Familie965 das von seinen Eltern erhaltene Erbe bereits vielfältig einsetzen musste und seinen Kindern kaum Unterstützung – »weil sie lust zum studieren« – gewähren könne966. Dabei erweist es sich als schwierig, die finanzielle Situation im Einzelfall zu bewerten. Neben dem allgemeinen Lohnniveau wären dafür außerdem die zeitgenössische Preissituation sowie die persönliche Lage – u. a. Familienstand und -größe – des jeweiligen Musikers zu berücksichtigen. Die dafür erforderlichen Informationen liegen jedoch nur selten vor. 963 Allerdings stiegen die Gehälter des Rektors, Konrektors und Subrektors weiter an. 964 Siehe S. 103f., auch Anm. 585 (Concentor I) sowie Zober (1848), S. 5. Das Gehalt des Concentors I, der dem Kantor seit 1643 als Klassenlehrer vorangestellt war, wurde von 456 MS auf ca. 500 MS jährlich angehoben. Damit stand er in finanzieller Hinsicht noch immer hinter dem Kantor zurück. 965 »[…] wie weit ein haußvater, der selb 10. zu tische ist«, zit. nach ebd., S. 75. 966 Zit. nach ebd., S. 74–76.
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Unterstützung in finanziellen Schwierigkeiten boten – den Stralsunder Lehrergesetzen von 1591 zufolge – auch Rat und Scholarchat: »Si qua in re delinquam, me moneri aut etiam pro peccati qualitate objurgari sine murmure feram; imo etiam, si propter delicti gravitatem vel coram Scholarchis vel scholae Rectore, vel etiam amplissimo Senatu accusari me oporteat, illorum latae de me sentiae sine contumacia acquiescam illique nequaquam me opponam.«967
Verglichen mit den Organistenfixa erscheinen die Gehälter der Stralsunder Kantoren im 17. Jahrhundert niedrig968. War das Kantorengehalt noch bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts zunächst höher als das des Nikolaiorganisten, wurde es schon um 1610 von diesem übertroffen. Während der Kantor seit spätestens 1637 bis zum Ende des 17. Jahrhunderts dauerhaft ein Jahresfixum von 600 MS bezog, stiegen die Festgehälter der Organisten an St. Nikolai und St. Marien weiter bis auf 900 MS an. Wie der Kantor bezog auch der Jakobiorganist seit 1642 ein Jahresfixum von 600 MS. Doch muss das finanzielle Zurückbleiben der Kantorenfestgehälter nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Kantoren gegenüber dem Nikolai- und Marienorganisten generell schlechtergestellt waren. Vor allem die Schullehrer bezogen neben ihrem Fixum einen Großteil ihrer Einnahmen aus den Akzidentien, die für die Organisten wohl von geringerer Bedeutung waren. Jedenfalls sahen sich die Kantoren, von Hoffmann abgesehen, nicht gezwungen, ihr Einkommen durch Nebentätigkeiten, wie etwa durch das Komponieren, aufzubessern. Lediglich Tobias Woltersdorff lässt sich (außerschulisch) als musikalischer Lehrer nachweisen969.
1.2.4.2 Akzidentien Neben dem Fixum zählten die aus dem Hochzeits- bzw. Begräbnissingen erzielten Erträge von Anfang an zu den wesentlichen Einkünften der Lehrerschaft970. Die Höhe der Akzidentien richtete sich dabei nach der Art der Hochzeit bzw. des Begräbnisses971. Für das Hochzeitssingen in der Kirche empfingen die abgeordneten Lehrer und Schüler in den Gründungsjahren der Schule je nach Stand des Brautpaares 2 MS (für eine ›freie‹ Hochzeit), 1 1/2 MS (für eine ›halbfreie‹ Hochzeit) oder 1 MS (für eine ›beschlossene‹ [= gemeine?] Hochzeit)972. Vergleichbar waren die Erträge aus dem Begräbnissingen973. Die Einnahmen aus dem Begräbnis- und Hochzeitssingen hatten die jeweils beteiligten Lehrer mit dem gesamten Kollegium zu teilen. Dabei sollte man auch die 967 968 969 970 971 972 973
Zit. nach Zober (1841), S. 53 (Lehrergesetze der Schulordnung von 1591). Vgl. die Gehaltsübersichten der Stralsunder Organisten auf S. 253. Siehe S. 80. Zober (1839), S. 33. Vgl. dazu S. 163–165 sowie 159–163. Vgl. die Stralsunder Schulordnung von 1561 bei Zober (1839), S. 41. Vgl. ebd., S. 42. Der Stralsunder Schulordnung von 1561 zufolge wurden 3 MS für ein Begräbnis mit Beteiligung der ganzen Schule, 2 MS bei Beteiligung der halben Schule und 12 ß (= 1,5 MS) bei Beerdigungen mit nur einigen Schülern gezahlt.
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»deutschen« Lehrer »mit participeren laten«. Diese hatten sich im Gegenzug »tho jeder tidt, so woll jn den begreffnissen als jn den kercken, gern vnnd gudtwillig gebruken tholaten«974. Dem Rektor gebührte – wie auch beim Schulgeld – wiederum ein doppelt so hoher Anteil wie der übrigen Lehrerschaft: »hat der Rector quintam, reliqui singuli decimam partem«975, während der Kantor trotz seiner besonderen Verpflichtungen vor allem bei Hochzeiten des oberen Bürgerstandes keine höheren Beträge als die anderen Schullehrer erhielt. Dafür partizipierte er gemeinsam mit dem Rektor an den Einnahmen aus dem Umsingen der Symphonistae. Die tatsächliche Höhe der Einkünfte aus den Akzidentien für die Stralsunder Schullehrer und das daraus zu ermittelnde Verhältnis dieser Einkünfte zu ihrem Festgehalt bleibt allerdings ungewiss976. Krickeberg zufolge machte die Festbesoldung von Christoph Demantius in Freiberg ein Viertel seines Einkommens aus977. Am Ende des 17. Jahrhunderts führten die vermehrten Haustrauungen ohne Kirchgang und ohne Beteiligung der Schülerschaft978 sowie die Zunahme stiller Begräbnisse dazu, dass die Erträge aus den Akzidentien sanken. 1689 beklagte die Stralsunder Geistlichkeit, dass Haustrauungen unrechtmäßigerweise zugenommen hätten979. Eigentlich waren sie nur bei ernsthafter Erkrankung des Brautpaares oder der Verwandtschaft ersten Grades, bei Trauerfällen, aus Altersgründen oder bei anstehenden oder bereits grassierenden Pestepidemien gestattet980. Neben dem Festgehalt und den Erträgen aus den Akzidentien war es für Kantoren außerdem möglich, aus eigenen Kompositionen Nebeneinkünfte zu erzielen. Nachgewiesen werden kann dies unter den Stralsunder Kantoren aber nur für Eucharius Hoffmann. 1565 berichtet der Bürgermeister Nikolaus Gentzkow, dass ihm »der cantor vht der scholen [...] ein gesing van 4 stimmen, den he velicht suluer componieret« zugesandt habe. Gentzkow schreibt weiter: »Wat he darmit gemeint, kan ick nicht wheten, sonder gedenke, dat id eine erinnerung sy des vorigen gesings, dar he die stat mit voreret, propter remunerationem, quam hactenus forsan auide expectaverit.«981 974 Zit. nach ebd. 975 Zit. nach Zober (1848), S. 81. 976 Zu ermitteln wären zunächst Art und Häufigkeit der besungenen Hochzeiten bzw. Begräbnisse. 977 Krickeberg (1965), S. 63. Keine Aussagen sind zur Bedeutung des von Krickeberg (ebd., S. 65) erwähnten Privatunterrichts in Stralsund möglich. Dass auch die Stralsunder Lehrer Privatstunden erteilten, teilt Zober (1848, S. 14) mit. Angaben zu den daraus erzielten Erträgen gibt es nicht. 978 »[…] die Gebür für sogenannte Brautmessen fiel ganz aus, indem die Trauungen in den Kirchen jetzt abkamen«, zit. nach Zober (1858), S. 6. 979 StAS Rep 28-1389 Ratskirchenarchiv: Klagen und Beschwerden des Geistl. Ministeri-
ums 1644–1696 [20.12.1689].
980 Vgl. dazu ebd. [22.11.1650]. 981 Zit. nach Zober (1870), S. 334.
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Hoffmann wartete offenbar auf eine finanzielle Entschädigung für seine Arbeit. Im Übrigen hatte der Kantor auch seine CANTICA SACRA NOVEM (1582) mit einer speziellen Widmung – hier an das pommersche Herzogshaus – versehen und erwartete vermutlich auch dafür eine finanzielle Zuwendung. Dass ihm diese aus Stralsund mehrfach zuteil wurde, belegen Einträge im Ausgaberegister von St. Marien982. Verglichen mit seiner Festbesoldung – für die Amtszeit von Hoffmann liegen leider keine genauen Angaben vor – waren die an ihn 1572 und 1573 jeweils gezahlten 40 MS wohl nicht unwesentlich. Allerdings war auch der an Hoffmann gerichtete Auftrag – musikalisches Repertoire für die gottesdienstliche Praxis zusammenzutragen – vermutlich umfangreich und kostenintensiv. Unklar bleibt, in welcher Höhe er für seine eigenen Kompositionen entlohnt wurde. Da keiner seiner Nachfolger komponierte, bleibt zu vermuten, dass sich das Schreiben musikalischer Werke in finanzieller Hinsicht nicht über die Maßen lohnte und/ oder die Kantoren durch ihr Fixum und die Erträge aus den Akzidentien ausreichend versorgt waren.
1.2.4.3 Wohnverhältnisse Die Unterbringung der Schullehrer, denen als Kirchenbedienstete freier Wohnraum zustand983, erfolgte zunächst im Schulgebäude des Katharinenklosters, wo die Lehrer die obere Etage bewohnten984. 1579 brannten die oberen Stockwerke des Katharinenklosters ab. Daraufhin erhielten die Lehrer zunächst Amtswohnungen in der Nähe des Gymnasiums985, bezogen aber später wohl wiederum das Kloster. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts kaufte der Stralsunder Rat in der Nähe des Gymnasiums gelegene Häuser als Amtswohnungen für die Lehrer, die von Zober als »klein, oft nur einstöckig und sehr beschränkt« beschrieben werden986. Der Datenbank zur Stralsunder Sozialtopographie um 1700 ist zu entnehmen, dass die Schulbediensteten noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der Regel direkt am Katharinenkloster wohnten987. Genaue Angaben liegen beispielsweise für den Stralsunder Kantor Hermann Scheven vor, der ein in städtischem Besitz befindliches Haus in der Mönchstraße 43 – direkt gegenüber dem Kloster – bewohnte.
982 Vgl. StAS Rep 28-638 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1566–1608. Wie schon erwähnt, erhielt Hoffmann 1572 und 1573 jeweils 40 MS für das Zusammenstellen von Kirchengesängen für die musikalische Praxis. Siehe S. 156f. 983 Vgl. dazu auch die Bestimmungen der pommerschen Kirchenordnung von 1535: »dat men de schole buwe mit locis unde waningen vor den scholemeister unde sine gesellen«, zit. nach Sehling (1911), S. 333. 984 Zober (1839), S. 6. 985 Ders. (1841), S. 2. 986 Ders. (1848), S. 3, und ders. (1858), S. 5. 987 In der Datenbank lassen sich die Wohnorte mehrerer Schullehrer nachweisen. Kroll/Pápay (2003).
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1.2.4.4 Hinterbliebenenversorgung Mit Einführung der Reformation und der Abschaffung des Zölibats sah sich die Kirche mit dem Problem der Witwen- und Waisenversorgung konfrontiert. Anders als Kaufleute, Handwerker und Bauern mit eigenem Gewerbe oder Hof zählte die Gruppe der Kirchenbediensteten zu den von der Lohnarbeit Abhängigen, die zumeist über keine ökonomische Sicherheit für ihre Hinterbliebenen verfügten988. Geregelt wurden die Sozialfürsorge und Hinterbliebenenversorgung in der pommerschen Kirche erstmals auf der Greifswalder Synode von 1543, zunächst jedoch ausschließlich für den Predigerstand. Den Predigerwitwen sollte sowohl Wohnraum auf Lebenszeit als auch ein sogenanntes Gnadenjahr zugesprochen werden989. Mit der pommerschen Kirchenordnung von 1563 wurde der Anspruch der Prediger- und Pastorenwitwen auf das Gnadenjahr rechtsverbindlich990. Regelungen zur Sozialfürsorge der Kantoren in Stralsund lassen sich erst weitaus später feststellen. Sie lehnten sich jedoch an die Bestimmungen für die Geistlichkeit an und wurden vom städtischen Rat als dem Patronatsherrn der Kirche verantwortet. 1.2.4.4.1 Gnadenjahr Erstmalig erwähnt wird das Gnadenjahr für Lehrerwitwen in den Stralsunder Ratsprotokollen vom Januar 1611: »Schulcollegen-Wittwen genießen das Gnadenjahr, und warten die andern Collegen sodann auf. 2. Jan. 1611«991. Dem Eintrag zufolge hatten die Kollegen eines verstorbenen Schullehrers für die Dauer einer festgelegten Frist die Amtsgeschäfte unentgeltlich mit zu übernehmen992, wie es auch bei den Predigern und Pastoren üblich war. Das dem Verstorbenen ehemals zustehende Fixum empfingen die Lehrerwitwe oder ihre Kinder. Der Stadt entstanden somit keine weiteren Kosten. Dass die Modalitäten um die Hinterbliebenenversorgung allerdings noch in den 1620er-Jahren keineswegs für alle Lehrer endgültig geklärt waren, bezeugt ein Stralsunder Senatsbeschluss aus dieser Zeit. Demnach sollte das Gnadenjahr zukünftig lediglich den vier oberen Lehrerwitwen zustehen: »dem Rectori, Conrectori, Cantori und SubREctori allein, und andern nicht, solle auff ihr absterben das Gnadenjahr vergönnet werden«. Versterbe einer dieser Lehrer, hätten »die übrigen 3 das Gnadenjahr lang für ihn auf-
988 Vgl. dazu Wunder (1985), S. 429f. 989 Vgl. Woltersdorf (1902), S. 184f. Das Gnadenjahr war keine Neuerfindung, sondern »eine spätmittelalterliche, erbrechtliche Regelung zugunsten der Kleriker, die [...] während einer [...] bewilligten Gnadenzeit den Erben oder Schuldnern den Fortgenuß der Pfründe beließen«, Wunder (1985), S. 436. 990 Woltersdorf (1902), S. 185f. 991 Zit. nach Zober (1858), S. 110. 992 Im Falle der Prediger wurde zunächst ein halbjähriges Gnadenjahr festgelegt, das jedoch bereits in den 1560er-Jahren vielerorts auf ein ganzes Jahr erweitert wurde. Vgl. Woltersdorf (1902), S. 185. Vgl. auch StAS Rep 22-14a Scholarchat: Protokolle von Verhandlungen zwischen Senat und Scholarchat über verschiedene Fragen des Gymnasiums und des allgemeinen Stralsunder Schulwesens 1621–1729 [30.4.1621].
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f[zu]warten [...], ohne jenige Entgeltnisse«993. Betont wurde, dass das Gnadenjahr »den übrigen Collegen [...] nicht eingeraumet [...] werden« könne994. Offenbar war es zuvor auch den Witwen der unteren Lehrerschaft gewährt worden, wozu man sich aufgrund finanzieller Engpässe nun nicht mehr in der Lage sah. Doch lässt ein weiterer Eintrag in den Stralsunder Ratsprotokollen zumindest vermuten, dass ab 1645 auch die übrigen Lehrerwitwen wieder in den Genuss eines Gnadenjahres kamen: »Collegen-Wittwen soll und muß das Gnadenjahr ohne Unterschied gelassen werden. 9. Oct. 1645.«995 Für die Schullehrerschaft bedeutete der Tod eines Kollegen erheblichen und nicht vergüteten Mehraufwand während des Gnadenjahres, den sie vermutlich lediglich in der Hoffnung, die eigenen Hinterbliebenen später durch die gleiche Einrichtung versorgt zu wissen, auf sich nahm. Beim Tod eines Kantors war die Lehrerschaft beauftragt, nicht nur den gesamten schulischen Unterricht, sondern auch sämtliche musikalischen Verpflichtungen, darunter die Leitung der Figuralmusik, zu übernehmen. Ob und inwieweit die jeweils tätigen Personen allerdings über entsprechende musikalische Kompetenzen verfügten, ist unbekannt. Somit bleibt fraglich, ob das Gnadenjahr in dieser Form auch im Falle verstorbener Kantoren anzuwenden war. Nachweise dazu gibt es nicht. Vielmehr scheint man hier – wohl aufgrund der besonderen musikalischen Anforderungen an das Amt – mit der »Witwen- und Töchter-Konservierung«996 auf eine andere, ebenfalls aus dem Predigerstand übernommene Form der Hinterbliebenenversorgung zurückgegriffen zu haben. 1.2.4.4.2  »Witwen- und Töchter-Konservierung« Längerfristig als durch das Gnadenjahr ließen sich Hinterbliebene durch die Verheiratung der Witwe oder einer Tochter des Verstorbenen mit dem Amtsnachfolger versorgen. Diese einfachste Form der Witwen- und Waisenversorgung ist Wunder zufolge vor allem in Schwedisch-Pommern nachweisbar997 und war im Stralsunder Kantorenamt offenbar gängige Praxis. Sie bot den Vorteil, dass das Amt sofort wiederbesetzt werden konnte und die Amtsgeschäfte nicht für die Dauer eines Jahres von den Kollegen übernommen werden mussten. Der neue Kantor verwaltete dabei in der Regel sofort nach dem Ausscheiden des Amtsinhabers die Geschäfte. Die Erträge hatte er – bis zur bereits zugesagten Verehe993 StAS Rep 22-14a Scholarchat: Protokolle von Verhandlungen zwischen Senat und
Scholarchat über verschiedene Fragen des Gymnasiums und des allgemeinen Stralsunder Schulwesens 1621–1729 [30.4.1621 und 17.6.1629]. Vgl. dazu auch Zober (1848), S. 68.
994 Zit. nach ebd. 995 Zober (1858), S. 111. 996 Vgl. Woltersdorf (1902), S. 189f.: »Das Aufkommen der Sitte, die Wittwen und Töchter bei den Pfarren zu konservieren. [...] Es ist die Sitte, die Hinterbliebenen des verstorbenen Predigers durch Verheiratung seiner Wittwe mit dem Amtsnachfolger zu versorgen, oder die Versorgung durch Verheiratung mit diesem wenigstens einer Tochter des Verstorbenen zuzuwenden; also, wie es später hiess, die Wittwe oder Tochter bei der Pfarre zu konservieren.« 997 Wunder (1985), S. 437.
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lichung am Ende des Gnadenjahres – teilweise an die Witwe oder Tochter seines Vorgängers abzuführen. So hatte der Kantor Tobias Woltersdorff »in des Vorigen Cantoris Witwen gnaden Jahr bey der schulen Undt in Kirchen aufgewartet, Undt der Witwen alte accidentia zur fließen laßen«998. Die Hochzeit des Kantors mit einer Tochter oder der Witwe des verstorbenen Amtsvorgängers fand mitunter noch im Jahr des Amtsantritts oder aber im Folgejahr statt. Woltersdorff heiratete die Tochter von Johannes Hoevet im Juli 1647999. Hoevet selbst war im Februar 1646 begraben worden1000. Auch er hatte Catharina Herlitz, die Tochter seines Amtsvorgängers, etwa ein Jahr nach dem Tod des Kantors geheiratet1001. Dass sich die Witwen- und Töchter-Konservierung vor allem in Schwedisch-Pommern durchsetzte, resultiert in erster Linie wohl aus der finanziell schwachen Situation des Herzogtums, die eine anderweitige Versorgung der hinterbliebenen Witwen und Familien in der Regel nicht erlaubte. Woltersdorf zufolge sollte die Konservierungspraxis zumindest bei ihrer Einführung um die Mitte des 16. Jahrhunderts für den Predigerstand »nicht quasi ex jure«1002 erfolgen, sondern nur im Falle bestehender Zuneigung. Doch wurde die Praxis schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts »als eine gewohnheitsrechtlich fixierte Ordnung angesehen, der die Geistlichen und die Patrone sich zu beugen hätten«1003. Inwieweit die ›Konservierung‹ von Witwe oder Tochter des Amtsvorgängers im Stralsunder Kantorat für neue Bewerber zur Anstellungsbedingung gemacht wurde, ist unbekannt. Doch lässt die konsequente Anwendung dieser Praxis darauf schließen, dass sich die Interessenten für das Amt – vermutlich ähnlich den Predigern1004 – zumindest indirekt diesem Zwang ausgesetzt sahen. Bei der Annahme der übrigen Stralsunder Schullehrer spielte die Witwen- bzw. Töchterkonservierung offenbar keine Rolle. Vermutlich wurde diese Praxis allein aufgrund der besonderen musikalischen Erfordernisse an das Kantorenamt angewendet. 1.2.4.4.3 Emeritierung/Pension Für die Versorgung der Schullehrer war auch im Falle alters- oder krankheitsbedingten Ausscheidens gesorgt. Zober berichtet, dass die Schullehrer bei ihrer Emeritierung an-
998 StAS Rep 38-1526 Städtisches Ausgaberegister 1647, fol. 28. 999 Vgl. Schubert (1987), Nr. 3007. 1000 Vgl. S. 79f. 1001 Schubert (1987), Nr. 2988. Andreas Herlitz war am 23. September 1623 verstorben (s. S. 79). Hoevet heiratete die Tochter von Herlitz am 11. Oktober 1624. Vgl. dazu auch StAS Rep 28-1029a St. Nikolai Kirchenregister 1602–1628 [1623, 1624]; AStN KR R 43/N 4 Großes Almosen-Register 1613–1654 [1623], fol. 32; ebd. R 1/N 1 Landt Register von Ao 1612 biß Ao 1644 [1623], fol. 93. 1002 Woltersdorf (1902), S. 193. 1003 Ebd., S. 196. 1004 Vgl. dazu die umfangreichen Ausführungen bei Woltersdorf (1902).
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sehnliche Pensionen bezogen1005. Zur Emeritierung Stralsunder Kantoren liegen allerdings keinerlei Nachweise vor.
Zusammenfassung Wenngleich sich der Stralsunder Rat und die Geistlichkeit mit der Kirchen- und Schulordnung Johannes Aepins von 1525 früher als die anderen pommerschen Städte darum bemüht hatten, das Schulwesen nach Einführung der Reformation umzustrukturieren, erlaubten die äußeren Umstände eine grundlegende Umstrukturierung wohl erst 1560 mit der Zusammenlegung der Stralsunder Kirchenschulen. Seit dieser Zeit lässt sich auch die Besetzung des Kantorenamtes – als eines von sieben eingerichteten lateinischen Lehrämtern – an der neu gegründeten Stralsunder Lateinschule belegen. Die Pflichten der Kantoren umfassten die musikalische und nichtmusikalische Lehre sowie die Organisation und Leitung der Musik in den Gottesdiensten, bei Leichenbegängnissen und bei Hochzeiten. Der Kantor als Lehrer Als Lateinschullehrer unterrichteten die Stralsunder Kantoren Musik, Latein und Religion. Ihrer Stellung im Kollegium entsprechend waren sie nach Rektor, Kon- und Subrektor Klassenlehrer der dritten bzw. vierten Klasse und unterrichteten hier vor allem die nichtmusikalischen Fächer. Musik lehrten sie klassenübergreifend. Während der theoretische und praktische Musikunterricht der oberen Klassen in der Verantwortung des Kantors stand, wurde die musikalische Lehre in den unteren Klassen wohl von den als Con- und Succentoren bezeichneten Lehrern der Lateinschule übernommen. Ziel des Musikunterrichts war es, die Schüler möglichst schnell zu dem für die musikalische Praxis erforderlichen Vom-Blatt-Singen zu befähigen. Anhand von Musiklehren wurden musikalische Grundkenntnisse gelehrt; das Solmisieren half beim Erlernen der Gesänge. Figuralgesang blieb den Schülern der oberen Klassen vorbehalten. In dieser Hinsicht unterschieden sich die Verhältnisse in Stralsund kaum von denen anderer protestantischer Städte im 16. und 17. Jahrhundert. Während sich die nichtmusikalischen Unterrichtsverpflichtungen des Kantors, mit denen er im Übrigen in gleichem Maße wie die restliche Stralsunder Lehrerschaft belastet war, im gesamten Untersuchungszeitraum kaum veränderten, variierten der Umfang und die Verteilung der praktischen und theoretischen Musiklehre. Den Lektionsplänen der Stralsunder Schule zufolge nahmen im Verlauf des 17. Jahrhunderts sowohl die Anzahl der Musikstunden als auch der Anteil der theoretischen Musiklehre ab. Einen Einschnitt bedeuteten die Veränderungen von 1643. Im Zuge intendierter Verbesserungen im Schulwesen wurde in diesem Jahr der in der Tertia unterrichtende Kantor auf die Quarta versetzt. Zugleich wurden offenbar die Anzahl der Singestun1005 Vgl. Zober (1848), S. 5. »Für emeritierte Lehrer wurde von der Schulbehörde stets auf eine anständige Weise gesorgt.« Ders. (1858), S. 7.
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den an der Schule verringert und die gesanglichen Dienste der Schüler bei den Brautmessen eingeschränkt. Allerdings wurde das Fixum des Kantors nicht reduziert. Er blieb dem nunmehr in der Tertia unterrichtenden ersten Concentor finanziell übergeordnet. Vermutlich beabsichtigte man mit der Versetzung des Kantors keine generelle Schwächung des Amtes, sondern eine Entlastung zugunsten seiner zahlreichen musikalischen Verpflichtungen. Da zeitgleich die Singedienste der Stralsunder Schülerschaft eingeschränkt wurden, darf vermutet werden, dass seit dieser Zeit vor allem die Symphonistae vom Kantor für die musikalische Aufwartung in der Kirche und bei den Akzidentien herangezogen wurden. Dafür spricht auch die Öffnung der Chöre für finanziell nicht bedürftige Schüler in eben diesem Jahr. Da die Symphonistae aufgrund ihrer umfangreichen Praxis musikalisch versierter als ihre nicht in Chören organisierten Mitschüler waren, dürfte sich dies auf die Qualität der Kirchenmusik positiv ausgewirkt haben und kam so der zunehmenden Bedeutung der Figuralmusik in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entgegen.
Der Kantor als Organisator und Leiter der Kirchenmusik Wie Krickeberg es für die Mehrzahl der Kantorate in den größeren protestantischen Städten des 16. und 17. Jahrhunderts beschreibt, war auch der Stralsunder Kantor neben der musikalischen und nichtmusikalischen Lehre für die Figural- und Choralmusik in den Kirchen der Stadt zuständig. Seinen musikalischen Kirchendienst versah er vor allem an der Stralsunder Ratskirche St. Nikolai. Unterstützt wurde er von den sogenannten Con- und Succentoren, die als ihm untergeordnete Schullehrer den Kirchengesang an der zweiten und dritten Stralsunder Hauptkirche – St. Marien und St. Jakobi – leiteten. Die Oberaufsicht über die Kirchenmusik oblag auch an diesen Kirchen dem Kantor. Zu den Aufgaben von Kantor und Schülerschaft im liturgisch-gottesdienstlichen Bereich zählten die zu dieser Zeit üblichen Gesangsdienste in den sams-, sonn- und werktäglichen Gottesdiensten. Während die Concentoren vor allem für den Choralgesang an den Kirchen zuständig waren, leitete offenbar allein der Kantor die figurale Musik. Nachweisbar ist, dass er nicht ausschließlich an St. Nikolai figural musizierte, sondern an hohen Fest- und Feiertagen reihum auch die Musik in den anderen Kirchen leitete. Vermutlich nahmen die Figuralmusiken, wie allgemein üblich, im Verlauf des 17. Jahrhunderts zahlenmäßig zu. Seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts bezeichneten sich die Stralsunder Kantoren als ›Musikdirektoren‹ und stellten damit vor allem ihre administrativen Tätigkeiten als Organisatoren und Leiter der Kirchenmusik an den drei Stralsunder Hauptkirchen heraus. Zur Ausführung der gottesdienstlichen Musiken standen dem Kantor und den Con- und Succentoren die Schüler der Stralsunder Schule zur Verfügung. Gesangliche Verpflichtungen hatten die Kurrendaner, die Schüler der deutschen Klasse(n) und die Lateinschüler, die zum Teil in den als Symphonistae bezeichneten Singechören organisiert waren. Die ›deutschen‹ und ›lateinischen‹ Schüler waren je nach Kirchspiel zum gottesdienstlichen Gesang an den Sams-, Sonn- und Festtagen auf die drei Hauptkir-
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chen verteilt. Unter der Woche sangen seit dem Ende des 16. Jahrhunderts die Kurrendaner unter der Leitung des Küsters des Hospitals zum Heiligen Geist. Mit der Musik im Gottesdienst verbanden sich für den Kantor vielfältige Aufgaben. So war er unter anderem für die Anschaffung von Musikalien und für die musikalische Gestaltung der Gottesdienste zuständig, hatte die Einhaltung der liturgischen Bestimmungen an allen drei Kirchen zu überwachen, sich um geeignete Sänger und Instrumentalisten für die Aufführung der Musiken zu bemühen und leitete außerdem die gottesdienstliche Musik an einer der drei Kirchen selbst. Darüber hinaus stand die Musik bei Begräbnissen und Hochzeiten in seiner Verantwortung. Der Kantor als Komponist Von den Stralsunder Kantoren trat nur Eucharius Hoffmann kompositorisch in Erscheinung. Seine in mehreren Sammlungen vorliegenden Vokalwerke für vier bis acht Singstimmen zielen klar auf die musikalische Berufspraxis des Kantors und verkörpern den im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts in der protestantischen Kirchenmusik verbreiteten motettischen Stil. Außerdem veröffentlichte Hoffmann Lehrbücher für den Musikunterricht. Keiner seiner Nachfolger legte in ähnlicher Weise musikalische oder musiktheoretische Werke vor. Dass Hoffmann sich derartig intensiv kompositorisch betätigte, ist vermutlich in erster Linie mit dem großen Bedarf an Musikalien für die gottesdienstliche Praxis nach Gründung der Stralsunder Schule zu erklären. Immerhin hatte sich sogar der Bürgermeister über die Musik beschwert. Auch Caspar Movius dürfte als Subrektor der Stralsunder Schule mit der Veröffentlichung seiner geistlichen Konzerte in den 1630er-Jahren auf die Erfordernisse der musikalischen Praxis reagiert haben. Nach dem musikalischen Stilwandel im frühen 17. Jahrhundert erschien das in Stralsund bis dahin aufgeführte Repertoire als veraltet und wurde durch die Kompositionen von Movius erweitert. Die Stralsunder Kantoren des 17. Jahrhunderts traten als Komponisten – vor allem gegenüber den Organisten – deutlich zurück. Allerdings ist dies nicht ungewöhnlich und erscheint symptomatisch für die Verhältnisse in den meisten norddeutschen Städten. Während Krickeberg für Freiberg und Küster für Schleswig-Holstein eine zunehmende Bedeutung der kompositorischen Betätigung im Kantorat in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts feststellen1006, veränderten sich die Verhältnisse in Stralsund in dieser Hinsicht nicht. Generell sind die Informationen zum künstlerischen Wirken der Stralsunder Kantoren in dieser Zeit außerordentlich dürftig. Zwar ist nach 1650 ein genereller Rückgang bei der Drucklegung figuraler Musiken zu verzeichnen1007, doch scheint unabhängig davon das Komponieren nicht zu den Amtsgeschäften der 1006 Vgl. Küster (2005), S. 90–96, und Krickeberg (1965), S. 115. 1007 Krummacher (1965), S. 45–50. Infolge dieser Veränderungen ist vor allem die »potentielle Vernichtung von einst lediglich in handschriftlichen Quellen vorliegenden Werken« (Küster 2005, S. 92) zu berücksichtigen.
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Stralsunder Kantoren gehört zu haben. Dies zeigt u. a. ein von Zober wiedergegebenes Verzeichnis »gelegenheitlicher Schulschriften«1008 vom Ende des 17. Jahrhunderts, in dem die Musik in keinem einzigen Fall aus der Feder Stralsunder Kantoren stammt1009. Auch für ein Schuldrama des Stralsunder Konrektors Jacob Wolf (Feuer= Und Schwerdt=Bühne), nach Zober »die letzte eigentliche Schul=Comödie« Stralsunds1010, hatte der Nikolaiorganist Gottfried Rehberg und nicht der amtierende Kantor und Schulkollege Wolfs, Hermann Scheven, die Melodien komponiert1011. Als Musikdirektoren blieben die Stralsunder Kantoren dennoch bis ins 18. Jahrhundert hinein für die Leitung der Kirchenmusik und somit wohl der gesamten Musik in Stralsund zuständig. Zu vermuten ist daher ein Amtsverständnis, in dessen Mittelpunkt neben der schulischen Lehre umfängliche organisatorische bzw. administrative Tätigkeiten standen. Nicht das Schreiben von Musik war die Aufgabe der Kantoren, sondern das Organisieren musikalischer Aufführungen und deren Leitung an allen drei Hauptkirchen der Stadt sowie bei den wichtigsten Kasualien. Bei der Aufführung figuraler Musiken zeigten sich auch die Kantoren – zwar nicht als Komponisten, aber als musikalische Leiter – neuen musikalischen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen. Für weitere musikalische Tätigkeiten, wie das Komponieren, blieb dabei kaum Zeit. So ließe sich auch die umfassende kompositorische Betätigung des Stralsunder Sub- und Konrektors Caspar Movius erklären, der in seiner musikalischen Ausbildung dem Kantor vermutlich nicht unbedingt nachgestellt, wegen seiner geringeren Verpflichtungen im Rahmen der Kirchenmusik jedoch zeitlich weitaus weniger belastet war.
1008 Zober (1858), S. 102–110. 1009 Die aufgeführten Drucke entstanden zu Amtseinführungen, Hochzeiten oder Begräbnissen von Lehrern oder anderen einflussreichen Stralsunder Personen. Als Komponisten treten zwei Chorpräfekten (ebd., S. 102 und 104) und am Beginn des 18. Jahrhunderts der Nikolaiorganist Christoph Raupach (ebd., S. 105f.) in Erscheinung. 1010 Ebd., S. 42. 1011 Siehe dazu auch S. 101 sowie 207f. Wolfs Feuer= Und Schwerdt=Bühne (1692) wurde am 25. Juli 1692 – einen Tag nach dem Jahrestag der Befreiung von der Wallensteinschen Befreiung – im Unterrichtsraum der deutschen Klasse aufgeführt. Zober (1858), S. 41f. Wolf (1654–1723) war zunächst Konrektor und Rektor in Templin, Wittstock und Greifswald gewesen und kam um 1687 in dieser Funktion nach Stralsund. 1697 übernahm er das Rektorat an der Stralsunder Lateinschule.
2  Das Stralsunder Organistenamt Drei der vier Stralsunder Stadtquartiere – das Nikolai-, das Marien- und das Jakobiquartier – verfügten über eine eigene Pfarrkirche. St. Nikolai – prominent und im baulichen Ensemble mit dem Rathaus am Alten Markt gelegen – war Pfarrkirche für das nördliche Stadtquartier und galt als Rats- und Repräsentationskirche Stralsunds1012. Die Vorrangstellung von St. Nikolai unter den drei Stralsunder Pfarrkirchen manifestierte sich auch in musikalischen Angelegenheiten. Baulich hingegen überragte der spätgotische Bau der zweiten Stralsunder Pfarrkirche St. Marien am Neuen Markt die Nikolaikirche1013. Die kleinste und jüngste der drei Stralsunder Pfarrkirchen ist St. Jakobi, die im 14. Jahrhundert die Gestalt einer dreischiffigen Basilika erhielt1014. Neben den drei Pfarrkirchen gab es eine Reihe weiterer Kapellen, Spital- und Klosterkirchen in der Stadt1015, von denen jedoch nur die Heilgeistkirche sowie die Kirchen des Johannis- und Katharinenklosters nachweislich über Orgeln verfügten. Die ersten Nachweise über Stralsunder Orgelbauten, die auf die Existenz von Organisten schließen lassen, stammen aus dem 14. bzw. 15. Jahrhundert1016. Im Zusammenhang mit einer Vikarienstiftung wird für 1368 eine Orgel in St. Nikolai erwähnt, die vermutlich auf einer Empore an der nördlichen Hochwand des Mittelschiffs positioniert war1017. In einer testamentarischen Stiftung von 1392 wird auch eine Orgel im Katharinenkloster bedacht – ob diese allerdings bereits existierte oder noch gebaut werden sollte, bleibt unklar1018. An St. Marien, St. Jakobi und an Heilgeist lassen sich Orgeln seit der
1012 Vgl. S. 37. 1013 Zumindest bis zum Brand von 1647, bei dem die Turmspitze von St. Marien zerstört wurde. Heyden (1961), Kirchen, S. 220f. 1014 Vgl. zur Baugeschichte der Stralsunder Kirchen ebd., S. 15–36. 1015 Vgl. zur Stralsunder Sakraltopographie Kunkel (2008), S. 12f. mit Abb. 2 auf S. 13. Kunkel führt 15 Stralsunder Kirchen und Kapellen am Anfang des 16. Jahrhunderts auf. 1016 Ähnliches ist aus den anderen Hansestädten bekannt. Die Hamburger Kirchen verfügten spätestens seit dem 15. Jahrhundert über Orgeln und Organisten. Vgl. Leichsenring (1922/1982), S. 5f., und Seggermann (1999), S. 9. Im Lübecker Dom gab es Wölfel (2004, S. 15) zufolge bereits im 13. Jahrhundert eine Orgel. In den anderen Lübecker Kirchen lassen sich erstmals im 14. und 15. Jahrhundert Orgeln nachweisen. Ebd., S. 36, 47, 60, 104. Daebeler (1966, S. 36) äußert sich zwar nicht zur frühen Orgelbaugeschichte Rostocks, erwähnt jedoch einen 1385 nachweisbaren Organisten namens »Nicolaus«. 1017 Weitzel (2011), S. 103 und Anm. 575. Vgl. zur Position der Empore auch ebd., S. 118. Auch Prost (1991, S. 4) und Dittmer (2001, S. 145) erwähnen dieses Instrument mit einer allerdings falschen Jahresangabe (1386). 1018 Prost (1996), S. 149.
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zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts nachweisen1019; für 1525 schließlich wird auch von einer Orgel im Johanniskloster berichtet1020.
Stralsunder Organisten in vorreformatorischer Zeit Für den Orgeldienst an den norddeutschen Stadt- und Hofkirchen war in vorreformatorischer Zeit zumeist der Klerus selbst zuständig. In der Regel nahmen die aus kirchlichen Pfründen besoldeten ›Capellani‹ den Dienst reihum wahr1021, doch wurde der Orgeldienst nicht zwangsläufig auf Geistliche übertragen1022. Nichtgeweihte Organisten erhielten in der Regel eine Besoldung aus der Stadtkasse oder wurden durch Stiftungen entlohnt1023. Der Einsatz der Orgel war bereits zu dieser Zeit variabel und nicht auf den Kirchenraum beschränkt. Salmen berichtet neben dem gottesdienstlichen Orgelspiel außerdem von Organisten, die in Tanzhäusern und Bürgerstuben musizierten oder an der Aufführung geistlicher und weltlicher Schauspiele beteiligt waren1024. Dennoch sind Belege zum Orgelspiel im vorreformatorischen Stralsund nur bruchstückhaft überliefert. In den Stralsunder Stadtbüchern vom Ende des 14. Jahrhunderts (1395) wird ein Organist namens Bertram Hinricus benannt, dem bereits eine quartalsweise gezahlte lebenslange Besoldung zuteil werden sollte1025. Orgelspiel wird auch in der Stiftung Everd Drulleshagens von 1437 erwähnt1026, die fünf Messen pro Jahr am Krameraltar in St. Nikolai vorsah. Dabei sollte es sich nicht um ›gelesene‹ Votivmessen handeln, wie sie üblicherweise an den Nebenaltären im Kirchenraum gefeiert wurden1027, sondern um ›gesungene‹ Messen, für die Drulleshagen sowohl Schülergesang als auch Orgelbegleitung anwies1028: »gheuen deme scholemeistere alle jar druddehalue mark sundesch. den cappellanen twentich schillinghe. deme organisten twentich schillinghe. vnde deme kostere vor syn ludend ene mark sundesch alle Jar.«1029 1019 Prost (1991), S. 21, 64 und 87. 1020 Heyden (1961, Kirchen, S. 147) zufolge setzten sich 1525 beim ›Stralsunder Kirchenbrechen‹ (vgl. S. 48) in St. Johannis »ein paar Mönche […] an die Kirchenorgel und übertäubten den Lärm«. Spätestens zu dieser Zeit hat es dort also eine Orgel gegeben. 1021 Vgl. Edler (1982), S. 17f. Den ›Capellani‹ – Geistliche und Sänger – oblag die Durchführung der Gottesdienste. Ruhnke (1996), Sp. 1788. Kittler (1932, S. 98) berichtet für Pommern von den Priestern Martin Zittelmann und Johann Kobrow, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts Orgeldienste in Stargard bzw. Greifswald versahen. 1022 Vgl. wieder Edler (1982), S. 17, Anm. 4. 1023 Vgl. Salmen (1978), S. 13f.; Körndle (2005), S. 99; sowie die Stiftung von Everd Drulleshagen (siehe unten). 1024 Salmen (1978), S. 17–23. 1025 Schroeder (1966), S. 62f. (293 a/b). 1026 Vgl. dazu S. 43f. 1027 Vgl. Weitzel (2011), S. 131–134. 1028 Ebd., S. 163f. 1029 StAS Kramer-Urkunden 8 (1437).
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Ein ähnliches Dokument erwähnt Leichsenring für Hamburg aus dem Jahre 14521030. Hinweise zur Besoldung eines Organisten enthält außerdem das Kirchenbuch von St. Nikolai aus dem Jahre 1516: »Dem Organiste xvij ms«1031. Bereits erwähnt wurde die vom Kirchenvorsteher an St. Marien und späteren Bürgermeister Franz Wessel verfasste kritische Beschreibung der liturgischen Praxis in Stralsund vor der Reformation1032. Orgelspiel erwähnt Wessel in der täglichen Frühmesse im Advent – »Disse misse warde eine gantze stunde mit singende, infigurerende vp orgelenn, spelende vndt mit solkem brasse [= Lärmen], alse men meist bedencken konde« –, in der Feier der Christmesse – »Dar was solck singendt, klingendt; dar weren iungen bestellet: etlige stunden vp der orgelenn, etlige vp dem predigtstole, etlige im torme, etlige achter dem chore« – sowie an Fronleichnam – »dar gesungen, geklungen, georgelt, gepipet, gegyget vndt wes ein ider men erdencken konde«1033.
Zur Stellung der Orgelmusik in der lutherischen Musikauffassung Während Luther der Vokalmusik als Mittel der Wortverkündigung unbestritten positiv gegenüberstand1034, zählte die Instrumentalmusik seiner Auffassung nach nicht zu den essenziellen Bestandteilen des Gottesdienstes. Sie galt als ›Adiaphoron‹, das erst durch seinen Gebrauch zu einem guten oder schlechten Mittel der Verkündigung wird und somit ein schmückendes, jedoch verzichtbares Beiwerk darstellt1035. Verglichen mit Huldrych Zwingli und Johannes Calvin, die instrumentale Musik im Gottesdienst grundsätzlich ablehnten und Orgelspiel aus der reformierten Liturgie daher ausschlossen1036, zeigte sich die lutherische Musikauffassung offener, wenngleich auch Luther selbst der Orgel bzw. ihrer Funktion in der alten Kirche zunächst skeptisch gegenüberstand1037. Bedeutung sprach Luther der Instrumentalmusik und dem Orgelspiel vor allem in erzieherischer1038 und therapeutischer Hinsicht1039 zu und betonte außerdem ihre do1030 Leichsenring (1922/1982), S. 5. 1031 StAS Hs. 427 Kirchenbuch St. Nikolai 1516, fol. 3v. Neben den Capellani und dem Organisten werden noch ein Schulmeister und ein Küster erwähnt. 1032 Etlike Stücke, wo idt vormals im pawestdhome mit dem gadesdenste thom Stralsunde gestahn, beth vp dadt jar 1523 […] dorch her Frantz Wessell borgermeister thom Sunde beschreven Anno 1550. Siehe die Quelle bei Zober (1837). Vgl. dazu auch S. 44f. 1033 Zit. nach Zober (1837), S. 3–4, 13. 1034 Vgl. dazu etwa Mahrenholz (1937) und Krummacher (1994). 1035 Vgl. Herms (1998), Sp. 115–119, sowie Edler (1982), S. 17–20. 1036 Dies führte in einigen reformierten Gebieten gar zur Zerstörung und Entfernung von Orgelbauten aus dem Kirchenraum. Vgl. Edler (1982), S. 40. Für das 17. Jahrhundert weist Edler (ebd., S. 41) jedoch darauf hin, dass die Einstellung der Calvinisten zur Orgel im Gottesdienst nicht durchweg ablehnend war. 1037 Vgl. dazu ebd., S. 18f. 1038 Mahrenholz (1937), S. 5–8. 1039 Zugesprochen wurde ihr eine sowohl beruhigende als auch heilsame und ermunternde Wirkung. Bunners (1966), S. 73f.
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xologische Wirkung1040. Der vokalen Musik blieb die instrumentale dennoch aufgrund der ihr fehlenden Bindung an das Wort deutlich unterstellt1041. Entsprechend erscheint der Aufgabenbereich des nachreformatorischen Organistenstandes im Vergleich zur vorreformatorischen Zeit zunächst enger begrenzt. Nicht zuletzt sah man auch das Orgelspiel als Bestandteil der liturgischen Praxis der alten Kirche an, die es zu überwinden galt. Status und Funktion der Organisten standen demzufolge zunächst in direkter Abhängigkeit von der theologischen (lutherischen) Einstellung zur Musik, insbesondere zur Orgelmusik im Gottesdienst1042.
2.1 Das Organistenamt in den pommerschen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts Erste Auskünfte zur Etablierung des Organistenamtes im pommerschen Herzogtum lassen sich den Kirchenordnungen entnehmen, auch wenn diese längst nicht überall uneingeschränkt angenommen wurden. Dass Stralsund sich in kirchlichen Angelegenheiten weitgehend selbstständig gegenüber dem pommerschen Herzogshaus verhielt, wurde im Kantoratskapitel bereits umfassend thematisiert1043. Mit der Kirchen- und Schulordnung von Johannes Aepin hatte die Stadt die evangelische Lehre schon 1525 unabhängig von der Landesregierung eingeführt und lehnte aus diesem Grund sowohl die erste pommersche Kirchenordnung Johannes Bugenhagens von 1535 (Agende 1542) als auch die anschließenden Visitationen durch die Landesobrigkeit ab. Während man in Stralsund den pommerschen Landesherrn also auf Abstand hielt, nicht zuletzt um die eigenen Privilegien in der Aufsicht über das Kirchenwesen zu bewahren, suchte der städtische Rat auch für Fragen um die Neuorganisation des Kirchenwesens den Kontakt zu anderen Hansestädten, etwa zu Rostock, Hamburg oder Lübeck. Aus dem Jahr 1555 schließlich stammt der Entwurf einer Kirchenordnung, die der pommersche Generalsuperintendent Johannes Knipstro speziell für Stralsund verfasst hatte, um damit Streitigkeiten zwischen den Stralsunder Predigern zu schlichten; sie erlaubt einen Einblick in die Organisation des Stralsunder Kirchenwesens um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Auch die Bestimmungen der zweiten pommerschen Kirchenordnung von 1563 wurden in Stralsund zwar nicht vorbehaltlos angenommen, jedoch, wie spätere Quellen bezeugen1044, dennoch zum großen Teil umgesetzt. Die 1569 veröffentlichte Agende zielte vor allem darauf, die bereits 1542 beschriebene liturgische Praxis des pommerschen Gottesdienstes weiter zu erhellen und bestehende Unklarheiten zu beseitigen.
1040 Mahrenholz (1937), S. 20–22. 1041 Edler (1982), S. 20. 1042 Ebd., S. 20f. 1043 Vgl. S. 43ff. 1044 Siehe die Ausführungen zu Balthasar Prütze auf S. 66.
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In welcher Weise die in den Kirchenordnungen festgelegten Bestimmungen in den verschiedenen Städten des Herzogtums tatsächlich umgesetzt wurden, bedarf konkreter Untersuchungen im Einzelfall und ist oftmals – aufgrund der Quellensituation – nicht abschließend zu entscheiden1045. Dennoch zeigen die Bestimmungen, dass sich im pommerschen Organistenamt des 16. Jahrhunderts eine Entwicklung vollzog, wie sie Edler auch für Nordelbien beobachtet: Am Beispiel Hamburgs stellt er eine »häufigere, selbstverständlichere und vor allem detailliertere Beschreibung«1046 des Amtes in den Kirchenordnungen fest. Auch die Festlegungen der revidierten pommerschen Kirchenordnung und Agende nach der Jahrhundertmitte erscheinen deutlich klarer, nachdem in den ersten Jahrzehnten nach Einführung der Reformation zunächst noch viele Unsicherheiten bestanden hatten. Nach der pommerschen Kirchenordnung von 1563 sollten Organisten nunmehr zum üblichen Personalbestand der städtischen Hauptkirchen gehören1047. In ausführlicherem Maße als die Vorgängerordnung Bugenhagens ist die revidierte Kirchenordnung von 1563 außerdem den Anstellungsmodalitäten und der Stellung der Organisten unter den Kirchenbediensteten gewidmet. Diese Entwicklung ist sowohl in Nordelbien als auch in Pommern zweifellos Ausdruck einer zunehmend gefestigten Stellung des Amtes im Kirchendienst. Der anhand der Kirchenordnungen nachzuweisenden Etablierung des Organistenamtes gelten die folgenden Ausführungen.
Die Kirchen- und Schulordnung von Johannes Aepin (1525)1048 Für Aepin zählten Organisten noch nicht zum erforderlichen Kirchenpersonal; zu ihrer Anstellung sind keine Angaben in der Ordnung enthalten. Als nötig erachtete Aepin »in ener jtzlicken karke veer personen [...] nomlicken twee prediger, een kapellan un en köster«1049, der auch für die Leitung des Gemeindegesangs in der Kirche verantwortlich war. Möglicherweise wurde der Orgeldienst, so es ihn zu dieser Zeit überhaupt gab, von Organisten ohne Anstellung versehen und separat entlohnt. Die pommersche Kirchenordnung von Johannes Bugenhagen (1535)1050 In der 1535 erschienenen und von Johannes Bugenhagen verfassten Kerckenordeninge des ganzen Pamerlandes als rechtlicher Grundlage für das pommersche Kirchenwesen ist 1045 Auch Sehling (1911, S. 321) betont: »[…] man muss daher bei diesen Kirchenordnungen wohl beachten, dass sie nicht immer den wirklichen Stand der Dinge wiedergeben, sondern dass manche Bestimmung hier und dort auf dem Papier stehen geblieben ist.« 1590 etwa berichteten die Visitatoren aus Stolp: »Die Kirchenordnung sei intimirt und ihr nachzuleben befohlen worden; dieselbe sei aber bisher nicht im geringsten gehalten worden.« Ebd. 1046 Edler (1982), S. 23f. 1047 Sehling (1911), S. 399. 1048 Vgl. die Ordnung Aepins mit Publikationsbefehl sowie einigen Ergänzungen ebd., S. 542– 548. 1049 Zit. nach ebd., S. 543. 1050 Vgl. die Ordnung ebd., S. 328–344.
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erstmals auch die Anstellung von Organisten erwähnt. Bugenhagen sah diese zunächst nur in den großen Städten des Herzogtums und abhängig von der finanziellen Situation der Städte vor: »Organisten schölen in groten steden geholden werden […] to ehren der musica, da mit se nicht vörgha [...]; wor men idt överst nicht vormach, isset nicht ein nödich gades denste.«1051 Im Gegensatz zu den Pfarrern, Kapellanen und Küstern war das Amt des Organisten zu dieser Zeit somit noch entbehrlich, wenn auch Bugenhagen das Orgelspiel im Gottesdienst grundsätzlich befürwortete. Im Unterschied zu Pommern hatte Bugenhagen für Hamburg (1529) und Lübeck (1531) bereits vier Organisten an den jeweiligen Hauptkirchen fest vorgesehen1052. Dabei ist jedoch zu bemerken, dass nur die freien und bedeutenden Reichsstädte Hamburg und Lübeck Adressaten dieser Ordnungen waren und nicht, wie im Falle Pommerns, die außerdem im Herzogtum befindlichen kleineren Städte und Ortschaften, die oftmals nicht einmal über Orgeln in ihren Kirchen verfügten1053. Neben den erwähnten generellen Bestimmungen zur Anstellung von Organisten finden sich in der pommerschen Kirchenordnung von 1535 außerdem bereits einige kurze Bemerkungen zu ihrer Entlohnung. Aufgrund ihrer zunächst beschränkten musikalischen Amtspflichten1054 sah man es als nötig an, dass die Organisten ihren Lebensunterhalt nicht allein durch das Orgelspiel zu bestreiten suchten. Wie in Hamburg und Lübeck wurden sie auch in Pommern zunächst fast ausschließlich im Nebenamt beschäftigt: »wat se överst nicht genoch kregen, mögen se dorch andere neringe erlangen«1055. Wie hoch die Besoldung der pommerschen Organisten ausfallen sollte, vermerkt Bugenhagen – im Gegensatz zu seinen Bestimmungen für Hamburg und Lübeck1056 – noch nicht: »Organisten schölen in groten steden geholden werden unde ehrlick besoldet [werden]«1057, heißt es dazu lediglich. Zudem wolle man bei »parheren und 1051 Zit nach ebd., S. 333. 1052 Die Bestimmungen der Hamburger und Lübecker Ordnung Bugenhagens zum Organistenstand sind identisch. Vgl. Sehling (1913), S. 357 und 512f. 1053 Vgl. auch die Kirchenordnung für das mit Pommern vergleichbare und benachbarte Herzogtum Mecklenburg aus dem Jahre 1540/1545, nach der Orgelspiel dort vorgesehen war, »wor ein orgel is«, ebd., S. 152. 1054 In der Hamburger Kirchenordnung von 1529 (ebd., S. 512f.) heißt es dazu: »dewile se men des hilligen dages spelen, und sint de ganse weken fri, ane dat idt vor lustich angeseen is datme ock des donrdages spele [...] und des hilligen avendes tor vesper.« Noch Moritz Belitz hatte laut seiner Bestallungsurkunde von 1630 als Stralsunder Nikolaiorganist nur an den Sonn-, Fest- und Donnerstagen aufzuwarten. Vgl. AStN KK [Bestallung des Nikolaiorganisten Moritz Belitz, 1.9.1630]; siehe Dok. 4 im Anhang auf S. 363f. 1055 Zit. nach Sehling (1911), S. 333. Vgl. dazu die Hamburger Kirchenordnung von 1529 (ders. 1913, S. 512): »Se konen wol dar neven andere redelike neringe soken [...] besundergen mit dem, dat se ere kunst anderen leren.« 1056 Für Hamburg und Lübeck gibt Bugenhagen ein jährliches Organistenfixum von jeweils 50 ML sowie eine freie Wohnung an: »Van den veer organisten schall ein juwelick jarlikes hebben vefftich mrk und vrige waninge«, zit. nach Sehling (1913), S. 512. 1057 Zit. nach Sehling (1911), S. 333.
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predicanten, scholmeister unde scholgesellen; item köster unde organisten« darauf acht geben, »wat einem iewelicken, na gelegenheit sines amptes unde des ördes, to eerlicker husholdinge van nöden«1058. Wie auch die Prediger und Küster galten die Organisten, trotzdem sie zunächst nur nebenamtlich beschäftigt waren, als »personen des geistliken regements«1059 und genossen Immunität und Freiheit von den bürgerlichen Verpflichtungen und Lasten1060. In der kirchlichen Hierarchie standen sie zunächst in der Regel noch unterhalb der Küster1061. Bugenhagens Bestimmungen für das pommersche Organistenamt unterscheiden sich kaum von den für andere vergleichbare norddeutsche Herzogtümer oder Städte getroffenen Festlegungen zu dieser Zeit. Die Unterschiede zu Hamburg und Lübeck sind, wie schon erwähnt, in erster Linie auf die verschiedenen Adressaten der Ordnungen – dort freie Reichsstädte, hier ein gesamtes Herzogtum – zurückzuführen. Auf die für die gottesdienstliche Musizierpraxis relevanten Bestimmungen der pommerschen Agende von 15421062 soll erst später eingegangen werden.
Der Visitationsrezess von Johannes Bugenhagen für Stralsund (1535)1063 Die Empfehlungen der herzoglichen Visitationskommission für das Stralsunder Kirchenwesen betreffen die Einrichtung des Schulwesens sowie die Besoldung der Kirchenbediensteten, darunter auch der Organisten. Hatte Bugenhagen die Organisten in seiner Kirchenordnung von 1535 allgemein noch als entbehrlich bezeichnet, sah er sie für die Stadt Stralsund jedoch bereits vor. In ihrem Status unter den Kirchenbediensteten standen die Organisten auch nach dem Stralsunder Visitationsrezess zunächst unterhalb der Küster. Während diesen ein Fixum von 25 Gulden zu gewähren sei, sollte sich das Gehalt der Organisten nach den gegebenen Möglichkeiten richten: »Sovele als sie den negst bekamen konen«1064, heißt es für den Nikolaiorganisten. Dass tatsächlich alle drei Stralsunder Hauptkirchen bereits 1535 über Organisten verfügten, ist unwahrscheinlich. Anhand der kirchlichen Rechnungsbücher lassen sich erst weitaus später – in den 1560er- bzw. 1570er-Jahren – eigene Organisten feststellen.
1058 Zit. nach ebd., S. 332. 1059 Zit. nach ebd., S. 336: »Item alle personen des geistliken regements, nömlick: pastorn, prediker, scholemeister unde scholgesellen, köster, organisten, item de professores van der universitet«. 1060 Vgl. dazu S. 34. 1061 Edler (1982, S. 23) sieht die Organisten im gesamten 16. Jahrhundert sozial »auf einer Stufe mit den Küstern und den deutschen Schulmeistern«. 1062 Vgl. die Agende von 1542 bei Sehling (1911), S. 354–370. 1063 Vgl. den Visitationsrezess für Stralsund ebd., S. 548–550. Vgl. außerdem S. 32 in dieser Arbeit. 1064 Zit. nach Sehling (1911), S. 549. Auch für den Marien- und Jakobiorganisten empfahl Bugenhagen so viel, »als man den verdingen kan«.
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Der Entwurf einer Stralsunder Kirchenordnung von Johannes Knipstro (1555)1065 Vor dem Hintergrund eines »endrechtich[en] kerkenregiment[s]«1066 widmete sich Knipstro in seiner Ordnung in erster Linie dem Verhältnis der drei Stralsunder Pfarrkirchen untereinander und äußerte sich zur Organisation und zu den Inhalten der jeweiligen Gottesdienste. Deutlich werden dabei die auch für das Organistenamt bedeutsamen Verbindungen zwischen den einzelnen Kirchen und Klöstern, insbesondere zwischen St. Nikolai und dem Johanniskloster, St. Marien und dem Katharinenkloster und St. Jakobi und dem Hospital zum Heiligen Geist1067. Angaben zur Etablierung, Stellung und Funktion des Organistenamtes in Stralsund enthält die Ordnung nicht. Die für das Musikleben relevanten Bestimmungen betreffen in erster Linie die gottesdienstlichen Zeremonien und behandeln dabei u. a. die Aufgaben der Stralsunder Schülerschaft1068.
Die zweite pommersche Kirchenordnung (1563) und ihre Agende (1569)1069 Mit Blick auf das Organistenamt erscheinen Ordnung und Agende sowohl hinsichtlich der Stellung des Amtes als auch der gottesdienstlichen Zeremonien und organistischen Praxis relevant. Spätestens seit Verabschiedung der Ordnung von 1563 sollten alle großen Städte im Herzogtum über Organisten an den Kirchspielkirchen verfügen. Die von Bugenhagen 1535 in diesem Zusammenhang noch verwendete Konditionalformel1070 ist in der pommerschen Nachfolgeordnung nicht mehr enthalten. Dreißig Jahre nach Einführung der Reformation zählten somit die Organisten unabhängig vom Finanzhaushalt der Städte auch in Pommern zum unentbehrlichen Kirchenpersonal: »Organisten schölen in groten steden geholden unde ehrlick [...] besoldet werden.«1071 Während sich Bugenhagen in seiner Ordnung von 1535 noch kaum zu den für das Organistenamt relevanten Modalitäten geäußert hatte, enthält die Ordnung von 1563 nunmehr Auskünfte zu möglichen Nebenämtern der Organisten, Informationen zu ihrer Anstellung und zu den Hierarchien im Kirchenregiment. Als Nebenbeschäftigungen werden Lehr-1072 oder Schreiberdienste aufgeführt: »[...] wor se överst nicht genoch 1065 Die Kirchenordnung Knipstros ist abgedruckt ebd., S. 550–552. 1066 Zit. nach ebd., S. 550. 1067 Ebd. 1068 Vgl. dazu die Ausführungen zum Stralsunder Kantorat auf S. 124–126. 1069 Vgl. Sehling (1911), S. 376–480. 1070 »[…] wor men idt överst nicht vormach, isset nicht ein nödich gades denste«, zit. nach ebd., S. 333. 1071 Zit. nach ebd., S. 399. 1072 Organisten lehrten in erster Linie an den sogenannten deutschen Schulen, die den Lateinschulen mitunter angegliedert waren. Eine Lehrtätigkeit an den Lateinschulen blieb ihnen aufgrund ihrer oftmals fehlenden akademischen Ausbildung verwehrt. In Stralsund lässt sich allerdings nur Johann Mengenhusen (vgl. S. 216) als Organist und »deutscher« Schullehrer nachweisen.
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an besoldinge krigen, mögen se dorch richtschriverie, düdesche schriffscholen holden, effte andere redlike wege ere neringe erlangen«1073. Die Anstellung der Organisten oblag dem »pastore unde [den] vörstenderen mit willen des rades«1074. Den Anweisungen der Pastoren und des Superintendenten hatten die Organisten Folge zu leisten1075. Zweifellos lässt die ausführlichere Behandlung des Organistenamtes in der revidierten Kirchenordnung von 1563 auf eine veränderte Stellung des Organistenstandes im Herzogtum schließen. Offenbar waren inzwischen auch in Pommern »das Ansehen und das Gewicht des Orgelspiels angestiegen«1076 und detailliertere Festlegungen zum Amt aufgrund eines erweiterten Aufgabenspektrums der Organisten notwendig geworden. Dennoch bleiben die Ausführungen, verglichen mit denen zu den übrigen Kirchenämtern, quantitativ deutlich zurück. Dies lässt auf eine noch immer untergeordnete Stellung der Organisten zumindest unter den Kirchenbediensteten schließen1077. Die in der pommerschen Agende von 1569 enthaltenen Bestimmungen zu den gottesdienstlichen Zeremonien werden in den Darstellungen zum musikalischen Tätigkeitsbereich der Organisten näher untersucht.
Der Entwurf einer Stralsundischen Kirchenordnung von Balthasar Prütze [Preusse] aus dem frühen 17. Jahrhundert Die in Prützes Entwurf einer Stralsundischen Kirchenordnung gefassten Bestimmungen betreffen das Organistenamt nur hinsichtlich der Wahl neuer Amtsinhaber, wie im Kantoratskapitel bereits ausgeführt wurde1078. Dabei sollte »der Modus Electionis […] auch in erwehlung der Organisten gehalten, und einen Jeglichen Bürgermeister Prediger und Vorsteher dem Kirchspiel da ein Organist mangelt, ein Votum gelaßen werden«1079. Durch eine derart erweiterte Wahlkommission versuchte Prütze, Unstimmigkeiten unter den Kirchenbediensteten vorzubauen. Inwieweit seine Bestimmungen angewendet wurden, ist jedoch unbekannt1080. * Im Gegensatz zu den ersten Jahrzehnten nach der Reformation belegen die seit den 1560er-Jahren – wenn auch nur lückenhaft überlieferten – Einnahme- und Ausgabere-
1073 Zit. nach Sehling (1911), S. 399. 1074 Zit. nach ebd. 1075 »Se schölen [...] anlaven, dem superintendenten und pastori im kerckenregiment gehorsam to sin.« Zit. nach ebd. 1076 Edler (1982), S. 21. 1077 Vgl. dazu auch Edler (ebd., S. 23): »Die Hamburger und Lübecker Kirchenordnungen Bugenhagens beschreiben die Kirchenämter so ausführlich, wie es ihrer Bedeutung zukommt.« 1078 Siehe S. 66f. 1079 StAS Rep 28-22 Entwurf einer Stralsundischen Kirchenordnung von Balthasar Preusse (um 1600) 17. Jh, Nr. (§) 51. 1080 Vgl. zum ›Modus Electionis‹ nach Prütze S. 244.
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gister der Kirchen die Organisation des Stralsunder Amtes, die im Folgenden näher zu untersuchen ist.
2.2  Die Stralsunder Organisten in nachreformatorischer Zeit Quellen zur Besetzung der Stralsunder Organistenämter an St. Nikolai, St. Marien und St. Jakobi sind seit der Mitte des 16. Jahrhunderts überliefert. Die im Stadtarchiv und in den Kirchenarchiven erhaltenen kirchlichen Rechnungsbücher verzeichnen die an die Organisten getätigten Ausgaben (Fixum, Sonderzahlungen, Naturalien). Auf Grundlage dieser Quellen lässt sich seit dem späten 16. Jahrhundert nahezu lückenlos auf die Besetzung der Organistenämter an den drei Stralsunder Kirchen schließen. Mit zusätzlich erhaltenen Anstellungsdokumenten und der teilweise überlieferten Korrespondenz zwischen den Amtsinhabern und der Dienstobrigkeit sind die Verhältnisse des 17. Jahrhunderts noch weitaus besser dokumentiert. Wurden die Organisten des 16. Jahrhunderts noch oftmals nur mit ihrem Vornamen benannt, lässt sich ihre Identität spätestens seit dem Jahrhundertwechsel genauer bestimmen. Dies ermöglicht es, auch zusätzliche biographische Informationen etwa zu ihrer Herkunft oder Ausbildung zu ermitteln. Dennoch bleibt durch einzelne Überlieferungslücken an den Stralsunder Kirchen eine Reihe offener Fragen. Den im Anschluss folgenden biographischen Informationen zu den Stralsunder Organisten des späten 16. und gesamten 17. Jahrhunderts werden tabellarische Übersichten zu ihren Amtszeiten an den jeweiligen Kirchen vorangestellt. Dabei entsprechen die aufgeführten Jahreszahlen den namentlichen Erwähnungen der Musiker in den Quellen; ihre tatsächlichen Amtszeiten gingen mitunter vermutlich darüber hinaus. Sofern bekannt, finden sich die Lebensdaten der Organisten in den Überschriften der kurzen biographischen Abrisse. Da sich die Organisten Peter Kulen und Kaspar Liste aufgrund fehlender Quellen keiner der Stralsunder Hauptkirchen eindeutig zuordnen lassen, werden ihre Biogramme vorangestellt. Peter Kulen Als erster namentlich benannter Stralsunder Organist in nachreformatorischer Zeit lässt sich Peter Kulen feststellen, den der Chronist und Geistliche Johannes Berckmann aufgrund seiner Gewohnheit, auf der Orgel weltliches Liedgut zu spielen, als Gotteslästerer bezeichnete, und dessen Wohnung am Epiphaniasabend 1543 abbrannte. Es heißt bei Berckmann: »Jnn demsuluen jare [1543] vp der hilligen dre koninge Auent tusschenn 8 vnnd 9 brande Er Pe t e r Ku le n n , deß organistenn, sine waninge aff. (He waß […] einn lesterer gades wordes; wenn he scholde spelenn: ›Christus vnser heielant‹, so spelde he: ›Ick sach den hernn van Valckenstenn vth siner borch woll ridenn‹ etc. Dat horde mennig vorstendiger
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mann vnnd borger.) […] De em hedde suluest jnt vur gesmetenn, de hedde ehm recht gedann, deme bouenn; – he bleff organiste na alß vor.«1081
Weitergehende Informationen zu Kulen gibt es nicht. Kaspar Liste Mehrfach und über einen längeren Zeitraum wird der in der Frankenstraße im Marienquartier wohnhafte Organist Kaspar erwähnt. Der erste Nachweis stammt aus dem Michaelisregister von St. Marien aus dem Jahre 1547: »De francke strathe: Item Kasper de orgeliste vant jn taggen hus«1082. Offenbar hatte Kaspar das Organistenamt an der Stralsunder Marienkirche inne und wurde als Kirchenbediensteter mit freiem Wohnraum versorgt. 1564 ist in demselben Register erstmals von »Casper list dem Organisten«1083 die Rede. Zwei Jahre später war Liste vermutlich bereits verstorben, und Nikolaus [Clawes] Holsten wird als Organist von St. Marien erwähnt1084. Die erkrankte Witwe Listes erhielt 1566 eine finanzielle Zuwendung von Seiten der Kirche1085. Nach diesem Jahr erscheint der Name Kaspar Listes in den Registern der Marienkirche nicht mehr. Ein Organist namens Kaspar Liste begegnet im selben Zeitraum allerdings auch in den Rechnungsbüchern der anderen beiden Stralsunder Kirchen. Das älteste überlieferte Register von St. Nikolai (1548–1574) erwähnt 1549 erstmals einen »orgelyste«, der in der »molle stratte« (Mühlenstraße) im Jürgensquartier wohnte1086. Ab 1551 wird Kaspar hier als Organist namentlich benannt1087, ab 1563 ist erstmals von »Casper liste« die Rede1088. Gemeinsam mit seiner Frau wurde Liste 1567 für Arbeiten an den Orgelbälgen entlohnt:
1081 Zit. nach Mohnike/Zober (1833), S. 78f. Vgl. zu dem hier benannten Lied »Ick sach den Hernn van Valckenstenn« mit seiner besonderen Verbindung nach Pommern die Ausführungen von Haas (1937), S. 47–50. 1082 StAS Rep 28-636 St. Marien Michaelis-Register 1530–1567 [1547]. Das niederdeutsche »Tagge« meint hier vermutlich »Dorn« oder »Zacke« (vgl. Damme 1988, S. 403; Dähnert 1781/1992, S. 483) und weist vermutlich auf eine bauliche Besonderheit des Hauses (auffälliger Treppengiebel?) hin. Ich danke Gunnar Möller (Stralsund) für diesen Hinweis. 1083 StAS Rep 28-636 St. Marien Michaelis-Register 1530–1567 [1564]. 1084 »[…] vor ein rÿß papyr gegeue: to bedarff der karken: vnd vth bouck h. frantz wessels: Clawes holsten dem organisten thogestellet«, StAS Rep 28-638 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1566–1608 [1566]. 1085 »Anno 66 vp mariyen lichtmissen dath Kasperschen der olden orgelistken in ere krenckheit thor echohlende vtspent 1 MS«, StAS Rep 28-636 St. Marien Michaelis-Register 1530– 1567 [1566]. 1086 StAS Rep 28-533 St. Nikolai Hebungen und Senkungen 1548–1574 [1549]: »de bodde dar de orgelyste yne wonth [...] fryg«. 1087 Ebd. [1551]: »kasper de orgelyste gifft nycht wonet ock fry«. 1088 Ebd. [1563]: »In der moelenstrate: Casper liste wont fry«.
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»den dunnerdach nha Margret gerekent mith Casper Listen vnd ehm gegeuen vor xiiii veken xiiii daler vnd siner frowen vor iii weken iii daler dat se dat ledder thom belgen neiede noch ehm by der arbeit betalt iii tunnen starkber.«1089
Als Bewohner der Organistenbude in der Mühlenstraße erscheint er in dem erwähnten Register bis zum Jahre 1570. Vermutlich im darauffolgenden Jahr trat Heinrich Martens das Amt an1090. Kaspar Liste wird 1557 auch im Ausgaberegister der Jakobikirche aufgeführt: »Volget Vthgifft des Gemeinen Liffgedinges1091 Sunte Jacobs Kercken anfencklich vp Paschen: [...] VIII MS Mester Casper list dem Organisten«1092. Dass Liste hier nur einen Vertretungsdienst versah, ist unwahrscheinlich. Dem Eintrag zufolge wurde ihm sein ›Leibgedinge‹ ausgezahlt, das ihm wohl nur bei Anstellung an dieser Kirche zustand. Noch im Jahr zuvor wurde Johann Mengenhusen als Organist an St. Jakobi erwähnt1093. Dass es sich bei Kaspar Liste um ein und denselben Organisten an den drei Kirchen handelte, ist unwahrscheinlich. So ließe sich u. a. die musikalische Aufwartung aufgrund paralleler Gottesdienstzeiten durch denselben Organisten wohl kaum realisieren1094. Gegen die Identität der Organisten sprechen auch die abweichenden Wohnangaben in den Registern von St. Nikolai und St. Marien (Mühlen- bzw. Frankenstraße). Außerdem lassen die erwähnten Eintragungen in den Registern der Marienkirche von 1566 vermuten, dass Liste in diesem oder bereits im Vorjahr verstorben war und Nikolaus Holsten seine Nachfolge angetreten hatte. An St. Nikolai wird Liste auch nach dieser Zeit erwähnt. Vorstellbar ist, dass sich die Organistenämter an St. Marien und St. Nikolai in den Händen von Vater und Sohn Kaspar Liste befanden und einer von beiden 1557 das Amt an der Jakobikirche versehen hatte. Seit den 1560er- bzw. 1570er-Jahren lassen sich zumindest an St. Nikolai und St. Marien durchgängig eigene Organisten nachweisen. Aussagen zur Besetzung des Amtes an St. Jakobi sind in dieser Zeit aufgrund fehlenden Quellenmaterials kaum möglich.
1089 Ebd. [1567]. 1090 StAS Rep 28-534 St. Nikolai Ausgaberegister 1563–1610, fol. 267. 1091 »Liffgedinge« = Leibgedinge: »das Gedinge, d. i. bestimmter ausbedungener und verglichener Unterhalt auf Lebenszeit«, Adelung (1796), S. 1995. 1092 StAS Rep 28-880 St. Jakobi Einnahme und Ausgabe [1557]. 1093 StAS Hs. 619 Schriftensammlung des Landrats Hermann Berend Wulfradt, 1552–1778, fol. 427 (neue Paginierung). 1094 Der Agende zur pommerschen Kirchenordnung von 1569 zufolge war das Orgelspiel während der Frühmette und Messe am Sonn- und Festtag, in der samstäglichen Vesper und in den übrigen Werktagsgottesdiensten vorgesehen. Vgl. dazu Sehling (1911), S. 435–439. Vgl. auch die Stralsunder Gottesdienstzeiten nach der Kirchenordnung Knipstros (1555) in Tab. 12 auf S. 125.
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Die Organisten an St. Nikolai Amtszeit 1551–1570 1571–1572/1574 (?) 1574–1584 1587 (?)–1592 (?) 1592–1615 1615 (?)–1629 1630–1631 1632–1645 1646–1677 1677–1683 1684–1703
Organist Kaspar Liste Heinrich Martens Mauritio Westenhausen Joachim Pyl Elias Herlitz Bernhard Petersen Moritz Belitz Philipp Kaden Johann Martin Rubert Johann Röhle Gottfried Rehberg
Tabelle 16: Amtszeiten der Nikolaiorganisten
Heinrich [Hinricus] Martens Martens lässt sich 1571 und 1572 in den Registern der Stralsunder Nikolaikirche nachweisen1095, übte das Amt aber vermutlich bis 1574 aus. Nach seiner Stralsunder Amtszeit wechselte er nach Greifswald und erhielt 1574/75 seine erste Gehaltszahlung als Organist der dortigen Marienkirche1096. Er verließ jedoch auch dieses Amt bereits 1576 wieder1097 und zog vermutlich nach Lübeck. An der Lübecker Marienkirche lässt sich von 1578 bis in die 1590er-Jahre hinein ein Organist namens Hinrich Marcus nachweisen1098, bei dem es sich wohl um den früheren Stralsunder Organisten gehandelt haben dürfte. Mauritio [Mauritius, Mewris, Mories] Westenhausen [Westenhusen] Mit Mauritio, Eberhard1099 und Lubbert1100 Westenhausen lassen sich im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts drei Vertreter einer Organistenfamilie aus dem niederländischen 1095 StAS Rep 28-534 St. Nikolai Ausgaberegister 1563–1610, fol. 267 und 269v. Dem Register zufolge wurde Martens zu Michaelis 1571 und 1572 Holzgeld gezahlt. 1096 StAG Rep 3-146 St. Marien Kirchenbuch Bd. 2: 1561–1592 [1574/75], fol. 223v. Außerdem wurden ihm einige Unkosten für den Umzug von Stralsund nach Greifswald erstattet. 1097 »2 daler dem orgelysten so hinrych Martens dan ock vorsprochen tho sinem afftage anno 76«, ebd. [1575/76], fol. 232r. 1098 Vgl. Stahl (1952), S. 32, und Edler (1982), S. 158. 1099 Eberhard Westenhausen war Stralsunder Marienorganist. Vgl. S. 209f. 1100 Lubbert Westenhausen übernahm vermutlich 1576 die Nachfolge von Heinrich Martens an St. Marien in Greifswald und wirkte hier bis 1583. Vgl. StAG Rep 3-146 St. Marien Kirchenbuch Bd. 2: 1561–1592, fol. 314v. Von 1578 bis 1582 lässt er sich außerdem als Jakobiorganist in Greifswald nachweisen. Vgl. StAG Rep 3-147 St. Jakobi Rechnungen Bd. 1: 1569–1623, fol. 77r, 121r. Köhler (1997, S. 514) zufolge war er nach dieser Zeit (bis
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Elburg (Gelderland) in Stralsund bzw. Greifswald feststellen. Mauritio trat zu Johannis 1574 die Nachfolge des Organisten Heinrich Martens an St. Nikolai in Stralsund an1101. Er wird hier letztmalig 1584 namentlich erwähnt1102 und begab sich von Stralsund offenbar nach Königsberg. In den Matrikeln der Albertina erscheint der Eintrag Westenhausen im Jahre 15871103; neben seinem Studium war er Kneiphoforganist1104. Von 1599 stammt ein weiterer Matrikeleintrag an der Albertina, bei dem es sich vermutlich um einen in Stralsund geborenen gleichnamigen Sohn des Organisten handelt1105. Mauritio und Eberhard Westenhausen genossen in Stralsund offenbar einiges Ansehen. Der Stralsunder Kantor Eucharius Hoffmann widmete 1577 die VI. (»IN SCALA DVRA«) seiner XXIIII. CANTIONES »DOCTIS ET MODESTIS JVVENIBVS Mauritio & Euerhardo VVestenhusen Organistis Sundensibus excellentibus«1106. Weiterführende Informationen zur Familie Westenhausen fehlen1107. Joachim Pyl († um 1592?) Pyl erwarb 1587 das Stralsunder Bürgerrecht1108 und wird in den Bürgerbüchern bereits als Organist bezeichnet. Vermutlich hatte er das Organistenamt an St. Nikolai zu dieser Zeit noch nicht inne, da er als Kirchendiener vom Bürgerrechtserwerb befreit gewesen wäre. Er starb vermutlich um 1592. In diesem Jahr trat Elias Herlitz seine Nachfolge an. Unklar bleibt die verwandtschaftliche Beziehung zwischen Joachim und Paul Pyl, der seinen Sohn Georg am Ende des 16. Jahrhunderts für die Nachfolge seines verstorbenen »Vetters«1109 an St. Nikolai empfahl1110.
1101 1102 1103 1104 1105 1106 1107 1108 1109
1110
1623) Organist in Anklam und »später« Pastor in Grubenhagen. Allerdings dürfte er bereits 1623 zwischen 60 und 70 Jahre alt gewesen sein. »Mewris dem orgeliste gegeuen thom forlone als wi ene anneme 8 MS«, StAS Rep 28-534 St. Nikolai Ausgaberegister 1563–1610, fol. 273f. Ebd., fol. 287f. Erler (1910), S. 94: »19. Oc t o bri s. Mauritius Westenhusen, Elburgensis Geldriensis, Organista Cniphofiensis, cui pretium inscriptionis remissum est.« (W 1587 Nr. 1.) Vgl. Anm. 1103 sowie Küsel (1923), S. 39. Als Kneiphof wurde ein Stadtteil Königsbergs bezeichnet. Erler (1910), S. 148: »30. Octobris. Mauritius Westenhausen, Stralsundensis« (W 1599 Nr. 26). Es handelt sich um die Motette »Venite filii« für sechs Stimmen. Vgl. die Werke Hoffmanns im Anhang auf S. 385–387. Eine Anfrage an das Elburger Orgelmuseum blieb leider unbeantwortet. StAS Bürgerbücher (digitalisiert). Der Gebrauch der Bezeichnung »Vetter« unterschied sich zur damaligen Zeit von dem heute üblichen. Vgl. dazu Adelung (1801, S. 1192): »Der Vetter, [...] ein männlicher Verwandtschaftsnahme, mit welchem man sowohl den Vater- und Mutterbruder, als auch Geschwisterkinder männlichen Geschlechts zu bezeichnen pfleget. [...] In weiterer und vermuthlich eigentlicher Bedeutung, werden alle nahe Verwandte männlichen Geschlechts, für welche man kein besondern Nahmen hat, auch in entferntern Graden Vettern genannt.« Siehe S. 228–230 sowie Dok. 3 im Anhang auf S. 361f.
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Elias Herlitz (1566/67–gest./begr. 6.2.1615) Elias Herlitz entstammte einer wohlhabenden Zeitzer Familie und wurde um 1566/67 als jüngster von drei später in Pommern wirkenden Brüdern geboren1111. Eine erste musikalische Ausbildung erhielt Herlitz bereits im Elternhaus1112. Ab 1582 studierten er und sein nur wenig älterer Bruder Andreas gemeinsam an der Leipziger Universität1113; 1586 setzten die Brüder ihr Studium in Greifswald fort1114. An der Wittenberger Universität lässt sich Elias Herlitz im Gegensatz zu seinem Bruder Andreas (1587) nicht nachweisen. Kontakte nach Wittenberg werden allerdings durch die Drucklegung seiner Comœdia […] von Vincentio Ladislao (1601) bei Lorenz Seuberlich bezeugt und werden auch im Vorwort der 1606 erschienenen Musicomastix erwähnt1115. 1591 hielt sich Elias Herlitz vermutlich als Schullehrer in Tribsees auf1116. Die Verbindungen dorthin kamen 1608 wohl auch seinem Stralsunder Schüler Christian Arens zugute, den er erfolgreich für ein Tribseeser Organistenamt empfahl1117. Das Organistenamt an St. Nikolai übernahm Herlitz 1592, im selben Jahr, in dem auch sein Bruder Andreas als Stralsunder Kantor angestellt wurde1118. Elias Herlitz wirkte bis zu seinem Tode als Stralsunder Nikolaiorganist. Während seiner Amtszeit erhielt die Nikolaikirche einen Orgelneubau durch Nicolaus Maaß, der durch Herlitz 1601 eingeweiht wurde1119. Bemerkenswert ist seine akademische Ausbildung, die für die Übernahme eines Organistenamtes zu dieser Zeit nicht erforderlich war. Zur musikalischen Arbeit von Herlitz gibt es kaum Nachweise, überliefert sind jedoch literarische Werke. Neben den oben bereits genannten Komödien, die vermutlich
1111 Vgl. S. 78, Anm. 412. 1112 »Weil ich von meinen lieben Eltern vo[n] Jugendt auff zu den andern artibus liberalibus, so wol auch zu der Edlen Kunst Musica erzogen vnnd gehalten«, vgl. Herlitz, Musicomastix (1606/1937), fol. A iijv. 1113 Erler (1909), Bd. 1, S. 181. 1114 Friedländer (1893), S. 331: »31. Jan. [1586] Andreas Herlitzius, Cizensis 1m
2s. Elias Herlitzius, Cizensis 1m 2s«.
1115 Herlitz, Musicomastix (1606/1937), fol. A ijr. Siehe den kompletten Titel der Comœdia im Werkverzeichnis auf S. 384. 1116 »År 1591 finna vi Elias som ›collega‹ i Tribsees«, Familiengeschichte Herlitz’: Herlitz Familie Arkiv (HFA) I Släkthistoria (Ms.), S. 11. 1117 LAG Rep 36 II T 8, fol 21. Arens wurde auf Empfehlung von Herlitz 1608 zunächst für ein Jahr in Tribsees als Organist und Schulgeselle angenommen. Köhler (1997, S. 482) zufolge lässt er sich bis 1615 in Tribsees nachweisen. 1118 Herlitz’ Amtsbeginn und sein Sterbedatum lassen sich der Lpd. für seinen Bruder Andreas aus dem Jahre 1623 entnehmen: »Dn. Eliâ Herlitzen/ dieser vnser Kirchen 23. Jahr lang gewesenen hertzfrommen/ Kunstreichen Organisten/ (welcher allhie Anno 1615. den 6. Febr. seliglich verstorben)«, Lpd. Andreas Herlitz: StAS A 4o 262 Nr. 11 [1623]. Eventuell jedoch handelt es sich dabei nicht um das Sterbe-, sondern um das Begräbnisdatum. Vgl. StAS Sterberegister. 1119 Siehe S. 274.
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im schulischen Rahmen und in Zusammenarbeit mit seinem Bruder Andreas aufgeführt wurden, liegen außerdem zwei Gelegenheitsgedichte vor1120. Mit seiner Comœdia […] von Vincentio Ladislao legte Herlitz 1601 eine sechsaktige metrische Bearbeitung (in Reim gebracht Durch ELIAM HERLICIVM) des von Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel 1599 in Prosa verfassten gleichnamigen Lustspiels vor, die – um Prolog, Argumentum und Epilog erweitert –der für Schulkomödien damals üblichen Form folgt. Auf dem moralischen Prüfstand stehen hier höfisches Leben bzw. das Verhalten der Höflinge höheren und niederen Standes; Letzterer wird u. a. durch die niederdeutsche Mundart charakterisiert1121. Ähnlich erscheint die fünfaktige Musicomastix von Elias Herlitz als Comoedia von dem MusicFeinde (Stettin 1606), in der vier Studenten und Musiker den Verfall der Musik und der Septem Artes Liberales insgesamt beklagen. Obwohl Herlitz’ Musicomastix erst 1606 und damit fünf Jahre nach seiner Comœdia […] von Vincentio Ladislao im Druck erschien, handelte es sich dabei dennoch um sein erstes Werk, wie er selbst bemerkt: »[…] weil diese Comœdia, welche ich/ als meine primitias, vor der andern vom Vincentio Ladislao verfertiget«1122. In ihren Gesprächen kritisieren die vier Studenten und Musiker Philomusus, Speusippus, Metrodorus und Clinias vor allem den qualitativen Verfall der Musik durch das weitverbreitete ›Pfuschertum‹ und beklagen u. a. die schlechte Bezahlung der professionellen Musiker1123. Als ausgesprochener Musikfeind erscheint der Junker Hans, dem die Studenten eine Narrenkappe verpassen. Das musikalische Pfuschertum wird durch einen Bauern sowie die meistens angetrunkene Schweinehirtin Wöbbeke Plöß symbolisiert, auch hier überzeichnet durch die niederdeutsche Sprache. Wenngleich Herlitz in seiner Musicomastix nicht explizit auf Stralsunder Verhältnisse anspielt, gilt seine Kritik dennoch den aktuellen musikalischen Zuständen zu seiner Zeit. Beklagt werden sowohl das fehlende Bildungsinteresse der Bevölkerung als auch der schlechte Musikgeschmack der oberen Stände. Zweifellos zu Recht verweist Irmgard Scheitler darauf, dass Herlitz‘ Darstellung das »erstarkende Selbstbewusstsein des Musikerstandes« im 17. Jahrhundert widerspiegelt1124. Herlitz selbst entsprach dem propagierten 1120 1588 lieferte Herlitz ein Gedicht zur Hochzeit des Greifswalder Konrektors Joachim Grabovius; 1592 schrieb er, wie auch sein Bruder David, ein lateinisches Glückwunschgedicht zum Amtsantritt von Andreas Herlitz als Stralsunder Kantor. Siehe die Werke von Herlitz auf S. 384. 1121 Ein Exemplar des Druckes befindet sich in der Biblioteka Jagiellońska Krakau (PL-Kj), Sign. Yq 1401. Vgl. dazu auch Arnheim (1916), S. 92; Bethke (1938); Wisniewski (2013), S. 107; sowie Bugenhagen/Scheitler (2014). 1122 Herlitz, Musicomastix (1606/1937), fol. A ij. Offenbar war es der Unzuverlässigkeit eines Wittenberger Druckers geschuldet, dass die Komödie erst weitaus später als geplant in den Druck ging. 1123 »[…] kein vnterschied […] zwischen einem Dorfffiedler/ Schäffer/ oder Trommelschleger […] vnd zwischen einem guten Cantori, Musico instrumentali vnd Organisten/ so die Kunst fundamentaliter treiben«, ebd., fol. Aiiij. 1124 Bugenhagen/Scheitler (2014).
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akademischen Bildungsideal durch seine universitäre Ausbildung, auch wenn sie für den Organistenstand zur damaligen Zeit gar nicht gefordert war. Am Ende sowohl des Vincentio Ladislao als auch der Musicomastix findet sich der Wahlspruch Herlitz‘: »Exhilarant homines concentibus Organa sacris«1125. Interessant erscheinen die musikalischen Anweisungen in Herlitz‘ Musicomastix: Als musikalische Zwischenspiele sah der Organist vier- bis fünfstimmige (weltliche) Gesänge älteren Stils von Johannes Knöfel, Leonhard Lechner, Orlando di Lasso, Thomas Mancinus, Johannes Eccard, Jacob Regnart und Gregor Lange [Langius] vor, die vermutlich zu dieser Zeit zum Repertoire der Stralsunder Lateinschulchöre zählten1126. Herlitz verstarb am 6. Februar 16151127. Bis zur Wiederbesetzung des Amtes im September des Jahres versahen der Anklamer Organist Lorentz sowie der »Magistro Anthonio Mollern« den Organistendienst an St. Nikolai1128. David Herlitz, Sohn von Elias Herlitz und seiner Frau Maria [Margarita] Kleinsorg, wurde um 1620 Organist in Visby1129. Als Amtsnachfolger seines Vaters in Stralsund kam David Herlitz 1615 offenbar nicht in Betracht. Er hatte sein Studium an der Greifswalder Universität 1614 aufgenommen und setzte es 1616 in Rostock fort1130. Bernhard [Berendt] Petersen [Petri] († 1629) und die ›Visbyer Orgeltabulatur‹ Bei dem Stralsunder Organisten Bernhard Petersen handelt es sich vermutlich um den bisher als Berendt Petri bekannten Schreiber der ›Visbyer Orgeltabulatur‹1131, einer wichtigen Quelle zur norddeutschen und insbesondere Hamburger Orgelpraxis im 16. und frühen 17. Jahrhundert, die sich heute im Landsarkivet in Visby auf Gotland be-
1125 Ebd. 1126 Vgl. auch Arnheim (1916), S. 102f.; Böhme (1931), S. 334. 1127 Vgl. Anm. 1118. 1128 Vgl. StAS Rep 28-1029a St. Nikolai Kirchenregister 1602–1628, fol. 51–61v: »29.3. Noch […] dem Organisten Vonn Ancklam geben 9 MS, 5 ßl«, ebd. [1614/15], fol. 55; »1.4. Hanß Kruse der Karckenknechtt Magistro Anthonio Mollernn, dadtt he vp der orgelle allhir hefft vpgewartett gegebenn 9 MS, 5 ßl«, ebd. [1614/15], fol. 55v; »4.6. […] Lorentz dem Organisten Vann Ancklam, dadt he allhir eine tidtlanck tho S. Niclaß die Orgell vorgestandenn Vndt Vpgewardett gegebenn 36 MS«, ebd. [1615/16], fol. 57v. 1129 Vgl. Nyberg (1938), S. 256. Auf dem Grabstein von David Herlitz in Visby heißt es: »Herlicius, fordom en mycket berömd organist i Visby, född i Stralsund i Pommern av fromma och ansedda föräldrar: fadern Elias Herlicius – –organist i Stralsund, modern Margarita Klensorgen – – – –«, ebd. Zunächst hatte man Herlitz wohl mit dem Bau einer neuen Orgel in der Visbyer Domkirche betrauen wollen. Kite-Powell (1979), S. 12. Allerdings gibt es keine Zeugnisse dafür, dass ein solcher Bau zustande gekommen wäre. 1130 Friedländer (1893), S. 417: »25. Jul. [...] David Herlitzius, Sundensis«. Am selben Tag schrieb sich auch »Aelias Herlitzius, Sundensis«, vermutlich ein Bruder des Organisten, in Greifswald ein. Ebd. Vgl. zu Rostock Schäfer (1919), S. 368. 1131 Die Tabulatur ist auch unter den folgenden Bezeichnungen bekannt: Johann Bahr’s Tabulaturbuch, Bahrsche Handschrift, Die Tabulatur des Joh. Bahr, Die Visbyer Handschrift, Berendt Petri Tabulatur. Vgl. Kite-Powell (1979), S. 29–35.
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findet1132. Nicht nur die Ähnlichkeit des Namens, sondern auch Verbindungen zwischen Stralsund, Hamburg und Visby im besagten Zeitraum untermauern die These, dass es sich bei Petri um den späteren Stralsunder Nikolaiorganisten handelt1133. Handschriftliche Zeugnisse Petersens für einen Schriftvergleich allerdings fehlen. Das besagte Tabulaturmanuskript enthält Kompositionen von Hieronymus (1560– 1629) und Jacob Praetorius (II) (1586–1651), von dem Visbyer Organisten Johann Bahr (1610/1615–1670) sowie anonyme Überlieferungen1134. Einem Eintrag auf der ersten Seite der Handschrift lassen sich zwei kurze Hinweise auf die Herkunft und Ausbildung von Petri entnehmen: »BERENDT PETRI DEM HORDT DIT BOCK THO VND Ich habe es tho hamborch bi Jacobi pratore geschreuen bidde fründtlick der es findt der Wolle es mich wider bringen ehm schall ein dubbelden schillinck wedder ihn den budell klingenn, Anno 1611 den mandach nach der hilligen Dreuoldicheidt, Freiburgensis«1135
Petri stammte dem Eintrag zufolge aus Freiburg1136 und war offenbar in die Lehre des Sweelinckschülers Jacob Praetorius (II) in Hamburg gegangen, wo er das Tabulaturbuch zu schreiben begann. Kite-Powell vermutet, dass Petri zwischen 1594 und 1598 geboren wurde. Damit wäre er 1611 am Ende seiner Lehrzeit bei Praetorius1137 zwischen 17 und 21 Jahre alt gewesen, was den Gepflogenheiten der damaligen Zeit durchaus entsprach1138. Weitere Hinweise zur Person des Berendt Petri lagen bislang nicht vor, lassen sich nun aber – seine Identität mit Bernhard Petersen vorausgesetzt – den Stralsunder Quellen entnehmen. Der Nikolaiorganist Petersen wird erstmals 1623 namentlich in den Rechnungsbüchern der Stralsunder Nikolaikirche erwähnt1139. Offenbar jedoch hatte er das Amt 1132 1133 1134 1135 1136
S-VIl, ohne Signatur. Ich danke Konrad Küster (Freiburg/Br.) für einen Hinweis in diesem Zusammenhang. Vgl. dazu auch Dirksen (1998), Sp. 1732. Berendt Petri Orgeltabulatur, S-VIl, ohne Signatur, originaler Titel. Kite-Powell (1979, S. 9) zufolge handelt es sich dabei – »due to its close proximity to Hamburg« – wahrscheinlich um Freiburg an der Elbe. Die Freiburger Kirchenbücher für den betreffenden Zeitraum sind nicht überliefert. 1137 Dirksen (1998, Sp. 1732) vermutet, dass Petri von 1609 bis 1611 Schüler von Praetorius war. 1138 Junge Organisten gingen gewöhnlich im Alter zwischen 14 und 17 Jahren in die auswärtige Lehre. Kite-Powell (1979), S. 9. 1139 StAS Rep 28-1029a St. Nikolai Kirchenregister 1602–1628: »13.3. Dem Organisten Bernhards up sin Viellfeltiges suppliciren vnndt bittenn in dißer dürenn tÿdt, tho siner hußholldinge Vor ehrrt wordenn 50 MS«, ebd. [1623], o. S.
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bereits seit der Neubesetzung der Stelle nach dem Tod von Herlitz (1615) inne. Dem Probespiel nämlich hatten sich drei Bewerber gestellt: der spätere Stralsunder Jakobiorganist Hinrich von Husen sowie zwei namentlich nicht benannte Organisten aus Danzig und Hamburg1140. Den Zuschlag erhielt der Hamburger Bewerber, bei dem es sich wohl um Petersen handelte. In der Folgezeit ist in den Quellen nur von dem »itzigen Orgelisten« bzw. »Organisten« die Rede. Petersen wurden am 7. September 1615 12 MS zum »Gottespfennig« gezahlt1141. Kurze Zeit später erhielt er seine Bestallung; er heiratete im Jahr 16161142. Petersen bzw. Petri könnte sein Anstellungsverhältnis an der Stralsunder Nikolaikirche demzufolge bereits wenige Jahre nach seiner Hamburger Lehrzeit eingegangen sein. Als Schüler von Jacob Praetorius (II) wäre Berendt Petri damit der erste von insgesamt vermutlich vier an St. Nikolai beschäftigten Enkelschülern Jan Pieterszoon Sweelincks im 17. Jahrhundert1143. Petersen starb, wie auch seine Frau und ein Sohn, 1629 an der Pest und wurde am 1. Oktober beerdigt1144. Ob ein Verwandtschaftsverhältnis zu dem zwischen 1607 und 1629 an der Stralsunder Marienkirche wirkenden Organisten Nikolaus Petersen1145 bestand, ist unbekannt. Johann Bahr, späterer Besitzer der Visbyer Orgeltabulatur, übernahm diese vermutlich 16381146. In diesem Jahr war er Nachfolger von David Herlitz an der Kathedralkirche in Visby geworden1147. Allerdings hielt sich Bahr schon seit 1630 in Visby auf, wo sein Bruder sich zehn Jahre zuvor als Schuster niedergelassen hatte. 1633 wurde er 1140 »5.9. Dem Organisten Vonn Danßke [später noch einmal »Dantzigk«] Vnndt dem Organistenn Vonn Hamborg Vnndtt Heinrich Vann Husenn thosahmenn dadt se sick vp der orgell hören latenn 3 Stövekenn Wyn vorehrett kostenn 9 MS«, ebd. [1615], fol. 58v. 1141 »7.9. Dem Orgeliste Vann Hamborck thom Gottes Penninge gebenn 12 MS«, ebd. [1615], fol. 58v. Die Zahlung des Gottespfennigs besiegelte den Abschluss von Verträgen. Vgl. Grimm (1958/1984), Bd. 8, Sp. 1291: »gottespfennig meint das beim abschlusz von kaufund dienstverträgen vom käufer oder dienstherrn zu zahlende, den vertragspartner zur vertragserfüllung verpflichtende angeld, handgeld; dieses wurde ursprünglich, regional begrenzt auch jünger noch, an die kirchen- oder armenkasse abgeführt«. 1142 StAS Rep 28-1029a St. Nikolai Kirchenregister 1602–1628: »19.9. Vor deß Jtzigenn Organistenn seine Vocation thovorfertigende gegebenn 1 MS 12 ßl«, ebd. [1615], fol. 59v; »3.10. […] seinem Schriuer Vor deß Jtzigenn Organistenn sine bestallinge gebenn 9 MS«, ebd. [1615], fol. 60. 1616 wurden dem neu bestallten Organisten von St. Nikolai 16 MS zu seiner Hochzeit »verehrt. Ebd., fol. 66: »Noch dem Organisten vp miner herrn Collegen befehl tho siner Kösten vorehret 16 MS«. 1143 Vgl. dazu S. 230. 1144 AStN KR R 33a Begräbnis-Register 1629–1673: »1. Okt. ist Bernhardeß der orgeniste beerdiget« [1629]. Sein Sohn war bereits im August verstorben (ebd., 19.8.); der Sterbeeintrag für seine Frau stammt vom 6.9.1629 (StAS Sterberegister). 1145 Siehe S. 211. 1146 Aus diesem Jahr stammt ein Besitzvermerk auf einem heute allerdings verlorenen Einband: »Johann Bahr Organ. m. m. O Domine da mihi intellectum ut discam mandata tua. Anno 1638«, zit. nach Kite-Powell (1979), S. 30. 1147 Schilling-Wang (1999), Sp. 12.
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bereits Substitut des kränkelnden Domorganisten Herlitz, nach dessen Tod 1638 er schließlich das Organistenamt an der Visbyer Domkirche ganz übernahm1148. Folgte man der Vermutung Kite-Powells, Bahr habe die Tabulaturhandschrift aus Deutschland mitgebracht1149, so stellte sich die Frage, warum der Besitzvermerk auf dem heute verlorenen Einband erst auf das Jahr 1638 datiert ist. Das Studium der Stralsunder Quellen zeigt nunmehr eine andere Verbindung auf: Demnach war die Tabulaturhandschrift nämlich nicht erst 1630, sondern schon zehn Jahre früher im Gepäck von David Herlitz über Stralsund nach Visby gelangt; David könnte vor 1620 ein Schüler von Bernhard Petersen, dem Nachfolger seines Vaters, in Stralsund gewesen sein. Hatte Petersen das Tabulaturhandbuch 1615 aus Hamburg nach Stralsund mitgebracht, so gelangte es nunmehr an (seinen Schüler?) Herlitz, der 1620 sein erstes Amt als Visbyer Domorganist antrat. Nach Herlitz‘ Tod 1638 mag das Tabulaturbuch in den Besitz seines Nachfolgers Bahr übergegangen sein, der neben einem Magnificat im achten Kirchenton und einer Bearbeitung des Hymnus »O Lux beata Trinitas« zwei Vokalkonzerte in die Handschrift eintrug. In ihrem Grundbestand – in der Handschrift von Berendt Petri – enthält die Visbyer Orgeltabulatur mehrteilige Magnificat-Bearbeitungen in allen acht Kirchentönen, Bearbeitungen von 19 lateinischen Hymnen, verschiedene Orgelsätze zur Messe sowie fünf Bearbeitungen von Sequenzen1150 – gottesdienstliches Repertoire für einen Organisten, das Petri in auffallend systematischer Weise eingetragen hatte. Abgesehen von den Magnificatzyklen, die als Kompositionen von Hieronymus Praetorius bezeichnet werden, sind zwei Stücke seinem Sohn Jacob zugewiesen, der Rest ist anonym. Kite-Powell hat die Vermutung aufgestellt, diese Stücke seien ebenfalls von Hieronymus Praetorius komponiert und von Petri lediglich abgeschrieben worden1151. Aufgrund des stilistischen Befunds ist jedoch ebenso denkbar, dass sie von Petri selbst im Unterricht bei Jacob Praetorius komponiert wurden. Die Eintragungen des späteren Visbyer Domorganisten Johann Bahr auf frei gebliebenen Seiten des Tabulaturbuchs sind alle namentlich gekennzeichnet und deutlich vom älteren Bestand der Handschrift zu unterscheiden1152. Für Stralsund lassen die Verbindungen zur Visbyer Orgeltabulatur und zu Hieronymus und Jacob Praetorius (II) auf eine mit dem in der Tabulatur enthaltenen Repertoire vergleichbare Orgelpraxis schließen. Wenngleich kaum weiteres Quellenmaterial dazu überliefert ist, wird diese Annahme auch durch den musikalischen Kontakt Stralsunds zu den westlichen Hansestädten Hamburg und Lübeck gestützt, der sich spätestens seit 1148 Kite-Powell (1979), S. 12. Vgl. zur Anstellung von Substituten auch S. 236f. in der vorliegenden Arbeit. 1149 Kite-Powell (1979), S. 12. 1150 Siehe die Ausgabe von Kite-Powell (1980). 1151 Ebd., S. 60–65. 1152 Vgl. hierzu die neuesten Untersuchungen von Matthias Schneider, die zunächst auf der Musica-Baltica-Tagung in Gdańsk (Mai 2014) präsentiert wurden: Schneider (2014), Visby, sowie Schneider (2015).
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dem Ende des 16. Jahrhunderts sowohl bei der Besetzung von Organistenämtern als auch im Orgelbau manifestierte. Moritz Belitz (um 1600–nach 1637) Im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert lassen sich mehrere Musiker namens Belitz – vorrangig Organisten – in Pommern nachweisen. Ihre verwandtschaftlichen Beziehungen sind jedoch weitgehend unklar. Am bekanntesten unter ihnen ist der Stargarder Kantor Joachim Belitz1153, der 1581 wohl erfolglos sein Interesse am Stralsunder Kantorenamt bekundet hatte1154. Am Wolgaster Hof wirkte Kittler zufolge bereits um 1570 oder früher ein Organist namens Belitz1155. In Stettin erscheinen mit Jürgen und Martin Belitz im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts zwei weitere Organisten dieses Namens1156. Nach einer Notiz von Rudolf Schwartz folgte Moritz Belitz seinem Vater Georg 1621 im Organistenamt an der Stettiner Marienkirche nach1157. Seine musikalische Ausbildung hatte Belitz u. a. bei Samuel Scheidt in Halle erhalten1158. Wann genau er in die Lehre des Hallenser Organisten ging, ist allerdings unbekannt1159. Dochhorn vermutet, dass er sich in den 1620er-Jahren in Halle aufgehalten haben könnte1160. Für die von Köhler vermutete Lehre von Belitz bei Sweelinck ließen sich keine Nachweise finden1161. 1625 war der »hoff Organiste« Moritz Belitz gemeinsam mit anderen höfischen Musikern an den Leichenzeremonien für Herzog Philipp Julius von Pommern-Wolgast beteiligt und wurde vom Wolgaster Hof entsprechend mit Trauerkleidung ausgestattet1162. Ob Belitz zu dieser Zeit wirklich Wolgaster Hoforganist war oder aber als Stet1153 Joachim Belitz stammte aus Brandenburg und war dort um 1550 geboren wor-
den. Vgl. Köhler (1997), S. 482.
1154 StAS Rep 38-82 Anfrage des Kantors Joachim Belitz aus Stargard an Alexander Gilisch wegen der Besoldung der Stralsunder Kantoren 1581. Siehe auch S. 93. Der von Köhler (1997, S. 482) mit 1584 angegebene Beginn seines Amtsverhältnisses in Stargard lässt sich somit um wenigstens drei Jahre zurückdatieren. 1155 Kittler (1932), S. 100. 1156 Köhler (1997, S. 482) zufolge hatte Jürgen Belitz das Organistenamt an der Stettiner Marienkirche bis zu seinem Tod 1618 inne. Martin Belitz war ab 1629 Stettiner Hoforganist. 1157 Die Notiz befindet sich im Nachlass von Christhard Mahrenholz. Ich danke Hendrik Dochhorn für diese Information. Im Widerspruch dazu steht die Angabe Köhlers (1997, S. 482), dass ein gewisser Arnold Belitz von 1621 bis 1661 Organist der Stettiner Marienkirche war. 1158 Dochhorn (2005), Sp. 1219. 1159 Köhler (1997, S. 482) gibt an, dass Belitz 1611 Scheidtschüler war, nennt dafür jedoch keine Quellen. 1160 Dochhorn (2005), Sp. 1219. 1161 Köhler (1997), S. 76. Vgl. dazu sowohl Seiffert (1891) als auch Gerdes (1956). 1162 Vgl. LAG Rep 5 Tit. 6/7 Nr. 62, fol. 100v. Neben Belitz werden außerdem der Lautenist Michel Bergemann, die beiden Engländer Johan Corstersen (?) und Richard Farnabÿ, vier
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tiner Marienorganist zu den Trauerfeierlichkeiten nach Wolgast reiste, bleibt ungewiss. Bei seinem Stralsunder Amtsantritt 1630 übersiedelte Belitz jedenfalls von Stettin nach Stralsund. Auskunft darüber erteilt eine Kostenaufstellung für seinen Umzug1163, der sich aufgrund der Wirren des Dreißigjährigen Krieges allerdings wohl schwieriger als erwartet gestaltete. Ein erster Versuch, die Hansestadt auf dem Wasserweg zu erreichen, scheiterte und zwang ihn umzukehren1164. Die Bestallungsurkunde für Belitz datiert vom 1. September 16301165; seine erste Gehaltszahlung erhielt er im Michaelisquartal desselben Jahres1166. Das Stralsunder Amt hatte Belitz zunächst nur befristet auf ein Jahr angenommen: »in dieser bestallung :/ die er sonsten nur auff vorsuch vnd 1. Jahr, alß von Einem Johannis zum andern, angenommen«1167. In der Tat verließ er Stralsund bereits im Sommer des folgenden Jahres und kehrte anschließend offenbar als Schlosskirchenorganist nach Stettin zurück1168. Verpflichtungen gegenüber dem pommerschen Herzogshaus begründeten offenbar diesen Wechsel und die geplant kurze Amtszeit in Stralsund, denn Kittler weiß zu berichten, dass »ihn der Herzog [Bogislaw XIV.] energisch an seinen Hof zurückrief«1169. Vielleicht hatte Belitz für seine Lehre bei Samuel Scheidt in Halle ein Stipendium vom pommerschen Herzog erhalten, das ihn verpflichtete, wieder in den Dienst seines Mäzens zu treten1170.
weitere nicht näher bezeichnete Musiker (?) sowie sechs Trompeter bzw. Pauker benannt. Zur Musik bei den Bestattungsfeierlichkeiten der pommerschen Herzöge siehe auch Bugenhagen (2006), Musik bei den Bestattungszeremonien. 1163 »Zum andern dem Schipfer für Fracht, mein gerähtlein ins schiff zu Stettin bringen zu lassen, vnd waß ich die ganze reise verzehret«, AStN KK [Reisekostenrechnung Belitz, o. J.]. 1164 »[…] wie ich vergangen VorJahr [1629?] für Ostern mich Nacher Stralsundt begeben wollen, aber wegen Kriges vnd lebens gefahr nicht weiter biß vf den Ruhden vnd in die guete Stadt nicht gelangen können, sondern mich wider zurücke nacher Stettin verfugen müßen.« Ebd. Belitz erhielt 105 MS an Reisekosten. Die hohe Summe resultierte offenbar aus der zweimaligen Anreise mitsamt seiner Frau, den Kindern und seinem »haußgerehte«. Ebd. sowie AStN KR R 1/N 1 Landt Register von Ao 1612 biß Ao 1644 [1629/30], fol. 136v. 1165 AStN KK [Bestallung des Nikolaiorganisten Moritz Belitz, 1.9.1630]. Vgl. Dok. 4 im Anhang auf S. 363f. 1166 AStN KR R 1/N 1 Landt Register von Ao 1612 biß Ao 1644 [1629/30], fol. 136v. 1167 AStN KK [Bestallung des Nikolaiorganisten Moritz Belitz, 1.9.1630]. 1168 Vgl. Köhler (1997), S. 482f. Am 16. Mai 1631 hatte Belitz in Stralsund noch seinen Sohn zu Grabe getragen. AStN KR R 33a Begräbnis-Register 1629–1673 [16.5.1631]. Am 17. Juli 1631 wurde bereits ein Organist namens »Peterus« interimistisch besoldet. Vgl. AStN KR R 33a Ausgaberegister 1629–1673 [1631]. 1169 Kittler (1932), S. 101. 1170 Dass mit der Vergabe von Stipendien Verpflichtungen verbunden waren, bemerkt auch Rampe in seinen Äußerungen zu den norddeutschen Organisten im 17. Jahrhundert. Rampe (2005), S. 92.
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Bis spätestens 1637 befand sich Belitz nachweislich in herzoglichen Diensten. In diesem Jahr wird er in den Akten zur Vorbereitung der Leichenbestattung des letzten pommerschen Herzogs, Bogislaw XIV., erwähnt1171. Unklar ist, ob es sich bei dem 1640 am Berliner Hof angestellten Instrumentalisten und Kammermusikus Moritz Belitz1172 um den früheren Stralsunder Organisten handelt. Es ist durchaus vorstellbar, dass sich Belitz nach dem Tod des letzten Herzogs (1637) außerhalb Pommerns um eine Anstellung bemüht hatte. Der Berliner Hofmusiker Belitz bat am 30. September 1693 wegen seines hohen Alters um Entlassung1173 – der Stralsunder Nikolaiorganist Belitz wäre zu dieser Zeit bereits um die 90 Jahre alt gewesen. Musikalische Werke von Moritz Belitz sind nicht überliefert. Die ihm im Musikalieninventar des Stettiner Ratskantors Paul Praetorius zugeschriebene Motette von 15841174 stammt ihrem Titel nach – Cantio Gratvlatoria [...] Composita Sex Vocibus à Joachimo Belitz Mvsico et Cantore Scholae Stargardianae1175 – nicht von Moritz, sondern von dem bereits erwähnten Stargarder Kantor Joachim Belitz1176. Philipp Kaden [Caden] († 1645) Wie sein Vorgänger Belitz war auch Kaden ein Schüler von Samuel Scheidt in Halle und stand in enger Verbindung zum pommerschen Herzogshaus. Über Kadens Stralsunder Amtszeit liegen kaum Nachrichten vor. Nachweisen lässt sich der aus Wolgast stammende Organist 1615/16 in den Matrikeln der Greifswalder Universität1177. Vermutlich war Kaden um den Jahrhundertwechsel geboren worden. Seine Zeit als Diskantist am Wolgaster Hof ist jedenfalls wohl vor 1615/16 anzusetzen1178. 1624 ist Kaden als Hoforganist in Wolgast nachweisbar und wurde auf Empfehlung des pommerschen Herzogs noch im selben Jahr in die Lehre zu Scheidt geschickt1179. Wie lange er dort blieb, lässt sich nicht ermitteln. Anfang März 1632 stellte sich Kaden »auff etzliche gute leute bitten«1180 dem Probespiel zur Besetzung des Stralsunder Organistenamtes an St. Nikolai und erhielt vier Tage später, am 6. März, den Zuschlag für 1171 APS AKS I 1998 Rep 4 Pars I Tit. 49 Nr. 96: Acta des Königl. Provinzial [...] betreffend das Ableben und die Leichenbestattung Herzogs Bogislav XIV. von Pommern ae 1637 u. 1653, fol. 38. Aufgrund der politischen Umstände fand die Bestattung Bogislaws XIV. erst 1654 statt – 17 Jahre nach seinem Tod. 1172 Vgl. Sachs (1910), S. 52, 158. 1173 Ebd., S. 158. 1174 Schwartz (1925), S. 288, sowie Köhler (1997), S. 380. 1175 Vgl. Müller (1870), S. 108. 1176 Vgl. dazu auch Niemöller (1969), S. 105. 1177 Friedländer (1893), S. 425: »26. Jan. [1616] […] Philippus Cadenius, Wolgastensis«. 1178 Köhler (1997, S. 485) zufolge »vor 1624 Discantist am Hofe«. 1179 Vgl. Engel (1935), Gemeinschaftsmusik, S. 210. Als Quelle für diese Information gibt Engel die ungedruckte und heute verschollene Dissertation Willibert Müllers zur Musikgeschichte Stralsunds bis 1650 an. Vgl. außerdem Köhler (1997), S. 485. 1180 AStN KK [Bestallung des Nikolaiorganisten Philipp Kaden, 6.3.1632]. Siehe Dok. 5 im Anhang auf S. 364.
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die Stelle1181. Vielleicht war Kaden durch seinen Vorgänger Belitz nach Stralsund empfohlen worden. Sein Amtsantritt erfolgte zu Johannis 16321182; bis zu dieser Zeit versah ein Organist namens Johan Schomacker das Amt1183. Kurz nach dem Amtsantritt Kadens renovierte der Pasewalker Orgelbauer Paul Luedemann die um die Jahrhundertwende von Nicolaus Maaß erbaute Nikolaiorgel1184. 1636 heiratete Philipp Kaden Liboria Lassen1185. Das Stralsunder Organistenamt hatte er bis zu seinem Tod inne. Kaden wurde am 29. Juli 1645 in Stralsund beerdigt1186. Zwei seiner Brüder, Christian und Christoph Kaden, waren zunächst Kantoren am Wolgaster Hof und wechselten später ins Predigeramt1187. Auf den Tod Christoph Kadens († 1662) ist eine Gelegenheitskomposition des Stralsunder Nikolaiorganisten Johann Martin Rubert überliefert: Traur=Cypressen | Abbildende | Der Menschen Glückseligkeit/ | Jn einem Musicalischen Grabmahl für fünf Singstimmen (1662)1188. Rubert war nicht nur Amtsnachfolger von Philipp Kaden, sondern ehelichte auch dessen Witwe. Johann Martin Rubert (1614–1677)1189 Johann Martin Rubert wurde im November 1614 in Nürnberg geboren1190 und erhielt dort seinen ersten musikalischen Unterricht1191. Bis in die 1640er-Jahre sind nur we1181 »6.3. haben die Semptlichen her bey ein ander gewesen vnd haben den orgelisten Filip Kaden bestedigett«, AStN KR R 33a Ausgaberegister 1629–1673 [1632]. 1182 AStN KK [Bestallung des Nikolaiorganisten Philipp Kaden, 6.3.1632]. 1183 AStN KR R 33a Ausgaberegister 1629–1673 [24.3.1632; Ostern 1632]. 1184 Siehe S. 277. 1185 AStN KR R 19/N 6 Paetzken Register 1613–1654 [1635/36], fol. 57, und Schubert (1987), Nr. 2991. 1186 AStN KR R 33a Begräbnis-Register 1629–1673 [29.7.1645]. 1187 Köhler (1997, S. 485) zufolge war Christoph Kaden von 1613 bis 1619 »Cantor und Director des Chori musici« am Wolgaster Hof und wechselte 1619 ins Predigeramt nach Wusterhusen. Christian Kaden lässt sich 1623 als Sänger und Kantor in Wolgast nachweisen; 1627 übernahm auch er ein Pastorat in Ueckermünde. Davon abweichend berichtet Petri Henning Müller (StAS Hs. 826, pag. 332) in seinen Geographisch historischen Nachrichten von der Stadt Wolgast, dass Christian Kaden 1614 Kantor wurde und 1620 ins Wusterhusener Predigeramt wechselte. Vermutlich liegt hier eine Namensverwechslung (Christian/Christoph) vor. 1188 Siehe das Werkverzeichnis Ruberts im Anhang auf S. 390–394 sowie einen Abdruck und eine Übertragung der Komposition, bei der es sich im Übrigen um ein Musikbild handelt, bei Tenhaef (2000), S. 117 und 215. 1189 Vgl. zu Rubert auch Bugenhagen (2005) und dies. (2006), Rubert. 1190 Der Taufeintrag im Kirchenbuch von St. Sebald lautet: »Rupert, Hans Martin, Sohn von Hans Endres Rupert und Anna Maria, getauft Nürnberg 11.11.1614«. Kirchenbuch St. Sebald Nürnberg 1614, S. 174. Für diese Auskunft danke ich dem Landeskirchlichen Archiv in Nürnberg. 1191 Mattheson (1740/1910), S. 463. Im Vorwort zu seiner Musicalischen Seelen Erquickung (1664) schreibt Rubert: »Dann du du Edles Nürnberg hast mich gebohren/ und in der Musi= | kalischen Kunst aufferzogen/ deß danck ich dir weil ich lebe.«
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nige Nachrichten aus dem Leben des Musikers überliefert. Auf dem Titel seiner Friedens=Frewde (1645) bezeichnet sich Rubert als »Gewesener Fürstlicher Markgrefflicher MUSICUS | Hofforganist vnd Kammerdiener zu Plassenburg | in Voigtland«1192. Am Hofe Markgraf Christians von Brandenburg-Bayreuth ist zuvor auch Johann Staden nachweisbar (seit 1605)1193. Vielleicht war Rubert bereits in Nürnberg ein Schüler des Sebaldusorganisten Staden gewesen und von diesem nach Kulmbach vermittelt worden1194. Wann genau Rubert auf die Plassenburg kam und wie lange er dort blieb, ist heute unbekannt. Spätestens 1644 befand er sich in Hamburg und bemühte sich von dort aus um eine Anstellung am Hofe Herzog Augusts in Wolfenbüttel, dies allerdings wohl vergeblich1195. Eine Widmung seiner Friedens=Frewde an den Grafen Anton Günther lässt auf Anstellungsabsichten Ruberts auch am Oldenburger Hof schließen1196. Ende 1645 wurde Rubert schließlich Organist am Hamburger Waisenhaus1197, wo ihm allerdings lediglich ein Positiv zur Verfügung stand1198. In Hamburg knüpfte er Kontakte zu den bekannten Spracherneuerern und Dichterkreisen sowie zu Vertretern der sogenannten Hamburger Liederschule. Während Ruberts Hamburger Zeit entstanden die erst 1647 in den Druck gegebenen zwanzig Musicalischen ARJEN für zwei bis drei Vokalstimmen, zwei bis drei Instrumente und Generalbass auf Texte von Philipp von Zesen, Paul Fleming oder Gottfried Finckelthaus, die sich hinsichtlich ihrer Besetzung und ihrer musikalischen Anlage (strophisch mit variierten Instrumentalritornellen bis durchkomponiert1199) allerdings vom schlichten Liedideal der Hamburger Schule abheben. Eine weitere Zesen-Vertonung Ruberts für nur eine Singstimme findet sich in Filip Zesens | dichterische[n] | Jugend=Flammen (Hamburg 1651). 1192 1193 1194 1195
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Vgl. den Titel im Werkverzeichnis auf S. 390. Röder (2006), Sp. 1261. Staden starb allerdings schon 1634. Ebd. In Wolfenbüttel waren zu dieser Zeit der Kapellmeisterposten (zuvor besetzt durch Stephan Körner) sowie einige weitere Musikerstellen vakant. Rubert schreibt: »[...] was maßen mir von guter handt auß Braunschweig berichtet, daß Ihr Fürstl. Gnad zu Wolffenbüttel zulengst ihren Capellmeister, und dero andere Musicanten abgedanket«, zit. nach Geck (1992), S. 59. Vgl. zu Wolfenbüttel auch Ruhnke (1998), Sp. 2053. Die Widmung ist nur in dem im Niedersächsischen Staatsarchiv Oldenburg (D-OLns) überlieferten Exemplar enthalten. Vgl. auch das Werkverzeichnis auf S. 390. Vgl. die entsprechenden Rechnungsbücher im Staatsarchiv Hamburg (D-Ha), Bestand 354-1 (Waisenhaus), Sign. I B I 13 i (Jahresrechnungsbuch 1645–1651). Mein Dank für die Auskünfte zu Ruberts Hamburger Amtszeit gilt Jürgen Neubacher, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Krüger (1933), S. 179f. Braun (1996), S. 67. Vgl. dazu auch Bugenhagen (2006), Rubert. Ruberts Arien erfreuten sich einiger Beliebtheit und waren Schering (1926, S. 358) zufolge auch in Leipziger Studentenkreisen bekannt. Im Vorwort seiner Musicalischen Seelen Erquickung (1664) gibt Rubert im Übrigen auch einen Aufenthalt in Leipzig an, der sich allerdings nicht näher bestimmen lässt: »Das Gelahrte Leipzig hat mir nicht weniger Liebes und Gutes erzeiget/ welches danckwürdig und von mir unvergessen bleibet.«
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Auf freundschaftliche Beziehungen zu Johann Rist lässt ein später von dem Wedeler Pastor verfasstes Lobgedicht auf den Organisten Rubert schließen1200, in dem Rist einen »zerstreuten Musenhauff« in Hamburg und den Weggang des Musikers nach Stralsund beklagt: »Wenn kömt der liebe Tag/ daß ich dich einmahl sehen/ Und wiedrum hören mag du Nürnberger Schwaan/ Als wol vor dieser Zeit ist manchen Tag geschehen Wenn du mit Freuden pflagst zu springen auff den Plaan Da nichts als Lautenklang/ als Instrument und Geigen/ Als Flöten und Pandor mit Lust ward angehört/ […] Ja wol! Die Zeit ist hin. Mir wil fast nichts mehr klingen/ Denn unser Musenhauff ist mehrentheils zerstreut/ Das Manliche Strahlsund hört meinen Rubert singen/ Der mir Hertz Seel und Sinn so vielmahls hat erfrewt/ […].«1201
Von großer Bedeutung für Ruberts Wirken als Organist dürften seine Kontakte zu dem Hamburger Katharinenorganisten Heinrich Scheidemann gewesen sein, der ihn 1646 nach Stralsund empfohlen hatte: In einem Schreiben wegen der Besetzung des Orgeldienstes an St. Nikolai heißt es, »das die Von H Scheidemann recomentirte Person Je Ehe ie lieber herüber komme«1202. Ruberts Amtsantritt in Stralsund erfolgte zu Ostern 16461203. Im Mai desselben Jahres heiratete er Liboria Kaden, geb. Lassen, die Witwe seines Vorgängers Philipp Kaden. 1671 ging er nach dem Tod seiner Ehefrau eine zweite Ehe mit Anna Schnell ein, der Tochter eines Seidenhändlers1204. 1650 reiste Rubert u. a. in Begleitung zweier Stralsunder Diskantisten nach Stockholm zu den Krönungsfeierlichkeiten für Christina von Schweden1205, wo er u. a. auf den schwedischen Hofkapellmeister Anders [Andreas] Düben d. Ä. sowie vermutlich auch auf dessen Sohn Gustav Düben d. Ä. traf. Eine Berufung nach Hamburg lehnte der Organist 1655 ab, wie einem Schreiben an die Provisoren von St. Nikolai zu ent1200 Enthalten in Ruberts Musicalischer Seelen Erquickung von 1664. 1201 Siehe das vollständige Gedicht im Anhang auf S. 383. 1202 AStN KK [Schreiben wegen der Besetzung des Organistenamtes an St. Nikolai, 20.2.1646]. Vermutlich war Rubert ein Schüler Scheidemanns; allerdings führt Dirksen (2005, Sp. 1209) ihn in diesem Zusammenhang nicht auf. 1203 Die Bestallungsurkunde Ruberts datiert vom 24. März 1646. Sein Amtsantritt erfolgte »negst künfftige Ostern«, AStN KK [Bestallung des Nikolaiorganisten Johann Martin Rubert, 24.3.1646]. Vgl. Dok. 7 im Anhang auf S. 367. 1204 Schubert (1987), Nr. 3004 und 3044. 1205 Kjellberg (1979), S. 176–185. Neben Rubert und den beiden Diskantisten reiste Tobias Hönow aus Stralsund mit. Ob Hönow auch Musiker war, ist unklar. Vgl. zur Stralsunder Gesandtschaft auch den Beitrag von Möller (2011), in dem die Musiker allerdings nicht erwähnt werden.
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nehmen ist: »Da ich Ao 55 nacher Hamburg verschrieben wortten, welches Herrn Bürgermeister Schwartzen, und Herrn Johan Hagemeistern, als noch in leben, wisent.«1206 Während seinen Hamburger Arien von 1647 schäferliche Liebespoesie zugrundeliegt, schrieb Rubert in den Folgejahren in Stralsund vorrangig geistliche Musik. Hervorzuheben ist die 1664 erschienene Musicalische Seelen Erquickung, eine Sammlung von zwölf kleinbesetzten geistlichen Konzerten für ein bis vier Vokalstimmen, Instrumentalensemble (zumeist fünf Streicher) und Generalbass. Ruberts Hinweise auf variable Besetzungsmöglichkeiten bei der Aufführung der Konzerte resultieren dabei vermutlich aus den musikalischen Verhältnissen in Abbildung 5: Johann Martin Rubert – Stralsunder NikoStralsund: »bey etlichen wo si laiorganist von 1646 bis 1677 placet stehet, können selbe Partheyen nach gutdüncken aussen bleiben«1207. Ein im Frankfurter Messekatalog von 1650 bezeugtes Instrumentalwerk Ruberts für zwei Instrumentalstimmen und doppelten Generalbass ist heute verschollen1208. Neben den genannten umfangreichen Sammlungen komponierte Rubert mehrere Gelegenheitswerke, die seine engen Kontakte zu einflussreichen politischen Personen in und um Stralsund bezeugen1209. 1660 etwa erschienen sein Trawr= und Klag=Lied »O grosser GOTT/ sieh’ von der Sternen Zinne« sowie das Trost=Lied »WAs steht erstarrt 1206 Supplikation Ruberts um eine Gehaltserhöhung an die Provisoren von St. Nikolai. AStN KK [Schreiben Johann Martin Ruberts an das Provisorat von St. Nikolai, 15.12.1672]. 1207 Vgl. das Vorwort der Musicalischen Seelen Erquickung sowie auch Bugenhagen (2006) Rubert, S. 146. 1208 Göhler (1902/1965), Tl. 2, S. 71. Siehe den Titel im Werkverzeichnis auf S. 394. 1209 Auf gute Kontakte des Organisten zu Rat und Bürgerschaft in Stralsund verweist Mattheson (1740/1910), S. 299: Rubert sei »von den vornehmsten Standespersonen der Stadt […] so geehret worden, daß sie um seiner Musik willen ihn, sonderlich im Sommer, offt besuchet, und sich in seinem Garten mit einander lustig gemacht haben«.
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und weinet Jhr« anlässlich der Greifswalder Trauerfeier für den schwedischen König Karl X. Gustav. Während die Melodie und die Instrumentalritornelle des Trawr= und Klag=Lieds wohl eindeutig auf Rubert zurückgehen, handelt es sich beim Trost=Lied offenbar um ein gemeinsames Werk mit dem schwedischen Feldmarschall und Generalgouverneur von Schwedisch-Pommern Carl Gustav Wrangel. Rubert steuerte hier wohl lediglich die Instrumentalritornelle bei, während die Melodie aus der Feder Wrangels stammen könnte1210. Durch Wrangel, für den übrigens genau zu dieser Zeit ein dreistöckiges barockes Palais in der Heilgeiststraße in Stralsund errichtet wurde1211, erhielt Rubert vermutlich auch einen weiteren Kompositionsauftrag zur Erbhuldigung der pommerschen Landstände gegenüber dem schwedischen König in Wolgast, für die Rubert 1663 seinen Glückwünschenden Zuruff schrieb1212. Dass auch der Kontakt zu dem Lübecker Orgelbauer Friedrich Stellwagen, der seit etwa 1653 in Stralsund zwei neue Orgeln errichtete, auf Rubert zurückging, ist anzunehmen1213. Rubert blieb bis zu seinem Tod 1677 Organist an St. Nikolai1214.
Abbildung 6: Titelbild der Generalbassstimme in Ruberts Musicalischer ARJEN Erster Theil (1647)
1210 Vgl. dazu Moberg (1942), Asmus (2000) sowie die im Originaldruck (heute in: S-Sk Sign. F1700 Fol. Br. 140, vgl. das Werkverzeichnis) erhaltene genaue Beschreibung der Greifswalder Feierlichkeiten, die neben den beiden Gesängen auch Angaben zu ihrer Aufführungspraxis enthält. 1211 Das Gebäude ist heute nicht erhalten. 1212 Als Generalgouverneur von Schwedisch-Pommern war Wrangel für die Ausrichtung der Erbhuldigung zuständig. Vgl. zu Ruberts Glückwünschendem Zuruff auch Bugenhagen/ Schneider (2010), Erbhuldigung. 1213 Vgl. S. 282f. 1214 AStN KR R 34 Begräbnisregister 1654–1693 [24.5.1677], fol. 581.
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Ein Kupferstich auf dem Titelblatt zu Ruberts Musicalischer ARJEN Erster Theil von 1647 vermittelt einen Eindruck von der Aufführung der Arien etwa in einem privaten Musizierkreis. Unter dem Motto »Musica noster amor« musizieren acht Musiker – sechs Instrumentalisten (zwei Geigen, zwei Lauten, eine Gambe, ein Clavichordspieler) sowie zwei Sänger – unter der Leitung einer neunten Person, bei der es sich um Rubert selbst handeln könnte. Johann Röhle († 1683) Johann Röhle lässt sich zwischen 1662 und 1668 zunächst als Organist der Stralsunder Johanniskirche nachweisen. 1662 bewarb er sich außerdem um den Organistenposten am Heilgeisthospital1215. 1677 wurde er Nikolaiorganist und am 17. Dezember 1683 in Stralsund begraben1216. Gottfried Rehberg (1662–1703) Gottfried Rehberg wurde am 12. August 1662 als Sohn des Organisten Jacob Rehberg in Stettin geboren1217. Von 1680 bis 1681 war er Interimsorganist am Camminer Dom und wurde wohl 1682 Organist an St. Jakobi und St. Johannis in Stettin. 1684 wechselte er in das Amt des Nikolaiorganisten in Stralsund, wo er bis zu seinem Tode blieb. Von Rehberg stammen fünf der zehn Generalbasslieder in Jacob Wolfs Feuer= Und Schwerdt=Bühne (Stralsund 1692), einem fünfaktigen Schulschauspiel, das am 25. Juni 1692 durch 29 Primaner der Lateinschule szenisch aufgeführt wurde1218. Unter den Melodien, die Rehberg zugeschrieben werden, findet sich auch die des Türkenkriegsliedes »Dorindgen, weine nicht«, das textlich allerdings nur in der ersten Strophe mit dem im Schauspiel enthaltenen Lied »Prusille, weine nicht« übereinstimmt1219. Die als 1215 Vgl. StAS Rep 9-195 Acta des Klosters zum Heiligen Geist in Stralsund, betreffend den Organisten 1662 [5.5.1662] sowie Rep 3-1818 Senatus. Klage und Appellation des Orgelbauers Johannes Preen (Prehn) aus Richtenberg und seiner Witwe Maria Schmolts gegen den Organisten der Nikolaikirche zu Stralsund, Martin Rubbert, auf Zahlung rückständigen Arbeitslohnes und wegen schwerer Beleidigungen 1667–1675 [21.9.1668]. Im September 1668 wurde Röhle in seiner Funktion als Johannisorganist als Zeuge zu den genannten Streitigkeiten zwischen Preen und Rubert befragt. 1216 AStN KR R 34 Begräbnisregister 1654–1693 [1677/78 sowie 1683/84]. 1217 Vgl. zu den biographischen Informationen AStM GN (Ordner »R«) und Praetorius (1905/06), Mitteilungen, S. 239. Jacob Rehberg war seit 1661 Organist an St. Peter und Paul in Stettin. 1218 Vgl. dazu auch Anm. 1011 auf S. 178. Im Notenanhang des Druckes befinden sich zehn Generalbasslieder für Sopran & B. c.: »Ordnung der Melodeyen zu den vorkommenden Arien/ worunter Herr Gottfried Rehberg/ wolbestalter und Berühmter Organist zu St. Nicolai zu Stralsund/ die 3.4.5.6.7te gesezzet.« Vgl. auch Zober (1858), S. 98–101, sowie Scheitler (2013), S. 907–912. Die Namen der Primaner erscheinen im Druck; viele von ihnen hatten zwei oder sogar drei Rollen zu spielen. Zober (1858), S. 42; Wolf, Feuer= Und Schwerdt=Bühne (1692), in: D-GRu 523/ Ob 581 1 + 2, S. 20–23 und 32–34. 1219 Vgl. Scheitler (2013), S. 907–912. Bei den anderen Gesängen Rehbergs handelt es sich um »Muster der Vortreffligkeit, Irdische Göttinne« (Nr. 4), »Süsse Freyheit, Edler Stand, selbst
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Ritornelle zwischen den Strophen, als Zwischenmusik und bei den »Verthönungen«1220 angeführten Symphonien sind nicht notiert. Daniel Rehberg (1667−1738), ein Bruder des Stralsunder Organisten, war zunächst Organist und Rektor der Stadtschule in Demmin1221, wurde 1718 Subrektor an der Stettiner Ratsschule und 1721 Gertrudenorganist in Stettin1222. Christoph Raupach1223 Nachfolger Gottfried Rehbergs an der Stralsunder Nikolaikirche wurde 1703 der aus Tondern in Schleswig-Holstein stammende Christoph Raupach (1686–1744/1758?1224), ein Schüler Georg Bronners in Hamburg. Raupach hinterließ eine Reihe musikalischer und musiktheoretischer Werke: geistliche und weltliche Kantaten, Oratorien, Klavierund Kammermusik1225; Mattheson gab einige der Schriften Raupachs heraus. Seit 1710 fantasierte Raupach, wie Mattheson berichtet, zum Ausgang vermutlich des Vespergottesdienstes am Sonntagnachmittag über Choraltexte, die er vorher austeilen ließ und deren Affekte er musikalisch umzusetzen suchte1226. Die Söhne Christoph Raupachs, Gerhard Christoph und Hermann Friedrich, waren ebenfalls bedeutende Musiker und Komponisten1227.
Die Organisten an St. Marien1228 Amtszeit 1547–1565/66 1566–1568 1570–1571 1572–1578 1579–1589
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1221 1222 1223 1224 1225 1226 1227 1228
Organist Kaspar Liste1228 Nikolaus Holsten Johannes Papa Eberhard Westenhausen Hermann Ebel
dem Himmel anverwand« (Nr. 5), »Hat Cupido seinen Bogen Je mit Grausamkeit gestählt« (Nr. 6) und »Himmel, biete du die Wache deiner Seraphinen auff« (Nr. 7). Dabei handelt es sich um eine Art Pantomime oder lebende Bilder, mit denen die Inhalte einzelner Szenen dargestellt werden: »[…] mit 70. vorhergehenden Præsentationen, oder so genanten Verthönungen: worinnen das gantze Werck und die vorkommende ZwischenScenen in einer stummen Abbildung und unbeweglichen Postur mit sonderbahrer grace vorgestellet werden.« Wolf, Feuer= Und Schwerdt=Bühne (1692), S. 35. Freytag (1936), S. 60f., und Praetorius (1905/06), Mitteilungen, S. 205. Freytag (1936), S. 60f. Vgl. zu Raupach Mattheson (1740/1910), S. 282–290, und Weiss (2005). Die Sterbedaten in der Literatur variieren. Vgl. Weiss (2005), Sp. 1317. Praetorius (1905/06, Mitteilungen, S. 239) zufolge blieb Raupach bis 1758 im Amt. Sein musikalisches Werk blieb zum größten Teil handschriftlich und ist heute nahezu vollständig verloren. Vgl. Mattheson (1740/1910), S. 286–290, und Weiss (2005), Sp. 1318. Mattheson (1740/1910), S. 287. Mattheson spricht in diesem Zusammenhang von »Allusiones«. Weiss (2005), Sp. 1318f. Vgl. zu Kaspar Liste die Ausführungen auf S. 189f.
Das Stralsunder Organistenamt 1592–1605 1607–1629 1630–1633 1635 (?)–1646 1646–1682 1682–1709 (?)
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Paul Harder Nikolaus Petersen Hinricus Olphenius Johann Vierdanck Daniel Schröder Andreas Schick
Tabelle 17: Amtszeiten der Marienorganisten
Nikolaus [Clawes] Holsten [Holste] Nikolaus Holsten wird für 1566 und 1568 in den Rechnungsbüchern der Marienkirche als Organist erwähnt1229. Weitere Informationen liegen nicht vor. Johannes [Hans] Papa [Pape] Johannes Papa war von 1570 bis 1571 Stralsunder Marienorganist1230. Zuvor wirkte er an St. Petri in Lübeck (1568/69)1231 und lässt sich 1586 wiederum dort als Organist an St. Aegidien nachweisen1232. Wo Papa sich zwischen 1571 und 1586 aufgehalten hat, ist unbekannt. Eberhard Westenhausen [Westenhusen] Eberhard Westenhausen stammte – wie auch seine Brüder Mauritio und Lubbert – aus dem niederländischen Elburg/Gelderland. Er war von 1572 bis 1578 Stralsunder Marienorganist1233. Der Sneeker Orgelbauer Fabian Peters errichtete in den 1570er-Jahren, vermutlich während der Amtszeit Westenhausens, eine neue Orgel in St. Marien1234. Die Nachfolge Westenhausens offerierte man 1579 übrigens dem Rostocker Jakobiorganisten Antonius Mors (um 1555–1619)1235. Mors war ein Nachkomme der gleichnamigen Antwerpener Orgelbauer- und Organistenfamilie und von 1573 bis 1229 Vgl. StAS Rep 28-636 St. Marien Michaelis-Register 1530–1576 [1568]; Rep 28-638 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1566–1608 [1566]; Rep 28-639 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1552–1609 [1566]. 1230 Vgl. die Einträge zu Papa in: StAS Rep 28-638 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1566– 1608 [1570, 1571]; Rep 28-639 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1552–1609 [1570, 1571]. 1231 Stahl (1952), S. 33. 1232 Ebd. 1233 StAS Rep 28-639 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1552–1609 [1572–1578]. Vgl. außerdem die Ausführungen zu Mauritio und Lubbert Westenhausen auf S. 191f. 1234 Siehe dazu S. 275f. 1235 »Inn diesem 1579 Jahre, Einem Orgenisten van Rostock Anthonius Mors/: die etwan, dorch guder lude anforderunge, vp der kercken vnkosten, mochte anher beschieden sin, dat men densuluig, vor einen Orgenisten annehmen scholde, Tho aflegginge dessuluigen vp 3 weken, ehm in bedencken vnd thobeantwerdende gestellet mit ehm gehandelt am 30 Juny vnd 3 daler gegeuen 12 MS«, StAS Rep 28-639 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1552–1609 [1579].
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1613 Jakobiorganist in Rostock. Er pflegte enge Beziehungen zum Güstrower Hof1236. Das Stralsunder Amt übernahm er nicht, sondern blieb bis zu seinem Tod 1619 in Rostock1237. Hermann Ebel [Ebelius/Äbel/Aebel] († 1616) Hermann Ebel war ein Sohn des Lübecker Marienorganisten David Ebel. Nach seiner Stralsunder Amtszeit (1579–15891238) wechselte Hermann Ebel 1590 als Petriorganist nach Lübeck, wohl in erster Linie aus finanziellen Gründen. Neben dem Organistenamt war ihm dort der Werkmeisterdienst versprochen worden, den er bei Amtsantritt jedoch nicht bekam1239. In Lübeck war Ebel zugleich Ratsmusikant und Spielgreve1240. Er wurde 1611 Lübecker Marienorganist und verstarb 16161241. Paul Harder († 1623) Vor seiner Stralsunder Amtszeit (1592–1605)1242 war Harder Organist an der Greifswalder Marien- und Jakobikirche1243. Auch nach seiner Stralsunder Zeit lässt er sich 1605 wiederum in Greifswald nachweisen1244, wo er das Organistenamt an St. Nikolai bis zu seinem Tod innehatte. 1616 beklagte Harder seine finanzielle Notlage und wandte sich Hilfe suchend an Philipp Julius, Herzog von Pommern-Wolgast. Aus den folgenden Jahren (bis 1620) sind mehrere Schreiben des pommerschen Herzogs sowie der Wolgaster Räte überliefert, in denen das Provisorat der Greifswalder Nikolaikirche immer wieder zu einer 1236 Kongsted (2011), S. 223–226. Siehe dort (S. 225, Anm. 21) auch weitere Literatur zu Mors. 1237 1593 wurde Mors offenbar auch das Amt des Lübecker Marienorganisten angeboten. Mors ging jedoch nicht nach Lübeck, da ihn »die Rostocker nicht ziehen ließen«, Edler (1982), S. 158. Von Mors sind mehrere Kompositionen überliefert. Vgl. Daebeler (1966), S. 164–168, Kongsted (1995), S. 86–89, sowie ders. (2011), S. 223–226. 1238 StAS Rep 28-639 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1552–1609 [1579–1589]. 1239 Ebel klagte daraufhin selbstkritisch: »Es gehet mir nun leider gleichwie dem Cani Aesopico (dem Hunde in der Fabel des Äsop), der vbers waßer schwimmend, das im Maull habendes stück fleisches fahren lest vnd nach dem größeren schatten schnapfet, daruber ehr beides verlohr«, zit. nach Stahl (1952), S. 33. Zugesprochen wurde Ebel eine Gehaltserhöhung; 1594 erhielt er schließlich auch das Werkmeisteramt, erwies sich dafür jedoch als ungeeignet und gab den Posten wieder auf. Ebd. 1240 Ebd. 1241 Vgl. Hennings (1951), S. 19, und Stahl (1952), S. 71. 1242 Harder wird im Register der Marienkirche als Organist erwähnt: StAS Rep 28-639 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1552–1609 [1592–1605]. 1243 StAG Rep 3-146 St. Marien Kirchenbuch Bd. 2: 1561–1592 [1582/83], fol. 315v; Rep 3-147 St. Jakobi Rechnungen Bd. 1: 1569–1623 [1581/82], fol. 124v, und ebd. [1591/92], fol. 176v. Unklar bleibt die Angabe von Giese (AStM GN »Die Greifswalder Organisten«/»St. Marien-Kirche«), dass Harder seine letzte Gehaltszahlung an St. Marien in Greifswald erst 1597 erhielt. Gemeint ist hier wahrscheinlich 1592, da Harder sich im selben Jahr bereits in Stralsund befand. 1244 Vgl. Funck (2009), S. 228.
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Gehaltserhöhung für Harder angehalten wurde, was für die Reputation des Organisten spricht1245. Giese zufolge hatte Harder bereits 1615 eine Philipp Julius gewidmete Komposition in den Druck gegeben, die der Organist wegen der zu dieser Zeit herrschenden Pest jedoch nicht persönlich überbringen konnte1246. Offenbar also pflegte Harder eine enge Beziehung zum pommerschen Herzogshaus. Nikolaus Petersen († 1629) Ob zwischen den Nikolai- und Marienorganisten Bernhard und Nikolaus Petersen verwandtschaftliche Beziehungen bestanden, ist unbekannt. Petersen war von 1607 bis 1629 Stralsunder Marienorganist1247. Weitere Informationen zu seiner Person liegen nicht vor. Er verstarb im Pestjahr 1629 wie auch seine Frau und mindestens eines seiner Kinder1248. Hinricus Olphenius († 1633) Hinricus Olphenius war zunächst Kammerschreiber des pommerschen Herzogs Philipp Julius am Wolgaster Hof und war dort mitunter wohl auch als Organist tätig. Sophia Hedwig von Braunschweig-Wolfenbüttel, Mutter des Pommernherzogs, empfahl ihn nach dem Tod Paul Harders 1623 für das Organistenamt an St. Nikolai in Greifswald1249. Vermutlich hatte Olphenius auch in Loitz, am Witwensitz Sophia Hedwigs, Orgeldienste geleistet1250. Von 1630 bis 1633 lässt sich Hinricus Olphenius als Stralsunder Marienorganist nachweisen1251. Während dieser Zeit wurde die Orgel der Kirche 1245 StAG Rep 5-6619. 1246 Funck (2004), S. 321. Offenbar handelte es sich um eine achtstimmige Motette. Köhler (1997), S. 410. 1247 StAS Rep 28-639 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1552–1609 [1607, 1608]; Rep 28-639a Rechnungsbuch der Marienkirche 1603–1613 [1610–1612]; Rep 28-641a Einnahmen und Ausgaben der Marienkirche 1611–1692 [1612–1629]. 1248 StAS Sterberegister. 1249 »Wie nun für andern zu solcher bestallunge Ehrsamen Vnsers herzlieben hern Sohns Cammer schreiber vnndt lieben Getrewen Henricum Ollphenium gehrn befordert wissen mochte. Angesehenn seines vffrichtigenn Wandels auch bey Ihmb tragender Kunst halber Er Vnß gnugksamb bekandt [...] Allß wollen wir Euch hirmitt gemelten Gesellen Henricum Olphenium in gnaden commendiret habenn [...] vnndt begehren, Ihr wollet Ihn zu erster ewre gelegenheit zur Probe vffstellen, Vnndt allß Wir Vnnß an seiner Kunst vnnd das Er solchemWergke gnugsamb gewachsen Ja auch mit componiren musiciren vnd andern Instrumentalischen Kunsten der Jugendt nützlich vnndt vhor sein kan gantz keinen Zweifel machen, für andern zu dem dienst befordern vndt auff nehmen.« StAG Rep 5-6619 [10.10.1623]. Philipp Julius (1584–1625) war Sohn Ernst Ludwigs von Pommern-Wolgast (1545–1592) und seiner Frau Sophia Hedwig (1561–1631), deren Witwensitz sich in Loitz befand. In den Unterlagen zur Bestattung der Pommernherzöge Ulrich (1622) und Philipp Julius (1625) wird Olphenius als Kammerschreiber aufgeführt. Vgl. LAG Rep 5 Tit. 6/7 Nr. 57e Acta [...] betr. das Ableben und die Leichenbestattung Herzogs Ulrich von Pommern 1622, fol. 27, 57ff., und ebd. Nr. 62, fol. 96. 1250 Köhler (1997, S. 504) berichtet, dass Olphenius 1623 Organist in Loitz war. 1251 StAS Rep 28-641a Einnahmen und Ausgaben der Marienkirche 1611–1692 [1630].
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durch den Pasewalker Orgelbauer Paul Luedemann umfassend renoviert1252. Er starb am 21. Januar 1633 in Stralsund1253. Johann Vierdanck1254 (1605–1646) Johann Vierdanck wurde am 5. Februar 1605 in Jessen an der Elster getauft und vermutlich am Tag zuvor geboren. Sein Vater Hans war »Orgelmacher und Tisch[l]er«, seine Mutter stammte aus der Wittenberger Buchbinderfamilie Barnutius1255. Wann genau Vierdanck an den Dresdner Hof kam, ist unbekannt. Namentlich genannt wird er als »[g]roßer Knabe« und Instrumentalschüler von Wilhelm Günther erstmals 1625 in einem Verzeichnis der Dresdner Kapellknaben1256. Dass Heinrich Schütz 1616 in seinem Brief an Christoph von Loß auf Schleinitz, in dem er einen »Johannes« als »feinen und sittsamen Menschen« bezeichnet, der »in der Composition gar einen guten und fundamental[en] anfang gemacht« habe1257, wirklich über Johann Vierdanck schrieb, lässt sich aufgrund der Aktenlage nicht sicher bestimmen1258. Daher ist auch die in der Literatur1259 vermutete Ausbildung Vierdancks beim Dresdner Kapellmeister Heinrich Schütz keineswegs gesichert. Allerdings empfahl dieser ihn 1627 und noch einmal 1628 für ein Studium bei dem Zinkenisten und Komponisten Giovanni Sansoni in Wien, schrieb aber auch hier nur von »Wilhelm Günthers Knaben«1260. Das Gesuch um die instrumentale Weiterbildung blieb leider erfolglos, was 1629 dazu führte, dass Vierdanck den Dresdner Hof enttäuscht in Richtung Norden verließ1261. Von September 1631 bis Johannis 1632 hielt er sich als Musikant – wohl als Violinist – am Hofe Johann Albrechts II. in Güstrow auf1262. Nach dieser Zeit war Vierdanck vermutlich auf der Suche nach einer Anstellung und, wie er im zweiten Teil seiner Instrumentalwerke (1641) berichtet, dabei auch in Kopenhagen und Lübeck unterwegs. Hier schloss er Bekanntschaft mit dem Lübecker Geiger und Zinkenisten Nicolaus Bleyer, dem Hamburger Geiger Johann Schop d. Ä. und dem am dänischen Hof tätigen Geiger und Zinkenisten (Georg) Friedrich Hoyoul, denen er den Band gewidmet hat. Dass auch Vierdanck sich 1634 anlässlich der von Schütz musikalisch betreuten Hochzeitsfeierlichkeiten am dänischen Königshof aufgehalten hat1263, kann zwar vermutet, 1252 Siehe S. 277f. 1253 StAS Hs. 377 Todten Register von S. Marien Kirche 1629–1685, fol. 51v, 54v. 1254 Vgl. zu Vierdanck Weiss (1956), Bugenhagen (2006), Vierdanck, und die neuesten Erkenntnisse von Köhler (2010). 1255 Köhler (2010), S. 401. 1256 Ebd., S. 403. 1257 Zit. nach Müller (1931), S. 40. 1258 Vgl. auch dazu Köhler (2010), S. 402. 1259 Vgl. u. a. Weiss (1956), S. 8–12; Prost (1996), S. 2. 1260 Köhler (2010), S. 404. 1261 Vgl. ein Schreiben des Musikers von 1629 ebd. 1262 1632 wurde ihm Saitengeld bewilligt. Vgl. Meyer (1919), S. 22f. 1263 Die Hochzeit von Christian von Dänemark, dem Sohn Christians IV., mit Magdalena Sibylle von Sachsen wurde mit großem Prunk gefeiert. Vgl. dazu Wade (1996).
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aber bisher nicht belegt werden. Jedoch waren auch Schop und Hoyoul musikalisch an den Festivitäten beteiligt1264. Darüber hinaus könnte Friedrich Hoyoul, der vermutlich mit dem Stralsunder Kunstpfeiffer Balduin Hoyoul verwandt war1265, Vierdanck nach Stralsund empfohlen haben1266. In Stralsund ist Vierdanck erstmals 1635 nachweisbar1267; spätestens 1637 wurde er Organist an St. Marien1268. 1643 verfasste er für den Stralsunder Kunstpfeifer Dieterich Hilmer Hoyoul ein Hochzeitskonzert (Ich freue mich im Herrn)1269. Weiterführende Informationen zu seiner Stralsunder Amtszeit gibt es kaum, abgesehen von einigen musikalisch unbedeutenden Einträgen im Bauregister der Kirche1270. Vermutlich sind etliche Dokumente zum Kirchenpersonal und damit auch zu Vierdanck bereits beim Brand der Marienkirche am 10. August 1647 vernichtet worden. Vierdancks 1643 geäußerter Wunsch, Stralsund zu verlassen, blieb offenbar unerfüllt1271. Johann Vierdanck hinterließ sowohl vokale als auch instrumentale Werke1272, die sich offenbar auch außerhalb Stralsunds großer Beliebtheit erfreuten1273. Mattheson 1264 1265 1266 1267
Ebd., S. 243, 248. Zu Balduin Hoyoul siehe S. 304. Das vermutet auch Köhler (1999), S. 71, Anm. 30. 1635 heirateten Sophie Elisabeth von Mecklenburg und August der Jüngere, Herzog zu Braunschweig-Lüneburg und Fürst von Braunschweig-Wolfenbüttel. An den Feierlichkeiten in Güstrow war Vierdanck als »Musicant aus Strallsund« beschäftigt. Er komponierte ein Hochzeitskonzert (Mein Freund komme) zu dieser Hochzeit, das 1643 Eingang in den zweiten Teil seiner Geistlichen Konzerte fand. Vgl. Weiss (1956), S. 22. Außerdem wird Vierdanck im April 1635 als Pate bei dem Stralsunder Magister Johannes Hilliger erwähnt. Köhler (1999), S. 67. Eine Kennzeichnung als Organist fehlt in beiden Fällen. 1268 Vgl. den Titel von Vierdancks Instrumentalwerken (1637) auf S. 396. 1637 gab es außerdem umfangreiche Arbeiten am Organistenhaus der Stralsunder Marienkirche. AStM KR Einnahmen/Ausgaben St. Marien 1625–1649 [1637], fol. 1008f. 1269 Vgl. dazu S. 304f. sowie den vollständigen Titel im Werkverzeichnis auf S. 395. 1270 Vgl. dazu Anm. 1571 auf S. 266. 1271 Er widmete den zweiten Teil seiner Geistlichen Konzerte (1643) den Lübecker Bürgermeistern und berichtet im Vorwort: »[…] ich auch aus sondern Vrsachen Bedencken getragen/ mich von dem Baltischen Seestrande/ welchem ich meine vorige Arbeit consecriret, abzuwenden.« Offenbar hoffte der Organist auf eine Anstellung in Lübeck. Stahl (1952, S. 63) berichtet, dass er der Lübecker Petrikirche 1644 sieben Gesangbücher (geistliche Konzerte) verehrte. Offenbar sind diese (bis auf das Stimmbuch der Seconda voce) dort bis heute erhalten (siehe die Signatur im Werkverzeichnis). Eigentlich wurde der Druck in nur sechs Stimmbüchern veröffentlicht, das B.-c.-Stimmbuch liegt allerdings bis heute doppelt in Lübeck vor. Das Widmungsexemplar ist in Pergament gebunden und mit Goldschnitt versehen. Vgl. Vierdanck/Weiss (1990), S. 295. 1272 Vgl. Weiss (1956) sowie das Werkverzeichnis auf S. 397 mit der Angabe moderner Ausgaben. 1273 Einem Inventar von 1667 zufolge war etwa der zweite Teil von Vierdancks Geistlichen Konzerten (1643) im Besitz der Gymnasialbibliothek in Strängnäs/Schweden und weist deutliche Gebrauchsspuren auf. Davidsson (1976), S. 49f. Beide Teile der Geistlichen Konzerte erlebten eine zweite Auflage; der erste Teil wurde sogar ein drittes Mal aufgelegt. Rose
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räumte Vierdanck »billig ein[en] Platz unter den damahls=berühmtesten Kirchen=Componisten«1274 ein. Die in zwei Teilen veröffentlichten Instrumentalwerke des Organisten fanden ihren Platz nicht im Gottesdienst, sondern – wie auch die Arien Ruberts – vermutlich in privaten Musizierkreisen, bei privaten und öffentlichen Festivitäten sowie als Übungsliteratur für die städtischen Instrumentalisten1275. Während der erste Teil der Sammlung (1637) elf jeweils viersätzige Tanzsuiten für zwei Violinen, Violone und Generalbass enthält, sind die Instrumentalstücke des zweiten Teils (Capricci, Kanzonen und Sonaten, 1641) variabler und zum Teil größer besetzt. Unterschiede in der musikalischen Anlage weisen auch der erste und zweite Teil von Vierdancks Geistlichen Konzerten auf, deren Texte größtenteils mit dem de tempore der Sonn- und Festtage korrespondieren1276. Die zwölf Konzerte am Beginn des ersten Teils (1641, Nr. 1–12) sind vokal, ohne obligate Instrumente besetzt und erinnern damit an die Kleinen geistlichen Konzerte von Heinrich Schütz. Dabei beschränkt sich die Behandlung der Stimmen auf den Wechsel solistischer und chorisch geführter Partien unter Verwendung alternierender kurzgliedriger Motive und damit verbunden unterschiedlicher Satztechniken. Demgegenüber ermöglicht die vielseitigere Anlage der gemischt besetzten Konzerte am Ende des ersten (Nr. 13–21) sowie im zweiten Teil (1643) das Gegenüber vokaler und instrumentaler Klanggruppen1277. Tastenmusik ist – von einem handschriftlich überlieferten Toccatenfragment abgesehen – von Vierdanck nicht bekannt1278. Daniel Schröder1279 († 1682) Daniel Schröder, Sohn des Kopenhagener Heiliggeistorganisten Lorentz [Laurentz] Schröder, war offenbar schon in jungen Jahren wegen seiner Kunstfertigkeit bekannt1280.
1274 1275 1276 1277 1278 1279 1280
(2008, S. 184–190) berichtet von einem Lübecker Auktionskatalog mit Musikalien von 1695, in dem Vierdancks Instrumentalwerke in zwei Teilen sowie sein geistliches Konzert Meine Harffe ist zur Klage worden verzeichnet sind. Auch die handschriftliche Überlieferung bezeugt die Beliebtheit von Vierdancks Instrumentalwerken. Vgl. RISM Serie A/II: Musikhandschriften nach 1600 (Datenbank RISM-OPAC). Mattheson (1740/1910), S. 382. Vgl. dazu S. 295f. sowie S. 310. Weiss (1956), S. 51. Vgl. die dazugehörige Übersicht ebd., S. 46. Bugenhagen (2006), Vierdanck. Vgl. zur mehrchörigen Anlage der Konzerte auch Werbeck (2004) sowie zur Besetzung S. 318 und 395 in dieser Arbeit. Vgl. dazu Weiss (1956), S. 146f., sowie Schneider (2009), der auch eine Rekonstruktion des Stückes vorlegte. Siehe dazu S. 246. Vgl. zu Schröder Koudal (2006), Sp. 46. Auch in den Senatsprotokollen zur Besetzung der Organistenstelle an St. Marien von 1646 heißt es: »Es hätten etliche der Provisoren zu St. Marien vermeldet, daß die Orgel vacirte bey St. Marien Kirche, wäre ein jung Gesell von Copenhagen hier, der in seiner Kunst gerühmet werde von Musicverständigen.« AStM Kirchenbeamten und Unterbeamten [6.7.1646].
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1646 wurde er Nachfolger Johann Vierdancks an St. Marien in Stralsund1281. Mattheson lobt Schröders Kompositionen, die jedoch wohl nicht im Druck erschienen und heute verschollen sind1282. Während Schröders Amtszeit errichtete der Lübecker Orgelbauer Friedrich Stellwagen in St. Marien eine neue Orgel mit 51 Registern auf drei Manualen und Pedal, nachdem das vermutlich noch von Fabian Peters erbaute Werk beim Kirchenbrand von 1647 zerstört worden war1283. Am 2. Mai 1667 ließ Schröder seinen Bruder in der Stralsunder Marienkirche beerdigen und sich die dafür anfallenden Gebühren von seinem Gehalt abziehen1284. Daniel Schröder starb am 9. Januar 1682 in Stralsund1285. Andreas Schick († 1709?) Andreas Schick war Sohn des Stralsunder Jakobiorganisten Friedrich Schick1286. Dieser bat 1668 wegen einer Reise seines Sohnes nach Riga, dass ihm sein ausstehendes Gehalt ausgezahlt werden möge1287. Ob es sich dabei allerdings um seinen Sohn Andreas handelte, bleibt unklar.
1281 StAS Rep 28-643 St. Marien 1614–1660 [1648]; Rep 28-644 St. Marien Register 1614– 1693 [1648–1682]; Rep 28-641a St. Marien Rechnungsbuch Einnahmen und Ausgaben 1611–1692 [1673–1682]. In Ein nützliches Tractätlein vom Lobe Gottes (Kopenhagen 1639) beschreibt der Vater des Organisten, Lorentz Schröder, die Musik am dänischen Hof und vor allem die musikalischen Veranstaltungen anlässlich der großen Hochzeit von 1634. Möglicherweise kam der Kontakt Schröders nach Stralsund über Vierdanck und/ oder sogar Schütz zustande. Vgl. Koudal (2006), Sp. 46, sowie S. 212f. Neben Schröder bewarb sich ein Organist aus Ruppin um das Stralsunder Amt. AStM Kirchenbeamten und Unterbeamten [25.7.1646]. 1282 »Er war aus Kopenhagen gebürtig, und ein recht geschickter Compositeur, davon seine noch vorhandene Handschrifften gnugsam zeugen.« Mattheson (1740/1910), S. 319. 1283 Siehe auch S. 282f. 1284 StAS Hs. 377 Todten Register von S. Marien Kirche 1629–1685, fol. 237. Bekannt sind nur die Brüder Lorentz und Johannes Schröder, die jedoch vor 1645 bzw. erst 1677 verstarben. Vgl. Koudal (2006), Sp. 46. Schröder hatte also offenbar noch (wenigstens) einen weiteren Bruder. 1285 Mattheson (1740/1910), S. 319. 1682 sind in den Rechnungsbüchern der Marienkirche Ausgaben für den Sarg Schröders vermerkt. StAS Rep 28-641a St. Marien Rechnungsbuch Einnahmen und Ausgaben 1611–1692 [1682], fol. 469. 1286 Praetorius (1905/06), Mitteilungen, S. 243, sowie S. 218. In den Rechnungsbüchern der Stralsunder Marienkirche sind während der Amtszeit von Andreas Schick Zahlungen an einen Organisten namens »Johann Schick« verzeichnet. Dabei handelt es sich wohl um ein Versehen des Schreibers. Vgl. StAS Rep 28-641a St. Marien Rechnungsbuch Einnahmen und Ausgaben 1611–1692 [1683–1687]; Rep 28-642 St. Marien Rechnungsbuch 1614–1694 [1686/87]. In anderen Rechnungsbüchern für denselben Zeitraum und in der Bestallung wird Andreas Schick korrekt aufgeführt. Vgl. StAS Rep 28-644 St. Marien Register 1614– 1693 [1683–1692]; AStM Kirchenbeamten und Unterbeamten [18.4.1682]. 1287 AStJ Tit. 2 Nr. 10a [Schreiben Friedrich Schicks an das Provisorat von St. Jakobi, 9.8.1668].
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Andreas Schick betätigte sich bereits vor seiner Amtsübernahme (1682) als Orgelbauer bzw. Gutachter in Greifswald1288. 1693 begab sich Schick wegen zunehmender Sehschwäche in ärztliche Behandlung außerhalb Stralsunds und bat das Provisorat von St. Marien dafür um finanzielle Unterstützung1289. Im Juni 1709 wurde – nach dem Tod Andreas Schicks – Daniel Schön als sein Nachfolger an St. Marien bestellt1290. Ein Sohn von Andreas Schick, Johann Friedrich (*1689), wurde 1721 Subrektor an der Stralsunder Lateinschule1291.
Die Organisten an St. Jakobi Amtszeit 1556 1557 ~1577–nach 1601 vor 1614–1629 1629–1641 1641–nach 1693? nach 1693 (?)–1698 1699–1716
Organist Johann Mengenhusen Kaspar Liste1292 Caspar Noske Christian Rickelt Hinrich von Husen Friedrich Schick Johann Friedrich Rostcken Christian Heinrich Giffhorn
Tabelle 18: Amtszeiten der Jakobiorganisten1292
Johann Mengenhusen Mengenhusen wurde 1556 als Stralsunder Jakobi- und Johannisorganist angenommen1293 und war seit dieser Zeit vermutlich auch Lehrer an der Pfarrschule von St. Jakobi1294. Fünf Jahre später lässt er sich als Schulmeister der deutschen Klasse am neugegründeten Stralsunder Gymnasium nachweisen1295. Ob er sein Organistenamt zu dieser Zeit bereits aufgegeben hatte oder beide Ämter gleichzeitig versah, ist nicht bekannt.
1288 Pyl (1904, S. 57) berichtet, er habe die Greifswalder Marienorgel nach der Belagerung und Beschießung der Stadt im Jahre 1678 repariert; Funck (2009, S. 22) schreibt nur von gutachterlichen Tätigkeiten. 1289 AStM Kirchenbeamten und Unterbeamten [9.7.1693]. 1290 Ebd. [9.6.1709]. 1291 Zober (1858), S. 73. 1292 Vgl. zu Kaspar Liste die Ausführungen auf S. 189f. 1293 StAS Hs. 619 Schriftensammlung des Landrats Hermann Berend Wulfradt, 1552–1778, fol. 427 (neue Paginierung). Er hatte auch Schreiberdienste zu übernehmen: »4. § Der Organist, so beÿ St. Jacob Anno 1556 angenohmen, hatt geheißen Johann Mengenhusen, hatt an Jahrgeld gekricht 24 fl. und dafor hatt Er diese und St. Johannis Orgel abwarten müßen; so die Vorsteher etwas zu schreiben gehabt, hatt Er das auch thun müßen.« 1294 Vgl. Panck (1899), S. 12. 1295 Zober (1870), S. 131, und ders. (1839), S. 4.
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Caspar Noske [Noetzken] Dem »MODESTO AC PIO JVVENI CASPARO Noske Organist & Sundensi« widmete Eucharius Hoffmann die XII. (bzw. XXIV.) (»IN SCALA MOLLI«) seiner 1577 erschienenen XXIIII. CANTIONES1296. Da auch Mauritio und Eberhard Westenhausen in Hoffmanns Druck als Widmungsträger erscheinen und zu dieser Zeit die Ämter des Nikolai- bzw. Marienorganisten innehatten, ist davon auszugehen, dass Noske Jakobiorganist war. Diese Annahme lässt sich durch ein Schreiben in einer Gerichtssache bestätigen, in der Noske 1601 als Jakobiorganist befragt wurde1297. Unklar bleibt, wann genau Noske das Amt an St. Jakobi übernahm und wie lange er in diesem verblieb. Christian Rickelt Über Christian Rickelt liegen kaum Informationen vor. Von 1605 stammt ein Bürgerbucheintrag, in dem Rickelt als »Organist« bezeichnet wird1298. Vermutlich ging dieser Eintrag seiner Anstellung in Stralsund voraus, da er als Kirchendiener vom Bürgerrechtserwerb befreit war. Erst 1614 (bis 1629) lässt sich Rickelt als Jakobiorganist nachweisen1299; vermutlich hatte er das Amt jedoch schon vorher inne. Hinrich von Husen († 1643) Ob es sich bei dem in den Matrikeln der Wittenberger Universität 1597 erwähnten Henricus Husanus aus Brandenburg um den späteren Stralsunder Organisten handelt, ist unklar1300. 1615 bewarb sich Hinrich von Husen um das Amt des Nikolaiorganisten in Stralsund1301, das jedoch Bernhard Petersen zugesprochen wurde. 1629 trat von Husen schließlich die Nachfolge Rickelts an St. Jakobi an. Während seiner Amtszeit wurde die Jakobiorgel durch den Pasewalker Orgelbauer Paul Luedemann renoviert1302. 1640 wurde Hinrich von Husen mit Friedrich Schick aus Altersgründen ein Substitut an die Seite gestellt1303, der 1641 zum Organisten ernannt wurde. Von Husen starb am 10. Oktober 1643 und wurde neun Tage später in Stralsund begraben1304.
1296 Vgl. Hoffmann, XXIIII. CANTIONES (1577). Die Motette »Warlich warlich ich sage euch« liegt in einer Neuausgabe von Kongsted (2007) vor. Vgl. das Werkverzeichnis von Hoffmann im Anhang auf S. 385–387. 1297 StAS Rep 28-68 Prozess des Pastors von St. Johannis, Christoph Selemann, gegen den Superintendenten Konrad Schlüsselburg und den Prediger Fabian Kloke 1601–1604 [1601]. 1298 StAS Bürgerbücher (digitalisiert). 1299 StAS Rep 28-907 St. Jakobi Einnahme und Ausgabe des dritten Registers 1614–1638 [1614– 1629]. 1300 Förstemann/Hartwig (1894/1976), S. 442a. 1301 StAS Rep 28-1029a St. Nikolai Kirchenregister 1602–1628 [5.9.1615], fol. 58v. 1302 Siehe S. 278f. 1303 StAS Rep 28-883 St. Jakobi Ausgaberegister [3. Register, 1640], fol. 23v; ebd. [6. Register, 1652], fol. 175; AStJ Tit. 2 Nr. 10a [Schreiben der Provisoren von St. Jakobi, 29.6.1641]. 1304 StAS Rep 28-883 St. Jakobi Ausgaberegister [6. Register, 1652], fol. 175; ebd. [5. Register, 1643], fol. 60v.
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Friedrich Schick (um 1600–nach 1693) Friedrich Schick wurde um 1600 in Dannenberg geboren und war vor seiner Stralsunder Amtszeit Organist in Treptow1305. 1640 wurde er zunächst Substitut Hinrich von Husens an der Stralsunder Jakobikirche und 1641 auf eigenes Drängen dort zum Organisten ernannt1306. Während seiner Amtszeit bemühte sich Schick mehrfach um die Renovierung und den Umbau der Jakobiorgel, um diese den Erfordernissen der neuen Musizierpraxis anzupassen. In diesem Zusammenhang sind mehrere Schreiben des Organisten sowie ein von dem Lübecker Orgelbauer Stellwagen erstelltes Gutachten zur Jakobiorgel überliefert1307. Als ihm Johann Friedrich Rostcken am 25. Januar 1693 als Substitut an die Seite gestellt wurde, war Schick bereits 93-jährig und somit seit 53 Jahren in Stralsund im Amt1308. Schicks Sohn Andreas übernahm 1682 das Organistenamt an der Stralsunder Marienkirche1309. Johann Friedrich Rostcken († 1698) Als Substitut hatte Rostcken sowohl sein Fixum, die Einkünfte aus den Akzidentien als auch seine Behausung mit Friedrich Schick bis zu dessen Tod zu teilen. Rostcken amtierte offenbar nur wenige Jahre. Am 30. Mai 1698 bat seine Witwe um die Gewährung des Gnadenjahres1310. Christian Heinrich Giffhorn († 1716) Giffhorns Bestallungsurkunde datiert vom 28. Mai 16991311. Der Organist starb am 23. Januar 17161312. Bei dem 1699 ebenfalls als »Organist« und außerdem als »Nota-
1305 Das ungefähre Geburtsjahr Schicks lässt sich einem Schreiben bezüglich der Besetzung des Organistenamtes an St. Jakobi vom 25.1.1693 entnehmen. Dort heißt es, dass der noch amtierende Jakobiorganist Friedrich Schick bereits 93 Jahre alt sei. StAS Hs. 619 Schriftensammlung des Landrats Hermann Berend Wulfradt, 1552–1778, fol. 556. Die Angabe Köhlers (1997, S. 507) – »Er wurde 1591 geboren, 1689 stirbt er« – stimmt mit diesen Informationen nicht überein. Über die Herkunft und Anstellung Schicks in Treptow informiert ein Gelegenheitsdruck zur Hochzeit des Organisten mit Regina Schirmeister von 1625: »Dn. Friderich Schicken, Danneberg. Treptoae Organ.« Der Druck befindet sich in den Vitae Pomeranorum in der Greifswalder Universitätsbibliothek: D-GRu Sign. VP 33/XXIX (1625). 1306 AStJ Tit. 2 Nr. 10a. 1307 Siehe Dok. 8 + 9 im Anhang auf S. 368f. und 370 sowie S. 280f., 283f. 1308 StAS Hs. 619 Schriftensammlung des Landrats Hermann Berend Wulfradt, 1552–1778, fol. 556. 1309 Siehe S. 215f. 1310 StAS Hs. 619 Schriftensammlung des Landrats Hermann Berend Wulfradt, 1552–1778, fol. 561. 1311 Ebd., fol. 562. 1312 StAS Sterberegister.
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rius« in den Stralsunder Bürgerbüchern aufgeführten Christoff Giffhorn handelt es sich vielleicht um einen Bruder des Jakobiorganisten1313.
Die Organisten an der Hospitalkirche zum Heiligen Geist und an der Klosterkirche St. Johannis Neben den drei Stralsunder Hauptkirchen verfügten auch die Hospitalkirche zum Heiligen Geist und die Johanniskirche im 16. und 17. Jahrhundert über Orgeln und Organisten. Feste Organisationsstrukturen bei der Besetzung der Ämter lassen sich vor Beginn des 18. Jahrhunderts jedoch an beiden Kirchen nicht feststellen. Auch erscheinen die Ämter über lange Zeiträume nur lückenhaft besetzt; mitunter mag dieser Eindruck allerdings der schlechten Quellenlage geschuldet sein. Verglichen mit den Hauptkirchen spielten die Hospital- und Klosterkirchen eine erwartungsgemäß nur untergeordnete Rolle im musikalischen Leben Stralsunds. Der Orgeldienst wurde hier kaum hauptamtlich versehen, und die Instrumente befanden sich für lange Zeit in desolatem und nicht spielbarem Zustand. In welchem Umfang es an beiden Kirchen überhaupt Orgeldienste gab, lässt sich kaum mehr feststellen. Die in den Stralsunder Kirchenordnungen festgelegten Verbindungen zwischen den Haupt- und Kloster- bzw. Hospitalkirchen scheinen für die Besetzung des Organistendienstes bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts kaum relevant gewesen zu sein. Bemühungen der Hauptkirchenorganisten, die kleineren Ämter zusätzlich zu übernehmen, lassen sich nicht nachweisen. Hospitalkirche zum Heiligen Geist Das Stralsunder Heilgeisthospital wurde kurz nach der Stadtrechtsverleihung im 13. Jahrhundert gegründet1314. Seit dieser Zeit stand es unter städtischer Aufsicht und diente der Kranken- und Armenfürsorge. Schon im Gründungsjahrhundert wurde es zu einer Stätte gottesdienstlicher Handlungen und war seit 1325 den Pfarrkirchen in rechtlicher Hinsicht nahezu gleichgestellt1315. Durch räumliche Ausdehnung und eine kluge Wirtschaftspolitik gewann das Hospital in der Folgezeit an Einfluss innerhalb der Stadt1316. Nach Knipstros Entwurf einer Kirchenordnung für Stralsund von 1555 waren St. Jakobi und das Heilgeisthospital hinsichtlich des Kirchenpersonals und des Gottesdienstes miteinander verbunden: »Ad divum Jacobum. Ein pastor; twee predicanten; dise scholen ock den hilgen geist mit waren«1317. Beziehungen gab es auch zur 1560 gegründeten Stralsunder Lateinschule, an der der Heilgeistküster als Kurrendarius 1313 StAS Bürgerbücher (digitalisiert). Christoff Giffhorn starb bereits 1713. Vgl. StAS Sterberegister. 1314 Vgl. Heyden (1961), Kirchen, S. 66–72. 1315 Ausgenommen blieb das Recht zu taufen, ebd., S. 67. 1316 Ebd., S. 72. 1317 Zit. nach Sehling (1911), S. 550. Auch Heyden (1961, Kirchen, S. 223) berichtet, dass die morgendlichen Predigten in der Heilgeistkirche zugleich als Gottesdienste für St. Jako-
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wirkte1318. Am Ende des 17. Jahrhunderts wurde die Hospitalkirche – zusätzlich zur Gasthauskirche St. Antonius – für die sonntäglichen Gottesdienste der einquartierten schwedischen Militärs genutzt1319. Die ersten Nachweise von Organisten und Orgeln in der Hospitalkirche stammen aus dem 15. Jahrhundert1320. Bereits zu dieser Zeit waren neben den Geistlichen auch ein Küster und ein Organist am Hospital beschäftigt1321. Aus dem nachfolgenden 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind keine Informationen zur Besetzung des Organistenamtes überliefert; auch in den Matrikeln der Heilgeistkirche von 1614 wird kein Organist erwähnt1322. Im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts war das Hospital mehrfach militärischen Angriffen ausgesetzt1323. Schon im 14. Jahrhundert hatte man einen Neubau außerhalb der Stadtmauern, an der noch heute bekannten Stelle, errichtet, um – wie es für Heiliggeisthäuser üblich war – auch Fremden eine Zuflucht bieten zu können1324. Jedoch führte die exponierte Lage der Gebäude vor den Toren der Stadt bei militärischen Auseinandersetzungen mehrfach zu Verwüstungen. So war nach der Wallensteinschen Belagerung von 1628 nicht nur das Kirchenschiff der Hospitalkirche zum größten Teil zerstört, sondern auch die Orgel offenbar bis weit in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts hinein nicht mehr spielbar1325. Damit erübrigte sich zunächst die Anstellung eines Organisten. 1656 – zwei Jahre nach dem Wiederaufbau der Kirche – bewarb sich neben vier weiteren Kandidaten auch ein Organist aus Bergen/Rügen um die Küsterstelle am Hospital. In einer Probe wurden die Stimmen der Kandidaten im Lesen und im Singen geprüft. Der Bewerber aus Bergen zeigte jedoch ein besonderes Interesse am Orgelspiel und hoffte, dieses neben dem Küster- und Kurrendedienst in der Hospitalkirche versehen zu dürfen. Da sich jedoch auch zu dieser Zeit offenbar noch keine funktionstüchtige Orgel in der Kirche befand und ein Neubau nicht geplant war, zog er seine Bewerbung zurück:
1318 1319 1320 1321 1322 1323 1324 1325
bi galten. Vgl. auch die Gottesdienstzeiten nach Knipstros Kirchenordnung in Tabelle 12 auf S. 125. Siehe S. 134ff. StAS Rep 9-182 Acta des Klosters zum Heiligen Geist in Stralsund betreffend die Klosterkirche [30.10.1699]. Vgl. zur Gasthauskirche St. Antonius auch Heyden (1961), Kirchen, S. 223. Prost (1982), S. 218. Heyden (1961), Kirchen, S. 72. StAS Rep 9-394 Matrikel Heilgeist 1614. Ewe (1995), S. 79f. Heyden (1961), Kirchen, S. 68. Der Wiederaufbau der Kirche erfolgte Heyden (ebd., S. 222f.) zufolge erst 1654. Unklar in diesem Zusammenhang bleibt die Angabe des Heilgeistküsters Isaak Maas über einen Orgelneubau aus dem Jahre 1642: »[…] ist die newe Orgel in der Kirchen alhie gebawet Ao 1642 wie an der Orgel zu ersehen ist«, StAS Rep 9-186 Die Geräte der Heilgeistkirche 1497–1644 [17.1.1644], fol. 10.
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»Hierbey hat sich der Organist von Bergen, welcher auf guter Leute recommendation von Vnß ebenmeßich gefordert worden, auch eingefunden, aber wie er vernommen, das ihm keine Orgell würde vnter die handt gegeben werden, da ihn gleich die wahll treffen solte, auch die hoffnung eine Orgell zu verfertigen noch weit hinauß stünde, ist er wieder abgetreten, weill er seinem Vorbringen nach der Orgell, damit er nunmehr bei die 24 iahr seinen auffenthalt erworben, sich zu begeben, nicht gedächte.«1326
Forciert wurde die Anstellung eines Organisten an Heilgeist nach dem Stadtbrand vom 15. April 1662, der zu starken Schäden vor allem an St. Nikolai und St. Jakobi geführt hatte1327. In der Folge verlegte man die Gottesdienste dieser Kirchen u. a. in die Hospitalkirche und bemühte sich in diesem Zusammenhang auch um ein Orgelinstrument1328. Da die finanzielle Situation einen Neubau zu dieser Zeit wohl nicht zuließ, wollte man zunächst »ein Positiv in der Kirchen Gott Zu Ehren, Wie hiebuor die alda geweßene Orgel gebräuchet worden, schlagen Vnd mitrühren [...] laßen«. »H. Mag. Cnoccius« erklärte sich in diesem Zusammenhang bereit, »sein habendes Positiv der Kirchen biß ein größers, oder ... [fehlt] ein kleines Werk alda angeleget werden möchte anzuleihen«1329. Warum man den Orgeldienst an Heilgeist in diesem Zusammenhang nicht dem Jakobiorganisten Friedrich Schick übertrug, bleibt unklar. Beauftragt wurde vielmehr der Stralsunder Johannisorganist Johann Röhle, der in Anlehnung an seine Vorgänger – die es demnach gegeben hat – besoldet werden sollte: »Daß dieser E. E. hochw. Rathß Veranlassung zu folge, Johan Röle die Orgel oder Positiv so in der Kirchen des Gotteshauses zum H. Geiste mochte angeschaffet werden zu schlagen, und das Salarium, so für diesem Jährlich an ander entrichtet worden, zu heben von unß bestätiget sey, Jedoch solcher gestalt, dass Verrichtung und Hebung zugleich ihren anfang nehmen, wird hirmit bescheiniget. Stralsund den 10. May Anno 1662. Verordnete Provisores des Gotteshauses zum H. Geiste.«1330
Ob und wann Röhle sein Amt tatsächlich antreten konnte, ist unbekannt. Nachweise seiner Besoldung als Heilgeistorganist aus den Folgejahren fehlen1331. 1326 StAS Rep 9-194 Acta des Klosters zum Heiligen Geist in Stralsund betreffend den Küster 1652 [23.1.1656], fol. 4. 1327 Vgl. Zober (1862); Heyden (1961), Kirchen, S. 216f. 1328 StAS Rep 3-1487 Alphabetisches Register über rechtliche Vorgänge (Bruchstück) F–P 16.–18. Jh. [»Kirchenordnung«, 18.4.1662]: »St. Nicl. und Jacob, wie sie durch das Wetter angezündet und zum theil in die asche geleget worden. wird deren Gottesdienst interim respective nach St. Johannis und dem H. Geist verleget [...] 18 Apr. 1662«. 1329 StAS Rep 9-195 Acta des Klosters zum Heiligen Geist in Stralsund, betreffend den Organisten 1662 [5.5.1662]. 1330 Ebd. [10.5.1662]. 1331 Röhle lässt sich noch 1668 als Organist an St. Johannis nachweisen. StAS Rep 3-1818 Senatus. Klage und Appellation des Orgelbauers Johannes Preen (Prehn) aus Richtenberg und seiner Witwe Maria Schmolts gegen den Organisten der Nikolaikirche zu Stralsund, Martin
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Bei der städtischen Belagerung von 1678 erlitten Kirche und Orgel, die man in der Zwischenzeit offenbar neu errichtet hatte, wiederum Schäden »durch hineingeworfene Bomben«1332. Die Orgel wurde erst 1702 wieder bespielbar gemacht1333 und der Orgeldienst in der Hospitalkirche bis zu dieser Zeit vermutlich ausgesetzt: »[…] von diesem 1690sten Jahre nun angerechnet biß ausgang des 1702ten Jahres findet sich in allen diesen register nicht ein schelling berechnet, so ehr einem Organisten solte bezahlet worden seyn.«1334
Nach Instandsetzung der Orgel 1702 wurde der Dienst, wie ursprünglich vorgesehen, vom Jakobiorganisten übernommen1335, der dafür zusätzlich zu seinem Fixum von 100 Reichstalern (= 600 MS) jährlich 20 Reichstaler vom Hospital erhielt1336. St. Johannis Das Stralsunder Franziskanerkloster St. Johannis wurde im 13. Jahrhundert gegründet1337. Wie beim Heilgeisthospital waren die in Knipstros Kirchenordnung von 1555 beschriebenen Verbindungen zur Nikolaikirche1338 für die Besetzung des Organistendienstes auch hier zunächst von nur untergeordneter Bedeutung. Dauerhafte Verbindungen der Organistenämter von St. Johannis und St. Nikolai oder auch anderen Ämtern sind im 16. und 17. Jahrhundert – ähnlich wie an der Hospitalkirche – nicht festzustellen. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts wurde der Orgeldienst an St. Johannis zunächst dem Jakobiorganisten übertragen. Der 1556 an St. Jakobi angenommene Johann Mengenhusen hatte »diese [St. Jakobi] u. St. Johannis Orgel abwarten müßen«1339. In der Folgezeit lässt sich die Verbindung der Ämter von St. Jakobi und St. Johannis nicht mehr beobachten. Jedoch war der Orgeldienst an der Johanniskirche im Vergleich zur Hospitalkirche offenbar weitaus durchgängiger besetzt, was vermutlich aus einer besseren instrumentalen Situation resultierte. In den Matrikeln von 1614 wird die OrRubbert, auf Zahlung rückständigen Arbeitslohnes und wegen schwerer Beleidigungen 1667– 1675 [21.9.1668]. 1677 wurde er zum Nikolaiorganisten ernannt. 1332 Prost (1982), S. 218. 1333 Ebd. Noch einmal völlig zerstört wurde sie 13 Jahre später bei der Belagerung von 1715. 1334 StAS Rep 9-195 Acta des Klosters zum Heiligen Geist in Stralsund, betreffend den Organisten 1662 [»Pro Memoria. Wegen der Organistenbesoldung vom heil. Geist Kloster«, o. J.]. 1335 Ebd. 1336 StAS Rep 38-189 Senatus Sundensis. Feststellung des Generaletats und des Etats sämtlicher städtischer Kassen für das Jahr 1848. 1628–1846. 1847–48 [»Die Organisten an den Stadtkirchen«]. 1337 Vgl. zur Geschichte des Klosters auch Heyden (1961), Kirchen, S. 54–57. 1338 Vgl. den Entwurf einer Stralsunder Kirchenordnung von 1555: »Ad divum Nicolaum. [...] twe gude gelerde predicanten, die beide dat kaspel unde kloster to S. Johannes helpen vorwaren.« Zit. nach Sehling (1911), S. 550. 1339 StAS Hs. 619 Schriftensammlung des Landrats Hermann Berend Wulfradt, 1552–1778, fol. 427 (neue Paginierung). Siehe zu Mengenhusen S. 216.
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ganistenbesoldung mit 24 MS jährlich angegeben1340. Nähere Auskünfte zur Besetzung des Amtes zu dieser Zeit gibt es allerdings nicht. 1624 zerstörte ein Brand große Teile der Johanniskirche und der darin befindlichen Orgel1341. Nach dem teilweisen Wiederaufbau der Kirche, der 1651 beendet war, wurde St. Johannis mit einem Orgelneubau des Lübecker Orgelbauers Friedrich Stellwagen versehen1342. Zwischen 1662 und 1668 lässt sich der später an St. Nikolai angestellte und bereits als Heilgeistorganist erwähnte Johann Röhle an St. Johannis nachweisen1343. Doch war auch die Verbindung der Organistenämter von St. Johannis und Heilgeist vermutlich eher zufällig und nicht von Dauer. 1686 war Dionysius Gerschow Johannisorganist und wartete »zugleich der hiesigen guarnison bey dero absonderlichen gottes dienst für quartal besoldung mit Spielung der orgel auff«1344. Vom 18. Jahrhundert an ist – wie auch an Heilgeist – eine zunehmende Kontinuität in der Besetzung des Amtes feststellbar1345. Dabei besann man sich auch hier offenbar auf die bereits früher festgelegten Verbindungen zur Nikolaikirche.
2.2.1  Ausbildung der Organisten und Anforderungen an das Amt Im 16. und 17. Jahrhundert erfolgte die Ausbildung zum Organisten in der Regel bei einem Lehrmeister, der selber ein Organistenamt an einer Stadt- oder Hofkirche innehatte. Dabei war es für die berufliche Zukunft förderlich, bei einem möglichst berühmten Musiker in die Lehre zu gehen. War dies am Heimatort oder in der näheren Umgebung nicht möglich oder gewollt, legten die Organisten mitunter beträchtliche Distanzen zurück, um zu ihrem Lehrmeister zu gelangen. Oftmals wurden sie dabei von einem einflussreichen Potentaten (Herzog, Bürgermeister) unterstützt, banden sich durch Stipendien jedoch auch an ihre Mäzene. 1340 StAS Rep 28-1029 Matricul aller Gottsheuser der Stadt Stralsundt 1614 [St. Johannis Closter Matricull], fol. 26v. Die Entlohnung war somit gering, der Dienst vermutlich jedoch auch weniger aufwendig als an den Hauptkirchen. Die Festgehälter der Hauptkirchenorganisten von St. Nikolai und St. Marien waren 1614 mit 400 bzw. 300 MS jährlich mehr als zehnmal so hoch. Vgl. ebd. [St. Nikolai], fol. 82, und ebd. [St. Marien], fol. 149. 1341 Vgl. Prost (1982), S. 215. 1342 Vgl. ebd., S. 216–218. Hier finden sich auch Angaben zur Disposition des Werkes. 1343 Vgl. zu Röhle auch S. 207. 1344 StAS Rep 3-497 Bürgermeister und Rat: Erlaubte Instrumental-Musik während der Trauer über den Tod des Königs 1655–1686 [28.5.1686]. Mehr als hundert Jahre zuvor lässt sich in Pommern ein Geistlicher mit gleichem Namen feststellen, der 1553 Hof- und Schlossprediger in Wolgast war und 1572 dort verstarb. Vgl. Berwinkel (2008), S. 195, sowie StAS Hs. 826, fol. 260. 1345 So hatte der 1703 bestallte Nikolaiorganist Christoph Raupach das Amt seit seiner Anstellung mitzuversehen. Vgl. StAS Rep 28-282 Besetzung der Organistenstelle an St. Nikolai (1624) 1646–1890 [30.12.1720].
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Zu den für die norddeutsche Orgeltradition bedeutendsten Lehrmeistern zählt zweifellos Jan Pieterszoon Sweelinck in Amsterdam, der eine Reihe von Schülern aus dem nord- und mitteldeutschen Raum anzog1346. In Stralsund lassen sich im 17. Jahrhundert immerhin vermutlich vier Enkelschüler Sweelincks nachweisen1347. Die praktische Lehrzeit eines Organisten dauerte – abhängig von den jeweiligen finanziellen Möglichkeiten – in der Regel zwischen zwei und vier Jahren1348. Sie umfasste nicht nur das Orgelspiel selbst, sondern darüber hinaus gewöhnlich auch die Unterweisung in der musikalischen Satzlehre.
2.2.1.1  Akademische Ausbildung Ein Universitätsstudium, wie es das Kantorenamt an einer Lateinschule in nachreformatorischer Zeit voraussetzte, erforderte das Organistenamt nicht. Organisten galten in der Regel als ›non litterati‹ und waren in dieser Hinsicht den akademisch gebildeten Kantoren nachgeordnet. Auch Edler verweist auf die Höherstellung des Kantors im 16. Jahrhundert und stellt die nordelbischen Organisten dieser Zeit mit den städtischen Instrumentalisten auf eine musikalische und soziale Ebene1349. Erst für das 17. Jahrhundert weist er – nicht zuletzt am Beispiel des Organisten Battalus aus Wolfgang Caspar Printz’ Roman Musicus curiosus, oder Battalus, der vorwitzige Musicant (Freiberg 1691) – einen gewachsenen Bildungsanspruch der Organisten nach, der auch eine Universitätsausbildung einschließen konnte1350. Dass sich das Stralsunder Organistenamt seit Mitte des 16. Jahrhunderts zunehmend konsolidierte und die Organisten im Musikleben eine bedeutendere Rolle einzunehmen begannen, ist unstrittig und keine Stralsunder Besonderheit. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelten sich die musikalischen Ansprüche an die Organisten, wie von Edler dargestellt, gar zu den »höchsten in der Geschichte des Musikerstandes überhaupt«1351. Entsprechend gewachsen war das soziale Prestige der Organisten, was sich in Stralsund etwa an ihrer Zuordnung zu den Bürgerständen zeigt. Einem fragmentarisch überlieferten Register über rechtliche Vorgänge von 1650 etwa ist zu entnehmen, dass die Organisten – gemeinsam mit den Lateinschullehrern und im Unterschied zu den städtischen Instrumentalisten – zum ersten der drei Stralsunder Bürgerstände zählten: 1346 Vgl. zu Sweelinck auch Dirksen (2006), zur niederländischen Orgelschule Edler (1982), S. 46, sowie grundlegend zur deutschen Schülerschaft von Sweelinck Seiffert (1891), S. 145–240. 1347 Siehe dazu auch S. 230. 1348 Werner (1932/1979), S. 130. Rampe (2005, S. 99) berichtet gar von Lehrzeiten von bis zu zehn Jahren. Dabei handelte es sich jedoch wohl um Ausnahmen. Vgl. zur Ausbildung der Organisten auch ebd., S. 91–114. 1349 Edler (1982), S. 32f. 1350 Ebd., S. 176. 1351 Ebd., S. 175.
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»[…] wie es dan mit bey den Cantzelisten, Organisten, Schulbedienten Küstern dienern und auch andern so nicht burger seyn zuhalten und in was Stande sie angesehen werden sollen, und daß die Schul-bediente, so viel deren in d lateinisch Classibus aufwarten in dem ersten, die aber in den deutschen Classibus in den andern Stand gesetzet werden sollen. die Organisten bleiben im ersten, Küster und diener aber im letzten Stande. […] 3. Jan. 1650.«1352
Deutlich zeigt sich hier die veränderte Stellung des Organisten innerhalb des Kirchenpersonals seit Einführung des Amtes. War der Organist nach den Bestimmungen der ersten pommerschen Kirchenordnung bzw. des Stralsunder Visitationsrezesses von 1535 den Küstern im besten Falle gleich-, oftmals jedoch noch untergeordnet1353, zählte er nun zum ersten Stralsunder Bürgerstand, während der Küster im »letzten« – dritten – Stand verblieb. Dabei scheint das deutlich gewachsene soziale Prestige der Stralsunder Organisten im 17. Jahrhundert vor allem in ihren musikalischen Fähigkeiten und nicht in darüber hinausgehenden höheren Bildungsansprüchen begründet gewesen zu sein. Anders als der akademisch gebildete Battalus nämlich, dessen umfassende Bildung Edler als repräsentativ für den Organistenstand des späten 17. Jahrhunderts annimmt1354, hatten die Stralsunder Organisten zu dieser Zeit keine Universitäten mehr besucht. Wie die folgende Tabelle zeigt, lassen sich ausschließlich die Stralsunder Organisten des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts an nord- und mitteldeutschen Universitäten nachweisen1355: Name Mauritio Westenhausen1356 Elias Herlitz Georg Pyl Philipp Kaden
Jahr der Immatr. 1587 1582 1586 1588 1615/16
Universität
Amtszeit als Organist
Königsberg Leipzig Greifswald Greifswald1357 Greifswald
1574–1584 (St. Nikolai) 1592–1615 (St. Nikolai) Bewerbung um das Amt an St. Nikolai 1632–1645 (St. Nikolai)
Tabelle 19: Matrikeleinträge der Stralsunder Organisten1356,1357 1352 StAS Rep 3-1487 Alphabetisches Register über rechtliche Vorgänge (Bruchstück) F–P 16.– 18. Jh. [»Kleiderordnung«]. Die Instrumentalmusiker gehörten dem zweiten Bürgerstand an. Vgl. StAS Rep 3-1537 Kammergericht: Verzeichnis der Kammergefälle um 1711, fol. 20. 1353 Siehe S. 183–185. 1354 Edler (1982), S. 176. 1355 Aufgenommen sind neben den Amtsinhabern auch Bewerber um das Amt. Die Übersicht erhebt jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Da die Herkunft der Stralsunder Organisten nicht in jedem Fall bekannt ist, lassen sich die Matrikeleinträge nicht immer eindeutig zuordnen. Die Universitätsmatrikel wurden auch über den nord- und mitteldeutschen Raum hinaus ausgewertet. Vgl. die Quellenangaben zu den Matrikeleinträgen in den jeweiligen biographischen Einträgen auf S. 188–219. 1356 Mauritio Westenhausen studierte erst nach seiner Stralsunder Amtszeit in Königsberg. Nebenbei war er dort Kneiphoforganist. Vgl. den Matrikeleintrag auf S. 192, Anm. 1103. Vgl. auch Küsel (1923), S. 39. 1357 Friedländer (1893), S. 339.
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Außerdem studierten auch die Organisten Lubbert Westenhausen1358 und David Herlitz1359, Sohn von Elias Herlitz, im 16. bzw. zu Beginn des 17. Jahrhunderts an der Greifswalder Universität. Beide hatten zwar keine Organistenämter in Stralsund inne, waren jedoch ›verwandtschaftlich‹ mit der Stadt verbunden. Obwohl die Auswahl der in der Tabelle aufgeführten Organisten keinesfalls repräsentativ erscheint und daher wohl kaum allgemeingültige Schlüsse zulässt, fällt auf, dass ausschließlich Organisten der Nikolaikirche akademisch gebildet waren, was vermutlich aus den generell höheren Anforderungen an die Inhaber des Amtes an dieser Kirche resultierte. Die Nikolaiorganisten kamen zudem in der Regel von außerhalb in die Stadt und hatten zumeist schon vor ihrem Amtsantritt in Stralsund musikalische Berufserfahrung gesammelt. Nach Philipp Kaden lassen sich in Stralsund im 17. Jahrhundert keine weiteren akademisch gebildeten Organisten nachweisen. Wenngleich dieser Befund dem von Edler angezeigten wachsenden Bildungsanspruch der Organisten entgegenzustehen scheint, untermauert er dennoch die These von einer zunehmenden Konsolidierung des Amtes: Die Stralsunder Organisten des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts hatten die Hochschulen sicher nicht mit dem Ziel einer Organistenlaufbahn besucht, sondern sich durch ein Universitätsstudium vielfältige berufliche Möglichkeiten eröffnet. Zwar hatte sich das Organistenamt auch in Pommern im Verlauf des 16. Jahrhunderts bereits etabliert, wie die Bestimmungen der Kirchenordnungen und die später noch zu behandelnde Gehaltsentwicklung zeigen, doch waren die musikalischen Aufgaben der Organisten im Gottesdienst zu dieser Zeit zunächst noch beschränkt und auch im 17. Jahrhundert nicht unumstritten1360. Stärker als ihre Amtskollegen in späterer Zeit waren die Organisten des 16. Jahrhunderts zudem noch auf Nebentätigkeiten angewiesen. Ihre berufliche Praxis gestaltete sich dadurch vielseitig und war oftmals nicht allein auf die Musik bzw. auf den Organistenberuf ausgerichtet. Ein Universitätsstudium offerierte in diesem Zusammenhang verschiedene berufliche Perspektiven und ließ sich außerdem neben der musikalischen Ausbildung bei einem Organisten absolvieren1361. Je nach Organisation des Studiums und erreichtem Abschluss stand studierten Orga1358 Ebd., S. 314b (1577). 1359 Ebd., S. 417 (1614). David Herlitz studierte 1616 außerdem in Rostock. Vgl. Schäfer (1919), S. 368. 1360 Vgl. dazu Edler (1982), S. 40: »Obwohl im 16. Jahrhundert die Stellung des Organisten der nordelbischen Region eine erhebliche Konsolidierung erfahren hatte, blieb die Rechtfertigung seiner Tätigkeit im gottesdienstlichen Bereich im 17. Jahrhundert weiterhin umstritten.« Verwiesen sei an dieser Stelle beispielsweise auf die durch den Rostocker Theologieprofessor Theophil Großgebauer 1661 hervorgerufene Auseinandersetzung um das Orgelspiel im Gottesdienst, die zu heftigen Diskussionen und Reaktionen unter den Organisten des Ostseeraums führte. Vgl. dazu Bunners (1966), vor allem S. 71–76, sowie Edler (1982), S. 40–45. 1361 Als Beispiel lässt sich etwa der Stralsunder Georg Pyl anführen, der sein Universitätsstudium in Greifswald wohl zeitgleich mit seiner Ausbildung bei Lubbert Westenhausen absolvierte.
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nisten auch eine Laufbahn als Kantor oder Geistlicher offen. 1592 etwa gelangten die Brüder Andreas und Elias Herlitz nach Stralsund, die zuvor gemeinsam an den Universitäten in Leipzig und Greifswald studiert und vermutlich eine annähernd gleiche musikalische Ausbildung erhalten hatten – in Stralsund wurde Elias Nikolaiorganist und Andreas Kantor. Der niederländische Organist Lubbert Westenhausen wechselte nach seiner Greifswalder Organistenzeit in das Predigeramt. Mit zunehmend gefestigter Stellung des Organistenamtes im 17. Jahrhundert und der wachsenden Spezialisierung und Bedeutung seiner Inhaber verbesserten sich die Anstellungsbedingungen für Organisten. Dabei gründete ihre veränderte Stellung vor allem in dem sich allmählich durchsetzenden musikalischen Stilwandel, der die Tastenspieler durch das eingeführte Generalbassprinzip zunehmend unverzichtbar machte1362. Weitere und über die musikalische Ausbildung hinausgehende Qualifikationen wurden dadurch unnötig. Ein wachsender Bildungsanspruch ist den Organisten des 17. Jahrhunderts dennoch auch in Stralsund nicht völlig abzusprechen, auch wenn sich dieser wohl jenseits einer universitären Ausbildung äußerte. Als Indizien lassen sich literarische Verbindungen anführen, wie etwa im Falle Johann Martin Ruberts die Kontakte zu berühmten Dichtern seiner Zeit1363, das Interesse an überregionalen Musikentwicklungen, wie im Falle des Jakobiorganisten Friedrich Schick1364, oder aber die Beschäftigung mit musiktheoretischen Fragestellungen, wie sie der Nikolaiorganist Christoph Raupach zu Beginn des 18. Jahrhunderts verfolgte. Eine universitäre Ausbildung absolvierten die Stralsunder Organisten im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts demzufolge nicht. Für das späte 16. Jahrhundert muss der akademischen Ausbildung von Organisten jedoch eine größere Bedeutung zugemessen werden als bisher angenommen1365.
2.2.1.2  Anforderungen an die Organisten im 16. Jahrhundert Die norddeutsche Orgelkunst des 16. Jahrhunderts war zunächst vornehmlich durch Standards aus dem süddeutschen Raum geprägt. So weist Edler auf die Bedeutung der Orgelschulen des Österreichers Paul Hofhaimer oder des Konstanzer Organisten Hans Buchner hin1366. Anhand der aus dem Norden überlieferten Dokumente zur Orgelpraxis, wie beispielsweise der Celler Tabulatur, lasse sich die Anlehnung an die süd- und mitteldeutsche Praxis bis in das 17. Jahrhundert hinein feststellen1367. Vom ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts an wurde die norddeutsche Orgelkunst maßgeblich durch den an der Oude Kerk in Amsterdam tätigen Organisten Jan Pieterszoon Sweelinck 1362 1363 1364 1365
Vgl. dazu Edler (1982), S. 46–50. Siehe S. 203f. Siehe S. 280f. Auch in Rostock lassen sich immerhin elf von 41 Organisten im 17. Jahrhundert an Universitäten nachweisen. Laue (1976), S. 63. 1366 Edler (1982), S. 153. 1367 Ebd.
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(1562–1621) geprägt, dessen Schüler eine Reihe wichtiger Organistenämter auch im Norden, wie etwa in Hamburg, besetzten und ihr bei Sweelinck erworbenes Können an ihre Schüler weitergaben. Sweelincks Unterricht, zu dem auch Gioseffo Zarlinos Kontrapunkttraktat Istitutioni harmoniche (Venedig 1558/59) herangezogen wurde, erstreckte sich über die ganze Breite der organistischen Kunst, von der alten Fundamentpraxis (improvisatorische Beherrschung von Imitations-, Sequenz- und Kadenzformeln) bis zur Kompositionskunst für Tasteninstrumente1368. Edler nennt als hauptsächliches handwerkliches Rüstzeug der Organisten im 16. Jahrhundert drei Bereiche: »1. die Spieltechnik, 2. die Übertragung von Vokalstücken in die Instrumentaltabulatur [und] 3. die Lehre vom Kontrapunkt zwecks richtigen ›Diskantierens‹ eines vorgegebenen cantus firmus«1369, wobei dem letztgenannten Punkt die größte Bedeutung zukam. Die kontrapunktisch korrekte Improvisation – grundlegendes Repertoire der Orgelmusik des 16. Jahrhunderts – erfolgte auf der Grundlage der vokalen Praxis, in Anlehnung an die vokalen Formen und unter Einfügung instrumentaler Idiomatik1370. Auf diesem Weg näherten sich die Organisten allmählich der Komposition, die vor allem für ihr Wirken im 17. Jahrhundert Bedeutung erlangte1371. Wie für Nordelbien fehlt es auch für Stralsund an aussagekräftigen Belegen für die an Organisten gestellten Ansprüche und Anforderungen in der Ausbildung und bei der Amtsaufnahme1372. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang jedoch ein Schreiben des Stralsunders Paul Pyl, der seinen Sohn Georg am Ende des 16. Jahrhunderts für das Organistenamt an St. Nikolai in Stralsund empfahl. Pyl hatte seinen Sohn auf Empfehlung des Rates in die Lehre des Greifswalder Organisten Lubbert Westenhausen geschickt, um ihn gezielt auf den seit dem Tod seines ›Vetters‹ Joachim Pyl vakanten Stralsunder Organistenposten vorbereiten zu lassen1373. In dem Schreiben äußert sich Pyl detailliert über die bei Westenhausen erlangten organistischen Fertigkeiten seines Sohnes, die dieser in einem Probespiel präsentieren könne: 1368 Vgl. Dirksen (2006), Sp. 341. 1369 Edler (1982), S. 154. 1370 Ebd., S. 156. 1371 Ebd., S. 156f. 1372 Für Hamburg lässt sich in diesem Zusammenhang das überlieferte Repertoire als Quelle heranziehen. Verwiesen sei beispielsweise auf die schon erwähnte Visbyer Orgeltabulatur. Über das von den Organisten des 16. Jahrhunderts zu beherrschende vokale Repertoire informieren die handschriftlichen Sammlungen von Jacob (I) und Hieronymus Praetorius: Cantilenae sacrae (1556 zusammengestellt) bzw. Cantiones sacrae Chorales pro parochia Jacobeae 1587, 1588 von Franz Eler im Druck herausgegeben. Eler (1588/2002), Cantica sacra. Ebd., S. 152. 1373 StAS Rep 28-281 Bitte des Paul Pyl um Prüfung und Anstellung seines in Greifswald bei Lubbert Westerhusen an St. Nikolai ausgebildeten Sohnes Georg Pyl 16. Jh. Georg Pyl erhielt das Amt nicht, lässt sich aber 1594 als Vertreter seines Lehrers Westenhausen an St. Nikolai in Greifswald nachweisen und wurde spätestens 1598 dessen Nachfolger. Vgl. Funck (2009), S. 229, sowie AStNG Kirchenrechnungen 1598–1612 [1598]: »Organist Georg Pyl im Quartal 75 MS«.
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»Ich E. E. H. vndt W. Radt vnterdienstlich gedachtes meins Sohn wegen hiemit angeruffen, dieselben wollen Ihn neben andern Certanten einen gewißen tagk In itziger oder beforstehender Wochen ernennen, und entwider vf diser Zu S. Niclas oder einer beßeren restaurirten Orgell, den einen nach dem andern respectiue, alternatim, absq., praesentia vt inimica iniuria turbatione vel laesione vnius vel alterius osoris entwider Moteten, was art die auch sein, nach geburender mensur, alte vnd Neuwe Schone Stücke, octo, quinq, 6, vt 4 vocum, schone fugen, phantaseien, oder andere geistliche oder weltliche geseng, choraliter oder figuraliter wie es E. E. R. vnd so darzu mit deputirt, In tabulatur Ihnen zu setzen werden vferlegen, Vf eine od. Zweene Clauier, darauß zu schlagen, zu fugiren, zu coloriren, zu clausuliren, zu mordiren, zu amplificiren, durch einander zu treiben, vnd was sich der artt kunst nach zu thun gebürtt, gonstiglich anhören, vnd darnach dauon iudiciren wollen.«1374
Die von Pyl aufgelisteten Anforderungen entsprechen dem oben bereits erwähnten und zu dieser Zeit gängigen improvisatorischen Handwerkszeug eines Organisten und umfassen die von Edler benannten Punkte. Als wesentliche Fähigkeiten werden das Intavolieren (»In tabulatur Ihnen zu setzen«) und das Beherrschen kontrapunktischer Improvisation benannt. Dabei hatte der Organist Motetten oder andere geistliche oder weltliche Gesänge zu acht, fünf, sechs oder vier Stimmen an der Orgel zu intavolieren und darüber hinaus seine Fähigkeit zu beweisen, vokale Vorlagen kontrapunktisch durch das Anbringen von Verzierungen (»zu coloriren«, »zu amplificiren«), Imitationen (»zu fugiren«) oder gliedernden Klauseln (»zu clausuliren«) zu bearbeiten. Je nach Art und Anlass des Gottesdienstes erfolgte die Ausführung der vokalen und instrumentalen Musik choraliter oder figuraliter1375. Bemerkenswert ist, dass Pyl auch den Gebrauch »weltliche[r] geseng[e]« aufführt, obwohl sich seine Ausführungen wohl nur auf die gottesdienstliche Praxis bezogen. Offenbar bestand am Ende des 16. Jahrhunderts noch eine enge Verbindung zwischen weltlicher und geistlicher Musizierpraxis, sodass Pyl es selbst in einem Empfehlungsschreiben zu einer Stellenbesetzung nicht als anstößig empfand, weltliches Repertoire zu erwähnen. Bedeutung ist dem Dokument auch wegen der erwähnten Motettenintavolierung beizumessen, die sich im Œuvre Sweelincks nicht findet und für die es im norddeutschen Bereich in dieser Zeit nur wenige Nachweise gibt. Sie entwickelte sich offenbar vor dem Hintergrund konkreter Anforderungen an seine Schüler in der Hamburger liturgischen Praxis: »Wir müssen annehmen, dass an der Stelle im Gottesdienst, wo die Motette des Kantors erklingen sollte [wenn der Hamburger Kantor gerade die Figuralmusik an einer anderen Kirche zu leiten hatte], der Organist diese koloriert auf der Orgel spielen konnte.«1376 1374 Vgl. das vollständige Dok. 3 im Anhang auf S. 361f. 1375 Figuralmusik erklang in den Gottesdiensten des späten 16. Jahrhunderts noch zumeist nur an besonderen Festtagen im Kirchenjahr. Vgl. dazu Krüger (1933, S. 110) zu Hamburg. 1376 Krüger (1933), S. 110f. Vgl. auch Edler (1982), S. 155. Die ersten aufgeschriebenen norddeutschen Motettenintavolierungen sind Edler (ebd., S. 161) zufolge erst um die
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Da die Figuralmusik unter der Leitung des Kantors auch in Stralsund reihum an den verschiedenen Kirchen stattfand, lässt sich die von Krüger beschriebene Praxis auch hier annehmen. Über das Schreiben von Pyl hinaus informieren die später noch zu behandelnden Bestimmungen der Kirchenordnungen zum gottesdienstlichen Orgelspiel über die musikalische Praxis in Pommern und in Stralsund. Dabei unterschieden sich sowohl das geforderte Handwerkszeug der Organisten als auch die Stralsunder Orgelpraxis wahrscheinlich kaum von dem, was etwa in Rostock, Lübeck oder sogar Hamburg üblich war. Vor allem die Migrationsbewegungen der Organisten innerhalb des Ostseeraums führten zur Verbreitung sowohl des Repertoires als auch der musikalischen Standards, wie es nicht zuletzt am Beispiel Bernhard Petersens und der Visbyer Orgeltabulatur zu ersehen ist1377.
2.2.1.3  Anforderungen an die Organisten im 17. Jahrhundert Während die Ausbildungswege der Stralsunder Organisten des 16. Jahrhunderts zumeist unbekannt bleiben, lassen sich im 17. Jahrhundert an der Stralsunder Nikolaikirche Schüler von Jacob Praetorius (II) (Bernhard Petersen), Samuel Scheidt (Moritz Belitz und Philipp Kaden) und vermutlich auch Heinrich Scheidemann (Johann Martin Rubert)1378 feststellen. Alle diese Organisten waren damit zugleich Enkelschüler des Amsterdamer Orgelmeisters Sweelinck. Ihre Lehrzeiten bei den genannten Organisten galten – zumindest im Falle von Belitz, Kaden und vielleicht auch Rubert – wohl weniger einer ersten Ausbildung als vielmehr der Vervollkommnung ihrer organistischen Fertigkeiten und sind daher eher als Fortbildung zu bezeichnen. Rubert etwa war bereits um die dreißig Jahre alt, als er nach Hamburg kam. Auch im 17. Jahrhundert zählten zunächst die aus dem 16. Jahrhundert übernommenen und oben beschriebenen Kompetenzen zu den grundlegenden Anforderungen an die Organisten1379. Dabei stellt Edler für die Orgelpraxis des 17. Jahrhunderts im Ostseeraum »eine gewaltige Steigerung des Spielniveaus« fest1380. Den Kirchenordnun-
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Mitte des 17. Jahrhunderts nachweisbar, sie spiegeln vermutlich jedoch eine bereits in der gesamten ersten Jahrhunderthälfte übliche Improvisationspraxis wider. Mehrere Stralsunder Organisten des 16. Jahrhunderts etwa kamen aus bzw. gingen nach Lübeck. Zu nennen sind Heinrich Martens, Hans Pape und Hermann Ebel. Mit Bernhard Petersen und Johann Martin Rubert kamen im 17. Jahrhundert zwei in Hamburg ausgebildete Organisten nach Stralsund. Dass Rubert wirklich ein Schüler Scheidemanns gewesen ist, lässt sich nicht mit Sicherheit behaupten. Der Hamburger Organist hat Rubert für den Organistenposten an St. Nikolai in Stralsund empfohlen. Siehe S. 204. Edler (1982), S. 169. Ebd., S. 161.
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gen zufolge wurde den Organisten nunmehr Raum für das Spiel kurzer freier Orgelstücke im Gottesdienst eingeräumt1381. Während die Bedeutung der Intavolierungspraxis des 16. Jahrhunderts allmählich zurückging, verlagerten sich die Anforderungen an die Organisten auf das Generalbassspiel, wie es etwa in den geistlichen Konzerten zu dieser Zeit begegnet. Die ersten Nachweise zum Generalbassspiel in Stralsund stammen aus den 1630er-Jahren. So berichtet der Stralsunder Subrektor Caspar Movius in seinem Kurzen Bericht vom General-Baß (1636), dass die Praxis »inzwischen so gemein, dass ein fast jeder Incipient dero Wissenschaft hat«1382. Tatsächlich durchgesetzt hatte sich die Generalbasspraxis im Norden zu dieser Zeit allerdings wohl noch nicht: Die zweite Auflage seiner HYMNODIA SACRA (1639) sowie seinen TRIUMPHUS MUSICUS SPIRITUALIS (1640) richtete der Stralsunder Subrektor wiederum so ein, dass die Werke auch ohne Generalbass aufgeführt werden konnten1383. Auch Johann Vierdanck schreibt in der Vorrede zu seinem Ersten Theil/ Newer PAVANEN, Gagliarden, Balletten (21641), dass die Kompositionen, so »kein Corpus verhanden/ können sie auch wol ohne General Bass gemacht werden«. Neben dem Generalbassspiel blieb die Improvisationskunst auch im 17. Jahrhundert wichtigstes Handwerkszeug der Organisten. Eine neue Bedeutung kam in diesem Zusammenhang der Affektendarstellung zu1384, die unter anderem einen differenzierteren Umgang mit dem Instrument durch eine bedachte Registerwahl erforderte1385. Erwähnung finden diese neuen Anforderungen in einem Probespielbericht von 1677 im Zuge des neuzubesetzenden Organistenpostens an St. Nikolai. Allerdings bleiben die Anmerkungen in musikalischer Hinsicht wenig konkret, vermutlich deswegen, weil den Kirchenvorstehern der nötige musikalische Sachverstand fehlte. Ihre Entscheidung für Johann Röhle begründeten sie jedenfalls mit seinem verständlichen und anmutigen Spiel, seinem offenbar guten Umgang mit dem Orgelwerk (den Röhle in seinen anderen Stralsunder Organistenämtern bereits hatte beweisen können), seinem christlichen Lebenswandel und der Gabe, »spielender handt manche, auch gottliebende Seele zu einer recht Christlichen göttlichen andacht«1386 zu bewegen. Ausdrucksstarkes klares Orgelspiel zur Erweckung christlicher Andacht hatte für die Provisoren eindeutig Priorität vor dem Nachweis bloßer technischer Virtuosität1387. 1381 Ebd., S. 161f. 1382 Vgl. Movius‘ PSALMODIA SACRA NOVA (1636) und den darin enthaltenen Kurzen Bericht vom General-Baß. 1383 Siehe dazu S. 84f. und 153. 1384 Edler (1982), S. 169. 1385 Ebd., S. 171. 1386 AStN KK [Probespiel um den vakanten Organistenposten an St. Nikolai, 1677]. Vgl. Dok. 12 im Anhang auf S. 373. 1387 So hob sich Röhles Orgelspiel von dem sonst »durch ein ander ohn dergleichen grundt undt trieb, gemachte[n] orgelgewirr« (vgl. ebd.) ab. Vielleicht stand die negative Erfahrung noch mit der Amtszeit und dem Orgelspiel von Röhles Vorgänger Rubert in Verbindung, der des Öfteren u. a. in musikalischen Angelegenheiten in Konflikt mit seinen Vorgesetz-
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Auch beim Probespiel um das Organistenamt an St. Nikolai im Jahre 1703 erwartete man von dem Bewerber, dass er in der Lage wäre, durch sein Orgelspiel verschiedene menschliche Stimmungen in den Zuhörern hervorzurufen. Der Kandidat Christoph Raupach1388 hatte neben dem Generalbassspiel acht vorgegebene Gesänge »ex tempore durchzuführen« und sich dabei »nach eines jeden Gesanges frölichen oder traurigen, ernsthafften oder muntern Worten« zu richten1389. Außerdem präsentierte er eigene Kompositionen. Darüber hinausgehende Zeugnisse zu den Anforderungen an die Stralsunder Organisten des 17. Jahrhunderts sind nicht überliefert. * Wie für das 16. Jahrhundert steht auch für das 17. Jahrhundert zu vermuten, dass sich die an die Stralsunder Organisten gestellten Anforderungen nicht wesentlich von denen anderer norddeutscher Hansestädte unterschieden. Dass an die Stralsunder Ratskirche St. Nikolai nacheinander gleich mehrere Enkelschüler Sweelincks bzw. Schüler der renommierten Organisten Jacob Praetorius (II) (Hamburg), Samuel Scheidt (Halle) und vermutlich auch Heinrich Scheidemann (Hamburg) als Organisten berufen wurden, ist vermutlich kein Zufall und bezeugt die hohen Ansprüche, die man an das Amt stellte. Allerdings dokumentieren die erwähnten Quellen zu den Anforderungen an das Stralsunder Organistenamt ausschließlich die Zustände an der Nikolaikirche. Vergleichbare Zeugnisse zu den Verhältnissen an St. Marien und St. Jakobi fehlen. Es ist wahrscheinlich, dass die musikalischen Ansprüche – zumindest an die weitaus schlechter bezahlten Jakobiorganisten – geringer ausfielen.
2.2.2  Anstellung der Organisten Die grundlegenden Rechtsvorschriften und Modalitäten für die Anstellung der Organisten nach Einführung der Reformation sind in den jeweiligen Kirchenordnungen enthalten. Patronatsherr der Stralsunder Kirchen war der städtische Rat1390, der sowohl das ›ius eligendi‹ als auch das ›ius vocandi‹ bei der Einstellung der Organisten beanspruchte. Allein das Präsentationsrecht übertrug man den Vorstehern der Kirchen. Hinsichtlich der Trennung des ›ius praesentandi‹ vom ›ius eligendi‹ unterschieden sich die Stralsunder Anstellungsmodalitäten offenbar von den durch Edler für Nordelbien beschriebenen, wonach dort »der Patronat [...] das Recht des Auswählens (eliten geraten war. Vgl. dazu Mattheson (1740/1910), S. 299. Neben Röhle hatte sich der Greifswalder Organist Heldt Wulff um das Amt beworben. Vgl. AStN R 34 Begräbnisregister 1654–1693 [1677], fol. 589. 1388 Vgl. zu Raupach S. 208. 1389 Zit. nach Mattheson (1740/1910), S. 285. 1390 Im Gegensatz dazu waren in Nordelbien die Diakone die zuständigen Organe des Patronats. Edler (1982), S. 21.
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gendi) und des Vorschlagens (praesentandi) jedes einzelnen Kirchendieners«1391 hatte. In Stralsund führte die Trennung von Präsentations- und Auswahlrecht wiederholt zu Streitigkeiten zwischen den Kirchenvorstehern und dem städtischen Rat. Gleichwohl bot diese Regelung einige Vorteile. Durch die Übertragung des ›ius praesentandi‹ auf die Provisorate der Kirchen konnten die Vorsteher, die später die unmittelbaren Vorgesetzten der Organisten sein würden, bereits durch ihre Kandidatenauswahl die Verantwortung für eine gute zukünftige Zusammenarbeit mit dem neuen Organisten übernehmen. Außerdem waren sie vermutlich besser als der städtische Rat mit den jeweiligen Arbeitsbedingungen an ihrer Kirche vertraut. Dass der städtische Rat das ›ius eligendi‹ beanspruchte, gewährleistete auf der anderen Seite vergleichbare Verfahren bei der Besetzung der Ämter an allen drei Kirchen, u. a. auch hinsichtlich der an die Organisten gestellten Anforderungen. Ius praesentandi Über die Auswahl potenzieller Kandidaten entschieden die Stralsunder Kirchenvorsteher – die Provisoren der Hauptkirchen –, die ihre Vorschläge dem Rat zu unterbreiten hatten. Unklar bleibt, ob darüber hinaus auch Musiker, beispielsweise die Organisten der anderen Kirchen, beratend in die Kandidatenauswahl einbezogen wurden. Die Suche nach potenziellen Kandidaten für eine vakante Stelle hatte nach dem Ausscheiden des Amtsinhabers zügig zu erfolgen, um den musikalischen Dienst fortführen zu können. Im Jahre 1709 wurden die Provisoren der Marienkirche aufgefordert, sich binnen vier Wochen um die Besetzung der vakanten Stelle zu bemühen und den Rat nach abgelaufener Frist über den Stand der Dinge zu informieren1392. Bis zur Wiederbesetzung wurde das Amt in der Regel durch Organisten aus dem Umland vertreten1393. Für das Probespiel hatten die Provisoren dem Rat wenigstens zwei Kandidaten zu präsentieren, um eine ordnungsgemäße Wahl und Vergleichbarkeit der musikalischen Fertigkeiten zu ermöglichen. Wie die Quellen zeigen, stellten sich auch selten mehr als zwei bis drei Kandidaten den Stralsunder Organistenprobespielen. Ob und wie man vakante Organistenposten außerhalb Stralsunds vermeldete, ist nicht bekannt. Bei der Suche nach potenziellen Bewerbern waren sicher vor allem persönliche Kontakte der Provisoratsmitglieder oder Empfehlungen einflussreicher Stral-
1391 Ebd., S. 21f. 1392 StAS Rep 28-283 Die Besetzung der Organistenstelle an St. Marien 1686–1913 [6.5.1709]. 1393 Während der Vakanz des Organistenpostens an St. Nikolai nach dem Tod von Elias Herlitz (1615) vertrat etwa der Organist »Lorentz« aus Anklam das Amt. Vgl. StAS Rep 28-1029a St. Nikolai Kirchenregister 1602–1628 [1615], fol. 57v: »Lorentz dem Organisten Vann Ancklam, dadt he allhir eine tidtlanck tho S. Niclaß die Orgell vorgestandenn Vndt Vpgewardett gegebenn 36 MS«. Nach dem Ausscheiden von Moritz Belitz (1631) lässt sich Johannes Schomacker als Interimsorganist nachweisen. AStN KR R 33a Ausgaberegister 1629–1673 [1632] und KR R 1/N 1 Landt Register von Ao 1612 biß Ao 1644 [1635], fol. 187.
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sunder Bürger förderlich. Als See- und Handelsstadt verfügte Stralsund über besonders günstige und schnelle Möglichkeiten der Nachrichtenverbreitung. Mangelte es an Bewerbern, bemühten sich die Provisoren der jeweiligen Kirche in benachbarten Städten um potenzielle Kandidaten. Wegen der Besetzung der vakanten Organistenstelle an St. Nikolai im Jahre 1703 findet sich folgender Eintrag in den Ratsprotokollen: »Es werden hhl. Provisores sich nach Stettin und andern Orts umthun ob sich geschickte Organisten, der sich möchten bewegen lassen, hieher bringen zu lassen finden.«1394 Vor allem in Kriegs- und Krisenzeiten erwies sich die Suche nach geeigneten Kandidaten als schwierig. Dabei mangelte es mitunter auch an der Bereitschaft der Bewerber, ein Probespiel zu absolvieren. 1646 waren gleich zwei vakante Stralsunder Organistenposten – an St. Nikolai und an St. Marien – zu besetzen. In beiden Fällen erwies sich die Suche nach potenziellen Kandidaten als schwierig. Für die Nachfolge Johann Vierdancks an St. Marien hatte sich mit Daniel Schröder aus Kopenhagen, der schließlich auch den Zuschlag für das Amt erhalten sollte, zunächst nur ein geeigneter Bewerber gefunden. Auf Anweisung des Rates hatten sich die Provisoren von St. Marien daher »umb noch einer Persohn zur Wahl vorzustellen sich [zu] bemühen«1395. Dies gelang, und so ließ sich zum Probespiel neben Schröder ein namentlich nicht benannter Organist aus Ruppin hören1396. Für den Posten an St. Nikolai mangelte es 1646 hingegen nicht an Kandidaten, sondern an deren Bereitschaft, sich einem Probespiel zu stellen. In den Ratsprotokollen heißt es dazu, »dass sich [...] etliche Organisten zu der vacirenden Stelle fürgestellet, etliche verschrieben, die sich aber zur Probe nicht stellen, sondern eine vocation gewärtigen wollen, wie auch solches sich einer von Anclam vernehmen lasse.«1397
Dass der Stralsunder Posten für die Interessenten nicht lukrativ genug war und sie sich deshalb scheuten, vorab in die Stadt zu reisen, ist zumindest im Falle der Bewerber aus dem Umland (u. a. aus Anklam) unwahrscheinlich, da das Amt an der Stralsunder Ratskirche sicher eine Verbesserung der Verhältnisse für sie bedeutet hätte. Zu bedenken bleibt in diesem Zusammenhang vielmehr, dass derartige (Bewerbungs-)Reisen kostenintensiv und in Zeiten des Dreißigjährigen Krieges auch nicht ungefährlich waren. Probespiel Waren geeignete Bewerber gefunden, hatten diese ihr musikalisches Können in einem Probespiel nachzuweisen, das in der Regel in der Kirche mit dem zu besetzenden Orga1394 StAS Rep 28-282 Besetzung der Organistenstelle an St. Nikolai (1624) 1646–1890. 1395 AStM Kirchenbeamten und Unterbeamten [6.7.1646]. 1396 Ebd. [25.7.1646]. 1397 StAS Rep 28-282 Besetzung der Organistenstelle an St. Nikolai (1624) 1646–1890 [10.3.1646].
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nistenposten stattfand. Dadurch erhielten die Bewerber einen Einblick in die zu erwartenden Arbeitsbedingungen und konnten sich darüber hinaus mit dem zur Verfügung stehenden Instrument vertraut machen. Über die im Probespiel gestellten Anforderungen wurde an anderer Stelle bereits berichtet1398. Ius eligendi/Ius vocandi Nach absolviertem Probespiel erfolgte die Wahl des Amtsinhabers durch den Stralsunder Rat. Gewählt wurde in der Regel ›per sortem‹, d. h. mittels geheimer, mitunter auch ›per aperta suffragia‹, d. h. mittels öffentlicher Abstimmung1399. Wenngleich die Verrichtung der geheimen Wahl aufwendiger war, führte sie aufgrund der nicht öffentlichen Meinungsäußerung vermutlich seltener zu Konflikten. Detaillierte Auskunft zum Anstellungsverfahren kirchlicher Bediensteter und zum Ablauf des geheimen Wahlverfahrens liefert der um 1600 vorgelegte Entwurf einer Stralsundischen Kirchenordnung von Balthasar Prütze1400. Den Bestimmungen dieses Entwurfs zufolge hatte nach erfolgtem Probespiel jeder Stimmberechtigte »der Persohnen Nahmen, die er auf sein gewißen für die dienstlichste und der Kirche nützlichste achten wirdt, als bald zum ersten auf einen Zettel [zu] schreiben«. In mehreren Wahlgängen wurde die Anzahl der Kandidaten systematisch eingeschränkt1401, was allerdings bei Organistenwahlen wohl kaum erforderlich war, da in der Regel nicht mehr als zwei bis drei Kandidaten antraten. Gab es Einwände hinsichtlich des Lebenswandels des gewählten Kandidaten, durften diese – wie auch bei der Besetzung der Lehrämter – innerhalb von drei Tagen geäußert werden. Anschließend wurde der Kandidat vom städtischen Rat bestätigt und erhielt seine Bestallungsurkunde von den Vorstehern der jeweiligen Kirche. Die von Prütze in seinem Entwurf erwähnten Streitigkeiten um die Zusammensetzung der Wahlkommission bei der Besetzung von Ämtern setzten sich auch im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts fort. Vermutlich also war Prützes Vorschlag, die Kommission je nach Status der zu wählenden Person – Superintendent, Prediger, Organist, Kantor – zu erweitern, nicht umgesetzt worden. 1646 jedenfalls forderte neben den Pastoren auch der Superintendent, dem nur das Präsentationsrecht zustand, die Organistenwahl an St. Nikolai beeinflussen zu dürfen; er wurde auf die ihm zustehenden beschränkten Rechte hingewiesen:
1398 Siehe S. 227–232. 1399 Bei Besetzung der Organistenstelle an St. Marien 1709 heißt es beispielsweise: »es ist deliberiret, ob man per aperta suffragia oder per sortem die Wahl verrichten will.« StAS Rep 28-283 Die Besetzung der Organistenstelle an St. Marien 1686–1913 [31.5.1709]. 1400 StAS Rep 28-22 Entwurf einer Stralsundischen Kirchenordnung von Balthasar Preusse (um 1600) 17. Jh. Siehe zum Folgenden darin Nr. (§) 28 sowie zu Prützes Kirchenordnung auch S. 66f. und 187. 1401 Dabei hatten die Wahlberechtigten, die für den Kandidaten mit den wenigsten Stimmen gestimmt hatten, ihre Wahl für die restlichen Kandidaten zu erneuern.
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»bey Nicolai aber beschweren sich Superint. et Pastores, daß sie gar nicht darüber mit vernommen. 21 Apr. 1646. Senatus wil dem hl. Superintendenten dabey keine Contenence zugestehen, sondern verrichtet die wahl allein.«1402
Auch 1743 wurde hinsichtlich der Organistenwahl noch einmal per Ratsdekret festgelegt, dass »provisores bey solchem dienst vorschlagen, Senatus aber wehle«1403. Bestellung von Substituten War das Ausscheiden eines Organisten aus Alters- oder Krankheitsgründen vorauszusehen, bestellte man in der Regel einen Substituten. Dieser hatte die von dem jeweiligen Amtsinhaber geleisteten Dienste teilweise oder vollständig zu übernehmen und sein Gehalt sowie die Einnahmen aus den Akzidentien bis zum Tod des Organisten mit diesem zu teilen. Während es bei den Stralsunder Stadtmusici üblich war, dass der Substitut dem alten Amtsinhaber ein Drittel seines Fixums weiterreichte1404, musste der Jakobiorganist Hinrich von Husen 1640 nur mehr mit einem Viertel seines ehemaligen Fixums (= 60 MS jährlich) auskommen1405. Die Bestellung von Substituten garantierte eine lückenlose Besetzung des Amtes. Zusätzliche Kosten entstanden der Kirche lediglich durch möglicherweise zu beschaffenden Wohnraum. Da der Amtsinhaber in der Regel das Organistenhaus bis zu seinem Tod bewohnte, wurde der Substitut bei fehlendem kirchlichen Wohnraum mit einem Mietzuschuss versorgt. Mitunter hatte er das Organistenhaus auch mit dem alten Amtsinhaber zu teilen1406. Auch die Substituten hatten sich vor ihrer Annahme einem Probespiel zu stellen. Hinter ihrer Bewerbung stand wahrscheinlich in erster Linie die Hoffnung auf das vollständige Organistenamt. Dass ihnen dieses nicht automatisch übertragen wurde, bezeugen die Quellen zur Amtsbesetzung an St. Jakobi in den 1640er-Jahren. Dem Jakobiorganisten Hinrich von Husen war mit Friedrich Schick 1640 ein Substitut an die Seite gestellt worden, da »Alters wegen sein gesichte vnd gehör abgenommen« und er daher »selbigen dienste, selbst in person gebürlich lenger nicht vorstehen«1407 konnte. Die Dauer des Substitutendienstes wurde in diesem Falle zunächst auf ein Jahr begrenzt. Nach Ablauf des Jahres sollte – unabhängig davon, ob der Amtsvorgänger noch am Leben war oder nicht – das Organistenamt wieder ordnungsgemäß besetzt werden. Schick gehörte 1641 nach beendetem Substitutendienst zwar zu den potenziellen Kandidaten für die Amtsbesetzung, doch bemühten sich die Vorsteher von St. Jakobi 1402 StAS Rep 3-1487 Alphabetisches Register über rechtliche Vorgänge (Bruchstück) F–P 16.– 18. Jh. [»Organist«]. 1403 StAS Rep 28-282 Besetzung der Organistenstelle an St. Nikolai (1624) 1646–1890. 1404 Vgl. dazu S. 338f. 1405 AStJ Tit. 2 Nr. 10a [Schreiben der Provisoren von St. Jakobi, 8.4.1642]. 1406 Der 1693 als Substitut für Friedrich Schick angenommene Johann Friedrich Rostcken wohnte mit Schick bis zu dessen Tode im Organistenhaus. StAS Hs. 619 Schriftensammlung des Landrats Hermann Berend Wulfradt, 1552–1778 [25.1.1693]. 1407 AStJ Tit. 2 Nr 10a [Schreiben der Provisoren von St. Jakobi, 29.6.1641].
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dennoch um einen weiteren Bewerber, der sich »neben dem gewesenen Substituto Friderico Schicken vorstellen müchte«1408. Der Ausgang ihrer Bemühungen ist unbekannt; 1641 wurde Schick zum Jakobiorganisten ernannt und stand dem Amt bis 1692 beachtliche 52 Jahre vor. Von Husen, dem man sich von Seiten der Kirche auch weiterhin verpflichtet fühlte1409, wurde trotz der Bestallung Schicks bis zu seinem Tod 1643 finanziell unterstützt1410. Auch Friedrich Schick stellte man im Januar 1693 mit Johann Friedrich Rostcken wiederum einen Substituten an die Seite, der nunmehr – bis zum Tode Schicks – am Festgehalt des Organisten und an den Einkünften aus den Akzidentien teilhatte1411. Die Anstellung von Substituten lässt sich anhand der Quellen lediglich an der Stralsunder Jakobikirche nachweisen. Dass diese Praxis bewusst allein auf diese Kirche beschränkt blieb, ist allerdings unwahrscheinlich.
2.2.3 Dienstverpflichtungen 2.2.3.1  Musik im Gottesdienst Über die Dienstverpflichtungen der Organisten informieren die in den Kirchenordnungen enthaltenen Bestimmungen sowie die überlieferten Bestallungsdokumente der Amtsinhaber. An erster Stelle stand hierbei das Musizieren in den Gottesdiensten. Dabei erscheint die Rolle des Orgelspiels nach Einführung der Reformation zunächst eingeschränkt, wie auch Rampe feststellt: Nach einer »bis dahin täglichen musikalischen Gestaltung der Gottesdienste« waren die Organisten nunmehr nur noch in den Vespergottesdiensten an den Donners- und Samstagen und in den sonn- und festtäglichen Gottesdiensten beschäftigt. Hinzu kam die Verpflichtung zum Orgelspiel während der Frühmesse am Donnerstag1412. Entsprechend erwähnt die Bestallungsurkunde von Moritz Belitz aus dem Jahre 1630 das Orgelspiel an Fest-, Sonn- und Donnerstagen: »fur seine Auffwarttung auff der Orgell, bey der Kirchen zu St. Niclas, auff die Fest=, Sonn= vnd Donnerstage in der Wochen, wie fur diesem hergebrachtt«1413. Das Orgelspiel in der Samstagsvesper wird hier erstaunlicherweise nicht erwähnt, obwohl gerade der samstägliche Vespergottesdienst den Organisten Gelegenheit für musikalische Beiträge bot. 1408 Ebd. [Von bestallung eines Organisten, 30.8. 1641]. 1409 »[…] gleichwol bedencklich vnd unfreuntlich [...], ihme als einen alten emeritum zu verstossen«, ebd. [Schreiben der Provisoren von St. Jakobi, 29.6.1641]. 1410 1641 erhielt er 60 MS jährlich, ab 1642 wurde die Zuwendung auf 72 MS erhöht. Vgl. die Gehaltsübersicht der Jakobiorganisten auf S. 253. 1411 StAS Hs. 619 Schriftensammlung des Landrats Hermann Berend Wulfradt, 1552–1778 [25.1.1693]. 1412 Rampe (2003), S. 14. 1413 AStN KK [Bestallung des Nikolaiorganisten Moritz Belitz, 1.9.1630]. Siehe Dok. 4 im Anhang auf S. 363f.
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Dem Zusatz »wie fur diesem hergebrachtt« zufolge handelte es sich bei den für Belitz beschriebenen Aufgaben um keine Neuregelungen, sondern um die Weiterführung bereits bestehender Verhältnisse, die zunächst in den Kirchenordnungen begründet waren1414. Während in der Bestallungsurkunde für Belitz die Diensttage des Organisten noch gesondert aufgeführt wurden, fehlen diese Angaben im Bestallungsdokument für seinen Nachfolger Philipp Kaden von 1632 bereits. Hier heißt es lediglich, dass Kaden »in allem was alhir vblich vnd ein Erbahr Rath uns künftige wegen Kirchen Ceremonien verordnen mochte gemeß sich zu verhalten« habe1415. In ähnlich offener Weise sind auch die Aufgaben in den nachfolgenden Bestallungsunterlagen für Johann Martin Rubert (1646) und Gottfried Rehberg (1684) formuliert1416. Dass sich die Dienstverpflichtungen der Organisten während dieser Zeit stark veränderten, ist aufgrund gleichbleibender Verordnungen wohl nicht zu vermuten. Vielleicht bemühte man sich jedoch um eine freiere Gestaltung des Orgeldienstes und versuchte vor diesem Hintergrund, feststehende Formulierungen, wie man sie im Falle von Belitz noch gemacht hatte, zu vermeiden. Grundlegend für das Orgelspiel im lutherischen Gottesdienst des 16. und 17. Jahrhunderts war die aus dem katholischen Ritus herrührende Alternatimpraxis1417. War diese in altkirchlicher Zeit durch das wechselweise Musizieren von Priester, Sängern und Organist bestimmt, wechselten im lutherischen Gottesdienst die musikalischen Beiträge von Liturg, Schülerchor, Gemeinde und Organist. Da das altkirchliche Alternatimmusizieren bei Einführung der nachreformatorischen Kirchenordnungen noch gängige Praxis war, fehlt es in den Ordnungen oftmals an genauen musikalischen Ausführungsbestimmungen dazu1418. Als eine wesentliche Quelle zur norddeutschen Alternatimpraxis um 1600 ist die erwähnte Visbyer Orgeltabulatur zu nennen, die aufgrund ihres Autors Berendt Petri bzw. Bernhard Petersen auch für die Stralsunder Praxis bedeutsam war. In der Tabulatur sind unter anderem Sätze einer anonym überlieferten Orgelmesse enthalten, aus denen zu schließen ist, dass sich der Organist im Wechsel mit den Sängern an Kyrie, Gloria, Sanctus und Agnus Dei beteiligte. Auch für die außerdem in der Tabulatur enthaltenen Bearbeitungen von Hymnen und Sequenzen ist eine alternierende Ausführung denkbar1419. 1414 Wie schon erwähnt, galten die pommersche Kirchenordnung und damit auch die Bestimmungen zu den gottesdienstlichen Zeremonien von 1563/1569 bis weit in das 17. Jahrhundert hinein. Vgl. Rampe (2003, S. 15) zum gesamten norddeutschen Raum. 1415 AStN KK [Bestallung des Nikolaiorganisten Philipp Kaden, 6.3.1632]. Siehe Dok. 5 im Anhang auf S. 364. 1416 Siehe Dok. 7 und 13 im Anhang auf S. 367 und 374. 1417 Rampe (2003), S. 48. 1418 Ebd., S. 17: »Der zusätzliche Einsatz der Orgel in Gestalt von Überleitungen sowie Vor-, Zwischen- und Nachspielen zu vom Chor vorgetragenen Stücken war wiederum gängige Praxis im katholischen Ritus und nicht notwendigerweise schriftlich niederzulegen.« 1419 Rampe (2004), S. 188, und ders. (2005), S. 53.
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Da in den Kirchenordnungen und Agenden in der Regel nicht detailliert niedergelegt wurde, in welcher Weise der Organist am Alternatimmusizieren beteiligt war, ist davon auszugehen, dass sein Orgelspiel im Gottesdienst über die enthaltenen Bestimmungen hinausging. Dabei boten die verschiedenen Gottesdienstformen dem Organisten unterschiedliche musikalische Freiräume. In der pommerschen Kirchenordnung von 1535 sind noch keine Angaben zur Beteiligung des Organisten am Gottesdienst enthalten1420. Auch in den Ordnungen für Hamburg und Lübeck wird die Mitwirkung der Orgel am Ablauf des Messgottesdienstes noch nicht erwähnt, obwohl der Organist denselben Ordnungen zufolge »des hilligen dages [zu] spelen« hatte1421. Offenbar war also das Orgelspiel im Gottesdienst – wenn es Orgeln und Organisten gab – so selbstverständlich oder aber so unbedeutend, dass es keiner weiteren Erwähnung bedurfte1422. Bugenhagen selbst hatte das Orgelspiel im Messgottesdienst kurz nach Einführung der Reformation noch nicht für erforderlich erachtet, wie die u. a. von ihm erarbeitete Ordnung für die Wittenberger Schlosskirche von 1525 zeigt: »Organis (quando jam illic sunt) possunt, si voluerint, uti solum dominica die ad Te deum laudamus et si quando Germanica carmina cecinerint. Organa vero ad missam non debent adhiberi.«1423
Die der Bugenhagenschen Kirchenordnung von 1535 nachfolgenden pommerschen Agenden von 1542 und 1569 berichten vom Orgelspiel im Vespergottesdienst, bei der Mette, der Messe und in den Werktagsgottesdiensten. Vesper Neben dem Orgelspiel ›sub communione‹ in der Messe ermöglichte vor allem die Samstagsvesper den Organisten eine musikalische Beteiligung. Vermutlich waren hier »ausgedehnte Solovorträge bereits in den Organistengenerationen um die Mitte des 1420 Die Bestimmungen zu den gottesdienstlichen Zeremonien (»Dat drüdde deel. Van ceremonien«, Sehling [1911], S. 339–344) sind nicht sehr umfangreich, was 1542 die Publikation einer Agende notwendig machte. Die von Rietschel (1893/1971, S. 31) und Rampe (2003, S. 57f.) erwähnten Festlegungen zum Orgelspiel im Gottesdienst entstammen nicht, wie von den Autoren angegeben, der pommerschen Kirchenordnung von 1535, sondern der Agende zur pommerschen Kirchenordnung von 1569. Vgl. Sehling (1911), S. 439. 1421 Vgl. Edler (1982) S. 149, und Sehling (1913), S. 512f., 528–530. Die von Rampe (2003, S. 15f.) aufgelisteten Bestimmungen zum Orgelspiel in der Messe entstammen nicht, wie der Autor angibt, der Hamburger Kirchenordnung von 1529, sondern der Nachfolgeordnung von 1556. Vgl. Sehling (1913), S. 552f. 1422 Vgl. dazu auch Edler (1982), S. 149, und Rietschel (1893/1971), S. 25: »In sehr vielen KOO. wird die Orgel bei der Beschreibung des Gottesdienstes, auch wenn ausführlich über die Ausführung der Gesänge gehandelt wird, gar nicht erwähnt. Man wird allerdings daraus nicht schließen dürfen, dass ihre Verwendung bei dem Gottesdienste völlig unterlassen worden sei.« 1423 Zit. nach Rietschel (1893/1971), S. 18.
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17. Jahrhunderts etabliert«1424. Bestimmungen zum Orgelspiel in der Samstagsvesper sind auch in der pommerschen Agende von 1569 enthalten, wenngleich das erwähnte Bestallungsdokument für Moritz Belitz den Samstag nicht zu den Diensttagen des Organisten rechnet. Dass jedoch die Stralsunder Organisten des 17. Jahrhunderts generell am Samstag nicht musizierten, ist unwahrscheinlich. Nach den Bestimmungen der pommerschen Agende von 1569 unterschieden sich Samstags- und Sonntagsvesper in ihrem Ablauf1425. Im Unterschied zur Vesper am Sonntag enthielt die Samstagsvesper keine Predigt, bot dafür jedoch Raum für eine reichere musikalische Ausgestaltung durch Figural- und Orgelmusik1426. Wohl aus diesem Grund wird in der pommerschen Agende von 1569 das Orgelspiel nur in der Samstags-, nicht aber in der Sonntagsvesper erwähnt. Den Bestimmungen zufolge hatte der Organist nach der Lesung »up der orgel [zu] sin, unde slan tom responsorio, hymno unde magnificat«1427. Nähere Auskünfte zur musikalischen Ausführung enthält die Agende nicht. Im Zentrum des Vespergottesdienstes stand die traditionelle und offenbar überall gängige1428 alternierende Ausführung des Magnificats zwischen Chor und Orgel, die den Organisten Freiraum für Improvisationen bot. Dabei nahm die Ausführung des Magnificats schon hinsichtlich ihrer Länge eine Sonderstellung ein1429. Hinweise auf die Beiträge der Organisten zum Magnificat, wie sie im Stralsunder Vespergottesdienst erklungen sein mögen, liegen in der Visbyer Orgeltabulatur etwa von Hieronymus Praetorius und seinem Sohn Jacob1430 vor, ferner von Heinrich Scheidemann1431 sowie in der Tabulatura Nova III von Samuel Scheidt1432. Verbindungen nach Stralsund gab es bei all diesen Musikern. 1636 veröffentlichte der Stralsunder Subrektor Caspar Movius überdies vier lateinische Magnificatvertonungen im fünften bis achten Kirchenton für zwei Singstimmen und Generalbass1433, die sicher auch in den Stralsunder Vespergottesdiensten erklangen. Während nach der Ratzeburger Vesperordnung von 1614 Orgelspiel in der Samstagsvesper auch über die Alternatimausführungen hinaus beim Ausgang des Gottesdienstes vorgesehen war1434, enthalten die Stralsunder Quellen dazu keine Auskünfte.
1424 Rampe (2003), S. 30. 1425 Vgl. Sehling (1911), S. 435f. und 439. 1426 Rampe (2003), S. 27. 1427 Zit. nach Sehling (1911), S. 435. 1428 Vgl. zur wechselweisen Ausführung des Magnificats zwischen Chor und Orgel auch Eler, Cantica Sacra (1588/2002), o. S.: Vorrede »In Vespertinis Precibvs«. 1429 Rampe (2005), S. 57–62. 1430 Vgl. Praetorius (1963), Organ Magnificat; Praetorius (2000), Drei Praeambula, sowie dazu Rampe (2005), S. 57, und Schneider (2014), Visby. 1431 Vgl. Scheidemann (1970), Orgelwerke, und Rampe (2005), S. 57. 1432 Vgl. Rampe (2003), S. 9. 1433 Caspar Movius, PSALMODIA SACRA NOVA (1636). 1434 »Zuletzt schlägt der Organist eine Mutete oder sonst einen Psalm.« Zit. nach Rampe (2003), S. 31.
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Messe Bei der im Anschluss an die Mette stattfindenden Messe an den Sonn- und Festtagen oblag dem Organisten vordergründig das Spiel ›sub communione‹. Dazu heißt es in der pommerschen Agende von 1569: »Wenn dise gesenge [u. a. die »düdische senge, de sick up de communion rimen«1435] under der communion gesungen werden, schölen de organisten eren gesank mit der orgel deste körter maken, unde nene weltlike, lichtverdige gesenge slan. De pastor schal vorschaffen, dat de orgeln der maten modereret werden, dat men de düdischen psalme under der communion mit der gemeine ganz tom ende singe, unde dat de vörgesetteden gesenge umschichtich gesungen werden, dat dat chor unde dat volk einen vers umme den andern singe, up dat se alle to gelick den schölern unde der gemeine gebrücklick werden, derwegen kan de organiste ein mal tom anfange, ein mal im middel, na gelegenheit, einmal tom ende, vor der collecta, orgelen.«1436
Das Orgelspiel – »ein mal tom anfange, ein mal im middel [...] einmal tom ende« – umrahmte hier offenbar den alternatim ausgeführten Gesang von Gemeinde und Schülerchor1437, die man mit den deutschen Kirchenliedern vertraut machen wollte. Die musikalischen Beiträge des Organisten sollten dabei kurz sein (»schölen de organisten eren gesank mit der orgel deste körter maken«), um die Ausführung der Gesänge, die man »mit der gemeine ganz tom ende« sang, nicht zu behindern. Außerdem sollte der Organist ausschließlich auf der Grundlage geistlicher Vorlagen improvisieren. Für einen orgelbegleiteten Gemeindegesang gibt es aus Stralsund – wie auch aus den anderen norddeutschen Hansestädten – aus dieser Zeit noch keine Zeugnisse1438. Dass die Gemeinde allerdings im Wechsel mit dem Schülerchor die deutschen Choralstrophen sang, bezeugt unter anderem die oben aufgeführte Bestimmung. Als Vorspiele und für die wechselweise Ausführung von Choralstrophen auf der Orgel dienten vermutlich ein- und mehrteilige Choralbearbeitungen, wie sie wiederum etwa in der Visbyer Orgeltabulatur von Jacob Praetorius (II), aber auch von Heinrich Scheidemann, Samuel Scheidt (Tabulatura Nova III, 1624) und Jan Pieterszoon Sweelinck vorliegen1439. Wie die hohen Zahlen der Gottesdienstbesucher vermuten lassen, konnte die Kommunion wohl ein bis zwei Stunden dauern1440. Sollten die pommerschen Organisten nach der Kirchenordnung von 1569 noch möglichst kurze musikalische Beiträge zur Kommunion liefern, dehnten sich ihre Vorträge im Verlauf des 17. Jahrhunderts vermutlich aus. Gerade das Spiel ›sub communione‹ ermöglichte den Organisten nun1435 Zit. nach Sehling (1911), S. 439. 1436 Zit. nach ebd. 1437 Vgl. dazu auch Rietschel (1893/1971), S. 31. 1438 Vgl. Rampe (2003), S. 48–50. 1439 Vgl. dazu ebd. (2004), S. 183–188. 1440 Ebd., S. 184.
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mehr, ausgedehnte Choralfugen oder Choralfantasien vorzutragen, aber auch die Aufführung intavolierter Motetten oder vokal-instrumentaler Ensemblemusik (›Organistenmusiken‹1441). Die Beteiligung des Organisten an der sonntäglichen Messe über die Kommunion hinaus wird in der pommerschen Agende nicht erwähnt. Für eine komplett alternatim ausgeführte Messliturgie im Wechsel von Sängern und Orgel, wie durch die anonyme Orgelmesse in der Visbyer Tabulatur belegt, gibt es aus Stralsund keine Nachweise. Neben der Orgelmusik ›sub communione‹ belegen die lutherischen Kirchenordnungen des 17. Jahrhunderts mitunter das Orgelspiel zum Ausgang des Gottesdienstes1442. Neue Ordnungen für Stralsund oder Pommern liegen aus dieser Zeit allerdings nicht vor. Mette In den pommerschen Agenden von 1542 und 1569 wird auch der gottesdienstliche Gebrauch der Orgel bei der Sonn- und Festtagsmette erwähnt: »Am sondage des morgens um vive schall eine fro predige geschen, darna um sosse scholen de scholer eine metten singen, nemlick einen psalm, twe, effte dree, mit einer antiphon, van der dominica, ut dem psalter genomen [...] Effte vam feste, darna eine latinsche lection, dorch twe knaben ut dem olden testament, und darup ein responsorium, darna lese men vorm chor düdesch, wat me im chor latinsch gelesen hefft, und darup, dat te deum laudamus latinisch, wor men orgel und organisten hefft, dar sla die organista dat responsorium, und darnach dat te deum laudamus, und beslute idt mit der collecten und benedicamus domino.«1443
Dem Zitat zufolge wurde die Liturgie also vermutlich wechselweise von Organist und Schülerchor ausgeführt. Auf die Alternatimpraxis ausgerichtete Te-Deum-Bearbeitungen in deutscher und lateinischer Sprache, wie sie in der Frühmette erklungen sein mögen, sind u. a. in zwei Lüneburger Tabulaturhandschriften überliefert1444. Werktagsgottesdienste Neben der Beteiligung bei Vesper, Mette und Messe an Sams- und Sonntagen war das Orgelspiel nach der pommerschen Agende von 1569 auch in den übrigen Werktagsgottesdiensten vorgesehen. Pommersche Kirchenordnung und Agende (1563/1569) schrieben unter der Woche eine tägliche Frühmesse und eine Vesper vor: 1441 Vgl. dazu die Ausführungen auf S. 245–247. 1442 Vgl. dazu Rampe (2003), S. 15–27. 1443 Zit. nach Sehling (1911), S. 356. Unverändert erscheinen die Bestimmungen zur Frühmette in der Agende von 1569. Ebd., S. 436f. 1444 Lüneburger Tabulatur Mus. ant. pract. KN 208/1-2 sowie die anonyme Tabulatur Mus. ant. pract. KN 207/17/1 (in: D-Lr). Vgl. Rampe (2005), S. 55 und 72, sowie Reimann (1957) und dies. (1968).
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»In groten steden kan wol alle dage ein sermon gescheen. [...] Wo orgeln sint, kan de organiste dat benedictus orgeln. [...] Wenn de schöler ut der schole gan tor vesper tidt edder jegen avend, schölen se mit den scholpersonen to chore gan unde singen eine antiphen, mit einem psalme ganz edder halff.«1445
Bis zur Gründung des Stralsunder Gymnasiums (1560) beschränkten sich die Vespergottesdienste – und damit vermutlich auch die Orgeldienste unter der Woche – zunächst auf die Nikolaikirche: »Des namiddages överst schal allene to S. Nicolaus, dieweile de grote schole dar is, umme seiers II [14 Uhr] die korten vesper psalmen mit den antiphen gesungen werden.«1446
Nach Gründung des Gymnasiums sang man die Vesper reihum an den drei Kirchen: am Montag an St. Nikolai, am Dienstag an St. Marien und am Donnerstag an St. Jakobi1447. Vermutlich hatten sich die Verhältnisse im 17. Jahrhundert erneut geändert, wird unter den Dienstzeiten des Stralsunder Nikolaiorganisten Belitz doch nur der Donnerstag erwähnt1448. Fazit Die Bestimmungen der pommerschen Kirchenordnungen zum Orgelspiel im Gottesdienst, die auch für Stralsund heranzuziehen sind, unterscheiden sich nicht oder nur unwesentlich von denen der benachbarten Herzogtümer bzw. Freien Reichsstädte. Hier wie dort wurden gängige altkirchliche Praktiken – wie etwa das Alternatimmusizieren – in den lutherischen Gottesdienst übernommen. Da diese Praktiken bekannt und gebräuchlich waren, sind die Bestimmungen in den Ordnungen dazu oftmals nur wenig ausführlich. Jedoch kann im protestantischen Norden wohl eine grundsätzlich vergleichbare Organisation der Gottesdienste auch in musikalischer Hinsicht angenommen werden, sodass sich die vorliegenden Ordnungen als einander ergänzend betrachten lassen. Der Orgeldienst blieb für die Organisten des 16. und 17. Jahrhunderts auf die Gottesdienste am Samstag, Sonn- und Festtag sowie darüber hinaus mitunter auch in der Frühmesse und Vesper unter der Woche beschränkt. Verschiedene Gottesdienstformen boten dabei unterschiedliche Möglichkeiten der musikalischen Beteiligung. Trotz fehlender Quellen ist davon auszugehen, dass in Stralsund, wie auch anderswo, vor allem die Samstagsvesper den Organisten Raum für künstlerische Entfaltung bot. Orgelrepertoire aus Stralsund liegt nicht vor1449; allerdings lassen die vielfältigen Kontakte zu den anderen Hansestädten im Ostseeraum auch hier auf eine Musizierpraxis 1445 Zit. nach Sehling (1911), S. 440f. 1446 Zit. nach ebd., S. 551 (Kirchenordnung Knipstros von 1555). 1447 Zober (1839), S. 36. Vgl. auch die Ausführungen zum Kirchengesang in den Stralsunder Gottesdiensten auf S. 124–126. 1448 Siehe Dok. 4 im Anhang auf S. 363f. 1449 Von der fragmentarisch überlieferten Toccata Vierdancks sei hier abgesehen.
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schließen, wie sie durch die überlieferten Handschriften und Drucke der niederländischen und norddeutschen Orgelschule bezeugt ist.
2.2.3.2  Außergottesdienstliche Aktivitäten und Orgelbau Die nicht durch das regelmäßige gottesdienstliche Musizieren belegten Wochentage standen den Organisten für anderweitige Betätigungen inner- und außerhalb der Kirche zur Verfügung. Dazu zählte in erster Linie das Musizieren auf Hochzeiten, die in Stralsund von Montag bis Mittwoch und später auch am Donnerstag stattfanden1450. Der Organist war dabei für die seinem Kirchspiel zugehörigen Hochzeiten zuständig, musizierte bei der Brautmesse in der Kirche und darüber hinaus mitunter auch bei den anschließenden Festivitäten1451. Der Stralsunder Hochzeitsordnung von 1570 zufolge sollte in der Kirche »georgelt vnd figuriret«1452 werden. An der Ausführung dieser Figuralmusiken waren neben dem Organisten der Kantor mit seinem Schülerchor und bei Hochzeiten im oberen Bürgerstand mitunter auch die städtischen Instrumentalisten beteiligt. Nach der Hochzeitsordnung von 1702 sollte, »wenn Bräutigam und Braut in die Kirche und wieder herausgehen/ mit der Orgel gespielet und sonst musiciret werden«1453. Dies galt allerdings nur für die Hochzeiten der beiden oberen Stände: Hochzeiten des dritten Standes blieben vom Orgelspiel ausgenommen1454. Nähere Auskünfte zur Art der Musik sind aber auch in dieser Ordnung nicht enthalten. Neben ihren musikalischen Verpflichtungen waren die Organisten für die Pflege und Wartung ihres Instruments und darüber hinaus für kleinere Reparaturen an den Orgeln zuständig. Moritz Belitz war 1630 dazu verpflichtet worden, »die Orgell vnd was dem veranhengig, in guetter auffachtt Zu haben«1455, und Philipp Kaden wurde 1632 gemahnt, »die ihme anbetraute Orgel zu solcher obacht zu haben alß ein getreuwen Organisten gefugt«1456. Wie sich die Form dieser »auffachtt« zu gestalten hatte, wird nicht weiter erläutert. Sicher lag es im Interesse der Kirche, kleinere Reparaturen von den Organisten selbst vornehmen zu lassen, um Orgelbauerkosten zu sparen. Auch ›hafteten‹ die Organisten offenbar während ihrer Amtszeit für den Zustand ihrer Instrumente und hatten größere Mängel möglichst zügig zu melden. In mehreren Fällen sind Gutachten zum Zustand der Orgeln überliefert, mit denen die neuen Amtsinhaber den Status quo festhielten, um spätere Konflikte zu vermeiden.
1450 Siehe S. 163 im Kantoratskapitel. 1451 »[…] dem Organisten [...]/ wann sie bey der Mahlzeit mit auffwarten«, Hochzeitsordnung 1702: D-GRu Sign. 520/Ob 579 (2) Adn. 6, Cap. XIV. 1452 Zit. nach Zober (1866), S. 169. 1453 Hochzeitsordnung 1702: D-GRu Sign. 520/Ob 579 (2) Adn. 6, Cap. VIII. 1454 Ebd., Cap. XIV. 1455 AStN KK [Bestallung des Nikolaiorganisten Moritz Belitz, 1.9.1630]. Vgl. Dok. 4 im Anhang auf S. 363f. 1456 Ebd. [Bestallung des Nikolaiorganisten Philipp Kaden, 6.3.1632].
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Die noch im 16. Jahrhundert zu beobachtende enge Verbindung zwischen dem Organistenamt und dem Orgelbau1457 hatte sich im 17. Jahrhundert bereits gelöst. Für den Nikolaiorganisten Johann Martin Rubert zählten orgelbauliche Aufgaben kaum mehr zu seinen Dienstverpflichtungen, da er sich als Künstler und Musiker verstand. Dies zeigt ein Beschwerdeschreiben, in dem Rubert angibt, dass es »nimmer einen organisten zu stehet, orgelbauer arbeyt zu thun, ist genug wan er seine orgel in Spielen und Musicjren fein künstlich und lieblich zu tractjren weiß, weil es nicht allen gegeben, solches zu thun.«1458
2.2.4 ›Organistenmusik‹ Die im Zusammenhang mit der überlieferten Vokalmusik Dieterich Buxtehudes entstandene Diskussion um den Einsatz sogenannter Organistenmusiken und die Kompetenzbereiche von Kantor und Organist ist auch im Falle Stralsunds von Bedeutung. Auch hier liegen mit den geistlichen Konzerten von Johann Vierdanck und Johann Martin Rubert zahlreiche aus der Feder von Organisten stammende vokalgeistliche Kompositionen vor1459. Der Terminus ›Organistenmusik‹ wird im Folgenden zur Bezeichnung der von den Stralsunder Organisten komponierten (Vokal-)Musik neuen Stils verwendet1460. Das gesamte 17. Jahrhundert hindurch betätigten sich in Stralsund, abgesehen vom Subund Konrektor Caspar Movius, allein die Organisten auf dem Gebiet der Komposition. Von Kantoren geschriebene musikalische Werke lassen sich in dieser Zeit nicht nachweisen1461. Dass insbesondere Organisten auf dem Gebiet vokal-instrumentaler Konzertmusik im 17. Jahrhundert hervortraten, ist nicht ungewöhnlich und nicht auf Norddeutschland beschränkt1462, auch wenn Edler »die Affinität des Organistenstandes zum Musikalisch-Neuen« als charakteristischen Zug der soziomusikalischen Struktur Norddeutschlands seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts« bezeichnet1463 und dies vor allem in der 1457 Vgl. dazu auch Edler (1982), S. 35. 1458 AStN KK [Schreiben Johann Martin Ruberts an das Provisorat von St. Nikolai, 15.12.1672]. 1459 Vgl. die Werkverzeichnisse der Organisten auf S. 390–397. 1460 Von Johann Vierdanck liegen neben seinen vokalgeistlichen Kompositionen auch instrumentale Ensemblemusik sowie das fragmentarisch überlieferte Manuskript einer Toccata für Tasteninstrumente vor. 1461 Der einzig nachweislich komponierende Stralsunder Kantor war Eucharius Hoffmann. Vgl. dazu die Ausführungen zum Stralsunder Kantorat, insbesondere S. 152. 1462 Auch die Leipziger Nikolaiorganisten Samuel Michael, Johann Rosenmüller oder Adam Krieger schufen neben instrumentaler Ensemblemusik vokal-geistliche Kompositionen. Vgl. Küster (2006), Leipziger, S. 65f. 1463 Edler (1982), S. 59.
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Rezeption venezianischer, holländischer und englischer Vorbilder in den großen Hansestädten des Nordens begründet sieht. Als bezeichnendes Beispiel für Norddeutschland gilt in diesem Zusammenhang das umfangreiche Kantatenschaffen Dieterich Buxtehudes. Dass Tastenmusik im Gegenzug in der Werküberlieferung der Organisten zurücktrat – im Falle Stralsunds ist lediglich der Beginn einer Toccata Vierdancks überliefert –, dürfte vornehmlich in der improvisatorischen Orgelpraxis der Zeit begründet sein1464. Am Beispiel des Vierdanckschen Toccatenfragments hat Schneider gleichwohl unter Hinweis auf Michael Praetorius die Funktion von Präludien für die Figuralmusik erläutert. Demnach dienten die einleitenden Orgelstücke dazu, Zuhörer wie Musiker zusammenzurufen, den Spielern von Saiteninstrumenten das Nachstimmen zu ermöglichen, indem der Organist die den leeren Saiten entsprechenden Töne länger auszuhalten hatte, und die Zuhörer auf die Figuralmusik einzustimmen1465. Welche Funktionen die vokal-geistlichen Kompositionen der Stralsunder Organisten einnahmen und welche Rolle ihre Verfasser dabei spielten, ist im Folgenden zu diskutieren. Da sich außergottesdienstliche Musiken in Stralsund im 17. Jahrhundert nicht nachweisen lassen, ist zunächst einmal davon auszugehen, dass die Vokalkonzerte von Vierdanck, Rubert und Movius im Stralsunder Gottesdienst – bei der Kommunion in der Messe oder in den sonn- und festtäglichen Vespergottesdiensten1466 – aufgeführt wurden. Unklar bleibt, ob dies im Rahmen der rotierenden Figuralmusiken unter der Leitung des Kantors oder darüber hinaus erfolgte1467. Nach den Hypothesen von Friedrich Wilhelm Riedel und Martin Geck – Riedel unterstellte den norddeutschen Organisten die Präferenz vokal-instrumentaler Ensemblemusik unter Abwertung der Orgelmusik1468, Geck sah die Organistenmusik in klarer Abgrenzung und Konkurrenz zur Kantorenmusik1469 –, stellte Friedhelm Krummacher bereits 1968 aufgrund der Quellenlage heraus, dass es eine regelmäßige und institutionalisierte Organistenmusik mit der Aufführung eigener Werke durch die Amtsinhaber, abgesehen von der Musik ›sub communione‹, in Norddeutschland nicht gegeben habe1470. Gegenteiliges lässt sich auch für Stralsund nicht feststellen. Ähnlich wie in Hamburg rotierte die Aufführung figuraler Musiken an den Stralsunder Hauptkirchen. In den Kirchen, in denen der Kantor gerade nicht musizierte, leiteten die als Con- oder Succentoren bezeichneten Lehrer der Lateinschule üblicherweise den (choralen) Kirchengesang1471. 1464 Vgl. auch Rampe (2005), S. 115, sowie Schneider (2014), Orgelspiel, besonders S. 67–69. 1465 Schneider (2009) unter Verweis auf Praetorius (1619/1958), Termini, S. 151. 1466 Vgl. zur Musik bei der Kommunion S. 241f. Zur Musik in den Vespergottesdiensten am Sonn- und Feiertag vgl. Sehling (1911), S. 439. 1467 Siehe zur Organisation der Figuralmusiken an den Stralsunder Kirchen S. 149–155. 1468 Riedel (1960), S. 180. 1469 Geck (1965), S. 60–67. 1470 Krummacher (1968), S. 83–90. 1471 Bartholdi (StAS Hs. 434), fol. 193.
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Vielleicht also erklangen die Organistenmusiken unter der Leitung des Kantors und unter Mitwirkung des Organisten und Komponisten an den für die Figuralmusik festgelegten Tagen in den jeweiligen Kirchen. Vielleicht aber trugen die Konzerte, wie die Hamburger Organistenmusiken1472, auch den Charakter von ›Ersatzmusiken‹ und fanden unter der Leitung der Organisten und/oder der zuständigen Con- und Succentoren in den Kirchen statt, in denen der Kantor gerade nicht musizierte. Eindeutige Belege gibt es für keine der angegebenen Möglichkeiten, wenngleich Prost berichtet, dass die Stralsunder »Stadtpfeifer [...] überliefertermaßen an Festtagen an beiden Hauptkirchen Stralsunds [St. Nikolai und St. Marien] Dienst hatten«1473. Eine Türöffnung zum Turmraum hin diente ihnen dazu, unbemerkt auf die Orgelempore – bei Musiken auf der Orgel – zu gelangen1474. Der Verfasserin liegen keine Hinweise auf die von Prost erwähnte Regelung vor, doch erscheint es durchaus plausibel, dass die Stralsunder Organisten ihre Konzerte unter eigener Regie aufführten, wenn an ihren Kirchen keine Figuralmusik vorgesehen war. Die Stralsunder Kantoren treten als Komponisten im 17. Jahrhundert komplett zurück. Das von Edler für Nordelbien beschriebene Bemühen, »sich den Bereich der modernen Stilarten nach und nach zu erschließen«1475, zeigten sie nicht auf kompositorischem Gebiet, sondern vermutlich lediglich als musikalische Leiter figuraler Aufführungen. Konkurrenzstreitigkeiten zwischen Kantor und Organist hat es in Stralsund dennoch offenbar nicht gegeben1476. So äußerte der Jakobiorganist Friedrich Schick 1646 die Hoffnung, dass »ein Erenuester hochweiser Rahtt sich dernach bemühen Werden einen guten Cantorem widerumb zu vociren, damit die Music nicht nidergeleget, besonderen in guten Rhumb wie bißhero kan erweitert werden.«1477
2.2.5  Materielle Verhältnisse Wie bei Kantor und Ratsmusikanten setzte sich das Einkommen der Organisten aus unterschiedlichen Posten zusammen. Zumindest für das 17. Jahrhundert relativ leicht zu ermitteln sind die in den kirchlichen Rechnungsbüchern aufgeführten und an die Organisten ausgezahlten Festbeträge. Dazu zählt in erster Linie und als größter Posten das quartaliter – zu Ostern, Johannis, Michaelis und Weihnachten – gezahlte Fixum. 1472 Edler (1982), S. 55. 1473 Prost (1996), S. 2. 1474 Ebd. Unklar bleibt, warum die Jakobikirche von den Diensten der Stadtpfeifer ausgenommen blieb. Vielleicht, weil der Jakobiorganist keine Figuralmusiken verfasst hatte? 1475 Edler (1982), S. 59. 1476 Edlers (ebd., S. 57) Untersuchungen zufolge waren Streitigkeiten zwischen Kantoren und Organisten im nordelbischen Raum vor allem »individuell-personeller« Natur. 1477 AStJ Tit. 2 Nr. 10a [Vorschläge des Organisten Friedrich Schick für den Orgelumbau in St. Jakobi, 10.6.1646].
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Zu den feststehenden Beträgen für Organisten gehörten daneben die Aufwendungen für Naturalien. Zumeist jährlich gezahlt wurde das sogenannte Holz- und Lichtgeld1478, im 17. Jahrhundert darüber hinaus zumindest zeitweise auch ein Weingeld. Weitaus schwieriger als die feststehenden Einnahmen sind wiederum die als Akzidentien bezeichneten unregelmäßigen Einkünfte der Organisten zu ermitteln. Von unterschiedlicher Seite bezahlt und daher nicht einheitlich verzeichnet und von den Organisten eigenverantwortlich verwaltet, lässt sich die Höhe dieser Einkünfte aufgrund fehlender Quellen kaum bestimmen. Dadurch bleibt nicht nur das Verhältnis von Festgehalt und Akzidentien, sondern auch die reale Einkommenshöhe der Organisten unklar. Aussagen zur gesellschaftlichen Bedeutung des Organistenstandes auf dieser Grundlage sind somit nur bedingt möglich. Als Kirchenbedienstete waren die Organisten von bürgerlichen Steuerzahlungen befreit1479. Außerdem wurden sie mit kostenlosem kirchlichem Wohnraum oder Mietzuschüssen versorgt. Um ihre tatsächliche finanzielle Situation einschätzen zu können, wäre neben der Untersuchung ihrer Gehälter die allgemeine Preisentwicklung zu berücksichtigen. Nur so ließe sich ihr als Reallohn zu bezeichnendes tatsächliches Einkommen bestimmen. Beeinflusst wurden die regionalen Lohn- und Preisentwicklungen, die im Übrigen oftmals nicht parallel verliefen1480, in erster Linie durch politische bzw. kriegerische Ereignisse, wirtschaftliche Entwicklungen sowie Bevölkerungszuoder -abnahmen. Unabhängig von den allgemeinen Entwicklungen im Lohn- und Preisniveau konnten besondere Ereignisse den Finanzhaushalt einer Stadt beeinflussen. Im Falle Stralsunds führten sowohl die Belagerungen der Jahre 1628 und 1678, die verheerenden Stadtbrände sowie die durch den Allianzvertrag mit Schweden entstandenen enormen Kosten für die Einquartierung des Militärs zu einer Schwächung des städtischen Finanzhaushalts. Eine detaillierte Beurteilung der finanziellen Situation einer Berufsgruppe über einen längeren Zeitraum hinweg erweist sich somit als eine außerordentlich komplexe Angelegenheit, für die eine Reihe an Vorarbeiten nötig wäre. Da diese im Falle Stralsunds nicht vorliegen1481, ist eine Bestimmung der Reallöhne im Rahmen dieser Untersuchung kaum möglich. Hingewiesen sei jedoch auf einige allgemein zu beobachtenden Entwicklungstendenzen während dieser Zeit. Bereits Moritz John Elsas wies in seinen Untersuchungen zur Preis- und Lohnentwicklung in Deutschland für das 16. Jahrhundert zunächst eine 1478 Lichtgeld wurde für den Erwerb von Kerzen gezahlt. 1479 Sehling (1911), S. 336. Eine Aufhebung dieser Privilegien, wie von Edler (1982, S. 22) für Nordelbien im Verlauf des 17. Jahrhunderts festgestellt, gab es in Stralsund offenbar nicht. 1480 Die Lohnerhöhung hinkte der Preisentwicklung in der Regel hinterher. Vgl. Elsas (1936), S. 73f. Auch die Preisentwicklung verlief im Übrigen nicht für alle Warengruppen gleich. So haben sich die Preise für gewerbliche Waren im 16. Jahrhundert weniger erhöht als die für die Hauptnahrungsmittel. Vgl. ebd., S. 76f. 1481 Lediglich für die Jahre zwischen 1630 und 1648 liegt eine Untersuchung von Hacker (1979) zur finanziellen Situation der Stadt vor.
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Absenkung der Reallöhne nach, da in dieser Zeit die Preise schneller stiegen als die Löhne. Mit Beginn des Dreißigjährigen Krieges lassen sich eine allgemeine Lohnerhöhung und ein Preisverfall erkennen1482, die auch für den Rest des Jahrhunderts kennzeichnend bleiben. Begründet war der Preisverfall in erster Linie in der enormen Bevölkerungsabnahme während des Dreißigjährigen Krieges, die durch die Reduzierung der zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte zu Lohnsteigerungen führte. Edler verweist für Nordelbien auf die bevorzugte Stellung der Hafenstädte während des Dreißigjährigen Krieges, die von der schwierigen Lage der Landwirtschaft durch Bevölkerungsrückgang und Preisverfall weniger als Kleinstädte und Dörfer betroffen waren. Für Hamburg lässt sich anhand der Vermögenssteuer sogar eine Steigerung des Wohlstandes während des Dreißigjährigen Krieges nachweisen1483. Differenzierte Aussagen zur finanziellen Situation Stralsunds im 16. und 17. Jahrhundert lassen sich – den von Hacker behandelten Zeitraum ausgenommen – aufgrund fehlender Vorarbeiten nur schwer treffen. Im Folgenden sei versucht, die aufgezeigten Entwicklungen mit den durch die Stralsunder Quellen nachweisbaren Gehaltszahlungen an die Organisten in Einklang zu bringen.
2.2.5.1 Fixum 16. Jahrhundert Analog zu den von Edler festgestellten Verhältnissen in den nordelbischen Hansestädten1484 stiegen auch die Stralsunder Organistengehälter seit der Mitte des 16. Jahrhunderts an. Wie schon erwähnt, ist zeitgleich ein starker Preisanstieg zu beobachten, durch den die Reallöhne vermutlich weitaus weniger stiegen als das allgemeine Lohnniveau1485. Dass die Organisten des 16. Jahrhunderts angemessen zu entlohnen waren, wird schon in den Kirchenordnungen und Visitationsrezessen der Zeit gefordert. Allerdings erscheint ihr Status in den ersten Jahrzehnten nach Einführung der Reformation noch wenig definiert und wird die Höhe ihrer Besoldung weder in der ersten (1535) noch in der zweiten pommerschen Kirchenordnung (1563) festgelegt1486. Auch in den Rechnungsbüchern der Stralsunder Kirchen sind nur vereinzelte Angaben zur Organistenbesoldung im 16. Jahrhundert enthalten. Verzeichnet sind in dieser 1482 Elsas (1936), S. 77. 1483 Edler (1982), S. 73. 1484 »In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist allgemein ein starker Anstieg der Organistengehälter zu beobachten [...]. Besonders stark war dieser Anstieg naturgemäß in den Hansestädten.« Ebd., S. 37. 1485 Edler (ebd.) stellt für Nordelbien fest, dass der Lohnanstieg in dieser Zeit »kaum mehr bewirkte als den Ausgleich der starken Geldentwertung von etwa 2/3 zwischen 1546 und 1622«. 1486 Vgl. die Ausführungen zu den Kirchenordnungen auf S. 183–187.
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Zeit vor allem Naturallieferungen. Diesen zusätzlich zum Fixum gewährten Zuwendungen kam im 16. Jahrhundert aufgrund einer zunächst niedrigeren Festbesoldung eine offenbar größere Bedeutung als in nachfolgender Zeit zu. So entsprach die dem Marienorganisten Johannes Papa 1571 zugestellte Holzlieferung mit einem Wert von etwa 20 MS immerhin einem Sechstel seines Jahresfixums1487. Dagegen machten die an den Marienorganisten Nikolaus Petersen 1613 gezahlten 30 MS für Holz nur noch ein Zehntel seiner Jahresbesoldung von inzwischen 300 MS aus1488. Angaben zur Höhe des Organistenfixums im 16. Jahrhundert liegen nur für St. Marien und St. Jakobi vor. Vermutlich war das Fixum des Organisten an der Stralsunder Hauptkirche St. Nikolai bereits zu dieser Zeit etwas höher als an den anderen beiden Kirchen, obgleich Bugenhagen in seinem Visitationsrezess von 1535 zunächst gleiche Gehälter für die Kirchenbediensteten (Prediger, Küster) an den drei Kirchen vorgeschlagen hatte1489. Ähnliches ist für Hamburg und Lübeck festzustellen. Auch hier bezogen die Organisten – je nach Bedeutung der Kirche – bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts unterschiedliche Festgehälter, obwohl die Kirchenordnungen der Städte von 1529 bzw. 1531 für jeden der vier Organisten zunächst 50 ML vorgeschlagen hatten1490. Verglichen mit Lübeck erscheinen die Stralsunder Gehaltsverhältnisse im 16. Jahrhundert ähnlich. Da sich allerdings nur die Gehälter der Stralsunder Marien- und Jakobiorganisten für diese Zeit bestimmen lassen, wurden für den folgenden Vergleich in erster Linie die Gehaltsverhältnisse an den ›kleineren‹ Lübecker Hauptkirchen berücksichtigt. Der 1556 angenommene Stralsunder Jakobiorganist Johann Mengenhusen bezog ein jährliches Festgehalt von 24 Gulden (= 72 MS)1491. Im folgenden Jahr betrug das Organistengehalt zwischen 70 und 90 MS1492. An den bereits erwähnten Johannes Papa, Marienorganist um 1570, wurden 120 MS jährlich gezahlt1493. Die Lübecker Petriorganisten bezogen in diesem Zeitraum ein ähnliches Gehalt. Dieses ist im Jahre 1542 mit 40 ML (= 80 MS), 1570 mit 50 ML (= 100 MS) und 1580 mit 60 ML (= 120 MS) angegeben1494. Das Organistengehalt am Lübecker Dom war etwas höher und betrug am Ende des 16. Jahrhunderts 80 ML (= 160 MS)1495. 1487 Vgl. StAS Rep 28-638 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1566–1608 [1571] und StAS Rep 28-639 Register St. Marien Einnahme & Ausgabe 1552–1609 [1571]. 1488 Vgl. StAS Rep 28-702 Matrikel der Marienkirche 1614. 1489 Vgl. Sehling (1911), S. 549. 1490 Vgl. ders. (1913), S. 512; Stahl (1952), S. 32–34; und Leichsenring (1922/1982), S. 112–123. 1491 StAS Hs. 619 Schriftensammlung des Landrats Hermann Berend Wulfradt, 1552–1778, fol. 427 (neue Paginierung). 1492 StAS Rep 28-880 St. Jakobi Einnahme und Ausgabe [1557]. 1493 StAS Rep 28-638 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1566-1608 [1570/71]. 1494 Vgl. Stahl (1952), S. 33. 1495 Ebd., S. 34. An der bedeutenderen Lübecker Marienkirche bezog der Organist David Aebel 1564 schon 160 ML (= 320 MS). Vgl. ebd., S. 32.
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In etwa vergleichbar waren die Stralsunder Organistengehälter sowohl im 16. als auch im 17. Jahrhundert außerdem mit den in Rostock gezahlten Fixa1496. Höhere Gehälter zahlte man bereits im 16. Jahrhundert in der bedeutenderen Reichsstadt Hamburg. Der Hamburger Katharinenorganist Valentinus bezog 1542 bereits 72 ML jährlich (= 144 MS), 1546 80 ML (= 160 MS) und seit 1554 schließlich 120 ML (= 240 MS)1497. Auch die Besoldung des Hamburger Jacobiorganisten Jacob Schulte (Praetorius) war mit 80 ML (= 160 MS) um 1554, ca. 130 ML (= 260 MS) 1558 und 160 ML (= 320 MS) 1572 deutlich höher als die seiner Stralsunder Kollegen1498. Trotz der für Stralsund nur sehr lückenhaft vorliegenden Quellen zu den Gehaltsverhältnissen im 16. Jahrhundert bleibt zu vermuten, dass die Organistengehälter in dieser Zeit ebenso kontinuierlich anstiegen wie in den anderen norddeutschen Hansestädten. Unabhängig von den allgemeinen Preis- und Lohntrends erscheint es sinnvoll, die Besoldungsentwicklung verschiedener Berufsgruppen miteinander zu vergleichen, um auf dieser Basis Aussagen zum Status und zur möglicherweise veränderten Stellung der Ämter zu treffen. Interessant erscheint dabei etwa der Vergleich der Kantoren- und Organistengehälter im 16. Jahrhundert. Dabei zeigen sich wiederum Parallelen zur Situation in Nordelbien, wo das Fixum der Hamburger Organisten das Kantorengehalt bereits am Ende des 16. Jahrhunderts deutlich überschritten hatte1499. Wenngleich etwas verzögert, lässt sich diese Entwicklung auch in Stralsund nachweisen: Den Stralsunder Kantoren hatte Bugenhagen 1535 einen Jahresverdienst von 40 Gulden (= 120 MS) zugesprochen1500. Obwohl der Visitationsrezess, wie schon erwähnt, keine Angaben zur Organistenbesoldung enthält, ist davon auszugehen, dass die Stralsunder Organisten dem Kantor, wie auch in Hamburg und Lübeck, zu dieser Zeit finanziell noch deutlich unterlegen waren. In der Folgezeit stieg vermutlich sowohl das Kantoren- als auch das Organistenfixum an, sodass sich am Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert folgende Gehaltsverhältnisse feststellen lassen1501: Jahresfixum des Kantors 1591: 210 MS 1597: 255 MS 1601: 288 MS 1603: 318 MS 1609:
~350 MS
Jahresfixum des Nikolaiorganisten ? ? 1602: 240 MS 1604: 276 MS 1608: 300 MS 1611: 400 MS
Tabelle 20: Vergleich der Jahresfixa von Kantor und Organist 1496 Vgl. die Gehaltsübersicht der Rostocker Organisten bei Daebeler (1966), S. 94. 1497 Vgl. Leichsenring (1922/1982), S. 114. 1498 Ebd., S. 119. 1499 Edler (1982), S. 37. 1500 Vgl. Sehling (1911), S. 549. 1501 Vgl. die Kantorengehälter bei Zober (1841), S. 4. Für die Organistengehälter vgl. die oben und im Folgenden benannten Quellen.
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Deutlich wird, dass das Kantorenfixum langsamer wuchs als das Festgehalt der Organisten und dass diese ihre Kantorenkollegen an der Lateinschule bereits im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts überholt hatten. Daraus lässt sich auf ein gesteigertes Ansehen des Organistenamtes schließen, das im Verlauf des 17. Jahrhunderts noch weiter zunehmen sollte. 17. Jahrhundert Um die Entwicklung der Festgehälter an den drei Stralsunder Hauptkirchen im 17. Jahrhundert nachzeichnen zu können, seien auf Grundlage der kirchlichen Rechnungsbücher zunächst Gehaltsübersichten vorangestellt. Dabei werden in der Tabelle lediglich diejenigen Jahre aufgeführt, in denen sich Gehaltsänderungen oder Amtswechsel im Organistenamt nachweisen lassen. Nach einer kurzen Auswertung der Entwicklung an den einzelnen Kirchen schließen sich übergreifende und vergleichende Betrachtungen an.
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bis 1610
bis 1620
bis 1630
bis 1640
St. Nikolai1502 Organist Jahresfixum 1602 E. Herlitz 240 MS 1604 276 MS 1608 1611 1612 1614 1615 B. Petersen 1617 1618 1619 1629 1630 M. Belitz 1632 Ph. Kaden 1633 1634 1635
St. Marien1503 Organist Jahresfixum
Organist
N. Petersen
? Ch. Rickelt
300 MS 400 MS 400 MS
600 MS 900 MS
H. Olphenius
400 MS
? ? J. Vierdanck
600 MS
H. von Husen
900 MS
F. Schick H. von Husen
1642 bis 1644 1650 1645 1646 J.M. Rubert bis 1677 J. Röhle 1680 1682 1684 G. Rehberg bis 1689 1690 1687 1692 bis 1693 1700 1699
,
F. Schick 900 MS 900 MS 600 MS 900 MS
300 MS 240 MS
800 MS
1640 1641
180 MS 240 MS 270 MS
400 MS
440 MS 600 MS
300 MS
St. Jakobi1504 Jahresfixum
D. Schröder
900 MS
A. Schick
300 MS
240 MS 60 MS 300 MS 60 MS 600 MS 72 MS 600 MS
400 MS 600 MS
,
1502 1503 1504
J. F. Rostcken 600 MS Ch. H. Giffhorn 600 MS
Tabelle 21: Fixa der Stralsunder Organisten im 17. Jahrhundert1505 1502 Folgende Quellen liegen der Übersicht zugrunde: StAS Rep 28-1029a St. Nikolai Kirchenregister 1602–1628; AStN KR R 1/N 1 St. Nicolai Landt Register von Ao 1612 biß Ao 1644; AStN KR R 33a Ausgaberegister 1629–1673; AStN KR R 34 Begräbnis-Register 1654–1693 1503 Folgende Quellen liegen der Übersicht zugrunde: StAS Rep 28-638 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1566–1608; StAS Rep 28-640 St. Marien Einnahme und Ausgabe 1611–1686; StAS Rep 28-641a St. Marien Rechnungsbuch Einnahmen und Ausgaben 1611–1692; StAS Rep 28-642 St. Marien Rechnungsbuch 1614–1694; StAS Rep 28-643 St. Marien Weihnachtsquartal 1614–1660; StAS Rep 28-644 St. Marien Register 1614–1693; StAS Rep 28-647 St. Marien Einnahmen und Ausgaben 1668–1669; StAS Rep 28-702 Matrikel der Marienkirche 1614; AStM KR St. Marien Oster-Quartal-Register 1687–1736. 1504 Folgende Quellen liegen der Übersicht zugrunde: Vgl. StAS Rep 28-110 Visitation 1612, fol. 625; StAS Rep 28-883 St. Jakobi Ausgaberegister; StAS Rep 28-907 St. Jakobi Einnahme- und Ausgabe des dritten Registers 1614–1638; StAS Hs 40614; und AStJ Tit. 2 Nr. 10a. 1505 Die in der Tabelle enthaltenen Pfeile (↓) markieren die Amtszeiten der Organisten. Die Jahre mit unklarer Amtsbesetzung sind durch Fragezeichen markiert.
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St. Nikolai Zuverlässige Angaben zu den Organistengehältern an St. Nikolai liegen seit Beginn des 17. Jahrhunderts vor. Wie an den anderen Kirchen stieg das Fixum auch hier kontinuierlich an und vervierfachte sich innerhalb von 100 Jahren nahezu. Am Beginn des 17. Jahrhunderts reagierte das Provisorat mit schrittweisen Gehaltserhöhungen auf die wiederholten Eingaben des Organisten Elias Herlitz, der 1611 beklagt hatte, dass er »mit der besoldinge so he van d Kerckenn hedde nicht Konde vthkamen vndt also sinen denst mit tranen bedehnde [beende?], dewile he sick nicht darnan ernehren künde«1506. Doch gab Herlitz das Amt nicht auf; innerhalb von nur 13 Jahren wurde ihm eine Gehaltssteigerung von 240 MS auf 400 MS jährlich zuteil. Erfolgten die Gehaltssteigerungen im Zuge von Stellenneubesetzungen, so kann dies einerseits als Reaktion auf besondere musikalische Fähigkeiten des neuen Amtsinhabers gewertet werden, aber auch als Zeichen besonderen Verhandlungsgeschicks. Außerdem entsprach man durch Gehaltsveränderungen mitunter auch den allgemeinen Teuerungen der Zeit. Eine höhere Besoldung als sein Vorgänger erhielt etwa Moritz Belitz 1630. Ihm wurden 600 MS jährlich zugesprochen – 160 MS mehr, als sein Vorgänger Bernhard Petersen erhalten hatte. Die Gehaltserhöhung war zunächst auf Belitz’ »Person alleine gerichtett« und sollte die finanzielle Situation des Organisten in aktuell schwierigen Zeiten verbessern1507. Dabei waren seine Verbindungen zum herzoglichen Hof und die Schülerschaft bei Samuel Scheidt sicher nicht unbedeutend: »[…] das Wir Ihm [Moritz Belitz] darauff in Namen Gottes zu der erledigten Stelle bey vnserer anbefohlenen Kirchen vociret vnd beruffen, vnd der Jehrlichen Besoldung vnd anderer Gebühr halber [...] Vber die Vierhundertt vnd Viertzigk Marck Sundisch, welche sein Antecessor gehabtt, in betrachtt itziger schweren Zeitt vnd steigerung allerhand Victualien Einhundertt vnd Sechszigk Marck Vorbeßerung vnd Alß in Summa Sechshundertten Marck Sundisch, Zur Jahres Beßoldung vorsprochen vnd zugesagtt.«1508
Ob Belitz das höhere Gehalt selbst gefordert hatte, bleibt unbekannt. Ein Vergleich mit den an den Hauptkirchen Hamburgs und Lübecks gezahlten Organistengehältern zeigt jedenfalls, dass der Nikolaiorganist Petersen als Vorgänger von Belitz mit seinem Fixum von nur 110 MS quartaliter weit hinter seinen Amtskollegen in den anderen Hansestädten zurückgestanden hatte. Heinrich Scheidemann empfing an St. Katharinen in Hamburg 1629 das Doppelte bzw. Vierfache von Petersens Gehalt1509. Hieronymus Praetorius zahlte man an St. Jacobi in Hamburg bereits ab 1621 100 ML (= 200 MS) 1506 StAS Rep 28-1029a St. Nikolai Kirchenregister 1602–1628, fol. 32. 1507 AStN KK [Bestallung des Nikolaiorganisten Moritz Belitz, 1.9.1630], auch im Anhang auf S. 363f. 1508 Ebd. 1509 1629 empfing Scheidemann zunächst 112 ML 8 ß (= 224 MS 16 ß) quartaliter, nach einer Gehaltserhöhung im selben Jahr 227 ML 8 ß (= 454 MS 16 ß) quartaliter. Krüger (1933), S. 149.
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quartaliter1510. Auch das jährliche Fixum des Lübecker Marienorganisten Petrus Hasse lag 1629 mit immerhin 90 ML (= 180 MS) im Quartal1511 weit über Petersens Gehalt. Auch wenn Stralsund sich nicht in jedem Fall mit Hamburg oder Lübeck messen konnte, war eine Gehaltserhöhung an St. Nikolai dennoch offenbar nötig, um einen musikalisch qualifizierten und motivierten Amtsnachfolger für Petersen zu finden. Eine beträchtliche Gehaltssteigerung erfuhr auch Philipp Kaden als Nachfolger von Belitz im Stralsunder Amt. Zwei Jahre nach Amtsantritt wurde sein Jahresfixum von 600 auf 900 MS erhöht1512. Da etwa zur selben Zeit auch das Organistenfixum der Marienorganisten angehoben wurde, steht zu vermuten, dass dies nicht zuletzt den allgemeinen Lohnsteigerungen jener Zeit geschuldet war. Seit dieser Zeit blieb das Fixum der Nikolaiorganisten für den Rest des Jahrhunderts stabil. Reduziert wurde es lediglich 1684 beim Amtsantritt von Gottfried Rehberg aufgrund der prekären Finanzsituation Stralsunds in den 1680er-Jahren. Nach der Belagerung und Beschießung der Stadt 1678 und dem Stadtbrand von 1680 waren die städtischen und kirchlichen Kassen leer, und die noch vorhandenen Mittel wurden für den Wiederaufbau benötigt. Man offerierte Rehberg bei seinem Amtsantritt (1684) eine Übergangsregelung, nach der ihm das volle Vorgängergehalt von 900 MS nach zweieinhalb Jahren Dienstzeit zustehen sollte: »[…] dem Organisten Gotfried Rehberg, welcher bey vnser Kirchen jetzo würcklich angetreten, davor im quartaliter verheißen 150 MS [...] Vnd hat Er angenommen Von Dato 2 ½ Jahr davor auffzuwarten nach derer verlauff Er alß dann seines Antecessoris gage alß 225 MS laut auffgerichteten Transact, der in der Barben Kammer lieget, völlig zu genießen hat.«1513
Trotz dieser zeitweilig reduzierten Besoldung blieb das Stralsunder Amt für Rehberg – der für diesen Posten sein Stettiner Organistenamt aufgegeben hatte – offenbar dennoch attraktiv. Seit 1687 erhielt Rehberg schließlich das zugesagte Jahresgehalt von 225 MS quartaliter1514. St. Marien Die an der Stralsunder Marienkirche gezahlten Organistenfixa unterschieden sich nur wenig von denen der Nikolaiorganisten. Offenbar orientierte man sich hier an den Gehältern der übergeordneten Ratskirche. In den 1630er-Jahren ist die Besetzung des Amtes nur lückenhaft überliefert. Dennoch lässt sich zwischen 1633 und 1641 ein starker Anstieg des Fixums – von 600 MS 1510 Ebd., S. 139. 1511 Stahl (1952), S. 70. 1512 »Filip Kaden dem Orgelisten Sin Winachten quatall [...] ihm vor beßertt vf alle
fertel Jar 25 fl [...] 225 MS«, AStN KR R 33a Ausgaberegister 1629–1673 [1634].
1513 AStN KR R 34 Begräbnisregister 1654–1693, fol. 695. 1514 Ebd., fol. 750f.
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auf 900 MS jährlich – beobachten, der vermutlich einerseits allgemeinen Tendenzen in der Lohnentwicklung folgte, andererseits jedoch auch im Zusammenhang mit dem Amtsantritt Johann Vierdancks stehen mag1515. Nachdem das Organistenfixum in der Folgezeit stabil blieb, wirkte sich die finanzielle Notsituation Stralsunds in den 1680er-Jahren auch an St. Marien deutlich auf die Gehaltsentwicklung aus. Wegen des »itzigen schlechten zustande dieser Kirchen«1516 erhielt Andreas Schick bei Amtsantritt noch lediglich 300 MS, was nur einem Drittel der Besoldung seines Vorgängers Daniel Schröder entsprach. Allerdings versprach man dem Organisten, das Gehalt bei einer Besserung der städtischen Finanzsituation auf das frühere Niveau anzuheben. Die an Schröder gezahlten 900 MS erhielt Schick trotz einiger Gehaltsverbesserungen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts dennoch nicht. St. Jakobi Wie an den anderen beiden Kirchen stieg die Organistenbesoldung an St. Jakobi im Verlauf des 17. Jahrhunderts kontinuierlich an. Das Fixum beim Amtsantritt Hinrich von Husens im Jahr 1629 mag aufgrund finanzieller Engpässe der Jakobikirche oder des fortgeschrittenen Alters bzw. geringeren musikalischen Vermögens von Husens reduziert worden sein. 1642 beklagte Friedrich Schick, dass er »mith der vorsprochenen Einhunderth gulden [= 300 MS] wegen seines salary, nicht kunte zu rechte kommen, weil die Accidentia schlecht«1517. Offenbar waren die Möglichkeiten für musikalische Nebenverdienste kurz nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges aufgrund gesunkener Bevölkerungszahlen sowie einer allgemeinen finanziellen Notsituation stark eingeschränkt. Schicks Bittschriften führten zum Erfolg: Sein Festgehalt wurde 1644 auf 600 MS jährlich angehoben, eine Summe, die bis zum Ende des Jahrhunderts an die Jakobiorganisten gezahlt wurde. Seit den 1660er-Jahren lassen sich in den Ausgaberegistern der Kirche vermehrt Zahlungsengpässe feststellen, die nicht nur die Organisten betrafen. Der Stadtbrand von 1662, der zu Beschädigungen der Nikolai- und Jakobikirche geführt hatte1518, hatte die zu dieser Zeit ohnehin schwierige wirtschaftliche Situation weiter verschärft. 1664 standen zwei, 1665 stand ein weiteres von Schicks Quartalsgehältern aus1519. Im Rechnungsbuch von St. Jakobi heißt es zur finanziellen Situation der Kirche: »Die uhrsachen, warümb so viel Restanten sich befinden, hat leider Der Erbärmlicher, Elender Hochbetrübter zustand, vnd Kriegsunruhe, auch continuirlicher landes beschwär, durch ein quartirung, vnd Contributionen, endtlich auch der leider unvermuhtlicher Einbruch der Kayser= Vndt Cuhrfürstlichen in Pomern veruhrsachet, Darzu lei1515 Vgl. dazu Köhler (1999), S. 72. 1516 AStM Kirchenbeamten und Unterbeamten [Bestallung Andreas Schick, 16.4.1682]. 1517 StAS Rep 28-883 St. Jakobi Ausgaberegister, fol. 45 (neue Paginierung). 1518 Vgl. Zober (1862). 1519 StAS Rep 28-883 St. Jakobi Ausgaberegister, fol. 315, 327.
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der die Mißwachsende Jahre gestoßen, da durch dan die unterthanen vndt ein wohner kraftloß gemachet, Das ein theil das liebe Brodt nicht behalten, Vndt in etzlichen Jahren, nicht üner Wienen, Vndt dannenhero der Kirchen ihr gebühr entrichten mögen, Was nun Deß wegen diesen armen leüten als Der Kirchen unterthanen zu Remittiren, setzet man solches ferner zu ervhegen dahin, So viele aber Dennoch müglich, Vndt der liebe Gott beßere Zeiten auß gnaden beschären wirdt, soll es angebührsahme eintreibung der Restanten nichtes ermangeln, sondern mit fleiße beobachtet werden.«1520
Stadt und Kirche litten zu dieser Zeit demnach noch immer stark unter den Auswirkungen des Krieges, unter den hohen Ausgaben für die Einquartierung der schwedischen Militärs1521 sowie den Folgen von Missernten. Durch die Belagerung von 1678 und den Stadtbrand von 1680 verschlechterten sich die Verhältnisse weiter. Der bereits achtzigjährige Jakobiorganist Schick1522, dem bei dem militärischen Angriff auf Stralsund 1678 nicht nur »das eine bein van einer Granat entzwei geschlagen«1523 worden war, sondern der darüber hinaus 1680 noch Haus und Hof verloren hatte, geriet so in größte Not: »Vnd weil nun leider mehr den zu viel bekandt das ich durch den betrübten Brandtschaden, vmb Hauß vnd Hoff vnd aale das meinige gekommen, mein Hauß mit allen mobilien worvon gahr weinich geborgen im feür vnd stanck aufgangen, meine Scheüne vorm francken-Thor mit allem Korn so darin gewesen ruiniret vnd herunter gerißen, meine Pferde vnd RindtVihe worauff Zu dar Zeit meine Nahrung gestanden wegk genommen.«1524
Die Jakobikirche schuldete Schick 1681 bereits mehr als 3000 MS und somit fünf Jahresgehälter, die dem Organisten vermutlich bis an sein Lebensende nicht mehr ausgezahlt werden konnten. Erst Schicks Nachfolgern im Amte, Johann Friedrich Rostcken und Christian Heinrich Giffhorn, wurden die bereits seit vor Mitte des 17. Jahrhunderts gezahlten 600 MS jährlich wieder zuteil. Fazit Der Status und die finanzielle Situation der jeweiligen Kirche bestimmten die unterschiedliche Höhe des Organistenfixums an St. Nikolai, St. Marien und St. Jakobi. Während für das 16. Jahrhundert nur einige wenige Informationen zu den Festgehältern der Stralsunder Marien- und Jakobiorganisten vorliegen, lassen sich die Entwick1520 Ebd., fol. 296v. 1521 Vgl. zu den Kosten der Einquartierung am Beginn der Schwedenzeit in Stralsund Hacker (1979), S. 26–30. 1522 AStJ Tit. 2 Nr. 10a [Vnterdienstliches Supplicatum Friderich Schicken Organisten bey St Jacobi Kirchen hieselbsten, 3.10.1681]: »[…] da ich schon in meinem einvnd 80zigsten Jahr lebe«. 1523 Ebd. 1524 Ebd.
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lungen im 17. Jahrhundert genauer nachvollziehen. Vermutlich stiegen die Gehälter der Stralsunder Organisten bereits im 16. Jahrhundert kontinuierlich an. Naturallieferungen bzw. finanziellen Zuwendungen für Naturalien kam in dieser Zeit eine größere Bedeutung als in späterer Zeit zu. Die höchsten Gehälter erhielten vermutlich bereits im 16. Jahrhundert die Organisten der Nikolaikirche, die zugleich Rats- und Repräsentationskirche war. Nur unwesentlich unterschied sich davon das Fixum der Marienorganisten, das sich im 17. Jahrhundert offensichtlich an der Gehaltsentwicklung an St. Nikolai orientierte. Wie der Gehaltsübersicht zu entnehmen ist1525, reagierte man von Seiten der Marienkirche schnell auf Veränderungen im Organistengehalt an der Stralsunder Ratskirche – vermutlich, um St. Nikolai in musikalischer Hinsicht nicht nachzustehen. So ließen sich mittels gleicher Gehälter auch Organisten mit vergleichbaren musikalischen Fähigund Fertigkeiten gewinnen. Das Organistenfixum an der dritten Stralsunder Hauptkirche, St. Jakobi, war deutlich geringer als an den anderen beiden Kirchen und entsprach in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lediglich zwei Dritteln der dort gezahlten Gehälter1526. Da man trotz des geringeren Festgehalts auch an St. Jakobi offenbar keine Abstriche am musikalischen Können der Amtsinhaber machen wollte, bemühte sich das Provisorat um ertragreiche Nebenbeschäftigungen für seine Organisten1527. Wie die Auswertungen zeigen, lässt sich bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts an allen drei Stralsunder Kirchen ein kontinuierlicher Anstieg des Organistenfixums feststellen. Der Anstieg der Gehälter vor und während des Dreißigjährigen Krieges folgte den zu dieser Zeit allgemein festzustellenden Lohnentwicklungen. Auf dem vor Mitte des 17. Jahrhunderts erreichten Niveau blieben die Gehälter stabil bis in die 1680er-Jahre hinein. Die desaströse Finanzsituation Stralsunds in dieser Zeit führte zum Absinken der Gehälter bzw. zu Zahlungsausfällen seitens der Kirche. Bis zur Jahrhundertwende stabilisierte sich die Situation nur langsam wieder. Abgesehen von den Folgen der stadtgeschichtlichen Ereignisse erscheint die Entwicklung der Gehaltsverhältnisse der Stralsunder Organisten zumindest in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit der von Edler für Nordelbien beschriebenen vergleichbar.
1525 Siehe S. 253. 1526 In einem Schreiben an die Provisoren von St. Jakobi beklagte der Jakobiorganist Schick 1681, im Vergleich zu den anderen beiden Organistenämtern der Stadt benachteiligt zu sein: »die beiden anderen Organisten bekommen Jährlich 300 fl [Gulden] zum theil noch drüber, entfangen ihre Quartale richtich. Ich an meinem Orte habe nur 200 fl. Vorige haben freye wohnung, dakegen muß ich mich bey der geringen besoldung eigene wohnung verschaffen, diese Last nun lenger zu tragen ist mir unmüglich.« AStJ Tit. 2 Nr. 10a [Vnterdienstliches Supplicatum Friderich Schicken Organisten bey St Jacobi Kirchen hieselbsten, 3.10.1681]. 1527 Vgl. dazu die Ausführungen auf S. 260–262.
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2.2.5.2  Erträge aus Akzidentien und Nebentätigkeiten Zum Einkommen der Organisten trugen neben dem Fixum die Erträge aus den »kasual gezahlten Accidentien«1528 bei: Einnahmen aus dem Musizieren bei Hochzeiten, Leichenbegängnissen, aber auch Empfängen oder Friedens- und Gedenkfeiern. Die Höhe dieser Einkünfte und ihr Anteil am Gesamteinkommen lassen sich aufgrund fehlender Quellen kaum mehr feststellen. Wie bei den Kantoren und Stadtmusikern regelten städtische Verordnungen auch im Falle der Organisten die musikalischen Zuständigkeiten und Besoldungsmodalitäten bei Hochzeiten1529 oder Begräbnissen. Der Organist musizierte in der Regel auf den in seinem Kirchspiel gefeierten Hochzeiten. Dabei war die Entlohnung, verglichen mit dem monatlichen Festgehalt der Organisten, beachtlich. Musizierte der Organist auf einer Hochzeit des ersten Bürgerstandes sowohl in der Kirche als auch »bey der Mahlzeit«, erhielt er nach der Stralsunder Hochzeitsordnung von 1702 24 MS. Dies entsprach einem Drittel des monatlichen Festgehaltes des Nikolaiorganisten und einem halben monatlichen Festgehalt des Marien- und des Jakobiorganisten. War der Organist nur an der Trauung beteiligt, erhielt er bei einer Hochzeit des ersten Bürgerstands zu dieser Zeit zwei Reichstaler (= 12 MS). Für halbe Hochzeiten oder Hochzeiten des zweiten Bürgerstands konnte er die Hälfte der Gebühren erwarten. Auf Hochzeiten des dritten Bürgerstandes musizierte der Organist nicht: »im Dritten aber die Orgel gar nicht gespielet/ noch dem Organisten etwas gegeben«1530. Die Einnahmen der Musiker aus den Hochzeiten unterschieden sich den Ordnungen zufolge an den drei Hauptkirchen nicht. Jedoch führte die abweichende Sozialstruktur innerhalb der vier Stadtquartiere vermutlich dazu, dass gut bezahlte Hochzeiten des oberen Standes im Nikolaiquartier weitaus häufiger gefeiert wurden als im Marien- oder Jakobiquartier und dass die Einkünfte des Nikolaiorganisten aus Hochzeiten also dementsprechend höher waren. Dadurch war der Nikolaiorganist seinen Kollegen gegenüber nicht nur hinsichtlich seines Festgehaltes, sondern vermutlich auch hinsichtlich seiner Einkünfte aus den Akzidentien begünstigt. Neben den Hochzeiten verhalfen offizielle Regierungsbesuche in den ersten Jahren der schwedischen Herrschaft zumindest dem Organisten der Ratskirche zu weiteren zusätzlichen Einnahmen. Von Philipp Kaden wird berichtet, dass er bei den »in vorigen friedsamen jahren [...] bey des hochseligen He. Reichs Cantzlers Axel Ochsenstirn v. He. Johan Ochsenstirns Legati in Teutschland, hiesiges ortes anweßenheit vnd sonst anderer hohen [...] vielen Erscheinungen in S. Niclas dabei stets gehaltenen figural Musiquen«
1528 Edler (1982), S. 76. 1529 Ausführliche Darstellungen zu den Stralsunder Hochzeitsordnungen folgen im Kapitel zur Stralsunder Stadtmusik. Vgl. dazu vor allem S. 293f. 1530 Hochzeitsordnung von 1702, D-GRu Sign. 520/Ob 579 (2) And. 6, Cap. XIV, fol. D2.
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musizierte und dafür mit Wein bezahlt wurde1531. Das Weingeld gehörte in der Folgezeit zu den regelmäßigen Einkünften des Organisten, zu dessen Zahlung sich die Kirche erst nach dem Rückgang offizieller Staatsbesuche in den 1660er- und 1670er-Jahren nicht mehr in der Lage sah: »Als aber der der großen He. Kegenwarts abgenomen, v. deshalben die Musicalische Arbeit v. aufwartung veringert [...] Hat uns die unumbgängliche noht selbige jarige vnkosten einzubehalten v. zuerspahren angeleitet.«1532 Dass Organisten Nebentätigkeiten annehmen sollten, wurde bereits durch die pommersche Kirchenordnung von 1563 empfohlen1533. Im Gegensatz zu den übrigen kirchlich Beschäftigten wurde der Organist des 16. Jahrhunderts damit auf außerhalb seines kirchlichen Dienstes stehende Tätigkeiten zum Verdienst seines Lebensunterhaltes verwiesen. Er nahm somit zunächst eine Doppelstellung durch seinen Kirchendienst und die bürgerliche Berufstätigkeit ein1534. Erst das gesteigerte Ansehen der Organisten, die in der Folgezeit zunehmend auf musikalische Aufgaben festgelegt wurden, führte dazu, dass ihre Besoldung stieg. Trotz dieser Entwicklung blieben Nebentätigkeiten dennoch auch für die Organisten des 17. Jahrhunderts bedeutsam. Als Ursache dafür lassen sich wohl nicht zuletzt die allgemein eingeschränkten Verpflichtungen der Organisten anführen, die lediglich an den Sams-, Sonn- und Feiertagen und darüber hinaus eventuell noch am Donnerstag oder an einem anderen Tag unter der Woche Orgeldienst zu versehen hatten1535. Als Nebenbeschäftigungen für Organisten kamen in erster Linie Schreiberdienste und schulische Lehrtätigkeiten infrage, wie schon in der pommerschen Kirchenordnung von 1563 empfohlen1536. Außerdem betätigten sich die Organisten als Orgelbzw. Musiklehrer, wie es die Hamburger Ordnung von 1529 angibt: »Se konen wol dar neven andere redlike neringe soken [...], besundergen mit dem, dat se ere kunst anderen leren.«1537 Entsprechende Nachweise gibt es auch aus Stralsund. Allerdings stammen die Zeugnisse zumeist aus dem 17. Jahrhundert. Da aus dem 16. Jahrhundert kaum Quellen überliefert sind, lassen sich Veränderungen und Entwicklungen in diesem Zusammenhang nur schwer feststellen. Deutlich wird, dass es vor allem vom Status der Kirche und des Organistenamtes abhing, ob und welche Nebentätigkeit ein Stralsunder Organist ausübte. So waren sowohl im 16. als auch im 17. Jahrhundert offenbar in erster Linie die Organisten der 1531 AStN KK [Schreiben der Provisoren von St. Nikolai, 4/1673]. Axel Oxenstierna (1583– 1654) war schwedischer Reichskanzler und Generallegat. Auch sein Sohn Johann (1611– 1657) war im schwedischen Staatswesen beschäftigt. 1532 Ebd. 1533 Sehling (1911), S. 399. 1534 Vgl. Edler (1982), S. 23f. 1535 Darauf hatte bereits die Hamburger Kirchenordnung von 1529 verwiesen. Sehling (1913), S. 512f. Vgl. zu den Dienstpflichten auch die Bestallung des Nikolaiorganisten Belitz auf S. 363f. 1536 Sehling (1911), S. 399, sowie S. 186f. in dieser Arbeit. 1537 Sehling (1913), S. 512.
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untergeordneten Stralsunder Jakobikirche auf Nebenverdienste angewiesen und übernahmen beispielsweise Schreiberdienste: »der Organist, so bey St. Jacob An. 1556 angenohmmen, hatt geheißen Johan Mengenhusen, [...] hatt Er diese u. St. Johannis Orgel abwarten müßen: so die Vorsteher etwas zu schreiben gehabt, hett Er das auch thun müssen.«1538
Aus dem Tagebuch des Stralsunder Bürgermeisters Nicolaus Gentzkow ist zu erfahren, dass Mengenhusen 1561 außerdem Lehrer an der deutschen Schule war: »Johan Mengerickhusen, die dudescke scholmeister, ein jnstrument, welckt nien hackebreth nomet, dat he mi schencken wolde«1539. Außer Mengenhusen lassen sich in Stralsund sowohl im 16. als auch im 17. Jahrhundert keine weiteren Organisten im deutschen Schulamt nachweisen. 1641 schied Hinrich von Husen altersbedingt aus dem Organistenamt an St. Jakobi aus. Da die Provisoren der Kirche befürchteten, dass sich aufgrund des niedrigen Organistenfixums kein ausreichend qualifizierter Bewerber für das Amt finden würde, baten sie den Stralsunder Rat darum, dass »der künfftige Organiste daselbst, neben der Jehrigen besoldung, die wir nicht zu verhögen, vnd darauf keinen qualificierten Organisten zu bekommen wißen, mit der Schreiberei auf der Stadt pfundt Cammer [...] belehnet werden müchte.«1540
Auf ihre finanziell untergeordnete Stellung verwiesen die Provisoren mit den Worten: »bei vnser Kirchen aber solcher Voraht nicht befinden, das wir so hohe bestallungen als an andern Kirchen ausgeben können«1541. Falls ihre Bitte abgelehnt werden würde, drohten sie, die Suche nach einem Nachfolger einzustellen und in ihrem Kirchspiel auf das Orgelspiel im Gottesdienst und bei Trauungen zu verzichten. Vermutlich hofften sie dabei auf das Repräsentationsinteresse des Rates, das einen solchen Verzicht an einer der drei städtischen Hauptkirchen nicht gestatten würde. Trotz der im Vergleich zu St. Nikolai und St. Marien schlechteren Finanzlage der Kirche versuchte man, Abstriche an der musikalischen Qualität möglichst zu vermeiden, um nicht allzu weit hinter den anderen beiden Kirchen zurückzustehen. Dementsprechend bemühte man sich um einen möglichst qualifizierten Amtsnachfolger »zu wolstentlicher, vnd rühmlicher bestallung der Music vnd [des] Gottes dienstes«1542. Eine dem Können des Organisten angemessene Besoldung sollte notfalls durch eine Nebentätigkeit gewährleistet werden. Den Quellen nach gelang es dem Provisorat von 1538 StAS Hs. 619 Schriftensammlung des Landrats Hermann Berend Wulfradt, 1552–1778, fol. 427 (neue Paginierung). 1539 Zit. nach Zober (1870), S. 131. 1540 AStJ Tit 2 Nr. 10a [Schreiben der Provisoren von St. Jakobi, 29.6.1641]. 1541 Ebd. 1542 Ebd.
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St. Jakobi in der Tat, den Nachfolger von Husens mit einem Schreiberamt zu versehen. In den Unterlagen zum Bau der Stellwagenorgel in der Stralsunder Marienkirche lässt sich Friedrich Schick als »Bauwschreiber« nachweisen1543. Schreibertätigkeiten von Marien- oder Nikolaiorganisten sind bis auf eine kurze Erwähnung von Hinricus Olphenius als Notar kaum belegt1544. Vermutlich waren die Organisten von St. Nikolai und St. Marien durch ihre höhere Festbesoldung weniger als ihre Amtskollegen an St. Jakobi auf außermusikalische Einkünfte angewiesen. Nachweislich betätigten sich jedoch zumindest die Nikolaiorganisten als musikalische Lehrer1545. So empfahl Elias Herlitz seinen Orgelschüler Christian Arens um 1610 erfolgreich nach Tribsees1546. Auch Johann Martin Rubert berichtet in einem Schreiben aus dem Jahre 1672 von seiner musikalischen Lehrtätigkeit: »Waß ich sonsten in der Music verrichtet mit Knaben ab zu richten und Musicalischer composition ist hoffentlich meinen hochgeehrten Herren bekant.«1547 Für den Nikolaiorganisten Christoph Raupach wurde der Musikunterricht zu Beginn des 18. Jahrhunderts sogar Teil seiner Dienstverpflichtung. Seiner Bestallungsurkunde von 1703 zufolge musste er »sich des einen Sohnes von Rehbergen annehmen und denselben in der Kunst gratis informiren«1548. Vermutlich diente diese Bestimmung der Nachwuchssicherung im Organistenamt. Dass sich gerade die Nikolaiorganisten als Musiklehrer betätigten, liegt in erster Linie in ihrem besonderen musikalischen Vermögen, war aber auch in der daraus erwachsenden höheren Reputation von St. Nikolai begründet. Ob auch die Organisten von St. Marien und St. Jakobi derartige Ämter übernahmen, lässt sich nicht ermitteln. Rampe zufolge bildeten die Erträge aus den Lehrtätigkeiten vor allem bei berühmten Organisten einen wesentlichen Teil ihres Gesamteinkommens1549. Im Zusammenhang damit vermutet er, dass der Lehre im Alltag der Organisten sogar ein höherer Stellenwert als den gottesdienstlichen Verpflichtungen zukam1550. Dass der musikalische Unterricht auch für die Stralsunder Organisten eine vergleichbar hohe Bedeutung einnahm, ist jedoch wohl nicht anzunehmen. Ob dies nur einer geringen Nachfrage geschuldet war oder aber daran lag, dass die Organisten aufgrund ihrer Einkünfte auf keine weiteren Nebentätigkeiten angewiesen waren, kann wohl nicht abschließend 1543 Ortgies (2006), Bawregister, S. 21. 1544 In einem Eintrag zum 24.6.1631 wird Olphenius in einer Akte zur Stralsunder Gasthauskirche (Gasthaus Orig. Nr. 20) als Zeuge und Notar benannt. Ich danke Burkhardt Köhler (Greifswald) für diese Auskunft. Nähere Quellenangaben gibt es dazu leider nicht. 1545 Wohl aufgrund der unzureichenden Quellenlage wendet sich Michael Roske in seiner Sozialgeschichte des privaten Musiklehrers vom 17. zum 19. Jahrhundert (1985) lediglich und nur am Rande dem späten 17. Jahrhundert zu. 1546 LAG Rep 36 II T 8, fol. 21. 1547 AStN KK [Schreiben Johann Martin Ruberts an das Provisorat von St. Nikolai, 15.12.1672]. 1548 StAS Rep 28-282 Besetzung der Organistenstelle an St. Nikolai (1624) 1646–1890 [30.4.1703]. 1549 Rampe (2005), S. 97. 1550 Ebd., S. 98.
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beantwortet werden. Quellenmäßig belegt ist die Lehrtätigkeit jedenfalls kaum. Der fehlenden bzw. nur sporadischen Lehrtätigkeit der Stralsunder Organisten ist es vermutlich auch geschuldet, dass kaum Orgelmusik aus Stralsund überliefert ist, da diese in der vorwiegend improvisatorisch ausgerichteten Orgelpraxis wohl vor allem zu Lehrzwecken notiert wurde1551. Die Organisten übernahmen aber nicht nur Schreiberdienste und Orgelunterricht, sondern betätigten sich auch im Orgelbau1552. Als Orgelbauer war besonders der in den 1550er- und 1560er-Jahren nachzuweisende Organist Kaspar aktiv. 1564/65 wurde er zusätzlich entlohnt, »dar he tho dem lüttiken wercke etlyck dynck forbittirt«1553. Dem Rechnungsbuch der Marienkirche nach erhielt er im selben Jahr »tho einem par hosen, dauor dat he etlike feddern vnd pipen im Orgelwercke ferdich gemaket vnnd tho rechte gebracht hefft«1554. Auch 1567 wurden dem Organisten Kaspar und seiner Frau ihre Aufwendungen für Arbeiten an den Orgelbälgen an der Nikolaiorgel erstattet: »dat se dat ledder thom belgen neiede«1555. Die enge Verbindung zwischen Organistenamt und Orgelbau löste sich im Verlauf des späteren 16. und 17. Jahrhunderts allmählich. In Stralsund sind nach der Amtszeit Kaspars keine vergleichbaren Aktivitäten von Organisten mehr nachweisbar. Allerdings übernahmen die Organisten mitunter gutachterliche Tätigkeiten bei der Planung und Vorbereitung größerer orgelbaulicher Unternehmungen sowie bei der Abnahme fertiger Werke. Die Stellwagenorgel in St. Marien wurde nach ihrer Fertigstellung im Oktober 1659 beispielsweise durch den Nikolaiorganisten Johann Martin Rubert abgenommen, dem dafür 48 MS, mehr als die Hälfte seines Monatsgehaltes, gezahlt wurden: »Martin Rubbert dem Organisten von St. Niclauß wie die Orgell auß geliefert gegeben 48 MS«1556. Nachdem Stellwagen auf Initiative des Jakobiorganisten Friedrich Schick einen Kostenvoranschlag für Reparaturen und Umbauten an der Jakobikirche geliefert hatte, baten die Provisoren der Kirche die Organisten von St. Nikolai und St. Marien um eine Stellungnahme zum Zustand der Orgel1557.
1551 Vgl. Schneider (2014), Orgelspiel, S. 68f. 1552 Vgl. für Nordelbien dazu Edler (1982), S. 35. 1553 StAS Rep 28-534 St. Nikolai Ausgaberegister 1563–1610 [1564/65], fol. 252v. 1554 StAS Rep 28-636 St. Marien Michaelis-Register 1530–1576 [1564]. 1555 StAS Rep 28-533 St. Nikolai Hebungen und Senkungen 1548–1574 [1567]. 1556 Zit. nach Ortgies (2006), Bawregister, S. 36 [25.10.1659]. 1557 »Wir haben weil uns diese Delineation etwas starck und kostbahr geschienen als wirwol vermuthet hätten und auch damit wir desto besser unterrichtet werden möchten, ob nicht eine oder andere Stücke und dazu verschlagene Kosten gesparet werden könnten mit denen hiesigen Organisten theils absonderlich theils auch bey des Orgelbauers gegenwarth conferiret und von denenselben soviel erhalten daß an der Nothwendigkeit dieser Stücke sambt und sonders nichtes auß zusatz sey daferne dieses werck in guten Gange gebracht und von behöriger dauer gemachet werden sollte.« AStJ Tit. 1 Nr. 1a [Schreiben des Provisorats wegen der Orgel, o. D.]. Vgl. zu diesem Vorgang auch S. 283f.
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Gutachten ihrer Stralsunder Amtskollegen holten darüber hinaus die Nikolaiorganisten Johann Röhle1558 und Gottfried Rehberg1559 bei ihren Amtsantritten 1677 bzw. 1684 ein. Im Gegensatz zu den Schreiberdiensten und Lehrtätigkeiten waren die Einkünfte aus dem Orgelbau allerdings unregelmäßig und konnten daher wohl kaum dazu dienen, den Lebensunterhalt der Organisten abzusichern. Als willkommene Zulage dürften sie jedoch sicher begrüßt worden sein.
2.2.5.3 Wohnverhältnisse Als Kirchenbedienstete wurden die Organisten der drei Stralsunder Hauptkirchen mit freiem kirchlichen Wohnraum oder Zuschüssen zur Begleichung von Mietkosten versorgt. Schon durch die Bestimmungen der pommerschen Kirchenordnung von 1563 war festgelegt, dass die Organisten »mit den hüsern dar se wanen fri sin« sollten1560. Angaben zu den Wohnverhältnissen der Stralsunder Organisten sind in den Kirchenmatrikeln der einzelnen Kirchen und in den überlieferten kirchlichen Rechnungsbüchern enthalten. Das Wohnrecht im kircheneigenen Wohnraum schloss den Anspruch auf Wartungs- und Renovierungsarbeiten durch die Kirche ein, die vor allem während der Vakanzen erledigt und in den kirchlichen Bauregistern detailliert verzeichnet wurden. In der Bestallungsurkunde des Nikolaiorganisten Belitz heißt es, dass »wir Ihme freye Wohnung [...] zugesagtt, darin auff der Kirchen kosten die Nothwendigkeitt geferttigett, vnd solche Bode cum pertinentys in ehre vnd wesentlich Baw Jederzeitt erhalten werden soll.«1561
St. Nikolai Das Organistenhaus der Nikolaikirche befand sich in der von westlicher Seite auf den Alten Markt führenden Mühlenstraße im St.-Jürgen-Quartier. Bereits der 1549 erwähnte »Orgelist« bewohnte die Bude1562 in der »molli stratti« mietfrei1563. Auch in den Matrikeln der Nikolaikirche von 1613 wird unter den kircheneigenen Behausungen die
1558 Die Nikolaiorgel wurde durch den Marienorganisten Daniel Schröder begutachtet. AStN OA [Gutachten des Marienorganisten Daniel Schröder über den Zustand der Nikolaiorgel, 26.6.1677]. Siehe Dok. 11 im Anhang auf S. 372. 1559 Wiederum begutachtete der Marienorganist, in diesem Falle Andreas Schick, das Orgelwerk an St. Nikolai. AStN OA [Gutachten des Marienorganisten Andreas Schick über den Zustand der Nikolaiorgel, 10/1684]. 1560 Zit. nach Sehling (1911), S. 418. 1561 AStN KK [Bestallung des Nikolaiorganisten Moritz Belitz, 1.9.1630]. 1562 Vgl. zum Begriff der ›Bude‹ in Stralsund S. 36, Anm. 120. 1563 »[…] molli stratti: [...] di bodde dar di orgelysti yne wonth ock fry«, StAS Rep 28-533 St. Nikolai Hebungen und Senkungen 1548–1574 [1549].
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»Bode in der Mühlenstrassen darin der Organiste Elias Hertlitz wohnet« aufgeführt1564. Ihren Bestallungsdokumenten zufolge bewohnten im Anschluss die Nikolaiorganisten Moritz Belitz, Philipp Kaden und Johann Martin Rubert die erwähnte Organistenbude1565. Bei der Anstellung von Gottfried Rehberg 1684 war ein Organistenhaus im Bau, das dem neuen Amtsinhaber nach der Fertigstellung zur Verfügung gestellt werden sollte1566. Vermutlich war die alte Organistenbude in der Mühlenstraße Opfer des Stadtbrandes von 1680 geworden1567. Ob der Neubau wiederum in der Mühlenstraße erfolgte, ist unbekannt. St. Marien Das Organistenhaus der Marienkirche befand sich am Neuen Markt in Richtung Frankenstraße und wird erstmals 1603 erwähnt: »Ahn Demm nyan Markede: De Organiste wanett friy. van demm keller vnder em gifft hanß wangelan Anno 1604 vp osternn 9 MS«1568. Offenbar befand sich unter der Bude ein Wohnkeller, der von der Kirche vermietet wurde. Im Gegensatz zu den Wohnunterkünften der anderen beiden Kirchen wird die des Marienorganisten als »Haus« und nicht als »Bude« bezeichnet. Offenbar war die Wohnung des Marienorganisten also größer und vielleicht auch qualitativ hö1564 AStN KR R 23 Land-Pacht-Register Matrikel St. Nicolai Kirche 1613, fol. 22 (neue Paginierung). 1565 In der Bestallungsurkunde für Belitz heißt es: »Fürs ander haben Wir Ihme freye Wohnung, in der KirchenBode in der Mühlen Straße [...] zugesagtt.« AStN KK [1.9.1630]. Philipp Kaden wurde 1632 »die behausung worinnen sein antecessor Moritz Belitz habitiret zu bewohnen« zugesagt. AStN KK [6.3.1632]. In der Bestallungsurkunde für Johann Martin Rubert heißt es dazu: »Dießem nach thuen wir Ihme [...] zuerlegen auch die Behausunge worinnen sein Antecessor Dr. Philippus Kahden gewohnet«, AStN KK [24.3.1646]. Rubert war die Bude offenbar jedoch zu klein; er erhielt eine weitere benachbarte Bude dazu: »[…] das er uber die verschriebene 300 fl jahrlicher besoldung v. freyer bewohnung zweyer dorchgebrochener buden«, AStN KK [Schreiben der Provisoren von St. Nikolai, 4/1673]. 1566 AStN KK [Bestallung des Nikolaiorganisten Gottfried Rehberg, 3.5.1684]: »Dießem negst promitiren wihr ihm Jahrlich pro Salario Ein hundert fünftzig Reichstahler Courantgelt quartals weiße zu erlegen, wobey denselben für Erst biß die vorhabende bauwte fertig ist Jahrlich zu der heür 20 rthl. zahllen wollen, So balt daß organisten hauß aber vollen zogen Ist, hatt Er darin seine nötige behaußunge.« 1567 Im Jürgensquartier waren 74 % der Gebäude durch den Brand zerstört worden. Vgl. Grabinsky (2006), S. 67f. Der Nikolaiorganist Röhle erhielt als Vorgänger Rehbergs von 1681 bis 1684 Mietzahlungen von der Kirche. Vgl. AStN R 34 Begräbnisregister 1654– 1693, fol. 649, 663, 677. 1568 StAS Rep 28-639a St. Marien Rechnungsbuch 1603–1613 [1603], fol. 10. Über die Lage des Hauses informieren die Kirchenmatrikel von 1613: »Daß Hauß am Newenn Marckte [...] nach der Franckenn straßenn rechts, darInn der Organiste seine Whonunge hatt.« StAS Rep 28-1029 Matricul aller Gottsheuser der Stadt Stralsundt 1614 [St. Marien], fol. 21v. Unklar ist, ob es sich dabei um das Haus handelt, das bereits Kaspar Liste 1547 in der Frankenstraße bewohnte. StAS Rep 28-636 St. Marien Michaelis-Register 1530–1576 [1547].
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herwertig1569. In den Kirchenmatrikeln von 1633 ist von einem »Stockhaus« mit vermutlich mehreren Etagen die Rede1570. Bewohnt wurde dieses unter anderem auch von dem Marienorganisten Johann Vierdanck, während dessen Amtszeit sich eine Vielzahl an Baumaßnahmen im Organistenhaus nachweisen lässt1571. Bei Amtsantritt von Andreas Schick (1682) war das Organistenhaus am Neuen Markt – vermutlich während der Vakanz des Amtes – von einer Pastorenwitwe bezogen worden1572. Trotzdem überließ man Schick die Wahl, entweder in das Organistenhaus zu ziehen oder aber einen Mietzuschuss zu erhalten, um sich selbstständig um Wohnraum zu bemühen. Falls Schick sich für das Organistenhaus entscheiden werde, bat man um rechtzeitige Meldung, um die Pastorenwitwe noch anderweitig unterbringen zu können1573. St. Jakobi Die Organistenbude der Jakobikirche befand sich 1575 auf dem Jakobikirchhof1574 und wurde noch 1618 vom Organisten Christian Rickelt bewohnt1575. Über die Wohnverhältnisse Hinrich von Husens ist nichts bekannt. Dessen Substitut und Nachfolger Schick wurde 1642 – von Husen war zu dieser Zeit noch am Leben – eine Kirchenbude mietfrei zur Verfügung gestellt: »auff E. E. H. w G. ratification wier dem newlich bestalten Friderico Schicken 100 fl Zugesaget, Dabeneben ihme eine Kirche bhude Zuer wohnung heuerfrey angewiesen«1576. Erst zwei Jahre nach dem Tod von Husens bezog Schick die gewöhnliche Organistenbude der Kirche: »Ao. 1645. da ich in das gewöhnliche Kirchen hauß gezogen«1577. Ob der 1681 vom Organisten beklagte Brandschaden 1569 Bei der Veranlagung der städtischen Gebäude zur Haussteuer wurden in Stralsund mit ›Haus‹, ›Bude‹ und ›Keller‹ drei verschiedene Gebäudeklassen unterschieden. Die Einteilung nahm die Stralsunder Steuerkammer vor. Feste Kriterien bestanden dabei offenbar nicht, jedoch berücksichtigte man Qualität und Größe der Gebäude. Vgl. Kroll (1997), S. 237–241, und Kroll/Pápay (2003), S. 98f. 1570 AStM Kirchenmatrikel St. Marien 1614. 1571 1639/40 wurde für den Organisten ein Schweinestall gebaut: »2 Zimmerleute [...] dem Organisten einen Schwein Koven verfertiget«, AStM KR Einnahmen und Ausgaben 1625– 1649 [1639/40], fol. 1052; 1643/44 erfolgten Ausbesserungen an Vierdancks Kachelofen: »Item 1 fueder lehm in Johannes Vierdancken des Orga: haus zum Kachelofen«, ebd. [1643/44], fol. 1083; 1644/45 erhielt der Organist einen Schrank: »den 14 Decemb. dem maurer [...] beym Organisten ein schranck eingemauret«, ebd. [1644/45], fol. 1092. 1572 Vermutlich war der Amtsnachfolger im Pastorat bereits verheiratet und bewohnte das Pastorenhaus mit seiner Familie. 1573 AStM Kirchenbeamten und Unterbeamten [5.6.1689]. 1574 »Watt die kercke mehr van husen vnd Buden hefft, so de Inwoners vp liffgedinge edder dienstes haluen frey wonen, volgen hirna vortekent [...] Eine bude dar de koster wanet vp dem kerckhaue. Eine bude dar de Organiste in wanet darsuluest.« StAS Rep 28-880 St. Jakobi Einnahme und Ausgabe [1575], fol. 12. 1575 Ebd., fol. 88. 1576 AStJ Tit. 2 Nr. 10a [Schreiben der Provisoren von St. Jakobi, 8.4.1642]. 1577 Ebd. [Schreiben Friedrich Schicks, 4.5.1652].
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sein inzwischen eventuell privates Wohneigentum betraf, ist unbekannt. Zumindest die erwähnten Stallungen vor dem Frankentor mit Korn und Vieh befanden sich offenbar im Privatbesitz des Organisten1578. Nach dem Stadtbrand von 1680 wurde Schick von der Jakobikirche nicht mehr mit Wohnraum versorgt. Zu groß waren vermutlich die von der Kirche zu beklagenden Gebäudeverluste1579. Schicks Nachfolger Giffhorn bewohnte am Ende des 17. Jahrhunderts eine (neu errichtete?) kircheneigene Bude in der Jakobiturmstraße 161580.
2.2.6 Kalkanten Auch wenn ›Kalkanten‹ (auch ›Bälgetreter‹) kaum zum musikalischen Personal zu zählen sind, waren sie dennoch für den Orgeldienst unerlässlich und standen in enger Verbindung zu den jeweiligen Organisten. Gefordert waren Kalkanten nicht nur während des Orgelspiels im Gottesdienst, sondern auch in Zeiten des Orgelbaus. Vor allem das Intonieren der Instrumente dauerte in der Regel mehrere Tage, mitunter sogar Wochen, in denen die Kalkanten ihren Dienst zu versehen hatten und dafür zusätzlich entlohnt wurden1581. Wie auch Küster und Organisten zählten Kalkanten zum kirchlichen Personal. Die Höhe ihrer Besoldung lässt sich den Ausgaberegistern sowie den Matrikeln der einzelnen Kirchen entnehmen. Zumindest der Kalkant von St. Marien wurde als Kirchenbediensteter mit freiem Wohnraum versorgt und bewohnte »die Bohde Vffm Kirchhoffe«1582. Eine regelmäßige Kalkantenbesoldung lässt sich in Stralsund nur an den Kirchen St. Marien und St. Jakobi nachweisen1583. Aufgrund des niedrigen Entgelts bleibt zu 1578 Ebd. [Vnterdienstliches Supplicatum Friderich Schicken Organisten bey St Jacobi
Kirchen hieselbsten, 3.10.1681].
1579 Nach der Bombardierung von 1678 und dem Stadtbrand von 1680 waren beträchtliche 60 % der Gebäude in der Stralsunder Altstadt zerstört. Vgl. Grabinsky (2006), S. 67. 1580 Vgl. Kroll/Pápay (2003), Datenbank/CD. 1581 Vgl. etwa StAS Rep 28-639a St. Marien Rechnungsbuch 1603–1613 [1606], fol. 78vff. Verwiesen sei an dieser Stelle auf die Diskussion um die Temperierung der Lübecker Marienorgel zur Amtszeit Buxtehudes. Aufgrund einer Bezahlung von Bälgetretern für 30 ½ Tage hatte Kerala Snyder zunächst vermutet, dass die Orgel der Marienkirche 1683 auf Werckmeister III umgestimmt wurde, ihre Annahme aber später aufgrund neu entdeckten Aktenmaterials geändert. Vgl. Snyder (2007), S. 109–111, sowie Ortgies (2004), S. 112–115 und 191–195. 1582 StAS Rep 28-1029 Matricul aller Gottsheuser der Stadt Stralsundt 1614 [St. Marien], fol. 21. Vgl. zur Bereitstellung von freiem Wohnraum für Bälgetreter auch StAS Rep 28-639a St. Marien Rechnungsbuch 1603–1613, fol. 10, 37, 87v, sowie AStM KR Einnahmen und Ausgaben 1625–1649. 1583 1613 wurden 16 MS jährlich an den Bälgetreter von St. Marien gezahlt. Vgl. StAS Rep 28-1029 Matricul aller Gottsheuser der Stadt Stralsundt 1614 [St. Marien], fol. 150. Fünf Jahre später wurde das Kalkantengehalt auf 24 MS jährlich angehoben und spätestens
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vermuten, dass es sich beim Kalkantendienst lediglich um eine Nebenbeschäftigung handelte1584. In den Ausgaberegistern der Nikolaikirche sind keine regelmäßigen Gehaltszahlungen an Kalkanten verzeichnet. Dienste von Bälgetretern sind hier nur in Zeiten von Orgelreparaturen bezeugt1585. Vermutlich versahen hier die als »Pulsanten« bezeichneten Glockenläuter außerdem das Bälgetreten1586. Wie in Lübeck wurde das Bälgetreten auch in Stralsund mitunter von Frauen verrichtet. Dem Marienorganisten Nikolaus Petersen wurden 1612 die »2 MS 12 ß so ehr der fruwen gegeuen so van Jubilate beth up Michaelis de Belligen heft treden hülpen«1587 erstattet. Zwei weitere Eintragungen stammen aus dem Folgejahr1588. Auch wenn die Ausgaberegister der Nikolaikirche keine Angaben zur regelmäßigen Kalkantenbesoldung enthalten, ist im Archiv der Kirche dennoch eine fragmentarische Bälgetreterordnung von 1657 überliefert, die über die Verpflichtungen des Bälgetreters informiert und an dieser Stelle wiedergegeben werden soll1589: »[...] so einen Belgeträdter [...] zu beobachten 1. [...] nicht Musicirt wirdt, dreiviertel auff [...] auff der orgel zu sein 2. wan [...] halb zwey Uhr sich auf die Orgell zu finden 3. des Son [...] nicht Musicieret wird, früe ¾ Uhr 7 Uhr
1584
1585 1586 1587 1588
1589
1633 auf nunmehr 32 MS jährlich erhöht, die bis zum Ende des Jahrhunderts gezahlt wurden. Vgl. StAS Rep 28-640 St. Marien Einnahme und Ausgabe 1611–1686, fol. 134, und StAS Rep 28-643 St. Marien Weihnachtsquartal 1614–1660 [1633] und AStM KR Oster-Quartal-Register 1687–1736. An St. Jakobi erhielt der Bälgetreter 1619 bis wenigstens 1667 eine Besoldung von jährlich nur 18 MS. StAS Rep 28-880 St. Jakobi Einnahme und Ausgabe, fol. 152v, und StAS Rep 28-883 St. Jakobi Ausgaberegister [3. Register], fol. 342. Wie gering der Verdienst war, soll ein Vergleich verdeutlichen: Der Küster von St. Marien erhielt 1613 neben einem Fixum von 80 MS »Wegenn der Corrende« 3 MS für ein paar Schuhe zusätzlich. StAS Rep 28-1029 Matricul aller Gottsheuser der Stadt Stralsundt 1614 [St. Marien], fol. 149v. Die Kalkantenbesoldung von 16 MS im selben Jahr entsprach den Kosten für etwa drei Paar Schuhe und war somit wohl kaum ausreichend für den Lebensunterhalt. Vgl. 1633: AStN KR R 33a Ausgaberegister 1629–1673 [16.7.1633]; 1645: AStN KR R 2/N 2 Landregister 1644–1655, fol. 74; und 1664: AStN KR R 33a Ausgaberegister 1629– 1673 [1664]. Rosteck (1999, S. 185) zufolge waren auch die Bremer Kalkanten oftmals gleichzeitig Glockenläuter oder Totengräber. StAS Rep 28-639a St. Marien Rechnungsbuch 1603–1613, fol. 194v. Ebd. [1613], fol. 207v, 211. Snyder (1987, S. 81) berichtet von einer Lübecker Bälgetreterin namens »Cathrin« während Buxtehudes Amtszeit. Rosteck (1999, S. 185) nimmt an, dass es sich bei den Bälgetreterinnen um die Witwen oder Töchter verstorbener Kalkanten handelt. Zu Lebzeiten der Kalkanten war es untersagt, dass sich diese von ihren Frauen vertreten ließen. Vgl. Punkt 16 der nachfolgend zitierten Bälgetreterordnung. AStN KA Fach II Nr. 8 [1657]. Die Auslassungszeichen markieren die in der Ordnung fehlenden Stellen. Eine ähnliche Ordnung zitiert Rosteck (1999, S. 183f.) in seiner Bremischen Musikgeschichte.
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4. 5. 6. 7. 8.
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wan aber [...]eret, halb 7 Uhr auff der Orgel zu sein des Donne[...] früe halb 7 Uhr auf die Orgell zu kommen Nachmittags [...] Son- oder Feyertags wan nicht musicieret ¾ [...] Uhr wan musiciret halb ein Uhr auff der Orgel zu sein Die Orgel [...] ungestüm zu rechter Zeit auf und zumachen, damit mercklicher Schaden verhindert werde 9. Wan dem Organisten beliebet zustimmen, oder sonsten auff der Orgel zuverrichten, sich willig undt gehorsam finden zu lassen 10. Lichter vor dem Organisten zu rechter Zeit (ohnwiderwillen) ein zu schaffen 11. Die Kohlen zu rechter Zeit zu bestellen, damit sie nicht mit doppelten Unkosten verschaffet werden 12. Und weil vornehmlich einen Bälgetreter gebühret, nicht allein die bälge zu treten, besondern in allen bey dem Organisten (was in dem werck bißweilen durch das ungestüme Wetter, bißweilen unvermuhtlicher Schaden einfelt) auff der orgel zu bleiben, nicht von der orgel auff und ablaufen, sondern in solchen gefehrlichen fellen ihme gebührende handtreichung zu thun, undt auff der orgel zu verbleiben, biß der organist abgehet. 13. Auch wenn das Regal oder Instrument uff das hochzeit hauß oder anderer ohrten getragen sollen werden, undt ihm angesaget, [...] also fort willig ohne fluchen undt Poltern zu finden 14. Auch zu rechter Zeit die Instrumenta wieder zu hauß zu bringen 15. die Belgen nicht mit umgestüm (wan der Poltergeist woll undt dick) zu befallen, damit mercklicher schaden nicht die grobheit anzeiget 16. Undt weile vor dieser zeit dem Bälgentreter von den organisten zimlich durch die Finger gesehen worden, dass bißweilen wan der Man anderer geschäfte verrichtet, die frau auff die orgel gesendet, welches etzliche mahle bey der Jugendt große ergerniß verursachet, als soll solche ergerniß hinfüro abgeschaffet undt der Bälgetreter ohn fraulich sich vor gesetzer maßen selbstes auff der Orgell zu befinden 17. Das gräuliche undt lesterliche fluchen undt Schweren, wie auch Zancken undt Poltern auff der orgel zu meyden. 18. was ihm der Organist befihlt, auff [...] willen zu verrichten 19. Keine Wucherey auff der orgel zu treyben [...] von ein andern nicht zu nehmen, auff die Orgel [...] auff und ab zu lassen 20. Mit dem andern Belgtretter in gutem Ver[...]leben undt nicht wiederiges zu erzeigen 21. unter dem Spielen oder Musicieren kein Wa[...] Plaudern zu haben, sondern still undt behutsahm sein Werck zu verrichten 22. des Winters das feuer zu rechter Zeit zu machen 23. undt den Woll achtung auff dasselbe zu haben, damit kein Schade möge geschehen 24. Die orgel reinlich und sauber zu halten«.
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Wie die Bestimmungen zeigen, zählte nicht nur die Betätigung der Orgelbälge zu den Verpflichtungen des Kalkanten. Er war darüber hinaus für sämtliche vom Organisten geforderten Handreichungen zuständig, öffnete und schloss die Orgel, beschaffte Kerzen und Kohlen für geeignete Licht- und Temperaturverhältnisse auf der Empore und transportierte Instrumente, wenn der Organist außerhalb der Kirche zu musizieren hatte. Bereitwillig hatte er zu verrichten, »was ihm der Organist befihlt«. Der Bälgetreterordnung lassen sich auch Angaben zu den Musizierverpflichtungen des Organisten entnehmen. Mit den Fest-, Sonn- und Donnerstagen werden diejenigen Tage aufgeführt, an denen die Organisten den Kirchenordnungen und Bestallungsdokumenten zufolge ihren Orgeldienst im Gottesdienst zu verrichten hatten1590. Die Unterscheidung zwischen »wan musiciret wirdt« und »wan nicht Musiciret wirdt« bezieht sich dabei auf die Ausführung von Figuralmusik, vielleicht unter Beteiligung weiterer Instrumentalisten. »Wan musiciret« wurde, hatte der Kalkant sich 30 Minuten vor Beginn des Gottesdienstes auf der Empore einzufinden, vermutlich um für eine kurze Probe mit der Orgel den nötigen Wind zu beschaffen; »Wan nicht Musiciret« wurde, reichten 15 Minuten aus.
2.2.7 Orgelbau Bis heute verfügt Stralsund mit seiner berühmten Stellwagenorgel in der Marienkirche über ein Orgelwerk, das als größtes und letztes Werk seines Erbauers schon nach seiner Fertigstellung 1659 zu den bedeutendsten Instrumenten im norddeutschen Raum zählte. Trotz der politisch unruhigen Zeiten und oftmals desaströsen Finanzsituation der Stadt waren der Erhalt und der Neubau kostbarer und kostenintensiver Orgelwerke dem Stralsunder Rat und den jeweiligen Provisoraten offensichtlich ein wichtiges Anliegen. Bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts arbeiteten namhafte Orgelbauer in der Stadt. Große und aufwendige Orgelbauten zur Pflege der Kirchenmusik und somit zum Lobe Gottes erfüllten dabei sicher auch repräsentative Zwecke. Die Verpflichtung berühmter Orgelbauer, wie etwa von Nicolaus Maaß, Fabian Peters, Paul Luedemann oder Friedrich Stellwagen, garantierte nicht nur solide Arbeit, sondern ermöglichte darüber hinaus den Anschluss an bestehende Standards sowie neue Entwicklungen im Orgelbau. Dabei wirkten sich die Größe und Qualität der Instrumente auch bei Stellenbesetzungen vorteilhaft aus, konnte man auf großen und modernen Orgeln doch musikalisch anspruchsvoller agieren als auf kleineren Instrumenten, die weitaus weniger Möglichkeiten boten. Wohl mit Recht betont Rampe in diesem Zusammenhang, dass durch die günstigen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im norddeutschen Küstengebiet des 17. Jahrhunderts nicht nur größere Orgelbauten ermög-
1590 Siehe dazu S. 237f.
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licht wurden, sondern darüber hinaus auch die Entwicklung musikalischen Repertoires in spezieller Weise beeinflusst wurde1591. Orgelrenovierungen und -umbauten wurden in erster Linie von den Organisten der jeweiligen Kirchen initiiert, vorbereitet und begutachtet. Ihren Bestallungsurkunden zufolge waren sie für die Wartung und Pflege der Instrumente zuständig. Das darüber hinausgehende Engagement der Musiker – beispielsweise die Anpassung ihrer Instrumente an veränderte Musizierpraktiken – war individuell verschieden. In diesem Zusammenhang sind die später noch genauer auszuführenden Bemühungen des Jakobiorganisten Friedrich Schick zu erwähnen. Informationen zur Stralsunder Orgelbaugeschichte sind in den Bauregistern der Kirchen, den Ratsprotokollen sowie im Schriftverkehr zwischen Organisten, Orgelbauern, Provisoraten und dem städtischen Rat enthalten. Schon erwähnt wurden die Veröffentlichungen Dietrich W. Prosts zur Stralsunder Orgelbaugeschichte von den Anfängen bis in das 20. Jahrhundert1592. Unter anderem angesichts des weit gefassten Untersuchungszeitraums seiner Arbeiten bleiben allerdings viele Quellen darin unberücksichtigt. Ausgehend von den Arbeiten Prosts werden im Folgenden die von ihm nicht erwähnten, für das städtische Musikleben jedoch relevanten orgelbaulichen Ereignisse und Entwicklungen thematisiert.
2.2.7.1  Stralsunder Orgelbauer In Stralsund gab es im Gegensatz etwa zu Lübeck oder Hamburg1593 weder im späten 16. noch im 17. Jahrhundert eine namhafte Orgelbauwerkstatt. Kleinere Reparaturen erledigten die Organisten selbst, größere Aufträge wurden an auswärtige Orgelbauer vergeben, die sich während ihrer Arbeiten mit ihren Gesellen in der Stadt niederließen und bei dieser Gelegenheit zumeist Aufträge an den Orgeln mehrerer Kirchen ausführten1594. Mit großen wie kleinen Orgelwerken in den drei Hauptkirchen sowie in der Johannis-, Katharinen- und Hospitalkirche zum Heiligen Geist1595 verfügte Stralsund über eine stattliche Anzahl Instrumente. Diese wurden vor allem während der militärischen Angriffe auf die Stadt in den Jahren 1628 und 1678 und bei den zum Teil verheeren1591 Rampe (2003, S. 7) verweist in diesem Zusammenhang auf mehrmanualige Kompositionen mit Pedal- und Doppelpedalpartien, wie sie von Sweelinck und seinen Schülern überliefert sind. Jedoch besteht nicht zwangsweise ein Zusammenhang zwischen großen Orgelbauten und den Kompositionen ihrer jeweiligen Organisten. So verfügte etwa Paul Siefert in Danzig über eine großdimensionierte Orgel, nutzte die Möglichkeiten des Instrumentes in seinen Kompositionen jedoch kaum aus. Vgl. Schneider (2006), Sp. 759. 1592 Vgl. die im Literaturverzeichnis aufgeführten Veröffentlichungen Prosts. 1593 Stellwagen hatte seine Werkstatt in Lübeck; Arp Schnitger siedelte 1682 nach Hamburg über. Vgl. Ortgies (2006), Stellwagen, Sp. 1411, und ders. (2005), Sp. 1529. 1594 So ließen sich die Reise- als auch Aufenthalts- und Verpflegungskosten der Orgelbauer gering halten, da man sie unter den Kirchen teilte. 1595 Vgl. zur frühen Orgelbaugeschichte auch S. 179f.
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den Stadtbränden mehrmals in Mitleidenschaft gezogen1596. Vor diesem Hintergrund werden die Bemühungen um einen dauerhaft in der Stadt ansässigen Orgelbauer verständlich. Mit Johann Jaster (Janßen, Jastert) aus Altentreptow1597 lässt sich zwischen 1635 und 1649 ein in Stralsund wohnhafter Orgelbauer nachweisen, der Arbeiten an allen drei Kirchen übernahm. In ähnlicher Weise hatte Friedrich Stellwagen 1645 mit den Lübecker Hauptkirchen einen Generalpflegevertrag geschlossen1598. Während man Stellwagen auch Orgelneubauten übertrug, übernahm Jaster jedoch wohl ausschließlich Reparaturen. Nachdem Jaster die Stadt wieder verlassen hatte, bemühte sich der Nikolaiorganist Johann Martin Rubert 1660 erneut um einen Orgelbauer und holte den Richtenberger Johannes Preen in die Hansestadt. Neben Jaster und Preen, deren Arbeiten im Folgenden ausführlicher behandelt werden, lassen sich keine weiteren Orgelbauer mit Wohnsitz in Stralsund nachweisen. Da die Aktivitäten auswärtiger Orgelbauer in der Regel mehrere Kirchen zugleich betrafen, werden die nachfolgenden Ausführungen nicht nach den einzelnen Kirchen, sondern nach Orgelbauern gegliedert.
2.2.7.2  Nicolaus Maaß [Maas] Nicolaus Maaß gehörte zu den gefragtesten Orgelbauern des Ostseeraums am Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert. Sein Geburtsjahr und seine Herkunft sind unbekannt. Maarten Albert Vente schließt u. a. aufgrund des Namens auf eine niederländisch-brabantische Herkunft1599, doch findet sich der Name Maaß [Maas, Maeß, Maes] am Ende des 16. Jahrhunderts auch in Pommern häufig1600. 1596 erwarb Nicolaus Maaß das Stralsunder Bürgerrecht1601 und rechnete demzufolge mit einem längeren Aufenthalt in der Stadt. Ein Blick auf die Liste seiner orgelbaulichen Aktivitäten unterstreicht sein Ansehen in der Region. Seit den 1580er-Jahren1602 lassen sich Reparaturen 1596 Die Orgel der Hospitalkirche zum Heiligen Geist etwa wurde bei jeder der drei Belagerungen – 1628, 1678 und 1715 – beschädigt. 1597 Heyden (1957), Bd. 2, S. 172. Vgl. zur Herkunft Jasters aus Funck (2009), S. 69. 1598 Ortgies (2006), Stellwagen, Sp. 1411. 1599 Vente (1963), S. 107. 1600 Sowohl in den Stralsunder Bürgerbüchern als auch in den Taufregistern lässt sich der Name Maaß im besagten Zeitraum häufiger nachweisen. 1601 1596: »Maes, Niclas«, StAS Bürgerbücher (digitalisiert). Die Angabe Ventes (1963, S. 108), Maaß habe 1592 bereits das Bürgerrecht erworben, bezieht sich auf den Eintrag eines gewissen »Maess, Claus« von 1592. Da sich orgelbauliche Aktivitäten von Maaß in Stralsund erst ab 1598 sicher nachweisen lassen, ist der spätere Eintrag zur Bürgerrechtsgewinnung wahrscheinlicher. Beide Einträge enthalten keine weiteren Angaben zur Herkunft oder zum Beruf der Personen. 1602 Vor dieser Zeit hatte Maaß vorrangig in Sachsen gewirkt und hier Bekanntschaft mit der Familie Lorentz geschlossen, deren Söhne Johan (I) und Balthasar später Gesellen bei ihm wurden. Vente (1963), S. 108. Johan (I) Lorentz erhielt 1639 das alleinige königliche Privileg für den Orgelbau in Dänemark und Norwegen. Lundgren (2004), Sp. 462.
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und Orgelneubauten durch Maaß vor allem in Pommern und Dänemark nachweisen1603. St. Nikolai Die Stralsunder Nikolaiorgel erbaute Maaß zwischen 1598 und 16011604. Von 1598 liegt eine Vereinbarung zwischen dem Orgelbauer und den Provisoren der Kirche vor, nach der Maaß ein Vorschuss von 100 Gulden pommerscher Währung gewährt wurde, der spätestens bei Lieferung der Orgel zu begleichen war1605. Einige wenige Informationen über das von Maaß erbaute Werk finden sich in einer Supplikation des Orgelbauers vom 29. Dezember 1612 sowie in einem Schreiben von 1730. Den Quellen zufolge hatte das Werk zunächst 22 Stimmen, erwies sich jedoch aufgrund der Größe der Kirche als zu klein und wurde daher sowie »auß viler gutter leutte antreiben« noch einmal erweitert1606. Nähere Informationen dazu enthält die von Prost erwähnte Nachricht wegen Reparatur der großen Orgel aus dem Jahre 1730. Entnehmen lässt sich, dass Maaß das Werk nicht nur vergrößerte, sondern die Stimmenzahl sogar von ehemals 22 auf nunmehr 44 verdoppelte1607. 1632 wurde mit dem Pasewalker Orgelbauer Paul Luedemann ein Vertrag zur Renovierung der Nikolaiorgel geschlossen. Vermutlich fand Luedemann das Werk zu dieser Zeit noch in der Gestalt vor, in der Maaß es gefertigt hatte. Dem Vertrag zufolge bestand die Orgel aus Hauptwerk, Rückpositiv, Pedal- und Brustwerk, deren Pfeifen von Luedemann zunächst einer Säuberung unterzogen werden sollten1608. An Registern werden ein »Cornet« im Pedalwerk sowie ein »Posaunen- und Trompetenbass« erwähnt, die mit »Newen Mundtstücken vnd Zungen« zu versehen waren. »An Stahtt
1603 Vente (1960, S. 1369, und 1963, S. 108f.) führt Orgelumbauten und Reparaturen an St. Marien in Prenzlau (1584, 1598), an St. Marien und St. Nikolai in Greifswald (1597, 1599–1603), an St. Marien in Flensburg (1604–1608), im Dom zu Røskilde (1611) sowie Orgelneubauten in Barth (1597), in St. Nikolai in Flensburg (1604–1608) und in Frederiksborg (1613–1615) an. Außerdem baute Maaß im Auftrag Christians IV. ab 1601 mehrere kleinere Orgeln. Vgl. ebd. Darüber hinaus verweist Köhler (1997, S. 501) auf Arbeiten in Kopenhagen (1582), an St. Marien und St. Jakobi in Stettin (1582–1586, 1582), an St. Jakobi in Greifswald (1590), in Wolgast (um 1600), Greifenberg (1612) und Gollnow (1612). 1604 Zu den Vorgängerinstrumenten macht Prost (1996, S. 128) keine Angaben. 1605 AStN OA [Schreiben Nicolaus Maaß, 1598]. 1606 Ebd. [29.12.1612]. 1607 »Diese Ao 1599 von Nicolav Maashen gebauete Orgel […] hat zur selbigen Zeit nur aus 22 Stimmen bestanden, doch sind noch zu seiner Zeit die übrigen 22 hinzu gethan.« Zit. nach Prost (1982), S. 205. 1608 AStN OA [Vertrag wegen Renovierung der Nikolaiorgel mit dem Orgelbauer Paul Luedemann, 9.11.1632]. Siehe Dok. 6 im Anhang auf S. 365f. sowie dazu auch S. 277. Auch Prost (1982, S. 206) schloss aus späteren Darstellungen auf die oben beschriebene Anlage der Orgel.
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des gemßhorns« sollte Luedemann »ein Schweitzer Pfeiff«1609 setzen. Darüber hinaus hatte er die bei Renovierungen üblichen Ausbesserungen an den Bälgen, Ventilen und Laden vorzunehmen. Die von Michael Praetorius aufgeführte Disposition eines Stralsunder Orgelwerkes mit 43 Stimmen, »dessen Meister Nicolaus Maaß gewesen«1610, ließ sich bislang nicht eindeutig der Maaßschen Nikolaiorgel in Stralsund zuordnen. Vente und Prost vermuten, dass es sich dabei um ein weiteres zwischen 1592 und 15941611 von Maaß erbautes Orgelwerk in der Marienkirche handeln müsse1612. Zeugnisse für einen solchen Neubau liegen allerdings nicht vor. Nach erneuter Durchsicht der Ausgaberegister von St. Marien lässt sich jedoch ein Orgelneubau des Sneeker Orgelbauers Fabian Peters zwischen 1570 und 1575 nachweisen1613, auf den an späterer Stelle noch gesondert einzugehen ist. Dass nach nur 20 Jahren ein weiterer Orgelneubau an St. Marien durch Nicolaus Maaß errichtet wurde, erscheint unwahrscheinlich. Somit ist die bei Praetorius angegebene Disposition wohl doch der Nikolaiorgel zuzuordnen. Die spärlichen Informationen zum Maaßschen Orgelwerk in St. Nikolai weichen von der durch Praetorius mitgeteilten Disposition nur um ein Register ab: Praetorius erwähnt 43 Stimmen, die Stralsunder Quellen hingegen sprechen von 44 Stimmen und führen zusätzlich zu Praetorius ein Gemshorn im Hauptwerk auf1614. Eingeweiht wurde das neue Orgelwerk an St. Nikolai 1601 vom damaligen Nikolaiorganisten Elias Herlitz: »Diese Ao 1599 von Nicolav Maaßen gebauete Orgel, welche Ao 1601 am Himmelfahrts Feste zum allerersten mahl von dem organisten Elias Herlicion bespielet worden«1615. 1609 AStN OA [Vertrag wegen Renovierung der Nikolaiorgel mit dem Orgelbauer Paul Luedemann, 9.11.1632]. 1610 Vgl. Praetorius (1619/1964), Organographia, S. 167. 1611 Woher die Jahresangaben stammen, bleibt unklar. 1612 Vgl. Vente (1963), S. 108f., sowie Prost (1996), S. 1f. 1613 Prost (1996, S. 1) behauptet den Verlust sämtlicher Primärquellen. Im Stadtarchiv Stralsund liegen jedoch zwei Einnahme- und Ausgaberegister der Stralsunder Marienkirche für diesen Zeitraum vor, die Angaben zum Orgelbau enthalten: StAS Rep 28-638 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1566–1608 und StAS Rep 28-639 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1552–1609. 1614 Vgl. den Vertrag zwischen St. Nikolai und Paul Luedemann in: AStN OA [Vertrag wegen Renovierung der Nikolaiorgel mit dem Orgelbauer Paul Luedemann, 9.11.1632], auch im Anhang auf S. 365f. 1615 Zit. nach Prost (1996), S. 128 [Nachricht wegen Reparatur der großen Orgel, 21.12.1730]. Im selben Jahr baute Maaß in Stralsund ein Orgelpositiv für den dänischen König Christian IV., das nach Schloss Frederiksborg überführt wurde. Vgl. Funck (2004), S. 371. Ab 1603 stand der Orgelbauer fest in königlich dänischen Diensten. Maaß verstarb 1615 während des Baus einer großen Orgel in der Schlosskirche von Frederiksborg. Die Orgel wurde von seinem Schüler Johan Lorentz, der um 1598 Lehrling bei Maaß in Stralsund gewesen war, fertiggestellt. Vente (1960), 1368f. Vgl. zu Lorentz auch Lundgren (2004) und Nørfelt (1999).
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Die Bezahlung der Kosten durch St. Nikolai, die Maaß mit immerhin 5000 Gulden (= 15.000 MS) angab1616, zog sich den Quellen zufolge bis weit nach dem Tod des Orgelbauers hin. Mehrfach wandte sich die Maaßsche Witwe an die Kirche, um die noch ausstehenden Zahlungen zu erhalten1617. Außerdem prozessierte sie gegen den Stralsunder Rat wegen eines nach ihrem Weggang aus Stralsund unrechtmäßig verkauften Hauses1618. Wohl aufgrund der hohen Reputation ihres Mannes genoss sie dabei sowohl den Beistand des dänischen Königs als auch des pommerschen Herzogs Philipp Julius1619.
2.2.7.3  Fabian Peters Fabian Peters [Peterszoon] war niederländischer Abstammung und stammte aus Sneek1620. Seine Arbeiten lassen sich in Parchim (1564), Wismar (1566), Malchin (1567/1570), Greifswald (1575/1577), Prenzlau (1576)1621 und nunmehr auch in Stralsund nachweisen. 1577 widmete der Stralsunder Kantor Eucharius Hoffmann dem Orgelbauer die VII. (»IN SCALA DVRA«) seiner XXIIII. CANTIONES: »VIRO OPTIMO FABIANO PETERS Architecto organico excellentißimo«1622. St. Marien Wie erwähnt, baute Fabian Peters zwischen 1570 und 1575 ein neues Orgelwerk in der Stralsunder Marienkirche1623. Schon 1560 hatte ein namentlich nicht genannter Anklamer Orgelbauer die große Orgel der Marienkirche besichtigt1624. Die testamentarische Spende Joachim Möllers von 30 Mark zum Bau einer neuen Orgel in St. Marien (1571)1625 galt dabei wohl weniger den Aktivitäten von Maaß, wie es Prost angibt, als vielmehr denen von Fabian Peters, der bereits im Jahr zuvor 120 MS zum ›gades penninge‹ (Vertragsabschluss) erhalten hatte, um »de grote orgel to marie gantz nye: vnd de 1616 AStN OA [Schreiben des Orgelbauers Nikolaus Maaß wegen Bezahlung des neuen Orgelwerkes in St. Nikolai, 29.12.1612]. 1617 Die letzte Rate von 100 fl. wurde der Maaßschen Witwe am 28. Mai 1621 gezahlt. Vgl. AStN KR R 19/N 6 Paetzken Register 1613–1654, fol. 18. In den Ausgaberegistern der Nikolaikirche lässt sich zwischen 1615 und 1619 ein reger Briefwechsel in dieser Angelegenheit nachweisen. Vgl. StAS Rep 28-1029a St. Nikolai Kirchenregister 1602–1628 [1615–1619], fol. 58vff., und AStN KR R 1/N 1 Landt Register von Ao 1612 biß Ao 1644 [1617/18]. 1618 AStN OA [Schreiben wegen der Maaßschen Witwe, 1.5.1619]. 1619 StAS Rep 28-1029a St. Nikolai Kirchenregister 1602–1628 [6.4.1619] und AStN OA [Schreiben Philipp Julius’ wegen der Maaßschen Witwe, 10.8.1615]. 1620 Vente (1963), S. 108, und Praetorius (1619/1964), Organographia, S. 205. 1621 Vgl. Funck (2009), S. 259. 1622 Es handelt sich um die Motette »Laudate Deum« für vier Stimmen. 1623 Prost (1996, S. 1) nennt aus früherer Zeit einen Orgelneubau Johann Scultes an St. Marien (1493) sowie einen etwa fünfzig Jahre später beendeten Orgelneubau. 1624 StAS Rep 28-639 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1552–1609 [1560]. 1625 Vgl. Prost (1996), S. 1.
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kleine orgel to renouere vnd buwende«1626. Dass es sich in der Tat um einen Orgelneubau handelte, wird außer durch das angeführte Zitat auch durch einen Eintrag im Ausgaberegister von St. Marien bezeugt. Am 2. Januar 1576 erhielt der »Orgelbauwer Mester Fabian Peterßen, vp die nhastande 60 daler, weg der Nigen Orgelgebew«1627. Interesse an der Peters-Orgel bekundete man auch in Greifswald, wohin es den Orgelbauer nach seinen Stralsunder Arbeiten mit zwei neuen Aufträgen zog. Zu Mariae Lichtmess 1575 besichtigte der Greifswalder Jacobiorganist Bertold Stegemann das in Stralsund neu erbaute Werk1628; die Greifswalder Kirche erhielt noch im selben Jahr einen Orgelneubau durch Peters1629. Weitere Informationen zu dem Stralsunder Orgelwerk von Fabian Peters liegen nicht vor. St. Jakobi In den 1580er-Jahren fanden umfangreiche und kostenintensive Renovierungsarbeiten an der großen Jakobi-Orgel statt. So wurde »die grote Orgel [1583] ganz vpt nye vmbggegaten mith Nyen stemmen vnd laden gerfertiget«1630. In diesem Zusammenhang werden sowohl ein Orgelbauer namens Nikolaus als auch mehrfach der Name Fabian erwähnt1631. Wer die Renovierungsarbeiten tatsächlich übernommen hat, lässt sich nicht mehr abschließend ermitteln.
2.2.7.4  Paul Luedemann Paul Luedemann wurde 1568 in Rostock geboren und war von 1603 bis 1637 Orgelbauer in Pasewalk1632. Wie Maaß und Peters gehörte er zu den bedeutendsten in Pommern wirkenden Orgelbauern. Orgelneubauten durch ihn sind für die Kösliner Schlossund Marienkirche1633, Pasewalk, den Dom zu Kolberg, Greifswald und die Jakobikirche zu Stettin bezeugt1634. Schwarz weist Luedemann insgesamt 44 Orgelneubauten zu1635. Der Orgelbauer starb 1636 während des Überfalls auf Pasewalk1636. In Stralsund renovierte Luedemann 1632/33 die Orgeln an allen drei Hauptkirchen. 1626 StAS Rep 28-638 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1566–1608 [1570]. 1627 StAS Rep 28-639 St. Marien Einnahme & Ausgabe 1552–1609 [1575]. 1628 Stegemann war zwischen 1554 und 1576 Jakobiorganist in Greifswald. Funck (2009), S. 230. StAG Rep 3-147 St. Jakobi Rechnungen Bd. 1: 1569–1623 [1575/76], fol. 55r. 1629 Anschließend baute Peters noch eine Orgel in St. Nikolai in Greifswald (1577). Funck (2009), S. 259, 263. 1630 StAS Rep 28-880 St. Jakobi Einnahme und Ausgabe, fol. 54. Informationen über frühere Orgeln in der Jakobikirche liegen nicht vor. Vgl. Prost (1996), S. 99. 1631 AStJ Tit. 1 Nr. 1a [Ausgaben Orgel, 1582/83]. 1632 Köhler (1997), S. 500. Prost (1991, S. 6) gibt 1572 als Geburtsjahr Luedemanns an. 1633 Kittler (1937), S. 67. 1634 Köhler (1997), S. 500. 1635 Schwarz (1988), S. 226. 1636 Köhler (1997), S. 500.
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St. Nikolai In Verhandlungen mit Luedemann stand die Nikolaikirche wohl bereits seit 1631. Am 29. Juli jenes Jahres wurden dem Nikolaiorganisten und einem namentlich nicht erwähnten Orgelbauer zwei Stübchen (= 7,2 l) Wein vermacht, vermutlich für die gemeinsame Begutachtung der Orgel1637. Ein Vertrag zwischen dem Orgelbauer und den Provisoren von St. Nikolai wurde allerdings erst mehr als ein Jahr später, am 9. November 1632, im Stralsunder Ratsweinkeller geschlossen: »Noch haben die herrn Provisoren zu de Winkeller Mitt dem orgelbauwer den contrachtt wengen der orgel zu reparieren geschloßen an wein gehadtt 6 Podtt dodtt 9 MS, an Kringell dar bey 6 ß.«1638
Wie schon erwähnt1639, hatte man Luedemann beauftragt, Reinigungsarbeiten durchzuführen, Verschleißteile auszubessern und die Orgel »rechttmeßig« zu intonieren1640. Die Vertragsbedingungen entsprechen dabei den zu dieser Zeit üblichen Gewohnheiten. Um den Auftraggeber abzusichern, erfolgte die Bezahlung des Arbeitslohns von 320 Gulden (= 960 MS) in drei Raten: zu Beginn der Arbeit, während der Arbeit »vnd bei liefferung des wercks«1641. Das nötige Material hatte Luedemann selbst zu beschaffen; die Kosten waren in der erwähnten Summe bereits eingeschlossen. Für »Atzung« (Beköstigung) und »Losament« (Unterkunft) Luedemanns und seiner Gesellen kamen die Vorsteher von St. Nikolai als Vertragspartner auf. Im Frühjahr 1633 hatte Luedemann die Renovierungsarbeiten offenbar beendet; am 2. März des Jahres schloss er einen Vertrag mit den Vorstehern von St. Jakobi zur Renovierung ihrer Orgel. St. Marien Im Sommer 1631 begutachtete Luedemann auch die große Orgel der Stralsunder Marienkirche. Auch hier wurde vereinbart, die Orgel zu renovieren. Luedemann wurden die Reisekosten erstattet1642, und der Marienorganist Hinricus Olphenius bemühte sich um die Unterbringung des Orgelbauers1643. 1637 AStN KR R 33a Ausgaberegister St. Nikolai 1629–1673 [29.7.1631]. 1638 Ebd. [29.11.1632]. Der Vertrag mit Luedemann ist überliefert: AStN OA [Vertrag wegen Renovierung der Nikolaiorgel mit dem Orgelbauer Paul Luedemann, 9.11.1632]. Vgl. Dok. 6 im Anhang auf S. 365f. 1639 Siehe S. 273. 1640 AStN OA [Vertrag wegen Renovierung der Nikolaiorgel mit dem Orgelbauer Paul Luedemann, 9.11.1632]. 1641 Ebd. 1642 StAS Hs. 377 Todten Register von S. Marien Kirche 1629–1685 [4.8.1631], fol. 45v. 1643 »Henrico Olphenio dem Organisten zu St. Marien für 14 tage Kostgeltt bezahlett wie der orgelbauer von Pasewalck M. Paul Ludeman neben einem diener alhir gewesen und daß große werck in Marien Kirche Zu renoviren mit ihm verdingett, auch bey dem organisten logiret 30 MS.« AStM KR Einnahmen und Ausgaben 1625–1649 [30.11.1631], fol. 912.
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Für die Renovierung der großen Marienorgel, bei der es sich wahrscheinlich noch immer um das von Fabian Peters erbaute Werk handelte, erhielt Luedemann beträchtliche 900 Gulden (= 2700 MS). Für Reparaturen an der kleinen Orgel wurden ihm zusätzlich 100 Gulden gezahlt1644. Beim Kirchenbrand von 1647 wurden die Orgeln der Marienkirche zerstört1645. St. Jakobi Nachdem Luedemann die Marien- und Nikolaiorgel renoviert hatte, schloss er am 2. März 1633 einen Vertrag mit den Vorstehern von St. Jakobi zum Zwecke der Renovierung ihrer Orgel. Auch dieser Vertrag liegt heute vor1646 und umfasst in erster Linie Ausbesserungs- und Reinigungsarbeiten des aus Hauptwerk, Pedalwerk und Rückpositiv bestehenden Werkes sowie den Austausch einiger Register1647. Weiterhin sollte die Orgel »chormäßig gestimmet«1648 werden. Für die Arbeiten empfing Luedemann 333 Gulden und acht Schillinge (= 1000 MS), wiederum in Raten1649. Innerhalb von nur zwei Jahren waren sämtliche großen Orgelwerke in Stralsund durch den Orgelbauer Luedemann umfangreich renoviert worden. Inwieweit die Orgeln bei der Wallensteinschen Belagerung von 1628 Schaden genommen hatten und die Renovierungen aus diesem Grund notwendig geworden waren, ist nicht im Einzelnen bekannt. Der Bau der Werke lag allerdings vermutlich an allen drei Kirchen bereits wenigstens drei Jahrzehnte zurück. Bei den umfassenden Renovierungen wurden die Orgeln nicht nur instandgesetzt, sondern etwa durch den Austausch von Registern auch klanglich verändert. Die finanzielle Situation von Kirche und Stadt ließ diese Aufwendungen offenbar zu; nach den Orgelrenovierungen wurde darüber hinaus sogar das Organistenfixum erheblich angehoben1650. Dabei fielen die Arbeiten Luedemanns in eine Zeit, in der sich nach der Wallensteinschen Belagerung1651 in Stralsund im Handel zwar langsam wieder Stabilität und Wachstum einstellten, in der sich die Finanzlage jedoch noch nicht wirklich gebessert
1644 AStM KR Auszüge aus dem Landregister 1634–1862 [1631/32]. 1645 Vgl. Prost (1996), S. 2. 1646 AStJ Tit. 1 Nr. 1a [Paull ludemanß contract wegen der Örgel, 2.3.1633], auch StAS Rep 28-285 Vergleich zwischen den Vorstehern der Jacobi Kirchen & dem Orgelbauer Paul Ludemann. Siehe eine Übertragung des Vertrages bei Prost (1996), S. 99f. 1647 Das Cornett sollte durch einen »Klein schallmeyenbas«, die »Quintenstimme« durch eine »veltpfeyfe« und »Vagath« (offenbar ein noch leer gebliebener Pfeifenstock) durch ein »Harpfen Regall« ersetzt werden. Vgl. ebd. 1648 Ebd. 1649 Ebd. 1650 Vgl. die Gehaltsübersichten auf S. 253. 1651 Hacker (1979), S. 21f. Hacker spricht von der »dreijährigen Drangsal« und meint die Jahre zwischen 1627 und 1630 mit der Belagerung und ihren Folgen (Allianz mit Schweden, finanzielle Forderungen Schwedens).
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hatte1652. Stark gebeutelt wurde die Stadtkasse vor allem durch die finanziellen Forderungen des Allianzpartners Schweden1653. Somit erfolgten die Orgelrenovierungen durch Luedemann zwar noch nicht in Zeiten wirklich stabiler Verhältnisse, aber beginnenden Aufschwungs. Unabhängig davon kam der Musik gerade in dieser Zeit als Gotteslob nach den Jahren kriegerischer Auseinandersetzungen und erfolgreich bekämpfter Belagerung eine besondere Bedeutung zu. Dass sich sowohl der Stralsunder Rat als auch die kirchlichen Provisorate nach den abgeschlossenen Renovierungsarbeiten der Größe und Bedeutung dieses Projekts bewusst waren, zeigt ein Eintrag im Landregister der Nikolaikirche. Die Abnahme der Orgeln hatte man einem namentlich nicht benannten Rostocker Organisten übertragen1654. Dieser hatte »alle 3 Renovirte Orgelln, van allen 3 Kercken [zu] beschlahn«. Abschließend gab es »aldewile solck ein loflick werck in langen tyden nich möchte geschehn syn […] mit Consens der hl. Bürgermester ein ansehnlick Convivium […], dar dan de hhl. Burgemester, enige uht dem Ministerio, sampt etliken rades persohnen, vnnde alle forstender van alle 3 Kercken sien thosamende gewesen.«1655
Auch der Orgelbauer Luedemann war bei diesem Festmahl selbstverständlich anwesend und erhielt im Anschluss die Kosten für seine (Ab-)Reise nach Pasewalk erstattet1656.
2.2.7.5  Johann Jaster [Janßen, Jastert] Zwischen 1635 und 1649 lässt sich Johann Jaster als Stralsunder Orgelbauer nachweisen. Wie schon erwähnt, lebte Jaster in Stralsund1657 und erhielt zumindest zeitweilig von St. Nikolai eine Festbesoldung. Er führte Arbeiten an den Orgeln aller drei Haupt1652 Nach Hacker war dies erst zu Beginn der 1640er-Jahre der Fall. Ebd., S. 35. 1653 Hier sind vor allem die Kosten für die Einquartierung der schwedischen Militärs zu nennen. Vgl. dazu ebd., S. 26–28. 1654 Es könnte sich um den Marienorganisten David Ebel (II) (Amtszeit: 1619–1639) gehandelt haben, der nach Daebeler (1966, S. 103) ein Sohn des Lübecker Petriorganisten David Ebel war. Dieser (= David Ebel I., Amtszeit: 1611–1619) war ein Bruder des früheren Stralsunder Marienorganisten Hermann Ebel. Vgl. Stahl (1952), S. 33 und 71. Vgl. zu Hermann Ebel die Ausführungen auf S. 210. Zu den Rostocker Organisten zählten zu dieser Zeit außerdem Joachim Dröge (St. Jakobi), Jochim Burmeister (I) (St. Petri) und Jeremias Beinsturz (St. Nikolai). Vgl. Laue (1976), S. 7f. 1655 AStN KR R 1/N 1 Landt Register von Ao 1612 biß Ao 1644 [1633], fol. 164. 1656 »Noch dem Orgelisten van Paselick, tho siner wegfahre na paselick möten leggen 8 MS«, ebd. 1657 Im Einnahmeregister der Jakobikirche sind ›Heuerzahlungen‹ (= Mietzahlungen) Jasters aufgeführt. Vgl. Rep 28-883 St. Jakobi Ausgaberegister [6. Register, 1644–1664]. Schon 1614 wird im Ausgaberegister der Marienkirche ein Orgelbauer namens Jürgen Jaster (vielleicht der Vater Johann Jasters?) erwähnt. StAS Rep 28-644 St. Marien Register 1614–1693 [1614], fol. 7.
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kirchen durch1658. Für ein Jahresfixum von 40 MS, das Jaster zwischen 1640 und 1649 von der Nikolaikirche erhielt1659, hatte er vermutlich die Orgeln der Stralsunder Ratskirche zu warten. Umfangreichere Vorhaben wurden darüber hinaus separat entlohnt, wie etwa das Ausbessern der Bälge 1646. Orgelneubauten übertrug man Jaster in Stralsund nicht. Ob sich Jaster aus eigenem Antrieb in Stralsund niedergelassen hatte oder von Seiten der Kirche(n) nach einem Orgelbauer gesucht wurde, ist unbekannt. Allerdings hielt Jaster sich bereits 1635 und somit nur zwei Jahre nach den umfangreichen Renovierungen durch Luedemann in Stralsund auf – größere Arbeiten standen zu dieser Zeit vermutlich noch nicht an. In den 1650er-Jahren reparierte Jaster die Greifswalder Orgeln in St. Jacobi und St. Nikolai1660. St. Jakobi Vorschläge für einen Orgelumbau machte 1646 der Jakobiorganist Friedrich Schick1661. Schick bemühte sich, sein Instrument an die Erfordernisse konzertierenden Musizierens anzupassen. Als nötig erachtete er es, das Pedalwerk um einen 16-Fuß-Posaunenbass sowie um drei Tasten zu erweitern1662, um die Bassstimme nicht mehr oktavieren zu müssen: »[…] daß vor erst in der Bass Laden die vor gesetzte 3. Claves nebst einen Posaunen Bass van 16 fußthon zu gegeben werden, welcher nunmehr aller örtenn zur finden, sonderlich bey solchen Wercken da der Principall vor 16 Fueß, alß auch bey vnser Orgell vorhanden, Vorzu die Bass Stimmen, weil sie in octavam höger sich gantz nicht schicken, die alten haben es so Paßiren laßen, weil Zu der selben Zeit, nach itzger Capellen art nicht Musiciret Werden.«1663 1658 Vgl. zu St. Nikolai: AStN KR R 19/N 6 Paetzken Register 1613–1654 [6.7.1635], fol. 56v; [16.3.1637], fol. 61; [14.4.1638], fol. 63; und AStN KR R 33a Ausgaberegister 1629–1673 [1646]. Die umfangreichen Ausbesserungen an den Orgelbälgen im Jahre 1646 stehen vermutlich mit dem Amtsantritt Ruberts in Zusammenhang. Aus diesem Jahr ist außerdem eine Rechnung Jasters überliefert, derzufolge er die Nikolaiorgel mit einer Schalmei im Rückpositiv und einem Trompetenbass in der Basslade ausgestattet hat. Vgl. AStN OA [Rechnung Johann Jasters, 1646]. Vgl. zu St. Marien: AStM KR Einnahmen und Ausgaben 1625–1649, fol. 1043, 1009, 1011. Vgl. zu St. Jakobi: StAS Rep 28-883 St. Jakobi Ausgaberegister [5. Register, 1647], fol. 114v. Prost (1996, S. 100) erwähnt einen undatierten Reparaturvorschlag Jasters für die Jakobiorgel, auf dem die Disposition der Orgel – allerdings ohne Fußzahlen – zu finden ist. 1659 AStN KR R 19/N 6 Paetzken Register 1613–1654, fol. 66v–86. 1660 Funck (2009), S. 257. 1661 AStJ Tit. 2 Nr. 10a [Vorschläge des Organisten Friedrich Schick für den Orgelumbau in St. Jakobi, 10.6.1646]. Vgl. Dok. 8 im Anhang auf S. 368f. 1662 Abgesehen vom Prinzipal 16’ verfügte das Pedalwerk offenbar nur über 8-Fuß-Register. Ebd. 1663 Ebd.
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Darüber hinaus hielt er es für nötig, neben Hauptwerk, Pedalwerk und Rückpositiv ein Brustwerk zu errichten, um Solo- und Kapellstimmen (Instrumentalisten) sowie den Chor angemessen begleiten und die Orgel darüber hinaus als Generalbassinstrument verwenden zu können: »Zum dritten kan auch mit guter Commoditet vnndt schlechter mühe eine Brust nebst noch einem Clavire daran gemacht Werden, Welches sehr nötig, vnnd ist mir zum offteren sehr schwer gefallen das ich mit zweien Claviren die Concert Stimmen, die Capellen vnndt wenn Plenus chorus mit einfelt habe sollen varieren, dadoch der Organist genug zu thun hatt, wen er den Bassum Continovum will recht tractiren, seine gedancken alleine darauf richtet, zu geschweigen daß er noch dabei hero die Stimmen soll abwechselen, welches offtmahls eine Dissonantiam causiret, den vnmüglich das in geschwinder transposition da sich der Bassus Continiu in den Clavibus mutirett, so offt in der seminima alß semifusen geschieht vnnd einfelt kan beobachtett werden, Wenn aber 3. Clavier verhanden, so erfodert solches vor erst eine richtige disposition vnnd Liebliche Harmoniam, da der Organist das 1 Clavir Zu den Concert Stimmen, daß 2 Zu den Capellen oder Instrums Stimmen vnndt daß 3 zum Pleno Choro kan gebrauchen vnnd also bey einer richtigen vnndt ordentlichen meditation verbleiben.«1664
Hinsichtlich der Kosten verwies Schick auf die Anwesenheit von Jaster in der Stadt: »vnndt der Kirchen so gahr groß nicht Kosten kan, Vornemlich da man bey diser Zeit den Orgellbawer zur handt«1665. Nicht zuletzt zielte das Schreiben Schicks darauf, seinen Organistenkollegen an den anderen Kirchen gleichgestellt zu werden. So beklagte der Jakobiorganist, durch die Ausstattung und den Zustand der Jakobiorgel bei den wechselweise in den Kirchen stattfindenden Figuralmusiken des Kantors benachteiligt zu sein. Er bat um entsprechende Veränderungen, damit auch er »die bequemlichkeit so woll im Manual alß Pedall so viell müglich wie bei den anderen beiden Orgelen kan heben«1666. Auch wolle er an seinem »orte nicht der geringste« sein und seine »sachen anderen gleich« anbringen1667. Schicks Vorschläge datieren vom Sommer 1646. Das Amt des Nikolaiorganisten war zu dieser Zeit gerade durch Johann Martin Rubert besetzt worden. Der Organistenposten an St. Marien war nach dem Tod Johann Vierdancks noch vakant. Auch das Kantorat war nach dem Tod Johannes Hoevets noch nicht wieder besetzt. Offenbar versuchte Schick also, sich im Vorfeld der Neubesetzungen aller bedeutenden musikalischen Ämter der Stadt auf die damit verbundenen Herausforderungen vorzubereiten. Deutlich wird das Bemühen des Organisten, in Repertoire und Musizierweise den Gepflogenheiten der anderen beiden übergeordneten Kirchen nicht nachzustehen. 1664 Ebd. 1665 Ebd. 1666 Ebd. 1667 Ebd.
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2.2.7.6  Friedrich Stellwagen Friedrich Stellwagen stammte aus Halle an der Saale und war am 7. Februar 1603 getauft worden1668. Sein Handwerk hatte er u. a. bei dem kursächsischen Hoforgelbauer Gottfried Fritzsche erlernt1669. Um 1633/34 ließ sich Stellwagen als selbstständiger Meister in Lübeck nieder und verblieb dort bis zu seinem Tod. Seine Orgelbauten lassen sich fast ausschließlich im norddeutschen Raum nachweisen, vor allem in und um Hamburg und Lübeck. Am 2. März 1660 wurde der Orgelbauer in Lübeck begraben. Sein Sohn Gottfried war von 1661 bis 1664 Güstrower Domorganist und Orgelbauer. St. Marien Bei der zwischen 1653 und 1659 erbauten Orgel in der Stralsunder Marienkirche mit 51 Registern auf drei Manualen und Pedal handelt es sich um das umfangreichste Werk des Lübecker Orgelbauers. Das kostbare Instrument zählt heute zu den größten noch bestehenden Orgelwerken aus dem 17. Jahrhundert1670 und wurde nach einer umfangreichen wissenschaftlichen Bestandsaufnahme und Dokumentation in den Jahren 2004 bis 2008 komplett restauriert1671. Da sich Prost bereits ausführlich zu dieser Orgel geäußert hat und mit der 2006 veröffentlichten Dokumentation neueste Forschungsergebnisse vorliegen, seien die Ausführungen zur Stellwagenorgel in der Marienkirche auf einige kurze Bemerkungen beschränkt. Nötig geworden war der Orgelbau in St. Marien nach dem verheerenden Brand der Kirche von 1647. Letzte orgelbauliche Arbeiten vor dieser Zeit lassen sich in den Jahren 1638/39 durch Johann Jaster nachweisen. Der Kontakt Stellwagens nach Stralsund könnte über den Nikolaiorganisten Johann Martin Rubert zustande gekommen sein. Während Ruberts Hamburger Zeit hatte Stellwagen für Heinrich Scheidemann Umbauten an der Hamburger Katharinenorgel (1644–1647) vorgenommen1672. Da Scheidemann und Rubert miteinander in Kontakt standen und der spätere Stralsunder Nikolaiorganist vielleicht sogar ein Schüler des Katharinenorganisten war, ist vorstellbar, dass Rubert den Orgelbauer für die Stralsunder Neubauten in St. Johannis und St. Marien empfohlen hatte1673.
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Vgl. hier und im Folgenden Ortgies (2006), Stellwagen. Vgl. zu Fritzsche auch Hackel (2002), Sp. 168–170. Rost (2006), S. 8. Im Zuge der Restaurierungsarbeiten erschien 2006 eine umfassende Bestandsaufnahme, Chronik und Dokumentation des Werkes. Darin ist auch eine Transkription des ausführlichen Bauregisters aus den Jahren 1653 bis 1659 enthalten. Vgl. Rost (2006);Ortgies/ Rost (2000). 1672 Ortgies (2006), Stellwagen, Sp. 1412. 1673 Vgl. dazu auch Bugenhagen (2006), Rubert, S. 140. Auch Rost (2006, S. 9) verweist auf diese mögliche Verbindung: »Vielleicht hat er [Rubert], aus Hamburg kommend, dereinst den Namen Friedrich Stellwagens in Stralsund bekannt gemacht.« Vor dem Bau der Marienorgel baute Stellwagen ein neues Werk in der Stralsunder Johanniskirche.
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Der Vertragsabschluss mit Stellwagen erfolgte im Sommer 16531674, nachdem der Orgelbauer seinen Neubau in der Johanniskirche beendet hatte. Für das Werk sollte Stellwagen beträchtliche 1400 Reichstaler (= 8400 MS) erhalten; das nötige Material war von der Marienkirche zu beschaffen1675. Abgenommen wurde das Instrument am 25. Oktober 1659 durch Johann Martin Rubert1676. St. Jakobi Während Stellwagens Aufenthalt in Stralsund – der Bau der Marienorgel zog sich immerhin über sechs Jahre hin – lassen sich auch an anderen Kirchen Aktivitäten des Lübecker Orgelbauers nachweisen. Erwähnt wurden die Vorschläge des Organisten Schick zum Umbau der Jakobiorgel; umgesetzt wurden die Pläne allerdings wohl nicht1677. Im Juli 1653 bat der Organist das Provisorat von St. Jakobi erneut, das Pfeifenwerk zu korrigieren und zu intonieren sowie das Pedalwerk um einen 16-Fuß-Posaunenbass zu erweitern. Schick war sich der Berühmtheit Stellwagens dabei durchaus bewusst und geneigt, die günstige Situation durch den in der Stadt anwesenden Orgelbauer zu nutzen: »[…] alß habe ich meiner schuldigkeit nach meinen Großgünstigen Herren solches hinterbringen wollen, damit bey dieser guten gelegenheit benantten Weittberümbten Orgelmachers solche defecta nicht verabseumet.«1678
Das Provisorat von St. Jakobi nahm sich nunmehr des Vorhabens an, und Stellwagen begutachtete das Orgelwerk im August 16531679. In der Tat befand sich die Jakobiorgel zu dieser Zeit in einem desolaten Zustand. Um die aufgelisteten Mängel1680 zu beheben, berechnete Stellwagen zwischen 800 und 1000 Reichstaler (= 4800 bzw. 6000 MS)1681, abhängig davon, ob die Kirche oder der Orgelbauer das Material stellten1682. Dem Provisorat der Jakobikirche erschienen die Kosten jedoch zu hoch, und es holte nicht nur die Meinung der anderen Stralsunder Organisten, sondern auch eines Rostocker Orgelbauers ein1683. 1674 Am 13. August erhielt Stellwagen »pro arrha« (als Bekräftigung des Vertragsabschlusses) 40 Rthl. Ortgies (2006), Bawregister, S. 14. 1675 Ebd., S. 16. 1676 Ebd., S. 36. 1677 Schick berichtet in einem Schreiben vom 2.7.1653 von der »Jungsten renovation etwa vor 4. oder 25. Jahren«, AStJ Tit. 1 Nr. 1a [Schreiben des Organisten Friedrich Schick an das Provisorat von St. Jakobi, 2.7.1653]. 1678 Ebd. Vgl. das vollständige Dok. 9 im Anhang auf S. 370. 1679 StAS Rep 28-883 St. Jakobi Ausgaberegister [5. Register, 1653], fol. 182v. 1680 Das von Stellwagen angefertigte – und in einem Schreiben des Provisorats von St. Jakobi erwähnte (AStJ Tit. 1 Nr. 1a, siehe Anm. 665) – Mängelverzeichnis ist nicht überliefert. 1681 Für die neue Orgel in St. Marien erhielt Stellwagen nur 1400 Rthl. bei Bereitstellung des Materials durch die Kirche. 1682 AStJ Tit. 1 Nr. 1a [Schreiben des Provisorats wegen der Orgel, o. D.] 1683 Ebd.
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Offenbar jedoch waren die Vorstellungen Stellwagens nicht überzogen, da auch der Rostocker Orgelbauer kein günstigeres Angebot lieferte. Verwunderlich erscheint die Angabe des Provisorats, dass man das Vorhaben »mit diesem Orgelbauer [Stellwagen] oder daferne uns noch ein beßerer an hand kommen könnte«1684 auch mit einem anderen durchführen wollte. Der Ruhm Stellwagens wird vermutlich auch den Provisoren der Jakobikirche nicht entgangen sein und mit »beßerer« war demzufolge wahrscheinlich nur ein kostengünstigerer Orgelbauer gemeint. Vermutlich der hohen Kosten wegen wurde der Auftrag nicht erteilt. Bezeugt sind lediglich Arbeiten Stellwagens an den Orgelbälgen1685. Schick berichtete 1662, dass nach Vermeldung der Mängel lediglich »eine kleine Correctur geschehen« sei1686. Offenbar investierte man auch in den Folgejahren und -jahrzehnten nicht in die Jakobiorgel, sodass der Rostocker Organist und Orgelbauer Johann Engelbrecht Gerhard in seinem Gutachten zum Zustand der Orgel 1699 zu folgendem Schluss kommt: »In Summa ich befinde daß es ein altes zerstücktes und zerpflücktes Werck und nichts nutze ist«1687.
2.2.7.7  Johannes Preen Der Orgelbauer Johannes Preen übersiedelte auf Initiative Johann Martin Ruberts mitsamt seiner Familie 1662 von Richtenberg nach Stralsund1688. Seit dem Ausscheiden Jasters zum Ende der 1640er-Jahre hatte es, vom zeitweiligen Aufenthalt Stellwagens abgesehen, offenbar keinen in der Stadt ansässigen Orgelbauer mehr gegeben. Reparaturen mussten während dieser Zeit wohl in der Regel von den Organisten selbst vorgenommen werden. Rubert hatte dem Orgelbauer Preen eine freie Wohnung, eine jährliche Besoldung und so viel Arbeit versprochen, »das [...] [er seine] Nahrung Vnd unterhalt reichlich und Uberflüßig haben könne«1689. Offenbar hatte der Organist dabei allerdings eigen1684 Ebd. 1685 Für acht Bälge und Korrekturen am Werk erhielt der Orgelbauer 1659 104 fl.: »Ich endes benander bekenne mit dieser meiner Hannd das ich der Kirchen zu Jacob gemacht 8 Spannbelgen, vor Jeder ist mihr geben 9 fl. Vnndt vor die Corectur zum werck 32 fl. ist die Summa 104 fl. dieses ist mihr von den Herren Vohr Stehern richtig bezahlet, und thu hier mit Quitiren den 9 Novemb. Anno 1659. Friederich Stellwagen Orgellmacher und meinem Sohn 2 Rthl dranckgelt empfangen«, AStJ Tit. 1 Nr. 1a [Friedrich Stellwagen des Orgellbauwerß Quitung, 9.11.1659]. Vgl. auch StAS Rep 28-883 St. Jakobi Ausgaberegister [5. Register, 1658/59], fol. 241 und 256v. 1686 AStJ Tit. 2 Nr. 10a [Schreiben des Jakobiorganisten Friedrich Schick wegen des Zustandes der Jakobiorgel, 12.5.1662]. 1687 Zit. nach Prost (1996), S. 101. 1688 StAS Rep 3-1818 Senatus: Klage und Appellation des Orgelbauers Johannes Preen (Prehn) aus Richtenberg und seiner Witwe Maria Schmolts gegen den Organisten der Nikolaikirche zu Stralsund, Martin Rubbert, auf Zahlung rückständigen Arbeitslohnes und wegen schwerer Beleidigungen 1667–1675 [29.8.1667]. 1689 Ebd. [11.7.1667].
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mächtig und nicht mit Provisorat und Rat abgestimmt gehandelt. Die Zusammenarbeit mit Preen gestaltete sich in der Folgezeit als überaus schwierig, zumal Rubert seine Versprechen nicht einhalten konnte. Bis 1675 und damit über den Tod des Orgelbauers hinaus lassen sich Streitigkeiten zwischen Preen und Rubert nachweisen, die bis an das Pommersche Hofgericht in Wolgast gelangten und schließlich vom Königlichen Tribunal in Wismar beschieden wurden. Anlass der Auseinandersetzungen waren neben den leeren Versprechungen offenbar orgelbauliche Unzulänglichkeiten Preens, infolge derer Rubert ihm seine Bezahlung vorenthielt und sich um einen anderen Orgelbauer aus Rostock bemühte1690. Die in dieser Angelegenheit überaus umfangreich überlieferten Aktenbestände enthalten neben dem Briefwechsel zwischen Preen, Rubert und ihren jeweiligen Rechtsbeiständen außerdem Gutachten zu den Arbeiten des Orgelbauers. Die Urteile der Orgelbauer, Organisten und Kirchenvorsteher zu Preens Arbeiten sind vernichtend. So habe sich Friedrich Stellwagen bei Begutachtung eines von Preen zwischen 1654 und 1656 renovierten Grimmener Orgelwerkes gefragt, ob »ein Haufen Säue oder Kälber hinter dem Werk seien« und sich »des Lachens darüber nicht endhalten können, wie Er gehöret, wie das Pfeiffenwerck so ubel gestimmet, und die Pfeifen so ungleich« klangen: »Das werck stimmt mit dem Rückpositiff fast auff ein Semitonium nicht ein«1691. Negative Zeugnisse erhielt Preen außerdem aus Sternberg1692, Demmin1693, Zirkow/Rügen1694 und vom Stralsunder Jakobiorganisten Schick. Dieser war mit seinen bisher nicht umgesetzten Vorschlägen für den Umbau der Jakobiorgel von Rubert an Preen verwiesen worden, der die Orgel aber »verdorben« habe1695. Im Zusammenhang mit den Streitigkeiten listete Rubert die von ihm verschafften Aufträge für den Orgelbauer auf. Darunter aufgeführt sind in erster Linie kleinere Instrumentenbauten (Regale, Positive), die ihre Abnehmer offenbar in Stralsund selbst fanden. Dabei profitierte Preen von den Kontakten, die der Nikolaiorganist Rubert zur wohlhabenden Stralsunder Einwohnerschaft pflegte1696. Auch für Rubert selbst und für den pommerschen Generalgouverneur Wrangel hatte Preen jeweils zwei Positive gebaut1697. Darüber hinaus war er von Rubert nach Zirkow und an den Stralsunder Jakobiorganisten Schick zum Stimmen der Mixtur verwiesen worden.
1690 Es handelte sich um Johannes Gade. Ebd. [27.5.1668]. 1691 Ebd. [24.8.1667]. In diesem Zusammenhang ist auch ein Brief des Grimmener Kantors und Diakons Johann Flitner an Rubert überliefert. Ebd. [13.8.1667]. 1692 Ebd. [24.9.1667]. 1693 Ebd. [7.10.1667]. 1694 Ebd. [8.10.1667 und 13.9.1667]. 1695 Ebd. [15.8.1667]. 1696 Vgl. dazu auch Anm. 1209 auf S. 205. 1697 StAS Rep 3-1818 Senatus: Klage und Appellation des Orgelbauers Johannes Preen (Prehn) aus Richtenberg und seiner Witwe Maria Schmolts gegen den Organisten der Nikolaikirche zu Stralsund, Martin Rubbert, auf Zahlung rückständigen Arbeitslohnes und wegen schwerer Beleidigungen 1667–1675 [15.8.1667].
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Infolge der Streitigkeiten floh Preen aus Stralsund und überließ die weitere Klärung der Angelegenheiten seiner Frau Maria. Beendet wurden diese schließlich durch einen heute unbekannten Beschluss des Königlichen Tribunals in Wismar1698. St. Nikolai
St. Marien
St. Jakobi
Hospital- und Klosterkirchen
1570–1575 Orgelneubau durch Fabian Peters 1580er-Jahre Orgelrenovierung durch »Nicolaus«/»Fabian«? 1598–1601 Orgelneubau durch Nicolaus Maaß 1624 St. Johannis: Orgel bei Klosterbrand zerstört 1628 Heilgeist: Beschädigung der Orgel bei der städt. Belagerung 1632/33
1631/32 Orgelrenovierung durch Paul Luedemann 1635–1649 Orgelarbeiten durch Johann Jaster 1647 Orgel(n) bei Kirchenbrand zerstört
1633
? – 1653 St. Johannis: Orgelneubau durch Friedrich Stellwagen 1653–1659 Orgelneubau durch Friedrich Stellwagen 1662–1667 (?) Orgelarbeiten durch Johannes Preen
um 1653 Gutachten Stellwagens zur Orgel
1678 Heilgeist: Beschädigung der Orgel bei der städt. Belagerung 1699 Gutachten Johann Engelbrecht Gerhards (Rostock) zur Orgel
Tabelle 22: Stralsunder ›Orgelgeschichte‹ im 16./17. Jahrhundert
1698 Ebd. [4.6.1675].
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Zusammenfassung Status und Funktion des Organistenstandes nach der Reformation richteten sich zunächst nach den Bestimmungen der Kirchenordnungen. An der Ordnung des pommerschen Kirchenwesens war vor allem Johannes Bugenhagen beteiligt, der zuvor die Kirchenordnungen für Hamburg und Lübeck verfasst hatte. Rat und Geistlichkeit in Stralsund pflegten darüber hinaus enge Kontakte zu den wendischen Hansestädten, sodass eine bewusste Orientierung gen Westen auch in musikalischen Angelegenheiten angenommen werden darf. Schon am Ende des 16. Jahrhunderts lassen etwa Migrationsbewegungen von Organisten vor allem zwischen Lübeck und Stralsund auf vergleichbare Amtsverhältnisse in den beiden Hansestädten schließen. Quellen zur Besetzung des Stralsunder Organistenamtes liegen seit den 1560er-Jahren vor. Seit dieser Zeit lassen sich Organisten an allen drei Hauptkirchen nachweisen. An St. Nikolai, der Stralsunder Ratskirche, stellte man die höchsten musikalischen Anforderungen an das Amt. Hier wurden auch die höchsten Gehälter an die Organisten gezahlt, wenngleich St. Marien der Nikolaikirche in dieser Hinsicht nur wenig nachstand. Deutlich zurückzustehen scheint allein die Jakobikirche. Wie in Nordelbien stiegen die Organistengehälter auch in Stralsund im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts an. Im Vergleich erhielten die Stralsunder Organisten ähnliche Gehälter wie ihre Rostocker Kollegen, etwas mehr zahlte man in Lübeck, deutlich höhere Festgehälter bekamen die Hamburger Organisten. Zu einem Einschnitt kam es in den Stralsunder Gehaltsentwicklungen aufgrund der katastrophalen finanziellen Situation der Stadt in den 1670er-Jahren. Die gottesdienstlichen Aufgaben der Organisten in Pommern und Nordelbien ähnelten einander; Stralsund hatte sich 1535 mit den anderen wendischen Hansestädten für einheitliche gottesdienstliche Zeremonien ausgesprochen. Trotzdem die pommerschen Ordnungen hinsichtlich des gottesdienstlichen Orgelspiels nur wenig aussagekräftig sind, ist anzunehmen, dass die Stralsunder Amtsinhaber musikalisch am samstäglichen Vespergottesdienst, an der sonn- und festtäglichen Messe und mitunter auch an den übrigen Werktagsgottesdiensten beteiligt waren. Hinweise zu den Anforderungen im Stralsunder Organistenamt und der tatsächlich erklungenen Orgelmusik sind rar. Die wenigen erhaltenen Zeugnisse sowie die Ausbildung von vermutlich immerhin vier Stralsunder Organisten bei berühmten Lehrmeistern aus der Sweelinckschule lassen dennoch auch in Stralsund Orgelmusik im Stile von Sweelinck, Hieronymus und Jacob Praetorius (II) oder Scheidemann vermuten. Das Generalbassprinzip wurde bereits vor der Jahrhundertmitte in die figurale Kirchenmusik eingeführt. Wie für den norddeutschen Raum zu dieser Zeit üblich, traten die Organisten auf dem Gebiet der vokal-instrumentalen Komposition hervor und zeigten sich als Beförderer neuer musikalischer Entwicklungen. In diesem Zusammenhang sind der Nikolaiorganist Johann Martin Rubert und die Marienorganisten Johann Vierdanck und vermutlich auch Daniel Schröder besonders hervorzuheben. Ob die geistlichen Konzerte der genannten Musiker (›Organistenmusiken‹) unter der Leitung des Stralsu-
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nder Kantors aufgeführt wurden oder aber – ähnlich wie in Hamburg – den Charakter von ›Ersatzmusiken‹ bei Abwesenheit des Kantors trugen, lässt sich nicht abschließend ermitteln. Verglichen mit den Organisten treten die Stralsunder Kantoren des 17. Jahrhunderts in kompositorischer Hinsicht jedenfalls vollständig zurück. Dennoch oblag ihnen die Leitung der (figuralen) Kirchenmusik, die in den Stralsunder Hauptkirchen reihum aufgeführt wurde und bei der auch die Kantoren sich als musikalische Leiter vermutlich neuen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen zeigten. Kompetenzstreitigkeiten zwischen Kantor und Organist lassen sich im 17. Jahrhundert in Stralsund nicht nachweisen. Demnach empfanden die Kantoren die kompositorischen Aktivitäten der Organisten wohl nicht als Eingriff in ihren Zuständigkeitsbereich. Kompositionen für Tasteninstrumente liegen demgegenüber aus Stralsund so gut wie nicht vor. Da anzunehmen ist, dass Tastenmusik zur damaligen Zeit in erster Linie zu Lehrzwecken aufgeschrieben wurde und die Überlieferungen in erster Linie diesem Zweck dienten, darf darauf geschlossen werden, dass die Stralsunder Organisten nur wenige Schüler unterrichteten. Der Stralsunder Rat zeigte sich in der Regel als Beförderer des musikalischen Lebens und verfolgte damit nicht zuletzt repräsentative Absichten. Davon zeugen u. a. aufwendige und kostenintensive Orgelneubauten bis kurz nach Mitte des 17. Jahrhunderts. Gleichwohl lasteten die kriegerischen Auseinandersetzungen, die verheerenden Stadtbrände und die schwedische Einquartierung schwer auf der Stadtkasse, was für das musikalische Leben nicht ohne Folgen blieb. Diesen tiefgreifenden Einschnitten in die Stadtgeschichte scheint es geschuldet, dass Stralsund im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts musikalisch deutlich hinter den anderen bedeutenden Hansestädten zurückblieb. So blieben nicht nur die Gehaltszahlungen und Investitionen im Orgelbau seit dieser Zeit aus. Auch lassen sich in Stralsund keine außergottesdienstlichen musikalischen Aktivitäten nachweisen, wie sie etwa in den Lübecker Abendmusiken oder der Hamburger Oper begegnen.
3  Die Stralsunder Stadtmusik Die instrumentale Musik wurde in Stralsund, wie in den anderen norddeutschen Hanse- und Reichsstädten auch, einerseits von Ratsmusikanten in fester Anstellung und andererseits von den im berufsständischen Verband organisierten Zunftmusikern getragen1699. Zu den Ratsmusikanten zählten der Kunstpfeifer und der Kure mit ihren Gesellen und Lehrjungen. Vom städtischen Rat mit den meisten und wichtigsten Musizierprivilegien ausgestattet, nahm der Kunstpfeifer den obersten Rang unter den Instrumentalisten ein. Der Kure war ihm nachgeordnet und für den täglichen Turmdienst zuständig. Nur dem Kunstpfeifer und dem Kuren war es gestattet, Lehrjungen auszubilden und Gesellen zu halten. Die Gruppe der zunftmäßig organisierten Musiker unter der Leitung eines ›Altermanns‹ war den Ratsmusikanten hinsichtlich ihrer musikalischen Privilegien nachgeordnet. Ihrem sozialen Status nach zählten sie dennoch – wie auch die Ratsmusikanten – zum zweiten der drei Stralsunder Bürgerstände1700. Neben den genannten Instrumentalmusikern gab es auch in Stralsund sogenannte Pfuscher, Bierfiedler und Böhnhasen, die weder fest angestellt noch zunftmäßig organisiert waren und die man musikalisch in der Regel für nur wenig befähigt hielt. Zum Verdienst ihres Lebensunterhalts versuchten sie, in die Musizierbereiche der anderen Gruppen einzudringen, was zu zahlreichen Streitigkeiten unter den Musikern führte. Mit Einquartierung der Garnison nach Abschluss des Allianzvertrages mit Schweden (1628) hielten sich zudem Militärmusiker – ›Hoboisten‹ und ›Regimentspfeifer‹ – in der Stadt auf. Aufschlussreiche Quellen zur Organisation der Stralsunder Stadtmusik liegen für die Zeit seit dem zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts vor allem in den Beständen des Stadtarchivs vor1701. Für die Zeit zum Ende des 17. Jahrhunderts hin verbessert sich die Quellenlage deutlich. In die nachfolgenden Untersuchungen werden mitunter Zeugnisse aus dem frühen 18. Jahrhundert einbezogen, sofern diese Rückschlüsse auf die frühere Zeit zulassen. Neben den Archivalien des Stadtarchivs werden vereinzelt – vor allem für das späte 16. und frühe 17. Jahrhundert – die in den Kirchenarchiven der Stadt überlieferten Dokumente herangezogen.
1699 Vgl. Greve (1998, Sp. 1722) zur Organisation der Stadtmusik in Hamburg, Lübeck, Lüneburg, Rostock und Danzig. Das Orgelspiel wird hier und im Folgenden aus den Ausführungen zur ›Instrumentalmusik‹ ausgespart, vgl. dazu Kapitel 2. 1700 Siehe S. 34f. sowie StAS Rep 3-1537 Kammergericht: Verzeichnis der Kammergefälle um 1711, fol. 20. 1701 Darmer (StAS Po 4o 466 1+2) beklagt, dass die ältesten Quellen über Stralsunder Spielleute verbrannt sind.
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Stralsunder Instrumentalisten in vorreformatorischer Zeit bis zum Ende des 16. Jahrhunderts Anders als für die Ämter des Kantors und Organisten war die Einführung der neuen Kirchenlehre im 16. Jahrhundert für das Stadtmusikantentum weitaus weniger bedeutsam. Während sich sowohl das Kantoren- als auch das Organistenamt infolge des neuorganisierten Kirchenwesens aus ehemals geistlichen Diensten erst etablierte, hatte es städtisch angestellte oder berufsständisch organisierte Instrumentalmusiker bereits vor dieser Zeit gegeben. Der erste städtisch angestellte Instrumentalist Stralsunds war vermutlich der Kure. Nachweisen lassen sich Kuren im Ostseeraum schon seit dem 13. Jahrhundert1702. Schwab führt ihre Anstellung auf die notwendig gewordenen Sicherungsmaßnahmen in den mittelalterlichen Städten zu dieser Zeit zurück, wie etwa die städtische Ummauerung und die Einrichtung von Stadtwachen1703. Wenn auch die spärlich überlieferten Quellen kaum Aussagen zu den musikalischen Fähig- und Fertigkeiten der frühen Kuren zulassen, ist dennoch davon auszugehen, dass sie ihre Instrumente nicht allein dazu nutzten, Signale vom Turm aus zu geben, sondern dass sie auch Tanz- und Unterhaltungsmusik spielten1704. Ein Stralsunder Kure ist erstmals 1336 an St. Nikolai bezeugt1705. Für das Jahr 1512 erwähnt der Geistliche Johann Berckmann (um 1480–1560)1706 in seiner Stralsundischen Chronik den Lautenisten und Ratstrompeter Hans Berent und den Kuren Gunter1707. Wie der Kure befand sich auch Berent als »lutenschleger edder trumper des rhats« offensichtlich bereits in städtischer Anstellung. Das Amt eines Ratstrompeters lässt sich in Stralsund später nicht mehr nachweisen; vermutlich wurden die Aufgaben vom Kuren übernommen. Seit wann der Stralsunder Rat die in der Stadt ansässigen Spielleute in den Dienst nahm, lässt sich nicht sicher bestimmen. Auch Schwab stellt einen generellen Mangel an stichhaltigen Quellen in diesem Zusammenhang fest1708. Aufschlussreich erscheint allerdings sein Verweis auf terminologische Unterschiede1709, nach denen sich verschie1702 Hinweise liegen etwa aus Wismar (1272), Lübeck (1280) und Rostock (1285) vor. Vgl. Schwab (1982), S. 29. Kiel verfügte vor 1340 über einen Türmer. Soll (2006), S. 54. 1703 Schwab (1982), 25–29. 1704 Ebd., S. 32. Nach einer Lübecker Urkunde stand dem dortigen Kuren bereits 1474 das Musizieren auf jeder dritten Hochzeit zu. Vgl. Hennings (1951), S. 44f. 1705 Heyden (1961), Kirchen, S. 22. Der Turmbau der Nikolaikirche stand zu dieser Zeit allerdings erst kurz vor seiner Vollendung. Vgl. ebd., S. 21f. 1706 Vgl. zu Berckmann Berwinkel (2008), S. 193f. Johann Berckmanns Stralsundische Chronik erschien 1833 in einer Ausgabe Gottlieb Mohnikes und Ernst Heinrich Zobers. Vgl. das Literaturverzeichnis. 1707 Mohnike/Zober (1833), S. 18: »Anno 1512 deß dinstags jn dem vastelauende, do stekenn hir twe spellude vp dem olden marckede vmme 12 jm middage; de eine hete Hans Berents, einn lutenschleger edder trumper des rhats; de ander hete Gunter, de kure vp dem torme.« 1708 Schwab (1982), S. 60. 1709 Ebd., S. 59.
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dene Entwicklungsphasen und Rangstufen im frühen Stadtmusikantenwesen nachzeichnen lassen: »An ihrem Anfang steht [...] der stadtansässige ›Spielmann‹, sodann der von dem Rat der Stadt zunächst in ein loses Anstellungsverhältnis genommene ›Ratsspielmann‹ sowie der offiziell als solcher bestätigte ›Ratspfeifer‹ oder ›Stadtpfeifer‹, an ihrem Ende schließlich der bestallte, also festangestellte und für das gesamte Stadtgebiet mit einer Erlaubnis zur alleinigen Musikaufwartung privilegierte ›Stadtpfeifer‹, ›Stadtmusikant‹ oder ›Ratsmusicus‹.«1710
Zwar führen die terminologischen Differenzen nicht in jedem Fall zu eindeutigen Entscheidungen, gleichwohl markieren sie Tendenzen in der Entwicklung des Stadtmusikantentums, die auch für Stralsund von Belang sind. Schon im ältesten Stralsunder Stadtbuch (1270–1310) werden sogenannte »ioculatores«1711 erwähnt: Einer Hochzeitsordnung von 1309 zufolge durften nicht mehr als sechs Spielleute zu den Feierlichkeiten gefordert werden1712. Vermutlich waren hier in der Stadt ansässige Spielleute noch ohne feste Anstellung gemeint, wie sie sich auch in den darauffolgenden Jahrhunderten nachweisen lassen. Stellte das Musizieren auf Hochzeiten für die Spielleute sicher die einträglichste Erwerbsquelle dar, wurden sie in der Folgezeit auch für die Kirchenmusik gebraucht. Wann genau aus losen Indienstnahmen und zeitweiligen musikalischen Verpflichtungen feste Anstellungsstrukturen für die Musiker erwuchsen, bleibt auch hier unklar. So etwa bei den Stralsunder Spielleuten, die spätestens seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts an der Kirchenmusik von St. Nikolai mitwirkten: »Dar se in der karken spelen«, erhielten die im Ausgaberegister der Stralsunder Nikolaikirche genannten »spellude« seit 1573/74 eine jährliche Besoldung1713. Vermutlich handelte es sich dabei zunächst um eine zeitlich befristete Indienstnahme mit der Option auf Verlängerung. Im Eintrag von 1575 heißt es: »Den fridach vor Bartelmei gegeuen den spelluden vor 2 Jar dar se in der karken gespölet hebben 16 MS«1714. Die Spielleute wurden auch in den Folgejahren für ihre kirchenmusikalischen Dienste entlohnt. Veränderungen zeigen sich erstmals 1577: Die jährliche Besoldung von 12 MS für kirchenmusikalische Dienste geht nun nicht mehr an die nicht näher bezeichnete Gruppe der ›spellude‹, sondern an »Mester Frans den spelman«1715, der vermutlich einer Gruppe von Instrumentalisten vorstand. Mit seinen Gesellen unterstützte Meister 1710 Ebd. 1711 Wie beim mittelalterlichen Spielmann meint diese Bezeichnung allerdings nicht ausschließlich den Musizierenden, sondern mitunter auch den Gaukler, Schauspieler oder Straßenkünstler. 1712 Fabricius (1872), S. 164 (VI. 356). 1713 StAS Rep 28-534 St. Nikolai Ausgaberegister 1563–1610, fol. 273f. [1573/74]. 1714 Ebd., fol. 274f. [1574/75]. Die zeitweilige Indienstnahme von Spielleuten ist in Hamburg seit dem 14. Jahrhundert nachgewiesen. Vgl. Schwab (1982), S. 61. 1715 StAS Rep 28-534 St. Nikolai Ausgaberegister 1563–1610, fol. 277f. [1577/78].
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Franz die Kirchenmusik an St. Nikolai im »kore spele« bis zu seinem Tod 15821716; am 19. Dezember des Jahres erhielt seine Witwe eine letzte – zusätzliche – Zahlung von 6 MS1717. Die soziale Fürsorge von Seiten der Nikolaikirche für die Witwe des Spielmanns lässt sich als weiteres Indiz für die gefestigten Anstellungsstrukturen der Instrumentalisten bei der Kirchenmusik werten. Nachfolger von Spielmann Franz wurde spätestens 1584 »Jonas der Spelmanne«, bei dem es sich wohl um Jonas Depensee handelte1718. Er erhielt sein Gehalt nunmehr quartalsweise; es überstieg das seines Vorgängers um 4 MS jährlich1719. Im Jahre 1603 erfuhr Jonas Depensee hinsichtlich seiner Amtsbezeichnung eine deutliche Aufwertung in seinem Status als Instrumentalmusiker. Seit diesem Jahr wird er im Ausgaberegister von St. Nikolai nicht mehr als »Spelmanne«, sondern als »Kunstpipscher«1720 bezeichnet. Ob mit dieser terminologischen Veränderung eine nunmehr städtische Anstellung Depensees einherging, lässt sich nicht feststellen1721. Doch ist die Bezeichnung »Kunstpipscher« gegenüber dem lange als ›unehrlich‹ konnotierten »Spielmann«1722 auf jeden Fall als moralische Aufwertung zu verstehen, die sicher mit einer qualitativen Höherbewertung auch der Musik einherging. Als »Stadtpfeiffer« wird erstmals der Sohn von Jonas Depensee, Andreas Depensee, im Jahre 1616 bezeichnet, der nunmehr auch eine städtische Besoldung erhielt und sich daher eindeutig in städtischen Diensten befand1723. Der erste nachweisbare Stralsunder Instrumentalist in städtischen Diensten ist neben dem Kuren demzufolge der oben genannte Hans Berent im Jahre 1512. Über seine Vorgänger ist nichts bekannt, jedoch wurden in einer Reihe von Städten im Norden schon im 14. und 15. Jahrhundert feste Gehälter aus der Stadtkasse an Instrumentalisten gezahlt1724. Auch liegen erste vertragsähnliche Dokumente für Stadtmusikanten aus dieser Zeit vor1725. In Stralsund fehlt es an weiteren Dokumenten zur Anstellung 1716 Ebd., fol. 279f. [1579/80]. 1717 Ebd., fol. 284f. [1582/83]: »Den 19 Decembris gegeuen Meister Frantzen nhagelatenen wedewenn vor ein halff Jar 6 MS«. 1718 Vgl. zu Depensee S. 302f. 1719 StAS Rep 28-534 St. Nikolai Ausgaberegister 1563–1610, fol. 285ff. [1583ff.]. 1720 Ebd., fol. 300f. [1603]. 1721 Nach Greve (1998, Sp. 1722) war die Entwicklung zur »festen Institution des Stadtpfeifers« in den meisten Städten im Verlauf des 16. Jahrhunderts abgeschlossen. Vermutlich war dies auch in Stralsund der Fall. 1722 Krickeberg (1998), Sp. 1688f. 1723 StAS Rep 38-1497 Städtisches Ausgaberegister 1616, fol. 24. Hier sei noch einmal auf den Stralsunder Bürgervertrag von 1616 hingewiesen, der u. a. infolge von »Mißbrauch, sowol bey Administration der heilsamen Justitz, als auch Verwaltung gemeiner Stadt=Intraden« (Dähnert 1767, S. 69) von Rat und Bürgerschaft aufgesetzt wurde und Veränderungen in der städtischen Buchführung mit sich brachte. Dass sich Gehaltszahlungen an den Stadtpfeifer erst 1616 nachweisen lassen, ist vermutlich auch der nachlässigen Buchführung vor dieser Zeit geschuldet. 1724 Schwab (1982), S. 64. 1725 Ebd., S. 69.
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städtischer Instrumentalmusiker im 16. Jahrhundert. Mit Andreas Depensee lässt sich erst etwa hundert Jahre später wieder ein Stadtmusiker nachweisen1726.
3.1  Städtische Verordnungen Als Stadt Lübischen Rechts verfügte Stralsund über ein geregeltes Ordnungssystem, das in der Verantwortung des Rates stand. Neben der innerstädtischen Struktur – zu der etwa die Ständeeinteilung zählte1727 – war auch das Alltagsleben stark reglementiert. Städtische Verordnungen wurden den Bürgern durch die sogenannten »burspraken« in St. Nikolai verkündet und betrafen sämtliche Bereiche des Lebens. Über die Einhaltung der Verordnungen wachte der städtische Rat, der die volle Gerichtsbarkeit in der Stadt besaß. Für die Bewohner lübischer Städte bedeutete das aus heutiger Sicht streng erscheinende Ordnungssystem nicht nur Reglementierung, sondern auch Sicherheit. Als Mitglieder eines Gemeinwesens hatten die Einwohner zwar die städtischen Ordnungen zu befolgen, genossen im Gegenzug jedoch auch rechtlichen Schutz im beruflichen und privaten Alltag1728. Das Musikleben blieb vom Ordnungssystem nicht unbeeinflusst. Durch Musizierprivilegien versuchte man, den städtischen Instrumentalisten eine möglichst konfliktfreie Ausübung ihres Broterwerbs zu ermöglichen. Dass der musikalische Alltag dennoch durchaus nicht reibungslos verlief, wird nicht nur in Stralsund durch eine Vielzahl von Beschwerden und Eingaben der Instrumentalisten deutlich. Dies wiederum unterstreicht die Notwendigkeit rechtlicher Vorgaben. Hochzeitsordnungen Das Musizieren auf Hochzeiten zählte zu den unverzichtbaren Einnahmequellen sowohl für die Ratsmusikanten als auch für die Mitglieder der musikalischen Zunft. Für Hochzeiten wurden städtische Verordnungen erlassen, die – dem jeweiligen Bürgerstand des Brautpaares entsprechend – festlegten, wie und in welchem Ausmaß die Feierlichkeiten zu gestalten waren, um übermäßigem Prunk und Aufwand entgegenzuwirken. Festgelegt wurden auch musikalische Belange, wie Ort und Funktion der Musik bei Hochzeiten oder die Entlohnung der Musiker. Im Untersuchungszeitraum lassen sich vier Stralsunder Ordnungen feststellen, die Reglements für Hochzeitsfeierlichkeiten enthalten: die Stralsunder Kleider- und Hochzeitsordnung (1570)1729, die Fernere Declaration der Stadt Stralsund Policey- und Klei1726 Relativ spät – erst seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts – gelangten Soll zufolge auch die Spielleute in den Herzogtümern Schleswig und Holstein in feste städtische Anstellung. Vgl. Soll (2006), S. 39. 1727 Siehe dafür und für die folgenden Ausführungen S. 27 in dieser Arbeit. 1728 Vgl. Soll (2006), S. 34–38. 1729 Die Ordnung wurde von Zober (1866, S. 149–178) in den Baltischen Studien herausgegeben.
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der-Ordnung (1670)1730, die Hochzeitsordnung (1685)1731 sowie E.E. Raths der Stadt Stralsund Renovirte Ordnung, wornach sich derselben gesampte Bürgere, Einwohner und Angehörige in Verlöbnussen, Hochzeiten, Kindttauffen und Begräbnissen nach Unterscheid der Stände zu verhalten (1702 »nach dem Anno 1685 gedruckten Exemplar wieder erneuert«)1732. Die durch die Ordnungen festgelegten musikalischen Zuständigkeiten der Stralsunder Rats- und Zunftmusiker bei den freien, halbfreien und gemeinen Hochzeiten, die unter der Woche von Montag bis Mittwoch bzw. am Donnerstag stattfanden1733, sollen im Folgenden thematisiert werden. Dabei betreffen die Reglements sämtliche städtischen Instrumentalisten – Kunstpfeifer, Kure und Zunftmusiker – in gleichem Maße; die Erläuterungen zu den Hochzeitsprivilegien sind daher den allgemeinen Untersuchungen zu den einzelnen Musikergruppen vorangestellt. Musikalische Aufwartung bei Hochzeiten Musik spielte bei der Trauung in der Kirche1734 sowie bei den anschließenden Feierlichkeiten eine Rolle. In der Stralsunder Hochzeitsordnung von 1570 wird außerdem die Musik beim Kirchgang erwähnt: Am Tag der Trauung hatten die »spellude« vor dem Haus des Bräutigams aufzuwarten, um diesen mit Musik zur Kirche zu begleiten. Bei Hochzeiten des ersten (›freie‹/›ganze‹ Hochzeiten) und zweiten Standes (›halbfreie‹/›halbe‹ Hochzeiten) fand dies mit »Großem Spiel« statt, das heißt mit Zinken, Trompeten und Posaunen. Anschließend hatten sich »diesuluigen spellude na der brudt huse« zu begeben, um die Braut auf die gleiche Weise zur Kirche zu geleiten1735. Bei gemeinen Hochzeiten des dritten Standes gingen die Brautleute »ane spill thor kercken«1736. In den Hochzeitsordnungen aus späterer Zeit wird die Musik beim Kirchgang nicht mehr erwähnt. In der Kirche selbst waren in erster Linie der Organist und der Kantor sowie ein Schülerchor musikalisch an der Trauung beteiligt. Es »werdt georgelt vnd figuriret«1737, heißt es in der Hochzeitsordnung von 1570. Nähere Auskünfte zur Art der Musik sind 1730 Die Ordnung erschien auf der Grundlage der Stralsunder Kleiderordnung von 1649, die jedoch keine Angaben zur Gestaltung von Hochzeitsfeierlichkeiten enthält. Auch die Ordnung von 1670 enthält nur einige wenige Bestimmungen zur Gestaltung von Hochzeiten. Vgl. das Exemplar in: D-GRu Sign. 520/Ob 579 (2) Adn. 2 (Polizei- und Kleiderordnung 1670). 1731 Es ist mir nicht gelungen, ein Exemplar dieser Ordnung aufzufinden, die als Vorgängerordnung der 1702 veröffentlichten Hochzeitsordnung erwähnt wird. 1732 D-GRu Sign. 520/Ob 579 (2) Adn. 6. 1733 Vgl. zur Unterscheidung der Hochzeiten S. 163 im Kantoratskapitel. 1734 Die Trauung des Brautpaares – in Pommern auch »thoschlag«, »bruthlacht«, »hochtidt«, »bylager«, »vertruwent«, »Vortrawung«, »truw«, »cost« genannt (vgl. Adler 1957, S. 95) – fand gewöhnlich im Kirchspiel des Brautpaares bzw. von Braut oder Bräutigam statt. 1735 Hochzeitsordnung 1570: Zober (1866), S. 168. 1736 Ebd., S. 176. 1737 Ebd., S. 169.
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in den Ordnungen kaum enthalten. Aus der Stralsunder Hochzeitsordnung von 1702 erfährt man lediglich, dass auch »wenn Bräutigam und Braut in die Kirche und wieder herausgehen/ mit der Orgel gespielet und sonst musiciret werden [kann]«1738. Dabei ist es durchaus wahrscheinlich, dass an der Musik zur Trauung neben dem Organisten, dem Kantor und dem Schülerchor mitunter auch Instrumentalisten teilnahmen. Während diese im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert den Schülerchor vermutlich nur ›colla parte‹ in der Figuralmusik unterstützten, kam ihnen für die Aufführung von Hochzeitsmusiken im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts eine wachsende Bedeutung zu. So enthält etwa Johann Vierdancks Hochzeitskonzert Ich freue mich im Herrn für den Stralsunder Kunstpfeifer Dieterich Hilmer Hoyoul von 1643 neben vier Singstimmen und dem Generalbass auch fünf Instrumentalparts1739. Derartig anspruchsvolles und großbesetztes musikalisches Repertoire erklang vermutlich jedoch nur auf Hochzeiten des ersten Bürgerstandes bzw. – wie im Falle Hoyouls – für Personen mit besonderer musikalischer Affinität. Die sich an den Kirchgang1740 anschließenden Festivitäten fanden in privaten oder öffentlichen für derartige Feierlichkeiten bereitgestellten Häusern statt. Als Stralsunder ›Hochzeitshäuser‹, die den Brautpaaren aller drei Stände zur Verfügung standen, werden in der Hochzeitsordnung von 1570 der »Koningarendeshoff«, das »Niehuß« und das Haus der »Bruwer=Companie«1741 erwähnt. Hier spielten die städtischen Instrumentalmusiker zum Tanz auf, wobei die Hochzeitsordnungen ein dafür angemessenes gebührliches Verhalten vorschrieben: »Darna werden etliche dentze geholden, darin men sick tuchtig, schamhaftig vnd in geberden vnergerlick betogen vnd alles vntemliken vordreiens, lopens vnd küselndes metigen schall, by wilkorlicher vnnalatlicher straffen.«1742
Musikalisches (Tanz-)Repertoire für Hochzeiten im 17. Jahrhundert lieferte vermutlich Johann Vierdanck mit dem ersten Teil seines Instrumentalwerks (1637): »Nicht in die Kirche oder zum GOttes Dienst gehörig«, galten Vierdancks Instrumentalstücke dem 1738 Hochzeitsordnung 1702. Wie Anm. 1732, Cap. VIII. 1739 Vgl. den vollständigen Titel im Werkverzeichnis auf S. 395. Vorgeschrieben sind zwei Violinen und drei Posaunen, wobei die Posaunenstimmen den unteren drei Singstimmen (Alt, Tenor, Bass) folgen und nur im Tutti-Teil (Takte 1–20; 2 Wiederholungen) des Konzerts eingesetzt werden. 1740 Im späten 17. Jahrhundert sind zunehmend Haustrauungen zu verzeichnen. Vgl. dazu S. 170. Während die Schüler der Lateinschule mit dem Kantor aufgrund des fehlenden Kirchgangs von der Musik bei Haustrauungen ausgeschlossen blieben, musizierten die städtischen Instrumentalisten auch auf diesen Hochzeiten, bei denen »mit der Music der Anfang gemachet« werden sollte. Vgl. Hochzeitsordnung 1702. Wie Anm. 1732, Cap. XI (eigentlich Cap. IX). 1741 Zit. nach Zober (1866), S. 172. Es handelt sich dabei um den Artushof auf dem Alten Markt, das Rathaus der Neustadt und das Haus der Brauerkompagnie (bis 1944 in der Heilgeiststraße 76). 1742 Zit. nach ebd., S. 171.
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Gebrauch »in Ehrlichen Gesellschafften vnd Zusammenkunfften/ zur Ergetzligkeit/ vnd gebürlicher Fröligkeit«1743. Der Druck enthält elf jeweils viersätzige Suiten mit fester Satzfolge (Pavan – Gagliarda – Ballo – Correnta) für zwei Violinen, Instrumentalbass (Violon/Viola da Gamba) und Basso continuo. Der Stralsunder Hochzeitsordnung von 1570 nach hatten die Feierlichkeiten im ersten und zweiten Bürgerstand um Mitternacht beendet zu sein: »Wenn auer die klocke twelfe schleit, scholen die spellude by vorbreking eres lons keinen dantz mehr spelen.«1744 Bei gemeinen Hochzeiten hatten »alle dantze, spill vnd bierschenckent vp den klockenschlog XI ingestellet« zu sein1745. In der Hochzeitsordnung von 1702 werden in dieser Hinsicht erstmals keine Unterschiede mehr gemacht: »alle Hochzeitliche Freude [sollte] zum längsten umb 3. Uhr« beendet sein1746. Ein sogenannter Ratsdiener (auch »Weinherr«1747) kontrollierte, ob die Bestimmungen eingehalten wurden, und schlug zur festgelegten Zeit »mit sinem stocke an die dohre«1748. Nun war es den Musikanten bei Verlust ihrer Einnahmen (Ordnung von 1570) und in späterer Zeit sogar ihrer Instrumente (Ordnung von 1702) untersagt, weiterzumusizieren: »Und damit solches so viel besser gehalten/ und die Musicanten länger aufzuwarten nicht genöhtiget werden/ soll E. E. Rahts Diener befehligt seyn/ wenns drey geschlagen/ Instrumenta von den Musicanten zufordern [...] und er sie in sichere Verwahrsamb nehmen solle.«1749
Musizierprivilegien Die Zuständigkeiten der jeweiligen Instrumentalisten für das Musizieren auf Hochzeiten wurden durch Ratserlasse geregelt. Dem Kunstpfeifer, Kuren und den Zunftmusikern wurden dabei unterschiedliche Privilegien zuteil, die ihnen den Broterwerb – gemäß ihrer Stellung innerhalb der städtischen Musikerschaft – sichern sollten. Bei der Vergabe der Musizierprivilegien orientierte sich der Rat in der Regel an den überlieferten Traditionen. Zu Veränderungen kam es hier allenfalls infolge von Streitigkeiten um musikalische Zuständigkeitsbereiche, wie etwa im Falle der später zu behandelnden Verordnung von 1635. Von entscheidender Bedeutung waren die Musizierprivilegien für die Zunftmusiker, die – anders als die Ratsmusikanten – keine regelmäßigen Gehaltszahlungen aus der Stadtkasse erhielten und ihre Einkünfte demzufolge allein aus den Akzidentien 1743 Vgl. das Vorwort zum ersten Teil der Instrumentalwerke von Johann Vierdanck: Erster Theil/ Newer PAVANEN. | Gagliarden, Balletten | vnd Correnten, 21641, und S. 214. 1744 Zit. nach Zober (1866), S. 171. 1745 Zit. nach ebd., S. 176. 1746 Hochzeitsordnung 1702. Wie Anm. 1732, Cap. VIII. 1747 Siehe S. 35f. 1748 Zit. nach Zober (1866), S. 171 (Hochzeitsordnung 1570). 1749 Hochzeitsordnung 1702. Wie Anm. 1732, Cap. VIII. Für wie lange die Instrumente eingezogen wurden, ist unbekannt.
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bestritten. Den Ratsmusikanten waren sie hinsichtlich ihrer musikalischen Zuständigkeiten deutlich nachgeordnet. Während die Instrumentalisten in städtischen Diensten dauerhaft für die Musik auf den Stralsunder Bürgerhochzeiten des ersten bis dritten Standes zuständig waren, war es den Zunftmusikern »bei Wilkürlicher Krafte verboten, auff bürgerhochzeiten auffzuwarten«1750. Teilweise überlassen blieben ihnen die sogenannten fremden Hochzeiten von Brautpaaren ohne Stralsunder Bürgerrecht1751. Bürgerhochzeiten Die Stralsunder Ratsverordnung zum Musizieren auf Bürgerhochzeiten von 16351752 geht auf die Initiative des Kunstpfeifers Balduin Hoyoul zurück. Ihr war ein Streit wegen der altersbedingt eingeschränkten Dienstfähigkeit des Kuren Andreas Malchow vorausgegangen1753. Da Malchow offenbar nicht bereit war, aus dem Dienst zu scheiden, hatte Hoyoul als oberster Ratsmusikant erwirkt, dass seine hochzeitlichen Musizierprivilegien beschnitten wurden. Wenngleich die Ratsverordnung von 1635 einen interessanten Einblick in die Organisation der Stralsunder Musizierprivilegien bietet, ist ihre Gültigkeit dennoch auf einige wenige Jahre beschränkt: da sie »nuhr auf dießes Churenn leben, oder auch Zeidt seines wehrenden dienstes gemeinet sein soll«1754. Die Ordnung reagierte demzufolge auf die aktuelle Situation von 1635. Malchow starb bereits im folgenden Jahr. Eine vergleichbar ausführliche Ordnung aus nachfolgender Zeit liegt nicht vor; daher soll sie an dieser Stelle kurz kommentiert werden: Festgelegt wurde, dass dem Kunstpfeifer und seinen Gesellen sämtliche Bürgerhochzeiten des ersten bis dritten Standes in den Quartieren von St. Nikolai, St. Jakobi und St. Jürgen1755 zustehen sollten. Im Stadtquartier St. Marien durfte der Kunstpfeifer auf den Hochzeiten des ersten Standes und in Abwechslung mit dem Kuren auch auf denen des zweiten Standes musizieren1756. Die musikalische Aufwartung des Kuren auf Hochzeiten beschränkte sich somit auf eines der ärmeren Stralsunder Stadtquartiere, das Quartier von St. Marien1757. Dort
1750 1751 1752 1753 1754 1755
StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [23.8.1662]. Vgl. dazu S. 299. Siehe Dok. 15 im Anhang, S. 376. Siehe zu Malchow S. 326. StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [28.10.1635]. In St. Jürgen gab es zwar keine Pfarrkirche, jedoch musizierten die Stadtmusiker auch bei Haustrauungen und bei den im Anschluss an die Trauung stattfindenden Festivitäten in den Privat- oder Hochzeitshäusern. 1756 »Alß wann der Kunstpfeiffer bey der ersten [...] aufgewartet, das der Chur bey der andern darauff folgenden Hochzeit, vndt also forthan, einer vmb den andern aufwarten solle.« StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [28.10.1635]. 1757 Vgl. S. 36.
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standen ihm die Hochzeiten des dritten und in Abwechslung mit dem Kunstpfeifer auch die des zweiten Bürgerstandes zu1758. Außerdem wurde festgelegt, dass, »würde sichs aber begeben[,] das auf einmahl in einem oder auch allen dreÿen diesen Quartieren So vielle gemeiner Hochzeiten sollten einfallen, das der Kunstpffeiffer mit seinem Volcke alle denselben aufzuwarten nicht vermüchte, So soll er dieselbe nicht frembden, sondern dießer Stadt Churen aufzutragenn vndt vberlassen.«1759
Über das Marienquartier hinaus kam Malchow demzufolge allein durch Vertretungsdienste für den Kunstpfeifer. Allerdings war er dabei lediglich befugt, Hochzeiten des dritten Standes (›gemeine‹ Hochzeiten) zu vertreten; die Einnahmen daraus hatte er mit dem Kunstpfeifer zu teilen. Vermutlich wurden Malchows Privilegien durch die Ratsverordnung von 1635 sowohl hinsichtlich der Hochzeitsstände als auch der verschiedenen Stadtquartiere eingeschränkt. Erweiterte Privilegien wurden dem Kuren Johann Tiedemann zuteil, der das Stralsunder Amt seit 1642 ausübte. In seinem erst 1647 ausgestellten Bestallungsdokument heißt es, Tiedemann habe sich mit dem Kunstpfeifer (zu dieser Zeit Friedrich Schultz) »wegen der auffwartung in allen Vieren Stadtt Quartieren bey den Hochzeiten im andern vnd dritten grad« zu einigen1760. Wie diese Einigung genau aussah, lässt sich nicht mehr ermitteln. Jedoch standen dem Kuren nunmehr zwar noch immer keine Hochzeiten des ersten Standes, jedoch des zweiten und dritten Bürgerstandes im gesamten Stadtgebiet nach Absprache mit dem Kunstpfeifer zu. Vielleicht hatte es diese Regelung auch vor den für Malchow beschriebenen Einschränkungen von 1635 bereits gegeben. Die umfangreichsten und einträglichsten Musizierprivilegien hatte eindeutig der Kunstpfeifer mit seinen Gesellen und Lehrjungen inne. Dies verwundert kaum, trug er doch die Verantwortung über die instrumentale Stadtmusik und hatte demzufolge auch in musikalisch-qualitativer Hinsicht verlässlich zu sein. Durch die übergeordnete Stellung des Kunstpfeifers innerhalb der Stadtmusik war es diesem – wie im Fall Hoyoul und Malchow – sogar möglich, in Absprache mit dem Rat oder den für die Stadtmusik zuständigen Wein- bzw. Polizeiherren die Musizierprivilegien der anderen Musikergruppen zu beeinflussen. Vermutlich war dies jedoch nicht die Regel und der Stralsunder Rat zeigte sich für die Wahrung der Rechte auch der übrigen Musikergruppen verantwortlich.
1758 Vermutlich stellten hier die Hochzeiten der unteren Stände den zahlenmäßig größten Anteil dar. 1759 StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [28.10.1635]. 1760 Ebd. [9.12.1647].
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Die Stralsunder Stadtmusik Stadtquartier St. Nikolai St. Marien St. Jakobi St. Jürgen
Erster Bürgerstand Kunstpfeifer Kunstpfeifer Kunstpfeifer Kunstpfeifer
Zweiter Bürgerstand Kunstpfeifer Kunstpfeifer/Kure Kunstpfeifer Kunstpfeifer
Dritter Bürgerstand Kunstpfeifer/(Kure)1761 Kure Kunstpfeifer/(Kure) Kunstpfeifer/(Kure)
Tabelle 23: Musizierprivilegien (Kunstpfeifer/Kure) bei den Stralsunder Bürgerhochzeiten laut Ratsverordnung von 16351761 Stadtquartier St. Nikolai St. Marien St. Jakobi St. Jürgen
Erster Bürgerstand Kunstpfeifer Kunstpfeifer Kunstpfeifer Kunstpfeifer
Zweiter Bürgerstand Kunstpfeifer/Kure Kunstpfeifer/Kure Kunstpfeifer/Kure Kunstpfeifer/Kure
Dritter Bürgerstand Kunstpfeifer/Kure Kunstpfeifer/Kure Kunstpfeifer/Kure Kunstpfeifer/Kure
Tabelle 24: Musizierprivilegien (Kunstpfeifer/Kure) bei den Stralsunder Bürgerhochzeiten nach 1647
›Fremde‹ Hochzeiten Für die sogenannten fremden Hochzeiten von Brautpaaren ohne Stralsunder Bürgerrecht sind die Regelungen weniger klar. Bei diesen Hochzeiten, die zumeist auf dem Lande, jedoch auch in der Stadt stattfinden konnten, lag es in der Hand der Brautleute, Musiker nach ihrem Belieben zu bestellen. Dabei stand es den »frembden frey einen oder andern dieses ortts musicanten welchen sie belieben werden, zu dero hochzeittlichen Ehrentagen oder zusammenkünfften in dienste zunehmen«1762. Dies galt sowohl innerhalb Stralsunds als auch in allen Ortschaften, die unter der Jurisdiktion der Stadt standen1763. In den Orten, die nicht zu den Stralsunder Stadtgütern zählten, konnten die städtischen Musiker dennoch gefordert werden, ebenso aber auch andere Instrumentalisten, wie etwa aus Bergen/Rügen1764. Demzufolge war es sowohl dem Kunstpfeifer als auch dem Kuren und den Zunftmusikern gestattet, auf fremden Hochzeiten zu musizieren. Verwehrt blieben die Feierlichkeiten nur den unorganisierten ›Böhnhasen‹, solange städtische Instrumentalisten zur Verfügung standen1765. Während die Ratsmusikanten, wie beschrieben, außerdem über Privilegien bei den Bürgerhochzeiten verfügten, waren vor allem die Zunftmusiker auf das Musizieren bei 1761 Falls die Hochzeiten des dritten Standes in den Quartieren von St. Nikolai, St. Jakobi und St. Jürgen nicht vom Kunstpfeifer übernommen werden konnten, sollte der Kure einspringen. 1762 StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [Oktober 1657]. 1763 Dazu zählten große Teile Rügens. Vgl. Kroll (1997), S. 69. 1764 StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [16.7.1703/20.7.1703]. 1765 »[…] würden aber alle meistern zugleich beschäfftiget sein, alßdan magk den Bestelleten nehmen, welchen er bekommen kan, es sey frembden oder ein Bohnhasen.« StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [Oktober 1657].
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den fremden Hochzeiten angewiesen. Dementsprechend stark bemühten sie sich darum, was im Verlauf des 17. Jahrhunderts zu andauernden Streitigkeiten führte. 1655 etwa wurde von der Stralsunder Musikantenzunft beklagt, dass »von dieser Stadt Curen [Johann Tiedemann] [...] nicht allein in den Stadtgütern so woll im Ruigen vf der Vehre alß hieselbst außerhalb auf dem lande in hiesiger Stadt juirisdiction, sondern auch hieselbst in der Stadt die frembden [...] hochzeiten, so vnß zugleich abzuwarten zu gelaßen, an sich zu ziehen vnd vnter sich zubringen begehret.«1766
Mit dem Verweis auf ihre finanzielle Bedürftigkeit baten die Zunftmitglieder darum, dass ihnen die fremden Hochzeiten allein zugesprochen würden, da Kunstpfeifer und Kure »mehr dann zu viehl zuthunde, verdienst überflüßig haben, immunes von allen denen exactionibus vndt freye leüte seyn«1767. Der Stralsunder Rat kam ihrer Bitte nicht nach. Zum Ende des 17. Jahrhunderts mehrten sich die Klagen der Zunft über den Kunstpfeifer Conrad Diem1768. Diem hatte bereits 1696 – ohne Wissen der Stralsunder Zunftmitglieder – eine Änderung des Privilegs initiiert. Auch fremde Hochzeiten sollten nunmehr allein den Ratsmusikanten zustehen1769. Dass Diem bei der verantwortlichen Polizeibehörde allein eine derartige Änderung erwirken konnte, zeigt wiederum seine unter den Stadtmusikanten deutlich herausgehobene Position. Die Verdienstmöglichkeiten der Zunftmusikanten wurden durch diese Regelung stark beschnitten, was verständlicherweise zu Protesten führte. Dabei zeigt der Fortgang der Streitigkeiten, dass die Polizeibehörde der Bitte Diems offenbar vorschnell entsprochen hatte. Nachdem der bereits sehr betagte Kure Heinrich Moht zu früheren Regelungen in dieser Angelegenheit befragt worden war, wurden die alten Privilegien noch im selben Jahr wiederhergestellt. Moht nämlich hatte bestätigt, dass die fremden Hochzeiten in früherer Zeit demjenigen Musiker zustanden, »dem sie zuerst zur Hand gekommen«1770. Dass die Polizeibehörde über diese Bestimmung nicht informiert war, deutet darauf hin, dass es seit längerer Zeit keine ernsthaften Auseinandersetzungen in dieser Angelegenheit mehr gegeben hatte bzw. es den Musikern gelungen war, diese untereinander zu klären. Die Streitigkeiten um die fremden Hochzeiten zwischen den Zunftmusikern und den städtisch bestallten Instrumentalisten waren auch nach dem Vorfall von 1696 nicht beendet. Immer wieder beklagten vor allem die Zunftmitglieder, erwerbsmäßig benachteiligt zu sein und warfen in erster Linie dem Kunstpfeifer vor, sich unstandesgemäß und durch unlautere Mittel um die fremden Hochzeiten zu bemühen. So wartete 1766 Ebd. [20.11.1655]. 1767 Ebd. 1768 Die Streitigkeiten zwischen dem Kuren und der Zunft waren durch eine 1693 geschlossene und in den Ausführungen zu den Zunftmusikern später noch zu erwähnende Vereinbarung offenbar wenigstens kurzzeitig beigelegt worden. Vgl. auch S. 343–345. 1769 StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [22.8.1696]. 1770 Ebd. [10.9.1696/12.9.1696].
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Conrad Diem nach Meinung der Zunftmusiker mit auf dem Lande unangemessenem Instrumentarium auf: »undt wen es gleich bauern sindt, [...] mit Paucken undt Trompten auch den allergeringsten leuten auffzuwarten«1771. 1703 beschuldigte die Zunft ihn, sich bereits morgens um 3 Uhr mit der Fähre nach Altefähr übersetzen zu lassen, um dort den anderen Musikern zuvorzukommen. Auch beklagten die Zunftmusiker, dass Diem die Brautleute mit Geschenken besteche, um Hochzeiten an sich zu ziehen1772. ›Bestellung‹ der Musik Bestellt wurde die Musik für Hochzeiten von Bräutigam und Brautvater beim Kunstpfeifer. Schon bei Vertragsabschluss wurde eine standesgemäß gegliederte Gebühr fällig1773. Auch lag es in der Verantwortung der Hochzeitsleute, Terminkollisionen zu vermeiden, die Streitigkeiten unter den Musikern verursachen könnten. So hatten sich Bräutigam und Brautvater beim Kunstpfeifer zu erkundigen, »ob [...] auf den tag den sie beliben ein ander vorhero seine Hochzeit bestimmet habe, damit nicht besagter Musicant seiner aufwartung und deswegen gebührend belohnung entsetzet werde.«1774
Der Kunstpfeifer verwies sie je nach Bürgerstand an die jeweils zuständige Musikerschaft. Erfolgte dies nicht korrekt nach den entsprechenden Musizierprivilegien, hatten offenbar die fälschlicherweise verpflichteten und nicht zuständigen Musiker die Hochzeiter an die richtige Adresse zu verweisen1775. Ob und wie dies funktionierte, lässt sich den Quellen nicht entnehmen. * Nach diesen Ausführungen zur musikalischen Organisation von Hochzeiten in Stralsund sind die folgenden Untersuchungen den unterschiedlichen städtischen Musikergruppen gewidmet. Dabei soll es um terminologische Fragen, die Ausbildung der Musiker, Anstellungs- bzw. Aufnahmemodalitäten, musikalische Aufgabenbereiche sowie um die materiellen Verhältnisse der Musiker gehen. Die Ämter von Kunstpfeifer und Kure und die musikalische Zunft werden dabei getrennt, jedoch nach annähernd gleichen Kriterien untersucht. Den Ausführungen vorangestellt sind jeweils Informationen zur Besetzung der Ämter in Stralsund und – soweit möglich – zu den Biographien der Amtsinhaber. 1771 StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [25.7.1707/27.7.1707]. 1772 StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [10.7.1703/11.7.1703] und StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [25.7.1707/27.7.1707]. 1773 Diese betrug 1685/1702 bei ganzen Hochzeiten 1 Rthl. (= 6 MS), bei halben Hochzeiten ½ Rthl. und bei gemeinen Hochzeiten 12 ß (= 1,5 MS). Vgl. die Hochzeitsordnung von 1702: D-GRu Sign. 520/Ob 579 (2) Adn. 6, Cap. XIV. 1774 StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [31.5.1678]. 1775 StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [27.1.1701].
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3.2  Das Amt des Kunstpfeifers Die Stralsunder Kunstpfeifer – Übersicht und biographische Informationen Amtszeit (vor?) 1577–1582 1584–(nach?) 1614 (vor?) 1616–(nach?) 1628 1630 1630–1639 1640–1650 1650–1674 1675–1690 1690–um 1710/11 1713–1762
Name Meister Franz der Spielmann Jonas Depensee1776 Andreas Depensee Andreas Güterkuh Balduin Hoyoul Friedrich Schultz Dieterich Hilmer Hoyoul Johann Conrad Diem Conrad Diem Philipp Brüseke1777
Tabelle 25: Amtszeiten der Kunstpfeifer1776,1777
Franz [Frans, Frantz] († 1582) Der Spielmann Franz ist zwischen 1577 und 1582 in den Ausgaberegistern der Nikolaikirche nachweisbar1778. Er starb 15821779. Jonas Depensee [Depensehe] »Meister Jonas der Spelmanne« ist seit 1584 im Ausgaberegister der Nikolaikirche verzeichnet1780 und wird 1614 letztmalig namentlich erwähnt1781; 1603 wird er erstmals als »Kunstpipscher« (Kunstpfeifer) betitelt. 1587 bewarb sich Depensee um das Amt des Musicus instrumentalis in Reval1782. Seine Bewerbung hatte offenbar keinen Erfolg.
1776 Meister Franz und Jonas Depensee wurden für ihre musikalischen Dienste an St. Nikolai entlohnt. Ob sie sich darüber hinaus schon in fester städtischer Anstellung befanden, lässt sich nicht klären. Vgl. S. 291f. 1777 Brüsekes Amtszeit liegt im 18. Jahrhundert und damit außerhalb des Untersuchungszeitraums. Aufgrund der Beziehungen seines Sohnes zu Georg Philipp Telemann soll er dennoch mit einigen biographischen Informationen erwähnt werden. 1778 StAS Rep 28-534 St. Nikolai Ausgaberegister 1563–1610, fol. 277–284f. [1577/78– 1582/83]. 1779 Ebd., fol. 284f. [1582/83]. Vgl. zu Franz auch S. 291f. 1780 StAS Rep 28-534 St. Nikolai Ausgaberegister 1563–1610, fol. 285f. [1583/84]. 1781 AStN R 3 Landregister 1610–1614 [1613/14]; AStN R 1/N 1 Landt Register von Ao 1612 biß Ao 1644. 1782 Greifenhagen (1903), S. 104.
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1607 empfahl Depensee seinen Sohn Andreas für das Amt des Stadtmusikers in Stettin, das nach dem Weggang Paul Luetkemanns wieder zu besetzen war1783. Andreas Depensee erhielt den Posten nicht und wurde Kunstpfeifer in Stralsund. Andreas Depensee [Depensehe] (~1582–1630) Andreas Depensee wurde um 1582 als Sohn von Jonas Depensee geboren1784. Stralsunder Ratsmusikant wurde er zwischen 1614 und 16161785. 1616 wird Depensee erstmals als »Stadtpfeifer« bezeichnet1786. Gehaltszahlungen aus städtischer Kasse und von St. Nikolai an ihn lassen sich bis Johannis 1628 nachweisen1787. Depensee wurde am 15. Februar 1630 in Stralsund beerdigt1788. Im Schülerverzeichnis der Stralsunder Lateinschule wird 1616 wohl ein Sohn des Kunstpfeifers mit demselben Namen als Sekundaner erwähnt1789. Andreas Güterkuh [Güterkow] († 1645/1647) Andreas Güterkuh lässt sich als Instrumentalist sowohl in Stralsund als auch in Greifswald nachweisen1790. Am 12. Oktober 1629 heiratete Güterkuh Dorothea Koordes, die Witwe von Michel Oldbötter1791, der Lehrmeister des Stralsunder Kuren Jochim Norman gewesen war. Das Stralsunder Kunstpfeiferamt übte Güterkuh 1630 wohl nur interimistisch aus. Dem städtischen Ausgaberegister sowie dem Rechnungsbuch der Nikolaikirche zufolge wurde er für das Johannis- und Michaelisquartal bezahlt1792. 1632 wurde Güterkuh Kunstpfeifer in Greifswald, wo sein Stiefsohn Heinrich Oldbötter 1647 seine Nachfolge antrat1793. Im Juli 1645 verkaufte die Frau Güterkuhs das ge-
1783 Depensee äußert sich ausführlich zu den Instrumenten, die sein Sohn Andreas beherrscht und die er ihm nach Stettin mitgeben könnte. Vgl. das vollständige Schreiben bei Engel (1932/33), S. 8f., sowie außerdem S. 308 in dieser Arbeit. Die Reise von Jonas und Andreas Depensee nach Stettin kam nicht zustande, da der Kunstpfeifer mit seinen Gesellen zu einer Taufe bestellt wurde. Engel (1932/33), S. 9. 1784 In dem oben erwähnten Empfehlungsschreiben seines Vaters von 1607 heißt es über Andreas Depensee: »er ist seines alters in das 26 iahr«, ebd., S. 9. 1785 In den kirchlichen bzw. städtischen Ausgaberegistern wird der Kunstpfeifer Jonas letztmalig 1614 und Andreas Depensee erstmalig 1616 namentlich genannt. AStN R 3 Landregister 1610–1614 [1613/14] und StAS Rep 38-1497 Städtisches Ausgaberegister 1616, fol. 24. 1786 StAS Rep 38-1497 Städtisches Ausgaberegister 1616, fol. 24. 1787 Vgl. AStN R 1/N 1 Landt Register von Ao 1612 biß Ao 1644 [1627/28] sowie StAS Rep 38-1497 Städtisches Ausgaberegister 1616 bis Rep 38-1508 Städtisches Ausgaberegister 1628. 1788 StAS Sterberegister. 1789 StAS Rep 22-7 Schülerverzeichnis des Gymnasiums 1615–1631 [1616]. 1790 Vgl. Köhler (1997), S. 93, 100, 102. 1791 Schubert (1987), Nr. 557. 1792 StAS Rep 38-1509 Städtisches Ausgaberegister 1630, fol. 33, und AStN R 1/N 1 Landt Register von Ao 1612 biß Ao 1644 [1629/30]. 1793 Köhler (1997), S. 93, 492, 503.
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meinsame Haus in Stralsund. Ihr Mann war zu dieser Zeit bereits krank und konnte nicht mehr reisen1794. Balduin [Boldewin] Hoyoul [Hoyol, Hoyell, Hojol, Hoiol] († 1639) Zu Weihnachten 1630 wird Balduin Hoyoul erstmals als Stralsunder Kunstpfeifer erwähnt1795. Er ist nicht identisch mit dem um 1547 geborenen gleichnamigen württembergischen Kapellmeister1796, könnte jedoch dessen Sohn oder Enkelsohn gewesen sein. Balduin Hoyoul hatte das Stralsunder Amt bis zu seinem Tod 1639 inne1797. 1633 wurde sein Sohn Friedrich in Stralsund getauft1798; ein weiterer Sohn Balduin Hoyouls, Dieterich Hilmer, wurde 1650 Stralsunder Kunstpfeifer1799. Am dänischen Hof lässt sich in den 1630er-Jahren ein Zinkenist mit dem Namen Georg Friedrich Hoyoul nachweisen1800, dem Vierdanck neben Nikolaus Bleyer und Johann Schop den zweiten Teil seiner Instrumentalwerke von 1641 widmete1801. Friedrich Schultz [Sultz, Schulz] Zu Michaelis 1640 wurde Friedrich Schultz als Stralsunder Kunstpfeifer bestallt1802. Zuvor war er offenbar mit seinem Sohn, dem Violinisten Adrian Schultz, in der Güstrower Hofkapelle tätig gewesen1803. Ostern 1650 dankte Schultz aus unbekannten Gründen in Stralsund ab1804. Für die Angabe Köhlers, Schultz sei bereits am 1. Februar 1646 als Musicus instrumentalis in Schwerin bestallt worden1805, lassen sich in Stralsund keine Nachweise finden. Dieterich Hilmer Hoyoul [Hoiol, Hojol] († 1674/1677) Hoyoul erwarb 1643 das Stralsunder Bürgerrecht als »Musikus«1806 und wurde wohl zu dieser Zeit Geselle bei Friedrich Schultz, dem Nachfolger seines Vaters. Am 23. Februar 1643 heiratete er Barbara Olandes (Ölandt), die Tochter eines Schiffers, und wird im 1794 StAS Rep 3-173 Protocol. causarum privatorum 1644–1648, fol. 76. 1795 StAS Rep 38-1509 Städtisches Ausgaberegister 1630, fol. 33. 1796 Vgl. Sittard (1890), Theater, S. 24f., und Traub (2003), Sp. 417f. 1797 Er wurde am 3.5.1639 in Stralsund begraben. AStN R 33a Begräbnis-Register 1629–1673 [3.5.1639]. 1798 Köhler (1997), S. 495. 1799 Siehe unten. 1800 Wade (1996), S. 243. 1801 Vgl. S. 212f. sowie die Vorrede und Widmung der Instrumentalwerke Vierdancks von 1641. Vierdanck/Lubenow (1994/95). 1802 »Auf Michaelis ist der newe Kunstpfeiffer Friederich Schultz bestallet.« StAS Rep 381519/1 Städtisches Ausgaberegister 1640, fol. 32. Seine erst später ausgestellte Bestallungsurkunde datiert vom 26. November 1642. Vgl. Müller (1928), S. 23, siehe Dok. 17 im Anhang S. 378. 1803 Ewe (1995), S. 146. 1804 StAS Rep 38-1528 Städtisches Ausgaberegister 1650, fol. 34. 1805 Köhler (1997), S. 511. 1806 StAS Bürgerbücher (digitalisiert).
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Trauregister als »Kunstpfeifergeselle« bezeichnet1807. Der Marienorganist Johann Vierdanck widmete dem Brautpaar sein Hochzeitskonzert Ich freue mich im Herrn1808. Als Kunstpfeifer wird Hoyoul von Michaelis 1650 bis 1674 erwähnt1809. Er starb zwischen 1674 und 16771810. Johann Conrad Diem († 1690) Diem war von 1665 bis 1674 zunächst Harfenist und Kunstpfeifergeselle in Stralsund1811, bevor er 1675 das Amt des Kunstpfeifers übernahm1812. Er wurde am 11. Mai 1690 begraben1813. Nachfolger im Amt wurde sein Sohn Conrad. Conrad Diem († um 1710/11?) Nach dem Tod seines Vaters wurde Conrad Diem am 9. Juli 1690 Stralsunder Kunstpfeifer1814 und blieb bis etwa 1710/11 (bis zu seinem Tod?) im Amt1815. Sein Nachfolger wurde der aus Bergen/Rügen stammende Philipp Brüseke d. J. († 1762). Philipp Brüseke [Brüschke, Brüsche] d. J. († 2.1.1762) Philipp Brüseke war der Sohn des gleichnamigen Kunstpfeifers aus Bergen/Rügen, der ihn 1711 für das Stralsunder Amt empfohlen hatte1816. Als Stralsunder Kunstpfeifer ist Philipp Brüseke d. J. von 1713 bis zu seinem Tod 1762 nachweisbar1817. Auch sein Vater Philipp Brüseke d. Ä. hielt sich während seiner letzten Lebensjahre in Stralsund auf und leistete hier wohl auch noch musikalische Dienste1818. Er starb am 22. Januar 17381819.
1807 Schubert (1987), Nr. 1135. 1808 Weiss (1956), S. 26, sowie S. 213 in dieser Arbeit. 1809 StAS Rep 38-1528 Städtisches Ausgaberegister 1650, fol. 34, bis StAS Rep 38-1548/1 Städtisches Ausgaberegister 1674, fol. 54. 1810 Von 1677 liegen Informationen zu seinem Nachlass vor: StAS Rep 3-5279 Kämmerei: Die Forderungen des Barbiers Thomas Schröder aus Greifswald an den Nachlaß des Stadtkunstpfeifers Diderich Hilmer Hoyel 1677. Informationen über Instrumente oder Musikalienbestände sind darin nicht enthalten. 1811 StAS Rep 38-1539 Städtisches Ausgaberegister 1665, fol. 40, bis StAS Rep 38-1548/1 Städtisches Ausgaberegister 1674, fol. 55. 1812 StAS Rep 38-1549 Städtisches Ausgaberegister 1675, fol. 54. 1813 AStN R 34 Begräbnisregister 1654–1693, fol. 801 [11.5.1690]. 1814 StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [9.7.1690] und StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [9.7.1690]. 1815 1711 wird das Amt als »vakant« bezeichnet, vgl. StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [2.3.1711/7.3.1722]. 1816 Ebd. [2.3.1711/7.3.1711]. 1817 Philipp Brüseke verstarb am 2. Januar 1762. StAS Sterberegister. 1818 1716 bewarb er sich um Aufnahme in die Stralsunder Zunft. Vgl. StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [10.2.1716/11.2.1716]. 1819 StAS Sterberegister.
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Ab 1750 vertrat ein Sohn Philipp Brüsekes d. J., Johann Philipp Brüseke, den bereits erkrankten Stralsunder Jakobiorganisten Jacob Artmer1820. Zuvor hatte er sich in Hamburg aufgehalten (Ende 1745); er taucht in einer Kostenrechnung Georg Philipp Telemanns für eine außerordentliche Musikaufführung auf1821.
3.2.1 Terminologie In den archivalischen Quellen Stralsunds erscheinen für die städtischen Instrumentalisten im 16. und 17. Jahrhundert folgende Bezeichnungen: ›Spielmann‹ (Spelman), ›Spielleute‹ (Spelude), ›Kunstpfeifer‹ (Kunstpiper, Kunstpipscher, Konst Pfeiffer), ›Stadtpfeifer‹ (Stadtpfeiffer). Während unklar bleibt, ob sich die als ›Spielleute‹ bezeichneten Musiker am Ende des 16. Jahrhunderts neben ihrem Kirchendienst auch bereits in städtischem Anstellungsverhältnis befanden, wird dieses spätestens 1616 durch die Bezeichnung ›Stadtpfeifer‹ markiert1822. Außerdem wurde das gesamte 17. Jahrhundert hindurch in Stralsund, wie auch in den Herzogtümern Schleswig und Holstein1823, die Bezeichnung ›Kunstpfeifer‹ verwendet. Der von Soll erwähnte uneinheitliche Gebrauch der Bezeichnung ›Spielmann‹, der in Schleswig und Holstein zumindest in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch immer für den städtisch bediensteten Musiker begegnet1824, ist in den Stralsunder Quellen nicht zu beobachten. Die verschiedenen Berufsbezeichnungen sind hier als relativ sicheres Indiz für die unterschiedlichen Entwicklungsstufen im Amt zu werten. Als ›Direktor der Instrumentalmusik‹ wird erstmals Balduin Hoyoul im Jahre 1642 bezeichnet, der zu dieser Zeit allerdings bereits verstorben war. Im Bestallungsdokument seines Nachfolgers Friedrich Schultz heißt es, dass »durch absterben des Erbaren vnnd Kunstreichen Boldewin Hoyeuls des Directoris stelle bey der instrumental Music bey dieser Stadt erloschen«1825. Auch Friedrich Schultz wurde als Hoyouls Nachfolger zum »Directoren der instrumental Music bey dieser Stadt«1826, wodurch vor allem die übergeordnete Stellung des Kunstpfeifers gegenüber allen anderen städtischen (Instrumental-)Musikern – Kure, Gesellen, Lehrjungen und Zunftmusikern – bezeichnet wird. Der besondere Rang des Kunstpfeifers spiegelt sich dabei sowohl finanziell (in der Höhe des Fixums) als auch in den ihm gewährten musikalischen Privilegien wider. Der Kunstpfeifer hatte die Oberaufsicht und die Verantwortung über die gesamte 1820 StAS Rep 28-291 St. Jakobi-Kirche. Organist Johann Philipp Bruske 1750–1753. Johann Philipp Brüseke verstarb am 9. August 1755. StAS Sterberegister. 1821 Für diesen Hinweis danke ich Jürgen Neubacher von der Staats- und Universitätsbibliothek in Hamburg. 1822 Vgl. dazu S. 292. 1823 Vgl. Soll (2006), S. 40. 1824 Ebd. 1825 Zit. nach Müller (1928), S. 23. Siehe Dok. 17 im Anhang auf S. 378. 1826 Ebd. In Rostock sprach man bereits 1623 vom »Directorn der Instrumentalischen Music«. Daebeler (1966), S. 48.
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städtische Instrumentalmusik und mit seinem Personal dafür zu sorgen, dass diese zur »reputation, und gemeiner Stadt ruhm gereichen konne und muege«1827. Der Titel eines ›Direktors der Instrumentalmusik‹ war offenbar bis ins 18. Jahrhundert hinein in Stralsund im Gebrauch. Auch Conrad Diem wurde nach seinem Bestallungsdokument von 1690 als »Directori der instrumental Musik« angenommen1828. Den Titel eines Musikdirektors trugen seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts im Übrigen auch die Stralsunder Kantoren1829, die im Unterschied zum Kunstpfeifer nicht nur der instrumentalen, sondern der gesamten vokalen und instrumentalen Kirchenmusik vorstanden und in dieser Funktion dem Kunstpfeifer übergeordnet waren.
3.2.2 Ausbildung Die Festanstellung als Instrumentalist am Hofe, beim Militär oder in der Stadt sowie die Aufnahme in einen Berufsverband setzten eine zunft- und kunstmäßige Ausbildung voraus. Sowohl der städtische Kunstpfeifer, der Kure als auch die Zunftmusikanten hatten den gleichen Ausbildungsweg zu absolvieren, der an dieser Stelle exemplarisch nachgezeichnet werden soll. Die Ausbildung zum Instrumentalmusiker verlief in Anlehnung an die zunftmäßige Handwerkslehre und bestand aus Lehr- und Gesellenzeit1830. 1653 bestätigte der deutsche Kaiser die von Musikern des Ober- und Niedersächsischen Reichskreises aufgestellten sogenannten Sächsischen Musikantenartikel1831, die der Distanzierung vom Pfuschertum dienten und Richtlinien für die instrumentale Ausbildung und das Gesellenwesen boten. Auch das in schwedischer Hand befindliche Pommern zählte zu dieser Zeit zum Obersächsischen Reichskreis1832. Zwar waren an der Aufstellung der sächsischen Artikel keine pommerschen Musiker beteiligt, dennoch ist zu vermuten, dass man sich auch hier an diesen Richtlinien orientierte. Den Quellen zufolge waren die Stralsunder Musiker über die Verhältnisse in anderen Regionen durchaus informiert1833. 1827 Dieses Zitat stammt allerdings nicht aus Stralsund, sondern aus der Bestallungsurkunde Balthasar Kirchhofs, der 1623 erster städtischer Musikdirektor in Rostock wurde. Zit. nach Daebeler (1966), S. 61. 1828 Vgl. S. 312. 1829 Vgl. dazu S. 96f. 1830 Vgl. zur Ausbildung der Stadtmusikanten Werner (1932/1979), S. 208–212, sowie Soll (2006), S. 264–290. 1831 Vgl. Wustmann (1908), S. 110f. (§ 11). 1832 Der Obersächsische Reichskreis umfasste seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts bis 1806 Territorien in Mittel- und Nordostdeutschland, darunter auch Pommern. Der Zusammenschluss diente dazu, gemeinsame Angelegenheiten der beteiligten Reichsstände zu koordinieren. 1833 Vgl. etwa StAS Rep 3-4747 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1717–1738 [23.10.1717/25.10.1717]: In einem Schreiben an den Stralsunder Rat äußerte sich der Stadtmusiker Philipp Brüseke
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Die Entscheidung zum Musikerberuf basierte zumeist auf familiären Traditionen1834. Voraussetzungen waren eine eheliche Geburt sowie ein christlicher Lebenswandel1835; die Schulbildung war weniger bedeutend1836. Ergriff der Sohn den Beruf des Vaters, hatte das mehrere Vorteile: So war er seit frühester Kindheit mit den Geschäften vertraut und hatte vielleicht eine erste musikalische Ausbildung bereits im Elternhaus erhalten. Außerdem konnte er vielleicht auch auf das Instrumentarium seines Vaters zurückgreifen, wie es sich etwa für den Stralsunder Kunstpfeifer Andreas Depensee nachweisen lässt. Sein Vater Jonas – Stralsunder Spielmann bzw. Kunstpfeifer – empfahl seinen Sohn 1607 für das Amt des Stettiner Stadtmusikers und stellte ihm eine beeindruckende Vielzahl an Instrumenten – offenbar aus seinem privaten Besitz – für das Probespiel zur Verfügung: »die instrumente die ich ihme mitgebe kan er Godt lob alle gebrauchen, posaunen und zinken dar bei eine gute quart posaune zum 2 ein stimmwerck dulcian zum dritten ein stimmwerck große und kleine bomhart zum vierten ein stimmwerck grobe zinken zum fünften ein stimmwerck krumphörner zum sechsten ein stimmwerck querpfeiffer, zum siebeden ein stimmwerck flöten zum achten ein stimmwerck geigen, das er mit achterley ahrt stimmen der instrument verendern kan und gebrauchen quin(que) und Sex uocum oder octo uocum.«1837
Häufig wurde das Instrumentarium in Musikerfamilien von Generation zu Generation weitervererbt. Neben den Depensees sind in erster Linie die Familien Malchow, Hoyoul, Diem oder Brüseke zu nennen, die mit mehreren Mitgliedern und Generationen in der Stralsunder Stadtmusik vertreten waren. Die Quellen über die Ausbildung von Stralsunder Stadtmusikern sind dürftig. Lehrverträge und Freisprechungszeugnisse sind nicht überliefert. Einige wenige Informationen zur Gesellenzeit der Musiker liegen in Bewerbungsschreiben aus dem frühen 18. Jahrhundert vor, betreffen aber ausschließlich Anwärter auf die Stralsunder Musikantenzunft1838.
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1717 beispielsweise über die in Deutschland üblichen Kündigungsmodalitäten in der Ratsmusik. Werner (1932/1979), S. 208. In § 11 der Sächsischen Musikantenartikel heißt es, dass »die jenigen, so zu Begreiffung der Musicalischen Kunst auffgedinget werden, sollen nicht allein von ehrlicher Geburt seyn, sondern auch für sich selbsten nichts verbrochen haben«, vgl. Wustmann (1908), S. 110f. (§ 11). Werner (1932/1979), S. 209. Zit. nach Engel (1932/33), S. 8f. Auch die Zunftmusiker hatten eine kunstmäßige musikalische Ausbildung zu absolvieren. Vgl. die Bewerbungsschreiben in StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706– 1716, außerdem S. 341–343.
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Gänzlich undokumentiert bleibt die Lehrzeit, die der Musiker im Hause seines Meisters verbrachte. Nicht einmal die Namen der immerhin über mehrere Jahre angestellten Lehrjungen erscheinen in den Quellen1839. Den Sächsischen Musikantenartikeln von 1653 zufolge hatte die musikalische Lehrzeit wenigstens fünf Jahre zu betragen1840. Offenbar hatte sich diese innerhalb einiger Jahrzehnte deutlich verlängert, da Werner noch von lediglich ein bis zwei Jahren am Beginn des 17. Jahrhunderts berichtet1841. Während seiner Lehrzeit sollte der Auszubildende »auff vielen Instrumenten, theils pneumaticis, teils pulsatilibus, unterwiesen«1842, aber auch »zu einem christlichen und sittsamen Menschen geformt« werden1843. Zu den im Zitat genannten Instrumentengruppen zählen – analog zu den von Depensee oben genannten – einerseits Blasinstrumente (›instrumenta pneumatica‹), wie etwa Flöten, Krummhörner, Schalmeien, Zinken, Dulziane oder Posaunen, andererseits geschlagene Instrumente (›instrumenta pulsatilia‹), worunter vermutlich sowohl Tasten- (Clavichord, Orgel) als auch Saiten- (Lauten, Gitarren, Geigen)1844 und Schlaginstrumente (Schlagwerk) zu verstehen sind1845. Entsprechend vielfältig erscheint das instrumentale Können Andreas Depensees, das sein Vater mit den folgenden Worten beschreibt: »Was nun mein sohn anlanget und seine Kunst die er mit allem fleiß gestudiret und gelernt hat, auff allerley musikalischen instrumenten, erstlich ist er ein guter trumpeter, zum anderen ein guter zinckenbläser, zum dritten geiget er einen guten discant, pfeiffet eine gute querpfeiffe, auff dulcian, auff der quart posaune tenor und alt posaune, in summa auf allerley instrumenten gar parfect doch ohne ruhm zu melden, wie man saget: eigenlob stincket, aber er kan es beweisen, darauf stehet alles, was die ohren hören, die augen sehen, die bezeugen das werck.«1846
1839 Dabei stellt die Stralsunder Quellenlage keine Ausnahme dar: »Die eigentliche Lehrzeit bleibt im häuslichen Dunkel des Lehrherren«, stellt auch Soll (2006, S. 269) für die Herzogtümer Schleswig und Holstein fest. 1840 »[…] so soll kein Lehrknabe unter Fünff Jahren frey gesprochen [...] werden«, vgl. Wustmann (1908), S. 111 (§ 12). Johan Landman aus Neubrandenburg gab 1711 bei seiner Bewerbung um die Aufnahme in die Stralsunder Zunft an, sechs Jahre bei Jochim Heidemann als »Musicus instrumentalis« gelernt zu haben. StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [21.2.1711/28.2.1711]. 1841 Werner (1932/1979), S. 209. 1842 Wustmann (1908), S. 111 (§ 12). 1843 Soll (2006), S. 271. Als Grundlage einer erfolgreichen beruflichen Zukunft hatte der Meister dem Auszubildenden als Anwärter auf ein öffentliches musikalisches Amt u. a. tadelloses Verhalten während der Lehrzeit zu attestieren. Vgl. ebd., S. 278. 1844 Dass die Instrumentensystematik hier nicht ganz schlüssig ist, weil Tasteninstrumente natürlich zugleich auch Saiteninstrumente sein können, sei nur am Rande vermerkt. 1845 Soll (2006), S. 403: »Man kann wohl sagen, daß ein Stadtmusikant prinzipiell jedes Instrument zu spielen vermochte – die Orgel eingeschlossen.« 1846 Zit. nach Engel (1932/33), S. 8.
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Am Ende der Lehrzeit sprach der Meister seinen Lehrling zum Gesellen frei. Dieser begab sich nun auf Wanderschaft, um seine musikalischen Fähig- und Fertigkeiten bei anderen Meistern auszubauen, zu vervollkommnen und später im besten Falle selbst eine Meisterstelle zu besetzen. Mitunter blieben die freigesprochenen Gesellen noch einige Zeit in den Diensten ihres Meisters, der sie im Verlauf der Jahre gut kennen- und vielleicht auch schätzen gelernt hatte1847. Mit dem zweiten Teil seiner Instrumentalwerke (Ander Theil Darinnen begriffen etliche CAPRICCI, CANZONI vnd SONATEN, Rostock 1641) hat Johann Vierdanck vermutlich in erster Linie Übungsliteratur für die Stralsunder Instrumentalisten bereitgestellt. Vor allem die ersten sechs bzw. 14 Capricci der Sammlung, »welche keinen [General-]Bass haben« (Nr. 1–6 für zwei Zinken/Violinen; Nr. 7–14 für drei Zinken/ Violinen), seien »von keiner sondern importantz, also auch nicht vor geübte Meisters, sondern meisten theils nur zur Lust hierbey gesetzet […]/ ob etwa jungen Musicis die Zeit damit zuvertreiben«1848. Bei den übrigen 17 Stücken handelt es sich um verschiedene Instrumentalstücke: weitere Capricci (mit Generalbass), Canzoni und Sonaten in unterschiedlicher instrumentaler Besetzung – von zwei Instrumentalstimmen mit Generalbass bis hin zur Sonata 31 über das Lied »Als ich einmal Lust bekam« für zwei Zinken, drei Posaunen und Basso continuo1849.
3.2.3 Anstellung Oberster Dienstherr der städtisch angestellten Musiker war der Stralsunder Rat, der die vertragliche Grundlage ihrer Anstellung lieferte und ihnen ein festgelegtes Grundgehalt garantierte. Offiziell beaufsichtigt wurde die Stralsunder Stadtmusik von den sogenannten Weinherren bzw. der Polizeibehörde1850, die über die Einhaltung der städtischen Ordnungen u. a. bei privaten Feierlichkeiten wachten. Sie hatten Vergehen an den Rat zu melden und die Verhältnisse im Falle von Streitigkeiten zu überprüfen1851. 1847 Vgl. die Biographie Heinrich Mohts auf S. 327f. 1848 Vgl. die Vorrede Vierdancks An den Music Liebhabenden Leser im zweiten Teil seiner Instrumentalwerke von 1641. Vierdanck/Lubenow (1994/95). 1849 Im Verlag MVSICHE VARIE (Martin Lubenow) ist 1994/95 eine Neuausgabe der Werke erschienen. 1850 Siehe S. 35f. Auch in Hamburg unterstanden die Musiker dem Polizeigericht. Vgl. Krüger (1933), S. 186. 1851 In der Stralsunder Instruction der deputirten zur Weinkammer von 1612 heißt es: »9. Als auch viell vnderschleiffes wieder die hochzeitt Ordnung eingerißenn, vnnd hoch nötigk, das Jemandts verordnet werde, So vff die Vorbrecher Jtziger Ordnung vnnd dero So hinkünfftigk konte gemacht vnnd beliebet werdenn, gute vffsicht habe, vnnd denselben anzeige, Sollen die Spielleute wie vils hochzeitten gehallten vnnd wie viell Schüsseln sie in einer Jedenn an gelde empfangen, denn Deputirten die straffen einhalt der ordnung abzufodern, bey Ihrem geleisteden Eide anzeigen«, StAS Rep 18-1283 Verwaltung des Ratsweinkellers 1612–1772 [15.10.1612].
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Ihre Aufgaben entsprachen somit denen des aus Lübeck bekannten ›Spielgrafenamtes‹1852. Wie für alle musikalischen Berufsstände üblich, hatten sich auch die Bewerber um ein Amt bei der Stralsunder Stadtmusik zunächst einem Probespiel zu stellen. Dieses fand vermutlich in Anwesenheit der übrigen städtischen Instrumentalisten sowie des Kantors und eines oder mehrerer Organisten statt. Welche Anforderungen dabei an die Bewerber etwa um das Amt des Stralsunder Kunstpfeifers gestellt wurden, lässt sich in Ermangelung von Quellen nicht näher ermitteln. Lediglich für Conrad Diem ist überliefert, dass die Stralsunder Ratsherren auf der Grundlage des Urteils von Kantor und Organist 1690 beschlossen, dass er wegen seiner »gutte Zeugnissen, seiner wissenschaft und Erfahrenheit in der Musica [...] zum Stadt Musico bestallet undt angenommen werden sollte«1853. Offenbar hatte Diem also nicht nur das Probespiel erfolgreich absolviert, sondern darüber hinaus wirkungsvolle Empfehlungsschreiben und vielleicht sogar eigene kleine Kompositionen vorgelegt. Während es zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch üblich war, wie etwa 1607 im Falle von Andreas Depensee, zu einem auswärtigen Probespiel Musiker aus der Heimatstadt mitzubringen, um mit diesen gemeinsam zu musizieren, lässt sich dies in der nachfolgenden Zeit nicht mehr beobachten1854. Vermutlich änderten sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts auch die an die Musiker gestellten instrumentalen Anforderungen in den Probespielen, zumindest was die Kirchenmusik betrifft. Erscheint das 1607 von Jonas Depensee aufgeführte Instrumentarium noch ungeheuer breit1855, standen um die Mitte des 17. Jahrhunderts vermutlich vor allem Streichinstrumente, Zinken, Posaunen sowie Generalbassinstrumente, wie etwa der Dulzian1856 oder die Harfe, im Mittelpunkt des Interesses1857. Nach einem erfolgreich beschiedenen Probespiel wurde der Bewerber vom Rat eingestellt, sofern keine negativen Zeugnisse zu seinem Lebenswandel vorlagen. Stralsunder Anstellungsdokumente liegen lediglich für die Kunstpfeifer Friedrich Schultz (1642)1858 und Conrad Diem (1690)1859 vor. Darin waren die Rechte und Pflichten 1852 Im Unterschied zu Stralsund wurde dieses Lübecker Amt bis 1642 allerdings nur an ausübende Musiker vergeben. Vgl. Hennings (1951), S. 20. In Hamburg war, ähnlich wie in Stralsund, mit dem ›Ratskuchenbäcker‹ ein Nichtmusiker mit der Aufsicht über die Stadtmusik betraut. Vgl. Greve (1998), Sp. 1721. 1853 StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [18.6.1690/9.7.1690]. 1854 Vgl. das Empfehlungsschreiben von Jonas Depensee für seinen Sohn aus dem Jahre 1607 bei Engel (1932/33), S. 8f. 1855 Vgl. S. 308. In der Kirchenmusik fanden diese Instrumente ihren Einsatz vor allem beim Colla-parte-Spiel. 1856 1633 wurde ein Dulzian von den Stralsunder Kirchen angeschafft. Vgl. S. 319. 1857 Vgl. dazu auch die Besetzungen von Vierdancks Instrumental- und Vokalwerken aus den Jahren 1637, 1641 und 1643 mit Violinen, Gamben, Zinken, Posaunen und Fagott/Dulzian. Siehe die Titel der Werke im Werkverzeichnis auf S. 395–397. 1858 Die Bestallung von Schultz ist bei Müller (1928), S. 23, überliefert. Siehe Dok. 17 im Anhang dieser Arbeit auf S. 378. 1859 StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [9.7.1690/8.4.1707].
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des Kunstpfeifers, die Höhe seiner Besoldung und weitere Zuwendungen festgelegt. Exemplarisch soll an dieser Stelle das Bestallungsdokument für den Kunstpfeifer Diem zitiert werden. Die Auswertung der darin enthaltenen Bestimmungen erfolgt an den entsprechenden Stellen in diesem Kapitel: Bestallung des Kunstpfeifers Conrad Diem (1690) 1. daß er zufoderst sich in allen stücken, wie einen rechtschaffenen Manne undt Directori der instrumental Musik competiret, trage: 2. Dan auch, daß er in den Kirchen, wo die Music hinverordnet selb fünfte mit Gesellen und über daß einen Jungen der Music beywohne und aufwarte. 3. Bey den Hochzeiten, soll er sich der Policey Ordnung gemäß bezeigen, undt darüber nichts fordern, auch bey dem Tantze, von niemanden vor den Vortanz etwaß heißschen, oder beym Tantze sonderlich wann geehrte Leüte, in Vortantze stünden die Music deßwegen verziehen, oder auffhalten. Würde ihm aber jemandt auß guten willen etwas verehren, soll ihme solches anzunehmen zwar nachgesehen werden, er vor allen dingen aber sich solcher vorsichtigkeit dabey gebrauchen, daß durch sein veruhrsachen des Vortanzens halber kein Streit oder uneinigkeit sich erhebe 4. Solte auf E. E. Raht wieder verordenen, daß nach alten gewohnheit von den Turm musiciret und geblasen werden solte, so soll er die alte gewöhnliche tage, auffzuwarten sich nicht entziehen 5. Vor seine auffwartung will ihm E. E. Raht Jährlich Sechs und Siebentzig Reichstahler 32 ßl und davon alle Quartale 19 Rthl. 8 ßl von gemeiner Stadt Kasten auch alle Michaelis 20 Rthl. zur Haußheuer bezahlen lassen und von allen bürgerlichen oneribus befreyen; zu dessen mehren uhrkund, wir diese bestallung untern unsern Insiegel außfertigen lassen Stralsund, 9. Juli 1690.
Während die Stralsunder Kuren vor ihrer städtischen Indienstnahme nicht selten zunächst in der musikalischen Zunft organisiert waren, lässt sich dieses im Falle der Kunstpfeifer nicht beobachten. Zu unterschiedlich waren vermutlich der soziale Status der Musiker sowie die musikalischen Anforderungen in den Ämtern. Zu beobachten ist allerdings, dass Stralsunder Kunstpfeifergesellen mitunter in das Amt ihres Meisters aufstiegen. So wurde Dieterich Hilmer Hoyoul, Kunstpfeifer von 1650 bis 1674 und Sohn des Kunstpfeifers Balduin Hoyoul, 1643 im Stralsunder Trauregister zunächst als Kunstpfeifergeselle bezeichnet1860. Auch sein Nachfolger Johann Conrad Diem war zunächst Kunstpfeifergeselle in Stralsund gewesen1861, bevor er in das Amt des Kunstpfeifers aufstieg. Gleiches ist für Andreas Depensee anzunehmen, der vor seiner Anstellung als Stralsunder Kunstpfeifer vermutlich zunächst Geselle bei seinem Vater war. 1860 Schubert (1987), Nr. 1135. 1861 StAS Rep 38-1539 Städtisches Ausgaberegister 1665 bis StAS Rep 38-1548/1 Städtisches Ausgaberegister 1674.
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3.2.4  Ausbildung von Lehrjungen und Gesellen Lehrjungen auszubilden gehörte zu den Pflichten und Rechten der städtisch bestallten Musiker und diente der Nachwuchs- und Qualitätssicherung. In einer 1637 von den Stralsunder Polizeiherren verabschiedeten Ordnung, die das Verhältnis zwischen Kunstpfeifer, Türmer und Zunft aufgrund andauernder Streitigkeiten neu zu regeln versuchte, wurde festgelegt, dass »durch diese Einigung des Kunstpfeiffers oder Cuhren von E. E. Rathe gegebenen sonderbahren bestallungen in nichtes praejudiciret, oder abgebrochen [...] und denselben allein Gesellen zu halten undt Jungen zu lernen erleübet sein [soll].«1862
Der Verordnung zufolge war es allein dem Kunstpfeifer und Kuren erlaubt, Lehrjungen auszubilden und Gesellen zu halten. Ihre Anzahl war beschränkt, um einem Überangebot an Musikern innerhalb der Stadt entgegenzuwirken, orientierte sich jedoch an den Bedürfnissen der musikalischen Praxis1863. Um eine vollstimmige Kirchenmusik bestellen zu können, durfte der Stralsunder Kunstpfeifer vier Gesellen und einen Jungen ausbilden. So heißt es in der Bestallungsurkunde Conrad Diems von 1690: »2. Dan auch, daß er in den Kirchen, wo die Music hinverordnet selb fünfte mit Gesellen und über daß einen Jungen der Music beywohne und aufwarte.«1864 Der Kunstpfeifer verfügte somit in der Regel über fünf weitere Musiker. Hinzu kamen zwischen 1641 und 1674 noch ein bzw. zwei zusätzlich angestellte ›Violisten‹, auf die später noch einmal zurückzukommen ist1865. Als Meister war der Stralsunder Kunstpfeifer – anders als in Rostock oder Hamburg – jedoch allein1866.
1862 StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [21.1.1637]. Vgl. Dok. 16 im Anhang auf S. 377. 1863 Greve (1998, Sp. 1723) verweist in diesem Zusammenhang auf Aspekte der Qualitätssicherung: »Um zu verhindern, daß ein Meister seinen musikalischen Verpflichtungen allein mit den billigen, aber die Instrumente noch nicht beherrschenden Lehrlingen nachkam und dadurch das Niveau der Musik sank, gestattete man keinem, mehr als drei Lehrjungen zur gleichen Zeit anzunehmen.« 1864 StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [9.7.1690/8.4.1707]. Auch in Hamburg waren fünf Ratsmusikanten zur sonntäglichen Kirchenmusik verpflichtet. Die Verteilung der Instrumente ergibt sich dabei aus einem Adjuvantenverzeichnis aus der Mitte des 17. Jahrhunderts: zwei Zinken/Violinen oder Flöten; eine Altposaune, Viole oder Flöte; eine Tenorposaune, Tenorgeige, Flöte; eine Quartposaune, Bassgeige, Choristfagott oder Dulzian. Vgl. Krüger (1933), S. 194f. 1865 Siehe S. 315–317. 1866 In Rostock waren seit 1623 fünf Ratsmusikanten bestellt; vier davon waren Meister. Vgl. Daebeler (1966), S. 61. In Hamburg gab es zu Beginn des 17. Jahrhunderts acht bestellte Ratsmusikanten. Vgl. Krüger (1933), S. 186.
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Seine Lehrjungen und Gesellen hatte er in seinem Hause unterzubringen und finanziell und leiblich zu versorgen1867. Der Stadt entstanden durch die Auszubildenden keine zusätzlichen Kosten. Mangelte es dem Kunstpfeifer oder dem Kuren an einem Gesellen, etwa für eine musikalische Aufführung, war es ihnen nach der Verordnung von 1637 gestattet, »unter den übrigen in der Compagnei [Zunft] eine taugliche Persohn auff eine Zeith anzunehmen undt zu gebrauchen«1868. Dabei ging es jedoch nicht um eine dauerhafte Anstellung, sondern um Aushilfsdienste, bis ein geeigneter Geselle gefunden war. Häufig jedoch nahmen sowohl der Stralsunder Kunstpfeifer als auch der Kure mehr Lehrjungen und Gesellen als gestattet an, was zu Protesten vor allem von Seiten der musikalischen Zunft führte. Da die Zunftmitglieder auf jede Aufwartungsmöglichkeit angewiesen waren, lag es vor allem in ihrem Interesse, die Anzahl der Ratsmusiker nicht unnötig zu vergrößern. 1707 etwa klagten sie dem Stralsunder Rat, dass der Kunstpfeifer Conrad Diem »itzo 3. Gesellen, seinen Schwesterman Gerhardt, undt 5. Jungen« halte und somit »9 biß 10 Persohnen in seinem hause alleine«1869 aufbringe. Dabei sahen sie vor allem ihre Aufwartungsmöglichkeiten gefährdet, da Diem somit »auff einen tag 9. undt mehrere hochzeiten [...] abwarten«1870 könne. Wenngleich Diem die Anzahl des gestatteten Personals deutlich überschritten hatte, wies er den Vorwurf dennoch zurück und erklärte, »die andern beyde Jungens müssen erst zugelernet und können in etlichen Jahren noch nicht gebrauchet werden«1871. Außerdem verwies er auf musikalische Zwänge, die ihm durch die Unzulänglichkeit der Zunftmusiker1872 sowie durch seine Verpflichtung zum Turmblasen auferlegt waren: »wann mir das [...] von E. E. Hw. Rahte reservirte Abblasen vom Thurm anbefohlen werden solte, müsste Ich nohtwendig mehr halten«1873. Für Diem selbst war es sicher bequem, eine große Anzahl Lehrjungen in seinem Hause zu halten, die sich sowohl im Haus des Meisters als auch 1867 Offenbar war es den Gesellen dabei freigestellt, am Tisch des Meisters zu speisen oder aber sich selbst um ihr leibliches Wohl zu bemühen. 1704 heißt es in einem Bericht der Polizeikammer wegen Streitigkeiten um Lohngelder, es sei »so zu halten, wie es schon zu Zeiten Diedrich Hoyouls und Conrad Diemes Vater gehalten wurde, dass der Geselle, der sich selber speist vom Rd [Reichstaler] 9 lschl [Lübschilling] und dem, der bei ihm im Haus gespeist wird, vom Rd 6 lschl gegeben werden.« StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [16.2.1704]. 1868 StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [21.1.1637]. 1869 StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [25.7.1707/27.7.1707]. 1870 Ebd. 1871 Ebd. [13.8.1707]. Werner (1932/1979, S. 208) zufolge war in den Stadtpfeifereien bis 1750 gewöhnlich nicht mehr als ein Lehrjunge anzutreffen. In größeren Städten konnten es maximal drei Lehrjungen sein, wie auch in den Sächsischen Musikantenartikeln festgelegt ist: dass es »keinem Lehrmeister gestattet [...] seyn [soll], mehr dann drey Knaben auff einmal in seine Information und Lehre auffzunehmen.« Zit. nach Wustmann (1908), S. 113 (§ 21). Diem hatte somit das übliche Maß bei Weitem überschritten. 1872 StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706-1716 [13.8.1707]. 1873 Ebd.
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bei der Musik zu unterschiedlichsten Dienstleistungen heranziehen ließen1874 und verglichen mit den Gesellen sicher das kostengünstigere Personal darstellten. Der Ausgang der Streitigkeiten zwischen dem Kunstpfeifer Diem und den Zunftmusikanten blieb undokumentiert.
3.2.5  Kunstpfeifergesellen und ›Violisten‹ Nur wenige Stralsunder Kunstpfeifergesellen lassen sich namentlich identifizieren. Da die Gesellen im Haus ihres Meisters wohnten, der sich in der Regel allein darum bemühte, dass die Reglements musikalischer Aufwartung eingehalten wurden, begegnen ihre Namen im Schriftverkehr mit Rat und Polizeikammer nur selten. Auch in den Bürgerbüchern und Ausgaberegistern sind sie nicht verzeichnet, da sie zum Bürgerrechtserwerb nicht verpflichtet waren und durch ihren Meister besoldet wurden. Dennoch gehörten die Kunstpfeifergesellen zu den Trägern städtischer und kirchlicher Instrumentalmusik in Stralsund. Anders als in Rostock oder Hamburg, wo vier bzw. acht musikalische Meister mit ihren Gesellen im städtischen Musikleben agierten und konkurrierten, war es in Stralsund lediglich einer. Zu den bekanntesten Stralsunder Kunstpfeifergesellen zählte vermutlich Nikolaus Petersen, der nach »Wanderjahren in Norwegen, Livland und Finnland«1875 nach Stralsund gelangte. Er war der Sohn von Hinrich Petersen, der in »Kgl. dänischen, der fürstl. mecklenburgischen und anderer vornehmer Herren und Potentaten Dienst als Kapellmeister tätig gewesen war«1876 und 1653 Ratsmusiker in Lübeck wurde. Auch Nikolaus Petersen zog 1679 von Stralsund nach Lübeck und bewarb sich dort 1682 – allerdings wohl erfolglos – um den Ratspfeiferdienst. 1687 bemühte er sich als inzwischen »Fürstlich Wolfenbüttelscher Hofmusikant« um das Amt des Stadtmusikanten in Lüneburg und hatte dieses bis 1710 inne1877. Wann genau Petersen Kunstpfeifergeselle in Stralsund wurde, ist unbekannt. Ein im Stralsunder Stadtarchiv befindliches undatiertes Schreiben1878 dokumentiert einen 1874 Mehrfach bezeugen lassen sich die Dienste der Lehrjungen beim Instrumententransport. So durften die Musiker dafür einen Lehrjungen bei Hochzeiten mitführen. Vgl. die Stralsunder Hochzeitsordnung von 1570 bei Zober (1866), S. 167. 1713 beschwerte sich Gerhardt Friese, Geselle des Kunstpfeifers Philipp Brüseke, über seinen Meister, der die »Violine« ohne Futteral habe transportieren lassen. Brüseke erklärte daraufhin, dass er die »Violin« (vielleicht eine Bassgambe?) nicht im Futteral habe holen lassen, da sie den Jungen zu schwer gewesen sei. StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [16.12.1713]. 1875 Zit. nach Hennings (1951), S. 100. 1876 Zit. nach ebd. 1877 Walter (1967), S. 176, 304. 1878 StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [Beschwerde des Kunstpfeifers]. In dem Dokument werden neben Petersen auch Nikolaus Korth, Jeremias Rühe und Friedrich Muht als Musiker genannt, über die sich jedoch keine weiteren Informationen finden lassen.
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Streit zwischen Petersen und dem namentlich nicht genannten Stralsunder Kunstpfeifer, in dessen Folge Petersen von den kirchenmusikalischen Aufführungen ausgeschlossen wurde1879 und schließlich seinen Dienst quittierte1880. Da Petersen Stralsund 1679 verließ, fielen die Auseinandersetzungen offenbar in das letzte Drittel des 17. Jahrhunderts und damit in die Amtszeit des Stralsunder Kunstpfeifers Johann Conrad Diem. Seit 1641 waren in Stralsund zusätzlich zwei sogenannte Violisten angestellt1881. Obwohl sie im städtischen Ausgaberegister als »Kunstpfeifergesellen« verzeichnet waren, erhielten sie im Unterschied zu diesen ein eigenständiges, quartaliter gezahltes Gehalt1882. Während sich zwischen 1641 und 1645 noch zwei zusätzlich bestellte Musiker nachweisen lassen, ist ab 1646 mit Magnus Keddel nur noch ein Stralsunder Violist verzeichnet. 1665 übernahm Johann Conrad Diem diese Stellung, jedoch nicht mehr als Violist, sondern als Harfenist1883. Ab 1675 – als Diem Kunstpfeifer wurde – gibt es in den städtischen Ausgaberegistern keinen Hinweis auf zusätzliche Musiker mehr. Vielleicht hatte man diese aufgrund der schlechten Finanzsituation der Stadt nunmehr eingespart. Dennoch bemühte sich 1693 Gerhard Friese, Schwager des amtierenden Kunstpfeifers Conrad Diem, beim Stralsunder Rat um eine Anstellung als Violist: »[…] von undenklichen Jahren her, der gebrauch gewesen, das entwed zwey od gewiß ein alhir wohnender Violist sich aufgehalten, so mit vnd bey dem Kunstpfeiffer [...] gelebet:/ in denen Kirchen und auf Hochzeiten aufgewartet.«1884 1879 »Weiter berichte ich Das mihr der hl Magister Boldewin hat gesagt er begert Nicolaus Peterßen nicht mehr vor sein beihtkindt und wehre auch nicht wert das er sollte in der Kürchen aufwarten den er müssten frohm leute sein die gott zu lob sollten in der kürche spielen und nicht solche die so ein liederlich leben fürten wie er dießer Nicolauß«, ebd. 1880 »[…] und er hat auch seinen abschiedt selbst genömen, dan er sagt er wollte lieber ein schelm sein ehr er wollte einen Strich mit mir thun«, ebd. 1881 Auf die Anstellung von Kunstgeigern und anderen Instrumentalisten in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts verweist auch Werner (1932/1979, S. 250f.). 1882 Ihre Besoldung betrug jeweils 100 MS jährlich, was 1641 einem Sechstel des Kunstpfeifergehalts entsprach. Dieser hatte jedoch von seinen Einkünften auch für die in seinem Haus lebenden Gesellen und Lehrjungen aufzukommen. StAS Rep 38-1520 Städtisches Ausgaberegister 1641, fol. 31. 1883 Ebd. bis StAS Rep 38-1548/1 Städtisches Ausgaberegister 1674. 1884 StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [16.10.1693/17.10.1693]. Friese hatte die Tochter des verstorbenen Kunstpfeifers Johann Conrad Diem geheiratet. Von seinem Schwiegervater war ihm eine Anstellung als Violist versprochen worden, die durch den Tod des Kunstpfeifers aber nicht mehr zustande kam. Offenbar erhielt Friese jedoch eine Anstellung beim neuen Kunstpfeifer, seinem Schwager Conrad Diem. Musikalisch war er dort noch 1717 beschäftigt. Philipp Brüseke, auf den das Amt inzwischen übergegangen war, beklagte sich über das musikalische Unvermögen Frieses als Geiger, das vor allem bei der Aufwartung in der Kirche nicht zu vertreten sei. Er empfahl ihm, sich anderswo um eine Anstellung zu bemühen »oder allhie unter den Zunfft Brüdern, wovon einer mangelt, employret zu werden suchen«. StAS Rep 3-4747 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1717–1738 [23.10.1717/25.10.1717].
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Offenbar war Frieses Gesuch erfolgreich. Wie die übrigen Gesellen des Kunstpfeifers wohnten wohl auch die Violisten beim Meister und hatten sich an den üblichen, im Folgenden noch näher zu beleuchtenden musikalischen Diensten zu beteiligen. Durch ihr separates Gehalt, das ihnen finanzielle Unabhängigkeit vom Meister gewährte, waren sie den anderen Gesellen des Kunstpfeifers in ihrem Status übergeordnet. Mit einer generell benötigten größeren Anzahl an Musikern um die Mitte des 17. Jahrhunderts lässt sich die zusätzliche Anstellung von Instrumentalisten in Stralsund wohl kaum begründen. Mit den Mitgliedern der musikalischen Zunft und dem Personal des Kunstpfeifers und Kuren standen sicher ausreichend viele Musiker zur Verfügung. Nicht ganz außer Acht zu lassen ist hierbei jedoch der Wettbewerbsgedanke, den Werner anführt (»weil Wettbewerb ohne Zweifel zu höheren Leistungen anspornt«1885). Vermutlich verlangte das musikalische Repertoire neuen Stils mit anspruchsvollen instrumentalidiomatischen Partien auch in Stralsund nun qualifizierte und spezialisierte Instrumentalmusiker, die in der Lage waren, die Musik angemessen umzusetzen. Dass man in diesem Zusammenhang Violisten anstellte, die vermutlich sowohl die Violine als auch die Gambe bedienen konnten, ist in der zunehmenden Bedeutung der Streichinstrumente zu dieser Zeit begründet. Vermutlich ist es dabei kein Zufall, dass der Marienorganist Johann Vierdanck den ersten Teil seiner Geistlichen Konzerte sowie den zweiten Teil seiner Sammlung von Instrumentalwerken im Jahre 1641 veröffentlichte. In eben diesem Jahr lässt sich erstmals die Anstellung der Violisten Magnus Keddel und Hans Ludewig nachweisen. Streicherbesetzungen in den Instrumentalparts – oftmals nach italienischem Trioprinzip mit zwei (Violin-)Oberstimmen über einem Generalbass – sind für beide Veröffentlichungen kennzeichnend. Vielleicht hatte sich Vierdanck selbst beim Stralsunder Rat um die zusätzliche Anstellung kompetenter Streicher für die Aufführung seiner Werke bemüht. Folgende Stralsunder Kunstgeiger sind anhand der städtischen Ausgaberegister nachzuweisen1886: Amtszeit 1641–1664 1641–1642 1642–1645 1665–1674 1693–(nach?) 1717
Name Magnus Keddel († 1664) Hans Ludewig († 1642) Adrian Schultz († 1645)1887 Johann Conrad Diem – Harfenist († 1690) Gerhard Friese
Tabelle 26: Kunstgeiger1887 1885 Werner (1932/1979), S. 250. Allerdings lassen sich die Stralsunder Violisten wohl kaum als eigenständige Gruppe im Wettbewerb mit der städtischen Instrumentalmusik bezeichnen, wie Köhler (1997, S. 115) und Schering (1926, S. 257ff.) es für Stettin bzw. Leipzig feststellen. 1886 Vgl. StAS Rep 38-1520 Städtisches Ausgaberegister 1641 bis StAS Rep 38-1548/1 Städtisches Ausgaberegister 1674. 1887 Adrian Schultz war der Sohn des Stralsunder Kunstpfeifers Friedrich Schultz.
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3.2.6  Musikalische Aufwartung 3.2.6.1 Kirchenmusik Die Dienstpflichten des Kunstpfeifers bestanden, wie die zitierte Bestallungsurkunde von Diem zeigt, in der musikalischen Aufwartung in der Kirche, bei Hochzeiten und auf dem Turm zu besonderen Gelegenheiten1888. Schon seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts wirkten die Stralsunder Instrumentalisten bei der Kirchenmusik mit1889. Da die figuralen Festmusiken mit instrumentaler Beteiligung hauptsächlich an den Sonn-, Fest- und Feiertagen stattfanden, wurden die übrigen musikalischen Geschäfte des Kunstpfeifers durch den Kirchendienst kaum beeinträchtigt. Während die Instrumentalisten noch bis in das 17. Jahrhundert hinein zunächst lediglich »kore«1890 bzw. ›colla parte‹ spielten, d. h. gemeinsam mit den Gesangsstimmen des Schülerchores musizierten, um diese zu unterstützen bzw. zu ersetzen1891, änderten sich ihre Aufgaben mit dem musikalischen Stilwandel im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts. In den Mittelpunkt traten zumeist kleinbesetzte geistliche Konzerte oder Kantaten, die neben einem Generalbass auch über eigenständige Instrumentalparts verfügten. Der Übergang vom alten zum neuen musikalischen Stil wird in Stralsund durch die Werke von Caspar Movius aus den 1630er- bzw. 1640er-Jahren anschaulich dokumentiert1892. Eigenständige Instrumentalparts sind in den schon erwähnten, kurze Zeit später entstandenen Geistlichen Konzerten von Johann Vierdanck (1641/1643) enthalten. Dabei erscheint sowohl die Anzahl als auch die Vielfalt der geforderten Instrumente vom ersten zum zweiten Teil der Konzerte deutlich erweitert. Während es sich im ersten Teil hauptsächlich um reine Vokalkonzerte ohne obligate Instrumente handelt und nur einige der Konzerte zusätzlich zwei Instrumentalstimmen (zumeist Violinen) fordern, sind in den Konzerten des zweiten Teils bis zu fünf Instrumente vorgesehen. Allerdings hatte Vierdanck den zweiten Teil seiner Konzerte den Lübecker Bürgermeistern – vermutlich in der Hoffnung auf eine Anstellung – gewidmet1893 und somit vielleicht eher die Lübecker als die Stralsunder Verhältnisse im Blick. Sicher führte die Anstellung der beiden Violisten 1641 zu qualitativen Verbesserungen in der Stralsunder Instrumentalmusik. 1664 erschien Johann Martin Ruberts Musicalische Seelen Erquickung, eine Sammlung von zwölf geistlichen Konzerten. Wie schon bei Vierdanck sind auch bei Rubert die Instrumentalstimmen vorrangig mit den in Norddeutschland zu dieser Zeit beliebten Streichinstrumenten (Violinen, Gamben) besetzt. Blasinstrumente – wie Zinken und Posaunen – spielen hier nur eine untergeordnete Rolle. Beide Organisten schrieben in ihren Konzerten nicht mehr als fünf bzw. 1888 Vgl. zum Turmdienst die Ausführungen zum Kuren auf S. 335f. 1889 Auch in den anderen norddeutschen Hansestädten ist dies nicht wesentlich früher feststellbar: Lübeck 1539, Hamburg 1548, Danzig 1552. Vgl. Greve (1998), Sp. 1725. 1890 Vgl. S. 292. 1891 Vgl. zum figuralen Repertoire im 16. und frühen 17. Jahrhundert S. 155–159. 1892 Siehe das Werkverzeichnis von Movius im Anhang auf S. 388f. 1893 Siehe S. 213, Anm. 1271.
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sechs Instrumentalstimmen vor und reagierten damit vielleicht auch auf die Stralsunder Praxis. So wartete der Stralsunder Kunstpfeifer üblicherweise »in den Kirchen [...] selb fünfte mit Gesellen und über daß einen Jungen« auf1894. Geleitet wurde die Stralsunder Kirchenmusik offenbar bis zum Ende des 17. Jahrhunderts vom Kantor, der als Musikdirektor für die Figuralmusik in allen Kirchen der Stadt zuständig war. Neben der von ihm geleiteten Chormusik gab es die ›Musik auf der Orgel‹, die vom Organisten und weiteren Instrumentalisten ausgeführt wurde. Der Stralsunder Kunstpfeifer Friedrich Schultz hatte beispielsweise laut seiner Bestallungsurkunde (1642) »in der Kirche bey der vocalmusik oder auf der Orgell [...] der Ordenung gemeß auf[zu]warten«1895. Ähnliches berichtet Edler für die Beteiligung von Instrumentalmusikern in Hamburg, Lübeck und Schleswig-Holstein1896. Während dort allerdings »der Organist als ›Regent‹ des Orgelbereiches [zumeist] der Initiator solcher Musiken« war1897, spielten die Stralsunder Instrumentalisten auch auf der Orgel an den drei Hauptkirchen offenbar zumeist unter der Leitung des Kantors. So heißt es noch 1701 im Ablaufplan des Gottesdienstes zur Institution des Superintendenten Schröder: »auff der Orgel musicirt der Cantor«1898. Dennoch ist es vorstellbar, dass auch die Stralsunder Organisten figurale Musiken mit instrumentaler Beteiligung – vielleicht die Aufführungen ihrer eigenen Werke bei Abwesenheit des Kantors – initiierten und leiteten. Bereits berichtet wurde über die Angabe von Prost, wonach die Stralsunder Ratsmusikanten an Festtagen sowohl in den Gottesdiensten von St. Nikolai als auch von St. Marien musizierten1899. Auf die konzertante Musizierpraxis unter Beteiligung von Instrumentalisten reagierte man 1660 an St. Marien mit dem Bau von Musikemporen im Mittelschiff der Kirche1900. Außerdem kauften die Stralsunder Kirchen bereits 1633 gemeinsam einen Dulzian für 24 Gulden (= 72 MS), »so dem Kunstpfeiffer zu gut ist [...] Vnd bey allen dreyen Kirchen Wan Musicieret soll immer gebrauchet werden«1901. Auch dieser Instrumentenkauf ist als Indiz für die umschichtige Figuralmusik unter Beteiligung 1894 Vgl. StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [Bestallung Diems vom 9.7.1690]. Dies war allerdings nicht nur in Stralsund üblich. Vgl. auch Krüger (1933, S. 194f.) zu Hamburg. 1895 Zit. nach Müller (1928), S. 23. Vgl. Dok. 17 im Anhang auf S. 378. 1896 Edler (1982), S. 51. 1897 Ebd. 1898 StAS Rep 28-181 Acta Ministerii Sundensis. Vocation, Ordination und Institution der Prediger von 1598 bis 1762 [10.5.1701]. Vgl. dazu auch S. 151. 1899 Siehe S. 247. 1900 Vgl. Rost (2006), S. 9. 1901 AStJ N 6 Bänke- und Totenregister, o. S. Auch im Ausgaberegister der Nikolaikirche findet sich ein entsprechender Eintrag: »4.11.[1633] ist bey den 3 Kirchen ein dulcian gekauft, dazu St. Niclaus Kirchen geleget 8 fl«, AStN R 19/N 6 Paetzken Register 1613–1654, fol. 52v. Der Preis für den Dulzian entspricht in etwa einem Viertel des im selben Jahr (1633) an den Kuren gezahlten Fixums von 300 MS. Für ein paar Schuhe bezahlte man zur selben Zeit zwischen 2 und 8 MS, für ein Kilogramm Butter zwischen 2 und 5 MS. Vgl. Biederstedt (2005), S. 81, 94, 140 und 185.
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der Stadtmusik in den drei Stralsunder Kirchen zu werten. Über weitere Instrumentenkäufe liegen kaum Nachrichten vor. Vermutlich hatten die Stralsunder Kunstpfeifer, wie allgemein üblich, ihr privates Instrumentarium zu verwenden. Lediglich 1653 wird im Ausgaberegister von St. Jakobi eine »große harffe«, eventuell eine chromatische Doppel- oder Tripelharfe, erwähnt, die »in dem Archiue verhanden«1902 war und bereits 1659 an den als Harfenist bezeichneten Johann Conrad Diem ausgehändigt wurde1903. Blasius Meyfisch Von 1650 bis 1653 befand sich mit dem Harfenisten Blasius Meyfisch neben dem Kunstpfeifer, den Violisten und Kuren ein weiterer Instrumentalist in städtischer Anstellung. Meyfisch wurde zu Ostern 1650 auf Verordnung des Stralsunder Rates angestellt1904. Da sich seine musikalischen Dienstleistungen jedoch auf die Kirchenmusik beschränkten, wurde er allein von den drei Stralsunder Hauptkirchen besoldet. Die Zahlungen an den Stralsunder Kunstpfeifer und seine Gesellen für ihre Aufwartungen bei der Kirchenmusik blieben davon unberührt. Für seine Aufwartungen erhielt Meyfisch jährlich 21 Gulden (= 63 MS), quartalsweise »von allen dreyen Kirchen« gezahlt1905. Die Zahlungen endeten mit dem Michaelisquartal 16531906. Über die Herkunft Meyfischs ist wenig bekannt1907. Nachweislich erteilte der Harfenist sowohl in Stralsund als auch am Wolgaster Hof Instrumentalunterricht. In diesem Zusammenhang ist ein Briefwechsel zwischen dem in Stralsund stationierten Oberst Otto Schulman und dem pommerschen Generalgouverneur Carl Gustav Wrangel aus den Jahren 1650 und 1651 überliefert1908. Den Briefen zufolge unterrichtete Meyfisch 1902 StAS Rep 28-883 St. Jakobi Ausgaberegister, 5. Register, fol. 182. 1903 StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [8.8.1659]. Diem erhielt erst nach dem Tode Keddels 1665 die Stelle des Violisten beim Kunstpfeifer. Allerdings war er nicht Violist, sondern Harfenist. Die im städtischen Besitz befindliche Harfe hatte man ihm offenbar bereits zuvor ausgehändigt. Vermutlich musizierte Diem damit ohne feste Anstellung gelegentlich im Rahmen der Kirchenmusik. 1904 AStN KK [Bestallung Harfenist: S. Niclaus deß harpenisten Bestallung Ao 1650 auf Ostern, 1650]. Siehe Dok. 19 im Anhang auf S. 380. Der Harfenist wird hier nicht namentlich genannt. Sein Name lässt sich jedoch den Einträgen in den Rechnungsbüchern der Nikolaikirche in den Jahren 1650 bis 1654 entnehmen. Vgl. AStN R 19/N 6 Paetzken Register 1613–1654 und AStN R 33a Ausgaberegister 1629–1673. 1905 AStN R 19/N 6 Paetzken Register 1613–1654, fol. 91. 1906 AStN R 33a Ausgaberegister 1629–1673 [1653], o. S. 1907 Im 16. Jahrhundert lässt sich ein Geistlicher in Pommern nachweisen, der ebenfalls den bemerkenswerten Namen »Meifisch« trug. Leonhard Meifisch wurde 1560 in Stralsund begraben, war bis 1535 Mönch in Eldena gewesen, stand in Kontakt zu Bugenhagen und Melanchthon und wurde 1537 zunächst Hofprediger in Wolgast und 1550/1558 Pastor bzw. Propst in Altenkirchen. Vgl. Berwinkel (2008), S. 199. 1908 S-Sr/RA, E 8472 (Skokl., CGW:s arkiv, skrivelser): (Oberst Otto Schulman an Wrangel, Stralsund 25.11.1650 und 27.3.1651). Ich danke Ivo Asmus (Greifswald) für diese Information und die Bereitstellung der Archivalien.
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den Obristen Borstorff, einen Angehörigen des Militärs, in Stralsund im Harfenspiel. Wrangel beabsichtigte, ihn darüber hinaus als Harfenlehrer für einen seiner »Diener« am Wolgaster Hof zu verpflichten. Ob und wie lange sich Meyfisch in den Diensten des pommerschen Generalgouverneurs befand, ist unbekannt. Er verließ Stralsund Ende 16531909. Zu den typischen Instrumenten der Stadtmusik zählte die Harfe sicher nicht, wenngleich sie für die neue ›Fundamentpraxis‹ als Generalbassinstrument beansprucht wurde1910. Harfenisten lassen sich im 16. und 17. Jahrhundert vor allem in höfischer Anstellung finden, wo sie vielseitig, u. a. auch solistisch eingesetzt wurden1911. Vielleicht hatte Meyfisch seine Dienste als reisender Harfenist in Stralsund angeboten. Auch in der Hamburger Kirchenmusik lassen sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts »neben den festbeamteten Instrumentalisten [...] fremde Musiker mit besonderen Fähigkeiten auf ihrem Instrument [u. a. Harfen]«1912 finden, die sich in der Regel als Solisten bei der Kirchenmusik hören ließen1913. Vielleicht jedoch war Meyfisch auch auf Initiative Wrangels in Stralsund angestellt worden. Bedarf für dieses Instrument hatte man offenbar: Nachdem Meyfisch Stralsund verlassen hatte, wurde mit Johann Conrad Diem wiederum ein Harfenist bestallt1914.
3.2.6.2 Hochzeiten Vermutlich den größten Teil seiner Einnahmen erzielte der Kunstpfeifer durch das Musizieren auf Hochzeiten. Das durch den städtischen Rat erteilte Musizierprivileg sprach ihm, wie anfangs erwähnt, alle Bürgerhochzeiten innerhalb des ersten Stands sowie die Hochzeiten innerhalb des zweiten und dritten Stands in allen vier Stadtquartieren nach Absprache mit dem Kuren zu. Bei den sogenannten fremden Hochzeiten lag es in der Hand der Brautleute, den Kunstpfeifer, Kuren oder die Zunftmusiker zu fordern1915.
1909 Vgl. zu den Beziehungen zwischen Carl Gustav Wrangel und dem Stralsunder Nikolaiorganisten Johann Martin Rubert auch S. 205f. 1910 Praetorius (1619/1964), Organographia, S. 7. 1911 Zum Beispiel bei Maskeraden, Balletten, Tafelmusik. Vgl. dazu Sowa-Winter/Zingel (1996), Sp. 78–80 und 85–88. 1912 Vgl. Krüger (1933), S. 198. Nachdem es sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts dabei in erster Linie um Violinisten, Lautenisten und Zinkenisten handelte, kamen um die Mitte des Jahrhunderts vorrangig Gambisten und auch Harfenisten in die Reichs- und Hansestadt. Ebd. 1913 Ebd. 1914 Den Gebrauch der Harfe bezeugt auch das Violone-Stimmbuch in Johann Martin Ruberts Musicalischer Seelen Erquickung (1664). Die Stimme konnte »auch zu einem ClaviCymbal, Harff/ Theorba oder Pandor« gebraucht werden. Vgl. auch Webber (1996), S. 181. 1915 Vgl. dazu die Übersichten auf S. 299.
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3.2.7  Materielle Verhältnisse Das Einkommen des Kunstpfeifers setzte sich aus dem quartaliter aus der Achtmannskammer1916 gezahlten Fixum, Zuwendungen von den Kirchen und den Einnahmen aus den Akzidentien zusammen. Außerdem erhielt der Ratsmusiker einen jährlichen Mietzuschuss oder eine freie Wohnung. Von den bürgerlichen Lasten und sonstigen Verpflichtungen war der Kunstpfeifer aufgrund seiner städtischen Anstellung befreit. Das festgelegte Jahresgehalt wurde zu Ostern, Johannis, Michaelis und Weihnachten üblicherweise in bar ausgezahlt. Die Stralsunder Kunstpfeifer erhielten folgende Festgehälter1917: Kunstpfeifer Andreas Depensee (vor) 1616–(nach) 1628 Andreas Güterkuh 1630 Balduin Hoyoul 1630–1639 Friedrich Schultz 1640–1650 Dietrich Hilmer Hoyoul 1650–1662 1663–1674 Johann Conrad Diem 1675–1690 Conrad Diem 1690–1710/11
Fixum 400 MS 400 MS1918 400 MS 600 MS 600 MS 400 MS 400 MS 400 MS (460 MS)1919
Tabelle 27: Jahresfixa der Kunstpfeifer1918,1919
Die Festgehälter der Stralsunder Kunstpfeifer blieben das gesamte 17. Jahrhundert hindurch erstaunlich stabil. Auf die allgemeine Entwicklung des Preis- und Lohnniveaus wurde bereits im Zusammenhang mit den materiellen Verhältnissen der Organisten hingewiesen. Eine Erhöhung des Fixums erfolgte lediglich beim Amtsantritt des Kunstpfeifers Friedrich Schultz im Jahre 1640. Unklar bleibt, ob diese Gehaltssteigerung aus den besonderen musikalischen Qualitäten von Schultz oder aber aus den zu dieser Zeit allgemein festzustellenden Lohnsteigerungen resultierte. Finanzielle Not bestand zu 1916 Siehe S. 33. 1917 Vgl. StAS Rep 38-1497 Städtisches Ausgaberegister 1616 bis Rep 38-1574 Städtisches Ausgaberegister 1701. 1918 Güterkuh übte das Amt allerdings nur interimistisch aus und wurde nur für zwei Quartale mit jeweils 100 MS bezahlt. 1919 Seiner Bestallungsurkunde von 1690 zufolge erhielt Diem jährlich 76 Rthl. und 32 ß (= 460 MS), den städtischen Ausgaberegistern nach wurden jedoch nur 400 MS an ihn ausgezahlt.
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dieser Zeit offenbar nicht: Auch die Anstellung der beiden Violisten, die mit 100 MS jährlich besoldet wurden, fällt in diese Zeit1920. Außerdem wurden die Organisten- und Kantorengehälter im Verlauf der 1630er-Jahre deutlich erhöht1921. Nachdem das Fixum des Kunstpfeifers 1663, noch während der Amtszeit von Dietrich Hilmer Hoyoul, aus nicht genannten Gründen wieder auf 400 MS reduziert worden war1922, blieb es bis zum Ende des 17. Jahrhunderts stabil. Verglichen mit den Stralsunder Kantoren und Organisten erhielten die Kunstpfeifer zumindest in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein recht ansehnliches Festgehalt, das mit 400 MS in den 1630er-Jahren immerhin zwei Dritteln des Organistengehalts an der Stralsunder Ratskirche St. Nikolai entsprach1923. Das ab 1640 an den Kunstpfeifer Schultz gezahlte Festgehalt von 600 MS entsprach sogar dem bis zum Ende des 17. Jahrhunderts gezahlten Stralsunder Kantorenfixum. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts blieb das wieder reduzierte Einkommen des Kunstpfeifers (400 MS) hinter den Gehältern des Kantors und der Organisten zurück. Der Kantor erhielt zu dieser Zeit weiterhin ein Fixum von 600 MS; die Organisten erhielten mit bis zu 900 MS jährlich deutlich mehr als der Kunstpfeifer1924. Bei diesem Vergleich darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass die Kantoren- und Organistengehälter den Amtsinhabern und ihren Familien allein zur Verfügung standen, während der Kunstpfeifer von seinem Einkommen nicht nur seine Familie, sondern auch die Gesellen und Lehrjungen zu unterhalten hatte. Auf der anderen Seite bestritten die städtischen Instrumentalisten ihre Einkünfte zum größten Teil aus den sogenannten Akzidentien, die zu dem genannten Fixum hinzukamen1925. Für eine Hochzeit des ersten Standes, für die der Stralsunder Kunstpfeifer das alleinige Musizierprivileg besaß, erhielt er am Ende des 17. Jahrhunderts immerhin 5 Reichstaler (= 30 MS)1926. Dies entsprach bei einem Jahresfixum von 400 MS fast seinem monatlichen Festgehalt. Die Höhe der Einnahmen aus den Akzidentien variierte allerdings und lässt sich aufgrund mangelnder Quellen nicht genau bestimmen. 1920 StAS Rep 38-1520 Städtisches Ausgaberegister 1641, fol. 31. 1921 Vgl. S. 167 (Tabelle 15) und 253 (Tabelle 21). 1922 Im selben Jahr wurde im Übrigen auch das Fixum des Kuren reduziert. Vgl. StAS Rep 381538 Städtisches Ausgaberegister 1663, o. S. 1923 Moritz Belitz und Philipp Kaden erhielten als Nikolaiorganisten Jahresgehälter von 600 MS. Kaden erhielt 1634 allerdings eine Gehaltserhöhung auf 900 MS. Ein Festgehalt von 600 MS erhielt ab 1637 auch der Stralsunder Kantor dauerhaft für den Rest des 17. Jahrhunderts. 1924 Vgl. die Gehaltsübersichten zum Kantorat und Organistenamt auf S. 167 und 253. 1925 Greve (1998, Sp. 1725) berichtet, dass die Einnahmen aus einer einzigen großen Hochzeit höherer Stände mitunter das jährliche Festgehalt des Kunstpfeifers übertreffen konnten. Auch Soll (2006, S. 328) erwähnt die untergeordnete Bedeutung des an den Kunstpfeifer und Kuren gezahlten Fixums im Vergleich zu den Einnahmen aus den Akzidentien. Das Fixum des Schleswiger Stadtmusikers Berwald betrug 1794 gerade einmal 1/17 seines Gesamteinkommens. 1926 Vgl. Hochzeitsordnung 1702, D-GRu Sign. 520/Ob 579 (2) Adn. 6, Cap. XIV.
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Neben seinem Fixum und den Erträgen aus den Akzidentien erhielt der Kunstpfeifer aus der Stadtkasse einen jährlich gezahlten Mietzuschuss von immerhin 120 bis 240 MS1927, sofern ihm keine mietfreie Wohnung zur Verfügung gestellt werden konnte. Die Dienste bei der Kirchenmusik vergüteten die Stralsunder Hauptkirchen. Die Quellen dazu lassen auf eine regelmäßige Indienstnahme des Kunstpfeifers an allen drei Kirchen schließen. Folgende jährliche Gehaltszahlungen lassen sich feststellen:
St. Nikolai1928: Jahr 1573–1575 1576–1582 1583–1615 1616–1700
Gehalt 8 MS 12 MS 16 MS 28 MS
Tabelle 28: Jährliche Gehaltszahlungen von St. Nikolai an den Kunstpfeifer
St. Marien1929: Jahr 1615–1641 1645–1691
Gehalt 16 MS 32 MS
Tabelle 29: Jährliche Gehaltszahlungen von St. Marien an den Kunstpfeifer
St. Jakobi1930: Jahr 1638 1643–1675
Gehalt 16 MS 32 MS
Tabelle 30: Jährliche Gehaltszahlungen von St. Jakobi an den Kunstpfeifer
Den tabellarischen Übersichten ist zu entnehmen, dass sich die für die Instrumentalmusik aufgewendeten Beträge der einzelnen Kirchen im Verlauf des 16. (St. Nikolai) bzw. 17. Jahrhunderts (St. Marien und St. Jakobi) deutlich erhöhten, was für eine zu1927 Vgl. dazu StAS Rep 38-1497 Städtisches Ausgaberegister 1616 bis StAS Rep 38-1574 Städtisches Ausgaberegister 1701. Der Kunstpfeifer Conrad Diem lässt sich am Ende des 17. Jahrhunderts als Besitzer eines Hauses in der Mönchstraße im St.-Jürgen-Quartier nachweisen. Vgl. Kroll/Pápay (2003), Datenbank/CD. 1928 Vgl. StAS Rep 28-534 St. Nikolai Ausgaberegister 1563–1610; StAS Rep 28-554 St. Nikolai Landregister 1655–1680; AStN R 1/N 1 Landt Register von Ao 1612 biß Ao 1644. 1929 Vgl. StAS Rep 28-640 St. Marien Einnahme und Ausgabe 1611–1686; StAS Rep 28-641a St. Marien Rechnungsbuch Einnahmen und Ausgaben 1611–1692; StAS Rep 28-643 St. Marien Weihnachtsquartal 1614–1660. 1930 Vgl. StAS Rep 28-883 St. Jakobi Ausgaberegister.
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nehmende Inanspruchnahme der Instrumentalmusiker spricht. Während von der Nikolaikirche ab 1616 (Amtsantritt von Andreas Depensee) bis zum Ende des Jahrhunderts 28 MS an den Kunstpfeifer gezahlt wurden, erhöhten sich die Beträge von St. Marien und St. Jakobi erst in den 1640er-Jahren merklich. Seit dieser Zeit wurden von beiden Kirchen an den Kunstpfeifer höhere Beträge als von der Nikolaikirche gezahlt. Über die Ursachen dafür lassen sich nur Vermutungen anstellen. Vielleicht stand an der Stralsunder Ratskirche, an der der Kantor vorrangig seine musikalischen Dienste zu versehen hatte, die Vokalmusik auch in den 1640er-Jahren noch im Mittelpunkt. An St. Marien und St. Jakobi lassen sich mit Johann Vierdanck und Friedrich Schick zu dieser Zeit zwei musikalisch versierte und aktive Organisten feststellen, die vermutlich auch für die Aufführung von vokal-instrumentalen Werken neuen Stils und somit auch für einen höheren Bedarf an Instrumentalisten in ihren Kirchen sorgten. Allerdings ist dennoch wohl kaum vorstellbar, dass die neuen musikalischen Entwicklungen an der Stralsunder Rats- und Repräsentationskirche St. Nikolai vorübergegangen waren. Mit Moritz Belitz, Philipp Kaden und Johann Martin Rubert befanden sich auch hier angesehene und vermutlich fähige Organisten, die über die aktuellen musikalischen Entwicklungen informiert waren1931. Vielleicht also zog man an St. Nikolai im Bedarfsfall neben den Ratsmusikanten weitere Musiker heran, die sich nicht in städtischer Anstellung befanden und nur für den jeweiligen Anlass besoldet wurden. Erinnert sei beispielsweise an die Bitte Johann Martin Ruberts um die Bezahlung eines Sängers1932. Der Kunstpfeifer Conrad Diem erhielt am Ende des 17. Jahrhunderts zusätzlich von einer der Kirchen »ein gewisses Seidengeld [Saitengeld]«1933. Vor dieser Zeit sind derartige Zuwendungen nicht nachzuweisen. Angaben zur Sozialfürsorge im Stralsunder Kunstpfeiferamt liegen nicht vor.
3.3  Das Amt des Kuren Die Stralsunder Kuren – Übersicht und biographische Informationen Amtszeit (vor?) 1603–(nach?) 1612 (vor?) 1615–1636 1637–1642 1642 1642–1659 1660–1688 1689–1692 1693–1716
Name Tobias Andreas Malchow Jochim Norman Jacob Lefin (interimistisch) Johann Tiedemann Heinrich Moht Christoff Schultz Christian Brasche
Tabelle 31: Amtszeiten der Kuren 1931 Darauf lässt auch die umfangreiche Werküberlieferung Johann Martin Ruberts schließen. 1932 Siehe S. 247 und Dok. 10 im Anhang auf S. 371. 1933 StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [17.10.1693].
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Tobias Der Kure Tobias ist zwischen 1603 und 1612 in Stralsund nachweisbar1934. Andreas Malchow († 1636) »Meister Andreas der Kuhre« wird 1615 in den Rechnungsbüchern von St. Marien erwähnt1935. 1626 heiratete er Köene Lamprechts1936. Malchow blieb Kure bis zu seinem Tod 16361937. Der Stralsunder Musiker Tobias Malchow1938 war ein Sohn des Kuren. 1634 erwarb ein Spielmann namens Andreas Malchow das Stralsunder Bürgerrecht1939, bei dem es sich vielleicht um einen weiteren Sohn des Kuren handelte. Jochim Norman Der gebürtige Franzburger1940 Norman erhielt zu Ostern 1637 seine erste Gehaltszahlung als Stralsunder Kure1941. Norman war in die Lehre Michel Oldbötters gegangen1942 und danach in verschiedenen musikalischen Anstellungen, u. a. als Feldtrompeter, inner- und außerhalb des pommerschen Herzogtums tätig gewesen1943. Aufgrund seines fortgeschrittenen Alters versuchte er 1637, den Kriegsdienst zu beenden1944, erwarb das Stralsunder Bürgerrecht1945 und bat um Anstellung in der Stadt als Kure, Trompeter und Bote. Bis 1642 lässt er sich als Stralsunder Kure und Kurier nachweisen1946. Norman war Lehrer von Johann Tiedemann.
1934 StAS Rep 28-534 St. Nikolai Ausgaberegister 1563–1610, fol. 300–311; AStN R 3 Landregister 1610–1646, o. S. 1935 AStM KR Ausgaberegister St. Marien [1615], o. S. 1936 Schubert (1987), Nr. 361. Mit »Köene« könnte auch die Frau bzw. Witwe Lamprechts gemeint sein: dän. ›kone‹ = Ehefrau. 1937 Vgl. StAS Rep 38-1507 Städtisches Ausgabregister 1626 bis Rep 38-1516/1 Städtisches Ausgabregister 1637. Er wurde am 10. August 1636 beerdigt. AStN R 33a Begräbnis-Register 1629–1673 [10.8.1636]. 1938 Siehe S. 348 und 377 (Dok. 16). 1939 StAS Bürgerbücher (digitalisiert). 1940 »Jochim Norman von Frantzburgk bürtigk«, StAS Rep 38-1516/1 Städtisches Ausgaberegister 1637, fol. 29. 1941 Ebd. 1942 »Ich meine Kunst der Ich alhir bei Michell Oldtbotern redlich vnd woll ohne ruhmb zu setzen [...] gelernett«, StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [6.2.1637]. Köhler bezeichnet Heinrich Oldbötter als Greifswalder Instrumentalmusiker. Vgl. Köhler (1999), S. 503. 1943 Vgl. die Bewerbung Normans in: StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [6.2.1637]. 1944 »Anietzo aber da meine Jahre mir etwas hoher lauten vnd dem Kriegswesen zu undediciren mich gentzlich fürgenommen«, ebd. 1945 StAS Bürgerbücher (digitalisiert). Als Berufsbezeichnung ist »Trompeter« angegeben. 1946 Im Spätsommer 1642 ist er »wegen eines Totschlages wegkgezogen«. StAS Rep 38-1521/1 Städtisches Ausgaberegister 1642, o. S.
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Jacob Lefin Jacob Lefin übte das Amt interimistisch vom 1. November 1642 bis zum Ende des Jahres aus. In den Stralsunder Bürgerbüchern ist der Name sowohl 1616 (»Leiermann«) als auch 1640 (»Spielmann«) nachzuweisen1947. Während es sich bei dem späteren Eintrag sicher um den hier gemeinten Musiker handelt, ist dies bei dem erwähnten »Leiermann« ungewiss. Lefin war offenbar Mitglied der Stralsunder Musikantenzunft. 1642 hatte er Maria Froeliken geheiratet und wird im Hochzeitsregister als »Spielmann« bezeichnet1948. Nach der Vertretung des Kurenamtes lässt er sich wieder als Mitglied der Stralsunder Zunft nachweisen1949. Johann Tiedemann († 1659) Tiedemann war in die musikalische Lehre seines Vorgängers Norman gegangen1950 und hatte 1642 das Stralsunder Bürgerrecht erworben1951. Im Dezember desselben Jahres wurde er als Kure angenommen1952. Kurz nach seinem Amtsantritt heiratete er die »Jungfer Anna Zuylen« [Zuiten/Suhlen/Zuhlen]1953. 1652 hatte sich Tiedemann wegen Nachlässigkeiten im Dienst sowie der Verunreinigung und Verwüstung der Türmerstube auf dem Nikolaiturm zu verantworten1954. Er blieb Kure bis zu seinem Tode 1659. Heinrich Moht († ~1700) Der gebürtige Stralsunder Heinrich Moht1955 übte von 1660 bis 1688 den Turmdienst aus. Er war bei dem Stralsunder Kuren Andreas Malchow und bei dessen Nachfolger Jochim Norman in die musikalische Lehre gegangen1956. Nach einiger Zeit »in der frömbden« wurde Moht für vier Jahre neuerlich Geselle bei Norman (zwischen 1637 und 1642)1957. Danach verließ er Stralsund erneut, begab sich für zwei Jahre in nicht näher bezeichnete höfische Dienste und kehrte schließlich in seine Heimatstadt zurück1958. 1647 erwarb er als »Spielmann« das Stralsunder Bürgerrecht1959, wurde Mit1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955
StAS Bürgerbücher (digitalisiert). Schubert (1987), Nr. 1100. StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [21.1.1637/29.1.1648]. Ebd. [1.10.1652/4.10.1652]. StAS Bürgerbücher (digitalisiert). Das Bürgergeld wurde ihm nach seiner Anstellung als Kure erstattet. StAS Rep 38-1522/1 Städtisches Ausgaberegister 1643/1644, o. S. StAS Rep 38-1521/1 Städtisches Ausgaberegister 1642, o. S. Das Bestallungsdokument für Tiedemann datiert allerdings erst vom 9.12.1647. StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [9.12.1647]. Schubert (1987), Nr. 1130. StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [1652]. »Vndt thue hiernegst Vnterdienstlich berichten, wie daß nicht allein mein Vater ein dreissig Jähriger Bürger hier in Stralsundt geweßen«, ebd. [1660]; »weil Ich nicht alleine alhir Einheimisch bin«, ebd. [12.5.1660/13.6.1660]. Ebd. [1660].
1956 1957 Ebd. [12.5.1660/13.6.1660]. 1958 Ebd. [1660]. 1959 StAS Bürgerbücher (digitalisiert).
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glied der Zunft und heiratete im selben Jahr Barbara Rhoden1960. 1660 trat er die Nachfolge Tiedemanns an und übergab das Amt 1688 wohl aus Altersgründen an seinen Schwiegersohn Christoff Schultz1961. Moht überlebte Schultz und starb um 17001962. Christoff Schultz († 1692) 1670 heiratete Christoff Schultz die Tochter des Kuren Heinrich Moht1963. Vermutlich befand er sich schon zu dieser Zeit in dessen Ausbildung. Den städtischen Ausgaberegistern zufolge erhielt Schultz 1689 seine erste Gehaltszahlung als Kure1964. Er wurde am 27. Dezember 1692 begraben1965. Christian Brasche († 1716) Brasches Bestallung datiert vom 22. Februar 16931966. Während seiner Amtszeit verfasste er eine Vielzahl an Eingaben, die vorrangig Streitigkeiten zwischen der Zunft, dem Kunstpfeifer und dem Kuren um musikalische Privilegien betreffen. Im Jahr seiner Anstellung hatte er eine Vereinbarung zwischen ihm als Kuren und den Mitgliedern der Stralsunder Musikantenzunft initiiert, nach der die Musikausübung bei den Akzidentien und auf dem Turm zukünftig gemeinschaftlich bzw. nach Absprache erfolgen sollte1967. Brasche starb 17161968. Sein Nachfolger wurde Daniel Heinrich Grim. Ein Bruder Brasches, Johann Brasche, war Mitglied der Stralsunder Musikantenzunft.
3.3.1 Terminologie Die Amtsbezeichnungen im Stralsunder Kurenamt variierten insbesondere in orthographischer Hinsicht: ›Chur‹, ›Cure‹, ›Cuer‹, ›Chuer‹, ›Kuhr‹, ›Kur‹, ›Kure‹. Der vom mittelhochdeutschen ›küren‹ = ›spähen‹ abgeleitete Terminus verweist dabei auf die vordergründigen Pflichten des Kuren als Turmwächter. Die Bezeichnungen ›Stadtchur‹ oder 1960 Schubert (1987), Nr. 1297. 1961 StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [22.2.1693]. 1962 1703 berichtete der Kure Christian Brasche, dass er dem Kuren Moht seit seinem Amtsantritt (1693) über acht Jahre (bis zu dessen Tod) ein Drittel seines Gehaltes habe abtreten müssen. Ebd. [6.12.1703/7.12.1703]. 1963 Schubert (1987), Nr. 2008. 1964 StAS Rep 38-1564 Städtisches Ausgaberegister 1689, fol. 24v. 1965 AStN R 34 Begräbnisregister 1654-1693 [1691/92], fol. 820: »27.12. Christoff Schultz der gewesene Cur begraben, Welchen ob Er gleich nur kurtze Zeit den Dienst Verwaltet daß begräbnis Von der Kirchen frey gegeben worden eines theilß seiner bekandten armuth halber, andern theilß reversiret sich auch dessen Schwiegervatter der alte Cur mit einen Revers der Kirchen nach seinem todt nicht beschwerlich zu seyn, Weil Er schon in St Johannis Kirch gegraben zu werden anstalt Vor sich gemachet hat.« 1966 StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [22.2.1693]. 1967 Vgl. dazu S. 343f. sowie Dok. 20 im Anhang auf S. 381f. 1968 Darmer (1934), S. 36.
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›Rahtß Kuhr‹ verweisen auf die städtische Indienstnahme des Kuren. In einigen wenigen Quellen ist vom ›Türmer‹ und ›Thurm=Bläser‹ die Rede. Dass der Stralsunder Kure im Verlauf des 17. Jahrhunderts neben dem Turmdienst zunehmend auch für die Kirchen- und Hochzeitsmusik beansprucht wurde, wirkte sich auf die Terminologie des Berufsstandes nicht weiter aus1969.
3.3.2 Anstellung Angaben zur Besetzung des Stralsunder Kurenamtes lassen sich den Quellen seit dem Ende des 16. Jahrhunderts entnehmen. Zahlungen an einen Kuren sind seit 1598 verzeichnet1970. Namentlich genannt wird erstmals der Kure Tobias im Jahre 16031971. Wie auch der Kunstpfeifer unterstand der Kure dem städtischen Rat und hatte eine musikalische Ausbildung zu absolvieren. Sein Können musste er in einem Probespiel nachweisen. Den Aufgaben des Amtes entsprechend wurde dabei das Spiel von Blasund Streichinstrumenten für die Turm- und Kirchenmusik erwartet. Heinrich Moht gab 1660 in seiner Bewerbung um das Stralsunder Kurenamt an, dass er »so woll vff der trumpeten, posaunen, alß auch Fiolen«1972 musizieren könne. Auch sein Kontrahent Michel Köhler war zum »abblahsen alß auch auff der Geigen zu Streichen vnd [zum Spiel] auff anderen musicalischen instrumenten mehr«1973 in der Lage. Vermutlich wurde bei der Anstellung von Kuren vor allem dem Spiel von Trompeteninstrumenten (Trompete, Posaune, Zink) Beachtung geschenkt, da der Turmdienst die wesentliche Aufgabe des Kuren war. Die genauen Anforderungen im Probespiel sind nicht bekannt. Anstellungsdokumente Stralsunder Kuren liegen für Johann Tiedemann (1647) und Christian Brasche (1693) vor. Darmer zitiert darüber hinaus einen heute offenbar nicht mehr erhaltenen Entwurf einer Anstellungsurkunde vom Ende des 16. Jahrhunderts1974. Wie auch beim Kunstpfeifer stellten Bürgermeister und Stralsunder Rat als Dienstherren das Bestallungsdokument für den Kuren aus. Darin aufgelistet waren die Dienstpflichten und Rechte des Musikers. Begnügte man sich in der Bestallungsurkunde Tiedemanns aus der Mitte des 17. Jahrhunderts noch mit der allgemein gehaltenen Formulierung, »daß er in diesem seinem dienste vndt auffwartunge waß einem getrewen vnndt fleißigen Churen oblieget vndt deßen Ampt erfordert ohnverdroßen nachkommen [...] solle«, und gab nur einige zusätzliche Angaben zum Turm- und 1969 In Bremen erscheint die Bezeichnung ›Kure‹ nur bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Schon seit 1558 wurde der Bremer Kure als ›tornepiper‹ bezeichnet, was Rosteck (1999, S. 87f.) zufolge auf die gewachsene Bedeutung seiner musikalischen Aufgaben zurückzuführen ist. 1970 StAS Rep 38-1496 Städtisches Ausgaberegister 1598–1611, fol. 18. Der Kure wird hier noch nicht namentlich genannt, erhält jedoch 5 MS für Holz aus der Stadtkasse. 1971 StAS Rep 28-534 St. Nikolai Ausgaberegister 1563–1610, fol. 300f. [1603]. 1972 StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [1660]. 1973 Ebd. [25.6.1660]. 1974 Siehe Dok. 14 im Anhang, S. 375.
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Hochzeitsdienst1975, erscheinen Brasches Dienstpflichten weitaus detaillierter und in sieben gesonderten Punkten aufgelistet. Sie lassen sich in Wachdienst und musikalische Aufwartung unterteilen und sollen an dieser Stelle zitiert und im weiteren Verlauf der Untersuchung ausgewertet werden: »Bestallung des Kuren Christian Brasch (1693) Wir Bürgermeister und Raht der Stadt Stralsund Vhrkunden und bezeugen hirmit dass nach dem durch absterben des Ehrbahren und kunsterfahrenen Christoff Schultzen der hiesige Cuer dienst vacand worden und wir sothane Stelle hinwieder zu ersetzen resolviret auf geziemendes Ansuchen und abgelegete probe dieselbe, dem auch Ehrbahren und kunst erfahrnen Christian Braschen dergestalt conferiret und beygeleget dass er 1. zufoderst gegen E. E. Rahte und denen verordneten Policey Herren sich ieder Zeit gehorsahm, treuw, und auffwertig auch sonst dabey in allen stücken, wie einem rechtschaffenem Manne und Cueren eignet und gebühret verhalte und bezeuge. 2. Auff dem Tuhrme alle tage zu rechter Zeit nemblich dass abendts umb 8 Uhr sich einfinde darauff sich allenthalben in der Stadt umbsehe die Abendt, Nacht und Morgenstunde unnachlässig anzeige, dass Abendts jeder Zeit umb 9 und der Morgendts umb 3 oder 4 Uhr nach gelegenheit der Jahreszeit nemblich von Michäelis biß Ostern umb 4 und von Ostern bis Michäelis umb 3 Abendt und Morgen lieder abblase dass blasen selbst verrichte oder wan Er leibes schwachheit und anderer Ehrhafften halber, daran verhindert, solches durch tüchtige und genugsahm qualificirte leute bestelle lasse wie Ihm dan auch außdrücklich untersaget sein soll, werter zu halten und dabey falß Er eine der abend oder Morgen Stunden versäumen solte, für jede 1 R. für die nacht stunden aber 8 ß an seinem Salario auff der Achtmans Kammer decourtiret und einbehalten werden soll. 3. da auch Gott in Gnaden abwende feurs gefahr sich eräugen solte, solches in Zeiten durch die Trompete anzeige und nach der seiten, da sich das feur aüßert dess tages eine fahne und des nachts eine leuchte auß stecke. 4. zu Donnerszeiten und wan Ungewitter sich merken lassen, so fort mit auf dem auf den Thurm sich begebe, und auf alle fälle zur handt sey. 5. An Sonn- und Festtagen, wan er Ihm angesaget, aller gewonheit nach in der Kirche fleißig mit aufwarte. 6. Bey Hochzeiten sich der Policey Ordnung gemäß bezeige und darüber nichts fodere insonderheit, wan die Policey diener aufgeklopfet nicht weiter spiele undt 7. ohne der Policey Herren wissen und willen nicht aus der Stadt reise, bey 10 fl. Straffe. 8. Vor seine auffwartung will Ihm E. E. Raht gleich seinen Vorfahren, Jährlich 100 fl und dauon alle quartal 25 fl auß gemeiner Stadt Kasten, Von der Achtmanß Kammer reichen laßen, Jedoch dass er dauon hin wieder veraccorditer maßen, dem alten annoch lebenden Cuer Hinrich Mohten Zeit Lebens, das eine Drittel zu kehre, wobey 1975 StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [9.12.1647]. Vgl. Dok. 18 im Anhang auf S. 379.
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Ihm dan auch übrigens, waß seine Vorfahren von Hochzeiten und sonsten gehabt gegönnet und gelaßen und Er von allen Bürgerlichen oneribus befreyet bleiben soll. Uhrkundtlich unter unßerm Insiegel außgefertiget Stralsund 22 Februar 1693«1976
Mitunter führte der Weg in das Stralsunder Kurenamt über die musikalische Zunft. Von den neun Stralsunder Kuren, die zwischen 1600 und 1730 das Amt innehatten, waren mit Jochim Norman, Heinrich Moht und Daniel Heinrich Grim immerhin drei zuvor Zunftmitglieder gewesen. Mit Jacob Lefin übte ein weiteres Zunftmitglied das Kurenamt interimistisch aus. Dabei bedeutete der Wechsel in das Kurenamt für die Zunftmitglieder zweifellos eine berufsständische Aufwertung, wurden sie in städtischen Diensten doch regelmäßig besoldet und besaßen außerdem umfangreichere Musizierprivilegien. Bei gleicher musikalischer Eignung genossen einheimische Bewerber offenbar nicht nur in Stralsund ein Anstellungsvorrecht. Dies berichtet zumindest Heinrich Moht im Jahre 1660: »[…] demnach nun aber in allen wolleingerichteten Rebuspublici löbl. Versehen, Vnd alhierin rühmblicher observance ist, daß, wen ein Einheimischer, in einiger Kunst Vnd Wissenschaft einem frömbden gleich erfahren, derselbe dem andern ins gemein Vorgezogen werden pfleget.«1977
Bestätigt wurde dies auch durch den Rat, der ebenfalls feststellte, dass dem »supplicanten alß einem Bürger, In der Kunst erfahrnen vndt beglaubtem Manne der gesuchete dienst für andern zu gönen« sei1978.
3.3.3  Ausbildung von Lehrjungen und Gesellen Neben dem Kunstpfeifer war auch der Kure berechtigt, Lehrjungen auszubilden und Gesellen zu halten. Einer Bittschrift der Stralsunder Zunftmusiker von 1660 zufolge durfte er allerdings »nach vralter Order vndt gerechtigkeit, nicht mehr denn einen gesellen vndt einen Jungen«1979 halten. Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde dem Kuren Christian Brasche die Anstellung von zwei Gesellen zugestanden1980. Was zu dieser Änderung geführt hatte, lässt sich nicht ermitteln.
1976 1977 1978 1979 1980
StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [22.2.1693]. StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [12.5.1660/13.6.1660]. Ebd. [13.6.1660]. Ebd. [6.7.1660/21.7.1660]. »Jährlich zum weinigsten zwey gesellen halten und damit die aufwartung so mir zukompt gebührend verrichten.« StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [6.12.1703/7.12.1703].
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Wie die Kunstpfeifer überschritten auch die Stralsunder Kuren mitunter die zulässige Anzahl an Gesellen und Lehrjungen. 1660 beispielsweise beklagten die Zunftmusiker, dass sich der Kure Johann Tiedemann während der letzten Jahre nicht an die getroffenen Festlegungen gehalten und dadurch »immerforth groß streit vnndt wunder [...] erzeuget«1981 habe.
3.3.4  Musikalische Aufwartung Auskünfte zu den Dienstpflichten des Kuren lassen sich den überlieferten Anstellungsdokumenten entnehmen. Über den Turmdienst informieren außerdem die Feuerordnungen der Stadt. In erster Linie war der Kure Wächter auf dem »südlichen spitzen Turm der Stralsunder Nikolaikirche«1982. Darüber hinaus war er – zumindest an den Sonn- und Festtagen – zur Mitwirkung bei der Kirchenmusik verpflichtet. Die Wahl der Nikolaikirche für das Türmeramt hängt vermutlich in erster Linie mit der zentralen Lage der Kirche innerhalb der Stadt zusammen. Die Marienkirche, die zumindest zeitweilig über einen höheren Turm als St. Nikolai verfügte, erscheint aufgrund ihrer Randlage ungeeignet, um von dort die gesamte Stadt zu überwachen. Außerdem war St. Nikolai Ratskirche. Hier fand mit den Ratssitzungen und der ›Bursprake‹ das offizielle städtische Leben statt1983. Auch war das Nikolaiquartier eines der wohlhabendsten Stralsunder Stadtquartiere; die Bewohner schenkten dem Schutz vor Feuer und Angriff hier sicher besondere Beachtung.
3.3.4.1 Wachdienst Die nächtliche Turmwache des Kuren diente in erster Linie dem Schutz vor feindlichen Übergriffen sowie der städtischen Brandvorsorge. Mehrere verheerende Brandkatastrophen (16471984, 16621985, 16781986, 16801987) hatten im Verlauf des 17. Jahrhunderts 1981 StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [6.7.1660/21.6.1660]. 1982 Darmer (1934), S. 4. 1983 Vgl. Heyden (1961), Kirchen, S. 23f. 1984 AStM KR Einnahmen und Ausgaben 1625–1649: »Anno 1647 den 10 Augusti wie Unsere Kirche [St. Marien] leyder gantz eingeäschert«. 1985 Dem durch einen Blitzschlag verursachten Stadtbrand im April 1662 waren nicht nur die Turmspitzen und Glocken von St. Jakobi und St. Nikolai zum Opfer gefallen, sondern auch Bereiche der umliegenden Häuserzüge. Vgl. Zober (1862). 1986 Der Einsatz von Brandbomben während der Beschießung Stralsunds durch kurbrandenburgische Truppen 1678 führte zu enormen Verlusten (vor allem in den Stadtquartieren von St. Jakobi und St. Marien). 46 % des Stralsunder Gebäudebestandes wurden zerstört. Vgl. Grabinsky (2006), S. 66. 1987 Die Brandkatastrophe von 1680 betraf vor allem das Jürgensquartier. Hier fielen 74 % der Gebäude den Flammen zum Opfer. Im Marienquartier verbrannten 20 % der Gebäude. In den Quartieren von St. Nikolai und St. Jakobi gab es kaum Verluste. Ebd., S. 67f.
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große Teile Stralsunds in Schutt und Asche gelegt. Im Kampf gegen die Stadtbrände, die man als Strafe Gottes verstand1988, wurden mehrfach Feuerordnungen erlassen, die sowohl präventiv wirken als auch dem Handeln im Ernstfall dienen sollten. Eine bedeutende Rolle beim Brandschutz kam dem Kuren zu. Dieser hatte sich des Abends bis spätestens 21 Uhr auf dem Nikolaiturm einzufinden1989 und seinen Wachdienst bis 3 bzw. 4 Uhr1990 in der Frühe zu versehen. Die Türmerstube von St. Nikolai befand sich oberhalb des Glockenbodens und bestand aus einem zwölf Quadratmeter großen beheizbaren Raum für die Wache sowie einer Gerätekammer. Über der Türmerstube befand sich ein durch eine Treppe erreichbarer Umlaufgang mit einem Fenster nach jeder Seite. Von hier aus übersah der Kure die Stadt in alle vier Himmelsrichtungen1991. Als Zeichen seiner Wachsamkeit hatte er »bey Straffe der Gefängniß alle Stunden des Nachts ein Zeichen [zu] geben«1992. Dabei richtete er sich nach den Glockenschlägen der Turmglocke. Als Kontrollinstanz fungierte die durch die Straßen ziehende städtische Nachtwache, die, »wo der Chur kein Zeichen gibt/ und sein Ampt gebührlich nicht verwaltet/ solches auff ihre Eyde zuvermelden [hatte]«1993. Der nächtliche Wachdienst gehörte zu den wesentlichen, wohl aber auch eintönigsten Aufgaben des Kuren. Daher überließen die Kuren diesen Dienst gern ihrem Gesel1988 Den Stadtbrand von 1662 führte man – wie die Feuerpredigt zeigt – darauf zurück, dass die Stralsunder sich nicht an die Bestimmungen der Kleiderordnung gehalten hätten. Vgl. Zober (1862). 1989 Vgl. StAS Rep 3-4573 Senatus Sundensis. Der Stadtkur. 1635–1660 [9.12.1647]. Der Kure Christian Brasche hatte sich laut seiner Bestallungsurkunde vom 22.2.1693 bereits um 20 Uhr auf den Turm zu begeben. Vgl. StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [22.2.1693]. 1990 Von Michaelis (29.9.) bis Ostern um vier Uhr früh und von Ostern bis Michaelis um drei Uhr in der Frühe, vgl. StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [22.2.1693]. 1991 Vgl. Darmer (1934), S. 18. 1992 Vgl. Feuerordnung 1677, D-GRu HGW Sign. 520/Ob 579 (2) Adn. 14, fol. B. 1993 Ebd. Ab 1710 hatte der Kure nicht mehr nur die vollen Stunden »mit der Trompete«, sondern sogar die Viertelschläge »mit einen kleinern Instrument« anzuzeigen. Feuerordnung 1710, D-GRu Sign. 520/Ob 579 (2) Adn. 15, fol. B2v (19). In Lübeck hatten die Kuren »alle halbe Stunde ein Zeichen ihrer Wachsamkeit zu geben«, Hennings (1951), S. 45. Ein Dokument aus der Mitte des 17. Jahrhunderts unterrichtet über die Organisation der Stralsunder Nachtwache: »Wan die Scharwacht Umb Neun Uhr sich in der Wachtschreiberey versamlet, Vndt daruf nach alter Gewohnheit Vor des Hern Richterß thuer sich gesellet, gehen Sie miteinander nach die Vier Ohrten daselbst Sie sich theilen in Vier theile, alß drey Vndt drey miteinander, Vndt gehet eine jehde partie seinen Wegk biß die Klocke des morgens drey geschlagen, Vndt ruffen alle Stunde, Wan zuvor der Chur abgeblasen oder in die Trompette gestossen folgender gestaldt: ›Lieben Herren lasset euch sagen, die Klocke hatt --- geschlagen, Ein jehden Sehe zu frewde Vndt licht, daß ihme von seinem nachbahr kein schade geschieht. Vndt Lobett Gott den herren.‹« StAS Rep 18-371 Polizeidirektion: Die Nachtwache und ihre Bekleidung. Verschiedene Angelegenheiten. 1657– 1800.
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len und dem Lehrjungen1994. Fremden Musikern durfte der Kure den Wachdienst nicht übertragen1995. Solange der Turmdienst funktionierte, gingen Rat und Polizeibehörde offenbar gegen die Vertretungen nicht ernsthaft vor. Im Krankheitsfall standen dem Kuren neben seinem Gesellen spätestens seit 1693 die Mitglieder der Zunft für Vertretungsdienste zur Verfügung: »Würde auch der Chur kranckheit halber selber auff dem Thurm nicht auffwarten und abblasen kommen, so soll Einer von den Zonfftbrüdern welcher tüchtig dazu ist und der Chur erwehlen der dazu fordern wirt.«1996 In eben diesem Jahr wurde eine von dem Kuren Christian Brasche gemeinsam mit den Zunftmusikern erarbeitete Ordnung für eine musikalische Zusammenarbeit verabschiedet, die in den Ausführungen zur musikalischen Zunft noch näher zu erläutern sein wird. Im Falle eines Brandes hatte der Kure »zu blasen/ und nach dem Ort werts/ da die Noht ist/ bey Tage ein roht Fähnlein/ bey Nacht aber eine Laterne mit Lichten außhengen/ welches ihm die Vorsteher schaffen sollen«1997. Besondere Bedeutung kam den Stralsunder Kuren während der zweimaligen Belagerung der Stadt 1628 und 1678 zu. Der Turm war während dieser Zeiten nicht nur des Nachts, sondern auch tagsüber vom Kuren zu besetzen. Den erhöhten Anforderungen wurde in der Regel durch Gehaltserhöhungen entsprochen. So wurde die Besoldung von Andreas Malchow – Stralsunder Kure während der Wallensteinschen Belagerung – zum Johannisquartal 1628 von 48 MS auf 75 MS erhöht, »das er fleißiger aufm Thurm wacht helt«1998. Auch Heinrich Moht – Kure während der kurbrandenburgischen Belagerung – erhielt 1678 eine verbesserte Besoldung von nunmehr quartaliter 100 MS statt vorher 75 MS, »weilen der Stadt Cuhr bey diesen gefährlichen Zeiten tagh und nacht continuirlich die Wacht auff dem Thurm halten muß«1999. 1680 wurde Mohts Gehalt jedoch wieder reduziert2000. Von Nutzen war der Turmdienst auch bei drohendem Unwetter. Um Schäden frühzeitig bemerken und anzeigen zu können, hatte sich der Kure bei »Donnerszeiten und wan Ungewitter sich merken lassen, so fort mit auf den Thurm« zu begeben und »auf alle fälle zur handt« zu sein2001.
1994 Johann Tiedemann, Kure von 1642–1659, überließ den Turmdienst seinem »Gesinde«. Wenn dieses nicht sofort nach der Glocke das Stundensignal gab, schickte er jemanden auf den Turm. StAS Rep 3-4573 Senatus Sundensis. Der Stadtkur. 1635–1660 [1.10.1652/4.10.1652]. 1995 Dem Kuren Brasche wurde in seiner Bestallungsurkunde ausdrücklich untersagt, »werter [Wärter] zu halten«. StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [22.2.1693]. 1996 Ebd. [6.5.1693]. 1997 Vgl. Feuerordnung 1677, D-GRu HGW Sign. 520/Ob 579 (2) Adn. 14, fol. B. 1998 StAS Rep 38-1508 Städtisches Ausgaberegister 1628/1629, fol. 36, und StAS Rep 38-1509 Städtisches Ausgaberegister 1630/1631, fol. 34. Die verbesserte Besoldung von 75 MS quartaliter (= 300 MS jährlich) erhielt Malchow bis zu seinem Tode. 1999 StAS Rep 38-1552 Städtisches Ausgaberegister 1678, o. S. 2000 StAS Rep 38-1554/1 Städtisches Ausgaberegister 1680, fol. 25v. 2001 StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [22.2.1693].
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Begonnen wurde der Turmdienst mit dem sogenannten Abblasen von Chorälen um 21 Uhr, beendet wurde er um 3 bzw. 4 Uhr in der Frühe mit demselben Vorgang2002. Auf diese Weise läutete der Kure abends die Nacht ein und kündigte morgens den Tag an. Die Zeiten für das Abblasen richteten sich nach der Tageseinteilung der Stadtbewohner, die sich von der heutigen merklich unterschied2003. Nachweise über ein mittägliches Abblasen, wie in Lübeck oder Hamburg2004, gibt es in Stralsund nicht. Als Signalinstrument benutzte der Kure ein Horn- bzw. Trompeteninstrument2005.
3.3.4.2  Kirchenmusik, Turmmusik und Akzidentien Wie der Kunstpfeifer mit seinen Gesellen war auch der Kure am musikalischen Kirchendienst beteiligt und hatte »[a]n Sonn- und Festtagen, wan es Ihm angesaget, aller gewonheit nach in der Kirche fleißig mit auf[zu]warten«2006. Verpflichtet wurde er dafür vermutlich vom Kantor, der als Musikdirektor für die Kirchenmusik zuständig war. Seit wann der Kirchendienst zu den Amtspflichten des Kuren zählte, ist nicht bekannt. Die Bestallung Tiedemanns von 1647 führt diesen Dienst noch nicht auf. Doch lässt die Formulierung »[a]n Sonn- und Festtagen, wan er Ihm angesaget, aller gewonheit nach [!] in der Kirche fleißig mit aufwarte« in der Bestallungsurkunde Brasches2007 darauf schließen, dass der Kure nicht erst am Ende des Jahrhunderts für die Musik im Gottesdienst zur Verfügung zu stehen hatte. An kirchlichen Feiertagen oder zu städtischen Festen hatte der Kure außerdem vom Turm zu musizieren. Für eine vollstimmige Musik bediente er sich dabei einerseits seines Lehrjungen und Gesellen und andererseits der städtischen Zunftmusiker, die ebenfalls zu diesen Diensten verpflichtet waren. Wie die Bestallungsurkunde Conrad Diems von 1690 bezeugt, konnte auch der Kunstpfeifer für das Turmblasen herangezogen werden. In den Privilegien zum Musizieren auf Hochzeiten wurden dem Kuren die Bürgerhochzeiten des zweiten und dritten Standes in allen vier Stadtquartieren nach Abspra2002 »[…] dass Abendts jeder Zeit umb 9 und des Morgendts umb 3 oder 4 Uhr nach gelegenheit der Jahreszeit [...] lieder abblase.« Ebd. In dem von Darmer (1934, S. 12) erwähnten Vokationsentwurf vom Ende des 16. Jahrhunderts heißt es: »sol ehr abent vnd morgen psalme ab blasen«. 2003 Vgl. dazu Hennings (1951), S. 45f. 2004 In Lübeck wurde bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts dreimal abgeblasen, danach – wie in Stralsund – nur noch morgens und abends. Ebd., S. 45. Vgl. zu Hamburg Krüger (1933), S. 196f. Wie der Stralsunder Kure waren auch die Rostocker Marientürmer ihrer Bestallungsurkunde von 1623 zufolge nur zum morgendlichen und abendlichen Turmblasen verpflichtet. Daebeler (1966), S. 74f. 2005 »Wan zuvor der Chur abgeblasen oder in die Trompette gestossen«, StAS Rep 18-371 Polizeidirektion: Die Nachtwache und ihre Bekleidung. Verschiedene Angelegenheiten. 1657– 1800; »da [...] feurs gefahr sich eräugen solte, solche in Zeiten durch die Trompete anzeige«, StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [22.2.1693]. 2006 StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [Bestallung Brasches vom 22.2.1693]. 2007 Siehe S. 330f.
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che mit dem Kunstpfeifer sowie die sogenannten fremden Hochzeiten zugesprochen, für die auch der Kunstpfeifer oder die Zunftmusiker gefordert werden konnten2008. Weitere Erträge konnte der Kure aus dem Musizieren bei den sogenannten Ämtern erzielen, den jährlichen Zusammenkünften der Handwerkerzünfte. Dabei stand es »in eines jeden ampts belieben [...] den Cuhren oder die Zunftbrüder zu fodern«2009. Konnte der Kure aufgrund seiner musikalischen Verpflichtungen den Turmdienst nicht ausüben, hatte er dennoch dafür zu sorgen, dass »der Thurm nicht ohne wacht sey«2010. Ob die Stralsunder Kuren auch Trompeterdienste bei Botengängen oder beim Verkünden von Gerichtsbeschlüssen zu übernehmen hatten, ist unklar2011. Das Amt eines Ratstrompeters lässt sich in Stralsund, außer im frühen 16. Jahrhundert, nicht nachweisen2012. Daher ist es vorstellbar, dass die Kuren anfallende Trompeterdienste mit zu übernehmen hatten, da gerade sie durch ihren Turmdienst mit dem Geben von Signalen vertraut waren. Gern jedenfalls ging man offenbar auf das Angebot Jochim Normans ein, der sich 1637 nicht nur um das Stralsunder Kurenamt beworben hatte, sondern sich außerdem für das »Comportiren [für Botengänge] auch wan durch prasentirte occasion es sich zu tragen würde das alls ein Trompeter dieser guten Stadt mich zuuorschicken notigk [...] gern dazu gebrauchen« lassen wollte2013. Vermutlich hatte also Norman den 1640 im Ausgaberegister von St. Nikolai erwähnten musikalischen Dienst übernommen: »Trampen for den arrest vhttoklagen 1 MS 8 ß«2014.
3.3.5  Materielle Verhältnisse Durch seine städtische Anstellung war dem Kuren ein festes Einkommen auf Lebenszeit garantiert. Dabei bildete das quartaliter aus der Stadtkasse gezahlte Fixum – wie auch beim Kunstpfeifer – nur einen Teil seiner Einkünfte. Ergänzt wurden die Einnahmen durch die bereits erwähnten Akzidentien, das musikalische Aufwarten etwa auf Hochzeiten und bei den Ämtern. Wie der Kunstpfeifer war auch der Kure von den bürgerlichen Steuerzahlungen befreit.
2008 2009 2010 2011
Vgl. dazu S. 299–301. StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [25.6.1701]. StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [9.12.1647]. Krüger (1933, S. 196) zufolge war in Hamburg das Amt des Domkuren vermutlich mit dem des Ratstrompeters vereint. 2012 Vgl. S. 290. 2013 StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [6.2.1637]. Norman erhielt das Kurenamt und wurde außerdem Stralsunder Kurier. Vgl. das Taufregister von St. Nikolai: »Der hernach Unser Stadt Curirer geworden«, vgl. Darmer (1934), S. 37. 2014 AStN R 1/N 1 Landt Register von Ao 1612 biß Ao 1644, fol. 228v [1640].
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Den städtischen Ausgaberegistern lassen sich folgende Festgehälter der Stralsunder Kuren entnehmen2015: Kure Andreas Malchow 1616–1628 1628–1636 Jochim Norman 1637–1642 Jacob Lefin 1642 Johann Tiedemann 1642–1659 Heinrich Moht 1660–1662 1663–1677 1678–1679 1680–1688 Christoff Schultz 1689–1692 Christian Brasche 1693–1701
Fixum 192 MS 300 MS 400 MS 400 MS2016 400 MS 400 MS 300 MS 400 MS 300 MS 300 MS 300 MS
Tabelle 32: Jahresfixa der Kuren2016
Wie das Gehalt des Kunstpfeifers blieb auch das Fixum des Kuren im Verlauf des 17. Jahrhunderts relativ stabil. Die Gehaltssteigerungen in den Jahren 1628 und 1678 resultierten aus den erwähnten besonderen Anforderungen im Turmdienst während der Belagerungen der Stadt. Verglichen mit dem Kunstpfeiferfixum erhielt der Kure, der nur für einen Lehrjungen und Gesellen aufzukommen hatte, ein recht ansehnliches Gehalt, das um die Mitte des 17. Jahrhunderts etwa zwei Dritteln und ab den 1680er-Jahren drei Vierteln des Kunstpfeifergehaltes entsprach. Für seinen Wachdienst auf dem Turm der Nikolaikirche bekam er außerdem Zuwendungen für Brennholz und Kerzen von 30 MS jährlich, die von allen drei Stralsunder Hauptkirchen (je 10 MS) gezahlt wurden2017. Die Höhe der aus den Akzidentien erzielten Beträge ist auch beim Kuren nicht zu ermitteln. Für das Musizieren auf den Hochzeiten innerhalb des zweiten und dritten 2015 Vgl. StAS Rep 38-1497 Städtisches Ausgaberegister 1616 bis StAS Rep 38-1574 Städtisches Ausgaberegister 1701. 2016 Lefin übte das Amt allerdings nur interimistisch aus und wurde nur für zwei Monate (November und Dezember) analog dem Gehalt Normans bezahlt. 2017 Vgl. etwa AStN KR R 4 Land=Pachten 1644–1694. Zwischen 1598 und 1611 lassen sich zusätzliche Holzgeldzahlungen auch aus der Stadtkasse nachweisen. StAS Rep 38-1496 Städtisches Ausgaberegister 1598–1611.
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Bürgerstands erhielt er 1685/1702 drei Reichstaler (= 18 MS) bzw. 3 Gulden (= 9 MS) pro Aufwartung2018. Wie häufig er derartige musikalische Dienste allerdings übernahm, ist unbekannt. Die Angaben zu den Wohnverhältnissen der Stralsunder Kuren sind dürftig. Als städtisch Bediensteter wurde auch der Kure mit Wohnraum oder einem Mietzuschuss versorgt. Johann Tiedemann berichtete 1652 von einer kleinen Kirchenbude, in deren Genuss seine Vorgänger und er selbst für fünf Jahre kamen2019. Christian Brasche bewohnte nach seinem Amtsantritt eine »newangebaute bude der Kirche zuestendig«2020 in der Mühlenstraße 12 im St.-Jürgen-Quartier2021.
3.3.5.1  Sozialfürsorge Musiker in städtischer Anstellung waren in der Regel auf Lebenszeit bestellt. In fortgeschrittenem Alter oder bei angegriffener Gesundheit konnten die Stelleninhaber allerdings von ihrem Amt entbunden werden. Dass vor allen Dingen der nächtliche Turmdienst des Kuren mit zunehmendem Alter mühsam und beschwerlich wurde, liegt auf der Hand. Im Oktober 1635 beklagte sich der Kunstpfeifer Balduin Hoyoul beim Stralsunder Rat über den Kuren Andreas Malchow, der aufgrund seines Alters den Dienst nicht mehr ordnungsgemäß versehen könne. Vermutlich waren dieser Beschwerde bereits Auseinandersetzungen zwischen den Musikern vorausgegangen2022. Infolge von Hoyouls Beschwerde wurden die Hochzeitsprivilegien neu verhandelt und für Malchow eingeschränkt2023. Kurz darauf verstarb der Kure. Der Stralsunder Kure Heinrich Moht wurde 1689 im Alter von etwa 75 Jahren2024 vom Dienst entbunden. Nachfolger im Amte wurde sein Schwiegersohn Christoff Schultz, der dem alten Kuren ein Drittel seines Fixums weiterzureichen hatte2025. Die Amtsnachfolge hatte sich Schultz offenbar bereits durch die Eheschließung mit Mohts Tochter Catharina 1670 gesichert. Schultz überlebte seinen Schwiegervater nicht und starb bereits 1692. Die Versorgung von Moht ging somit auf den 1693 angestellten
2018 Vgl. Hochzeitsordnung 1702, D-GRu 520/Ob 579 (2) Adn. 6, Cap. XIV. 2019 StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [1.10.1652/4.10.1652]. 2020 StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [6.9.1693]. 2021 Vgl. Kroll/Pápay (2003), Datenbank/CD. 2022 Darmer (1934), S. 22. Die von Darmer benutzten Archivalien sind im Stadtarchiv offenbar nicht mehr erhalten. 2023 Vgl. S. 297–299. 2024 Moht war Geselle beim Stralsunder Kuren Jochim Norman gewesen (Amtszeit: 1637– 1642), hatte vorab bereits einige Zeit in der Fremde verbracht und starb um 1700. Vermutlich war er um 1615 geboren worden. 2025 Auch dessen Nachfolger Brasche hatte ein Drittel seines Gehalts an Moht weiterzureichen. StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [22.2.1693].
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Christian Brasche über, der »dem alten annoch lebenden Cuer Hinrich Mohten Zeit Lebens, das eine Drittel«2026 weiterreichen musste. Während Moht seine Tochter bereits zu seinen Lebzeiten mit dem vermutlich von ihm ausgewählten Amtsnachfolger Schultz verheiratete, um die finanzielle Versorgung der Familie nach seinem Tod sicherzustellen, hatte sich zuvor die Witwe Tiedemanns nach dem Tod ihres Mannes (1659) selbst um ihre ›Konservierung‹ bemüht2027. Zunächst wurde ihr ein sogenanntes Gnadenjahr gewährt, in dem sie die vollen Bezüge aus dem Kurenamt erhielt, dafür jedoch die musikalischen Dienste zu garantieren und die Lehrjungen und Gesellen weiter zu versorgen hatte. Vermutlich ließ sie den Dienst vom Gesellen ihres Mannes versehen und bemühte sich währenddessen um einen Amtsnachfolger, der bereit war, sie zu ehelichen. War ein solcher Kandidat gefunden, wurde diesem in der Regel vor allen anderen das Amt zugesprochen2028. 1660 gab Anna Tiedemann den Gesellen Michel Köhler als potenziellen Nachfolger im Amte an. Köhler hatte die Geschäfte bereits während des Gnadenjahres versehen und sich bereiterklärt, die Witwe seines Vorgängers bei Amtsübertragung zu heiraten2029. Er erhielt den Posten jedoch nicht. Kure wurde vielmehr der bereits erwähnte Heinrich Moht, der der musikalischen Zunft angehörte und bereits verheiratet war. Warum man Moht dem Gesellen Köhler vorzog und was in der Folge aus Anna Tiedemann wurde, ist nicht überliefert. Vermutlich war man sich vor allem der musikalischen Qualitäten Mohts bewusst, der bereits seit 13 Jahren der musikalischen Zunft angehört hatte2030. Maßnahmen zur Sozialfürsorge schrieb auch die 1693 erlassene Vereinbarung zwischen der Stralsunder Musikantenzunft und dem Kuren vor, die für beide Parteien seither gültig waren. Durch sie waren sowohl die Einnahmen im Krankheitsfall als auch das Gnadenjahr für die Angehörigen im Todesfall eines Musikers abgesichert2031.
2026 Ebd. 1703 beklagte sich Brasche, dass er acht Jahre lang (bis zum Tod des Kuren) und auch in Trauerzeiten ein Drittel seines Fixums an den alten Kuren habe abtreten müssen. Ebd. [6.12.1703]. 2027 Vgl. zur »Konservierungspraxis« S. 173f. 2028 Vgl. StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [13.6.1660]. 2029 Eheschließungen dieser Art verfolgten rein wirtschaftliche Interessen. Allein der Altersunterschied zwischen der Witwe und dem neuen Ehemann war oftmals immens. Wenngleich direkte Quellen fehlen, ist anzunehmen, dass auch Anna Tiedemann wesentlich älter als ihr Geselle Köhler war. Von ihren Kindern waren »etliche schon zu solchen jahren, daß Sie dienen, Vndt Ihr brot ander werts erwerben können«, ebd. [12.5.1660]. Köhler hingegen hatte sein Angebot noch »benebst seinen Eltern dahin erklehret« (ebd., Juni 1660), war offenbar also noch sehr jung. 2030 In seiner Bewerbung hatte Moht auch seine schlechte finanzielle Lage als fünffacher Familienvater beklagt (ebd., 8.1.1660). Vielleicht führte auch dies zu seiner Anstellung. Allerdings befand sich auch die Kurenwitwe Tiedemann in einer finanziellen Notsituation. 2031 Siehe S. 343f. sowie Dok. 20 im Anhang auf S. 381f. (Punkte 12 und 14).
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3.4  Die musikalische Zunft Zunftmäßige Zusammenschlüsse von Musikern sind in Europa bereits seit dem 12. Jahrhundert nachweisbar2032. An Handwerk und Gewerbe angelehnt, dienten die Berufsverbände in erster Linie dazu, berufsständische Interessen zu wahren2033. Sie regelten den Umgang der Musiker untereinander, sorgten für eine einheitliche Organisation des Berufsstandes und sicherten die Einkünfte ihrer Mitglieder, indem sie innere und äußere Konkurrenz ausschalteten2034. Die innere Struktur der Zünfte wurde durch Ordnungen geregelt. In Stralsund bildeten die Zunftmusiker neben dem Kunstpfeifer und dem Kuren die dritte Säule der städtischen Instrumentalmusik. Wann ihr zunftmäßiger Zusammenschluss erfolgte, ist nicht bekannt. Der musikalischen Zunft Stralsunds gehörten im 17. Jahrhundert vermutlich etwa sechs bis sieben Personen an2035. Damit war die Gruppe der Zunftmusiker nur geringfügig kleiner als die der Ratsmusiker, inklusive ihrer Gesellen und Lehrjungen2036. Neue Mitglieder wurden erst beim Ausscheiden älterer in die Zunft aufgenommen2037. Im Unterschied zu den Ratsmusikanten erhielten die Zunftmitglieder kein festes Gehalt aus der Stadtkasse. Sie bestritten ihre Einkünfte allein aus den Akzidentien. Auch war es ihnen nicht gestattet, Lehrjungen und Gesellen auszubilden2038. Zünfte waren hierarchisch organisiert; so auch in Stralsund. An der Spitze der Stralsunder Musikantenzunft stand ein sogenannter Direktor oder Altermann. Eine Zunftordnung mit Informationen zur inneren Struktur des Verbandes ist nicht überliefert.
3.4.1 Terminologie Mag auch die Selbstbezeichnung ›Zunft‹ für den Zusammenschluss von Musikern sonst eher selten begegnen2039, so wird sie doch in Stralsund neben ›Bruderschaft‹ und 2032 2033 2034 2035 2036
2037
2038 2039
Beer (1998), Sp. 2472. Ebd., Sp. 2471. Greve (1998), Sp. 1723. Vgl. die Anzahl der Unterschriften in den Dokumenten von 1637 und 1648. StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [21.1.1637/29.1.1648]. Zu den Ratsmusikern zählten der Kunstpfeifer mit seinen drei bis vier Gesellen und einem Lehrjungen sowie der Kure mit seinem einen Gesellen und einem Lehrjungen. Seit 1641 verfügte die Stralsunder Stadtmusik zudem über ein bis zwei zusätzliche Mitglieder (Violisten). Vgl. S. 316f. So wurden Samuel Friedland und Johann Jochim Hase 1718 in die Zunft aufgenommen, um die »vacanten stellen wieder zu besetzen«. StAS Rep 3-4747 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1717–1738 [9.5.1718]. Vgl. dazu auch Krüger (1933, S. 185f.) für Hamburg: »Es sollte ›hinfüro uff gedachte Rolle niemandt mehr gesetzet und angenommen werden, ehe und zuvor als solche Rolle bis auf 15 Persohnen wiederumb kommen.‹« Vgl. S. 313. Beer (1998), Sp. 2472.
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›Compagney‹ das gesamte 17. Jahrhundert hindurch verwendet. Die Mitglieder selbst bezeichnen sich hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zu dem Stralsunder Berufsverband in der Regel als ›Zunftbrüder‹ oder ›Zunftverwandte‹. Ihrer Profession nach werden sie in den Quellen, unter anderem in den Bürgerbucheinträgen oder Hochzeitsregistern, in der Regel als ›Musici instrumentales‹, ›Musikanten‹ oder ›Spielleute‹ geführt. Mitunter findet sich auch die Bezeichnung ›Kunstpfeifer‹ für ein Mitglied der musikalischen Zunft, wie im Falle von Tobias Flatow 16422040. Dies erscheint jedoch unrechtmäßig und ist vermutlich auf ein Versehen oder die Unwissenheit des Schreibers zurückzuführen, war der Terminus ›Kunstpfeifer‹ im Allgemeinen doch für den städtisch angestellten Ratsmusikanten reserviert.
3.4.2 Anstellung Auch die Zunftmusiker hatten vor allem eine musikalische Ausbildung und einen ehrbaren Lebenswandel für die Aufnahme in den Berufsverband nachzuweisen2041. In einem Probespiel wurden die Bewerber sowohl im Turmblasen als auch in der Kirchenmusik examiniert. Quellen zu den dabei gestellten Anforderungen liegen nur aus dem frühen 18. Jahrhundert vor: Jeremias Erasmus hatte 1715 »so wohl […] die trompete zu blasen alß andere instrumenta zu spielen«2042. Daniel Heinrich Grim aus Parchim2043 stellte 1711 »so wol auffm Thurm alß sonst auff der Örgel«2044 sein Können unter Beweis. Auch Martin Habersaat hatte drei Jahre später beim Stralsunder Kuren vom Turm zu blasen und beim Nikolaiorganisten ein Probestück vorzuspielen. Darüber hinaus wollte man »auch d hl. Cant. ersuchen falß morg in einer Kirchen musiciret wirt ihn zu testiren«2045. In qualitativer Hinsicht wurde von den Zunftmusikern sicher weniger erwartet als vom Kunstpfeifer und seinen Gesellen – nicht umsonst riet der Stralsunder Kunstpfeifer Philipp Brüseke 1717 dem Violisten Gerhard Friese, mit dessen musikalischen Leistungen er vor allem bei der Kirchenmusik unzufrieden war, sich »allhie unter den Zunfft Brüdern« um eine Anstellung zu bemühen2046.
2040 Flatow wird im Hochzeitsregister als ›Kunstpfeifer‹ geführt. Vgl. Schubert (1987), Nr. 1124. 2041 Vgl. dazu die Ausführungen auf S. 307–310. 2042 StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [30.3.1715]. 2043 Grim wurde 1717 Stralsunder Kure. 2044 StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [Schreiben wegen der Aufnahme Grims in die Zunft vom 4.7.1711]. Gemeint ist hier nicht, dass er die Orgel spielen, sondern auf der Orgelempore – vermutlich gemeinsam mit anderen Musikern – musizieren sollte. 2045 Ebd. [13.1.1714]. 2046 StAS Rep 3-4747 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1717–1738 [23.10.1717/25.10.1717]. Vgl. das entsprechende Zitat in Anm. 1884 auf S. 316.
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Über die Aufnahme eines neuen Mitgliedes entschieden die Zunftbrüder nach dem Probespiel nicht allein. Auch der Kantor, wie dem oben angeführten Zitat zu entnehmen ist, und der Kunstpfeifer hatten ein Mitspracherecht. Im Falle Johan Wilhelm Meiers aus Oldenburg in Holstein heißt es 1717, dass »der Stadt Musicant Bruseke und die übrigen Zunfftbrüder […] berichten, daß sie gestern bey der probe zugegen gewesen, und mit derselbigen friedlich, sie auch geneigt wären in Ihrer Zunfft Ihn mit auffzunehmen«2047. Welche Bedeutung dem Altermann bei der Anstellung neuer Mitglieder zukam, ist unbekannt. Nachdem man sich auf einen Kandidaten geeinigt hatte, wurde dieser den städtischen Polizeiherren in ihrer Funktion als Aufsichtsinstanz über die Stadtmusik vorgestellt. Sofern es hinsichtlich seines Lebenswandels keine Einwände gab, hatte der Anwärter die für die Zunftaufnahme übliche Gebühr2048 zu entrichten und innerhalb von acht Tagen das Stralsunder Bürgerrecht2049 zu erwerben, um sich von den außerdem in der Stadt befindlichen unorganisierten Musikern abzugrenzen. Während sich im 17. Jahrhundert noch viele Stralsunder Bürgersöhne unter den Zunftmusikern feststellen lassen2050, kamen die Zunftanwärter nach ihren Gesellen- und Wanderjahren im frühen 18. Jahrhundert vermehrt nicht mehr aus Stralsund selbst. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang Daniel Heinrich Grim aus Parchim (Bewerbung 1711)2051, Johan Landman aus Neubrandenburg (Bewerbung 1711)2052, Martin Habersaat aus Zeutzenburg (?) bzw. Salzwedel (Bewerbung 1714)2053, Jeremias Erasmus aus Greifswald (1715)2054, Philipp Brüseke aus Bergen/Rügen (Bewerbung 1716)2055, Ewald Wilcken aus Ueckermünde (Bewerbung 1717)2056 und Johan Wilhelm Meier aus Oldenburg in Holstein (Bewerbung 1717)2057. Vermutlich hatte der Stralsunder Bevölkerungsrückgang zu Beginn des 18. Jahrhunderts − u. a. verursacht durch die 2047 Ebd. [8.2.1717]. 2048 Am Ende des 17. Jahrhunderts waren drei Rthl. (= 18 MS) zu zahlen. Das Geld bekam in der Regel der Zunftälteste (= Altermann), um es zu verwalten. Vgl. StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [2.4.1696]. 1637 betrug die Aufnahmegebühr nur 1 Rthl. (= 6 MS). Vgl. StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [21.1.1637]. In Rostock war offenbar wesentlich mehr zu entrichten. Neue Mitglieder zahlten immerhin 20 fl. (= 60 MS) und zwei Tonnen Bier, wenn sie Auswärtige waren. Die Söhne einheimischer Meister hatten 10 fl. und zwei Tonnen Bier zu entrichten. Vgl. Beer (1998), Sp. 2473. Unterschiede zwischen Fremden und Bürgersöhnen sind aus Stralsund nicht bekannt. 2049 StAS Rep 3-4747 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1717–1738 [9.1.1717]. 2050 Siehe die Tabelle der Zunftmitglieder (Zusätze »O«, »F«) auf S. 348 (Tabelle 33). 2051 StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [4.7.1711]. 2052 Ebd. [21./28.2.1711]. 2053 Ebd. [13.1.1714]. In Salzwedel erhielt Habersaat seine musikalische Ausbildung. 2054 Ebd. [30.3.1715]. 2055 Ebd. [10.2.1716/11.2.1716]. 2056 StAS Rep 3-4747 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1717–1738 [9.1.1717]. 2057 Ebd. [8.2.1717].
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Pestepidemie von 1710/112058 − zu einem musikalischen Engpass geführt, wodurch auswärtige Bewerber nun vermehrt Chancen auf eine Anstellung hatten. Wenngleich die Zunft den Mitgliedern bereits gewisse finanzielle Sicherheiten bot, bedeutete eine städtische Anstellung mit Fixum und erweiterten Musizierprivilegien demgegenüber dennoch eine deutliche Verbesserung. So blieben vermutlich besonders die talentierten Musiker auch nach ihrer Aufnahme in die Zunft auf Stellensuche. Wie schon erwähnt, wechselten im Verlauf des 17. und frühen 18. Jahrhunderts drei Stralsunder Zunftmitglieder in das Kurenamt2059. Auch war in Stralsund offenbar der Militärdienst bei den Hoboisten lukrativer als die Zunftmitgliedschaft. Jeremias Erasmus aus Greifswald etwa, der sich 1715 erfolgreich um die Aufnahme in die Stralsunder Zunft beworben hatte, wechselte noch im selben Jahr zu den Hoboisten2060.
3.4.3  Musikalische Aufwartung Zur musikalischen Aufwartung der Zunftmitglieder im Verlauf des 17. Jahrhunderts liegen nur wenige Nachrichten vor. Dokumentiert ist lediglich ihr Privileg zum Musizieren bei den sogenannten fremden Hochzeiten, die ihnen jedoch, wie eingangs erwähnt, nicht uneingeschränkt zustanden2061. Darüber hinaus musizierten die Zunftmitglieder, wenn es die Besetzung der Musik erforderte, außerdem bei der Kirchenmusik und auf dem Turm; außerdem teilten sie sich mit dem Kuren das Musizierprivileg bei den sogenannten Ämtern2062. Während der Amtszeit des Kuren Christian Brasche am Ende des 17. Jahrhunderts lässt sich eine enge Verbindung zwischen der Zunft und dem Kurenamt feststellen. Brasche initiierte bei seinem Amtsantritt 1693 eine Verordnung, durch die die musikalischen Zuständigkeiten der Zunftmusiker und des Kuren geregelt werden sollten. Vorausgegangen waren zahlreiche Streitigkeiten um musikalische Aufwartungen2063, die Brasche bei seinem Amtsantritt zu beenden versuchte. Zunftmusiker und Kure einigten sich, nunmehr bei den Akzidentien gemeinsam zu wirken. Außerdem wurde der musikalische Turmdienst neu reglementiert. Die wesentlichen Punkte der Vereinbarung zwischen dem Kuren und der Zunft sollen an dieser Stelle zitiert und anschließend bewertet werden:
2058 Die Angaben zu den Pesttoten beim Pestausbruch von 1710/11 variieren in den Quellen. Zapnik zufolge betrugen die Verluste unter der Stralsunder Wohnbevölkerung etwa 30 %. Vgl. Zapnik (2007), S. 226. 2059 Jochim Norman (1637), Heinrich Moht (1660) und Daniel Heinrich Grim (1717). Vgl. S. 331. 2060 StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [30.3.1715]. 2061 Vgl. S. 299–301. 2062 Siehe S. 336. 2063 Vgl. etwa StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [18.8.1704/23.8.1704].
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»Einigung zwischen dem Kuren Christian Brasche und den Zunftmitgliedern (1693) Folgender Vergleich oder Punctation ist von hiesigen Stadt-Kuhren Christian Braschen und seinen Mit-Cameraten den Zunfttbrüdern eigenmächtig unter ihnen beliebet und förmlich auffgerichtet den 6ten May Anno 1693 […] Verspricht hiesiger Stad-Kuhr Christian Brasche, und nimmt hirmit an, dass er seine Mit-Cammeraten die Zunfft-brüder zu jederzeit wan Ihm Hochzeiten oder andere Auffwartungen zu handen kommen, alwo er auffzuwarten verlanget wird, es seÿ in- oder ausserhalb der Stad, fordern und laden will. Deßgleichen versprechen sich die Zunft-brüder hinwieder solches alles in gleicher Vergeltung beÿ Ihm zu thun. […] Würde auch der Chur kranckheit halber selber auff dem Thurm nicht auffwarten und abblassen kommen, so soll Einer von den Zonfftbrüdern welcher tüchtig dazu ist und der Chur erwehlen der dazu fodern wirt ein vergleich xxx [unleserlich] darzu einstellen davor sollcher selbe nicht mehr als 3 ß xxx [unleserlich] von dem Churen und dazu xxx [unleserlich] seine portion von dem Verdienst xxx [unleserlich] und keinen toborg in der Zeit des Auffwarten rauchen. […] Und wenn sich auch die ordentliche feÿer und danckfeste einfinden, und der Stad=Chur seine Cameraten alle mit einand ersuchet, Auffwartung vom Thurm mit zu verrichten, so soll keiner sich dawied setzen, sondern jederzeit sich gebührend, sowol beÿ tage als beÿ Nachtzeit sich beÿ 12 Wochen Straffe einfinden.«2064
Den Festlegungen zufolge beabsichtigten Kure und Zunftmusiker, ihre Aufwartungen bei den Akzidentien nunmehr gemeinschaftlich zu verwalten und sich ihre Dienste gegenseitig zur Verfügung zu stellen. Auch die Einnahmen aus den Akzidentien sollten geteilt werden, wie später noch näher auszuführen ist. Die geplante Kooperation betraf vermutlich vorrangig die fremden Hochzeiten, da die Zunftmitglieder für Bürgerhochzeiten kein Musizierprivileg besaßen. Im Übrigen ist auch in Hamburg ein enges Verhältnis zwischen dem Kuren und den Zunftmusikern festzustellen. Hier gehörten die Kuren sogar zu den zunftmäßig organisierten ›Rollbrüdern‹, wenngleich sie im Unterschied zu diesen ein festes Gehalt von den Kirchen erhielten2065. Die Vorteile der Vereinbarung für beide Parteien liegen auf der Hand. Indem Kure und Zunftmusiker die musikalischen Dienste gemeinsam verwalteten und die Einnahmen daraus teilten, ließen sich Streitigkeiten vermeiden und gewisse finanzielle Sicherheiten schaffen. Der Kure konnte zudem mit Unterstützung beim Turmdienst rechnen, wenn er erkrankt war oder eine größere Anzahl an Musikern benötigte.
2064 Ebd. [6.5.1693]. Vgl. das vollständige Dokument (Dok. 20) im Anhang auf S. 381f. 2065 Krüger (1933), S. 189.
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Die Stralsunder Polizeibehörde stimmte der von Brasche und der Zunft 1693 aufgesetzten Ordnung zu, vermutlich in der Hoffnung, die andauernden Unklarheiten und Streitigkeiten damit zu beenden. Doch war der Erfolg der Vereinbarung offenbar begrenzt. Auch in den nachfolgenden Jahren beklagte der Kure Brasche, dass die Zunftmusiker sich weiterhin musikalische Aufwartungen bei den Hochzeiten erschlichen und ihrer Verpflichtung bei der Turmmusik nicht oder nicht ordnungsgemäß nachkamen2066. Musikalische Dienste hatten die Zunftmitglieder außerdem bei der Kirchenmusik. Durch den Kirchendienst konnten sie von der Zahlung der bürgerlichen ›onera‹ befreit werden. 1695 etwa baten Tobias Flatow und Balzer Hennings um die Befreiung vom Kopfgeld, da sie wie andere Musikanten in der Kirche aufgewartet hatten2067. Auch berichtete der Zunftmusiker Daniel Heinrich Grim 1716, dass »denen so bey der Kirche auffwarteten nimmer onera angemuhtet worden wären«2068. Ob den Zunftmusikern ihre Aufwartung bei der Kirchenmusik zusätzlich vergütet wurde, ist unbekannt. Gefordert wurden sie in der Kirche wohl vom Kantor für größer besetzte Figuralmusiken. 1707 berichteten die Zunftmusiker, dass sie »bißhero gütigt sind geschützet worden, wie auch so woll in denen Kirchen undt auff den Thurm bey danckfesten2069 undt andern etwan sich fürdenden begebenheitten öffte vom Cantore es erfodert undt angemuhtet wirdt, auch so offte es nöhtig ist willig undt gerne unß finden laßen, undt die auffwartung thun.«2070
Dass sie diesem musikalischen Dienst offenbar nicht in jedem Fall gewachsen waren und mitunter versuchten, sich zu entziehen, bezeugt eine Beschwerde des Kunstpfeifers Conrad Diem. Darin heißt es, dass sie kein »attestata beybringen können, daß sie in vielen Jahren in den Kirchen mitt aufgewartet haben [...]. Wan sie vom hl. Cantore mittgefodert werden, kamen sie nicht einmahl zum Vorschein sondern verstecken sich hinter die Pfeiler, zweifels frey aus der Ursache, daß sie sich nicht unterstehen ein schwer Stück mit zu spielen.«2071
Der Behauptung Diems waren Streitigkeiten um die Aufwartung bei den fremden Hochzeiten vorausgegangen. Welche Bedeutung den Anschuldigungen des Kunstpfeifers vor diesem Hintergrund beizumessen ist, ist ungewiss, wenngleich es sicher qualitative Unterschiede in der musikalischen Aufwartung von Kunstpfeifer und Zunftmusikern gab. 2066 2067 2068 2069
StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [18.8.1704/23.8.1704]. Ebd. [28.10.1695/22.6.1695]. Ihrer Bitte wurde entsprochen. Ebd. [22.6.1695]. StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [10.2.1716]. Gefeiert wurde in Stralsund beispielsweise jährlich die Befreiung von der Wallensteinschen Belagerung am 24.7. Vgl. Paul (1928). 2070 StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [25.7.1707]. 2071 Ebd. [13.8.1707].
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3.4.4  Materielle Verhältnisse Zum Einkommen der Zunftmusiker liegen kaum Angaben vor, da sie ihre Einkünfte allein aus den Akzidentien bestritten. Die Einnahmen aus dem Musizieren bei den ›Ämtern‹ hatten sie − unabhängig davon, wer aufwartete − mit dem Kuren zu teilen; seit der Vereinbarung von 1693 galt dies auch für die Erträge aus den (fremden) Hochzeiten: »Das Geld betreffend, was der Stad=Kuhr auff Hochzeiten oder anderen lustig Zusammenkünften, so wol in ihrem beÿseÿn als Abwesen verdienet, davon sollen sie ihre portion jederzeit ehrlich und redlich zu gewarten haben. Dagegen sollen die Zunftt-brüder von dem, was ihr Verdienst betrifft, es seÿ in= oder ausserhalb der Stad, jederzeit dem Stad-Kuhren seine portion auffrichtig zu entrichten hinwieder zu halten verbindlich gemachet seÿn.«2072
Zu welchen Anteilen die Einnahmen geteilt wurden, wird dabei nicht erwähnt. Innerhalb der Zunft wurden die Einkünfte vermutlich gleichmäßig unter allen Mitgliedern verteilt, unabhängig davon, ob sie aufgewartet hatten oder nicht. Ob dem Altermann dabei ein höherer Anteil zustand, ist nicht bekannt. Folgenreich für die Zunftmusiker waren die Trauerzeiten beim Tod von Mitgliedern der herzoglichen oder königlichen Familie, in denen instrumentales Musizieren oft über Monate untersagt und ihnen somit jegliche Einnahmequelle genommen war. Auch wirtschaftliche Notlagen infolge von Missernten und Krieg, wie sie im 17. Jahrhundert gehäuft auftraten, wirkten sich nachteilig auf den Verdienst der Zunftangehörigen aus, da sich die Anzahl der Hochzeiten und anderer Festivitäten hier oftmals stark reduzierte. In diesen Zeiten waren die Zunftmitglieder zur Suche nach anderen Erwerbsmöglichkeiten gezwungen. Nicht selten verließen sie die Stadt. Über die Wohnverhältnisse der Stralsunder Zunftmitglieder liegen nur wenige Angaben vor. Sichere Nachweise über die Existenz einer Spielmannstraße, in der die ortsansässigen Spielleute wohnhaft waren, gibt es in Stralsund nicht2073. Dem Haussteuerregister von 1680 zufolge besaß der spätere Altermann der Stralsunder Zunft Philipp Curtius 1680/1685 ein eigenes Haus in der Fischerstraße2074 und war demzufolge offenbar recht wohlhabend. Zwei Mitglieder der Stralsunder Musikantenzunft lassen sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Mieter von jeweils einer Bude im Marienquartier nachweisen2075.
2072 StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [6.5.1693]. 2073 Vgl. die Ausführungen Daebelers (1966, S. 26f.) zur Stralsunder ›pumperstrate‹. 2074 StAS Rep 33-1557 und Rep 33-1562 Haussteuerregister 1680 bzw. 1685. Das Haus von Curtius brannte beim großen Stadtbrand 1680 ab und wurde 1685 wieder aufgebaut. 2075 Elias Sturm wohnte zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der Marienstraße 10 und Christian Müller am Neuen Markt 1. Vgl. Kroll/Pápay (2003), Datenbank/CD.
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3.4.4.1 Sozialfürsorge Die wirtschaftliche Absicherung ihrer Mitglieder gehörte zu den Zielen der Berufsverbände. Innerhalb der Zunft war auch die Sozialfürsorge durch Ordnungen geregelt. Dabei erfolgte die finanzielle Versorgung für alte, erwerbsunfähige und kranke Musikanten in der Regel durch eine Zunftkasse, in der Teile der Einkünfte zusammenflossen2076. Bestimmungen zur Sozialfürsorge der Stralsunder Zunft enthält etwa die 1693 verabschiedete Vereinbarung zwischen dem Kuren Brasche und den Zunftmitgliedern. Für den Krankheitsfall legten die Musiker fest, dass »wann der liebe Gott einen von Uns mit Leibeskranckheit belegen sollte, so soll der Krancke sein volles Part haben, es mag ein frembder zu der Auffwartung gefodert werden od nicht«2077. Im Todesfall eines Zunftmitglieds sollte die »hinterbliebene witfrau ein Jahr ihr part haben, es sey dann, dass frembde dazu gefodert werden, so soll sie eine Discretion [Abfindung] zu erwarten haben«2078. In diese Regelungen war seit 1693 auch der Kure eingeschlossen. 3.4.5  Mitglieder der Stralsunder Musikantenzunft Die folgende Tabelle listet die in den Quellen als Zunftmitglieder geführten Musiker auf. Vollständige Übersichten über die Stralsunder Zunftangehörigen zu einem bestimmten Zeitpunkt sind nicht überliefert. Die Informationen in der Tabelle wurden zum größten Teil den Eingaben und Beschwerdebriefen Stralsunder Zunftmitglieder entnommen und durch Angaben aus den Bürgerbüchern, Hochzeits- und Sterberegistern ergänzt. Der Zeitpunkt des Ein- und Austritts eines Musikers in die oder aus der Zunft lässt sich nur selten genau bestimmen2079. Die in Klammern eingefügten Jahreszahlen bezeichnen das Jahr, in dem die betreffenden Musiker das Stralsunder Bürgerrecht erwarben – in der Regel erfolgte dies mit dem Zunfteintritt. Ebenfalls in Klammern gesetzt erscheinen die in den Bürgerbüchern bzw. im Hochzeitsregister aufgeführten Berufsbezeichnungen der Musiker. Die Zusätze »O« (= Originarius) bzw. »F« (= Fremder) geben jeweils an, ob es sich um einen ›Bürgersohn‹ oder um einen Fremden handelte. Die übrigen Jahresangaben (ohne Klammern) entsprechen den Erwähnungen in den Quellen. Die Auflistung der Musiker erfolgt alphabetisch, da eine chronologische Ordnung aufgrund der nur lückenhaft vorliegenden Informationen wenig sinnvoll erscheint.
2076 Beer (1998), Sp. 2474. 2077 StAS Rep 3-4639 Stadtmusikanten 1662–1705 [6.5.1693]. 2078 Ebd. 2079 Auf den Zeitpunkt des Eintritts lässt sich durch überlieferte Bewerbungsschreiben, auf den des Austritts durch Einträge im Sterberegister schließen.
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Name Arens, Jochim Brasche, Johann
Jahr 1637 (1675)−1701
Brese, Gustav Hinrich Brüseke, Philipp (d. Ä.) Curtius, Philipp
1696−1714 1716 (1669)−1696
Dettmer, Jacob
(1629)−1660
Flatow, Tobias
(1642)– (vor?) 1657
Flatow, Tobias II Friedland, Samuel Gerdes, Johann Glasow, Hans Grim, Daniel Heinrich Grube, Christoph Hase, Johann Jochim Hennings, Balzer Jurgesen, Johan Kron, Matthias
1695 1718 1662 (1656)−1660 (1711)−1714 (1657)−1662 1718 1695 (1643)−1660 (1656)−1662
Landtman, Joh. Georg Lefin, Jacob
(1711)−1714 1637
Malchow, Tobias Meier, Johan Wilhelm Moht, Heinrich Müller, Christian Norman, Jochim Papke, Tobias
1637 1717 1647−1660 1706−1711 1637 (1648)−1660
Rappien, Martin Schmitt, Christoph Schröder, Jochim Schröder, Jochim II Sievert, ? Sturm, Elias
1700−1701 1696−1704 (1628)−1648 1704 1710 (1704)−1711
Warner, Marten
(1622)−1637
Wilcken, Ewald
1717
Tabelle 33: Zunftmitglieder
Bemerkung (F – »Kunstpfeifer«) 1675 Hochzeit (»Musikant«) Bruder Christian war Kure seit 1693 Vater des Kunstpfeifers Philipp Brüseke (»Musikante«) 1669 Hochzeit (»Musikant«) 1696 Altermann † 1700 (O – »Spielmann«) 1657/1660 Altermann/Direktor 1642 Hochzeit (»Kunstpfeifer«?) 1643 Erwerb des Bürgerrechts (»Spielmann«) † (vor?) 1657
(»Spielmann«) (»Musikant«) 1717 Kure (»Spielman«) 1657 Hochzeit (»Musicus instr.«) (»Spielmann«) (O – »Spielmann«) 1656 Hochzeit (F – »Musikant«) 1616 (?)/1640 (?) Erwerb des Bürgerrechts (»Leiermann«/O – »Spielmann«) 1642 Hochzeit (»Spielmann«) 1660 Kure † 1711 1637 Kure (O – »Spielmann«) 1648 Hochzeit (»Musicus instr.«) † 1669 (O – »Spielmann«) (F – »Musikant«) † 1711 (»Spielmann«) 1622 Hochzeit
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3.5  Weitere Instrumentalisten 3.5.1  Pfuscher, Böhnhasen und Bierfiedler Neben den Ratsmusikanten und den Angehörigen der musikalischen Zunft versuchten in Stralsund, wie auch anderswo, Laienmusikanten, mit Musik ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die sogenannten Pfuscher, Böhnhasen oder Bierfiedler boten ihre musikalischen Dienste vor allem auf dem Lande an – »in dem gantzen territorio welches E. E. hw. Rahts Jurisdiction unterworffen ist«2080. Dabei konkurrierten sie in erster Linie mit den Musikern der Stralsunder Zunft, deren Musizierprivilegien sich vor allem auf die Landterritorien erstreckten. Dass die Stralsunder Laienmusikanten gerade auf dem Lande agierten – »ohne dem auf dem lande sich Musicanten undt untüchtige leüte undt böhnhasen gnug finden«2081 –, hat verschiedene Gründe: Erstens waren die musikalischen Zuständigkeiten innerhalb der Stadtmauern klarer geregelt und ließen im Gegensatz zu den Landterritorien kaum Spielraum für die musikalische Betätigung von Laien. Zudem war es auf dem Lande schwerer kontrollierbar, ob die getroffenen Verordnungen und Regelungen auch eingehalten wurden; Verstöße kamen hier jedenfalls seltener ans Tageslicht2082. Der zumeist ärmeren Landbevölkerung kam es außerdem sicher nicht in erster Linie auf hohe Kunstfertigkeit, sondern eher auf ein kostengünstiges und unkompliziertes Angebot an2083, mit dem die Laienmusikanten sicher dienen konnten. Bedeutend waren darüber hinaus die auf dem Lande existierenden Kontakte und Netzwerke, die gerade dort ansässigen Laienmusikanten gute Chancen auf einen Einsatz boten. Von den kunstmäßigen Musikern unterschieden sich die Laienmusikanten in erster Linie durch ihre fehlende musikalische Ausbildung, wodurch ihnen die Organisation in einem Berufsverband dauerhaft verwehrt blieb2084. Über die Herkunft der Pfuscher, Böhnhasen oder Bierfiedler lassen sich im Einzelnen kaum Aussagen treffen. Auch eine
2080 StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [25.7.1707]. 2081 Ebd. [25.7.1707/27.7.1707]. 2082 Vgl. Soll (2006, S. 344f.) für die Herzogtümer Schleswig und Holstein: »Es war schlichtweg nicht möglich, die ›schwarze‹ Musikkultur flächendeckend zu kontrollieren, denn ihre Träger waren so zahlreich, ›daß man fast beÿ jedem Auswurff einen Fuscher ins Gesichte trifft‹« (Stellungnahme des Flensburger Stadtmusikanten Timmermann vom 18.6.1755). 2083 1707 beklagten sich die Stralsunder Zunftangehörigen über den Kunstpfeifer Conrad Diem, der mit seinen Gesellen zunehmend Landhochzeiten an sich ziehe und dort »unangemessen kunstfertig« und mit »Großem Spiel« aufwarte. StAS Rep 3-4729 Sen. Sund. Stadtmusikanten 1706–1716 [25.7.1707/27.7.1707]. 1710 wehrte sich die Einwohnerschaft Altefährs gegen die Preise der Stralsunder Musiker und erklärte, dass sie bei den geforderten Preisen lieber ganz auf das Spiel verzichten wolle. Ebd. [11.10.1710]. 2084 Vgl. zum Verhältnis der ›Pfuscher‹ und Berufsmusiker am Beginn des 17. Jahrhunderts auch die Musicomastix von Elias Herlitz (siehe S. 194).
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Zuordnung zu den von Soll unterschiedenen drei Gruppen laienhafter Musiker2085 ist für Stralsund aufgrund unzureichenden Quellenmaterials kaum möglich. Aussagen über das musikalische Vermögen der Laienmusiker lassen sich nur begrenzt treffen. Da sie nicht zunftmäßig musikalisch ausgebildet waren, standen sie wohl in den meisten Fällen sowohl hinter den Ratsmusikanten als auch hinter den Zunftangehörigen zurück. Dennoch sind ihre musikalischen Fähig- und Fertigkeiten vermutlich nicht in jedem Fall als durchweg primitiv einzuschätzen. Soll verweist in diesem Zusammenhang auf die von Laienmusikern genutzte Möglichkeit, sich bei einem zunftmäßigen Musikanten im Instrumentalspiel unterweisen zu lassen2086. Mit einer 1637 erlassenen Ratsverordnung versuchte man, dem Treiben der Pfuscher in Stralsund ein Ende zu setzen. Allen Musikern, die weder in städtischen Diensten standen noch zunftmäßig organisiert waren, war es fortan untersagt, in der Stadt aufzuwarten: »6. Fürs Sechste alle Außwertige, undt in dieser ordnung nicht begriffene Meister undt Gesellen alhie in der Stadt mit Instrumenten auffzuwarten nicht geduldet, sondern denselben gäntzlich verbothen sein, undt da einer deßen sich freventlich unternehmen würde, wollen die Herren Cammerer uff gebührliches ansuchen solches abzuschaffen sich angelegen sein laßen.«2087
Dass allerdings auch diese Bestimmung in Stralsund nicht dauerhaft eingehalten wurde, wird durch eine Vielzahl von Beschwerden vor allem aus dem späten 17. und beginnenden 18. Jahrhundert deutlich. Verstöße gab es in diesem Zusammenhang in und um Stralsund zum Ende des 17. Jahrhunderts vor allem durch die Gruppe der ausgeschiedenen Soldaten. Auf die Größe der in der Stadt einquartierten Garnison ist an anderer Stelle bereits hingewiesen worden2088. Alters- oder gesundheitsbedingt ausgeschiedenen Soldaten konnte die Musik mitunter zum Verdienst ihres Lebensunterhalts dienen. Die daraus resultierenden Konflikte zwischen Stralsunder Musikern und ehemaligen Militärangehörigen um die musikalischen Privilegien sind durch die Quellen bezeugt. So beklagten die Stralsunder Zunftmusiker 1710 bei der Stadtobrigkeit den Verlust ihrer Verdienstmöglichkeiten auf dem Lande. Sie berichteten, dass
2085 Der ersten Gruppe ordnet Soll (2006, S. 342–344) die tatsächlichen Laienmusikanten zu, die vor allem im privaten Bereich musizierten: »wer auch immer ein Musikinstrument zu spielen vermochte«. Zur zweiten Gruppe zählt er die »halbprofessionellen Musikanten«, für die das Musizieren einen Nebenverdienst darstellte. Drittens benennt er altersbedingt oder aufgrund körperlicher Gebrechen aus dem Militär ausgeschiedene Soldaten, die durch das Musizieren versuchten, ihr Einkommen aufzubessern. 2086 Vgl. ebd., S. 345f. 2087 StAS Rep 3-4573 Sen. Sund. Der Stadtkur 1635–1660 [21.1.1637]. Die Festlegung bezieht sich allerdings nur auf das Stadtgebiet. 2088 Siehe S. 38.
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»am negst verwichenen Sontage 3 Fuschers von hir nach der Alten Fehr begeben, und sollen willens sein, aldort eine stube zu heuren, undt diesen herbst dort im lande ihre Fuschereyen nach allen Kräfften fort zu setzen, weil dero handwerck bey dieser betrübten zeit alhir in Stralsund nicht mehr gelten will, der eine ist ein abgedanckter Soldat, der andere eines Corporals Sohn auß Stralsund, und der dritte ist ein Musquetir von hiesigen Regiment.«2089
Der Stralsunder Rat versprach den Zunftmitgliedern in dieser Angelegenheit Schutz und Hilfe. Bei einer Strafe von 10 Gulden (= 30 MS) wurde es den Pfuschern untersagt, den Stralsunder Musikanten zustehende Hochzeiten zu entziehen. Aufwarten durften sie nur dann, wenn sowohl Kunstpfeifer, Kure als auch die Zunftmitglieder verhindert waren2090. Wirklichen Einhalt konnte die städtische Obrigkeit dem Wirken der Laienmusiker in und um Stralsund jedoch wohl kaum gebieten.
3.5.1.1  Abgrenzung vom Pfuschertum Das Berufsethos von Stadt- und Zunftmusikern, die als ausgebildete Musiker zu den ›Kunstmäßigen‹ zählten, verbot es ihnen, mit ›Nicht-Kunstmäßigen‹ gemeinsam zu musizieren. Dabei stand nicht allein ihre berufliche Ehre, sondern unter Umständen ihre gesamte berufliche Zukunft auf dem Spiel. Wie wichtig es daher war, sich vom sogenannten Pfuschertum klar abzugrenzen, bezeugt ein Konflikt um die Aufnahme Martin Habersaats in die Stralsunder Zunft im Jahre 1714. Habersaat war in Salzwedel musikalisch ausgebildet worden und hatte seine Gesellenzeit in Wittstock und »im Lüneburgischen« verbracht2091. Seit 1711 war er als Hoboist im pommerschen Loitz beschäftigt gewesen. Er hatte also den für städtische Musiker üblichen Ausbildungsweg absolviert. Dennoch gab es musikalische Gründe dafür, ihn nicht in die Zunft aufzunehmen. Zum Verhängnis sollten Habersaat seine gemeinsamen musikalischen Jahre mit nicht zunftmäßig organisierten Musikern (in Loitz?) werden: Dass die »bande mit denen er aufgewarttet nicht zunfftmäÃ