Religion und Individualität bei Schleiermacher 9783110660753, 9783110664393, 9783110661323

Schleiermacher viewed religion and individuality as having an interior referential relationship. This is a major element

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Religion und Individualität bei Schleiermacher
 9783110660753, 9783110664393, 9783110661323

Table of contents :
Das Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Siglenverzeichnis
Einleitung
Teil I: Die Entdeckungszusammenhänge von Religions- und Individualitätsverständnis in der frühromantischen Werkphase
Einleitung
Kapitel 1 Die anthropologische Grundlegung der Individualitätstheorie
Kapitel 2 Der individualitätstheoretische Religionsbegriff in den Reden (1799)
Zwischenertrag
Teil II: Die kulturtheoretische Neuentwicklung des Religions- und Individualitätsbegriffs in der Philosophischen Ethik
Einleitung
Kapitel 3 Die handlungstheoretische Grundlegung der Kulturtheorie im Brouillon zur Ethik (1805/06)
Kapitel 4 Der Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik von 1812–1817
Schluss
Quellen- und Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister

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Manke Jiang Religion und Individualität bei Schleiermacher

Schleiermacher-Archiv

 Herausgegeben von Notger Slenczka und Andreas Arndt, Jörg Dierken, Lutz Käppel, André Munzinger

Band 30

Manke Jiang

Religion und Individualität bei Schleiermacher 

ISBN 978-3-11-066075-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066439-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-066132-3 ISSN 1861-6038

Library of Congress Control Number: Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz/Datenkonvertierung: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

 Prof. Dr. Theodor Holzdeppe Jørgensen (1935–2018) in dankbarer Erinnerung

Das Vorwort

Der vorliegenden Studie liegt das Forschungsprojekt zugrunde, das ich im Frühjahr 2007 am Institut für Systematische Theologie an der Evangelischen Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg begonnen und im Herbst 2015 in Berlin abgeschlossen habe. Der zweite Hauptteil dieser Studie – unter dem Titel Religion und Individualität. Eine Untersuchung zur Philosophischen Ethik Schleiermachers – wurde im Sommersemester 2016 von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation zum Dr. phil. angenommen. Aufgrund der hiesigen Bestimmungen zum Umfang der Dissertation konnte der erste Hauptteil seinerzeit nicht eingereicht werden. Für die Veröffentlichung wurde die gesamte Studie durchgesehen und überarbeitet. Die nach dem Abschluss dieser Studie erschienene Literatur konnte nur zum Teil berücksichtigt werden. Religion und Individualität sind zwei Themen, die mich bereits während meines Studiums der Philosophie und Religionswissenschaft in China sehr beschäftigt haben. Daher war es eine große Freude für mich als junge Wissenschaftlerin, das Verhältnis von Religion und Individualität bei Friedrich Schleiermacher, einem der bedeutendsten Autoren in der europäischen Theologie- und Philosophiegeschichte, untersuchen zu können. An dieser Stelle möchte ich mich zuallererst bei Herrn Prof. Dr. Ulrich Barth (Halle) bedanken. Er hat mein wissenschaftliches Interesse erkannt, mir das Thema zur Promotion vorgeschlagen und das Projekt in dessen Vorbereitungsphase und Anfangsphase mit großem Engagement betreut. Ihm habe ich auch für zahlreiche Vorlesungen und Seminare im Fachbereich Systematische Theologie und Religionsphilosophie zu danken. Sie ermöglichten es mir, eine solide Grundlage für die Studie zu Schleiermacher zu gewinnen. Von Herzen gedankt sei ebenfalls Herrn Prof. Dr. Roderich Barth (Leipzig). Er hat meinen bisherigen akademischen Werdegang in Deutschland und dieses Forschungsprojekt in allen Phasen mit Rat und Tat unterstützt, mich selbstständig forschen lassen und mich nicht zuletzt immer wieder angeregt, die langjährige Studie trotz mancher offener Fragen abzuschließen. Meinen herzlichen Dank möchte ich auch den Mitgliedern des von Herrn Ulrich Barth und von seinem damaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter Herrn Roderich Barth geleiteten halleschen Doktorandenkolloqiums für stetige freundschaftlich-konstruktive Begleitung ausdrücklich aussprechen: Dr. Christof Ellsiepen, Prof. Dr. Andreas Kubik-Boltres, Prof. Dr. Christopher Zarnow, PD Dr. Björn Pecina, PD Dr. Georg Neugebauer, Dr. Marianne Schröter, Dr. Friedrich Ley, PD Dr. Martin Fritz, PD Dr. Roland Lehmann, Stefan Egenberger, Stephan Feldmann, Dr. Georg Raatz, Dr. Lars Heinemann, Dr. Martin Gröger, Bradley Schmidt, Christian Buro, Anne-Maren Richter und Dr. Constantin Plaul. Über Jahre hinweg habe ich durch ihre Forschungsprojekte viel gelernt, fachlich wie sprachlich. Besonderer Dank gilt denjenigen Kolleginnen und Kollegen, die an https://doi.org/10.1515/9783110664393-201

VIII  Das Vorwort

dem Korrekturlesen meiner Arbeit in ihren unterschiedlichen Stadien beteiligt waren und dabei mit Hinweisen, Anfragen und Anregungen nicht gezögert haben. Ohne die Begleitung dieser einzigartigen wissenschaftlichen Geselligkeit wäre das Zustandekommen der vorliegenden Studie nicht möglich gewesen. Mein herzlicher Dank richtet sich außerdem an Herrn Prof. Dr. Jörg Dierken (Halle), der mich während meiner Studienzeit in der Saalestadt freundlich gefördert hat. Nach Halle wurde die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin die zweite Station meiner akademischen Ausbildung in Deutschland. Herrn Prof. Dr. Andreas Arndt, Herrn Prof. Dr. Wilhelm Gräb und Herrn Prof. Dr. Notger Slenczka danke ich dafür herzlich, dass ich mit dem zweiten Hauptteil der vorliegenden Studie promoviert wurde. Herr Gräb hat dieses Forschungsprojekt nicht erst in dessen Schlussphase in Berlin tatkräftig unterstützt, sondern es bereits zuvor mit fachlichem Interesse und wertvollen Ratschlägen begleitet. Zahlreiche Gespräche mit Herrn Arndt über verschiedene Probleme während der Arbeit und über eigene Zweifel an dem Projekt haben mir nicht nur einen neuen Zugang zu Schleiermacher eröffnet, sondern mir auch dabei geholfen, eine realistische Haltung zur Wissenschaft zu bilden, nämlich dass alle Forschungen nur Zwischenergebnisse sein können. Herr Gräb und Herr Arndt haben darüber hinaus die Mühen des Erst- und Zweitgutachtens für die Dissertation auf sich genommen. Auch hierfür weiß ich mich ihnen zu besonderem Dank verpflichtet. Herr Prof. Dr. Andreas Feldtkeller hat mir während der Phase, in der ich diese Studie für die Veröffentlichung überarbeitete und mich zugleich auf ein neues Forschungsprojekt vorbereitete, in vielerlei Hinsicht beigestanden. Ihm sei auch herzlich Dank gesagt. Über die Universitäten hinaus habe ich für dieses Forschungsprojekt viel Förderung in der Wissenschaft bekommen. Dafür bedanke ich mich zunächst bei der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. Ulrich Barth und Herrn Prof. Dr. Jörg Dierken. Einige Abschnitte dieser Studie konnten im Rahmen des alljährlichen Wittenberger Schleiermacher-Symposiums vorgestellt werden. Für die freundliche Begleitung und für die aufmerksamen und kritischen Anfragen und Anregungen möchte ich vor allem Herrn Dr. Hermann Patsch (München), Herrn Prof. Dr. Martin Ohst (Wuppertal), Herrn Prof. Dr. Folkart Wittekind (Essen), Frau Dr. Christiane Ehrhardt (Berlin), Herrn PD Dr. Simon Gerber (Berlin) und Herrn PD Dr. Peter Grove (Århus) danken. Mein besonderer Dank gilt auch der Schleiermacher-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. In der Schlussphase dieses Projekts und bei der Vorbereitung auf die Veröffentlichung haben Herr Dr. Wolfgang Virmond (†), Frau Dr. Sarah Schmidt und Herr Dr. Holden Kelm mich stets freundlich beraten. Ohne die finanzielle Unterstützung wäre ein solches Forschungsprojekt nicht vorstellbar. Zu tiefem Dank verpflichtet bin ich in erster Linie dem Evangelischen Entwicklungsdienst (EED), der mein Promotionsstudium in der Evangelischen Theologie in Halle und diese Studie jahrelang großzügig förderte. Finanzielle Unterstützung erfuhr ich danach von der Mission EineWelt in Neuendettelsau, und zeitweise

Das Vorwort 

IX

bekam ich auch Stipendien von Lunds Missionssällskap (Schweden) und von der Stiftung Areopagos (Norwegen). Für den Abschluss der Promotion in Berlin wurde mir das Caroline-von-Humboldt-Stipendium verliehen. Ihnen allen danke ich herzlich. Zum Gelingen dieses Forschungsprojekts haben darüber hinaus eine Reihe weiterer Institutionen und Personen auf unterschiedliche Weise beigetragen, und auch bei denen möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken. Ich danke meinem zu früh verstorbenen Lehrer Herrn Prof. Xian Zhang an der Sun Yat-Sen Universität (Guangzhou) dafür, dass er mein wissenschaftliches Interesse an Schleiermacher bereits früh förderte und mich ermutigte, meine akademische Ausbildung in Deutschland fortzusetzen. Ich danke dem Institute of Sino-Christian Studies (Hong Kong) unter der Leitung von Herrn Daniel H. N. Yeung für treue Wegbegleitung und vielseitige Unterstützung. Ich danke Frau Gesine Mattel-Pegam (Bochum) dafür, dass sie mich in der Anfangsphase dieses Projekts beim wissenschaftlichen Schreiben in deutscher Sprache intensiv förderte. Ich danke Frau Dr. Renate Anders, der ehemaligen Studienleiterin der Theologischen Fakultät in Halle, dafür, dass sie meinen Weg in Deutschland stets hilfreich begleitet hat. Ich danke der Zweigbibliothek Theologie und der Zweigbibliothek Europäische Aufklärung an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg für freundliche Unterstützung. Ich danke dem Haus der Stille im Evangelischen Zentrum Kloster Drübeck dafür, dass es mir zwischen den intensiven Arbeitsphasen einen Rückzugsort zur Erholung anbot. Für die Aufnahme der gesamten Studie in die Reihe „Schleiermacher-Archiv“ danke ich ihren Herausgebern herzlich. Herr Dr. Hermann Patsch hat die Studie für die Veröffentlichung gründlich durchgesehen. Der Dank an ihn liegt mir besonders am Herzen. Herrn René Colome (Berlin) danke ich für die technische Hilfe bei der Manuskripterstellung. Herr Jakob Simon, Herr Johann Gartlinger und Herr Jan Philipp Hahn haben die mühsame Arbeit der orthographischen Abschlusskorrektur übernommen, Frau Marianne Wegner hat das Personenregister erstellt. Ihnen allen sage ich gleichfalls herzlichen Dank. Für die Betreuung seitens des Verlages danke ich Herrn Dr. Albrecht Döhnert, Frau Dr. Eva Frantz und Herrn Lukas Lehmann von Herzen. Die Veröffentlichung wurde durch einen Druckkostenzuschuss der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Union Evangelischer Kirchen (UEK) unterstützt. Mein besonders herzlicher Dank gilt meiner Familie – meiner Mutter Youqun Yi, meinem Vater Keyu Jiang, meiner Schwester Manshu Jiang und meinem Bruder Xueyu Jiang. Sie haben mich auf meinem außergewöhnlichen Lebensweg nicht nur bedingungslos und vertrauensvoll unterstützt, sondern sie haben mir über viele Jahre hinweg auch stets gezeigt, dass man den Mut für das Leben nie verlieren soll. Diese Zuversicht hat mir während der schwierigen Arbeitsphase dieser Studie sehr geholfen. Die vielen Freunde, die mir im Laufe der langjährigen Arbeit oft auf unterschiedliche Weisen beigestanden und geholfen haben, kann ich hier nicht einzeln nennen. Ihnen gegenüber empfinde ich ebenfalls eine tiefe Dankbarkeit.

X  Das Vorwort

Dass die vorliegende Untersuchung zu Schleiermacher entstanden ist und abgeschlossen werden konnte, habe ich schließlich Herrn Prof. Dr. Theodor Holzdeppe Jørgensen, zu Lebzeiten Professor für Systematische Theologie an der Universität Kopenhagen, und seiner Frau Lise Jørgensen zu danken. Herr Jørgensen hat dieses Forschungsprojekt in allen seinen Höhen und Tiefen mit großem fachlichem Interesse begleitet und mich unermüdlich angespornt. Als Erster hat er den Entwurf dieser Studie im Frühsommer 2015 gelesen und mit kritischen Anmerkungen versehen. Nicht zuletzt führt mein wissenschaftliches Interesse an Schleiermacher auf einen Gastvortrag zurück, den er während meines Studiums, im Herbst 1999, in Guangzhou hielt. Das war meine erste Begegnung mit diesem großen deutschen Gelehrten. Herrn Jørgensen sei das Buch gewidmet. Berlin, April 2020 Manke Jiang (蔣漫軻)

Inhaltsverzeichnis Das Vorwort  VII Siglenverzeichnis  1 Einleitung  3 a Problemexposition  3 b Stand der Forschung  7 c Aufbau der Arbeit und Quellenauswahl  25

Teil I: Die Entdeckungszusammenhänge von Religions- und Individualitätsverständnis in der frühromantischen Werkphase Einleitung  31 Kapitel 1 1 1.1 1.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.4 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 3

Kapitel 2 1 1.1

Die anthropologische Grundlegung der Individualitätstheorie  33 Die anthropologische Geisttheorie in den Reden (1799)  35 Die anthropologische Ausgangsfragestellung  38 Die naturphilosophische Grundlage des Geistverständnisses  42 Die Überführung der naturphilosophisch gewonnenen Polarität in die Anthropologie  53 Das anthropologische Grundmodell  53 Die anthropologische Vertiefung der Triebpolarität  55 Die kommunikative Geistesbildung im Zusammenhang mit den Monologen (1800)  62 Das neue Individualitätskonzept in den Monologen (1800)  64 Der problemgeschichtliche Hintergrund  65 Das Problem der Subjektivität  66 Das Problem der Individuation  68 Die neue Bestimmung der Individualität  71 Der Begriff der Geselligkeit in dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799)  92 Der individualitätstheoretische Religionsbegriff in den Reden (1799)  102 Die neue Fassung des Religionsverständnisses  108 Die Entkoppelung der Religion von Metaphysik und Moral  108

XII  Inhaltsverzeichnis 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.2.1 1.2.2.2 2 3 3.1 3.2 3.3

Die neue Bestimmung des Wesens der Religion als Anschauung und Gefühl  111 Religion als Anschauung und Gefühl  112 Anschauung des Universums  125 Anschauung des Universums in der Natur  129 Anschauung des Universums in der Menschheit  130 Der neue Kirchenbegriff  138 Die Individualisierung der geschichtlichen Religionen  153 Die Notwendigkeit der Individualisierung der Religion  154 Die Individualisierung der Religion  157 Das Verhältnis von Religion und Religionen  165

Zwischenertrag  167

Teil II: Die kulturtheoretische Neuentwicklung des Religions- und Individualitätsbegriffs in der Philosophischen Ethik Einleitung  175 Kapitel 3 1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.1.1 1.2.1.2 1.2.2 1.2.2.1 1.2.2.2 1.2.2.3 1.2.2.4 2 2.1 2.2

Die handlungstheoretische Grundlegung der Kulturtheorie im Brouillon zur Ethik (1805/06)  190 Die Grundelemente der Handlungstheorie  190 Die Bestimmung des Lebens  191 Das Quadruplizitätsschema menschlicher Handlung  195 Die Aufbaumomente des Quadruplizitätsschemas  196 Die Handlungstypen: Organisieren und Symbolisieren  196 Die Handlungsträger: Gattungsvernunft und individuelle Vernunft  199 Das Spektrum der modernen Kultur: die vier Handlungsgebiete  205 Identisches Organisieren  206 Identisches Symbolisieren  210 Individuelles Organisieren  217 Individuelles Symbolisieren  222 Der ethische Religionsbegriff in einem erkenntnistheoretischen Kontext  228 Die Erkenntnistheorie im Allgemeinen  230 Der ethische Religionsbegriff  244

Inhaltsverzeichnis  XIII

Kapitel 4 1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.2.1 1.3.2.2 1.3.2.3 1.3.3 1.3.3.1 1.3.3.2 1.3.4 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.2.1 2.1.2.2 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 3 3.1 3.2

Der Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik von 1812–1817  264 Die nähere Bestimmung des Gefühls  264 Vernunft und Natur  267 Die Bezeichnungstätigkeit  275 Die identische Bezeichnungstätigkeit  277 Die individuelle Bezeichnungstätigkeit  281 Das Gefühl  288 Das Gefühl als Ausdruck der inneren Zustände  289 Das Gefühl als Selbstbewusstsein  295 Die Einführung des Begriffs des Selbstbewusstseins in die Ethik  296 Das Selbstbewusstsein als individuellstes Bezeichnungsgebiet  299 Das Gefühl als unmittelbares Selbstbewusstsein  307 Das Gefühl im Verhältnis der Offenbarung  315 Die Geselligkeit  318 Die Offenbarung  326 Ertrag  340 Religion und Kunst  343 Der Ausdruck des Gefühls  343 Ton und Gebärde  349 Kunst in der Phantasietätigkeit  351 Phantasie  353 Kunst  358 Die Funktion der Kunst  363 Die Objektivierungsleistung der Kunst  364 Die Mitteilungsleistung der Kunst  379 Schlussbetrachtung  387 Der Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik  395 Der Kirchenbegriff im Brouillon zur Ethik (1805/06)  397 Der Kirchenbegriff in der Ethik von 1812/13  400

Schluss  417 Quellen- und Literaturverzeichnis  427 Personenregister  445 Sachregister  448

Siglenverzeichnis In der vorliegenden Arbeit beziehen sich alle Verweise ohne Nennung eines Autorennamens stets auf von Friedrich Schleiermacher verfasste Texte. SW

Friedrich Schleiermacher’s Sämmtliche Werke, 30 Bände, Berlin 1834–1864.

WA

Schleiermachers Werk. Auswahl in vier Bänden, mit Geleitwort von August Dorner, herausgegeben und eingeleitet von Otto Braun und Johannes Bauer (Leipzig ¹1910–13), 2. Neudruck der 2. Auflage, Leipzig 1927–28 (Nachdruck Aalen 1981).

KGA

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe, Berlin/ New York 1980–2011; Berlin/Boston 2012–2019.

Versuch

Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), in: KGA I/2, 165–184.

Reden

Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), in: KGA I/2, 185–326.

Monologen

Monologen. Eine Neujahrsgabe (1800), in: KGA I/3, 1–61.

Grundlinien

Grundlinien einer Kritik aller bisherigen Sittenlehre (1803), in: KGA I/4, 24– 357.

Brouillon

Brouillon zur Ethik (1805/06), in: WA II, 75–239.

PhE 1812/13

Ethik 1812/13 (Einleitung und Güterlehre), in: WA II, 241–371; Ethik 1812/13 (Tugend- und Pflichtenlehre), in: WA II, 373–420.

PhE 1814/16

Ethik 1814/16 (Einleitung und Güterlehre I), in: WA II, 421–455; Ethik 1814/16 (Pflichtenlehre), in: WA II, 457–484.

PhE 1816

Ethik 1816 (Allgemeine Einleitung), in: WA II, 485–511.

PhE 1816/17

Ethik 1816 (Einleitung und Güterlehre I)(Neuer Anfang der Ethik [Vermutlich 1816/17 entstanden]), in: WA II, 513–557; Ethik 1816 (Einleitung und Güterlehre I)(Güterlehre. Letzte Bearbeitung [Vermutlich 1816/17 entstanden]), in: WA II, 559–626.

CG²

Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), in: KGA I/13.1–2.

Bemerkungen 1832

Bemerkungen zur Ethik (1832). Nach Schweizer, in: WA II, 627–672.

https://doi.org/10.1515/9783110664393-203

Einleitung „Wer sich selbst nicht anschaut wird nie das Ganze begreifen[.] Wer nicht das Ganze gesucht findet auch nimmer sich selbst.“1 – Friedrich D. E. Schleiermacher

a Problemexposition Gesteigerte Individualität gilt als Signum moderner Kultur. Als Teil der Kultur ist auch die Religion von den gesellschaftlich-kulturellen Individualisierungsprozessen betroffen. Die Bewertung der Auswirkungen dieser zunehmenden Individualisierung auf Religion und Christentum ist allerdings hoch umstritten. In der älteren Säkularisierungsdebatte etwa, aber auch in der Gegenwart noch2 konnten die Individualisierungsschübe seit dem Aufklärungszeitalter und die zunehmende Emanzipation des Einzelsubjekts in der westlichen Kultur als entscheidender Faktor für den Plausibilitätsverlust traditioneller Institutionen verstanden werden. Individualisierung erscheint aus diesem Blickwinkel als ein treibendes Moment von Säkularisierung im Sinne eines zunehmenden Bedeutungsverlustes von Religion und Christentum in der modernen Kultur. Spätestens mit den Ansätzen der Religionssoziologie seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden jedoch derartige Verfallsmodelle zunehmend problematisiert. Grundlegend dabei sind die methodische und kategoriale Differenzierung zwischen Religion und ihren Institutionalisierungsformen sowie die differenzierte Betrachtung letzterer.3 Vor diesem Hintergrund konnten die durch Individualisierungsschübe ausgelösten Krisen traditionaler Formen von Religion präziser beschrieben werden. Dabei mag es sich zwar um eine Entkirchlichung und in diesem Sinne gleichsam um ein ‚Unsichtbarwerden‘4 der Religion, nicht aber automatisch auch um Religionsverlust oder Entchristlichung handeln.5 Modernisierung und die damit verbundene Individualisierung kön-

1 Friedrich Schleiermacher: Gedanken III (1798–1801), Nr. 33, in: KGA I/2, 127. 2 Als Beispiel können die wiederholten Warnungen vor dem Individualismus moderner Lebensformen von Papst Benedikt XVI. dienen, vgl. Leo Wieland: Papst warnt vor den Gefahren des Individualismus, in: F. A. Z. (Online-Beitrag), 21. Aug. 2011. 3 Allerdings finden sich dafür schon Ansätze in der klassischen Religionssoziologie. Vgl. zum Beispiel die Grundeinsichten Max Webers weiterführende Schrift Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912) von Ernst Troeltsch und die dort vorgenommene Differenzierung zwischen Kirche, Sekte und Mystik. 4 Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 1967. 5 Vgl. Ulrich Barth und Bernd Schwarze: Art. Säkularisierung, in: TRE 29 (1998), 603–634, hierzu 621. https://doi.org/10.1515/9783110664393-001

4  Einleitung

nen somit durchaus eine Umformung von Religion, Christentum und deren Institutionalisierungsformen mit sich bringen. Eine Bewertung ist aber mit dem bloßen Vorliegen des Zusammenhangs nicht präjudiziert, sondern wäre erst argumentativ zu rechtfertigen. Das macht aber die wissenschaftliche Reflexion des Verhältnisses von Religion und Individualität erforderlich. Unbeschadet der Frage, ob – wie einleitend suggeriert – Individualität als ein exklusives Signum der Neuzeit und Moderne gelten darf oder nicht vielmehr als „Element der Welt“ etwa auch in der Antike schon anzutreffen ist,6 ist es unbestritten, dass Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), der bedeutendste Religionstheoretiker im protestantischen Kulturkontext, zu den Pionieren dieses Themas gehört.7 Um eine Würdigung seines Beitrages zu einer reflektierten Verhältnisbestimmung von Religion und Individualität soll es in der folgenden Untersuchung gehen. In dieser Einleitung erfolgt in einem ersten Schritt (a) eine kurze Problemexposition von Schleiermachers Sicht auf das Verhältnis von Religion und Individualität mit Blick auf die werkgeschichtliche Entwicklung, die in dieser Untersuchung eine besondere Rolle spielt. Anschließend (b) wird dann anhand einer Diskussion der Forschungsliteratur begründet, warum eine entsprechende Untersuchung mit Bezug auf die beiden werkgeschichtlichen Phasen Schleiermachers – seine frühromantische Werkphase und seine Philosophische Ethik – noch ein Desiderat darstellt. Abschließend (c) werden Aufbau und Quellen der Arbeit dargelegt. In der Spätaufklärung und mit dem Übergang zu Romantik und Idealismus kommt es zu einem Reflexionsschub mit Bezug auf das Individualitätsthema.

6 Vgl. dazu Volker Gerhardt: Individualität. Das Element der Welt, München 2000; vgl. auch Jörg Dierken: Selbstbewusstsein individueller Freiheit. Religionstheoretische Erkundungen in protestantischer Perspektive, Tübingen 2005; ders.: Riskiertes Selbstsein. Individualität und ihre (religiösen) Deutungen, in: Wilhelm Gräb/Lars Charbonnier (Hg.): Individualität. Genese und Konzeption einer Leitkategorie humaner Selbstbedeutung, Berlin 2012, 329–347; Wilhelm Gräb und Lars Charbonnier (Hg.): Individualisierung – Spiritualität – Religion. Transformation auf dem religiösen Feld in interdisziplinärer Perspektive, Berlin 2008; dies. (Hg.): Individualität. Genese und Konzeption einer Leitkategorie humaner Selbstbedeutung, Berlin 2012; dies. (Hg.): Wer lebt mich? Die Praxis der Individualität zwischen Fremd- und Selbstbestimmung, Berlin 2015. 7 Vgl. Volker Gerhardt: Individualität (2000), 19; Ulrich Barth: Die Religionstheorie der ›Reden‹. Schleiermachers theologisches Modernisierungsprogramm (1998), in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus (2004), 259–289; Jörg Dierken: Individualität und Identität. Schleiermacher über metaphysische, religiöse und sozialtheoretische Dimensionen eines Schlüsselthemas der Moderne, in: ZNThG/ JHMTh, Bd. 15 (2008), 183–207; Wilhelm Gräb: Die religiöse Konstitution der Individualität. Wandlungen einer subjektivitätstheologischen Denkfigur, in: ders./Lars Charbonnier (Hg.): Individualität. Genese und Konzeption einer Leitkategorie humaner Selbstbedeutung, Berlin 2012, 132–150; ders.: Individualität als Manifestation eines Selbstgefühls. Schleiermachers Konzept der religiösen Fundierung und kommunikativen Realisierung humaner Individualitätskultur, in: ders./Lars Charbonnier (Hg.): Individualität. Genese und Konzeption einer Leitkategorie humaner Selbstbedeutung, Berlin 2012, 132–150.

a Problemexposition



5

Schleiermachers philosophischer Frühwerk, die Monologen. Eine Neujahrsgabe (1800) kann genau dafür als exemplarischer Grundtext angesehen werden. Die frühromantische Besonderheit besteht gerade darin, dass der Individualitätsgedanke bei der Reflexion des sich in Neuzeit und Aufklärung entwickelnden Subjektivitätskonzepts ins Zentrum tritt. Der Schritt vom allgemeinen zum individuellen Subjekt bringt aber auch eine neue Phase der Deutungs- und Auslegungsgeschichte von Religion und Christentum mit sich. Als Programmschrift dieser neuen Phase kann eines der bedeutendsten religionstheoretischen Werke im protestantischen Kontext gelten, in dem sich der entwickelte Individualitätsgedanke mit einer neuen Fassung des Religionsverständnisses innig verbindet. Diese religionstheoretische Programmschrift ist Schleiermachers Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). Hier wird das Wesen der Religion als Anschauung und Gefühl neu interpretiert. Während für die Aufklärungsdiskurse noch das – später strittige – Paradigma der Vernunftreligion bestimmend war, gelingt es Schleiermacher in den Reden über die Religion mit dem Ansatz bei Anschauung und Gefühl, das Wesen der Religion neu und revolutionär zu bestimmen. Mit den Reden über die Religion hat Schleiermacher Epoche in der Geschichte der Religionstheorie und der christlichen Theologie gemacht. Ein wesentlicher Aspekt dieser Neubestimmung liegt in der Verknüpfung seines Religionsverständnisses mit der Individualitätstheorie. Hierin besteht seine Bedeutung für den religionsphilosophischen Diskurs über das Verhältnis von Religion und Individualität. Religion ist nicht bloß etwas, was nur mittels Anteilnahme des Subjekts möglich ist, so wie seit der Reformation bekannt, sondern auch etwas, was ohne Bezug auf die Individualität des Subjekts nicht zu klären ist. Allerdings ist das nur der eine Aspekt von Religion und Individualität. In diese frühromantische Programmschrift wurde ein zweiter Aspekt der Problematik, nämlich der religionsgeschichtliche Aspekt, eingeführt. Während es in der ersten Theoriedimension von Religion und Individualität um die Individuation der Menschen geht, handelt die zweite von der Individuation der Religion im Kontext der historischen Pluralität. Für den jungen Schleiermacher kommt Religion nur in ihrer geschichtlichen Pluralität vor. Bekanntlich entwickelt sich das Religionsverständnis in der Werkgeschichte Schleiermachers nach der frühromantischen Phase aber weiter. Angesichts der skizzierten Anfänge ist zu erwarten, dass auch das Individualitätsverständnis von dieser Weiterentwicklung betroffen ist. Fragt man sich, welche werkgeschichtlichen Quellen Schleiermachers für diesen Prozess nach seiner frühen Position in den Reden über die Religion und in den Monologen einschlägig sind, so ist klar, dass man sich vor allem auf seine Vorlesungen zur Philosophischen Ethik, die heute als Kulturtheorie avant la lettre rezipiert wird, konzentrieren muss.8 Im Rahmen seiner Philo-

8 Peter Grove hat darauf hingewiesen, dass Schleiermachers religionstheoretische Bildung durch die vier werkgeschichtlichen Quellen zu rekonstruieren ist: Reden (1799) – Philosophische Ethik –

6  Einleitung

sophischen Ethik, die er während seiner Professur in Halle (1804–06) ausgearbeitet und dann in Berlin (1812–17) weiter entwickelt hat, legt Schleiermacher ein Quadruplizitätsschema vor, um die menschlichen Handlungen zu beschreiben. Mit diesem Schema des menschlichen Handelns erweitert und vertieft er nicht nur seine frühromantischen Individualitätsgedanken in einer vernunfttheoretischen Dimension, indem er die Individualität als individuelle Vernunft interpretiert, sondern er erarbeitet damit zugleich auch sein Religionsverständnis neu: Religion ist eine Handlungstätigkeit der Vernunft auf die Natur und gehört zu den Kulturphänomenen. Durch die vertieften Individualitätsgedanken und das neu erarbeitete Religionsverständnis in seiner Kulturtheorie wird der innere Verweisungszusammenhang von Religion und Individualität, der bereits in seiner frühromantischen Werkphase entdeckt und herausgearbeitet wurde, weiterentwickelt. Ebenso wie das Thema Religion in seiner frühromantischen Programmschrift Reden über die Religion von der allgemeinen Menschheit ausgeht, steht der ethische Religionsbegriff in der Philosophischen Ethik im Kontext der allgemeinen Religionsgeschichte. Diese werkgeschichtlichen Prägephasen – seine frühromantische Werkphase und seine Philosophische Ethik – sind der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Ziel ist, die werkgenetische Entwicklung des Verweisungszusammenhangs von Religion und Individualität zu untersuchen, wie es sich in diesen beiden entscheidenden Werkphasen Schleiermachers dokumentiert. Der folgende Forschungsüberblick soll verdeutlichen, dass die bisherige Literatur eine entsprechende werkgeschichtliche Untersuchung erforderlich macht. Allerdings ist noch darauf hinzuweisen, dass das Thema Religion und Individualität natürlich nicht auf diese beiden Werkphasen beschränkt ist. Das Thema findet sich auch in anderen Systemteilen Schleiermachers wie etwa den Vorlesungen zur Dialektik, zur Ästhetik oder zur Psychologie, denen jedoch gegenüber der Philosophischen Ethik eine jeweils eigene Schwerpunktsetzung zukommt und die daher hier nur ergänzend hinzugezogen werden. Entsprechend seiner Bedeutung für Schleiermachers Denken spielt das Thema auch in seiner späteren Werkphase eine zentrale Rolle. Nach der Philosophischen Ethik ist das Religionsverständnis Schleiermachers in seiner so genannten Glaubenslehre – unter dem Titel Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt (1821/22; 1830/31) – besonders bekannt. In der Glaubenslehre, seiner systematischen Darstellung der christlichen Dogmatik, modifiziert Schleiermacher vor dem entwickelten Hintergrund sein bisheriges Religionsverständnis. Die Thematisierung der Religion in der Einleitung der Glaubenslehre von 1830/31 wird in der Forschung

Dialektik – Glaubenslehre. Vgl. Peter Grove: Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin/New York 2004. Mehr dazu siehe unten: b. Der Stand der Forschung, 13.

b Stand der Forschung 

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als letzte Fassung seines Religionsverständnisses gelesen.9 Bereits auf den ersten Blick zeigen sich jedoch gegenüber den Reden deutliche Akzentverschiebungen. So hat Schleiermacher mit der Glaubenslehre seine Kritik an der Vernunftreligion durch eine Umstellung der Leitbegriffe für sein Religionsverständnis weitergeführt: Während in seiner frühromantischen Schrift und seiner Philosophischen Ethik Religion als Leitbegriff für sein Religionsverständnis gilt, verzichtet er in der Glaubenslehre auf den Religionsbegriff. Stattdessen wird dieser durch das Frömmigkeitsgefühl, das mit dem schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl identifiziert wird, ersetzt und der Begriff der Kirche und der Begriff der Gemeinschaft zugleich in den Vordergrund der Darstellung gestellt.10 Mit der Umstellung auf „Kirche“ und „Gemeinschaft“ als Leitbegriffe für sein Religionsverständnis ist eine Wendung in dem Individualitätsgedanken in der Glaubenslehre verbunden: Der Begriff der Individualität tritt in den Hintergrund und im Vergleich dazu spielt der institutionelle und gemeinschaftliche Faktor in der Religion eine gewichtigere Rolle. Vor dem Hintergrund der neuen Fragestellung und in engem Zusammenhang mit der begrifflichen Revision entwickelt sich das Thema Religion und Individualität bei Schleiermacher in der Glaubenslehre erwartungsgemäß weiter.11 Dies ist aber nicht mehr der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung.

b Stand der Forschung Mit den theologischen Neuaufbrüchen der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, namentlich mit der ‚Dialektischen Theologie‘ und ihren Vorbehalten gegenüber Schleiermacher als Gründungsfigur der sogenannten ‚Liberalen Theologie‘ kam es für einige Jahrzehnte zu einem merklichen Nachlassen des Forschungsinteresses. Etwa seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts erlebt die Schleiermacher-Forschung jedoch eine Renaissance, die bis zum heutigen Tage anhält. Seither ist eine Vielzahl gründlicher, umsichtiger und interdisziplinärer Studien zu Schleiermacher

9 Zum Religionsverständnis und zum Verständnis des Christentums in der Glaubenslehre vgl. Ulrich Barth: Christentum und Selbstbewußtsein. Versuch einer rationalen Rekonstruktion des systematischen Zusammenhanges von Schleiermachers subjektivitätstheoretischer Deutung der christlichen Religion, Göttingen 1983, 83–89; Christian Albrecht: Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit. Ihr wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik, Berlin/New York 1994, 195–260; Markus Schröder: Das Wesen des Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996; Peter Grove: Deutungen des Subjekts (2004), 531–612. 10 Vgl. Hans-Joachim Birkner: Beobachtungen und Ergänzungen zum Religionsbegriff in der neuen protestantischen Theologie (1970), in: ders.: Schleiermacher-Studien, Berlin/New York 1996, 39–50, hier 43. 11 Zum Individualitätsgedanken und dessen Zusammenhang mit der (christlichen) Religion in der Glaubenslehre vgl. Jörg Dierken: Individualität und Identität (2008), 196–203.

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erschienen, die eine Vielfalt an Problemaspekten beleuchtet.12 Statt noch einmal einen umfassenden Forschungsbericht über die neuere Schleiermacher-Forschung insgesamt seit dieser Konjunktur vorzulegen, orientiert sich die Darstellung der Forschungslage im Folgenden an den neuesten Schleiermacher-Studien, die für unsere Untersuchung von besonderer Bedeutung sind. Im Hinblick auf den Gegenstand unserer werkgeschichtlichen Untersuchung gliedert sich der Forschungsüberblick in zwei Teile: der erste Teil zu seiner frühromantischen Werkphase, der zweite zu seiner Philosophischen Ethik.

1 Die frühromantische Werkphase Sowohl die Individualitätstheorie als auch der Religionsbegriff in der frühromantischen Werkphase Schleiermachers wurden in der Forschung oft thematisiert. Jedoch ist eine ausführliche Studie aus religionsphilosophischer Sicht zum Religionsbegriff mit Bezug auf seine Individualitätsgedanken in dieser frühen Werkphase bisher noch nicht vorhanden.13 Auf dieses Defizit wurde bereits in der Forschung aufmerksam gemacht, wie Wilhelm Gräb und Lars Charbonnier feststellen: „Die religiösen Implikationen und ethischen Motive, die mit dem Selbstkonzept der Individualität einhergehen, sind offensichtlich. Vor allem in Gestalt des idealistisch-romantischen Individualitätsbegriffs sind sie thematisiert worden, wobei dem protestantischen Theologen Friedrich Schleiermacher eine überragende, längst noch nicht hinreichend gewürdigte Bedeutung zukommt.“14 Im Folgenden wird zu zeigen sein,

12 Über die Frucht dieses Aufschwungs bis zum Anfang des neuen Jahrhunderts berichten Michael Moxter und Ulrich Barth jeweils durch einen langen Aufsatz mit kritischem Blick. Michael Moxter: Neuzeitliche Umformung der Theologie. Philosophische Aspekte in der neueren Schleiermacherliteratur, in: PhR 41 (1994), 133–158; Ulrich Barth: Schleiermacher-Literatur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: ThR 66 (2001), 408–461. Zur Schleiermacher-Bibliographie vgl. ferner Terrence N. Tice: Schleiermacher Bibliography with brief Introductions, Annotation and Index, Princeton 1966/ update 1994, in: Neues Athenaeum 4 (1995), 139–194; Wichmann von Meding: Bibliographie der Schriften Schleiermachers nebst einer Zusammenstellung und Datierung seiner gedruckten Predigten, Berlin/New York 1992; Andreas Arndt: Auswahlbibliographie, in: ders. (Hg.): Friedrich Schleiermacher: Schriften (1996), Frankfurt a. M. 1996, 1352–1388; Kurt Nowak: Auswahlbibliographie, in: ders.: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 579–600. 13 Die bisher einzige Untersuchung, die beiden frühromantischen Werke Schleiermachers, die Reden und die Monologen, explizit aufeinander bezogen hat, legt Christiane Ehrhardt mit ihrer Dissertation in der Erziehungswissenschaft vor. Diese Studie geht – wenn auch nicht ausschließlich – hauptsächlich von dem religionspädagogischen Aspekt aus. Vgl. Christiane Ehrhardt: Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher. Eine Analyse der Beziehung und des Widerstreits zwischen den »Reden über die Religion« und den »Monologen«, Göttingen 2005. 14 Wilhelm Gräb und Lars Charbonnier: Einleitung (2012), in: dies. (Hg.): Individualität (2012), 9.

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dass eine solche Untersuchung trotz zahlreicher Studien zum frühromantischen Religionsbegriff in den Reden von 1799 noch aussteht. Das Thema Individualität bei Schleiermacher in seiner frühromantischen Werkphase ist seit langem in der Forschung präsent.15 Seit den 90er Jahren ist das Thema Gegenstand einiger umsichtiger Aufsätze in unterschiedlichen Diskussionskontexten.16 Zwei Beiträge von Ulrich Barth (1994/2004) und Jörg Dierken (2008) stechen heraus und werden im Folgenden genauer betrachtet, da sie paradigmatisch für die neueren Theoriebewegungen überhaupt stehen. Mit seinem Aufsatz Das Individualitätskonzept der ›Monologen‹. Schleiermachers ethischer Beitrag zur Romantik (1994/ 2004) legt Barth eine Studie zu dem ethischen Individualitätsgedanken in der philosophischen Schrift Monologen vor.17 Diese Studie zeichnet sich dadurch aus, dass sie den ideengeschichtlichen Kontext und die problemgeschichtlichen Voraussetzungen für das Individualitätskonzept in den Monologen umfangreich in den Blick nimmt. Barth zufolge ist Schleiermachers Individualitätstheorie nicht nur „dem umfassenderen Kontext frühromantischer Kulturkritik zuzuordnen“, sondern sie gilt „gleichermaßen einem aufgeklärten Humanitätsideal“.18 Trotzdem sieht er Schleiermachers Individualitätstheorie als eine kritische Vertiefung der „Errungenschaften der Aufklärung mit Grundeinsichten romantisch-idealistischen Denkens“.19 Mit diesem Beweisziel hat Barth das Individualitätskonzept in den Monologen ausführlich diskutiert. Als erster hat er in seiner Studie auf zwei philosophische Prämissen des Individualitätsgedankens in den Monologen verwiesen – den allgemei-

15 Die Forschung zum Thema Individualität beim frühen Schleiermacher im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird durch drei Dissertationen dokumentiert: August Frohne: Der Begriff der Eigentümlichkeit oder Individualität bei Schleiermacher, Halle 1884; Ernst Neubauer: Die Begriffe der Individualität und Gemeinschaft im Denken des jungen Schleiermacher, Stuttgart 1923 und Johannes Perle: Individualität und Gemeinschaft im Denken des jungen Schleiermacher, Gütersloh 1937. Zum Anfang des 20. Jahrhunderts legt Samuel Eck eine kurze Studie zum Ursprung der Individualitätstheorie in den Monologen vor: Samuel Eck: Ueber die Herkunft des Individualitätsgedankens bei Schleiermacher, Gießen 1908. 16 Zu Schleiermachers Individualitätsgedanken in den Monologen vgl. Denis Thouard: Individuum – Ineffabile. Individualitätsproblem und frühromantische Erfahrung bei Schleiermacher, in: IZPh (1993), 280–293; Ulrich Barth: Das Individualitätskonzept der ›Monologen‹. Schleiermachers ethischer Beitrag zur Romantik (1994), in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus (2004), 291–327; Brent W. Sockness: Schleiermacher and the ethics of authenticity: The Monologen of 1800, in: JRE 32.3 (2004), 477–517; Jacqueline Mariña: Transformation of the Self in the thought of Schleiermacher, Oxford/New York 2008, 109–145; Jörg Dierken: Individualität und Identität (2008), 188– 196; Andreas Arndt: „Ausgehn von der Individualität“. Schleiermachers philosophische Grundposition, in: ders.: Friedrich Schleiermacher als Philosoph (2013), Berlin/Boston 2013, 3–16. 17 In seiner Ersterscheinung trug dieser Aufsatz den Titel Der ethische Individualitätsgedanke beim frühen Schleiermacher (1994). 18 Ulrich Barth: Das Individualitätskonzept der ›Monologen‹ (1994/2004), 294. 19 A. a. O., 294–295.

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nen Begriff der Subjektivität und das principium individuationis.20 Darüber hinaus wird auch zum ersten Mal Spinozas Ansatz in Schleiermachers Modell der Individuation von Subjekt in den Monologen ausführlich interpretiert. Barth stellt fest, dass die frühen Spinoza-Studien Schleiermacher „zu einem vertieften Verständnis des principium individuationis geführt [sc. hatten], nicht nur was seine Struktur anbelangt, sondern auch betreffs der kategorialen Problematik der Individuation“.21 Für ihn entwickelt sich Schleiermachers Individualitätskonzept in den Monologen allerdings nicht allein aus seinen frühen Spinoza-Studien. Dieses frühromantische Individualitätskonzept steht auch in kritischer Auseinandersetzung mit dem fichteschen Freiheitsverständnis und im Kontext der idealistischen Geistmetaphysik.22 Barths These ist, dass das principium individuationis in den Monologen ein Resultat der Vereinigung der verschiedenen Strukturmerkmale ist: „dem spinozistischen Aggregationsmodell, dem freiheitstheoretischen Selbstbildungsbegriff und dem geistmetaphysischen Darstellungsbegriff“.23 Somit umfasst Schleiermachers Individualitätskonzept als ein „Programm einer Ethik der Individualität“24 verschiedene Theoriefacetten: subjektphilosophische, individuationstheoretische, geisttheoretische und kommunikationstheoretische. Besonders aufschlussreich ist, dass Barth im Schlussteil seiner Studie einen kurzen Blick auf den Zusammenhang von Religion und Individualität bei Schleiermacher wirft. Für Barth hat Schleiermacher seinen Individualitätsgedanken „nicht auf die ethische Sphäre beschränkt, sondern auch auf den Bereich der Religion ausgedehnt“.25 Diese Ausdehnung sei nach Barth nicht nur in seiner fast gleichzeitig verfassten Religionsschrift Reden über die Religion zu sehen, sondern sie zeige sich auch beim späten Schleiermacher, zum Beispiel in seiner Durchführung der Theologischen Ethik. Genau diesem Hinweis will die vorliegende Untersuchung nachgehen. Nach Ulrich Barth hat auch Jörg Dierken Schleiermachers Individualitätstheorie mit einem eingehenden Aufsatz zum Thema gemacht. Anders als jene Studie macht Dierkens Beitrag Individualität und Identität. Schleiermacher über metaphysische, religiöse und sozialtheoretische Dimensionen eines Schlüsselthemas der Moderne (2008) es sich zur Ausgabe, Schleiermachers Individualitätstheorie in zwei Werken – in den Monologen und in der Glaubenslehre (1830/31) – zu untersuchen. Dierkens Studie hat also ebenfalls genau das mit der Glaubenslehre gegebene Spannungsverhältnis, das wir oben bereits kurz erwähnt haben, zum Gegenstand. Angelpunkt seiner Studie zum Individualitätsgedanken Schleiermachers ist das Wechselverhältnis zwi-

20 Vgl. a. a. O., 301–305. 21 A. a. O., 309. 22 A. a. O., 311–312. 23 A. a. O., 322. 24 A. a. O., 312. 25 A. a. O., 326.

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schen Individualität und Identität. Denn Dierken zufolge ist die Bildung von Individualität bei Schleiermacher nur ein „offene[r] ethische[r] Prozess wechselseitiger Interaktion, in dem Individualität von vornherein auf Komplementärgrößen wie Gemeinschaftlichkeit und Allgemeinheit bezogen ist“.26 Demnach ist das Element des Identischen immer in der Individualität impliziert. Das wechselseitige Verhältnis von Individualität und Identität vollzieht sich durch Darstellung und Mitteilung in der intersubjektiven Kommunikation. So ist die soziale Kommunikation entscheidend für die Bildung der Individualität. Dies sieht Dierken als Grundprinzip der Individualitätstheorie Schleiermachers in der frühromantischen Programmschrift Monologen, und diese Position wird ihm zufolge in der Glaubenslehre verstärkt. Für Dierken ist die Individualität in den Monologen ein Resultat von „menschheitlichem Freiheitshandeln und weltvermittelter Identitätsbildung“.27 Seine These lautet: „Das Individualitätskonzept der Monologen ist aufgespannt zwischen einem subjektivitätstheoretischen Begriff transzendentaler Freiheit, die in eigentätiger Identitätsbildung wirksam wird, und offenen Prozessen der Darstellung und Mitteilung solch je eigener Identität gegenüber anderen.“28 Davon ausgehend fokussiert sich seine Interpretation des Individualitätskonzepts in dieser philosophischen Schrift darauf, die Spannung zwischen beiden Theoriefaktoren des Individualitätskonzepts in Auseinandersetzungen mit der zeitgenössischen Philosophie zu diskutieren. Zum Schluss gibt Dierken auch einen kurzen Ausblick auf die Bedeutung der Individualitätstheorie Schleiermachers für die Religion. Ihm zufolge besteht diese Bedeutung im Verständnis der individuellen Identität als Transzendenz im Endlichen. Kraft der Teilhabe der Individualität an dem Absoluten, die durch die soziale Kommunikation ermöglicht ist, impliziert die Individualität die Transzendenz in sich. Der Aufsatz Dierkens spielt in der Diskussion zu Schleiermachers Individualitätstheorie eine bedeutende Rolle, indem er auf die kommunikative Dimension der Bildung der Individualität deutlich hingewiesen und sie durch das Wechselverhältnis von Individualität und Identität ausführlich begründet hat. Die Beiträge von Ulrich Barth und Jörg Dierken entwickeln das frühromantische Individualitätskonzept allerdings vornehmlich an den Monologen, während die Reden selbst in ihrem Zusammenhang mit jenem Individualitätskonzept nicht ausführlich rekonstruiert werden. Die einzige Monographie – seit den 60er Jahren – zu Schleiermachers Individualitätsgedanken in seiner frühen Werkphase ist erst im Jahr 2000 von Byung-Ok Lee verfasst worden. Mit seiner Tübinger philosophischen Dissertation Der Begriff

26 Jörg Dierken: Individualität und Identität (2008), 185. 27 A. a. O., 188. 28 Ebd.

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der Individualität beim frühen Schleiermacher (2009)29 untersucht der Autor die Individualitätsgedanken in den frühen Schriften Schleiermachers (bis 1805). Nach einer kurzen Darstellung der gedanklichen Ansätze in den Jugendschriften Schleiermachers (Kapitel 1) und des zeitgenössischen Kontexts (Kapitel 2) werden im Rahmen dieser Untersuchung vier Theorieaspekte des Individualitätsbegriffs Schleiermachers jeweils in unterschiedlichen Schriften berücksichtigt: der religiöse Aspekt, der ethische Aspekt, der hermeneutische Aspekt und der dialektische Aspekt. Während der Autor einen stärkeren Akzent auf die ersten beiden Theorieaspekte legt (Kapitel 3–7), gilt die Darstellung der letzten beiden Dimensionen eher als Ausblick auf die Bedeutung der Individualitätsgedanken im jeweiligen Bereich bzw. in der Hermeneutik und Dialektik (Kapitel 8). Das Kapitel 3 und das Kapitel 4 haben die Individualitätsgedanken in beiden frühromantischen Schriften Schleiermachers – Reden über die Religion und Monologen – jeweils zum Gegenstand. Die Schlüsselthese in Kapitel 3 ist, dass die Individualität in der religiösen Erfahrung gründet. Das heißt, dass die Bestimmung der Individualität im Vorgang der religiösen Erfahrung geschieht.30 In seiner gesamten Diskussion bleibt allerdings gänzlich undeutlich, auf welcher Ebene man in seinem Diskussionskontext den Begriff „Individualität“ eigentlich verstehen soll: auf der Ebene der menschlichen Individualität oder auf der Ebene der Individualität der Religion? Das Kapitel 4 hat die Individualitätsgedanken in den Monologen zum Gegenstand. Statt den Gedankengang Schleiermachers in dieser philosophischen Schrift systematisch zu rekonstruieren, versucht der Autor, das Konzept der Individualität durch seine Zusammenhänge mit den relevanten Begriffen – Persönlichkeit, Menschheit, Freiheit und Sprache – aufzuklären. Die Ausgangsthese besteht darin, dass die Gestaltung der Individualität für Schleiermacher in dieser frühromantischen Schrift eine ethische Aufgabe ist. Denn die Bildung der Individualität bedeutet die Aufhebung des Dualismus zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, die als zentrale Aufgabe seiner Ethik gilt. Nun ist dem Autor darin zuzustimmen, dass die Ethik ein Motiv des Individualitätsgedankens in den Monologen abgibt. Allerdings ist es gewiss einseitig, das Individualitätskonzept in den Monologen auf den sittlichen Aspekt zu reduzieren. Ulrich Barth und Jörg Dierken haben aufgezeigt, dass das ethische Individualitätskonzept in dieser frühromantischen Schrift ein Komplex von verschiedenen Theoriefacetten ist. Mit dieser Einseitigkeit ist in Lees Studie die Fehldiagnose verbunden, dass die Individualität in den Monologen „zuerst durch Selbstanschauung und noch ohne Verbindung mit der Gemeinschaft“31 zu verwirklichen sei. Lee übersieht, dass bereits in den Monologen die intersubjektive Kommunikation eine unentbehrliche Rolle für die Bildung der Individualität spielt. Auf die

29 Byung-Ok Lee: Der Begriff der Individualität beim frühen Schleiermacher, Hechingen 2009. 30 Vgl. a. a. O., 102–108. 31 A. a. O., 151.

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sozialphilosophische und kommunikationstheoretische Dimension des Individualitätskonzepts in den Monologen haben Barth und Dierken denn auch deutlich verwiesen. Vernachlässigt Lee die sozialphilosophische Dimension des Individualitätskonzepts in den Monologen, ist es nicht verwunderlich, dass Schleiermachers kurze Abhandlung Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), die das Thema Gemeinschaft der Individualitäten zum Gegenstand hat, in seiner Studie nicht angesprochen wird. Mit seiner Monographie leistet Lee einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über die Individualitätstheorie beim frühen Schleiermacher. Allerdings wird an dieser Studie zugleich deutlich, dass sowohl eine Analyse der werkgeschichtlichen Entwicklung erfolgen sollte als auch der Religionsbegriff in die Rekonstruktion der Individualitätstheorie in der frühromantischen Werkphase Schleiermachers miteinbezogen werden müsste. Dank seiner epochalen Bedeutung in der Geschichte der Religionstheorie und der christlichen Theologie gehört das Religionsverständnis in den Reden zu den meistuntersuchten Themen in der Schleiermacher-Forschung.32 Unter den zahlreichen Studien zum Religionsbegriff in den Reden von 1799 ragen in der neusten Forschung zwei Arbeiten heraus: In der Habilitationsschrift von Peter Grove, also im Rahmen seiner Untersuchung der subjektivitätstheoretischen Religionsphilosophie Schleiermachers, ist ein beträchtliches Kapitel der Religionstheorie in dessen frühromantischem Werk gewidmet; die Dissertation von Christof Ellsiepen hat ausschließlich den Religionsbegriff in den Reden zum Gegenstand. Die beiden Studien sind für unsere vorliegende Untersuchung auch von besonderer Bedeutung. Mit seiner im Jahre 2004 erschienenen Habilitationsschrift Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion hat Peter Grove die bisher umfassendste Untersuchung zur subjektivitätstheoretischen Religionsphilosophie Schleiermachers geliefert. Mit dem methodischen Verfahren einer werkgenetischen und systematischen Rekonstruktion des schleiermacherschen Denkens, die dessen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie von der Spätaufklärung bis zur Frühromantik einbezieht, untersucht Grove die religionsphilosophische Theoriebildung Schleiermachers systematisch an vier Hauptquellen: in den Reden über die Religion (1799), in der Philosophischen Ethik, in der Dialektik und in der Einleitung in die Glaubenslehre. Seine Hauptthese ist, „daß Schleiermacher – und zwar sowohl der frühe als auch der spätere – Religion als Subjektivität im Sinne einer Art des Selbstverständnisses und der Selbstdeutung des Menschen begreift“.33 Groves Bei-

32 Zum Stand der Forschung zu Schleiermachers Reden bis 1994 vgl. Christian Albrecht: Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit (1994), 105–125. 33 Peter Grove: Deutungen des Subjekts (2004), 4.

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trag kann als Standardwerk zur subjektivitätstheoretischen Deutung der Religionsphilosophie Schleiermachers gelten.34 Groves Studie zum Religionsbegriff in den Reden (Kapitel 3) geht im ersten Schritt in Distanz zu einer Tendenz in der neueren Forschung, die aus seiner Sicht „eine aporetische Vergegenständlichung des Unendlichen impliziert“.35 Für Grove schließt Schleiermachers Verwendung des Begriffs der Anschauung in den Reden hingegen eine solche Objektivierung aus. In seiner Rekonstruktion entdeckt Grove die „Als-Struktur“ als entscheidend für die Interpretation des religiösen Anschauens. Versteht Schleiermacher die Hinnahme des Endlichen als Darstellung des Unendlichen als Religion, so offenbart sich nach Grove im Begriff des Anschauens des Universums ein Charakter der Deutung, genauer genommen ein Charakter der Deutung des Subjekts. Konzentriert sich Groves Studie zu den Reden auf die Subjektivitätstheorie, spielt der Individualitätsgedanke in seiner Interpretation kaum eine Rolle. Aus diesem Grund wird seine Interpretation des religiösen Anschauens als Deutung des Subjekts nicht in einem weiteren Schritt individualitätstheoretisch vertieft. Auf Groves Darstellung der Philosophischen Ethik gehen wir unten ein.36 Die bislang umsichtigste Arbeit zum Religionsbegriff in den Reden von 1799 stammt von Christof Ellsiepen. Mit seiner Hallenser Dissertation Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie legt er 2006 eine hochspezialisierte Untersuchung vor.37 Für seine gesamte Untersuchung ist der Ausgangspunkt signifikant, dass die metaphysischen Strukturvoraussetzungen des Leitbegriffs des Religionsverständnisses in diesem frühromantischen Werk – „Anschauung des Universums“ – in Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis liegen. Davon ausgehend hat der erste Teil seiner Studie die spinozanische Erkenntnistheorie zum Gegenstand und erörtert das Verhältnis von Metaphysik und Subjektivität im Konzept intuitiver Erkenntnis. Auf dieser Basis rekonstruiert Ellsiepen im zweiten Teil Schleiermachers Aneignung dieses Konzepts in seinen frühen Spinoza-Studien von 1793/94. Seine These ist, dass Schleiermacher bereits in seinen Spinoza-Studien aus der Behandlung des Individuationsproblems einen religionsphilosophischen Anschauungsbegriff entwickelt. Im Anschluss daran geht es im dritten Teil der Arbeit schließlich darum, Schleiermachers Umsetzung des spinozanischen Konzepts in seiner Religionstheorie in den

34 Zu Peter Groves Studie vgl. Alf Christophersen: Rez. Peter Grove: Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, in: ThLZ 132 (2007), 456–458. 35 Peter Grove: Deutungen des Subjekts (2004), 16. 36 Vgl. dazu weiter unten: 23. 37 Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie, Berlin/New York 2006. Zu Ellsiepens Studie vgl. Andreas Kubik: Rez. Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie, in: ThLZ 133 (2008), 673–676.

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Reden herauszuarbeiten und damit eine Neuinterpretation des Begriffs „Anschauung des Universums“ zu geben. Für unsere vorliegende Untersuchung ist besonders interessant, dass Ellsiepen in seinem Explikationsrahmen des Begriffs „Anschauung des Universums“ eine aufschlussreiche Diskussion des Verhältnisses von Religion als Anschauung des Universums und Individualität liefert. Das ist kein Zufall, weil seine Studie zeigt, dass der Religionsbegriff in den Reden ohne Bezug auf den Individualitätsgedanken nicht zu klären ist. Aufgrund der spezifischen Fragestellung konzentriert sich seine Studie jedoch auf die Neuinterpretation des Religionsbegriffs in diesem Frühwerk Schleiermachers. Mit Ellsiepens Studie und ihrer ausgezeichneten Rekonstruktion des Religionsbegriffs in den Reden wird die Schleiermacher-Interpretation auf ein neues Niveau gehoben. Die vorliegende Untersuchung baut darauf auf und versucht, seine Ergebnisse in die Gesamtentwicklung der Diskussion über Religion und Individualität bei Schleiermacher einzubeziehen. Die Diskussion der ausgewählten Forschungsbeiträge zu der frühromantischen Werkphase Schleiermachers hinterlässt den Eindruck: Die Individualitätstheorie in den Monologen zählt zu den beliebten Themen aus philosophischer und theologischer Sicht; es existieren auch umsichtige Rekonstruktionen des Religionsbegriffs in den Reden. Beide lösen je für sich allerdings die oben genannten Desiderate noch nicht ein. Diese sollen daher im Folgenden in einer integrativen Sicht zusammengeführt und ihnen so eine befriedigende Abhilfe geschaffen werden.

2 Die Philosophische Ethik Im Vergleich zur Forschung zu seiner frühromantischen Werkphase wird Schleiermachers Philosophische Ethik in der Forschung bis heute eher vernachlässigt. Dafür ist wohl nicht zuletzt der Sachverhalt verantwortlich, dass Schleiermacher seine Philosophische Ethik selbst nicht in den Druck gegeben, sondern lediglich als Skizze für die Vorlesungen ausgearbeitet hat, was auch mit Bezug auf andere philosophische Vorlesungen gilt. Der zweite Teil dieses Forschungsüberblicks soll zeigen, dass bisher weder das neue Religionsverständnis in der Philosophischen Ethik noch dessen Zusammenhang mit dem Individualitätsgedanken eigens untersucht wurde. Bereits Wilhelm Dilthey (1833–1911) hatte in seinen Studien zu Schleiermachers System das Religionsverständnis in dessen ethischen Entwürfen berücksichtigt.38 Er sieht die Thematisierung der Religion im Brouillon zur Ethik von 1805 als „überaus

38 Vgl. Wilhelm Dilthey: Beilage VI: A. Religion und Kirche nach der Philosophischen Sittenlehre, in: ders.: Leben Schleiermachers. Zweiter Band: Schleiermachers System als Philosophie und Theologie, aus dem Nachlaß von Wilhelm Dilthey mit einer Einleitung hg. von Martin Redeker, Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd. XIV, 1966 Göttingen, 557–565.

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charakteristisch für Schleiermachers damalige Auffassung“, weil Religion nun in der Sittlichkeit des Gefühls gründet.39 Anfang des 20. Jahrhunderts machten einige Autoren auf den ethischen Begriff im Brouillon zur Ethik und dessen Bedeutung für die Modifikation des Religionsverständnisses in der ersten Auflage der Reden über die Religion (1799) aufmerksam. Zwei Autoren sind hierfür in den Blick zu nehmen: Eugen Huber (1901) und Hermann Süskind (1909).40 Mit seiner umfassenden Darstellung Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher (1901) versucht Eugen Huber, die Religionsgedanken von Schleiermacher in ihrer Entwicklung zu schildern. Dabei hat er die Änderungen des Religionsbegriffs in den drei Auflagen der Reden (1799, 1806 und 1821) dokumentiert und die Religionstheorie in Schleiermachers Philosophischer Ethik in unterschiedlichen Phasen berücksichtigt. Aber die entscheidende Bedeutung des ethischen Entwurfs von 1805/06 für die Modifikation des Religionsbegriffs Schleiermachers kommt überraschenderweise gar nicht zu Wort.41 In seiner Dissertation Der Einfluss Schellings auf die Entwicklung von Schleiermachers System thematisiert Hermann Süskind Schleiermachers Entwicklung zwischen 1802 und 1809. Mit dieser Untersuchung leistet Süskind den bis dato wichtigsten Beitrag zur Frage nach dem Verhältnis Schleiermachers zu Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854). Im Rahmen dieser Studie werden Schleiermachers ethische Entwürfe zwischen 1804 und 1806 thematisiert. Wie sein Lehrer Ernst Troeltsch (1865–1923) versteht Süskind Schleiermachers Philosophische Ethik als Kulturphilosophie.42 Ausdrücklich bezeichnet Süskind den Religionsbegriff im ethischen Entwurf von 1805/06 als einen neuen Religionsbegriff bei Schleiermacher. Vor dem Hintergrund der bisherigen Beobachtungen zum Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Auflage der Reden versteht Süskind den neuen Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik als eine Umbildung von Schleiermachers Religionsbegriff. Süskinds These ist, dass der Einfluss Schellings auf Schleiermacher seit 1801 entscheidend für diese Wende ist. Insofern seine Arbeit darauf zielt, die Darstellung der Entwicklung Schleiermachers durch die entscheidenden Jahre 1802–1809 weiterzuführen, wird seine Diskussion über den neuen Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik jedoch nicht ausgeführt und Schleiermachers Thematisierung der Religion in

39 Zur Thematisierung der Religion im Brouillon zur Ethik vgl. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 2) (1966), 560–563, hierzu 560. 40 Eugen Huber: Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher, Leipzig 1901; Hermann Süskind: Der Einfluss Schellings auf die Entwicklung von Schleiermachers System, Tübingen 1909. Neben Huber und Süskind hat Emil Fuchs zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Religionstheorie Schleiermachers in ihrer Entwicklung thematisiert. Emil Fuchs: Wandlung in Schleiermachers Denken zwischen der ersten und zweiten Ausgabe der Reden, in: ThStKr 76 (1903), 71–99. 41 Dazu vgl. Hermann Süskind: „Huber, […], ist die bisher beste, exakteste und vollständigste Darstellung des Gegenstands, kommt aber auch über eine blosse Zusammenstellung des Materials nicht hinaus.“ (Der Einfluss Schellings [1909], Vorwort) 42 Vgl. A. a. O., 206.

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der Philosophischen Ethik seiner Berliner Reifezeit nicht berührt. Trotzdem ist Süskinds Untersuchung eine der bis heute seltenen Studien zum ethischen Religionsbegriff in der Philosophischen Ethik Schleiermachers. Wie anfangs erwähnt ist seit der Renaissance der Schleiermacher-Forschung in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl an Studien zu Schleiermacher erschienen. Trotz dieser Konjunktur sind der Religionsbegriff, der in Schleiermachers Philosophischer Ethik – genauer genommen in der ersten systematischen Darstellung seiner Philosophischen Ethik namens Brouillon zur Ethik (1805/06) – entworfen wird, und dessen Zusammenhang mit der Individualitätstheorie in der neusten Forschung unterbelichtet geblieben, zumal wenn man diese Sachlage mit dem Forschungsstand zu seiner frühromantischen Werkphase vergleicht. Diese Situation ist aus dem Umstand zu erklären, dass – wie Sarah Schmidt beobachtet – „die Zahl derjenigen Untersuchungen, die sich explizit dem Kulturbegriff und der Kulturtheorie Schleiermachers widmen, erstaunlich gering ist“,43 obwohl die Philosophische Ethik zu den zentralen Themen von Schleiermachers Philosophie gehört. Für den etwa mit den 60er Jahren einsetzenden Forschungsbericht werden im Folgenden diejenigen Arbeiten in den Blick zu nehmen sein, die jene Thematik berühren und die Philosophische Ethik zum Gegenstand haben. Zunächst zeichnen sich zwei allgemeine Darstellungen zur Philosophischen Ethik Schleiermachers aus. Im Rahmen seiner Studie Schleiermachers Christliche Sittenlehre (1964) legt Hans-Joachim Birkner eine Darstellung der Philosophischen Ethik vor, die als systematische Voraussetzung seiner Untersuchung zur Christlichen Sittenlehre dient.44 Birkner bezeichnet die Philosophische Ethik als „die bedeutendste philosophische Leistung Schleiermachers“.45 Für ihn ist die Aufgabe dieser Ethik, „den Gesamtbereich menschlich-geschichtlichen Lebens zu umschreiben und durchzugliedern, für diesen Gesamtbereich die Verstehenskategorie bereitzustellen“.46 Von daher haben alle konkreten Themenbereiche in Schleiermachers System ihren ethischen Ansatz. Diese Beobachtung findet seither ihre allgemeine Zustimmung in der Forschung. Das Interesse an der Philosophischen und Theologischen Ethik Schleiermachers im letzten Halbjahrhundert ist in erster Linie Birkners Studie zu verdanken.

43 Sarah Schmidt: Kulturkritik als geschichtliches Verstehen in Friedrich Schleiermachers Ethik, in: Andrea Allerkamp/Gérard Raulet (Hg.): Kulturwissenschaften in Europa – eine grenzüberschreitende Disziplin? Münster 2010, 39–55, hier 39. 44 Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre. Im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964, 36–50. 45 A. a. O., 37. 46 A. a. O., 40.

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Neben Hans-Joachim Birkner liefert Gunter Scholtz eine wichtige zusammenfassende Darstellung mit dem Titel Ethik als Theorie der modernen Kultur (1983/1995).47 Im Vergleich zu Birkner legt Scholtz in seiner Studie einen deutlicheren Akzent auf die kulturtheoretische Bedeutung der Philosophischen Ethik Schleiermachers. In Übereinstimmung mit Albert Reble (1935) versteht er die Philosophische Ethik als eine Kulturphilosophie.48 Aus seiner Sicht geht es der Ethik Schleiermachers deshalb darum, „das Spezifikum der modernen Kultur begreifbar zu machen“.49 Demnach sind die vier Handlungsgebiete in der Güterlehre die Kultursphären des menschlichen Lebens. Darüber hinaus betont Scholtz, dass die Ethik eine Sozialphilosophie sei, weil die Gesellschaft durch die Gliederung der Kultur ebenfalls gegliedert wird. Die vier Kultursphären gehören zusammen, denn „[g]erade durch die Zugehörigkeit zu allen vier Kultursphären realisiert sich der Einzelne als ganzer Mensch“.50 Zu dieser Studie gehört auch ein Vergleich der Kulturphilosophie Schleiermachers mit derjenigen Hegels. Die Beiträge von Hans-Joachim Birkner und Gunter Scholtz bilden bis heute die grundlegende Standardliteratur zu Schleiermachers Ethik.51 Zwischen 1976 und 1992 veröffentlichte Eilert Herms vier Aufsätze zur Philosophischen Ethik. Diese Beiträge erschienen erneut im Jahre 2003 mit seinen anderen Aufsätzen zu Schleiermacher in einem Sammelband, der den Titel Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher trägt.52 Der Aufsatz Die Ethik des Wissens beim späten Schleiermacher (1976) versucht das Verhältnis von Ethik und Wissen und das

47 Gunter Scholtz: Ethik als Theorie der modernen Kultur. Mit vergleichendem Blick auf Hegel (1983), in: ders.: Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaft, Frankfurt a. M. 1995, 35–64. Neben diesem Aufsatz legt Scholtz in seiner ein Jahr danach erschienenen Abhandlung Die Philosophie Schleiermachers (1984) ebenfalls eine kurze Darstellung zur Ethik Schleiermachers vor (vgl. ders.: Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, 114–127). 48 Albert Reble: Schleiermachers Kulturphilosophie. Eine entwicklungsgeschichtlich-systematische Würdigung, Erfurt 1935. Zu Rebles Interpretation von Schleiermachers Philosophischer Ethik vgl. unten: 181–182. 49 Gunter Scholtz: Ethik als Theorie der modernen Kultur (1983/1995), 36. 50 A. a. O., 38. 51 Zu den allgemeinen Darstellungen der Philosophischen Ethik zählt auch die Studie von Michael Welker: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Universalisierung von Humanität, in: Josel Speck (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit III, Göttingen 1983, 9–45. 52 Eilert Herms: Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003. Die vier Aufsätze in diesem Sammelband zur Philosophischen Ethik Schleiermachers sind: Die Ethik des Wissens beim späten Schleiermacher (1976), 1–48; „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“. Eine Untersuchung der Einleitung zu Schleiermachers Ethikvorlesung von 1805/06 (1984), 49–100; Reich Gottes und menschliches Handeln (1985), 103–124; Platonismus und Aristotelismus in Schleiermachers Ethik (1992), 150–172. Zu diesem Sammelband vgl. Wilhelm Gräb: Rez. Eilert Herms: Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, in: ThLZ 130 (2005), 811–816; Hermann Patsch: Schleiermachers Systemkonzeption (Rez. Eilert Herms: Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher), in: GGA 257 (2005) Helft 3/4, 262–284.

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Verhältnis von Ethik und Dialektik beim späten Schleiermacher zu bestimmen. In dieser Studie versteht Herms die Philosophische Ethik Schleiermachers als „Theorie des individual-sozialen Vernunfthandelns“.53 Die Aufgabe der Ethik ist deshalb, dieses Vernunfthandeln „hinsichtlich genau derjenigen Momente zu beschreiben, welche für seine Gestalt als die eines von Individuen getragenen und Individuen zusammenschließenden Handlungszusammenhanges konstitutiv sind“.54 Mit dem Beitrag „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“ (1984) legt Herms eine sehr gründliche Studie zur Einleitung zum Brouillon zur Ethik (1805/06) vor. Vor dem Hintergrund einer kurzen Vorstellung der kritischen Beschäftigung Schleiermachers mit der bisherigen Ethik bis 1802 untersucht er den Aufbau, die Form und den Gehalt der Ethik gründlich. Aufgrund ihrer sehr detaillierten Darstellung kommt diese Studie allerdings kaum zu einer eigentlichen Interpretation des dargebotenen Textmaterials. Mit dem Aufsatz Reich Gottes und menschliches Handeln (1985) macht Herms das Verhältnis der Philosophischen Ethik und der Christlichen Sittenlehre zum Thema. Für ihn sind die vier Handlungsgebiete im ethischen Leben bei Schleiermacher nicht gleichwertig. Vielmehr kommt dem Gebiet der Religion eine zentrale Position zu. Denn „[h]ier und nur hier entspringt die Kraft zur Erfüllung der aus dem ethischen Grundentschluß folgenden Einzelpflichten“.55 Anders als die bisherige Interpretation, welche die konkreten Handlungsbereiche – die Religion eingeschlossen – aus der Güterlehre deduziert und damit das Verhältnis der Philosophischen Ethik zur christlichen Sittenlehre als eine positive Beziehung versteht,56 stellt Herms fest, dass Schleiermachers Beschreibung des konkreten ethischen Lebens unter den Bedingungen der christlichen Sittlichkeit steht.57 Im Aufsatz Platonismus und Aristotelismus in Schleiermachers Ethik (1992) sucht Herms nach dem Einfluss von Schleiermachers Studium der antiken Klassiker auf seine Philosophische Ethik. Die Beiträge von Herms haben ein Gemeinsames: Obwohl seit Anfang des letzten Jahrhunderts in der Forschungsliteratur in einer Vielzahl der Untersuchungen der kulturtheoretische Aspekt der Philosophischen Ethik Schleiermachers benannt wird, bleibt dieser Aspekt in seiner Interpretation von Schleiermachers Ethik weitestgehend unberücksichtigt. Mit seiner im Jahre 1991 in Tübingen eingereichten philosophischen Dissertation Güterbegriff und Handlungstheorie, eine Studie zur Ethik F. Schleiermachers (1992) legt Michael Moxter eine eindringliche Untersuchung zur Philosophischen Ethik

53 Eilert Herms: Die Ethik des Wissens beim späten Schleiermacher (1976/2003), 9. 54 Ebd. 55 Eilert Herms: Reich Gottes und menschliches Handeln (1985/2003), 122. 56 In der Forschung vertritt Hans-Joachim Birkner diese Interpretation (vgl. ders: Schleiermachers Christliche Sittenlehre [1964], 83–87). Zu diesem Thema vgl. unten: Zweiter Teil. Die kulturtheoretische Neuentwicklung des Religions- und Individualitätsbegriffs in der Philosophischen Ethik. Einleitung, 188–189. 57 Vgl. Eilert Herms: Reich Gottes und menschliches Handeln (1985/2003), 122.

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Schleiermachers vor.58 Moxter versteht Schleiermachers Philosophische Ethik als Güterethik. Demnach sieht er die Aufgabe seiner Studie als „Rekonstruktion der Güterethik Schleiermachers“.59 Bei dieser Rekonstruktion handelt es sich um die Genese und die Systematik der Philosophischen Ethik Schleiermachers. Um die Genese der Ethik aufzuklären, untersucht Moxter in den ersten drei Kapiteln nicht nur die Jugendschriften von Schleiermacher und die Grundlinien seiner Kritik der bisherigen Sittenlehre von 1803, sondern er macht auch die Berliner Akademieabhandlungen zur Ethik zum Thema. Seine These ist, dass Schleiermachers Güterethik in erster Linie das Resultat seiner kritischen Auseinandersetzung mit Kant ist. Im Zuge seiner „Abkehr von Kant“ kehre Schleiermacher zur aristotelischen Tradition zurück. Daher versteht Moxter Schleiermachers Güterlehre genetisch als „de[n] früheste[n] Versuch eines nachkantischen Aristotelismus“.60 Seine Explikation der Systematik der Güterlehre Schleiermachers enthält vier Teile. Zunächst zeigt er, dass Schleiermacher die Güter als Anerkennungsverhältnis versteht (Kapitel 4). Mit dem Begriff der Anknüpfung zusammen bildet der Begriff der Anerkennung die Voraussetzung für die Pflichtethik. Denn der durch die Anerkennung eingeführte intersubjektive Aspekt ist wesentlich für die Handlungstheorie Schleiermachers, sowohl im individuellen Handlungsgebiet als auch in der durch Recht und Regel strukturierten politischen Sphäre. Sodann (Kapitel 5) stellt Moxter den Organismusbegriff als Leitbegriff für die Güterlehre Schleiermachers heraus, weil nur eine bestimmte Ordnung aller Güter im menschlichen Leben als höchstes Gut gilt. Im Kontext einer problemgeschichtlichen Darstellung und einer Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Thematisierung des Begriffs erörtert der Autor den durch Wechselwirkung strukturierten und durch Selbstzweck gekennzeichneten Organismus bei Schleiermacher. Vor diesem Hintergrund hat das Kapitel 6 die Idee des höchsten Gutes zum Gegenstand. Dabei behandelt Moxter die Zuordnung der verschiedenen Teile und Perspektiven als eine Gesamtheit in der Güterethik Schleiermachers. Dazu gehört nicht nur die Verhältnisbestimmung des höchsten Gutes mit den drei ethischen Formen, sondern auch eine Interpretation des Zusammenhangs des höchsten Gutes mit den Einzelgütern. Von besonderer Bedeutung ist es, dass Moxter vor dem Hintergrund seiner Auslegung des Organismusbegriffs das höchste Gut in der Güterethik Schleiermachers als „ausdifferenziertes Ganzes“61 interpretiert. Schließlich legt das Kapitel 7 eine Analyse zur Methodologie der Güterethik Schleiermachers vor. Es geht um die Frage, „[w]ie Schleiermachers Ansatz bei der sittlichen Wirklichkeit zur normati-

58 Michael Moxter: Güterbegriff und Handlungstheorie. Eine Studie zur Ethik F. Schleiermachers, Kampen 1992. Zu Moxters Beitrag vgl. Ulrich Barths Rezension in: ders.: Schleiermacher-Literatur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (2001), 428–431. 59 Michael Moxter: Güterbegriff und Handlungstheorie (1992), 16. 60 A. a. O., 16. 61 A. a. O., 186.

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ven Implikation kommt“.62 Das geschehe durch die Minimum-Maximum-Spekulation in der Ethik. Für Moxter handelt es sich bei Schleiermachers Methode um eine Oszillation von gegenüberstehenden Polen. Diese Denkfigur zeige sich bei jedem der von ihm als relevant angesehenen Gegensätze in seiner Güterlehre, beispielsweise am Verhältnis von Individualität und Identität, am Verhältnis von Organisieren und Symbolisieren, am Verhältnis von Einzelnem und Ganzem. Aus diesen Minimum-Maximum-Verhältnissen ergäben sich die Institutionen in der Handlungstheorie. Gelten die Minimum-Maximum-Spekulationen als normative Ansatzpunkte der Ethik, handelt es sich Moxter zufolge bei Schleiermachers Güterlehre wesentlich um „eine normative Institutionenlehre“.63 Moxters Studie gehört zu den bislang wichtigsten Beiträgen zur Philosophischen Ethik Schleiermachers. Trotzdem sind einige Probleme nicht zu übersehen. Bereits im Brouillon zur Ethik von 1805/06 konstatiert Schleiermacher „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“ als Grundprinzip seiner Philosophischen Ethik. Demnach gehen alle menschlichen Tätigkeiten von diesem Prinzip aus und werden als das Handeln der Vernunft auf die Natur verstanden. So zählt das Verhältnis von Vernunft und Natur zu den zentralen Fragen einer Studie zur Philosophischen Ethik. Insofern ist es verwunderlich, dass in Moxters Rekonstruktion der Güterethik Schleiermachers weder eine nähere Verhältnisbestimmung von Vernunft und Natur noch die ihr zugrundeliegende Vernunfttheorie untersucht wird. Aus diesem Grund ist seine Interpretation des Organisierens und des Symbolisierens mit gewissen Einseitigkeiten behaftet.64 Darüber hinaus ist der mit der Vernunfttheorie verbundene Individualitätsgedanke Schleiermachers nicht entfaltet. Konzentriert sich Moxters Studie ganz auf die Genese und Systematik der Güterlehre, tritt der kulturtheoretische Aspekt der Ethik in den Hintergrund. Darüber hinaus wird das Religionsverständnis der Philosophischen Ethik in seiner Rekonstruktion ganz ausgeblendet. Abgesehen von diesen Einschränkungen ist der Beitrag von Moxter forschungsgeschichtlich von hoher Bedeutung. Seither ist keine Monographie zur Philosophischen Ethik Schleiermachers mehr vorgelegt worden. Von daher kommt seiner Studie das Verdienst zu, die Grundlagen für die weiteren Arbeiten an diesem Desiderat der Schleiermacher-Forschung zu liefern. Immerhin haben um die Jahrtausendwende herum einige Autoren die Philosophische Ethik im Rahmen ihrer theologischen und religionsphilosophischen Untersuchungen zu Schleiermacher zum Thema gemacht. Die im Jahre 1996 von Dorothee Schlenke in Mainz eingereichte theologische Dissertation „Geist und Gemeinschaft“. Die systematische Bedeutung der Pneumatologie für Friedrich Schleiermachers Theo-

62 A. a. O., 198. 63 A. a. O., 233. 64 Vgl. a a. O., 120–122.

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rie der christlichen Frömmigkeit (1999) ist ein Beispiel.65 Für Schlenke gehört Schleiermachers Ethik – wie seine Psychologie und Dialektik – zu den subjektivitätstheoretischen Hintergrundtexten seiner Frömmigkeitstheorie. Ihre Untersuchung der Philosophischen Ethik bildet also eine der Voraussetzungen für ihre systematische Rekonstruktion der Pneumatologie beim späten Schleiermacher. Im Zusammenhang ihrer Analysen von Psychologie und Dialektik sowie im Kontext einer allgemeinen Darstellung der Ethik entfaltet Schlenke die ethische Bestimmung der Religion.66 In diesem Zusammenhang kommt nicht nur der ethische Begriff des Gefühls im Brouillon zur Ethik zur Sprache,67 sondern auch die Handlungsform des individuellen Symbolisierens gemäß der Ethik der Berliner Reifezeit. Insofern sich ihre Abhandlung insgesamt aber der „Aufgabe einer auf die Pneumatologie ausgerichteten Gesamtinterpretation der materialen Dogmatik Schleiermachers“68 stellt, bleibt die ethische Bestimmung der Religion im Brouillon zur Ethik unausgeführt. Wie bereits bei ihrem Lehrer Eilert Herms spielt bei Schlenke die kulturtheoretische Bedeutung der Ethik Schleiermachers kaum eine Rolle. Die theologische Dissertation Martina Kumlehns Symbolisierendes Handeln. Schleiermachers Theorie religiöser Kommunikation und ihre Bedeutung für die gegenwärtige Religionspädagogik (1999) diskutiert im ersten Teil ‚Strukturen und Darstellungsweisen religiöser Erfahrung‘ die Theorie des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik Schleiermachers.69 Für Kumlehn gehört die Theorie des individuellen Symbolisierens in der Ethik zur Thematik religiöser Kommunikation. Diese Theorie hat ihre religionstheoretische Grundlegung in der ersten Auflage der Reden von 1799. Während der individuelle Erfahrungsbezug von Religion in den Reden im Mittelpunkt steht, geht es in der Theorie des individuellen Symbolisierens in der Ethik aus ihrer Sicht um die Ausdrucksformen und Kommunikationsbedingungen religiöser Erfahrung. Kumlehns Studie zur Philosophischen Ethik zeichnet sich durch den Versuch aus, die Spannung zwischen der individuellen inneren religiösen Erfahrung und der gemeinschaftsbezogenen Kommunikation des Religiösen zu lösen, indem sie nicht nur die Theorie des individuellen Symbolisierens in der Ethik und Ästhetik ausführt, sondern auch das Medium und den Ort dieser Kommunikationsweise herausarbeitet. Darüber hinaus entdeckt Kumlehn, dass die Theorie des individuellen Symbolisierens in der Ethik bereits in den Reden aufgespürt werden kann. Die Reden können so als „eine die Theorie des individuellen Symbolisierens

65 Dorothee Schlenke: „Geist und Gemeinschaft“. Die systematische Bedeutung der Pneumatologie für Friedrich Schleiermachers Theorie der christlichen Frömmigkeit, Berlin 1999. 66 Vgl. a. a. O., 97–135. 67 Vgl. a. a. O., 97–101. 68 A. a. O., 6. 69 Martina Kumlehn: Symbolisierendes Handeln. Schleiermachers Theorie religiöser Kommunikation und ihre Bedeutung für die gegenwärtige Religionspädagogik, Gütersloh 1999, 47–126.

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vorbereitende Programmschrift“70 gelesen werden. Zwar konzentriert sich Kumlehns Studie zur Philosophischen Ethik ganz auf die Theorie des individuellen Symbolisierens, doch tritt bei ihr wiederum die Darstellung des Gefühlsbegriffs zurück, der in der Ethik den Anschauungsbegriff ersetzt und als Leitbegriff in Schleiermachers späterem Religionsverständnis fungiert. Der Verzicht auf die Explikation des Gefühlsbegriffs im Rahmen einer Studie zum individuellen Symbolisieren in der Philosophischen Ethik ist insofern problematisch. Auch der ethische Religionsbegriff, den Schleiermacher im Brouillon zur Ethik von 1805/06 entwickelt, wird in der Studie von Kumlehn nicht berührt. Dementsprechend bleibt bei ihr Schleiermachers kategoriale Umstellung des Religionsverständnisses in der Ethik unberücksichtigt. Schleiermachers Philosophische Ethik gehört auch zu den Schwerpunkten von Peter Groves Habilitationsschrift Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion (2004). Seine Studie zur Philosophischen Ethik besteht aus zwei Teilen (Kapitel 5 und Kapitel 6). Kapitel 5 macht das Erkennen als Anschauung und Gefühl im Brouillon zur Ethik zum Thema, Kapitel 6 handelt von Gefühl und Selbstbewusstsein in der Ethik der Berliner Reifezeit Schleiermachers. Groves Studie kommt das Verdienst zu, den subjektivitätstheoretischen Aspekt des Gefühls ausführlich diskutiert zu haben. Aufgrund der Zielsetzung seiner Abhandlung konzentriert sich seine Diskussion über den Begriff des Gefühls in der Ethik auf den subjektivitätstheoretischen Aspekt. Zwar wird in seiner Studie die Individualitätsproblematik in der Ethik berührt, jedoch nicht ausgeführt. Demgegenüber wird im Folgenden zu zeigen sein, dass die Individualitätskonzeption zwar im Rahmen der Subjektivitätstheorie entfaltet wird, diesen aber auch überschreitet. Konzentriert sich Groves Studie in der Ethik ganz auf den subjektivitätstheoretischen Aspekt des Begriffs des Gefühls, treten diese anderen Dimensionen der Problematik in den Hintergrund. Darüber hinaus wird in seiner Interpretation die Bedeutung der Religionsgedanken Schleiermachers in der Ethik unterschätzt. Wohl hat Grove die in der Forschung vernachlässigte Erkenntnistheorie im Brouillon zur Ethik analysiert, aber der mit der Erkenntnistheorie eng verbundene ethische Religionsbegriff in dieser frühen Ethikvorlesung bleibt bei ihm unberücksichtigt. Er begründet diese Begrenzung damit, dass die Aussagen über die Religion in der Ethik „kürzer und unergiebiger als andere religionstheoretische Reflexionen Schleiermachers“71 seien. Unsere Studie wird deutlich machen, dass diese Behauptung in gewisser Hinsicht einseitig ist. Neben dem ethischen Begriff im Brouillon zur Ethik ist das Verhältnis von Religion und Kunst das zweite zentrale Thema im Religionsverständnis Schleiermachers in der Philosophischen Ethik. Dieses Thema gehört explikationslogisch zum Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens und zählt zu den wichtigsten und viel besprochenen Themen im neueren Diskurs über Religion. Schleiermachers Themati-

70 A. a. O., 121. 71 Peter Grove: Deutungen des Subjekts (2004), 533.

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sierung der Interdependenz von Religion und Kunst, die in der Hallenser Ethikvorlesung ins Licht rückt und dann in den Ethikvorlesungen seiner Berliner Reifezeit entfaltet wird, ist mit dem ethischen Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik eng verbunden: Der ethische Religionsbegriff gilt als Ausgangspunkt für seine Interpretation des Verhältnisses von Religion und Kunst in der Ethik seiner Berliner Reifezeit. Wohl gibt es in der neusten Forschung einige interessante und umsichtige Studien zur Verhältnisbestimmung von Religion und Kunst in der Ethik – zu nennen sind Wilhelm Gräb (1985; 1988), Thomas Lehnerer (1987), Martina Kumlehn (1999), Anne Käfer (2006), Michael Moxter (2008), Jan Rohls (2018) und Holden Kelm (2019).72 Aber auch in diesem Debattenzusammenhang spielt der ethische Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle. Der zweite Teil des Überblicks über den Forschungsstand zeigt, dass es zwar durchaus eine breite Diskussion über die an die frühromantischen Schriften anschließende werkgeschichtliche Phase mit dem Schwerpunkt auf den Vorlesungen zur Philosophischen Ethik gibt. Dabei waren aber bisher andere Gesichtspunkte und Zugangsperspektiven leitend. Der für die frühromantische Werkphase so signifikante Zusammenhang zwischen Individualitäts- und Religionstheorie als solcher wurde dabei noch nicht eingehend untersucht; man könnte fast den Eindruck gewinnen, als habe Schleiermacher diesen Zusammenhang in den Hintergrund treten lassen. Die folgenden Ausführungen sollen jedoch zeigen, dass dieser Eindruck täuscht und im Gegenteil der individualitätstheoretische Religionsbegriff systematisch ausgebaut wird. Blickt man von hier aus auf den Überblick über den Forschungstand insgesamt zurück, so lassen sich die folgenden drei Punkte festhalten: (1) Die Einzeluntersuchungen zum Religionsbegriff in den Reden und zur Individualitätstheorie in den Monologen sind bislang – aus religionsphilosophischer Sicht – noch nicht hinreichend zu einer integrativen Darstellung zusammengeführt worden. (2) Der Verweisungszusammenhang von Religion und Individualität in der frühromantischen Werkphase Schleiermachers wurde bisher zwar berücksichtigt, jedoch nicht genügend ausgeführt. (3) Obwohl Schleiermachers Philosophische Ethik zu den zentra-

72 Wilhelm Gräb: Predigt als kommunikativer Akt. Einige Bemerkungen zu Schleiermachers Theorie religiöser Mitteilung, Göttingen 1985; ders.: Predigt als Mitteilung des Glaubens: Studien zu einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht, in: Kurt-Victor Selge (Hg.): Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, Bd. 2, Berlin/New York 1985, 643–659; Thomas Lehnerer: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, Stuttgart 1987; Anne Käfer: „Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös“. Schleiermachers Ästhetik im Kontext der zeitgenössischen Entwürfe Kants, Schillers und Friedrich Schlegels, Tübingen 2006; Michael Moxter: Religion und Kunst, in: Akten des internationalen Kongresses 2006 (2008), 597–611; Jan Rohls: Kunst und Religion bei Schleiermacher und den Frühromantikern, in: Akten des internationalen Kongresses 2017 (2018), 383–408; Holden Kelm: Kunst und Religion in Schleiermachers Vorlesungen über philosophische Ethik, in: Andreas Arndt/Simon Gerber/Sarah Schmidt (Hg.): Wissenschaft, Kirche, Staat und Politik. Schleiermacher im preußischen Reformprozess, Berlin/Boston 2019, 307–326.

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len Themen seiner Philosophie gehört, bilden sowohl der Religionsbegriff in diesem als Kulturtheorie rezipierten System als auch dessen Zusammenhang mit dem Individualitätsgedanken bis zum heutigen Tage einen eher marginalen Gegenstand der Forschung. Die Ausblendung systematischer Darstellungen überrascht insbesondere, wenn man bedenkt, dass der kulturtheoretische Aspekt einen zentralen Bestandteil der gegenwärtigen Diskussion über das Thema Religion und Individualität ausmacht. Von daher scheint eine Untersuchung zum Zusammenhang von Religion und Individualität in den beiden werkgeschichtlichen Prägephasen Schleiermachers – in seiner frühromantischen Werkphase und in seiner Philosophischen Ethik, die in der vorliegenden Studie durchgeführt wird – im Licht der Forschung angezeigt.

c Aufbau der Arbeit und Quellenauswahl Schleiermachers Beschäftigungen mit dem inneren Verweisungszusammenhang von Religion und Individualität in seiner frühromantischen Werkphase und in seiner Philosophischen Ethik stehen in unterschiedlichen Diskussionskontexten und damit unter unterschiedlichen Voraussetzungen. Aus diesem Grund besteht unsere Untersuchung zur werkgeschichtlichen Entwicklung der Verhältnisbestimmung von Religion und Individualität bei Schleiermacher aus zwei Hauptteilen. In einem ersten Hauptteil werden die Entdeckungszusammenhänge von Religions- und Individualitätsverständnis in seiner frühromantischen Werkphase ausgeführt. Mit Blick auf die Frage, ob dieser innere Zusammenhang als Leitidee in einem handlungstheoretisch und ethisch entfalteten System aufrechterhalten werden kann, wird der zweite Hauptteil der Neuentwicklung der Verhältnisbestimmung von Religion und Individualität in seiner Philosophischen Ethik nachgehen. Dieser zweite Hauptteil behandelt zugleich die Zusammenführung der in der frühromantischen Werkphase entdeckten Motive. Daher bildet diese werkgeschichtliche Phase den Skopus unserer Untersuchung. Die Studie zu seiner frühromantischen Werkphase im ersten Hauptteil erfolgt in zwei Kapiteln (Kapitel 1 und Kapitel 2). Das erste Kapitel hat das Ziel, die anthropologische Grundlegung der Individualitätstheorie Schleiermachers in seiner frühromantischen Werkphase entwicklungsgeschichtlich zu rekonstruieren. In dieser Rekonstruktion gilt es zunächst, das anthropologische Geistverständnis in der ersten Rede der Reden über die Religion (1799) zu konkretisieren (1); sodann wird das neue Individualitätskonzept in den Monologen (1800) vor dem philosophiegeschichtlichen Hintergrund herausgearbeitet (2); zu dieser Rekonstruktion gehört auch eine kurze Darstellung der sozialphilosophischen Dimension seiner Individualitätstheorie in der kurzen Abhandlung Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799) (3). Auf dieser Basis widmet sich das zweite Kapitel dann dem individualitätstheoretischen Religionsbegriff in den Reden. Im Rahmen dieser Studie wird zunächst die

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neue Fassung des Religionsverständnisses in der zweiten Rede mit Bezug auf seine Individualitätstheorie thematisiert (1); sodann wird gezeigt, wie ein neuer Kirchenbegriff – Kirche als religiöse Gemeinschaft – in der vierten Rede durch eine Diskussion über die Mitteilung der Religion eingeführt wird (2); schließlich steht im dritten Abschnitt dieses Kapitels infrage, wie der Autor vor dem Hintergrund seiner neuen Wesensbestimmung der Religion die Individuation der Religion im Kontext der historischen Pluralität der Religionen in der fünften Rede interpretiert (3). Unsere Studie im ersten Hauptteil fokussiert also auf Schleiermachers frühromantischen Programmschriften: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) und Monologen. Eine Neujahrsgabe (1800). Beide Schriften sind kurz nach der Niederschrift in Berlin – wohl anonym – erschienen und wurden von dem Verfasser in seinen späteren Lebenszeiten mehrmals modifiziert und wieder neu in den Druck gegeben.73 Allerdings repräsentieren die Urfassungen der beiden Werke die Gedanken des Autors in seiner frühromantischen Werkphase authentisch. Daher beruht unsere Studie auf der ersten Auflage beider Schriften.74 Um die gedankliche Entwicklungsgeschichte adäquat zu rekonstruieren, werden in dieser Studie darüber hinaus einige seinerzeit unveröffentlichte Jugendschriften, die in der Kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe (KGA) dokumentiert sind, berücksichtigt.75 Im zweiten Hauptteil beruht die Studie zur kulturtheoretischen Neuentwicklung der Verhältnisbestimmung von Religion und Individualität in Schleiermachers Philosophischer Ethik grundlegend auf seinen Vorlesungsvorlagen: Dem Brouillon zur Ethik (1805/06) und der Güterlehre (1812–17). Im Brouillon zur Ethik gibt Schleiermacher zum ersten Mal eine zwar skizzenhafte, aber gleichwohl vollständige Darstel-

73 Von den Reden über die Religion (1799) gibt es noch drei weitere Ausgaben: 1806, 1821 und 1831. Zu diesen weiteren Ausgaben vgl. Günter Meckenstock: Historische Einführung (1995), in: KGA I/12, VIII–XXXVI; Niklaus Peter: Einleitung, in: Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799 | 1806 | 1821), Studienausgabe, hg. von Niklaus Peter, Frank Bestebreurje und Anna Büsching, Zürich 2012, XII–XXV; Ulrich Barth: Was heißt „Anschauung des Universums“? Spinozanische Hintergründe von Schleiermachers Jugendschrift (2012), in: ders.: Kritischer Religionsdiskurs (2014), 222–244. bes. 223–227. Von den Monologen (1800) sind ebenfalls drei weitere Ausgaben erschienen: 1810, 1821 und 1829. Zu diesen weiteren Ausgaben vgl. Günter Meckenstock: Die Wandlungen der „Monologen“ Schleiermachers, in: ders. (Hg.): Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Berlin/New York 1991, 403– 409; ders.: Historische Einführung (1995), in: KGA I/12, LXIII–LXVII. 74 Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), in: KGA I/2. 185–326; ders.: Monologen. Eine Neujahrsgabe (1800), in: KGA I/2, 1–61. Die vorliegende Studie zitiert nach der Originalpaginierung in der ersten Auflage der beiden Schriften in der KGA. 75 Die in dieser Studie berücksichtigten, seinerzeit unveröffentlichten Jugendschriften von Schleiermacher sind die folgenden: Über den Wert des Lebens (1792/93), in: KGA I/1, 391–471; Spinozismus (Vermutlich 1793/94), in: KGA I/1 511–558; Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems (Vermutlich 1793/94). in: KGA I/1 559–582.

c Aufbau der Arbeit und Quellenauswahl 

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lung seiner Vorlesung über die Philosophische Ethik, die er im Laufe seines Lebens mehrmals gelesen und bearbeitet hat. Für seine gesamte Thematisierung der Religion in der Philosophischen Ethik gilt der ethische Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik als Ausgangspunkt. Denn an keiner weiteren Stelle in seiner Philosophischen Ethik hat Schleiermacher eine Interpretation des ethischen Religionsbegriffs wiedergegeben. Die Diskussion über Religion in der Philosophischen Ethik seiner Berliner Reifezeit, genau genommen in der Güterlehre von 1812–17, geht gänzlich von diesem Ausgangspunkt im Brouillon zur Ethik aus und legt den Schwerpunkt darauf, wie Religion als ein ethischer Prozess bzw. als Ethisierung des Gefühls überhaupt möglich ist, oder anders gesagt, wie Religion als individuelles Symbolisieren eigentlich verwirklicht werden kann. Insofern wird die Studie im zweiten Hauptteil ebenfalls in zwei Schritten durchgeführt (Kapitel 3 und Kapitel 4). Im dritten Kapitel wird der handlungstheoretische Aufriss im Brouillon zur Ethik (1805/06) in seinen Grundzügen rekonstruiert, um uns für die weitere Untersuchung einen Überblick über seine Beschreibung des Gesamtspektrums der modernen Kultur zu verschaffen (1). Dabei wird die Untersuchung zum ersten Mal auf den Grundgedanken Schleiermachers stoßen, dass Religion als ein Kulturphänomen und als ein ethischer Prozess gemäß dem handlungstheoretischen Quadruplizitätsschema zum Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens gehört. Nach diesem Überblick wird innerhalb dieses Kapitels der ethische Religionsbegriff Schleiermachers in einem erkenntnistheoretischen Kontext – ebenfalls nach der ersten systematischen Darstellung seiner Philosophischen Ethik – herausgearbeitet (2). Hierbei wird auch das Verhältnis von Religion und Gefühl geklärt. Das vierte Kapitel wird den Begriff des individuellen Symbolisierens nach der Philosophischen Ethik seiner Berliner Reifezeit, genau genommen nach der Güterlehre von 1812–17, vertiefend untersuchen, um den inneren Zusammenhang von Religion und Individualität bei Schleiermacher in einem handlungstheoretischen und kulturtheoretischen Horizont präzise bestimmen zu können. Zu diesem Zweck wird zunächst der Begriff des Gefühls im Kontext der Vertiefung und Erweiterung seiner Güterlehre aus unterschiedlichen Perspektiven näher bestimmt (1), danach wird die Verschränkung von Religion und Kunst bei Schleiermacher erörtert (2); an beiden Kultur- bzw. Handlungssphären lässt sich zeigen, wie das Gefühl ausgedrückt werden kann und welche Funktion Kunst daraufhin für die Verwirklichung der Religion hat. Auf dieser Basis gilt es schließlich, den Kirchenbegriff seiner Philosophischen Ethik zu entwickeln (3). Schleiermacher hat seine philosophischen Hauptwerke selbst nicht in den Druck gegeben, sondern lediglich als Vorlesungen ausgearbeitet. Deshalb steht keine vom Autor veröffentlichte Fassung seiner Philosophischen Ethik zur Verfü-

28  Einleitung

gung.76 Wohl gibt es Vorlesungsnachschriften, die teilweise die Vorlesungen gut dokumentiert haben, aber gemäß der allgemeinen Forschungsregel sollen die vom Autor selbst verfassten Texte den interpretatorischen Vorrang haben. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, für unsere Untersuchung zu Schleiermachers Philosophischer Ethik von seinen eigenen Vorlesungsvorlagen auszugehen, sowohl für die Vorlesungen an der Hallenser als auch für die Vorlesungen an der Berliner Universität.77 Diese Vorlesungsmanuskripte wurden von Otto Braun im Jahr 1913 neu herausgegeben und gelten bis heute als zuverlässigste Quellen für das Studium der Philosophischen Ethik Schleiermachers.78 Daher beruht unsere Studie im zweiten Hauptteil auf der Ausgabe von Otto Braun, unter Berücksichtigung der Datierung von Hans-Joachim Birkner.79 Der Schlussabschnitt wird dann die gedankliche Umformung des inneren Verweisungszusammenhangs von Religion und Individualität, die zuvor werkgeschichtlich rekonstruiert wurde, einer Auswertung unter systematischen Gesichtspunkten unterziehen.

76 Zu Schleiermachers philosophischen Hauptwerken gehören auch Dialektik, Psychologie, Hermeneutik und Ästhetik, die ebenfalls nur in Manuskripten und Nachschriften von Vorlesungen überliefert sind. 77 Zur Überlieferung der Manuskripte der Vorlesungsvorlage sowie der Vorlesungsnachschriften von Schleiermachers Philosophischer Ethik vgl. Otto Braun: Einleitung (1913), in: WA II, VII– XXX, hierzu XVI–XVIII; Andreas Arndt: Schleiermachers Grundlegung der Philosophie in den Hallenser Vorlesungen (2013), in: ders. (Hg.): Friedrich Schleiermacher in Halle 1804–1807, Berlin/New York 2013, 56–65, bes. 59–60. 78 Friedrich Schleiermacher: Entwürfe zu seinem System der Sittenlehre / nach den Handschriften Schleiermachers neu herausgegeben und eingeleitet von Otto Braun, Schleiermachers Werke, Bd. II (Leipzig ¹1913), 2. Neudruck der 2. Auflage Leipzig 1927 (Nachdruck Aalen 1981). Schleiermachers Philosophische Ethik in der kritischen Gesamtausgabe (KGA) befindet sich in der Edition. 79 Für Schleiermachers Philosophische Ethik hat Hans-Joachim Birkner zwei Einzelausgaben herausgegeben: Friedrich Schleiermacher: Brouillon zur Ethik (1805/06). Auf der Grundlage von Otto Braun, herausgegebenen und eingeleitet von Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981; ders.: Ethik (1812/13). Auf der Grundlage von Otto Braun, herausgegebenen und eingeleitet von Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981. Zu seiner Datierung der Philosophischen Ethik vgl. Hans-Joachim Birkner: Einleitung, in: Friedrich Schleiermacher: Brouillon zur Ethik (1805/06)(1981), XII–XXVIII, bes. XIV– XVI. Einen sorgfältigen editorischen Vergleich der Ausgaben von Otto Braun und Hans-Joachim Birkner hat Christian Albrecht vorgenommen (vgl. ders.: Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit [1994], 24–27). Die vorliegende Studie zitiert nach der Paginierung in der Ausgabe von Otto Braun.

 Teil I: Die Entdeckungszusammenhänge von Religions- und Individualitätsverständnis in der frühromantischen Werkphase

Einleitung Schleiermachers beide Frühwerke Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) und Monologen. Eine Neujahrsgabe (1800) stammen aus einer prägenden Lebensphase in Berlin, in der er als reformierter Prediger an der Charité tätig war und als aktives Mitglied im dortigen frühromantischen Kreis mitwirkte.1 Der Abstand zwischen den beiden Veröffentlichungen war nicht einmal ein ganzes Jahr. Jene Schrift ist einem neuen Religionsverständnis gewidmet, diese hat ein neues Individualitätskonzept zum Gegenstand. Allerdings sind beide Schriften nicht nur mit Blick auf den frühromantischen Schreibstil verwandt,2 sondern auch inhaltlich und theoretisch eng verbunden.3

1 Zu Schleiermachers Verhältnis zum frühromantischen Kreis in Berlin vgl. Rudolf Haym: Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes, Berlin 1870 (Nachdruck Darmstadt 1977), 391–551; Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers. Erster Band: Auf Grund des Textes der 1. Auflage von 1870 und der Zusätze aus dem Nachlaß, hg. von Martin Redeker, Wilhelm Dilthey Gesammtelte Schriften, Bd. XIII, 1970 Göttingen, 183–382; Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. IV (1952), zweite Auflage, Gütersloh 1960, 500–511; Kurt Nowak: Schleiermacher und Frühromantik, Weimar 1986; Günter Meckenstock: Historische Einführung. Schleiermachers literarische Pläne und Unternehmungen 1796–1799 (1984), in: KGA I/2, IX–XVIII; ders.: Historische Einführung. Schleiermachers literarische Pläne und Unternehmungen 1800–1802 (1988), in: KGA I/3, VII–XV; Johannes Micheal Dittmer: Schleiermachers Wissenschaftslehre als Entwurf einer prozessualen Metaphysik in semiotischer Perspektive. Triadizität im Werden, Berlin 2001, 30–44; Ulrich Barth: Die Religionstheorie der ›Reden‹ (1998/2004), bes. 259–261; Andreas Arndt (Hg.): Wissenschaft und Geselligkeit. Friedrich Schleiermacher in Berlin 1796–1802, Berlin/New York 2013. 2 Eilert Herms bezeichnet den Schreibstil Schleiermachers in den Reden und in den Monologen als romantisch-vorwissenschaftlich, im Vergleich dazu ist der Schreibstil in vielen seiner anderen Schriften eher schulmäßig (vgl. ders.: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, Gütersloh 1974, 171–172). 3 Bereits Anfang des letzten Jahrhunderts stellt Samuel Eck (1908) den engen Zusammenhang der beiden Schriften wie folgt fest: „dass die einen doch nicht ohne die anderen bestehen“ und „[d]er ethische Individualitätsgedanke [sc. in den Monologen] ein Lehnsatz in Schleiermachers Reden“ ist (ders.: Ueber die Herkunft des Individualitätsgedankens (1908), 4 und 16). Für Eck gehört die Schrift Monologen zum Werdegang der Ethik Schleiermachers, womit er deren Ursprünge bereits in seiner Jungendzeit zugrunde gelegt sieht. „Von der Ethik aus ist Schleiermacher zu verstehen, also die Reden von den Monologen aus.“ (a. a. O., 14) Mehr dazu vgl. a. a. O., 7–16. Wilhelm Dilthey (1870) verweist auf eine wichtige Aussage Schleiermachers in seinen ersten Aufzeichnungen zu den Monologen: „Selbstanschauung und Anschauung des Universums sind Wechselbegriffe.“ (Friedrich Schleiermacher: Gedanken III [1798–1801], Nr. 34, in: KGA I/2, 127) Vor dem Hintergrund dieser Aussage versteht Dilthey den inneren Zusammenhang zwischen den Reden und den Monologen wie folgt: „Es sind nur verschiedene Seiten desselben Vorgangs, welche wir als Selbstanschauung und Anschauung des Universums herausheben.“ (ders.: Leben Schleiermachers [Bd. 1][1970], 330) Des Näheren heißt es: „In der Selbstanschauung und durch sie vollzieht sich der sittliche Vorgang. In der Anschauung des Universums besteht der religiöse Vorgang. Jener tritt in den Monologen gewissermaßen vor dem Blick des Lesers hervor, dieser in den Reden.“ (ebd.) Für Eilert Herms gehöhttps://doi.org/10.1515/9783110664393-002

32  Einleitung

Die inhaltliche und theoretische Verschränkung des Religionsverständnisses in den Reden mit dem Individualitätskonzept in den Monologen kann aus zwei Perspektiven betrachtet werden. Auf der einen Seite ist insbesondere die erste Rede der Reden über die Religion (1799) für das Individualitätskonzept in den Monologen relevant. Schleiermachers Individualitätsbegriff steht im größeren Horizont einer anthropologischen Thematik – der Frage nach der Bestimmung des Menschen. In der ersten Rede entwirft er eine geistphilosophische Grundlage für seine anthropologischen Überlegungen, die sich in den Monologen zu einem neuen Individualitätskonzept vertieft. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Zentralbegriffe seines Individualitätskonzepts auch in der ersten seiner Reden aufscheinen. Insofern kann das Geistverständnis in der ersten Rede als Prolog für sein in den Monologen entfaltetes neues Individualitätskonzept verstanden werden. Auf der anderen Seite steht die Entfaltung des neuen Religionsbegriffs in den Reden gleichsam in unmittelbarem Zusammenhang mit den Monologen. Dieser Zusammenhang lässt sich mindestens in zweierlei Hinsicht verdeutlichen. Erstens geht es um die neue Fassung des Religionsverständnisses in der zweiten Rede. Schleiermacher bestimmt Religion hier als Anschauung des Universums. Diese ist durch die Selbstbildung der Individualität zu verwirklichen: Alle Bildungen zur Religion sind zugleich Selbstbildung. Bei diesem Aspekt handelt es sich um die Individuation des Subjekts. Der zweite Aspekt betrifft die Individualisierung von Religion, die in der fünften Rede zur Darstellung kommt. Das Individuationsprinzip, das der Autor durch seine frühen Spinoza-Studien entdeckt hat und in den Monologen weiterentwickelt, dient hier als gedankliche Voraussetzung. So betrachtet kann der neue Religionsbegriff der Reden als Verortung des Individualitätskonzepts Schleiermachers in seiner Religionstheorie verstanden werden. Im ersten Teil der vorliegenden Untersuchung gilt es, die anthropologische Grundlegung der Individualitätstheorie Schleiermachers in seiner frühromantischen Werkphase (Kapitel 1) und seinen damit eng verbundenen individualitätstheoretischen Religionsbegriff in den Reden (Kapitel 2) im jeweiligen Theorie- und Gesellschaftskontext zu thematisieren. In einem Zwischenertrag werden die wichtigen Punkte unter der zusammenfassenden Fragestellung gesichtet, wie sie den Verweisungszusammenhang von Religion und Individualität in dieser ersten werkgeschichtlichen Prägephase Schleiermachers konzeptualisieren.

ren die Reden und die Monologen ebenfalls zusammen, weil beide Werke gemeinsam mit der Schrift Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) als „Produkte eines und desselben wissenschaftlichen Arbeitszusammenhangs“ Schleiermachers gelten (ders.: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt [1974], 168). Dieser eine wissenschaftliche Arbeitszusammenhang Schleiermachers sei seine wissenschaftliche Ethik. Herms zufolge ist Schleiermachers Ethik sowohl das älteste als auch das umfassendste Arbeitsvorhaben. So wie Eck ist Herms davon überzeugt, dass Schleiermacher von seiner wissenschaftlichen Ethik aus zu verstehen ist (mehr dazu vgl. a. a. O., 168–175).

Kapitel 1 Die anthropologische Grundlegung der Individualitätstheorie Dass Individualität zu den zentralen Themen der Soziologie und der Gesellschaftstheorie in der Gegenwart gehört, ist unbestritten. Dieses Thema steht in engem Zusammenhang mit Veränderungsdynamiken der modernen Gesellschaft, die durch Begriffe wie Säkularisierung, Ausdifferenzierung, Pluralisierung und eben auch Individualisierung gekennzeichnet werden können. So stellt der Soziologe Martin Kohli (1988) fest: „Die Geschichte des modernen gesellschaftstheoretischen Denkens ist auch die Geschichte des Denkens über Individualität.“1 Das Bewusstsein für die Individualität des Individuums tritt umso stärker hervor, je mehr sich allgemeine Rollenmuster verflüssigen, Klassenzugehörigkeiten auflösen und traditionelle Biographieverläufe fragmentieren.2 Aber der Begriff der Individualität hat nicht nur eine soziologische Dimension,3 sondern spielt auch eine Schlüsselrolle in der neuzeitlichen Metaphysik.4 Individualitätsmetaphysiker wie Gottfried Wilhelm Leibniz geben der starken Intuition Ausdruck, dass alle selbstständigen Gestalten des Lebens nicht nur in numerisch-quantitativer, sondern in qualitativer Hinsicht je für sich einmalig sind.5 Die frühromantische Debattenkonstellation, um die allein es im vorliegenden Zusammenhang gehen soll, ist dadurch charakterisiert, dass sie den Individualitätsgedanken als Fortbestimmung und Kritik eines allgemeinen, darin aber inhaltlich leeren Begriffs der Subjektivität, wie er paradigmatisch in der Philosophie Hegels zum Ausdruck kommt, in Stellung bringt. Mit seinem Frühwerk Monologen. Eine Neujahrsgabe (1800) leistet Schleiermacher diesbezüglich einen weiterführenden Beitrag und setzt gleichsam einen Reflexionsschub in Bezug auf das Individualitätsthema frei. Allerdings ist zu beachten, dass das Individualitätsthema am Ausgang des 18. Jahrhunderts – nicht nur bei Schleiermacher – unterschiedliche

1 Martin Kohli: Normalbiographie und Individualität: Zur institutionellen Dynamik des gegenwärtigen Lebenslaufregimes, in: Hans-Georg Brose/Bruno Hildenbrand (Hg.): Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Bd. 4, Opladen 1988, 33–53, hier 33. Mehr zum Thema Individualität und Individualisierung in der modernen Soziologie vgl. Nicola Ebers: „Individualisierung“: Georg Simmel – Norbert Elias – Ulrich Beck, Würzburg 1995, bes. 13–33 und 34–46. 2 Eine Radikalisierung dieses Gedankens hat jüngst Andreas Reckwitz wieder vorgenommen, indem er die Gesellschaftstheorie vom Begriff der „Individualität“ auf denjenigen der „Singularität“ umstellt, vgl. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2018. 3 Vgl. immer noch klassisch: Georg Simmel: Die Kreuzung sozialer Kreise, in: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), Gesamtausgabe, Bd. 11, hg. von Otthein Rommstedt, Frankfurt a. M. 1992, 456–511. 4 Vgl. Volker Gerhardt: Individualität. Das Element der Welt (2000). 5 Zu den individualitätstheoretischen Aspekten der Substanzontologie von Leibniz vgl. Christoph Zarnow: Identität und Religion. Philosophische, soziologische, religionspsychologische und theologische Dimensionen des Identitätsbegriffs, Tübingen 2010, 83–127. https://doi.org/10.1515/9783110664393-003

34  Kapitel 1 Die anthropologische Grundlegung der Individualitätstheorie

Theoriefacetten erhält: Es gehört nicht nur zum subjektphilosophischen Diskurs, sondern wird auch in Theologie, Pädagogik, Ästhetik und Psychologie oft thematisiert. Im Mittelpunkt der Individualitätstheorie Schleiermachers steht die Frage, wie man das Wesen des Menschen bestimmen kann. Durch diese Fragestellung sind seine Überlegungen mit dem im 18. Jahrhundert seit Johann Joachim Spalding (1714– 1804) als Mittelpunkt fast aller philosophischen Abhandlungen anzutreffenden Motiv „Bestimmung des Menschen“ ideengeschichtlich verbunden. Mit der Frage, wie der Mensch zu bestimmen ist, geht die deutsche Schulphilosophie auf kritische Distanz zur theologisch orientierten metaphysischen Tradition der bisherigen Anthropologie und versucht vielmehr, die Anthropologie als Philosophie des Menschen zu konzipieren. Spaldings epochenbrechende Schrift Betrachtung über die Bestimmung des Menschen von 1748 gilt als Anfang dieser Umstellung.6 Einen weiteren Beitrag leistet Johann Gottfried Herder (1744–1803). In seinem aufklärerischen Werk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784) wird die Anthropologie als Kulturanthropologie fortbestimmt.7 Herder zufolge kann kein Mensch ohne Kultur und ohne kultivierte Gestaltung der Natur überleben.8 Mit Immanuel Kants (1724–1804) Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) erreicht die philosophische Anthropologie ihren Höhepunkt in der Aufklärung.9 Die erste gedankliche Spur der anthropologischen Überlegungen Schleiermachers zeigt sich bereits in seiner unveröffentlichten Abhandlung Über den Wert des Lebens (1792/93). Diese Überlegungen werden durch seine Auseinandersetzung mit den natur- und geistmetaphysischen Theoretikern in der Frühromantik entwickelt. Aus dieser Entwicklung ergibt sich zunächst ein anthropologisches Geistverständnis

6 Johann Joachim Spalding: Betrachtung über die Bestimmung des Menschen (¹1748–¹¹1794), hg. von Albrecht Beutel, Daniela Kirschkowski und Dennis Prause, Kritische Ausgabe, Bd. I.1, Tübingen 2006. Zu Spaldings Anthropologie in jener Schrift vgl. Georg Raatz: Aufklärung als Selbstbedeutung. Eine genetisch-systematische Rekonstruktion von Johann Joachim Spaldings „Bestimmung des Menschen“ (1748), Tübingen 2014. 7 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784), Johann Gottfried Herder Werke, Bd. 6, hg. von Martin Bollacher, Frankfurt a. M. 1989. Zu Herders Anthropologie vgl. Wolfgang Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, 2. Auflage, Göttingen 2011, 40–57; Roderich Barth: Seele nach der Aufklärung. Studien zu Herder und Harnack, Tübingen 2019. 8 Zu Herders Kulturbegriff vgl. unten: Zweiter Teil. Die kulturtheoretische Neuentwicklung des Religions- und Individualitätsbegriffs in der Philosophischen Ethik. Einleitung, 176. 9 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), in: ders.: Der Streit der Fakultäten, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA, Bd. VII, Berlin 1907, 117–333. Zur Anthropologie in der Aufklärung vgl. Odo Marquard: Art. Anthropologie (1971), in: HWPh, Bd. 1, bes. 362–368; ders.: Zur Geschichte des philosophischen Begriffs „Anthropologie“ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, in: ders.: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1973, 122– 144.

1 Die anthropologische Geisttheorie in den Reden (1799) 

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in der ersten Rede seiner religionstheoretischen Schrift Reden über die Religion (1799). Mit der kurz darauf erschienen Schrift Monologen legt Schleiermacher dann ein neues Individualitätskonzept vor. In dieser Schrift spitzen sich seine anthropologischen Überlegungen auf die Frage zu, wie es überhaupt zu einer Herausbildung individueller Subjektivität kommen kann. Für den jungen Schleiermacher handelt es sich in der bisherigen Subjektivitätstheorie nur um ein allgemeines Subjekt. Subjektivität, so seine pointierte Kritik, ist als solche zwar ein allgemeiner Sachverhalt, der aber immer nur in Gestalt konkreter, also individueller Subjektivität vorkommt. Schleiermachers frühromantische Individualitätstheorie steht im Zusammenhang mit einer Theorie der intersubjektiven Kommunikation. Damit ist in seiner Individualitätstheorie eine sozialphilosophische Dimension einbezogen. Der junge Autor hat den aufklärerischen Begriff Geselligkeit entdeckt, um den Austausch zwischen Menschen als individuellen Subjekten zu charakterisieren. Noch vor der Veröffentlichung der Reden und der Monologen hatte Schleiermacher diesem Begriff die kurze Abhandlung Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799) gewidmet. Mit diesen einführenden Bemerkungen haben wir die groben Linien der Individualitätstheorie Schleiermachers in seiner frühromantischen Werkphase vorgezeichnet. Um seine Individualitätstheorie im frühromantischen Kontext adäquat zu rekonstruieren, ist es in einem ersten Schritt erforderlich, seinem anthropologischen Geistverständnis in der ersten Rede der Reden über die Religion (1799), vor dem Hintergrund der Fragestellung in der früheren Schrift Über den Wert des Lebens (1792/93), nachzugehen (1); auf dieser Basis gilt es sodann, sein neues Individualitätskonzept in den Monologen (1800) vor dem philosophiegeschichtlichen Hintergrund herauszuarbeiten (2); abschließend wird die sozialphilosophische Dimension seiner Individualitätstheorie durch eine Darstellung des Begriffs der Geselligkeit in der kurzen Abhandlung Versuch einer Theorie des geselligen Betragens diskutiert (1799)(3).

1 Die anthropologische Geisttheorie in den Reden (1799) Bereits zu Beginn der ersten Rede hat Schleiermacher eine knappe, aber durchaus gewichtige Geisttheorie dargelegt. Die hohe Bedeutung der Geisttheorie Schleiermachers in den Reden (1799) besteht mindestens in zwei Aspekten: einerseits führt diese Theorie den Ausgangspunkt seiner frühen Religionsauffassung weiter, andererseits fungiert sie als Zugang für seinen Individualitätsgedanken, den Schleiermacher in den Monologen (1800) ausführlich thematisiert. Trotz seiner entscheidenden Rolle blieb das Geistverständnis in den Reden in der Forschung lange unterbelichtet. Sucht man in der neueren und neuesten Forschungsliteratur nach Auseinandersetzungen mit Schleiermachers Begriff des Geistes in den Reden, so fällt das Ergebnis überschaubar aus. Bis heute haben sich nur Peter Weiß und Martin Diederich ausführlich zu diesem Thema geäußert.

36  Kapitel 1 Die anthropologische Grundlegung der Individualitätstheorie

Peter Weiß hat in seinem zweiteiligen Aufsatz Der Geistbegriff bei Schleiermacher (1989/1990)10 einen werkbiographisch angelegten Überblick zu diesem Begriff gegeben. Zur Funktion des Geistbegriffs in den Reden ist Weiß der Meinung: „Der Begriff Geist ist in das eigentliche Vorhaben Schleiermachers eingefügt, eine Apologie der Religion durchzuführen.“11 Wie diese Apologie durchgeführt wird, erhellen seine Darlegungen indes nicht. Die Bedeutung des Geistbegriffs in der ersten Auflage der Reden wird von ihm in groben Zügen umrissen.12 Davon ausgehend skizziert er die spezifischen Bedeutungen des Geistverständnisses in den Reden zusammenfassend: „1. Geist erklärt Gegebenes in nahezu absoluter Vollkommenheit. 2. Geist ist der Ausdruck des wirklichen Menschseins. 3. Geist der Welt ist die Entäußerung der wahren Welt, des Universums in seiner vollkommenen Harmonie. 4. Geist der Religion spiegelt die höchste Form der Religiosität wider, die als ein Ziel fixiert wird.“13 Eine systematische und konstruktive Darstellung des Geistverständnisses in den Reden wird außer diesen Punkten nicht vorgelegt. Die neueste Darstellung zum Geistverständnis in den Reden findet man in Martin Diederichs Studie Schleiermachers Geistverständnis (1999).14 Diederich untersucht den Begriff des Geistes in Schleiermachers ganzem System. Die hohe Bedeutung des Geistverständnisses sowohl beim frühen als auch beim reifen Schleiermacher wird von ihm ausdrücklich herausgestellt. Seine sorgfältige Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur kommt zum Ergebnis, dass eine Untersuchung des systematischen Verständnisses der Geistauffassung oder der Pneumatologie Schleiermachers in seinen unterschiedlichen Texten bis jetzt aussteht. Vor diesem Hintergrund sieht Diederich es als Aufgabe seines Buches an: „[I]ndem sie sowohl ein philosophisches Verständnis des Geistbegriffes beim frühen und beim späten Schleiermacher als auch eine zusammenhängende Interpretation der drei großen theologischen Textgruppen Sittenlehre, Glaubenslehre und Predigten in ihrem Verständnis des Heiligen Geistes gibt, wobei der Zusammenhang beider Geistgedanken ist, daß der philosophische auf den theologischen verweist und dieser jenen in sich aufnimmt.“15 Im Hinblick auf unser Thema, das sich auf die Geisttheorie in den Reden beschränkt, sehen wir hier von Diederichs Untersuchung des späten Schleiermacher ab.

10 Peter Weiß: Der Geistbegriff bei Schleiermacher. Teil I, in: ABG 32 (1989), 202–243; ders.: Der Geistbegriff bei Schleiermacher. Teil II, in: ABG 33 (1990) 217–246. 11 Peter Weiß: Der Geistbegriff bei Schleiermacher. Teil I (1989), 218. 12 Vgl. a. a. O., 218. 13 A. a. O., 219. 14 Martin Diederich: Schleiermachers Geistverständnis. Eine systematisch-theologische Untersuchung seiner philosophischen und theologischen Rede vom Geist, Göttingen 1999. Zum Geistverständnis in den Reden siehe 58–90. 15 A. a. O., 23–24.

1 Die anthropologische Geisttheorie in den Reden (1799) 

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Diederichs Darstellung des Geistbegriffs in den Reden geht davon aus, dass die fundamentale Bedeutung des Geistes nur in seinem Zusammenhang mit der Religion sichtbar wird. Somit lehnt er eine von dem Religionsverständnis unabhängige Geisttheorie ab. „Rede über die Religion bringt […] mit der Religion zugleich auch das Wesen des Geistes zur Sprache.“16 Mit dieser Ausgangsthese deutet Diederich an, dass die Geisttheorie in den Reden eigentlich der Religionstheorie untergeordnet ist. Dementsprechend untersucht er die religiöse Polarität von unendlichem und individuellem Geist gemäß der zweiten Rede und rekonstruiert somit das Verhältnis zwischen Religion und Geist. Dadurch leitet er seine Hauptthese ein: „Die Religion ist damit die ursprüngliche Beziehung des Geistes auf die Unendlichkeit seiner Selbst.“17 Also: Wohl hat Diederich als Erster das enge Verhältnis vom Geist zur Religion in den Reden ausführlich und systematisch analysiert und rekonstruiert, aber er hat das Geistverständnis nur auf seine religiöse Dimension beschränkt. Allerdings bleiben in seiner Studie sowohl der philosophische Hintergrund des Geistverständnisses als auch dessen ursprüngliche Deutung, worauf Schleiermacher uns in der ersten Rede verweist, noch offen. Neben Peter Weiß und Martin Diederich haben auch Wilfried Brandt (1968)18 und Dorothee Schlenke (1999)19 Schleiermachers Geistverständnis oder Pneumatologie in den letzten Jahrzehnten zutreffend untersucht. Aber beide Autoren haben ihre Forschung nur auf den späten Schleiermacher oder auf seinen dogmatischen Teil in der Glaubenslehre beschränkt, das Geistverständnis in den Reden bleibt bei ihnen außen vor. Außerdem hat Emilio Brito (1994)20 ein sehr umfassendes Werk unter dem Titel La pneumatologie de Schleiermacher geschrieben, aber der Geistbegriff hat in seiner Untersuchung nur die Funktion, die verschiedenen Schriften zu verbinden und damit Schleiermachers theologisches und philosophisches System in die französischsprachige Welt einführend vorzustellen. Bisher haben wir gesehen, dass es bis jetzt nur wenige Untersuchungen zu Schleiermachers Geistverständnis in den Reden gibt. Hierin spiegelt sich in gewisser Weise der Sachverhalt wider, dass das Geistverständnis in den Reden weder systematisch noch geschlossen dargestellt ist. Unter dem Titel Apologie hat Schleiermacher die Aufgabe der ersten Rede festgelegt, die eigenständige Position von Religion in den menschlichen Vermögen zu rechtfertigen, indem er sich von den zeitgenössischen Religionstheoretikern in der

16 A. a. O., 59. 17 A. a. O., 92. 18 Wilfried Brandt: Der Heilige Geist und die Kirche Schleiermachers. Studien zur Dogmengeschichte und Systematischen Theologie, Stuttgart und Zürich 1968. 19 Dorothee Schlenke: „Geist und Gemeinschaft“ (1999). 20 Emilio Brito: La pneumatologie de Schleiermacher, Leuven 1994. Martin Diederich bezeichnet diesen Beitrag als „eine umfassende Einführung der Theologie und Philosophie in die französischsprachige Welt“. Vgl. Martin Diederich: Schleiermachers Geistverständnis (1999), 22.

38  Kapitel 1 Die anthropologische Grundlegung der Individualitätstheorie

Frühromantik scharf abgrenzt und einen neuen Ausgangspunkt für Religion findet. Dieser neue Ausgangspunkt besteht in seinem Geistverständnis, das den Gedanken eines Religionsmittlers mit sich bringt. Schleiermachers Geisttheorie im Kontext der ersten Rede ist deswegen direkt mit Religion verbunden, weil der Gedanke des Religionsmittlers aus der metaphysischen Polaritätstheorie des Geistes ausgeht. Dieser Zusammenhang, den er am Anfang der ersten Rede dargestellt hat, wurde wie gesehen schon von einigen Autoren thematisiert.21 Aber Schleiermachers Geistverständnis in der ersten Rede hat eigentlich eine ganz spezifische Hauptbedeutung: eine anthropologische, die hinter jener religiösen Bedeutung verborgen liegt und deswegen vernachlässigt wurde. Im Folgenden wird versucht, unter Absehung von seinem Gedanken des Religionsmittlers, Schleiermachers strukturelle Beschreibung des Geistes in der ersten Rede im anthropologischen Sinne vor dem philosophischen Hintergrund der Frühromantik zu rekonstruieren. Unsere Untersuchung wird in vier Schritten durchgeführt: Zuerst wollen wir uns sein seit seiner Jugendzeit bestehendes Interesse an den anthropologischen Überlegungen klarmachen (1.1), dann die naturphilosophische Grundlage des Geistverständnisses herausfinden (1.2), danach die Überführung der naturphilosophisch gewonnenen Polarität in die Anthropologie mehrschichtig darstellen (1.3). Davon ausgehend wird schließlich der innere Zusammenhang zwischen der ersten Rede und der kurz darauf erschienenen Schrift Monologen aufgehellt (1.4).

1.1 Die anthropologische Ausgangsfragestellung In der ersten Rede leitet Schleiermacher seine Reflexion zum menschlichen Geist folgendermaßen ein: Als Mensch rede ich zu Euch von den heiligen Mysterien der Menschheit nach meiner Ansicht, von dem was in mir war als ich noch in jugendlicher Schwärmerei das Unbekannte suchte, von dem was seitdem ich denke und lebe die innerste Triebfeder meines Daseins ist, und was mir auf ewig das Höchste bleiben wird, auf welche Weise auch noch die Schwingungen der Zeit und der Menschheit mich bewegen mögen. Daß ich rede rührt nicht her aus einem vernünftigen Entschluße, auch nicht aus Hoffnung oder Furcht, noch geschiehet es einem Endzweke gemäß oder aus irgendeinem willkührlichen oder zufälligen Grunde: es ist die innere unwiderstehliche Nothwendigkeit meiner Natur, es ist ein göttlicher Beruf, es ist das was meine Stelle im Universum bestimmt, und mich zu dem Wesen macht, welches ich bin. Sei es also weder

21 Vgl. Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers (1984), 78–79.

1 Die anthropologische Geisttheorie in den Reden (1799) 

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schiklich noch rathsam von der Religion zu reden, dasjenige was mich also dringt, erdrückt mit seiner himmlischen Gewalt diese kleinen Begriffe. (Reden 5)22

In dieser Passage zeigt sich die erste Intention des Redners, von „heiligen Mysterien der Menschheit“ sprechen zu wollen. Diese heiligen Mysterien der Menschheit bestehen in der Frage, „was meine Stelle im Universum bestimmt, und mich zu dem Wesen macht, welches ich bin“. Die anthropologische Aufgabe ist offenbar, das Wesen des Menschen zu bestimmen. Hierbei ist zu bemerken, dass Schleiermacher „meine Stelle“ und „mich“ betont. Dadurch präzisiert er seine Aufgabe hier als sein Wesen zu bestimmen. Dies deutet an, dass ihm zufolge die Menschenbestimmung sich statt auf das allgemeine Menschsein auf das individuelle Menschsein richten soll. Diese Aufgabe ist so wichtig wie ein „göttlicher Beruf“. Und wie er selbst sagt – „als ich noch in jugendlicher Schwärmerei das Unbekannte suchte“ – kommt dieses Problem nicht hier zum ersten Mal in seinen Blick, sondern zeigt sich bereits in seiner früheren Jugendschrift Über den Wert des Lebens (1792/93).23 In dieser Schrift versucht Schleiermacher, der damals noch ein junger Prediger in Schlobitten war,24 das bereits seit Johann Joachim Spalding als Mittelpunkt fast aller philosophischen Abhandlungen anzutreffende anthropologische Thema der „Bestimmung des Menschen“ zu behandeln. Was hier in der ersten Rede vorkommt, ist somit nur eine Fortführung seiner jugendlichen Überlegungen. Man darf sich an dieser Stelle durch Schleiermachers Gebrauch von Metaphern wie „heiligen Mysterien“, „göttlicher Beruf“, „Gesandte Gottes“ (Reden 10) und „das Priestertum der Menschheit“ (Reden 12) nicht darin irritieren lassen, dass hier das Thema Religion gesetzt wird, sondern es geht um seine anthropologische Grundlegung. Jene Beschreibungen sind eher als poetische Charakterisierungen zu verstehen.

22 Die vorliegende Studie zu Schleiermachers Reden über die Religion zitiert nach der Originalpaginierung der Urfassung in der KGA I/2. 23 Friedrich Schleiermacher: Über den Wert des Lebens (1792/93), in: KGA I/1, 391–471. Als erster hat Wilhelm Dilthey ein Fragment dieser Jugendschrift in den Anhang seiner Biographie Schleiermachers aufgenommen und auf diese Schrift aufmerksam gemacht. Dilthey hat dem Fragment Abteilungen und Überschriften hinzugefügt. Vgl. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers. Erster Band (mit Anfang: Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers, erläutert durch kritische Untersuchungen), Berlin 1870, 46–63. Dieses von Dilthey aufgenommene Fragment ist in der von Friedrich Michael Schiele herausgegebenen und von Hermann Mulert erweiterten und durchgesehenen Einzelausgabe der Monologen nebst den Vorarbeiten (1902/1914) leicht verändert wiedergegeben: Über den Wert des Lebens (1792/93)(Auszug), in: Friedrich Schleiermacher: Monologen nebst den Vorarbeiten. Kritische Ausgabe. hg. von Friedrich Michael Schiele (1902). Erweitert und durchgesehen von Hermann Mulert (1914). Im Anhang Neujahrspredigt von 1792. Über den Wert des Lebens (Auszug). Dritte Auflage als unveränderter Nachdruck der Auflage von 1914 mit ergänzter Bibliographie, Hamburg 1978, 166–198. 24 Zur Entstehung der Schrift Über den Wert des Lebens (1792/93) vgl. Rudolf Haym: Die Romantische Schule (1870), 406–407; Günter Meckenstock: Historische Einführung (1984), in: KGA I/1, LXII–LXVI und Kurt Nowak: Schleiermacher (2001), 48–58.

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Bevor wir uns nun der Darstellung zuwenden, wie Schleiermacher seine anthropologische Geisttheorie in der ersten Rede fruchtbar macht, ist es deshalb erforderlich, hier zunächst in einem Seitenblick seine Überlegungen in Über den Wert des Lebens (1792/93) näher zu betrachten, damit uns die Kontinuität und der Fortschritt seines Gedankengangs in den verschiedenen Schriften klar werden. Wilhelm Dilthey (1870) hat das Fragment von Schleiermachers Jugendschrift Über den Wert des Lebens in sechs Teile gegliedert und jeder Abteilung eine Überschrift gegeben, die zweite Abteilung nennt er „Die Bestimmung des Lebens“ – mit dem eigenen Ausdruck des jungen Autors.25 Denn gerade in diesem Ausschnitt versucht Schleiermacher, das anthropologische Thema der „Bestimmung des Menschen“ zu behandeln. Zuerst stellt er seine Frage über das Leben des Menschen wie folgt: „Ich gehe also nun ganz aus mir selbst heraus; ich bin bloß Mensch in diesem Augenblik, um mich zu fragen: was dies Leben dem Menschen überhaupt seyn soll, und sein kann.“26 Dann konkretisiert er seine Frage mit der Aussage: „Ich will wissen, was das Leben dem Menschen seyn kann; das sezt eine bestimmte Idee davon voraus, was der Mensch selbst seyn soll.“27 Sodann weist er darauf hin: „Sie sehn wol ein, […], daß die Idee von der Bestimmung des Menschen einer jeden durchgängigen Schäzung des Lebens zum Grunde liegen müsse.“28 Es ist hier deutlich, dass dem jungen Autor zufolge „die Bestimmung des Menschen“ der Bestimmung des Lebens zugrunde liegt. Also: Um den Wert des Lebens zu schätzen, muss man zunächst den Menschen bestimmen. Somit ist die anthropologische Problematik „Bestimmung des Menschen“ offenbar eingeleitet. Was soll der Mensch selbst sein? – Nach Auffassung des jungen Autors kann man den Menschen beobachten nur „als in irgend einem Zustand, worin ihn freilich das Leben gesezt“29 hat, und dieser Zustand ist gegeben, nur „als die Modifikationen, die Richtungen die Mischung seiner verschiednen Vermögen, davon abstrahire und halte Dich nur an die Sache selbst an das was ihm als Mensch ohne Rüksicht auf irgend einen Zustand eigenthümlich ist, was sein Wesen ausmacht, an sein Vermögen zu denken, zu empfinden, und durch Gedanke und Empfindung zu handeln“.30 Darauf folgt seine These: „Diese enthalten zugleich Deine Bestimmung.“31

25 Die Gliederung von Wilhelm Dilthey ist wie folgt: I. Selbstprüfung; II. Die Bestimmung des Lebens; III. Der Umkreis der menschlichen Glückseligkeit; IV. Gerechtigkeit in der Verurteilung des Glücks; V. Das Schicksal des Menschen; VI. Resignation. Vgl. Über den Wert des Lebens (1792/93) (Auszug), in: Friedrich Schleiermacher: Monologen nebst den Vorarbeiten (1902/1914), 166–198. Die vorliegende Studie beruht auf der KGA-Ausgabe und zitiert nach der Paginierung der KGA I/1. 26 Friedrich Schleiermacher: Über den Wert des Lebens (1792/93), 406. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 A. a. O., 407. 30 Ebd. 31 Ebd.

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Nur in der Mischung und in den Modifikationen der verschiedenen Vermögen der Seele ist das Wesen des Menschen zu bestimmen. Hierbei stellt sich aber die grundlegende Frage, was die Vermögen der Seele eigentlich sind. Von der kantischen Erkenntnistheorie beeinflusst, lässt Schleiermacher die Vermögen der Seele durch zwei Tätigkeiten bestimmen: „In zwei grosse Zweige theilt sich alles Treiben und Würden der Seele: erkennen, begehren.“32 Diese beiden Tätigkeiten als Vermögen der Seele stehen allerdings nicht jeweils für sich allein: „Erkennen und Begehren soll nicht zwei in mir seyn, sondern Eins. Vollkommne beständige Uebereinstimmung beider, […], Einheit beider in Zwek und Gegenstand, das ist Humanität, das ist das schöne Ziel, welches dem menschlichen Wesen gestekt ist.“33 Bis hierher ist ersichtlich, dass für den jungen Schleiermacher die Bestimmung des Menschen in der vollkommenen Vereinigung dieser beiden Vermögen besteht. Er bezeichnet diese vollkommene Vereinigung der beiden Vermögen der Seele als „schöne Harmonie“.34 Wie können diese beiden Vermögen der Seele – Erkennen und Begehren– sich miteinander vereinigen? Hier spielt das Gefühl eine entscheidende Rolle. Die Funktion des Gefühls in der Bestimmung des Menschen wird in der folgenden Äußerung zum Ausdruck gebracht: „Gefühl der Lust und Unlust, [……] das ist der Probierstein, welcher mir zeigt, an welchen Gegenständen sich meine beiden Kräfte vereinigen können.“ 35 Denn „[i]ndem dies Gefühl die Tendenz des Begehrungsvermögens und das Triebrad aller erkennenden Kräfte ist, so ist es auch der einzige Punkt, wo sich beide vereinigen können“.36 Hierbei lehnt sich der junge Schleiermacher an das kantische Begriffspaar „Lust und Unlust“ an, um die vollkommene Vereinigung der beiden Vermögen der Seele im Gefühl als Ort für die Bestimmung des Menschen darzustellen. Für ihn besteht diese Vereinigung nicht in irgendeinem zufälligen „Genuß an Gegenständen“,37 sondern in „Lust an Wahrheit, Unlust an Irrthum“.38 Schleiermacher versteht die Lust an Wahrheit wie folgt: „Lust an Wahrheit ist Lust an Regeln, Freude an Uebereinstimmung der einzelnen Dinge mit der Regel. Daß ich mir alles denken kann, untergeordnet unter Gesezen, die ich fand, die in mir selbst liegen, das ist es.“39 Dieses „es“ ist für ihn das „hohe Gefühl“, das die „Uebereinstimmung meiner Hauptkräfte begründen“40 soll. Der Grund ist: „Lust an Gesezen treibt mich an alle meine Erkenntnisse auf sie zu beziehn, so sei auch Lust

32 A. a. O., 408. 33 A. a. O., 410. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 A. a. O., 412. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd.

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an Gesezen im Handeln die Tendenz meines Begehrens! Das ist das herrlichere ferne Ziel meiner Bestimmung! das ist die höchste innigste wesentliche Vereinigung meiner Kräfte! das ist Humanität im höchsten Grad, in ihrem wahren, innersten Wesen!“41 Lust an Gesetzen ist also der Drehpunkt für die beiden Vermögen seiner Seele. Nur an diesem Punkt im Gefühl, wo sich die beiden Vermögen vollkommen vereinigen, kann man das Ziel für die Bestimmung des Menschen erreichen. Schließlich gelangt Schleiermacher zur Schlussthese seiner frühen anthropologischen Konzeption in dieser Schrift: „In diesem [sc. Verhältnis] erfülle ich meine Bestimmung, und danach richte ich auch meine Foderungen an das Leben ein.“42 In der vollkommenen Vereinigung der beiden Vermögen der Seele, nämlich des Erkennens und des Begehrens, die nur im Gefühl der Lust an Wahrheit möglich ist, gestaltet sich die Bestimmung als Menschen. Erst unter dieser Voraussetzung kann man auf das Thema „das Leben“ eingehen. Zusammenfassend lässt sich sagen: In der Jugendschrift Über den Wert des Lebens von 1792/93 ist das Wesen des Menschen durch die vollkommene Vereinigung der beiden Vermögen der Seele im hohen Gefühl, genauer genommen im Gefühl der Lust an Wahrheit, zu bestimmen. Wie gesehen, hat diese Jugendschrift seine anthropologischen Überlegungen dokumentiert, obwohl sie weder systematisch noch originell dargestellt werden. Stattdessen versucht der junge Autor, das Thema „Bestimmung des Menschen“ unter Anlehnung an die kantische Erkenntnistheorie zu behandeln. Diese Schrift dient als ein Beleg dafür, dass sich Schleiermacher bereits in seiner früheren Jugendphase (spätestens um 1792) mit dem Thema beschäftigt hat. Sie bleibt also eine wichtige Quelle, um die Spur zu seinen in der späteren Jugendphase entwickelten anthropologischen Gedanken zu verfolgen und dadurch die Kontinuität seiner Fragestellung aufzuzeigen.43

1.2 Die naturphilosophische Grundlage des Geistverständnisses Nachdem Schleiermacher in seiner Jugendschrift Über den Wert des Lebens versuchte, das anthropologische Problem noch mit gleichsam aufklärungsphilosophischen Mitteln zu lösen, macht er das Problem in der ersten Rede der Reden über die Religion (1799) – auf neuer Grundlage – wieder zum Thema. Denn dem jungen Autor zufolge ist dieses im Vergleich zu dem Thema Religion ein noch grundlegenderes und dringenderes Problem: „Sei es also weder schiklich noch rathsam von der Reli-

41 Ebd. 42 A. a. O., 413. 43 Mehr zu Schleiermachers Schrift Über den Wert des Lebens (1792/93) vgl. Bernd Oberdorfer: Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799, Berlin 1995, 315–397.

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gion zu reden, dasjenige was mich also dringt, erdrückt mit seiner himmlischen Gewalt diese kleinen Begriffe.“ (Reden 5) Bevor wir zur Religion kommen, muss das dringendere Problem behandelt werden. Anders als in Über den Wert des Lebens entdeckt der Redner nun eine neue philosophische Grundlage für seine anthropologischen Überlegungen. Schleiermachers neue Überlegungen in der ersten Rede beginnen mit der folgenden wichtigen Passage: Ihr wißt, daß die Gottheit durch ein unabänderliches Gesez sich selbst genöthiget hat, ihr großes Werk bis ins Unendliche hin zu entzweien, jedes bestimmte Dasein nur aus zwei | entgegengesezten Kräften zusammenzuschmelzen, und jeden ihrer ewigen Gedanken in zwei einander feindseligen und doch nur durch einander bestehenden und unzertrennlichen Zwillingsgestalten zur Wirklichkeit zu bringen. Diese ganze körperliche Welt, in deren Inneres einzudringen das höchste Ziel Eures Forschens ist, erscheint den Unterrichtetsten und Denkendsten unter Euch nur als ein ewig fortgeseztes Spiel entgegengesezter Kräfte. Jedes Leben ist nur das Resultat eines beständigen Aneignens und Abstoßens, jedes Ding hat nur dadurch sein bestimmtes Dasein, daß es die beiden Urkräfte der Natur, das durstige an sich ziehen und das rege und lebendige Selbst verbreiten, auf eine eigentümliche Art vereinigt und festhält. Es scheint mir als ob auch die Geister, sobald sie auf diese Welt verpflanzt werden, einem solchen Geseze folgen müßten. Jede menschliche Seele – ihre vorübergehende Handlungen sowohl als die innern Eigenthümlichkeiten ihres Daseins führen uns darauf – ist nur ein Produkt zweier entgegengesezter Triebe. Der eine ist das Bestreben alles was sie umgiebt an sich zu ziehen, in ihr eignes Leben zu verstriken, und wo möglich in ihr innerstes Wesen ganz einzusaugen. Der andere ist die Sehnsucht ihr eigenes inneres | Selbst von innen heraus immer weiter auszudehnen, alles damit zu durchdringen, allen davon mitzutheilen, und selbst nie erschöpft zu werden. (Reden 5–7)

Dieser Passage folgend wollen wir die strukturelle Beschreibung des Geistes bei Schleiermacher analysieren. „Ihr wißt“ deutet darauf hin, dass Schleiermacher hier von einem in seinem Zeitalter allgemein bekannten Gesetz spricht. Als eine Universaltheorie weist das Gesetz die Gesamtsphäre des Daseins als zwei entgegengesetzte Kräfte bzw. als zwei polar aufeinander bezogenen Grundfaktoren aus. Das Modell von Attraktion und Repulsion geht auf Debatten zwischen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Immanuel Kant (1724–1804) zurück und hat sich in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts bei Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) weiterentwickelt. Durch den Ausdruck „jedes bestimmte Dasein“ betont der Redner hier einerseits die Universalität dieses Gesetzes, andererseits weist er darauf hin, dass das Gesetz zwar universal – „unabänderlich“ – ist, aber sich eigentlich auf jedes konkrete individuelle Dasein richtet. Dann teilt Schleiermacher das gesamte Dasein in drei Elementarsphären ein: Die materielle Körperwelt, die organische Welt und die humane Geistessphäre. Alle drei Elementarsphären folgen dem Gesetz alles Daseins, aber strukturieren sich in jeweiliger modifizierter Fassung. Zuerst zeigen sich in der Körperwelt die beiden Grundfaktoren des Daseins als zwei physische Kräfte. An dieser Stelle deutet sich Schleiermachers Kritik an Johann

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Wolfgang Goethes Naturphilosophie durch die Äußerung „in deren Inneres einzudringen das höchste Ziel Eures Forschens“ an. Diese Kritik führt dazu, dass es ein noch höheres Ziel geben soll, als in der körperlichen Welt zu bleiben. Dann tritt das Grundmodell auf der Ebene der organischen Welt auf: „Jedes Leben ist nur das Resultat eines beständigen Aneignens und Abstoßens, jedes Ding hat nur dadurch sein bestimmtes Dasein, daß es die beiden Urkräfte der Natur, das durstige an sich ziehen und das rege und lebendige Selbst verbreiten, auf eine eigenthümliche Art vereinigt und festhält.“ Die Grundfaktoren des Daseins modifizieren sich auf der Ebene der organischen Welt als biologische Kräfte des Aneignens und Abstoßens. Dass Kants Theorie der Naturwissenschaft der Sache nach bei dem jungen Schleiermacher wiederkehrt, ist nahe liegend, denn die Ausdrücke „Aneignen“ und „Abstoßen“ verweisen direkt auf Kants Erläuterung über Anziehung und Abstoßung der Materie;44 als Vermittlungsglied dient vermutlich Schellings Naturphilosophie.45 An dieser Stelle werden die Grundfaktoren des Daseins deutlicher aufgezeigt: Attraktion bzw. die Aneignungskraft ist „das durstige an sich ziehen“, Repulsion bzw. die Abstoßungskraft „das rege und lebendige Selbst verbreiten“. Weiterhin hellt sich aus dieser Äußerung das Hervorbringen der Individualität oder Differenz in der organischen Lebenswelt auf: Jedes Ding ist ein Produkt beider Kräfte von Aneignen und Abstoßen, aber gleichzeitig kann dieses Ding sich nur durch die verschiedene Vereinigung der beiden entgegengesetzten Kräfte von anderen unterscheiden, damit es individuell oder „sein bestimmtes Dasein“ sein wird. Damit gelangt Schleiermacher schließlich zur humanen Geistessphäre. Schleiermachers strukturelle Beschreibung der humanen Geistessphäre setzt voraus, dass das Gesetz alles Daseins von Attraktion und Repulsion auf die Ebene des Geistes

44 Vgl. dazu Immanuel Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755), in: ders.: Vorkritische Schriften I: 1747–1756, AA, Bd. I, 215–368; ders.: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), in: ders.: Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781), Prolegomena, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, AA, Bd. IV, Berlin 1911, 465–565. Kant stellt fest: „Ich habe mich in der Tat mit größter Behutsamkeit aller willkürlichen Erdichtungen entschlagen. Ich habe, nachdem ich die Welt in das einfachste Chaos versetzt, keine andere Kräfte als die Anziehungs- und Zurückstoßungskraft, zur Entwickelung der großen Ordnung der Natur angewandt, zwei Kräfte, welche beide gleich gewiß, gleich einfach und zugleich gleich ursprünglich und allgemein sind. Beide sind aus der Newtonischen Weltweisheit enntlehnet.“ (ders.: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755), Vorrede, 234) Weiter lautet Kants Erklärung wie folgt: „Anziehungskraft ist diejenige bewegende Kraft, wodurch eine Materie die Ursache der Annäherung anderer zu ihr sein kann (oder, welches einerlei ist, dadurch sie der Entfernung anderer von ihr widersteht). Zurückstoßungskraft ist diejenige, wodurch eine Materie Ursache sein kann, andere von sich zu entfernen (oder, welches einerlei ist, wodurch sie der Annäherung anderer zu ihr widersteht). Die letztere werden wir auch zuweilen treibende, so wie die erstere ziehende Kräfte nennen.“ (ders.: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), 2. Hauptstück. Dynamik, Erklärung 2, 498) 45 Zu Schleiermachers Rezeption des damals gängigen naturphilosophischen Grundmodells in den Reden vgl. Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva (2006), 318–321.

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übertragen werden kann. „Es scheint mir als ob auch die Geister, sobald sie auf diese Welt verpflanzt werden, einem solchen Geseze folgen müßten.“ (Reden 6) Der Sachverhalt, dass „jedes bestimmte Dasein nur aus zwei entgegengesezten Kräften“ (Reden 5–6) strukturiert ist und jeder menschliche Geist auch ein bestimmtes Dasein ist, erlaubt die hier gestellte Hypothese, dass das allgemeine Gesetz der körperlichen und biologischen Welt auf die geistige Ebene „verpflanzt“ werden darf. Nun kommt wiederum Schleiermachers Darstellungslogik zum Vorschein. Jede menschliche Seele wie jedes Leben und jedes Ding muss auch dem Gesetz alles Daseins von Attraktion und Repulsion folgen: „Jede menschliche Seele – ihre vorübergehende Handlungen sowohl als die innern Eigenthümlichkeiten ihres Daseins führen uns darauf – ist nur ein Produkt zweier entgegengesezter Triebe.“ (Reden 6) Diesem Zitat nach erscheinen auf der geistigen Ebene die Grundfaktoren des Daseins Attraktion und Repulsion nun als zwei entgegengesetzte Triebe: Der eine Trieb als „das Bestreben alles was sie umgiebt an sich zu ziehen, in ihr eigenes Leben zu verstriken, und wo möglich in ihr inneres Wesen ganz einzusaugen“ (ebd.). Das ist die modifizierte Fassung von Attraktion in der Geistessphäre. Der andere Trieb als „die Sehnsucht ihr eigenes inneres Selbst von innen heraus immer weiter auszudehnen, alles damit zu durchdringen, allen davon mitzutheilen, und selbst nie erschöpft zu werden“ (Reden 6–7) – dieses ist die Erscheinungsform von Repulsion. Durch diese zwei entgegengesetzten Triebe strukturiert sich somit das metaphysische Schema des Geistes, das bei Schleiermacher als Ausgangspunkt weiterer anthropologischen Überlegungen fungiert. Bisher haben wir gesehen, dass Schleiermacher das gesamte Dasein in drei Elementarsphären teilt. Für unseren Autor folgt die geistige Welt des Menschen wie die körperliche Welt und die organische Welt dem universalen Gesetz, dass jedes bestimmte Dasein sich durch zwei entgegengesetzte Kräfte von Attraktion und Repulsion strukturiert. Diesem Gesetz folgend legt Schleiermacher seine strukturelle Beschreibung des metaphysischen Schemas des Geistes vor. Dieses Schema ist der philosophische Ausgangspunkt seiner neuen anthropologischen Fragestellungen. Ob dieses metaphysische Schema in der ersten Rede eine eigenständige Konstruktion Schleiermachers oder ein Stiefkind der frühromantischen Philosophie ist, ist bis heute innerhalb der Forschungsliteratur immer noch strittig. Bevor wir uns Schleiermachers anthropologischem Ansatz in der ersten Rede zuwenden, wollen wir hier vorerst versuchen, unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Forschungsstands die möglichen philosophischen Hintergründe des als Ausgangspunkt seines neuen anthropologischen Denkens fungierenden metaphysischen Schemas klarzumachen. Ideengeschichtlich befindet sich Schleiermachers strukturelle Beschreibung des Geistes in der Nachbarschaft zu Kants Begriff der Naturwissenschaft von 1786,46

46 Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786).

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Fichtes Wissenschaftslehre von 179447 und Schellings Naturphilosophie von 1797 und 1798,48 vor allem zu letzterer.49 Das Verhältnis Schleiermachers zu Schelling zu thematisieren, wurde nur von einigen Autoren versucht. Schleiermachers philosophische Auseinandersetzung mit Schelling kann in zwei Phasen unterteilt werden.50 Die erste Phase betrifft vor allem die Reden, aber auch die Monologen. In der zweiten Phase wird Schleiermachers Rezeption der Naturphilosophie Schellings hauptsächlich durch seinen guten Freund Henrich Steffens während seiner halleschen Professur veranlasst und vertieft. Dieses zeigt sich vor allem in seiner Philosophischen Ethik – deutlich schon in seinem ersten systematischen Entwurf der Ethik, nämlich im Brouillon zur Ethik von 1805/06. Auf die Auseinandersetzung Schleiermachers mit Schelling in dieser zweiten Phase werden wir im dritten Kapitel zu seiner Philosophischen Ethik kurz eingehen.51 Hier werden wir uns darauf konzentrieren, den Einfluss der naturphilosophischen Konzeption Schellings auf Schleiermachers Geisttheorie in der ersten Rede aufzuhellen. Als Erster hat uns Wilhelm Dilthey auf das jetzt infrage stehende Problem aufmerksam gemacht.52 Dilthey weist darauf hin, dass Schleiermacher keine persönliche Verbindung zu Schelling hatte. Die Korrespondenzen und Tagebücher des Theologen belegen aber, dass dieser die naturphilosophischen Schriften Schellings Ende der 1790er Jahre gelesen hat.53 Das konnte Dilthey freilich noch nicht wissen. Umso

47 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer (1794), in: ders.: Werke 1793–1795, J. G. Fichte-Gesamtausgabe, Bd. I.2, hg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob unter Mitwirkung von Manfred Zahn, Stuttgart 1965, 249–451. 48 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), SchlW, Bd. I.5, hg. von Manfred Durner, Stuttgart 1994; ders.: Von der Weltseele. Eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus (1798), SchlW, Bd. I.6, hg. von Kai Torsten Kanz und Walter Schieche, Stuttgart 2000. 49 Kurt Nowak stellt in diesem Zusammenhang fest, dass Schleiermacher grundsätzlich vom metaphysischen Schema der damaligen Zeit ausgeht (vgl. ders.: Schleiermacher und die Frühromantik [1986], 252–253). 50 Diese zwei Phasen entsprechen der Entwicklung der Naturphilosophie Schellings, die ebenfalls durch zwei Phasen gekennzeichnet ist. Zu Schellings Naturphilosophie vgl. Wolfdietrich SchmiedKowarzik: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854), in: Gernot Böhme (Hg.): Klassiker der Naturphilosophie, München 1989, 241–262; Manfred Frank: Eine Einführung in Schellings Philosophie, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 1995; und Ulrich Barth: Gott und Natur. Schellings metaphysische Deutung der Evolution (2001), in: ders.: Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 461–481 (2003). 51 Vgl. unten: 196 und 260–261. 52 Vgl. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 1)(1970), 371–374. 53 Vgl. a. a. O., 372. Dilthey verweist auf einen Brief von Friedrich Schlegel an Schleiermacher als Beleg dafür, dass „schon im Sommer 1798 auch die ‚Weltseele‘ in dem Kreise besprochen ward“ (a. a. O., 372, Fußnote 170). In seinem Brief an Schleiermacher (wohl vor Mitte Juli 1798) schrieb Friedrich Schlegel: „Schellings Weltseele und Uebersichten [sc. ‚Allgemeine Uebersichten der neuesten philosophischen Literatur, von 1797 bis 1798‘] habe ich gelesen. Er wird Leibnitz im Vortrage immer ähnlicher. In der Weltseele ist schon eine göttliche Nachläßigkeit, und die gelegenheitlichen Ursachen herschen immer mehr in seiner praktischen Literatur. Uebrigens scheint mir seiner Phi-

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erstaunlicher ist der von ihm festgehaltene Befund: „Die Reden leiten alles besondere Dasein aus den mannigfachen Mischungsverhältnissen realer Gegensätze ab. Sie nehmen von Schelling die ‚beiden Kräfte der materiellen Natur‘ [sc. Reden 7] auf und verfolgen die Ableitung jedes Einzeldaseins auf den mannigfachen Bindungen entgegengesetzter Kräfte in das Geistige. So erhalten sie auch hier schon den ganzen Ansatz des späteren Systems.“54 Von einer genaueren Bestimmung dieses interessanten Befundes sieht Dilthey jedoch ab. Im Anschluss an Wilhelm Dilthey nimmt Ernst Troeltsch die Beziehung zwischen Schleiermacher und Schelling in den Blick. Er erblickt darin einen Schlüssel für Schleiermachers intellektuelle Entwicklung und fordert dementsprechend dazu auf, dieses Verhältnis einer genauen Untersuchung zu unterziehen.55 Hochwahrscheinlich von ihm inspiriert hat sein Schüler Hermann Süskind Schleiermachers Auseinandersetzung mit Schelling zum Thema seiner Dissertation gemacht. Sie trägt den Titel Der Einfluss Schellings auf die Entwicklung von Schleiermachers System (1909).56 Süskind hat den bis zum heutigen Tage wichtigsten Beitrag zu diesem Thema geleistet. Ebenso wie Dilthey ist Süskind davon überzeugt, dass die Beschäftigung Schleiermachers mit der schellingschen Naturphilosophie in der Formulierungsphase der Reden eine grundlegende Bedeutung hatte.57 In seiner Abhandlung hat er Schleiermachers Auseinandersetzung mit Schelling bis 1809 in verschiedenen Kontexten ausführlich untersucht. Aber anders als Dilthey, der die innere Beziehung zwischen den beiden in der Entstehungszeit der Reden nur als Schleiermachers Auseinandersetzung mit „den allgemeinen Ideen des Führers der Naturphilosophie“ betrachtet,58 sucht Süskind nach dem konkreten systematischen Zusammenhang zwischen Schellings Naturphilosophie und Schleiermachers Reden. Nachdem Süskind das allgemeine Prinzip der philosophischen Naturlehre in Schellings Von der Weltseele (1798), wonach die ganze Natur auf Polarität und Dualismus beruht, untersucht hat, betont er, dass Schleiermacher dieses Prinzip in den Reden aufgegriffen und verarbeitet hat. Das zeigt sich nach Süskind an verschiedenen Stellen, aber vor allem in Schleiermachers Schema von Polarität und Vermittlung in der ersten Rede. Gerade die von uns zitierte Passage (Reden 5–7) – so glaubt Süskind – zeige uns die Abhängigkeit Schleiermachers von der Naturphilosophie Schellings –

losophie ganz süroxydirt und ich fürchte die Schwindsucht nicht bloß, ich sehe sie schon kommen. Seine sogenannte Energie ist ganz wie die blühende Farbe solcher Patienten. Schon ist nichts lebendiges für ihn als Plus und Minus.“ (KGA V/2, Briefe 482: F. Schlegel an Schleiermacher, 346) 54 Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 1)(1970), 373. 55 Vgl. Hermann Süskind: Vorwort, in: ders.: Der Einfluß Schellings (1909). 56 A. a. O., 116–119. Zu Süskinds Interpretation vgl. Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers (1984), 46–51. 57 Vgl. Hermann Süskind: Der Einfluß Schellings (1909), 58. 58 Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 1)(1970), 372.

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„Diese Anschauung von dem allgemeinen Dualismus in der Natur hat Schleiermacher in den Reden über die Religion von Schelling übernommen.“ 59 Obwohl Süskind die deutliche Abhängigkeit Schleiermachers von Schelling in den Reden betont, übersieht er Schleiermachers Erweiterung und eigenständige Entdeckung nicht. Seiner Ansicht nach lässt sich die Eigenständigkeit Schleiermachers an zwei Sachverhalten verdeutlichen: Zuerst erweitere Schleiermacher dadurch den schellingschen Gedanken – hier teilt Süskind die Beobachtung Diltheys, dass er das allgemeine Naturprinzip auf das geistige Leben des Menschen überträgt.60 Davon ausgehend habe Schleiermacher dann einen neuen Gedanken entwickelt, den man bei Schelling so nicht finden könne.61 Süskind glaubt, dass in Schleiermachers Interpretation der menschlichen Individualität Schellings Individuationstheorie der Materie eingeflossen sei: „Die beiden geistigen Urkräfte, die wir kurz Rezeptivität und Spontaneität nennen, treten nach Schleiermacher in verschiedenen quantitativen Verhältnissen zusammen, und daraus erklärt sich die Verschiedenheit der geistigen Individualitäten.“62 Bisher haben wir gesehen, dass Süskind im schellingschen Schema der beiden geistigen Kräfte den theoretischen Ursprung der Individualitätstheorie Schleiermachers erblickt, womit einer der Zentralgedanken in den Monologen berührt ist. An dieser Stelle erscheint uns Süskinds Interpretation als zu engmaschig. Denn Süskind hat Schleiermachers Spinoza-Rezeption in Bezug auf seine Individualitätstheorie übersehen.63 Zwischen 1792 und 1794 hatte sich der junge Theologe intensiv mit Spinozas Philosophie beschäftigt. Seine zwei wichtigen Schriften aus dieser Phase – Spinozismus (Vermutlich 1793/94) und Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems (Vermutlich 1793/94)64 – stellen seine Aufnahme von Spinozas principium indivi-

59 Hermann Süskind: Der Einfluß Schellings (1909), 116. 60 A. a. O., 117. 61 Hermann Süskind ist der Meinung, dass bei Schelling alle Materie in der Natur nur das Resultat von zwei Kräften in der Dualität ist und die Verschiedenheiten aller Materie auch bedingt von diesen zwei Kräften sind. Dazu zitiert er Schelling: „Vielmehr ‚da sie alle Materie ursprünglich als Produkt entgegengesetzter Kräfte betrachtet, so ist die grösstmögliche Verschiedenheit der Materie doch nichts anderes, als eine Verschiedenheit des Verhältnisses jener Kräfte‘.“ (a. a. O., 118) Zu Schellings Grundmodell der „Philosophie der Chemie überhaupt“ vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), 292. 62 Hermann Süskind: Der Einfluß Schellings (1909), 118. 63 Auf dieses Defizit in Süßkinds Interpretation hat Christof Ellsiepen bereits hingewiesen (vgl. ders.: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva [2006], 333, Fußnote 197). 64 Friedrich Schleiermacher: Spinozismus (Vermutlich 1793/94); ders.: Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems (Vermutlich 1793/94). Hier zitiert nach KGA I/1. Mehr dazu vgl. unten: Kapitel 1. 2. Das neue Individualitätskonzept in den Monologen (1800), 75–77.

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duationis dar.65 Das ist die entscheidende logische Grundlage seiner Individualitätstheorie, die wir in dem zweiten Teil dieses Kapitels näher untersuchen wollen. Neben Hermann Süskind haben noch einige andere Autoren in der ersten Hälfte des 20. Jh. nach der Herkunft des metaphysischen Schemas in der ersten Rede der Reden über die Religion (1799) gesucht. Auch wenn dabei unterschiedliche Akzente gesetzt wurden, waren sich die entsprechenden Interpreten darin einig, dass das metaphysische Schema von Schleiermachers Geistverständnis der Reden in engem Zusammenhang mit dem deutschen Idealismus und der Frühromantik steht. Anders als die oben genannten Autoren hält Paul Seifert (1960)66 dieses Schema für eine eigenständige Erfindung von Schleiermacher. Er bemerkt: „Die Wurzel dieser Schleiermacherschen Grundkonzeption liegt jedoch an einem ganz anderen Punkte und ist von fremden philosophischen Einflüssen unabhängig.“67 Seifert hat seine These durch den Hinweis zu untermauern versucht, dass Schleiermacher jenes Schema schon in seinen früheren Schriften, nicht nur in der Neujahrspredigt aus dem Jahr 1792,68 sondern auch an zwei weiteren Stellen verwandt hat, die in den Fragmenten Schleiermachers vor oder aus der Entstehungszeit der Reden zu sehen sind.69 Vor diesem Hintergrund hält er fest: „Die genetische Untersuchung des ‚Schemas‘ wie des ‚höheren Realismus‘ ergab, daß beide nicht aus Philosophemen der Zeit abzuleiten sind, sondern auf einer originalen und frühen religiösen Konzeption Schleiermachers beruhen.“70 Seiferts Eigenständigkeitsthese ist in zwei Perspektiven nicht stichhaltig. Erstens: Wie Dilthey und Süskind gezeigt haben, hat der junge Schleiermacher sich in seinem weiteren Werdegang, in der Phase zwischen 1793 und 1799, mit den damaligen Frühromantikern hinsichtlich dieses Schemas

65 Dazu vgl. ferner Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva (2006), 333–334. 66 Paul Seifert: Die Theologie des jungen Schleiermacher, Gütersloh 1960. 67 A. a. O., 58–59. 68 Friedrich Schleiermacher: Neujahrspredigt (1792). Seifert bezieht sich hier auf die Neujahrspredigt (1792) in der Einzelausgabe der Monologen nebst den Vorarbeiten: Friedrich Schleiermacher: Monologen nebst den Vorarbeiten (1902/1914), 149–165. Vgl. jetzt KGA III/3: Predigt Nr. 6. Am 1. Januar 1792, 52–65. 69 Hierzu führt Seifert drei Beispiele an aus dem Anhang von Wilhelm Diltheys Leben Schleiermachers. Erster Band (mit Anhang: Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers, erläutert durch kritische Untersuchungen) (Berlin 1870), darunter ein Distichon: „Schleiermachers dauernde Beschäftigung mit dem Grund-Schema erweist sich ferner an zwei Stellen: Einmal in den Athenäumsfragmenten (D 85) [sc. jetzt KGA I/2, 152 ], wo die genaue Vorbildung der Darstellung der Reden vorliegt; sodann auf zwei einzelnen Blättern aus der Entstehungszeit der Reden ‚Vergleichung der poetischen und praktischen Naturen‘ (D 113) [sc. jetzt KGA I/3, 131] und im Distichon (D 114): ‚Wunderlich oft in scheinbarem Krieg und listigem Frieden / Lebet im Menschen das Tier mit dem erhabenen Geist. / Selig die Unschuld, die das verborgene Spiel noch nicht ahndet, / Heilig die Weisheit nur, welche vernichtet den Trug.‘ [sc. jetzt KGA I/3, 134, Nr. 10].“ (ders.: Die Theologie des jungen Schleiermacher (1960), 61) Mehr zu Seiferts Argument vgl. a. a. O., 58–65. 70 Paul Seifert: Die Theologie des jungen Schleiermacher (1960), 65.

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vor allem mit der schellingschen Naturphilosophie auseinandergesetzt. Und diese Auseinandersetzung erweist sich als aufschlussreich für Schleiermachers strukturelle Beschreibung des Geistes in der betreffenden ersten Rede. Zweitens: Betrachtet man den Fakt, dass dieses metaphysische Schema hier am Anfang der ersten Rede als Ausgangspunkt der anthropologischen Überlegungen dient, dass die anthropologische Fragestellung wie gesehen schon in seiner Jugendschrift Über den Wert des Lebens (1792/93) von Belang ist und dass das Problem aber nicht anhand von diesem Schema behandelt werden konnte, so hat man Zweifel an der Richtigkeit der Begründung Seiferts.71 Seiferts Interpretation ist aber trotzdem nicht zu vernachlässigen, denn sie ist ein guter Anlass für uns, auf Schleiermachers früheren Werdegang aufmerksam zu machen. In der neusten Forschung hat Peter Grove zu dieser Problematik Stellung genommen. Grove (1999)72 argumentiert, dass die schellingschen Vorstellungen von der allgemeinen Polarität im Denken am Ende des 18. Jahrhunderts üblich gewesen seien. Somit ist der Verweis auf Schelling nicht entscheidend für die Interpretation von Schleiermachers Polaritätsgedanken in den Reden. Aber anders als Seifert, der das metaphysische Schema in den Reden als Schleiermachers eigenständige Erfindung bezeichnet, sucht Grove weiterhin neue Spuren in dem philosophiegeschichtlichen Kontext, in dem Schleiermachers frühromantische Religionsschrift entstanden ist. Indem Grove die Kontroverse in Bezug auf das Problem zwischen dem deutschen Aufklärungstheoretiker Johann Gottfried Herder und dem niederländischen Philosophen Franz Hemsterhuis (1721–1790) untersucht und Schleiermachers Bekanntschaft mit den Gedanken beider Autoren durch eine sorgfältige Nachprüfung seiner Korrespondenz aus dieser Zeit sicherstellt, bestätigt er seine Vermutung, dass Schleiermachers Vereinigungsphilosophie in den Reden in der vereinigungsphilosophischen Tradition der damaligen Zeit steht – Schleiermachers Vereinigungsgedanke setzt sich eng, aber kritisch mit den Vereinigungsgedanken von Herder und Hemsterhuis auseinander, vor allem mit dem des letzteren. Groves Beobachtung nach zeigt sich diese Verwandtschaft zwischen Schleiermacher und Hermsterhuis nicht nur in der ersten Rede, sondern auch in seiner weiteren Erörterung über die Religion. Bisher haben wir die wichtigsten Beiträge der Forschungsliteratur zu Schleiermachers Schelling-Rezeption in den Reden skizziert. Im Hinblick auf Schleierma-

71 Kurt Nowak ist auch der Meinung, dass Seiferts Eigenständigkeitsthese nicht gut begründet wurde und das Schema doch zum Allgemeinbestand des philosophischen Denkens der damaligen Zeit gehört. Wie sich diese Zusammengehörigkeit und die Auseinandersetzung Schleiermachers mit anderen zeitgenössischen Denkern in Bezug auf dieses Thema gestalten, hat Nowak allerdings nicht aufgegriffen (vgl. ders.: Schleiermacher und die Frühromantik [1986], 164 und 224–227). 72 Peter Grove: ‚Vereinigungsphilosophie‘ beim frühen Schleiermacher und bei Herder (2000), in: Akten des 1. internationalen Kongresses 1999 (2000), 328–343; ders: Deutungen des Subjekts (2004), 273–282.

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chers anthropologische Fragestellung in seiner früheren Zeit ergibt sich aus dieser Sichtung, dass sein metaphysisches Schema des Geistes in der ersten Rede ein Produkt seiner Auseinandersetzung mit der schellingschen Naturphilosophie am Ausgang des 18. Jahrhunderts einerseits und eine eigenständige erweiternde Entdeckung andererseits ist. Doch ist es an dieser Stelle erforderlich, noch einen weiteren möglichen Einflussfaktor ins Kalkül miteinzubeziehen. In Schleiermachers Triebkonzeption in der ersten Rede, die sich in diesem metaphysischen Schema als modifizierte Fassung der Kraft in der Geistessphäre zeigt, ist die Nähe zu Fichte spürbar, der den Begriff „Triebe“ in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794 intensiv thematisiert hat.73 Ob Schleiermacher in seinem Werdegang diesbezüglich direkt von Fichte beeinflusst wurde, ist in der Forschungsgeschichte ebensowenig abschließend geklärt. Es handelt sich dabei in erster Linie um Schleiermachers Fichte-Rezeption in seiner früheren Zeit. Schleiermachers persönliches und wissenschaftliches Verhältnis zu Fichte hat wiederum Wilhelm Dilthey bereits zum Thema gemacht.74 Dessen These lautet: „Dieser Mann [sc. Fichte] muß nun im Geiste mit Schleiermacher zusammengestellt werden. Beide haben ihren persönlichen und wissenschaftlichen Charakter in der Schule des Idealismus geformt.“75 Im Werdegang Schleiermachers spielt seine Aus-

73 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794) (In der vorliegenden Studie wird Fichte nach der Paginierung in der J. G. Fichte-Gesamtausgabe zitiert). Allgemein definiert Fichte den Trieb wie folgt: „Der Trieb ist eine innere sich selbst zur Kausalität bestimmende Kraft.“ (ders.: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre [1794], 422, §8) Der Trieb ist „[ein] sich selbst producirendes Streben“ (a. a. O., 418, §7) und „das höchste, und einzige Princip der Selbstthätigkeit in uns; er allein ist es, der uns zu selbständigen, beobachtenden, und handelnden Wesen macht“ (ebd.). Demnach bedeutet „Trieb“ für Fichte soviel wie Tendenz auf absolute Selbstbestimmung, die aber einem gegenläufigen Trieb des Ichs widerzuspiegeln hat. Resultat beider hier sei ein Sehnen und Streben des Ichs ins Unendliche, das aber durch die Objekte der Welt gehemmt werde, die das Ich selbst auf unbewusste Weise zuvor gesetzt hat. Daneben heißt es bei Fichte noch, „dies [sc. Gefühl] ist eine Beschränkung des Triebes“ (a. a. O., 419, §7). Das konkrete Ich baut sich für Fichte in einem gegenläufigen Streben auf: aussichherausgegehen und insichzurücklaufen. In der späteren Schrift begründet Fichte die Besonderheit des Menschen im Phänomen des Triebs noch wie folgt: „Die Selbstthätigkeit im Menschen, die seinen Charakter ausmacht, ihn von der gesammten Natur unterscheidet, uns außerhalb ihrer Gränzen setzt, muß sich auf etwas ihm Eigenthümliches gründen; und dieses Eigenthümliche eben ist der Trieb. Durch seinen Trieb ist der Mensch überhaupt Mensch, und von der größern oder geringen Kraft und Wirksamkeit des Triebes, des innern Lebens und Strebens, hängt es ab, was für ein Mensch jeder ist.“ (ders.: Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie. Zweiter Brief [1800], in: ders.: Werke 1799–1800, J. G. Fichte-Gesamtausgabe, Bd. I.6, hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky unter Mitwirkung von Erich Fuchs, Walter Schieche und Peter K. Schneider, Stuttgart 1981, 333–361, hier 340) Zur Begriffsgeschichte von „Trieb“ vgl. Wolfgang Mertens: Art. Trieb (1998), in: HWPh 10, 1483–1491. 74 Dazu vgl. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 1)(1970), 334–368. Zur Auseinandersetzung des jungen Schleiermachers mit Fichte vgl. ferner Peter Grove: Deutungen des Subjekts (2004), 170–177. 75 Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 1)(1970), 355.

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einandersetzung mit Fichte eine entscheidende Rolle. Darauf weist Emanuel Hirsch (1960) hin, der den starken Einfluss Fichtes auf Schleiermachers Reden und Monologen betont.76 Hirsch identifiziert zahlreiche Fichtische Formulierungen in den Reden und kommt zu dem Schluss: „Fichte hat mit seiner Dialektik und seinen Begriffen Schleiermacher gleichsam überwältigt.“77 Für beide Interpreten Schleiermachers ist dessen Triebbegriff in jenem metaphysischen Schema von Fichtes Wissenschaftslehre inspiriert worden. Im Gegensatz zu Wilhelm Dilthey und Emanuel Hirsch lehnen Samuel Eck und Eilert Herms den engen Zusammenhang des jungen Schleiermachers mit Fichte ab. Samuel Eck (1908) hat in seiner Schrift zu Entstehungsgeschichte der Reden deutlich darauf verwiesen, dass Schleiermacher vor und während der Niederlegung seiner Reden keinen Zugang zu Fichte hatte.78 Allerdings zeigen Schleiermachers Korrespondenzen aus dieser Phase,79 die in den letzten drei Jahrzehnten fast komplett erschienen sind, seine Bekanntschaft mit Fichtes Philosophie deutlich auf, was Eck noch nicht wissen konnte. Eilert Herms (1974) wiederum teilt die Meinung Ecks und bemerkt: „Die Reden dürften kaum als Schrift zum Atheismusstreit und als spontane Stellungnahme zu Fichtes Religionsphilosophie aufzufassen sein. Die Beschäftigung Schleiermachers mit der Wissenschaftslehre von 1794 läßt sich schwer verfolgen.“80 Die Tatsache, dass der Triebbegriff bereits in Schleiermachers frühen Schriften Über die Freiheit (zwischen 1790 und 1792), Neujahrspredigt (1792) und Spinozismus (1792/93) belegt ist,81 im übrigen auch in den Monologen, spricht scheinbar für die These von Eck und Herms. Auch wenn sich der Triebbegriff werkgeschichtlich schon sehr früh greifen lässt, verwendet er diesen Begriff in den besagten Schriften noch nicht in der naturphilosophischen Terminologie der Reden. Vor diesem Hintergrund betrachtet, spricht einiges dafür, dass Schleiermachers Triebbegriff in seinem metaphysischen Schema in der ersten Rede auch ein Resultat der Prägung von Fichtes Wissenschaftslehre ist. Bis hierher ist zu ersehen, dass Schleiermachers metaphysisches Schema des Geistes in der ersten Rede seiner Reden über die Religion (1799) im Kontext der Naturphilosophie des ausgehenden 18. Jahrhunderts steht. Durch seine Begegnungen mit zeitgenössischen Philosophen wie Kant, Fichte und vor allem Schelling baut Schleiermacher nun eine naturphilosophische Grundlage für seine anthropologi-

76 Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. V (1954), 500–511. 77 A. a. O., 504. 78 Samuel Eck: Ueber die Herkunft des Individualitätsgedankens (1908), 20–25. 79 Friedrich Schleiermacher: Briefwechsel 1774–1796, KGA V/1; ders.: Briefwechsel 1796–1798, KGA V/2. 80 Eilert Herms: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt (1974), 252–253. 81 Peter Grove ist der Meinung, dass Schleiermachers Begriff „Trieb“ in seinen frühen Schriften hauptsächlich von seinem Lehrer Karl Leonhard Reinhold (1757–1823) geprägt sei. Vgl. ders.: Deutungen des Subjekts (2004), 65–72.

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sche Geisttheorie auf. Der Ausgangspunkt seiner anthropologischen Geisttheorie besteht gerade darin, dass der Redner das universale naturphilosophische Gesetz von Attraktion und Repulsion auf die humane Geistessphäre übertragt, um die Struktur des menschlichen Geistes zu interpretieren.82

1.3 Die Überführung der naturphilosophisch gewonnenen Polarität in die Anthropologie 1.3.1 Das anthropologische Grundmodell Anknüpfend an das metaphysische Schema des Geistes entwirft Schleiermacher ein anthropologisches Grundmodell, das wieder mittels einer Analogie mit der körperlichen Welt strukturell wie folgt beschrieben wird: „So wie aber von den körperlichen Dingen kein einziges allein durch eine von den beiden Kräften der materiellen Natur besteht, so hat auch jede Seele einen Theil an den beiden ursprünglichen Funcktionen der geistigen Natur“ (Reden 7). Diesem Zitat zufolge umfasst jedes konkrete Individuum – „jede Seele“ – beide Elementarfunktionen. Nun lassen sich ganz unterschiedliche Zuordnungsmöglichkeiten in der Vereinigung beider Elementarfunktionen des Geistes denken.83 Die Formulierungen „kein einziges allein“ sowie „jede Seele [sc. hat] einen Teil an den beiden ursprünglichen Funktionen“ legen nahe: Weder in der körperlichen Welt noch in der Geistessphäre dominiert eine einzige Kraft oder eine einzige Funktion exklusiv – die zwei entgegengesetzten Kräfte oder Triebe sind immer vereinigt, auch wenn „da hier die eine dort die andere fast ausschließend alles ist, und der Gegnerin nur einen unendlich kleinen Theil übrig läßt“ (Reden 7–8).

82 Es sei zumindest am Rande bemerkt, dass dieses naturphilosophische Element auch in seinem weiteren Werk eine zentrale Rolle einnimmt. So vertieft und erweitert Schleiermacher das oben dargestellte metaphysische Schema der Geistesfunktion von Attraktion und Repulsion in seinen späten Schriften: in der Psychologie oder Seelenlehre (1818, 1821, 1830 und 1833/34) sowie in der Glaubenslehre (1821/22 und 1831/32). In seiner Psychologie stellt Schleiermacher dieses Schema als zwei rein geistige und gegenwirkende Tätigkeiten der Seele dar: aufnehmende Tätigkeit und ausströmende Tätigkeit. In der Glaubenslehre wird dieses Schema auf die Korrelation von Rezeptivität und Spontaneität des Subjekts aufgebaut. Im Lauf seines ganzen wissenschaftlichen Lebens spielt dieser Gedanken selbst eine wichtige Rolle, indem Schleiermacher mehrmals auf dieses Schema zurückkommt, um seine Theorie zu entfalten, zum Beispiel seine anthropologische Geisttheorie in der ersten Rede, das kommunikative Individualitätsverständnis in den Monologen und seine Philosophische Ethik. Aufgrund dessen werden wir dem Schema der Grundfunktionen des Geistes in verschiedenen Kontexten immer wieder begegnen. Hier wollen wir zuerst seine anthropologische Vertiefung der Geisttheorie untersuchen. 83 Zu einer Vorläufergestalt eines derartigen naturphilosophisch-anthropologischen Grundgesetzes vgl. schon Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1774/ 1775/1778)(1987), in: ders.: Herder und die Anthropologie der Aufklärung, Johann Gottfried Herder Werke, Bd. 2, hg. von Wolfgang Pross, München/Wien 1987, 543–723, zum Beispiel 556–558.

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An dieser Stelle führt Schleiermacher den Begriff der „Vollkommenheit der intellektuellen Welt“ als Gesamtspektrum aller Variationen ein. Dieser Begriff wird in seinen anthropologischen Überlegungen als das Menschheitsideal bezeichnet und spielt sowohl in seiner Religions- als auch in seiner Individualitätstheorie eine entscheidende Rolle. Hier werden wir aber vorerst den anthropologischen Fragestellungen Schleiermachers folgen. Zum Ausdruck kommt dieses Menschheitsideal in folgendem Zitat: „[D]ie Vollkommenheit der intellektuellen Welt besteht darin, daß alle mögliche Verbindungen dieser beiden Kräfte zwischen den beiden entgegengesetzten Enden, […], nicht nur wirklich in der Menschheit vorhanden seien, sondern auch ein allgemeines Band des Bewußtseins sie alle umschlinge, so daß jeder Einzelne, ohnerachtet er nichts anderes sein kann als was er sein muß, dennoch jeden anderen eben so deutlich erkenne als sich selbst, und alle einzelne Darstellungen der Menschheit vollkommen begreife“ (Reden 7–8). In dieser Passage ist Schleiermachers Vorstellung zur idealen Menschheit deutlich: Die Vereinigung beider Elementarfunktionen des Geistes ist die Basis für die Vollkommenheit der intellektuellen Welt; dieses Menschheitsideal setzt sich aus zwei miteinander verbundenen Komponenten zusammen. Hierbei ist herauszustellen, dass das Gesamtspektrum aller möglichen Zuordnungsvariationen beider entgegengesetzten Kräfte nicht nur im ontischen Sinne der Menschheit zu verstehen ist, sondern auch als ein in der Kommunikation mit den Mitmenschen selbststrukturiertes Gebilde jedes Individuums. Was den zuletzt genannten Gesichtspunkt betrifft, denkt Schleiermacher an die Menschheit im Sinne einer Verbindung aller möglichen Zuordnungsvariationen mentaler Akte – „ein allgemeines Band des Bewußtseins“, die er wiederum als Voraussetzung für die Selbststrukturierung des Individuums ansieht. Dieses gleichsam transzendentale Menschheitsideal umfasst alle möglichen Zuordnungsvariationen beider entgegengesetzten Kräfte; dadurch ermöglicht es jedem Einzelnen einerseits das Fremdverstehen, andererseits das Begreifen oder das Aneignen der anderen individuellen Darstellungen der Menschheit. Zusammenfassend lässt sich hier sagen, dass Schleiermachers Bestimmung der idealen Menschheit auf drei miteinander verbundenen Sachverhalten beruht: Zuerst vereinigt jedes Individuum die beiden entgegengesetzten Kräfte des Geistes im eigenen Leben auf je individuelle Weise; dann erkennt es im intersubjektiven Austausch das ihm Fremde bei seinen Mitmenschen, was die anderen Darstellungen der Menschheit sind; danach begreift er alle diese Erscheinungsformen menschlichen Daseins. So ist die ideale Menschheit das Gebilde eines intersubjektiven Selbststrukturierungsprozesses.84

84 Die hier an dieser Passage gegebene Beschreibung für das Menschheitsideal wird um eine spätere Aussage in der ersten Rede ergänzt und unterstützt. Zum Beispiel nennt Schleiermacher die ideale Menschheit „das Resultat einer angestrengten und durchgeführten Selbstbildung“ (Reden 9).

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1.3.2 Die anthropologische Vertiefung der Triebpolarität Oben wurde gezeigt, dass die ideale Menschheit intersubjektive und damit soziale Implikationen besitzt. Das bedeutet zugleich, dass auch Schleiermachers anthropologische Überlegungen zum Geistverständnis in dieser Perspektive gelesen werden können. Dieser Aspekt wird in den von ihm in wenigen Monaten niedergeschriebenen Monologen (1800) bestätigt, fortgeführt und ausführlich entfaltet. Das werden wir in der nachfolgenden Darstellung noch genauer thematisieren und untersuchen. In der ersten Rede vertieft Schleiermacher seine anthropologischen Überlegungen des Geistverständnisses in zwei weiteren Perspektiven: zuerst in einer zeitdiagnostischen Dimension, dann in einer ethischen Dimension. Im Folgenden wollen wir diese beiden Dimensionen konkretisieren. 1) Zeitdiagnostische Dimension Von der vollkommenen Menschheit unterscheidet Schleiermacher die „eingeschränkten Menschen“ (Reden 10). Die „eingeschränkten Menschen“ zeichnen sich durch das Übergewicht einer der beiden Triebe aus, sodass sie zugleich in zwei Gruppen fallen. Somit denkt Schleiermacher sich in der intellektuellen Welt der „eingeschränkten Menschen“ ein Spektrum mit zwei Extrempolen. Er beschreibt die beiden Extrempole wie folgt: „Diejenigen, welche an den äußersten Enden dieser großen Reihe liegen, sind heftige ganz in sich selbst gekehrte und sich vereinzelnde Naturen.“ (Reden 8) Ausgehend von diesem Triebpolaritätsspektrum der geistigen Welt stellt Schleiermacher nun seine Diagnose des geistigen Zustands der eigenen Gegenwart. An dem einen äußersten Ende herrscht folgender Trieb: „das Bestreben alles was sie umgiebt an sich zu ziehen, in ihr eignes Leben zu verstriken, und wo möglich in ihr innerstes Wesen ganz einzusaugen“ (Reden 6). Die Menschengruppe, die von diesem seine Umgebung einsaugenden Trieb bestimmt ist, beschreibt Schleiermacher wie folgt: „Den Einen gebietet die unersättliche Sinnlichkeit, eine immer größere Maße irdischer Dinge um sich her zu sammeln […]; in dem ewigen Wechsel zwischen Begierde und Genuß kommen sie nie über die Wahrnehmungen des Einzelnen hinaus, und immer mit selbstsüchtigen Beziehungen beschäftigt, bleibt ihnen das Wesen der übrigen Menschheit unbekannt.“ (Reden 8) Hier sind die Menschen von der sinnlichen Natur beherrscht, was es verhindert, „das Wesen der übrigen Menschheit“ zu erkennen. Es handelt sich um solche Menschen, die an anderer Stelle als „die bloß Irdischen und Sinnlichen“ (Reden 11) bezeichnet werden. Im Gegensatz zu jener Gruppe überwiegt an dem anderen äußersten Ende folgender Trieb – „die Sehnsucht ihr eigenes inneres Selbst von innen heraus immer weiter auszudehnen, alles damit zu durchdringen, allen davon mitzuteilen, und selbst nie erschöpft zu werden“ (Reden 6–7). An diesem Extrempol folgen die Menschen nur diesem ausdehnenden Trieb. Allerdings fällt Schleiermachers Urteil über diesen Extrempol wiederum kritisch aus: „Die Anderen treibt ein ungebildeter, sein

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Ziel überfliegender Enthusiasmus rastlos im Universum umher; ohne irgend etwas wirkliches beßer zu gestalten und zu bilden, schweben sie um leere Ideale herum und ihre Kraft ohne Nutzen verdünnend und verzehrend kehren sie thatenlos und erschöpft auf ihren ersten Punkt zurück.“ (Reden 8–9) Hier dominiert die geistige Natur des Menschen: Die geistige Welt ist von einer metaphysischen Einstellung bestimmt und dementsprechend haben die Menschen keinen realen Bezug zur wirklichen Welt. Es sind – wie es an einer späteren Stelle heißt – die „unthätigen bloß spekulativen Idealisten“ (Reden 10). Durch eine solche Zeitdiagnose, die die Gegenwart in allgemeine bzw. typische Begriffe zu fassen sucht, grenzt Schleiermacher sich von den Idealisten und Sensualisten in seinem Zeitalter ab.85 Der geschichtlichen Gerechtigkeit nach wird man freilich einräumen müssen, dass Schleiermacher die genannten Gruppen scharf überzeichnet. Was er als generelle Eigenschaft kritisiert wird nur in Ausnahme zutreffen. Blicken wir auf den Ausgangspunkt dieser Zeitdiagnose – die naturphilosophisch gewonnene Polaritätstheorie – zurück, so lässt sich sagen, dass die Differenzierung in Idealisten und Sensualisten durch seine Übernahme und Erweiterung der schellingschen Naturphilosophie theoretisch ermöglicht wird. Die beiden Extrempole in der intellektuellen Welt werden in den anthropologischen Überlegungen Schleiermachers – wie bereits angedeutet wurde – als die „eingeschränkten Menschen“ bezeichnet. Nun stellt sich die Frage: „Wie sollen diese äußersten Entfernungen zusammengebracht werden […]?“ (Reden 9) Zwischen den beiden Extrempolen gibt es „einen gewissen Punkt, wo ein fast vollkommenes Gleichgewicht beide vereiniget“ (ebd.). Diese ideale Balance zwischen beiden ist ein Vorbild für die Entwicklung der Menschheit. Nach Schleiermacher wird dieser Punkt von seinen Zeitgenossen („Ihr“) entweder überschätzt oder unterschätzt, viel öfter überschätzt als „ein Zauberwerk der mit den Idealen der Menschen spielenden Natur“ (ebd.). Im Gegensatz dazu hält der Redner dieses Ziel viel mehr für ein Ergebnis eines mühsamen Selbststrukturierungsprozesses – „das Resultat einer angestrengten und durchgeführten Selbstbildung“ (ebd.). Wie diese Selbstbildung erfolgt, wird hier noch nicht aufgeklärt. Aber zu dieser die beiden Extrempole vereinigenden vollkommenen Balance zu gelangen, ist ein Geheimnis, das nicht alle vermögen, sondern nur „gedankenvoller Kenner“ (ebd.). Diese Unfähigkeit der Menschen stellt der Redner in der folgenden Aussage dar: „[F]ür jedes gemeine Auge sind die einzelnen Elemente darin gänzlich verborgen, und es würde nie weder sein eigenes noch das ihm entgegengesezte erkennen“ (ebd.). Das heißt, die „gemeine[n]“ Menschen können einerseits das Konkrete in diesem Geheimnis nicht sehen, andererseits die Gegenüberstellung zwischen Eigenem und Fremdem (dem Ich-Entgegengesetzten) nicht erkennen. An

85 Zu Schleiermachers Zeitdiagnose in der ersten Rede vgl. Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers (1984), 78–79; Ulrich Barth: Die Religionstheorie der ›Reden‹ (1998/2004), 268–270.

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dieser Stelle taucht wiederum der bereits bekannte Gedanke auf, dass man sich nicht allein entwickeln kann, sondern nur mit seinen Mitmenschen, denn die Erhöhung oder Verbesserung der Menschheit bei jedem Einzelnen ist von dem Fremdverstehen oder genauer genommen von der Entgegensetzung von eigenem Ich und anderem Ich bedingt. Somit unterstützt diese Aussage auch die vorher schon herausgestellte These: Die ideale Menschheit ist Gebilde eines intersubjektiven Selbststrukturierungsprozesses. Da die „gemeine[n]“ Menschen nicht in der Lage sind, selbst zur vollkommenen Balance zwischen beiden Extrempolen zu gelangen und sich zu der idealen Menschheit zu bilden, bedarf es einer Überbrückung. Um die Kluft zwischen der vollkommenen intellektuellen Welt und „dem eingeschränkten Menschen“ zu überwinden, führt Schleiermacher den Schlüsselbegriff seiner anthropologischen Überlegung ein, nämlich den Begriff „Mittler“. Für Schleiermachers Argumentation bedeutet das: Die Zeitdiagnose, in deren Mittelpunkt die Bestimmung zweier zeittypischer Repräsentanten der „Menschheit“ steht, zielt auf den Begriff des Mittlers, um den Gegensatz zwischen beiden Menschentypen und dem Menschheitsideal überbrücken zu können. Damit kommen wir zu der zweiten Perspektive seiner anthropologischen Vertiefung der Triebpolarität. Dabei handelt es sich um eine ethische Dimension, die mit dem Begriff des Mittlers unmittelbar verwoben ist. Inwiefern diese zweite Perspektive als eine ethische Dimension bezeichnet werden kann, wird im Folgenden zu zeigen sein. 2) Ethische Dimension Zwischen den äußersten Enden und dem Punkt des vollkommenen Gleichgewichts, nämlich zwischen den eingeschränkten Menschen und der idealen unendlichen Menschheit, entsteht die Notwendigkeit einer Vermittlung. Diese Vermittlungsfunktion übernimmt der Mittler. Schleiermachers anthropologische Darstellung des Begriffs des Mittlers setzt mit der folgenden Passage ein: „Darum sendet die Gottheit zu allen Zeiten hie und da Einige, in denen beides auf eine fruchtbarere Weise verbunden ist, rüstet sie aus mit wunderbaren Gaben, ebnet ihren Weg durch ein allmächtiges Wort, und sezt sie ein zu Dolmetschern ihres Willens und ihrer Werke, und zu Mittlern desjenigen, was sonst ewig geschieden geblieben wäre.“ (Reden 9– 10) Ausgehend von diesem Zitat lässt sich erklären, wieso die Mittler im Gegensatz zu den unfähigen „gemeine[n]“ Menschen in der Lage sind, die getrennten beiden Extrempole der intellektuellen Welt zu verbinden. Ihr Weg zur vollkommenen Menschheit wird durch ein allmächtiges Wort der Mittler geebnet, die wunderbare Gaben für ihre Aufgabe besitzen. Die Mittler können eine vollkommene Balance zwischen beiden Polaritätstrieben herstellen: Sie sind in der Lage, die anziehende Kraft, „die sich der umgebenden Dinge tätig bemächtigt“ (Reden 10), in vollem Maße zu verwenden, aber gleichzeitig können sie die entgegengesetzte Kraft, bzw.

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die „geistigen Durchdringungstriebe der nach dem Unendlichen strebt, und in Alles Geist und Leben hineinträgt“ (ebd.), gut beherrschen. Ausgehend von diesen Bestimmungen nimmt Schleiermacher weitere Spezifikationen der Aufgabenbereiche vor, die die Mittler zu leisten haben. Es sind zwei Aspekte, die er herausstellt: Man könnte sie als geschichtsphilosophisch und kommunikationstheoretisch bezeichnen. a. Geschichtsphilosophisch. Unter diesem ersten Aspekt stellt der Redner die Mittler folgendermaßen dar: „[D]iesen genügt es nicht eine rohe Maße irdischer Dinge gleichsam zerstörend zu verschlingen, sondern sie müßen etwas vor sich hinstellen, es in eine kleine Welt, die das Gepräge ihres Geistes trägt, ordnen und gestalten“ (ebd.). Daraus ist eine der Aufgaben der Mittler festzulegen, etwas hinzustellen, zu ordnen und zu gestalten. Dazu wird wieder ein Unterschied zwischen den Mittlern und den gemeinen Menschen aufgezeigt: Im Vergleich zu diesen herrschen die Mittler „vernünftiger, genießen bleibender und menschlicher“ (ebd.). Sodann fährt er fort: Sie sind wie „gute Dämonen, die eine edlere Glükseligkeit im Stillen schaffen und verbreiten“. Bis zu diesem Punkt wird die konkrete geschichtliche Bedeutung der Mittler erklärt: Mittler als „Helden Gesetzgeber Erfinder Bezwinger der Natur, gute Dämonen“ (ebd.). Die von seiner anthropologischen Polaritätstheorie eingeleitete Konzeption des „Mittlers“ ist keine abstrakte Entität oder Hypothese, sondern sie hat ihre geschichtliche Existenz in der Wirklichkeit. Von hieraus lässt sich die geschichtsphilosophische Bedeutung des Mittlers erhellen. Dieser Gedankengang weist zugleich noch darauf hin, dass die Entstehung der geschichtlichen Mittler-Figur den anthropologischen Bedarf deckt, zu vollkommener Menschheit zu gelangen. Wenn Schleiermacher jene Vermittlungsaufgabe „Helden Gesetzgeber[n] Erfinder[n] Bezwinger[n] der Natur“ zuweist, dann dürfte das gemeinsame Merkmal darin bestehen, dass jedes Mal von wirksamen Individuen mit geschichtlich gestalteter Kraft die Rede ist. Doch wie bestimmt Schleiermacher die Mittlerfunktion im Einzelnen? – „Solche beweisen sich durch ihr bloßes Dasein als Gesandte Gottes und als Mittler zwischen dem eingeschränkten Menschen und der unendlichen Menschheit.“ (ebd.) Seiner Zeitdiagnose entsprechend bildet Schleiermacher nun die geschichtsphilosophischen Funktionen der Mittler auf die verschiedenen „eingeschränkten“ Menschen ab. Somit erscheint die Rolle der Mittler unter ihrem geschichtsphilosophischen Aspekt als Gesandte Gottes auf zwei unterschiedliche Weisen. In Bezug auf die Idealisten besteht ihre Funktion darin: „Sie zeigen dem unthätigen bloß spekulativen Idealisten, der sein Wesen in einzelnen leeren Gedanken zersplittert, dasjenige thätig, was in ihm bloß träumend war, und in dem was er bisher verachtete, den Stoff den er eigentlich bearbeiten soll; sie deuten ihm die verkannte Stimme Gottes, sie söhnen ihn aus mit der Erde und mit seinem Plaze auf derselben.“ (Reden 10–11) Hierbei sind die Mittler dem Idealisten, bei dem die Ausdehnungskraft dominiert, dazu verpflichtet, die in ihrer Tätigkeit fehlende Anziehungskraft zu ergänzen, nämlich

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den leeren und basislosen Gedanken des Idealisten mit konkretem Stoff und Inhalt zu füllen und den Idealisten und die Wirklichkeit zusammenzubringen. In Hinsicht auf die Sensualisten haben die Mittler die andere Aufgabe, die wie folgt zum Ausdruck gebracht wird: „Noch weit mehr aber bedürfen die bloß Irdischen und Sinnlichen solcher Mittler, die ihnen jene höhere Grundkraft der Menschheit begreifen lehren, indem sie ohne ein Treiben und Thun wie das ihrige beschauend und erleuchtend alles umfassen, und keine andere Grenzen kennen wollen als das Universum, welches sie gefunden haben.“ (Reden 11) Der Aussage folgend fällt zuerst auf, dass in der anthropologischen Polaritätstheorie Schleiermachers die Ausdehnungskraft als eine höhere als die Anziehungskraft bezeichnet wird, somit der Sensualist die Mittler mehr benötigt als der Idealist. Sodann offenbart sich an dieser Stelle die den Sinnlichen betreffende Funktion der Mittler: Da beim Sinnlichen die Anziehungskraft völlig überwiegt, so muss nun ihnen ebenso wie beim Idealisten die entgegengesetzte Grundkraft bzw. die Ausdehnungskraft ergänzend beigebracht werden. Dazu verhilft nur, dass man beim „Alles-Umfassen“ an eine Idee von Ganzheit denkt, die hier durch den Begriff „das Universum“ angedeutet wird, oder wie eine frühere Stelle zeigt, muss man die irdischen Dinge im „Zusammenhang des Ganzen“ (Reden 8) um sich sammeln. An dieser Stelle lassen sich die Aufgaben der Mittler in einer geschichtsphilosophischen Dimension zusammenfassen: Die Mittler haben ihre Funktion darin, als Helden, Gesetzgeber, Erfinder und Bezwinger der Natur etwas zu ordnen und zu gestalten. Bei den Idealisten helfen die Mittler damit, den leeren Gedanken mit konkretem Inhalt und Stoff zu füllen, damit sie mit der Wirklichkeit des Lebens verbunden werden; den Sensualisten dienen die Mittler dazu, eine Ganzheitsidee zu entwickeln, um den Zusammenhang aller Dinge erkennen zu können. b. Kommunikationstheoretisch. Nachdem Schleiermacher die geschichtsphilosophische Dimension der Mittler präsentiert hat, beschreibt er eine zweite Dimension von Mittler, die wir eine kommunikationstheoretische nennen können. Unter diesem Aspekt gehört der Mittler in die Kategorie der „Dolmetscher ihres Willens und ihrer Werke [sc. der Gottheit]“ (Reden 10). Die Fähigkeiten, den Willen und die Werke der Gottheit zu vermitteln, sind die von Gott ausgerüsteten „wunderbaren Gaben“ (Reden 9). Diejenigen, die von der Gottheit gesendet sind, haben nicht nur die Ausdehnungskraft und den Durchdringungstrieb in einem hohen Grad, sondern zugleich auch eine andere Fähigkeit, die die „mystische und schöpferische Sinnlichkeit“ (Reden 11) genannt wird, „allem Inneren auch ein äußeres Dasein zu geben“ (ebd.). Diese Fähigkeit verpflichtet den Mittler, den Einfluss, den Gott direkt auf ihn ausgeübt hat, allen anderen Menschen mitzuteilen, indem er den Eindruck Gottes „als einen mitteilbaren Gegenstand in Bildern oder Worten“ (ebd.) außerhalb seiner selbst zum Ausdruck und das bedeutet anderen gegenüber zur Darstellung bringt. Parallel zu der ersten Dimension der Mittler als „Helden Gesetzgeber Erfinder Bezwinger der Natur“ (Reden 10) wird diese zweite Dimension der Mittler hier „als Dichter oder Seher, als Redner oder als Künstler“ (Reden 11–12) bezeichnet.

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Diese Bestimmungen führt Schleiermacher dann wie folgt fort: „Ein solcher ist ein wahrer Priester des Höchsten, indem er ihn denjenigen näher bringt, die nur das Endliche und Geringe zu fassen gewohnt sind; er stellt ihnen das Himmlische und Ewige dar als einen Gegenstand des Genußes und der Vereinigung, als die einzige unerschöpfliche Quelle desjenigen, worauf ihr ganzes Dichten gerichtet ist.“ (Reden 12) In dieser Aussage wird die Kommunikationsbedeutung des Mittlers in zweierlei Richtungen ausdifferenziert: Der Mittler verbindet Gott und die „eingeschränkten“ und „gemeine[n]“ Menschen dadurch, dass er diesen das Göttliche („das Himmlische und Ewige“) darstellt, und zwar einerseits als den Gegenstand des Anziehungstriebs86 und der Vereinigung der beiden Extrempole des Geistes. Diese Darstellungsrichtung wird an einer späteren Stelle untermauert: „Dies ist das höhere Priesterthum, welches das Innere aller geistigen Geheimnisse verkündigt, und aus dem Reiche Gottes herabspricht“ (ebd.).87 Andererseits stellt der Mittler das Göttliche als die einzige Quelle aller menschlichen Äußerungsformen dar. Diese Darstellungsrichtung des Mittlers bringt der Redner an einer späteren Stelle wieder zum Ausdruck: „[D]ies ist die Quelle aller Gesichte und Weissagungen, aller heiligen Kunstwerke und begeisterten Reden“ (ebd.). Nun erlaubt das von Gott ausgerüstete Darstellungsvermögen dem Mittler, seinen Einfluss auf den „eingeschränkten Menschen“ auszuüben, das heißt, „den schlafenden Keim der besseren Menschheit zu weken, die Liebe zum Höchsten zu entzünden, das gemeine Leben in ein höheres zu verwandeln, die Söhne der Erde auszusöhnen mit dem Himmel, der ihnen gehört, und das Gegengewicht zu halten gegen die schwerfällige Anhänglichkeit des Zeitalters an den gröberen Stoff“ (ebd.). Ausgehend von diesem Zitat lässt sich feststellen: Durch das Darstellungsvermögen des Mittlers kann die Kluft zwischen der höheren Menschheit und den „eingeschränkten Menschen“, und das bedeutet auch zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen sowie zwischen dem Himmlischen und dem Irdischen überbrückt werden. Anders gesagt: Nur durch dieses Darstellungsvermögen des Mittlers können diese beiden entgegengesetzten Seiten miteinander verbunden werden.88 Damit haben wir die beiden Aspekte des Mittlers ins Auge gefasst: geschichtsphilosophisch als „Helden Gesetzgeber Erfinder Bezwinger der Natur“ und kommunikationstheoretisch als „Dichter Seher Redner Künstler“. Im ersten Aspekt zeigt

86 Vgl. Reden, 5: „Jener [sc. der Anziehungstrieb] ist auf den Genuß gerichtet, er strebt die einzelnen Dinge an, […]“. 87 Vgl. Reden, 9: „In die Geheimnisse einer solchen zur Ruhe gebrachten Mischung dringt nur der gedankenvolle Kenner ein, […]“. 88 An dieser Stelle ist noch zu beobachten, dass Schleiermacher sich durch seinen Mittlergedanken von dem Materialismus seiner Zeit distanziert. Auch aufgrund seiner kommunikativen Bedeutung wird der Mittler als „ein wahrer Priester des Höchsten“ (Reden 12) bezeichnet – wiederum geht es hier nicht um eine genuin religiöse Funktion, sondern um die symbolisierende oder sinndeutende Kraft dieser Klasse von Mittlern.

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sich der Mittler als Gestalter, im zweiten fungiert er als Darsteller – diese beiden Aspekte sind deutlich voneinander unterschieden. Diese doppelseitige Bestimmung des Mittlers ist terminologisch und sachlich auf das handlungstheoretische Schema von Organisieren-Symbolisieren in Schleiermachers Philosophischer Ethik beziehbar, die er während seiner halleschen Professur zum ersten Mal systematisiert und später noch vertiefend entfaltet hat.89 In exakt diesem Sinne bezeichnen wir diese zweite anthropologische Vertiefung der Polaritätstheorie als eine ethische.90 Vor allem in kommunikationstheoretischer Hinsicht, wonach der Mittler als „ein wahrer Priester des Höchsten“ (ebd.) durch sein Darstellungsvermögen den Willen und die Werke der Gottheit vermittelt und somit das Göttliche und das Irdische oder das Unendliche und das Endliche verbinden kann, erhellt sich die religiöse Bedeutung des Mittlers. Wie gezeigt wurde, ist dieser Bedeutung des Mittlers in der Forschungsgeschichte schon viel Beachtung geschenkt worden. Unsere Untersuchung zeigt aber, dass Schleiermachers Mittler-Konzept darüber hinaus grundlegend anthropologisch fundiert und ausgerichtet ist. Es dient der Überwindung der Kluft zwischen der vollkommenen Menschheit und den „eingeschränkten“ Menschen, damit die eingeschränkten Menschen – Idealisten oder Sensualisten – auf eine höhere Menschheitsstufe steigen können. Die beiden Dimensionen des Mittlers, sowohl die geschichtsphilosophische als auch die kommunikationstheoretische, verhelfen dazu, diese Aufgabe zu leisten. Der Mittler übernimmt, wie es bei Schleiermacher pointiert heißt, „das Priesterthum der Menschheit“ (ebd.). Die hier entfalteten Überlegungen legen es nun nahe, der anthropologischen Bedeutung des Mittlers eine ursprünglichere und grundlegendere Funktion beizumessen als der religiösen. Letztere baut auf jener auf. Über das Verhältnis von Religionstheorie und Anthropologie hinaus lässt sich an dieser Stelle ein weiteres, Schleiermachers Werkbiographie betreffendes Ergebnis festhalten. Insofern die doppelseitige Bestimmung des Mittlers terminologisch und sachlich auf das handlungstheoretische Schema von Organisieren-Symbolisieren in seiner Philosophischen Ethik verweist, ist der erst in letzterer vorgelegte und erläuterte Gedanke – Religion als individuelles Symbolisieren – schon in der ersten Auflage der Reden angedeutet. Dieser Gedanke wird in dem zweiten Teil unserer Studie thematisiert und untersucht werden.

89 Zum handlungstheoretischen Schema in der Philosophischen Ethik Schleiermachers vgl. unten: Kapitel 3. Die handlungstheoretische Grundlegung der Kulturtheorie. 90 Der Begriff des Mittlers entspricht hier dem Begriff des „großen Mannes“ in seiner Geschichtsphilosophie in Schleiermachers bekannter Berliner Akademierede. Friedrich Schleiermacher: Ueber den Begriff des großen Mannes (1826), in: SW III/3, 73–84. Dazu vgl. Wilhelm Gräb: Humanität und Christentumsgeschichte. Eine Untersuchung zum Geschichtsbegriff im Spätwerk Schleiermachers, Göttingen 1980, 53–55; Martin Ohst: Schleiermacher und die Bekenntnisschriften, Tübingen 1989, 83; Markus Schröder: Das Wesen des Christentums (1996), 171.

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1.4 Die kommunikative Geistesbildung im Zusammenhang mit den Monologen (1800) Die Konstruktion der Mittler entsteht aus der Notwendigkeit, die vollkommene Menschheit und die eingeschränkte Menschheit zu vermitteln. Hierbei stellt sich die Frage: Könnte es sein, dass der Mittler für die Entwicklung des Menschen irgendwann nicht mehr notwendig sein wird? Das hat Schleiermacher in der ersten Rede nur gewünscht: „Möchte es doch je geschehen, daß dieses Mittleramt aufhörte, und das Priesterthum der Menschheit eine schönere Bestimmung bekäme! Möchte die Zeit kommen, die eine alte Weissagung so beschreibt, daß keiner bedürfen wird, daß man ihn lehre, weil alle von Gott gelehrt sind!“ (Reden 12–13) Das heißt, in einem Idealzustand der Menschheitsentwicklung werde der Mittler nicht mehr gebraucht, denn alle Menschen seien von Gott direkt beeinflusst. In diesem Idealzustand bedürfe man nur „der sanften Stille heiliger Jungfrauen“ (Reden 13), damit man sich selbst mit Gott „unterhalten“ könnte; und in diesem Idealzustand sollte es nur ein einziges Bestreben geben: „das einzige Bestreben desselben würde sein, die innige und verborgene Gluth ins Gleichgewicht zu setzen bei allen“ (ebd.). Vergegenwärtigt man sich eine frühere Stelle, worin Schleiermacher die oben skizzierte Zeit- bzw. Krisendiagnose anstellt und nach einer Lösung dafür sucht,91 so lässt sich das zuletzt Zitierte in der Weise verstehen, dass im besagten Idealzustand alle Menschen selbst den „gewißen Punkt“ (Reden 9) finden können, um die vollkommene Balance zwischen beiden Extrempolen der geistigen Welt halten zu können. Dem Wunsch, dass ohne Mittler man sich selbst zu der höheren Menschheit entwickeln könne, folgt nun die anspruchsvolle Frage: Wie können die „eingeschränkten“ bzw. „gemeine[n]“ Menschen das selbst tun? Das könne nur aus einer „angestrengten und durchgeführten Selbstbildung“ (ebd.) erfolgen. Darauf hatte der Redner uns an dieser früheren Stelle verwiesen. Nun versucht er, diesen Selbstbildungsprozess unter den Bedingungen des Idealzustands zu veranschaulichen. Zunächst kommt dieser Prozess in der folgenden Passage zum Ausdruck: „Jeder leuchtete dann in der Stille sich und den Andern, und die Mittheilung heiliger Gedanken und Gefühle bestände nur in dem leichten Spiele, die verschiedenen Strahlen dieses Lichts jezt zu vereinigen, dann wieder zu brechen, jezt es zu zerstreuen, und dann wieder hie und da auf einzelne Gegenstände zu konzentriren.“ (Reden 13) Hierbei ist zu bemerken, dass sich die „heilige[n] Gedanken und Gefühle“ – vor dem Hintergrund der bisher entfalteten anthropologischen Überlegungen Schleiermachers gelesen – auf die vollkommene Menschheit beziehen. Aus diesem Zitat ergibt sich au-

91 Mehr dazu vgl. Reden, 9: „Wie sollen diese äußersten Entfernungen zusammengebracht werden, um die lange Reihe in jenen geschloßenen Ring zu gestalten, der das Sinnbild der Ewigkeit und der Vollendung ist? Es giebt freilich einen gewißen Punkt, wo ein fast vollkommenes Gleichgewicht beide vereiniget, […]“.

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ßerdem, dass jeder Mensch sich selbst und andere Menschen durch Mitteilung beeinflussen kann. Die Mitteilung der vollkommenen Menschheit ist keine geheimnisvolle Aufgabe, sondern kann in drei Schritten konkretisiert werden: zuerst die unterschiedlichen Darstellungen jedes Menschen – die „verschiedenen Strahlen dieses Lichts“ – zu vereinigen, danach sich mit diesen Darstellungen auseinanderzusetzen, schließlich neue Gegenstände bzw. neue Gedanken und Gefühle wieder darzustellen. Sodann fährt Schleiermacher fort: „Man könnte gemeinschaftlich ins Innere des Heiligthums eindringen, da man sich jezt nur in den Vorhöfen mit den Elementen beschäftigen muß. Mit Freunden und Theilnehmern vollendete Ideen tauschen, wie viel erfreulicher ist dies, als mit kaum entworfenen Umrißen herausbrechen müßen in den leeren Raum!“ (Reden 13–14) Die ideale Menschheitsentwicklung setzt das vergemeinschaftende Zusammenleben aller Menschen voraus. Denn nur die Vergemeinschaftung des Lebens ermöglicht den Austausch der eigenen Ideen mit den Ideen der Fremden, die mir ebenfalls einleuchten können. In diesem Zusammenhang übt Schleiermacher wieder eine Kritik am eigenen Zeitalter: „Aber wie weit sind jezt diejenigen, zwischen denen eine solche Mittheilung stattfinden könnte, von einander entfernt, mit solcher weisen Sparsamkeit in der Menschheit vertheilt wie im Weltenraum die verborgenen Punkte[,] aus denen der elastische Urstoff sich nach allen Seiten verbreitet, so nemlich, daß nur eben die äußersten Gränzen ihrer Wirkungskreise zusammenstoßen – damit doch nichts ganz leer sei – aber wohl nie einer den andern antrift.“ (Reden 14) In dieser Kritik erklärt Schleiermacher, wieso die Menschen sich in der jetzigen Zeit nicht zu einer höheren Menschheit bilden können. Der Grund besteht in ihrer vereinzelten Lebensform. Sie leben zwar zusammen, aber bei ihnen gilt nur das Zusammenkommen der äußeren Merkmale, kein inneres Antreffen des einzelnen Menschen mit seinen Mitmenschen auf der Menschheitsebene. Somit findet bei ihnen jener Austausch der Menschheit nicht statt. Darauf folgt dann die für diesen Zusammenhang wichtigste Aussage: „Weise freilich: denn um so mehr richtet sich die ganze Sehnsucht nach Mittheilung und Geselligkeit allein auf diejenigen, die ihrer am meisten bedürfen, um so unaufhaltsamer wirkt sie dahin, sich die Mitgenoßen selbst zu verschaffen, die ihr fehlen.“ (ebd.) An dieser Stelle tauchen zwei Grundbegriffe der Aufklärung – Mitteilung und Geselligkeit – bei Schleiermacher zum ersten Mal parallel auf und damit leistet er seiner Überzeugung Vorschub, dass im wahren menschlichen Zusammenleben Mitteilung und Geselligkeit der Menschheitsentwicklung – sowohl jedes einzelnen Menschen als auch seiner Mitmenschen – zugrunde liegt. Alle Menschen ergänzen sich und stützen einander, indem sie den Anderen zeigen, was die Anderen nicht haben. Dadurch wachsen alle Menschen zusammen. Das ist der Idealzustand der Menschheitsentwicklung. Der Redner ist der Auffassung, dass auch in seiner Zeit „eine solche Mittheilung stattfinden könnte“ (ebd.), denn die Sehnsucht nach Mitteilung und Geselligkeit sei eine unwiderstehliche Gewalt und Natur für jedes Menschsein: „Eben dieser Gewalt liege ich unter, eben diese Natur ist auch mein Beruf.“ (ebd.) Mitteilung und Geselligkeit gelten als grundlegende Begriffe in

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Schleiermachers religionsphilosophischem und theologischem Gedankensystem. Auf die beiden Begriffe wird deshalb später zurückzukommen sein.92 Zuletzt haben wir gezeigt, dass Schleiermacher in der ersten Rede seiner Reden über die Religion (1799), im engen Anschluss an seinen anthropologischen Mittlergedanken, eine Konzeption der intersubjektiven kommunikativen Selbstbildung des Geists entfaltet hat. Allerdings bieten die Reden lediglich einen ersten Zugang zu diesem Thema. Eine präzisere Darstellung zeigt sich in den wenig später erschienenen Monologen (1800). Letztere bauen im Rahmen seiner genialen Individualitätstheorie die hier thematisierte Idee der intersubjektiven Mitteilung sowie den von dieser Mitteilung ermöglichten Prozess der Selbstbildung systematisch aus. Auf diesem Wege werden Schleiermachers anthropologische Überlegungen wesentlich erweitert und vertieft. Blickt man auf unsere Rekonstruktion der anthropologischen Geisttheorie in den Reden insgesamt zurück, so ist festzuhalten: Spätestens mit der Jugendschrift Über den Wert des Lebens (1792/93) rückt die Anthropologie verstärkt in den Fokus Schleiermachers. Eine entscheidende gedankliche Vertiefung erfahren seine diesbezüglichen Überlegungen durch die Auseinandersetzung mit den natur- und geistmetaphysischen Theorien der anderen Frühromantiker. In den Reden bündelt sich dieser Reflexionsprozess in Gestalt eines anthropologisch fundierten Geistverständnisses, das hier im Rahmen seiner Apologie der Religion zu stehen kommt. Den vorläufigen konzeptionellen Höhepunkt erfährt diese Entwicklung im Individualitätskonzept der Monologen von 1800, dem wir uns nun zuwenden.

2 Das neue Individualitätskonzept in den Monologen (1800) In der im Herbst 1799 niedergeschriebenen und im Januar 1800 anonym veröffentlichten Schrift Monologen. Eine Neujahrsgabe93 legt Schleiermacher seinen Zeitgenossen der Frühromantik ein Lebensideal vor, indem er auf eine sehr persönliche Weise, nämlich mittels der Form des Selbstgesprächs, versucht, das Problem der menschlichen Individualität zu beschreiben.94 Theoretisch handelt es sich um das

92 Vgl. unten: Kapitel 1. 2. Das neue Individualitätskonzept in den Monologen und Kapitel 1. 3. Der Begriff der Geselligkeit in dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799). 93 Zur Erscheinung der Monologen vgl. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 1)(1970), 459– 462; Günter Meckenstock: Historische Einführung (1988), in: KGA I/3, XV–XL; Kurt Nowak: Schleiermacher (2001), 113–115. Neben der Urfassung von 1800 hat Schleiermacher noch dreimal die Monologen bearbeitet (1810, 1822 und 1829). Zu Schleiermachers Bearbeitung der Monologen vgl. Günter Meckenstock: Die Wandlung der „Monologen“ Schleiermachers (1991); ders.: Historische Einführung (1995), in: KGA I/12, LXIII–LXIX. 94 Wilhelm Dilthey bezeichnet Schleiermachers Monologen als „die vollendete anschauliche Darstellung seines Lebensideals“ (ders.: Leben Schleiermachers [Bd. 1][1970], 459). Für Ulrich Barth

2 Das neue Individualitätskonzept in den Monologen (1800)



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Verhältnis von Einheit und Vielheit in der Sphäre der Menschheit. Bei Schleiermacher entzündet sich die Frage nach dem Hervorbringen der menschlichen Individualität daran, wie man Mensch werden oder wie man sein eigenes Menschsein verwirklichen kann. Der eigene Wunsch Schleiermachers – „[s]ein eigenthümlich Sein und das Verhältniß deßelben zur Menschheit“ (Monologen 63)95 zu suchen – bringt diese beiden Aspekte ans Licht. Ein Individuum bzw. Mensch zu werden, ist dem jungen Autor zufolge nicht nur die Selbstverwirklichung, sondern auch die grundlegende sittliche Aufforderung des Lebens, wodurch die Suche nach der Individualität zugleich ein ethisches Problem wird. Die Frage nach der eigenen Identität gehört heute wohl zu den Grundfragen menschlichen Lebens. Für Schleiermacher liegt die Individualität unserer personalen Identität zugrunde.96

2.1 Der problemgeschichtliche Hintergrund Mit Hinblick auf den Werdegang des jungen Schleiermachers gehört die Individualitätsproblematik in den Monologen zu seinen anthropologischen Gedanken, womit er sich – wie im Vorangehenden herausgearbeitet – bereits in seiner Jugendzeit beschäftigte.97 In den Monologen von 1800 spitzen sich diese anthropologischen Überlegungen zu der Frage zu, wie das individuelle Subjekt überhaupt möglich ist. Ebenso wie die Reden (1799) entstehen die Monologen (1800) auch auf dem Boden der Frühromantik.98 Im problemgeschichtlichen Hintergrund stehen das Problem der Subjektivität und das Problem der Individuation als zwei unentbehrliche Säulen je-

sind die Monologen „autobiographische Selbstgespräche im poetisch-rhetorischen Stil“ (ders.: Das Individualitätskonzept der ›Monologen‹ [1994/2004], 295). Andreas Arndt interpretiert den Schreibstil der Monologen als „ein individual-ethisches, poetisch durchgebildetes Manifest, das Spekulation und Leben miteinander verbinden will“ (ders.: Geselligkeit und Gesellschaft. Schleiermachers „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ [1997], in: ders.: Friedrich Schleiermacher als Philosoph [2013], 51–63, hier 52). 95 Die vorliegende Studie zitiert nach der Originalpaginierung der Urfassung der Monologen in der KGA I/2. 96 Zu der jüngsten Forschungsliteratur zu Schleiermachers Individualitätsgedanken in den Monologen vgl. oben: 9, Fußnote 15 und 16. 97 Vgl. oben: Kapitel 1. 1. Die anthropologische Geisttheorie in den Reden (1799). 98 Zum frühromantischen Entstehungskontext der Monologen vgl. Friedrich Michael Schiele: Die Entstehung der Monologen, in: Friedrich Schleiermacher: Monologen nebst den Vorarbeiten (1902/ 1914), XIV–XXXV; Samuel Eck: Ueber die Herkunft des Individualitätsgedankens (1908); Kurt Nowak: Schleiermacher und Frühromantik (1986); Ulrich Barth: Das Individualitätskonzept der ›Monologen‹ (1994/2004), 294–295. Ulrich Barth hat darauf hingewiesen, dass Schleiermachers Individualitätstheorie „dem umfassenden Kontext frühromantischer Kulturkritik zuzuordnen“ (a. a. O., 294) ist. Vgl. ferner Johannes Michael Dittmer: Schleiermachers Wissenschaftslehre (2001), 30–44.

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der Individualitätstheorie.99 Schleiermacher ist einer der ersten Philosophen, der beide Säulen getrennt voneinander bespricht und intensiv aufeinander bezieht. Seine Individualitätstheorie geht grundsätzlich von der Beobachtung aus, dass die bisherige Subjektivitätstheorie sich nur auf ein allgemeines Subjekt bezieht, die Bestimmung des Menschen aber wesentlich im individuellen Subjekt besteht. Anders als seine Vorgänger sucht Schleiermacher nach der inneren Individuation des Subjekts und bestimmt die menschliche Individualität im Kontext der Frühromantik theoretisch neu. Mit der Entdeckung des individuellen Subjekts ist in der Frühromantik eine neue Periode der Subjektivitätstheorie eröffnet. Die beiden Phasen der Subjektivitätstheorie, die jeweils durch das allgemeine Subjekt und das individuelle Subjekt gekennzeichnet sind, werden von Georg Simmel (1858–1918) am Anfang des 20. Jahrhunderts als „[d]ie beiden Formen des Individualismus“ interpretiert.100 Problemgeschichtlich gilt Schleiermachers Diskussion über die menschliche Individualität in den Monologen einerseits als eine Fortführung der Subjektivitätsproblematik seit der Neuzeit, andererseits als eine Weiterentwicklung des in der abendländischen Metaphysik eingewurzelten Individuationsproblems. Um sein Individualitätskonzept in den Monologen zu verstehen, ist es erforderlich, das Problem der Subjektivität (2.1.1) und das Problem der Individuation (2.1.2) in ihrer philosophiegeschichtlichen Entwicklung jeweils kurz zu schildern. 2.1.1 Das Problem der Subjektivität Martin Luthers Reformation sei die Geburtsstunde der modernen Subjektivität – so Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) in seinen Vorlesungen über die Philosophie.101 Bis zur Periode der Frühromantik, in deren Kontext Schleiermachers Mono-

99 Als erster hat Ulrich Barth auf diese zwei philosophischen Prämissen des Individualitätsgedankens in den Monologen verwiesen (vgl. ders.: Das Individualitätskonzept der ›Monologen‹ [1994/ 2004], 301). 100 Georg Simmel stellt fest: „Die Idealbildung des 18. Jahrhunderts forderte isolierte und im Wesen gleichartige Individuen, die zusammengehalten waren durch ein rational-allgemeines Gesetz und durch die natürliche Harmonie der Interessen. Die für das 19. Jahrhundert charakteristische rechnete mit lauter arbeitsteilig differenzierten, zusammengehalten durch Organisationen, die gerade auf der Arbeitsteilung und dem Ineinandergreifen des Differenzierten beruhten.“ (ders.: Die beiden Formen des Individualismus [1901], 52) In dieser Aussage bedeutet das Individuum eigentlich das Subjekt. Mehr dazu vgl. Georg Simmel: Die beiden Formen des Individualismus (1901), in: ders.: Aufsätze und Abhandlungen (1901–1908), Gesamtausgabe Bd. 7/Bd. I, hg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rommstedt, Frankfurt a. M. 1995, 49–56; Ulrich Barth: Das Individualitätskonzept der ›Monologen‹ (1994/2004), 294. 101 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837/ 1970), G. W. F. Hegel Werke 13, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986, 494. Zu Hegels Deutung der Reformation vgl. Emanuel Hirsch: Fichtes, Schleiermachers und Hegels Verhältnis zur Reformation (1930), in: ders.: Lutherstudien, Bd. 2, Gütersloh 1954, 121–168; Gerhard Ebeling: Luther und Schleiermacher, in: ders.: Lutherstudien, Bd. 3, Tübingen 1985, 405–

2 Das neue Individualitätskonzept in den Monologen (1800)

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logen entstehen, darf die Entwicklung der Subjektivität in fünf Phasen geschildert werden, die jeweils durch einen Autor paradigmatisch gekennzeichnet werden können. Diese fünf Autoren sind Descartes, Leibniz, Locke, Kant und Fichte. René Descartes (1596–1650) wird als Begründer der neuzeitlichen Subjektphilosophie angesehen. Der Ausgangspunkt seiner Subjekttheorie liegt in einer Beschränkung der durch das Phänomen des Zweifelns entstandenen Gewissheitsproblematik mit der Substanzontologie. Descartes steht zwar für die Entdeckung der Subjektivität, sie ist allerdings bei ihm noch substanzontologisch gefasst. Leibniz, der als Gründer des deutschen Rationalismus bezeichnet wird, entwickelt im Zusammenhang seiner Monadenphilosophie ebenfalls eine Substanzontologie. Der Schwerpunkt seiner subjektivitätstheoretischen Gedanken besteht aber in der Unterscheidung von Perzeption und Apperzeption. Während Descartes die Subjektinstanz entdeckt, spricht Leibniz dem Menschen die Fähigkeit zur Selbstbezüglichkeit zu. Im Gegensatz zu Leibniz betrachtet John Locke (1632–1704) )Substanz als einen hochproblematischen Begriff und glaubt nicht, dass es eine Substanzidentität gibt. Er sucht nach der Identität des Subjekts, die nur durch das mentale Aufbauvermögen des Gedächtnisses des Menschen in ihrer räumlichen und zeitlichen Existenz ermöglicht werden kann. Kant steht zwischen Leibniz und Locke. Im Rahmen seiner Erkenntnistheorie streift er die bisherige Subjektivitätstheorie von der Substanzontologie ab. Ihm zufolge ist das Selbstbewusstsein die Voraussetzung aller Erkenntnisleistungen: Das Ich ist der Selbstbezug des denkenden Wesens, und deshalb stiftet das Selbstbewusstsein die Meinigkeit von Vorstellungen und die Identität einer epistemischen Instanz. Außerdem stellt Kant in seiner Moralphilosophie die Menschenwürde als einen anderen Schlüsselbegriff seiner Subjektivitätstheorie heraus. Die Grundbedeutung der Menschenwürde ist, dass niemand nur als Mittel betrachtet werden darf. Gegen die Verzweckung des Menschen spielt die Subjektfähigkeit die entscheidende Rolle. Unter dem Begriff der Menschenwürde ist bei Kant allerdings noch keine Individualität ausgesagt. Fichte überbietet Kant, weil seine Subjektivitätstheorie sich nicht allein auf die Erkenntnistheorie, sondern auf den ganzen Geist bezieht. Für Fichte ist das Ich die letzte Instanz von Erkennen und Handeln. Wichtiger ist noch, dass er den Begriff der intellektuellen Anschauung bildet, um die mentalen Fähigkeiten des Menschen zu charakterisieren. In seiner Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794) geht es noch nicht um das individuelle Ich. Um mögliche Missverständnisse abzubauen, präzisiert er in seiner späteren Phase den Begriff des Ichs mit dem Begriff der Ichheit. Die Ichheit ist eine allgemeine Struktur oder eine allgemeine Eigenschaft, die man dem Ich zuschreiben kann. Aus dieser kurzen Darstellung ist es er-

427; Ulrich Barth: Die Entdeckung der Subjektivität des Glaubens (1992), in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 27–51.

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sichtlich, dass es sich in der neuzeitlichen Subjektphilosophie zwischen Descartes und Fichte um das Subjekt im allgemeinen Sinne handelt. 2.1.2 Das Problem der Individuation Bevor wir uns dem Problem der Individuation in seiner philosophiegeschichtlichen Entwicklung zuwenden, muss auf den Unterschied zwischen den beiden Begriffen Individuation und Individualität hingewiesen werden. Wohl bedeutet das Individuum im allgemeinen Sinne ein Einzelnes, aber die Individualität ist nicht identisch mit der Individuation. Als eines der größten und ältesten Probleme der Philosophie fragt das Problem der Individuation im metaphysisch-ontologischen Kontext nach dem Besonderen im Allgemeinen, nämlich: Was macht das Einzelne als Einzelnes eigentlich aus? Dabei bezieht sich die Individualität auf die Individuation des Menschen. So kann der innere Zusammenhang beider Begriffe wie folgt geklärt werden: Die Individualität gehört zu dem Problem der Individuation, die Individuation gilt als ein weiter gefasster Begriff als die Individualität. Das Individuationsproblem ist grundlegend auf die antike Philosophie zurückzuführen, und seine philosophiegeschichtliche Entwicklung kann durch folgende wichtige Autoren in fünf Stationen geschildert werden: Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, Leibniz sowie Kant.102 Dank seiner Ideenlehre in der Erkenntnistheorie kann Platon als die Geburtsstation des Individuationsproblems verstanden werden, obwohl er sich eigentlich nicht für das Problem der Besonderung interessiert. Bei ihm sind Ideen Wertprädikate, die entscheidend für das Erkennen sind. Denn mit den Ideen kann Erkenntnis stattfinden: Die Menschen können nur erkennen, wenn sie Ideen bilden. Die Bildung der Ideen ist ein Prozess der Subsumierung eines Dinges unter ein Prädikat. Mit dem „Begriff“ sprechen wir den Dingen eine Eigenschaft zu, aber immer eine Allgemeinheit. Unter der Frage nach dem Prädikat kommt es deshalb gar nicht zum Individuationsproblem. Für Platon ist es wichtiger, dass die Dinge an den Ideen teilhaben und dadurch verbunden sind.103 Aristoteles kritisiert die platonische Fassung der Ideenlehre, aber bestreitet die Ideenlehre an sich nicht. Für ihn sind die Ideen als „Begriffe“ nur Instrumente, um die wahre Wirklichkeit zu bestimmen. Viel wichtiger sind die Einzelsubstanzen, die immer individuell sind. Daraus entsteht das Problem der individuellen Substanz – das Individuationsproblem. Die individuelle Einzelsubstanz ist diejenige, der wir Prädikate zuschreiben können. Hierzu unterscheidet Aristoteles zehn Kategorien, durch die man beurteilen kann, in welcher Hinsicht man die individuelle Substanz betrachten soll.

102 Vgl. Ulrich Barth: Das Individualitätskonzept der ›Monologen‹ (1994/2004), 301–305. 103 Zu Platons Ideenlehre vgl. Andreas Graeser: Die Philosophie der Antike. 2. Sophistik und Sokratik, Platon und Aristoteles, in: Wolfgang Röd (Hg.): Geschichte der Philosophie, Bd. II, München 1975 129–150; Karl Neumann: Art. Idee (1976), in: HWPh, Bd. 4, 56–59.

2 Das neue Individualitätskonzept in den Monologen (1800)



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Durch Aristoteles ist im Mittelalter das Individuationsproblem zum Schlüsselproblem für die Diskussion der Logik, Metaphysik und Ontologie geworden. In dieser Station sind zwei wichtige Autoren zu nennen: Thomas von Aquin (1225–1274) und Johannes Duns Scotus (1266–1308). Für Thomas von Aquin hat das Allgemeine immer den Status einer Form, die als formelle Bestimmtheit gilt, und die Form hat immer Bezug auf einen Stoff.104 So besteht die Individuation einer Form nur in ihrem Stoffbezug. Nur über diesen Stoffbezug kann das Individuelle erfasst werden. Thomas von Aquins Individuationsprinzip materia formata ist deshalb nicht in der begrifflichen Beschaffenheit, sondern nur in der stofflichen Beschaffenheit zu erkennen. Sein Materiebegriff hat einen weiteren Sinn – nicht nur die Substanzen, sondern auch die Geistestätigkeiten gehören zur Materie. Anknüpfend an das Individuationsproblem legt er seine Lösung vor: Die Formen als allgemeine individuieren sich an bestimmten Stoffen. Duns Scotus kritisiert Thomas von Aquin dahingehend, dass sein Begriff der materia formata zu voraussetzungsreich ist. Für ihn hat Materie immer einen kontingenten Ort (je diesen). So kommt die Individuation zu Stande durch den kontingenten Ort der jeweiligen Materie. Als ein okkasioneller Kunstausdruck bezeichnet diese Je-Diesheit (haecceitas) das individuelle Vorkommen eines Allgemeinen.105 In der Neuzeit vollzieht sich eine radikale Wendung des mittelalterlichen Individuationsproblems bei Leibniz. Anders als Thomas von Aquin und Duns Scotus geht Leibniz grundsätzlich von dem Besonderen aus, das bei ihm als Einzelsubstanz gilt. Nach seiner berühmten Schrift Monadologie (1714) sind alle Substanzen Individuen und das Universum besteht aus einer unendlichen Anzahl von Individuen.106 Die Aufgabe der Erkenntnis besteht darin, dass wir den Individuen-Begriff einer Sache bilden können. Unsere Erkenntnis wird aber begrenzt, wenn wir diese Individuen des Universums nicht erkennen können und uns der Mannigfaltigkeit an Einzelsubstanzen durch die Allgemeinbegriffe nähern wollen. Für ihn sind diese Allgemeinbegriffe nur die conceptus communes. Leibniz’ Individuationskonzept ist also, dass alle Dinge individuiert sind und sich die Erkenntnis auf die Individuation der Ein-

104 Thomas von Aquin hat das Thema Form und Stoff in seinem Frühwerk Über das Seiende und das Wesen (1255) diskutiert. Thomas von Aquin: De ente et essentia. Über das Seiende und das Wesen. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt und eingeleitet von Wolfgang Kluxen, Freiburg 2007. Dazu vgl. Theo Kobusch: Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters, in: ders.: Geschichte der Philosophie Bd. V, München 2011, 254–255. 105 Johannes Duns Scotus: Über das Individuationsprinzip. Ordinatio II, distinctio 3, part 1, hg. mit einer ausführlichen Einleitung von Thamar Rossi Leidi, Hamburg 2015. Dazu vgl. auch Theo Kobusch: Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters (2011), 349–351. 106 Gottfried Wilhelm Leibniz: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie (1714), Französisch-Deutsch, Hamburg 1982. Zu Leibniz’ Theorie der Individuation vgl. Christopher Zarnow: Identität und Religion (2010), 90–109, bes. 92–97.

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zelsubstanzen bezieht. Leibniz’ Modell gilt als Exklusivitätsmodell in der Diskussion über die Individuation. Kants Individuationsgedanken ist einerseits mit seiner Kritik an Leibniz’ Erkenntnistheorie verbunden107 und knüpft andererseits an die mittelalterlichen Individuationskonzeptionen an. Anders als bei Leibnitz gilt der Begriff bei Kant immer nur als allgemein. Beim vollkommenen Begriff gibt es keinen Zugang zur Individualität. Beruhend auf seiner Zwei-Stämme-Theorie der Erkenntnis, in der er zwischen sinnlicher Anschauung und verknüpfendem Verstand unterscheidet, sucht er nach einer Individuation der Dinge. Die sinnliche Anschauung, die durch die a-priori-Formen – Zeit und Raum – strukturiert ist, liegt der Individuation zugrunde. Bei Kant gründet sich die Individuation deshalb auf die Zeit-Raum-Koordinationsbestimmtheit in der sinnlichen Anschauung. Kants Individuationsprinzip geht zwar wie die mittelalterlichen Denker vom Allgemeinen aus, aber es setzt nur die Verortung im Zeit-Raum-Koordinationssystem als individuenbestimmende Bedingung. Diese Bestimmtheit in der Individuation wird von Schleiermacher als rein äußerlich kritisiert. Darauf werden wir an einer späteren Stelle näher eingehen. Bisher haben wir das Problem der Individuation in seiner philosophiegeschichtlichen Entwicklung ebenfalls kurz dargestellt. Als Ergebnis dieser kurzen Schilderung lässt sich zusammenfassen, dass das Individuationsproblem in der antiken Philosophie wurzelt und seine geschichtliche Entwicklung als eine fortlaufende Reduzierung der Individuationskriterien von materia formata über die haecceitas bis hin zu Raum und Zeit verstanden werden kann. Bis hierher haben wir das Problem der Subjektivität und das Problem der Individuation in ihrer philosophiegeschichtlichen Entwicklung jeweils kurz geschildert. Nehmen wir die beiden Entwicklungsgänge in einem Blick zusammen, so ist ersichtlich, dass sich beide Probleme bis zur Periode der Spätaufklärung theoretisch zuspitzen. Die Aufklärung liefert die Voraussetzung für eine Individualitätstheorie. Wohl ist die aufklärerische Subjektphilosophie in Kants transzendentaler Erkenntnistheorie zu ihrem Höhepunkt gelangt, aber die Frage, wie ein Subjekt sich als allgemein individualisiert, hat Kant durch sein auf dem Zeit-Raum-Koordinationssystem beruhenden Individuationskonzept nicht wirklich gelöst. Die Wendung beider Probleme geschieht in der daran anschließenden Frühromantik bei Schleiermacher, indem er die entscheidende Frage stellt, wie das Individuum als Subjekt beschrieben werden kann. Oder anders gefragt: Wie können wir vom allgemeinen Subjekt

107 Kants Kritik an Leibniz ist in der Kritik der reinen Vernunft im Kapitel „Anhang. Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe durch die Verwechslung des empirischen Verstandesgebrauchs mit dem transzendentalen“ zu sehen. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781/1787). Nach der ersten und zweiten Originalausgabe hg. von Jens Timmermann (Mit einer Bibliographie von Heiner Klemme), Hamburg 2003, A260–268/B316–324.

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zum individuellen Subjekt kommen? Wie individualisiert sich ein Subjekt? Mit dieser Fragestellung kehren wir zu Schleiermachers Monologen zurück.

2.2 Die neue Bestimmung der Individualität Wie die kurz zuvor erschienenen Reden bestehen die Monologen ebenfalls aus fünf Kapiteln bzw. aus fünf Monologen. In dieser Untersuchung wollen wir das Individualitätsverständnis Schleiermachers in den Monologen thematisieren. Wir werden dabei aber nicht einfach bloß der Reihenfolge der fünf Monologen folgen; vielmehr soll in einem systematischen Zugriff nach der Entstehung und der Entwicklung des Problems bei Schleiermacher gefragt werden, um auf diese Weise den Gedanken der Individualität zu rekonstruieren, wie er im gesamten Buch entfaltet wird. In den Reden teilt Schleiermacher das gesamte Dasein – unter Anlehnung an Schellings Naturphilosophie – in drei Elementarsphären ein: die materielle Körperwelt, die organische Welt und die humane Geistessphäre.108 Der humane Geist kennzeichnet somit den wesentlichen Unterschied zwischen dem Menschen und allen anderen Daseinsformen. Der Ausgangspunkt seiner Individualitätstheorie ist dieser Begriff des Geistes. Im Folgenden wollen wir vor dem Hintergrund dieser geisttheoretischen Grundlage zu zeigen versuchen, wie der junge Autor das individuelle Subjekt entdeckt, nämlich wie er die Individuation des Menschen bzw. dessen Individualisierungsvorgang in Bezug auf die allgemeine Verfasstheit des humanen Geistes konstruiert. Ein Abschnitt im zweiten Monolog gibt einen ersten Hinweis darauf, wie sich die Entstehung der Individualität vollzieht: So treibts der Mensch! wenn er die unwürdige Einzelheit des sinnlichen thierischen Lebens verschmähend das Bewußtsein der allgemeinen Menschheit gewinnt, und vor | der Pflicht sich niederwirft, vermag er nicht sogleich auch zu der höhern Eigenheit der Bildung und der Sittlichkeit empor zu dringen, und die Natur, die sich die Freiheit selbst erwählt, zu schauen und zu verstehn. In unbestimmter Mitte schwebend erhalten sich die Meisten, und stellen wirklich nur im rohen Element die Menschheit dar, bloß weil sie den Gedanken des eignen höhern Daseins nicht gefaßt. Mich hat er ergriffen. Es beruhigte mich nicht das Gefühl der Freiheit allein; unnüz schien mir die Persönlichkeit und die Einheit des fließenden vergänglichen Bewußtseins in mir, und drängte mich etwas Höheres Sittliches zu suchen, dessen Bedeutung sie wäre. Es genügte mir nicht, die Menschheit in ungebildeten rohen Maßen anzuschaun, welche innerlich sich völlig gleich, nur äußerlich durch Reibung und Berührung vorübergehende flüchtige Phänomene bilden. (Monologen 38–39)

Dem zitierten Abschnitt nach ist die Genese der Individualität bei Schleiermacher in drei Stufen zu verstehen. Die erste Stufe ist die Voraussetzung einer biologischen

108 Vgl. oben: Kapitel 1. 1. Die anthropologische Geisttheorie in den Reden (1799).

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Identität. Das sinnliche tierische Leben wird hier nicht negiert, sondern kommt als eine Voraussetzung für die höhere menschliche Verfasstheit zu stehen. Eine zweite Stufe ist die Entdeckung des allgemeinen Selbst, die mit der Aufgabe verbunden ist, „das Bewußtsein der allgemeinen Menschheit“ zu gewinnen bzw. das „Ich“ als ein allgemeineres Selbst abstrakt zu identifizieren. Den meisten Menschen genügt nur die Entdeckung und der Gewinn dieses allgemeinen und abstrakten Bewusstseins, wie Schleiermacher hauptsächlich in den ersten Monologen betont. Aber dies ist unserem jungen Autor nur eine Darstellung der Menschheit „im rohen Element“ und eine Anschauung der Menschheit „in ungebildeten rohen Maßen“. Es genügt ihm („mir“) deshalb nicht, weil die Verschmähung der ersten zwei Stufen noch nicht die höhere Eigenheit des Menschen ausmacht, anhand derer etwas Höheres bzw. Sittliches gesucht werden kann. Eine höchste Anschauung steht noch aus. Damit entsteht die Notwendigkeit, das individuelle Selbst herauszufinden. Die konkrete Identität des individuellen Selbst zu bestimmen und dadurch auf eigentümliche Weise Mensch zu sein und zu werden, das ist die mit der höchsten Stufe verbundene Aufgabe. Damit ist das Ziel der Individualitätsgenese bzw. die hinreichende Basis des Vollzugs der Individualisierung benannt, worauf sich der zweite Monolog konzentriert. Wie Schleiermacher die innere Grundstruktur des Geistes in der ersten Rede der Reden über die Religion (1799) nach einem unabänderlichen Gesetz allen Daseins verdeutlicht hat, haben wir bereits herausgearbeitet. Alle Beschäftigung mit dem Phänomen des humanen Geistes führt letztlich zu dem Problem der Subjektivität. Diese kann als Entdeckung der Neuzeit betrachtet werden, und ihre gedankliche Rekonstruktion gelangte über die Aufklärung schließlich bei Fichte zu ihrem Höhepunkt, so wie im Vorangehenden kurz geschildert. Auf der Basis unserer früheren Interpretation von Schleiermachers Geisttheorie wird im ersten Monolog das Problem, das als Voraussetzung des Individualitätsverständnisses fungiert, näher untersucht. Schleiermacher erntet hier die Frucht der Neuzeit und ausgehend davon entwickelt er seine eigene Subjektivitätstheorie. Der Titel des ersten Monologes wird als „Reflexion“ benannt. Der Grund hierfür besteht darin, dass Geist bzw. Subjektivität genau durch Reflexivität gekennzeichnet ist. Reflexion hat die Form von Selbstanschauung, mit der sowohl bei Kant als auch bei Fichte die fundamentale und allgemeine Selbstverhältnisstruktur des Geistes bezeichnet wird. Anders gesagt: Das Subjekt ist durch Selbstanschauung charakterisiert. Durch die Reflexion objektiviert man sich im Ich-Gedanken, woraus Selbstbewusstsein entsteht bzw. worin es sich aktualisiert. Obwohl es nicht zu verleugnen ist, dass das „Selbst“, bzw. das „Ich“ sich auf einzelne Menschen bezieht, handelt es sich doch nur um die durch die Reflexion des Geistes bestimmte allgemeine Struktur des Subjekts, oder – mit Fichtes Ausdruck – um „das absolute Subjekt“.109 Somit ist Subjektivität nur als

109 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), 260.

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Selbstheit oder Ichheit qualifiziert. Fichte selbst hat wenig später den Begriff „Ich“ durch „Ichheit“ ersetzt.110 Deswegen drückt sich in der schleiermacherschen Formulierung „ich schaue des Geistes Handeln an“ (Monologen 25) grundsätzlich noch der fichtesche Gedanke einer intellektuellen Anschauung aus: „Ich schaue mich selbst an“ oder „Anschauung der Selbstthätigkeit des Geistes“. Näher vertieft Schleiermacher diese unter Anlehnung an Fichtes intellektuelle Anschauung entstandene allgemeine Struktur des Subjekts wie folgt: „[W]er statt der Thätigkeit des Geistes, die verborgen in seiner Tiefe sich regt, nur ihre äußere Erscheinung kennt und sieht; wer statt sich anzuschaun nur immer von fern und nahe her ein Bild des Lebens und seines Wechsels sich zusammenholt, der bleibt der Zeit und der Nothwendigkeit ein Sklave“ (Monologen 12–13). Das heißt, durch die Tätigkeit des Geistes, durch Selbstanschauung des allgemeinen Ichs, kann man sich von der Sklaverei der Zeit und Notwendigkeit losreißen; die Selbstanschauung kann mich hinausheben über das Endliche, „das in bestimmter Folge und festen Schranken sich übersehen läßt“ (Monologen 24). Aber damit ist nach Schleiermacher noch nicht der Grund dessen ermittelt, wodurch man überhaupt ein individuelles Wesen wird. Die Reflexion des allgemeinen Selbst hat noch nichts mit Individualität zu tun. Blickt man an dieser Stelle auf den am Anfang zitierten Abschnitt zurück, dann ist es ersichtlich, dass die Selbstanschauung des allgemeinen Ichs noch nicht ausreichend ist, Individualisierung in Gang zu setzen. Sie fungiert aber als ihre Voraussetzung, ist somit zwar als notwendig, nicht jedoch als hinreichend anzusehen, um Individualität näher zu bestimmen. Die Aufklärung lieferte die Voraussetzung für eine solche Individualitätstheorie im Geist der Frühromantik. Das allgemeine Ich (Selbst) oder die Ichheit (Selbsttheit) stellt die Allgemeinheit der Menschen dar, ist selbst Menschheit. Das Sich-Selbst-Anschauen könnte nach Schleiermacher folgendermaßen paraphrasiert werden: „Ich schaue mich als ein allgemeines Subjekt an“ oder „ich schaue die Menschheit in mir an“. Schleiermachers Bemühen liegt nun darin, zu zeigen, dass man Individuum wird bzw. dass man die Menschheit in sich bestimmt, indem man sich als individuellen Träger des Allgemeinbegriffs Menschheit versteht. Diese Vertiefung der Anschauung sowohl des Allgemeinen als auch der ganzen Menschheit in mir, im individuellen Ich, gilt als ein Durchbruch in der Entwicklung der Subjektivitätsproblematik. Bis hierher kann gesagt werden: Ausgehend von dem seit der Neuzeit herrschenden Geistbegriff und der damit verbundenen Subjektivitätstheorie sowie

110 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797), in: ders.: Werke 1797–1798, J. G. Fichte-Gesamtausgabe, Bd. I.4, hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky unter Mitwirkung von Richard Schottky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1970, 209–269, bes. 253–258; und ders.: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797), in: ders.: Werke 1797–1798, 169– 281, bes. 278.

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durch Aufnahme und Abgrenzung von Fichtes intellektueller Anschauung entdeckt Schleiermacher die innere freie Anschauung der Menschheit in mir als die Binnenstruktur der menschlichen Individuation.111 Daraus erhellt, dass das Individualitätsproblem zuerst ein subjektivitätstheoretisches ist, aber mehr noch eine notwendige Entwicklung und Überbietung von diesem. Hiermit gehen wir auf die dritte Stufe der Individualisierung ein. Bevor wir uns nun der dritten Stufe der gesamten genetischen Entwicklung des Individuums zuwenden, worauf sich Schleiermacher im zweiten Monolog konzentriert, wollen wir in einem Seitenblick mögliche Bedingungen dieser menschlichen Individuation erwägen. Denn genau an diesem Punkt beansprucht die schleiermachersche Konzeption, eine kritische Überbietung der kantischen Theorie zu sein. Schleiermacher und Kant versuchen beide, über die Anschauung des Subjekts als Grundstruktur zur menschlichen Individuation zu kommen. Aber die Betrachtung der Bedingungen dieser über den Anschauungsbegriff näher bestimmten Individuation führt beide gleichsam auf verschiedene Wege. Während Kant die Anschauung durch die Zeit-Raum-Struktur näher bestimmt – Zeit und Raum sind die Formen der Anschauung – und die verschiedenen Zeit-Raum-Koordinaten der menschlichen Individuation zur Grunde legt, verfolgt Schleiermacher einen anderen Ansatz. Die Bestimmung eines Zeit-Raum-Koordinatensystems ist ihm rein äußerlich, dinglich und empirisch. Diese auf der Ebene von Empirie bestimmten Bedingungen „Lage“ und „Ort“ reichen hinsichtlich der Individuation des Subjekts nicht aus, da diese gemäß der Verfasstheit des menschlichen Wesens innerlich und geistig bestimmt ist. Obwohl der junge Schleiermacher von Kant lange beeinflusst ist, sucht er seit den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts ein neues Verständnis der menschlichen Individuation. Am Anfang des zweiten Monologes fasst er seine frühen Gedanken selbstkritisch zusammen: Lange genügte es auch mir nur die Vernunft gefunden zu haben, und die Gleichheit des Einen Daseins als das Einzige und Höchste anbetend, glaubte ich es gebe nur Ein Rechtes für jeden Fall, es müße das Handeln in Allen daßelbe sein, und nur wiefern weil seine eigne Lage, sein eigner Ort gegeben sei, unterscheide sich Einer vom Andern. Nur in der Mannigfaltigkeit der äußern Thaten offenbare sich verschieden die Menschheit; der Mensch,112 der Einzelne sei nicht ein eigenthümlich gebildet Wesen, sondern nur ein Element und überall derselbe. (Monologen 38)

Diese Selbstkritik macht einerseits Schleiermachers genuine Zugehörigkeit zur Neuzeit bzw. seine dezidierte Aufnahme der Subjektivitätstheorie deutlich; andererseits weist sie ausdrücklich darauf hin, dass ihm die gegenwärtige Fassung von Selbstbe-

111 Zur Fichte-Rezeption bei Schleiermacher vgl. Peter Grove: Deutungen des Subjekts (2004), 211– 218. 112 In der dritten Ausgabe von 1822 wurde der Ausdruck „der Mensch“ durch „der innere Mensch“ ersetzt (Friedrich Schleiermacher: Monologen [1822], C30, in: KGA I/12, 343).

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wusstsein inadäquat erscheint und er sich nunmehr vom Individuationskonzept des kantischen Zeit-Raum-Koordinationssystems abgrenzt. Denn die innere Bildung von Individualität kann nicht auf äußerliche Bedingungen zurückgeführt werden. Als Zwischenertrag lässt sich zusammenfassen: Für Schleiermacher ist die Genese der menschlichen Individualität in drei Stufen zu verstehen: die biologische Identität als Voraussetzung, das allgemeine Subjekt bzw. das Bewusstsein der allgemeinen Menschheit und das individuelle Subjekt bzw. die konkrete Identität des individuellen Selbst. In dieser Beschreibung der Genese der menschlichen Individualität setzt das Hervorbringen des individuellen Subjekts jene zwei Stufen voraus. Wohl entfaltet sich Schleiermachers Individualitätstheorie auf der Grundlage vom allgemeinen Subjekt der Aufklärung, jedoch fasst er in kritischer Überbietung den Begriff des Subjekts im Kontext der Frühromantik neu mit einem Individualitätskonzept. Dafür sucht er in einer kritischen Distanz zu Kant, dessen Erkenntnistheorie auf einem transzendentalen allgemeinen Subjekt basiert und die menschliche Individuation durch eine bloß äußerliche und empirische Zeit-Raum-Koordination bestimmt, nach einer Möglichkeit für die innere Individuation des Menschen. Auf dieser Basis fokussiert seine Diskussion nun auf die höchste Stufe jener Beschreibung, nämlich auf das genetische Herausarbeiten der konkreten Identität des individuellen Selbst. Damit liegt ein zweiter ideengeschichtlicher Rückschluss nahe. Während der allgemeine Subjektbegriff der Aufklärung Schleiermachers Individualitätstheorie ihre subjektivitätstheoretische Voraussetzung bietet, dient Spinozas principium individuationis als ihre logische und ontologische Grundlage. Wie anfangs herausgestellt, ist das Individualitätsproblem zuerst ein Individuationsproblem, weil die Individualität sich auf die Individuation des Menschen bezieht. Die Individuationstheorie des jungen Schleiermacher entsteht im Kontext seiner Spinoza-Rezeption, genauer gesagt, durch seine Studien über Spinozas Philosophie und seine durch Spinoza inspirierte Kritik an Leibniz und Kant.113 Dazu sind zwei Schriften aus dieser Zeit, nämlich Spinozismus (Vermutlich 1793/94) und Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems (Vermutlich 1793/94),114 zu betrachten. Um auf Schleiermachers

113 Wie die meisten seiner Zeitgenossen hat Schleiermacher Spinozas Philosophie via Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819), nämlich in der Darstellung Jacobis, studiert. Dazu vgl. Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva (2006), 140–142. Zu Schleiermachers Spinoza-Rezeption vgl. Kurt Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik (1986), 84–92; Günther Meckenstock: Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789–1794, Berlin/New York 1988, 181–217; Julia A. Lamm: The living God: Schleiermacher’s Theological Appropriation of Spinoza, Pennsylvania 1996, 13–56; Ulrich Barth: Das Individualitätskonzept der ›Monologen‹ (1994/2004), 306–309; Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva (2006), 140–227 und 330–337. 114 Friedrich Schleiermacher: Spinozismus (Vermutlich 1793/94) und Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems (Vermutlich 1793/94). Hier zitiert nach der Paginierung der KGA I/1.

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Konzept der menschlichen Individualität näher einzugehen, wollen wir daher zunächst einen Überblick über seine Spinoza-Rezeption geben. Leibniz vollzog eine radikale Wende der mittelalterlichen Konzeption, die vom Allgemeinen auf das Besondere schloss, indem er bloß von dem Besonderen bzw. der Einzelsubstanz, der Monade, ausging. Alle Dinge sind ihm zufolge individuiert – singulär und exklusiv. Das heißt: Jede Monade hat die Eigenschaft, die nur sie hat und niemand anderer besitzt, und zwischen keinen Monaden besteht eine Gleichheit.115 Dieses Modell wird als Exklusivitätsmodell der Individuation bezeichnet. Nach Schleiermacher geht Spinoza, anders als Leibniz, vom Allgemeinen und vom Unendlichen aus – „Das Unendliche Ding des Spinoza sei nur ein allgemeines Ding.“116 Spinoza sei der Meinung, dass Leibniz’ doppelter Versuch, den Unterschied zwischen verschiedenen einzelnen Monaden zu bestimmen, misslingt. Der junge Schleiermacher hat das Problem in seiner Schrift Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems in zwei Teilen thematisiert. In dem ersten wird das Problem unter der Überschrift „Ueber die Gründe für und wider eine extramundane Ursach“ behandelt: Nach Leibniz liege der Unterschied zwischen der unendlichen und der endlichen Monade darin, dass jene diese geschaffen habe. Spinoza kritisiert, der Art nach gebe es zwischen beiden nur einen graduellen Unterschied. Dadurch könne der Leibnizianismus „weder einzelne Vorstellung noch einzelne Willensbestimmung enthalten“,117 also nur etwas Unbestimmtes. Darauf folgend kommt das Problem im zweiten Teil unter der Überschrift „Ueber die Beschaffenheit des der Sinnenwelt zur Grunde liegenden“ zum Thema: Nach Leibniz erzeugen die verschiedenen Arten der Abhängigkeit einer Monade von den anderen oder die Wirkungen von einer auf die anderen den Unterschied zwischen einer unendlich großen Menge von Monaden.118 Spinoza kritisiert, diese Unterschiede zwischen der schlafenden und wachenden Monade, zwischen der wirkenden und der gewirkten, seien „also bloß durch die Art ihrer Vereinigung mit andern unterschieden“.119 Es bestehe kein

115 Vgl. dazu Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie (1714), 8: „Doch müssen die Monaden irgendwelche eigentümlichen Beschaffenheiten haben, anderenfalls sie gar keine Wesen sein würden.“ Und a. o. O., 9: „Es muß sogar jede einzelne Monade von jeder anderen verschieden sein. Denn es gibt niemals in der Natur zwei Wesen, die einander vollkommen glichen und bei denen sich nicht ein innerer oder ein auf eine innere Bestimmtheit gegründeter Unterschied entdecken ließe.“ Hier zitiert nach der Paginierung in der Ausgabe von Gottfried Wilhelm Leibniz: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie (1714), Hamburg 1982. 116 Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems (Vermutlich 1793/94), 568. 117 A. o. O., 570. 118 Vgl. dazu Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie (1714), 51: „Denn da eine geschaffene Monade keinen physischen Einfluß auf das Innere der andern nehmen kann, so kann einzig auf diesem Wege die eine abhängig von der anderen sein.“ 119 Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems (Vermutlich 1793/94), 571.

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wesentlicher Unterschied. Mit ihnen könnte kein „absolutes Individuum“ konstituiert werden, sondern nur ein „scheinbares“. Das heißt, wenn man, wie Leibniz, nur vom Individuum ausgeht, dann ist es unmöglich, ein Allgemeines zu erreichen. Beide Autoren – Leibniz und Spinoza – konstruieren ein Vereinigungsverhältnis, dennoch unterscheiden sie sich nach Schleiermacher auch an diesem Punkt: Leibniz’ Vereinigung ist eine von Monaden untereinander, nämlich von einem Individuum mit anderen Individuen. Diese Vereinigung ist als eine von mehreren Monaden bzw. von mehreren Einzelnen zu einem „aggregatum substantiale“ qualifiziert. Spinozas Synthese hingegen ist die von allgemein gegebenen Elementen zu einer einzelnen Entität. Diese zwei Vereinigungen also sind wesentlich unterschieden. Schleiermacher folgt dabei dem spinozistischen Vereinigungsmodell: „Jedes einzelne Ding ist ein Aggregat von verschiedenen Mischungen der unmittelbaren und mittelbaren modorum im Verhältniß zu allen andern ähnlichen Dingen.“120 Unter Anlehnung an Spinozas Kritik an Leibniz fasst Schleiermacher, sein früheres Indviduationsverständnis aufgreifend, folgendermaßen zusammen: „Was macht die Individualität der Erscheinungen aus? Offenbar nichts anderes als die Cohäsion, die identische Vereinigung der Kräfte einer gewißen Masse an einem Punkt.“121 Nehmen wir die beiden Zitate zusammen, so ist offensichtlich, dass für Schleiermacher die spinozistische Mischung von allgemein gegebenen Elementen als entscheidend für die Individuation der Dinge gilt. An dieser Stelle ist noch zu bemerken, dass beim jungen Autor die Begriffe „Aggregat“, „Mischung“, „Cohäsion“ und „Vereinigung“ als synonym verwendet werden.122 Dieser Grundgedanke zur Individuation ist allerdings nur auf die dingliche Ebene beschränkt. In den Reden und in den Monologen folgt Schleiermacher zwar noch seiner früheren Entdeckung des spinozistischen Mischungsmodells, wendet nun aber dieses ursprünglich auf die dingliche Welt bezogene Konzept auf die humane Geistessphäre an. Damit entwickelt er sein Konstellationsmodell, das die logische Struktur der menschlichen Individuation bereitstellt. In Übereinstimmung mit dem spinozistischen Mischungsmodell aus der dinglichen Welt geht sein Modell vom Allgemeinen aus. Dabei setzt dieses Modell den Sachverhalt voraus, dass jeder Mensch ähnliche Eigenschaften besitzt, die den Menschen allgemein gegeben sind. Damit grenzt Schleiermacher sich grundlegend nicht nur vom Leibnizischen Exklusivitäts-

120 A. o. O., 578. 121 A. o. O., 573–574. 122 Christof Ellsiepen hat darauf hingewiesen, dass „Mischung“ und „Aggregat“ in der naturwissenschaftlichen Auffassung aber „durch die Art der Verbundenheit“ unterschieden werden: Während die Elemente im Aggregatszustand „nur äußerlich“ beisammen sind und „durch physikalischmechanische Eingriffe“ wieder voneinander gesondert werden können, sind sie in der Mischung dagegen „eine echte innere Verbindung eingegangen, die nur durch Eingehen neuer chemischer Verbindungen gelöst werden kann.“ (ders.: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva [2006], 335–336)

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modell ab, sondern er distanziert sich auch von dem damals von Wilhelm von Humboldt vertretenden Subtraktionsmodell menschlicher Individualität, das durch die Subtraktion allgemeiner Elemente exklusive Elemente auffindet und dadurch den individuellen Menschen bestimmt.123 In diesem Kontext fährt Schleiermacher in den Monologen wie folgt fort: „So ist mir aufgegangen, was jezt meine höchste Anschauung ist, es ist mir klar geworden, daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit Alles was aus ihrem Schooße hervorgehen kann.“ (Monologen 39–40) Durch diese Aussage rückt das Grundprinzip seiner Individualitätstheorie ins Licht: Die Individualität ist die eigentümliche Darstellung der Menschheit („auf eigne Art“) und jeder Mensch eine individuelle Offenbarung der Menschheit, und sie wird durch die innere und individuelle Vereinigung, nämlich durch die nur für genau dieses Individuum charakteristische Mischung der allgemeinen Elemente der Menschheit, realisiert. Hierbei ist die Menschheit, oder anders gesagt, die Humanität, als Inbegriff oder Allgemeinbegriff für die Eigenschaften, die alle Menschen charakterisieren, vorgestellt. Dieser im 18. und 19. Jahrhundert in vielen philosophischen und theologischen Abhandlungen aufkommende und zunehmend dominierende Menschheitsbegriff, der als qualitativer Maßstab für humanes Dasein fungiert und zugleich viele unterschiedliche Aspekte beinhaltet, meint etwas anderes als der Menschheitsbegriff von heute, der mehr als Inbegriff oder Kollektivbegriff aller Menschen gilt.124 „Menschheit in mir“ oder „Menschheit in sich“, die unser Autor später vielfach als eigentümliches Dasein des Menschen herausstellt, ist eine der unendlich verschiedenen Gestalten von Menschheit. Diese ist das be-

123 Zum damaligen Exklusivitäts- oder Subtraktionsmodell von Individualität vgl. Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva (2006), 332. Ellsiepen stellt fest: „Schleiermacher verwirft das Substraktionsmodell menschlicher Individualität deshalb sowohl auf der Ebene der Anlage als auch auf der der Entfaltung.“ (a. a. O., 333) 124 Zum Begriff „Menschheit“ im 18. und 19. Jahrhundert vgl. Hans Erich Bödeker: Art. Menschheit, Menschengeschlecht (1980), in: HWPh, Bd. 5, bes. 1129–1134; und Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. VI (1885), 2077–2081. Auf die verschiedenen theoretischen Dimensionen des Menschheitsbegriffs, der sowohl in den Reden als auch in den Monologen eine entscheidende Rolle spielt, hat Christof Ellsiepen bereits verwiesen: „Der den ‚Reden‘ wie den ‚Monologen‘ zugrunde liegende Menschheitsbegriff ist ein hochkomplexes Gebilde. Metaphysische, pädagogische, individualitäts- und sozialitätstheoretische sowie geschichtsphilosophische Aspekte durchdringen sich in diesem Begriff.“ (ders.: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva [2006], 327) Zum Begriff der Menschheit in den Monologen stellt Christof Ellsiepen fest: „Es geht hier nicht um die Gattung Mensch als ein Kollektivum, sondern um deren wesentliche Beschaffenheit, die Qualität des Humanen, welche in der Gestalt von gemeinsamen Anlagen als Entwicklungsmöglichkeiten menschlichen Geisteslebens das Menschsein überhaupt ausmacht und als solches allen Menschen angeboren und gemeinsam ist.“ (a. a. O., 331)

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stimmte Wesen jedes einzelnen Menschen. Jeder Mensch vereinigt in sich auf eigene Weise die allgemeinen Elemente der Menschheit zu einem individuellen Wesen. Aber wie sind die allgemeinen Elemente auf eigentümliche Weise innerlich vereinigt, damit die Menschheit zu einer eigenen Gestalt der Menschheit individualisiert werden könnte? Damit kehren wir zu Schleiermacher selbst zurück: „Der Gedanke allein hat mich empor gehoben und gesondert von dem Gemeinen und Ungebildeten das mich umgiebt, zu einem Werk der Gottheit, das einer besondern Gestalt und Bildung sich zu erfreuen hat; und die freie That, die ihn [sc. den Gedanken] begleitete, hat um sich versammelt und innig verbunden zu einem eigenthümlichen Dasein die Elemente der menschlichen Natur.“ (Monologen 40) Nimmt man die beiden Aussagen zusammen, so ist erkenntlich, dass der Gedanke und die freie Tat besonderes Gewicht bekommen. Des Näheren begleitet die freie Tat den Gedanken der Individualität zugleich, womit das eigentümliche Dasein jedes Menschen durch die innere Sammlung und Verbindung der Elemente der menschlichen Natur entsteht. Damit ist an dieser Stelle nicht zu übersehen, dass Schleiermacher hier ideengeschichtlich auf Kants Spontaneitätstheorie rekurriert. Während Schleiermacher Kants Zeit-Raum-Koordinationssystem als äußerliche Fassung von Individuationsbedingungen kritisieren konnte, eignet er sich Kants Spontaneitätstheorie in der Freiheitskonzeption als neue Lichtquelle seiner Individuationsgedanken an.125 Sowohl Gedanke als auch freie Tat sind hier, im Sinne Kants, Tätigkeit des Subjekts, freie Aktivität des Geistes. Denn ohne die Wirkung des Spontaneitätsmoments des Subjekts ist die Vereinigung der allgemeinen Elemente der Menschheit undenkbar. Genau an diesem Punkt zeigt sich ein Fortschritt von Schleiermachers Konstellationsmodell der Individuation in Vergleich zum spinozistischen Mischungsmodell. Bereits hier darf festgestellt werden, dass die Individualität bei Schleiermacher keine exklusive Eigenschaft ist, sondern die jeweilige eigentümliche Konstellation; kein äußeres Verhältnis, sondern ein freies Selbstverhältnis. Die durch die spontane Vereinigung zu einem eigentümlichen Dasein des Menschen gelangte Individuation zeichnet den Standpunkt der Individualisierung unter logischen Gesichtspunkten aus. Demzufolge kann gesagt werden, dass dem menschlichen Individuationsmodell Schleiermachers in den Monologen die Verschränkung des spinozistischen Mischungsmodells mit dem kantischen Spontaneitätsgedanken zugrunde liegt.126 Die menschliche Individuation ist das Hervorbringen der Individualität durch die innere Mischung der allgemeinen Elemente der menschlichen Natur in einer einzelnen Person. Um diesen Prozess zu plausibilisieren, rekurriert Schleiermacher auf Selbstbildung; genauer gesagt ist die Individuali-

125 Zu Schleiermachers Kant-Rezeption vgl. Peter Grove: Deutungen des Subjekts (2004), 195–222. 126 Vgl. dazu Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva (2006), 211– 227.

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tät ihm zufolge nur durch die eigene Selbstbildung jedes Einzelnen zu konkretisieren und zu realisieren. Das Resultat der menschlichen Konstellation, die durch die freie Tat in der Mischung der allgemeinen „Elemente der menschlichen Natur“ (ebd.) realisiert wird, ist für Schleiermacher aber noch nicht das Endziel der Individualisierung, sondern nur das „unabhängige[] und eigene[] Dasein“ (Monologen 43). Dieses eigentümliche Dasein des Menschen eröffnet bloß den Zugang dazu, Mensch zu werden, und es kommt nur „schwer und spät“ (Monologen 41) – nicht ungehindert und erst am Ziel der Geistesentwicklung – als das volle Bewusstsein seiner Individualität zur Entfaltung. Wichtig ist aber, dass ein Mensch „prophetisch“ weiß, was er „noch sein und werden kann“ (ebd.). Das bedeutet potenzielle Ich-Möglichkeiten, stets mehr zu sein und zu werden. Die Selbstbildung hat das Ziel, die Aneignung dieser Möglichkeiten zu verwirklichen, damit man überhaupt erst Mensch wird. Diese Zielbestimmung zeigt, dass Mensch-Werden und Sich-Bilden bei Schleiermacher als deckungsgleich verstanden werden können, beide Male geht es um die Erlangung von Identität. Daraus stellt sich bei Schleiermacher die Frage: „Wie sollt auch wohl der Mensch, nachdem er einmal zum unabhängigen und eigenen Dasein gelangt ist, mitten im Werden und sich Bilden plözlich eine andere Natur annehmen, eine andere Seite der Menschheit ergreifen, ohne die erste zur höchsten Vollkommenheit gebracht zu haben?“ (Monologen 43) Anders gefragt: Wie kann das Sich-Bilden bzw. das Mensch-Werden verwirklicht werden? Damit gehen wir im Folgenden näher darauf ein, wie der Autor den Begriff des Sich-Bildens und den Prozess des Sich-Bildens konkretisiert. Das Sich-Bilden wird in erster Linie kategorial differenziert, indem der Autor es dem Begriff des künstlerischen Bildens gegenübergestellt. Schleiermacher hält diese zwei unterschiedlichen Bildungsprozesse für den zweifachen Beruf des Menschen: „Zu sehr ists zweierlei die Menschheit in sich zu einer entschiedenen Gestalt zu bilden und in mannigfachem Handeln sie darzustellen, oder sie [sc. Menschheit] kunstreiche Werke verfertigend äußerlich so abzubilden, daß jeder erbliken muß, was einer zeigen wollte.“ (Monologen 44) Hierbei verschränken sich zwei Unterschiede, zum einen der Gegensatz der beiden Arten des Bildens, zum anderen der zwischen Bildung und Darstellung. Wenden wir uns dem ersten Gegensatz zu. Das Bilden richtet sich einmal auf das Innere und betrifft als solches jeden Menschen selbst: Das ist Sich-Bilden. Im Gegensatz dazu richtet sich das künstlerische Bilden auf das Außen, um dabei die Menschheit abzubilden oder nachzuahmen. Damit ist die Selbst-Bildung klar von jeglicher Tätigkeit des Künstlers methodisch abgegrenzt. Dieser grundsätzliche Unterschied lässt sich durch zwei weitere Merkmale verdeutlichen. Im Sich-Bilden trachtet man danach, das eigene Wesen des Menschen, die Menschheit in mir, zu entdecken, d. h. sich selbst zu begreifen und sich zu bestimmen. Künstlerisches Bilden hingegen jagt gleichsam Zeichen und Symbolen der Menschheit nach, wodurch es eher eine Abbildungsfunktion verfolgt. Überspitzt ge-

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sagt kann der Künstler die Seele in seinem Werk verlieren; wohingegen der Sich-Bildende sich selbst findet. Des Weiteren ist die künstlerische Bildung stärker durch die Zeit beschränkt; im Unterschied dazu kann die Selbstbildung das eigene Wesen in einer kurzen Lebensspanne vollenden. Das äußere Handeln in der Welt kann nicht zugleich ein inneres Handeln sein, noch kann man die beiden vereinen. Es heißt deshalb: „[S]o ganz entschieden vermied ich das zu suchen, was den Künstler macht, so sehnsuchtsvoll ergriff ich Alles, was der eigenen Bildung frommt, und ihre Bestimmung beschleunigt und befestigt.“ (Monologen 45) Die beiden Arten von Bilden sind weiterhin daurch scharf differenziert: Künstler bilden in der Einsamkeit; im Gegensatz dazu kann die Selbst-Bildung nur in einer Gemeinschaft geschehen. „Drum darf ich auch nicht, wie der Künstler, einsam bilden; es trocknen mir in der Einsamkeit die Säfte des Gemüths, es stoket der Gedanken Lauf; ich muß hinaus in mancherlei Gemeinschaft mit den anderen Geistern zu schauen, was es Menschliches giebt, was davon mir fremd bleibt, was mein eigen werden kann, und immer fester durch Geben und Empfangen das eigene Wesen zu bestimmen.“ (Monologen 47) Statt in Einsamkeit kann ein „Ich“ im Zuge der SelbstBildung nur durch die gemeinschaftliche Kommunikation entwickeln. Dies macht Schleiermacher wie folgt noch deutlicher: „Der ungestillte Durst es weiter stets zu bilden verstattet nicht der That, der Mittheilung des Innern, auch äußere Vollendung zu geben; ich stelle die Handlung und die Rede hin in die Welt, es kümmert mich nicht, ob auch die Schauenden mit ihrem Sinn durchdringen durch die rauhe Schale, ob sie den innersten Gedanken, den eignen Geist auch in der unvollkommnern Darstellung glücklich finden.“ (Monologen 48) Darin zeigt sich, dass die Genese von Individualität nur über den Vollzug sozialer und gemeinschaftlicher Kommunikation realisiert werden kann. An dieser Stelle kommt der entscheidende Begriff zum Tragen: die Mitteilung. Bei Schleiermacher können die Individuen einander ihr Interesse, was sie selbst nicht, aber die Fremden („die Schauenden“) haben, nur „hinaus in mancherlei Gemeinschaft“ daran zeigen, dass sie untereinander wechselseitig kommunizieren. Diese Kommunikation bezeichnet er als Mittteilung. Die Mitteilung ist für die Selbstbildung entscheidend, denn die Kommunikation, die die Genese der Individualität voraussetzt, erfolgt nur durch den gegenseitigen Austausch – „Mittheilung des Innern“. Anders gesagt: Sich-Bilden kann nicht solipsistisch erfolgen, sondern hat immer einen Vollzugsort. Dieser Vollzugsort ist die gegenseitige Mitteilung durch Geben und Empfangen in einer Gemeinschaft. Bei der Frage, wie man sich selbst zum individuellen Wesen bilden kann, handelt es sich bei Schleiermacher deshalb eigentlich darum, wie man sich in der Kommunikation mit anderen Individuen potenzielle Ich-Möglichkeiten aneignen kann. Dieses konkretisiert er wie folgt: „Darum mag ich alles gern in Gemeinschaft treiben: beim innern Denken, beim Anschaun, beim Aneignen des Fremden bedarf ich irgend eines geliebten Wesens Gegenwart, daß gleich an die innere That sich reihe die Mittheilung, und durch die süße und leichte Gabe der Freundschaft ich mich

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leicht abfinde mit der Welt.“ (Monologen 48–49)127 Der Prozess des Mensch-Werdens bzw. des Sich-Bildens ist also durch die Aneignung potenzieller Ich-Möglichkeiten („Aneignen des Fremden“) in der Mitteilung gekennzeichnet. Dieser Gedanke gilt als eine Vertiefung und Erweiterung seiner Idee über die kommunikative Geistesbildung in der ersten Rede.128 Hinter Schleiermachers Theorie der Mitteilung steht der Grundgedanke, dass mit der Entdeckung der Subjektivität sowie der Individualität zugleich die Entdeckung der Intersubjektivität verbunden ist. Wohl ist die Mitteilung bereits ein Grundbegriff der Aufklärung, wenn er auch erst bei Kant seine philosophische Bedeutung erlangt.129 Aber ideengeschichtlich taucht der Gedanke der Intersubjektivität noch früher und bei mehreren Autoren auf. Mit seiner Individualitätstheorie steht Schleiermacher damit in einer Reihe von unterschiedlichen Entwürfen der Intersubjektivität.130

127 Vgl. hierzu auch Monologen, 135–136: „[W]as | verliert er von seinem Wesen, wenn er handelt und sich mit-theilt? was giebts das ihn verzehrt? Klarer und reicher fühl ich mich jezt nach jedem Handeln, stärker und gesunder: denn bei jeder That eigene ich etwas mir an von dem gemeinschaftlichen Nahrungsstoffe der Menschheit, und wachsend bestimmt sich genauer meine Gestalt! Ists es nur so, weil ich jezt noch in die Höhe des Lebens hinaufsteige?“. 128 Vgl. oben: Kapitel 1. 1.4 Die kommunikative Geistesbildung im Zusammenhang mit den Monologen (1800). 129 Zum Begriff „Mitteilung“ vgl. Anton Hügli: Art. Mitteilung, Mitteilbarkeit, indirekte Mitteilung (1980), in: HWPh, Bd. 5, 1424–1431. 130 Zu den wichtigen Entwürfen der Intersubjektivität in der Aufklärung und dem Deutschen Idealismus gehören Kants Kritik der Urteilskraft (1790), Fichtes Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796) und Hegels Phänomenologie des Geistes (1807). Bei Kant gründet die intersubjektive Mitteilung auf dem ästhetischen Geschmacksurteil. Dank der Empfindung vollzieht man ein Geschmacksurteil, das eine allgemeine Anmutung besitzt, die man anderen mitteilen will. Der hier von Kant benutzte Begriff der Mitteilung wird später bei Schleiermacher ein Grundbegriff. Zu Kants Begriff der Mitteilung vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790), in: ders.: Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft, AA, Bd. V, Berlin 1908, 165–485, §9, 216–219. Fichte hat seine Intersubjektivitätstheorie nicht in der Wissenschaftslehre thematisiert, sondern in seiner Schrift über das Naturrecht. Ihm zufolge ist die konkrete individuelle Pflicht nur durch die intersubjektive Wechselwirkung in der sozialen Gesellschaft einzusehen (vgl. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre [1796], in: ders.: Werke 1794– 1796, J. G. Fichte-Gesamtausgabe, Bd. I.3, hg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob unter Mitwirkung von Richard Schottky, Stuttgart 1966, 291–460). Bei Hegel ist das Intersubjektivitätsproblem im Herrschaft-Knechtschaft-Kapitel seiner Phänomenologie des Geistes behandelt. In der Verschränkung seiner Bewusstseinstheorie und seiner Anerkennungsproblematik stellt Hegel fest, dass die Ausbildung des konkreten Selbstbewusstseins nur durch die wechselseitige Anerkennung der Subjekte möglich ist (vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes [1807], G. W. F. Hegel Werke 3, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986, IV. A: Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und und Knechtschaft, 127–136).

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Aus dem gerade Dargestellten ergibt sich, dass sich Schleiermacher zufolge das Selbst-Bilden auf die individuelle Menschheit in der intersubjektiven Kommunikation richtet, während es sich bei dem künstlerische Bilden um Abbildung in einem isolierten Zustand handelt.131 Im Kontext dieser Unterscheidung soll im Folgenden das Kriterium für den Erfolg des Prozesses des Selbst-Bildens näher bestimmt werden. Nicht näher soll hier auf den begriffsgeschichtlichen Hintergrund des Bildungsbegriffs Schleiermachers eingegangen werden; hier steht die ethische, pädagogische und naturphilosophische Tradition des Bildungsbegriffs in der Spätaufklärung und Frühromantik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Hintergrund132, zum Beispiel bei Johann Gottfried Herder (1744–1803), Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) und Wilhelm von Humboldt (1767–1831).133 In Bezug auf die eigene geistige Entwicklung Schleierma-

131 Im Hintergrund steht hier offensichtlich eine Theorie des künstlerischen Schaffens, das im Wesentlichen auf Einsamkeit beruht. 132 Zum Bildungsbegriff in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und zur entsprechenden Forschungsliteratur vgl. Ernst Lichtenstein: Art. Bildung (1971), in: HWPh, Bd. 1, 921–922. 133 Vgl. Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts (1774), in: ders.: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787, Johann Gottfried Herder Werke, Bd. 4, hg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher, Frankfurt a. M. 1994, 9–108; ders.: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784); Johann Heinrich Pestalozzi: Abendstunde eines Einsiedlers (1780), in: Pestalozzi Sämtl. Werke, Bd. 1, hg. von Artur Buchenau, Eduard Spranger und Hans Stettbacher, Leipzig 1927, 263–282; Johann Wolfgang Goethe: Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790), in: ders.: Schriften zur Morphologie, Johann Wolfgang Goethe Sämtliche Werke, I. Abteilung/Bd. 24, Frankfurt a. M. 1987, 109–151; Wilhelm von Humboldt: Über Religion (1789), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, 1785–1795, hg. von Albert Leitzmann, Berlin 1903 (Nachdruck Berlin/Boston 2015), 45–76; ders.: Theorie der Bildung des Menschen (1794), in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 1 (1903), 282–287. Dabei ist Humboldts Bildungstheorie besonders erwähnenswert. Zu Humboldts Bildungstheorie vgl. Hans-Josef Wagner: Die Aktivität der strukturellen Bildungstheorie Humboldts, Weinheim 1995; Erhard Wicke und Dietrich Benner (Hg.): Menschheit und Individualität: Zur Bildungstheorie und Philosophie Wilhelm von Humboldts, Weinheim 1997; Kristin Junga: Wissen – Glauben – Bilden. Ein bildungsphilosophischer Blick auf Kant, Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt, Paderborn 2010, 178–271. Zum begriffsgeschichtlichen Hintergrund des Bildungsbegriffs Schleiermachers vgl. Matthias Riemer: Bildung und Christentum. Der Bildungsgedanke Schleiermachers, Göttingen 1989, 14–25. Riemer analysiert die Geschichte des Bildungsbegriffs aus den verschiedenen Perspektiven: die wort- und begriffsgeschichtliche Forschung, die geistesund ideengeschichtliche Forschung und die soziologische Forschung. Zum Bildungsbegriff Schleiermachers vgl. ferner Ursula Frost: Einigung des geistigen Lebens. Zur Theorie religiöser und allgemeiner Bildung bei Friedrich Schleiermacher, Paderborn 1991; Eliert Herms: Schleiermachers Bildungsbegriff und seine Gegenwartsrelevanz (2001), in: ders.: Menschsein im Werden (2003), 226– 249; Christiane Ehrhardt: Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher (2005); Stephanie Bermges: Die Grenzen der Erziehung. Eine Untersuchung zur romantischen Bildungskonzeption Friedrich Schleiermachers, Frankfurt a. M. 2010; Kristin Junga: Wissen – Glauben – Bilden (2010), 98–177; Franziska Bartel: Die Entwicklung des Erziehungsgedankens bei Schleiermacher, Würzburg 2012. Schleiermachers Bildungsgedanke ist nicht nur in seiner philosophischen Individualitätstheo-

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chers darf hierbei die Prägung seines Herrnhuter pietistischen Hintergrundes nicht vergessen werden.134 Kehren wir nun zu Schleiermachers Monologen zurück. Für den Kommunikationsvollzug des Sich-Bildens sind Schleiermacher zufolge zwei Bedingungen grundsätzlich vorausgesetzt. Die erste ist das Geöffnet-Sein des Sinnes, die zweite die Liebe. Wir fangen mit der ersten Bedingung an: „Die höchste Bedingung der eigenen Vollendung im bestimmten Kreise ist allgemeiner Sinn.“ (Monologen 51)135 Und kurz davor heißt es: „Wer sich zu einem bestimmten Wesen bilden will, dem muss der Sinn geöfnet sein für Alles was er nicht ist.“ (Monologen 50) Nehmen wir die beiden Stellen zusammen, so ist zu erkennen, dass der allgemeine Sinn prinzipiell geöffnet ist für alle anderen Möglichkeiten der ganzen Menschheit, die ich noch nicht habe. Ein solcher allgemeiner Sinn ist unser notwendiges „Organ“ (ebd.), das niemandem fehlt und das jedem dazu dient, in das weitere Gebiet der Menschheit zu schauen, andere Darstellungen der ganzen Menschheit wahrzunehmen und durch die Entgegensetzung zu definieren, „was davon mir fremde bleibt“ (Monologen 47), und zu ergreifen, „was mein eigen werden kann“ (ebd.). Wenn Schleiermacher einerseits davon spricht, „in mancherlei Gemeinschaft mit den anderen Geistern zu schauen, was es für Menschheit gibt“ (ebd.) und wenn er andererseits fordert: „Oefne dich mir noch einmal, Anschauung des weiten Gebietes der Menschheit“ (Monologen 49), dann wird daran deutlich, dass der Gegenstandsbereich der Tätigkeit des Sinnes – welche letztere aus Wahrnehmen und Ergreifen besteht – eine geistige Welt ist. Diesbezüglich kann dieser allgemeine Sinn auch nicht empirisch, mindestens nicht rein empirisch sein, und ebenso wenig ist er bloße Verstandestätigkeit. Solche Anschauung, Wahrnehmung und Ergreifen betreffen hier die Ebene des Geistes.136 Bisher kann festgestellt werden, dass das Geöffnet-Sein des Sinnes die Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeit des Geistes ermöglicht. Damit kommen wir zur zweiten Bedingung. Die zweite Bedingung, die Schleiermacher Liebe nennt, ist die wechselseitige Attraktion zwischen den Menschen –

rie von entscheidender Bedeutung, sondern auch in seiner Pädagogik (zu Schleiermachers Pädagogik vgl. Friedrich Schleiermacher: Vorlesungen über die Pädagogik und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht KGA II/12, Berlin/Boston 2017). 134 Vgl. hierzu Usula Frost: Einigung des geistigen Lebens (1991), 69–73. Zu Schleiermachers Herrnhuter pietistischem Hintergrund vgl. unten: Kapitel 1. 3. Der Begriff der Geselligkeit in dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), 94. 135 In der dritten Auflage von 1822 wurde „Die höchste Bedingung“ durch „Die erste Bedingung“ ersetzt (Friedrich Schleiermacher: Monologen [1822], C41, in: KGA I/12, 349). 136 Vgl. dazu Ulrich Barth: Das Individualitätskonzept der ›Monologen‹ (1994/2004). In diesem Aufsatz weist Barth darauf hin, dass Schleiermacher an die klassisch-humanistische Tradition des sensus communis anknüpft, indem er die Geöffnetheit des Sinnes als Bedingung des kommunikativen Verstehensprozesses benennt.

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„anziehende Kraft der Welt“ (Monologen 51).137 Ebenso wie der allgemeine Sinn ist Liebe für die Bildung unentbehrlich: „Kein eignes Leben und keine Bildung ist möglich ohne dich, ohne dich müße alles in gleichförmige rohe Maße zerfließen!“ (ebd.) Durch diese wechselseitige Attraktion kommt jedes Individuum in der Gemeinschaft zur Entgegensetzung mit Anderem, damit er „das Bewußtsein seiner Eigenheit“ (Monologen 50) erhalten kann, oder anders gesagt, damit er der Menschheit in sich selbst als einer individuellen bewusst werde. Nur vermöge der Anschauung des weiteren Gebiets der Menschheit in der Gemeinschaft mit anderen kann man für sich definieren: „Was es für Menschheit giebt, und was davon mir fremde bleibt, was mein eigen werden kann“ (Monologen 47). Hiermit hat jeder Mensch zugleich ein Tableau seiner Aneignungsmöglichkeiten vor Augen. Zwischen dem Sinn und der Liebe besteht ein enges Verhältnis. Der allgemeine Sinn und die Liebe sind „die beiden höchsten Bedingungen der Sittlichkeit“ (Monologen 52), sind „die hohen Bürgen“ (Monologen 62). Beide sind gleichermaßen hervorgehoben, aber keine ist der anderen untergeordnet. „Nur wenn in gleichem Maaße Beiden Sinn und Liebe fast über alles Maaß hinaus gewachsen sind“ (Monologen 66), kann die Vereinigung der verschiedenen Elemente der Menschheit zu einem Ideal gelangen, die Freundschaft auf beiden Seiten vollendet werden. Der allgemeine Sinn und die Liebe sind also die notwendige Fähigkeit der Menschen, „durch Geben und Empfangen“ (Monologen 47) mit anderen zu kommunizieren. Nur dadurch kann man seine potenziellen Ich-Möglichkeiten entdecken, sich aneignen und zu seinem eigenen Wesen bilden. Dabei gibt es nach Schleiermacher „in mir“ ein Gleichgewicht von Selbstbildung und Tätigkeit des Sinnes: „[W]ieviel vom unendlichen Gebiet der Menschheit meine Sinne ergriffen hat, das wird in gleichem Maaß auch in mir [Hervorhebung d. Vf.] eigen gebildet und in mein Wesen übergegangen sein“ (Monologen 57–58). Daraus erklärt sich, dass dieses Gleichgewicht die innere Balance zwischen meinem Wesen und der Welt außer mir garantiert. Wie wir schon gesagt haben, wird der Unterschied der zweierlei Arten des Bildens überlagert von dem Gegensatz von Bildung und Darstellung – „die Menschheit in sich zu einer entschiedenen Gestalt zu bilden und in mannigfachem Handeln sie darzustellen“ (Monologen 44). Demzufolge muss zum einen die Menschheit im Einzelnen zu entschiedener Gestalt gebildet werden, zum anderen muss diese Menschheit in mannigfachem Handeln nach außen dargestellt werden. Terminologisch ist dieser Gegensatz von Bildung und Darstellung bei Schleiermacher in seinen Monologen auf das handlungstheoretische Schema von Organisieren-Symbolisieren in seiner Philosophischen Ethik beziehbar. Nachdem in den obigen Abschnitten das erste Moment dieses zweifachen Inhalts – das Bilden – herausgearbeitet wurde, wollen wir nun den zweiten Aspekt etwas näher beleuchten: die Darstellungsdimen-

137 In der dritten Auflage von 1822 hat Schleiermacher es umformuliert: „Anziehungskraft der geistigen Welt“ (Friedrich Schleiermacher: Monologen [1822], C41, in: KGA I/12, 349).

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sion. Die Darstellung der Menschheit spielt eine sehr wichtige Rolle in dem Prozess des Menschwerdens. Mehrfach kommt die Darstellung der Menschheit parallel zur Selbstbildung zu stehen. So schreibt Schleiermacher etwa: „Zu sehr ists zweierlei die Menschheit in sich zu einer entschiedenen Gestalt zu bilden und in mannigfachem Handeln sie [sc. die Menschheit] darzustellen“ (ebd.). Und „Oefne dich mir noch einmal, Anschauung des weiten Gebietes der Menschheit, das die bewohnen, die nur sich selbst zu bilden, und ohne bleibend Werk hervorzubringen, in wechselreichem Thun sich darzustellen streben!“ (Monologen 49) Die Unentbehrlichkeit der äußeren Darstellung für das Menschwerden kann wie folgt dreifach aufgezeigt werden. Zum einen erhält das eigene Wesen des Geistes durch die Darstellung überhaupt eine Äußerungsform. Hierbei spielt für Schleiermacher die Sprache des Geistes eine wichtige Rolle: Die Sprache des Geistes ist eine Darstellungsform für das individuelle Wesen. „Abbilden soll die Sprache des Geistes innersten Gedanken, seine höchste Anschauung, seine geheimste Betrachtung des eignen Handelns soll sie wiedergeben, und ihre wunderbare Musik soll deuten den Werth den er auf jedes legt, die eigene Stufenleiter seiner Liebe.“ (Monologen 95) Das heißt, dass das eigene Wesen durch die Sprache des Geistes dargestellt wird. Die Sprache des Geistes – die Sprache des Inneren – ist hier für unseren Autor keine formelle oder allgemeine, sondern die individuelle Sprache: „Es bilde jeder seine Sprache sich zum Eigenthum und zum kunstreichen Ganzen, daß Ableitung und Uebergang, Zusammenhang und Folge der Bauart seines Geistes genau entsprechen, und die Harmonie der Rede der Denkart Grundton, den Accent des Herzens wiedergebe“ (Monologen 96). Ein individueller Mensch zu werden, bedeutet deshalb zugleich, seine eigene Sprache zu bilden. Da jeder Geist eine individuelle Bauart, jede Denkart einen unterschiedlichen Grundton und jedes Herz einen anderen Akzent hat, muss die entsprechende Sprache unterschiedlich und kunstvoll sein. Daraus ist zu ersehen, dass Schleiermacher zufolge der individuelle Geist eine eigentümliche Manifestation benötigt. Diese These gehört zu den Grundgedanken des Individualitätsverständnisses Schleiermachers. Die eigentümliche Manifestation meines Geistes dient den anderen Geistern in der Gemeinschaft dazu, mein eigenes Wesen anschaulich und wahrnehmbar zu erkennen. Zum Zweiten garantiert die Darstellung die Bestimmtheit des Bewusstseins der Individualität. Es heißt: „Aber so sinnlich sind sie [sc. die Menschen] in der Sittlichkeit, daß sie auch selbst nur da sich recht vertrauen, wo ihnen die äußre Darstellung des Handelns Bürgschaft leistet für ihres Bewußtseins Wahrheit.“ (Monologen 119) Indem das Bewusstsein der Individualität gesichert ist, kann jede andere Darstellung der Menschheit mit seiner eigenen Darstellung von ihr verglichen und damit „das helle Bewußtsein des Gegensazes zwischen Welt und Mensch“ (Monologen 61) erlangt werden; genauer gesagt, wie der Autor in der späteren Auflage der Monologen (1822) präzisiert: „Es ist die Frucht nur jenes hellen Bewußtseins davon, was

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an jedem Menschen er selbst ist, und was der Welt außer ihm gehört […]“.138 Kurz: „Denn nur durch Entgegensezung wird das Einzelne erkannt“ (Monologen 51). Man bestimmt sich als individuell und wird nur durch die Entgegensetzung mit den Anderen als individuell erkannt. Zum Dritten wird in der Verbindung der Bildung der Menschheit im einzelnen Subjekt bzw. in meinem Menschwerden mit ihrer Darstellung die Welt konstituiert. An dieser Stelle ist es notwendig, zur Bedeutung dieser „Welt“ einige Erläuterungen folgen zu lassen. Im ersten Monolog heißt es: „Was Welt zu nennen ich würdige, ist nur die ewige Gemeinschaft der Geister, ihr Einfluß auf einander, ihr gegenseitig Bilden, die hohe Harmonie der Freiheit. Nur das unendliche All der Geister, sez ich mir dem Endlichen und Einzelnen entgegen.“ (Monologen 17) Durch die Bezeichnung der Welt als „die ewige Gemeinschaft der Geister“ und als „das unendliche All der Geister“ ist sie von der Sinnenwelt, einer Körperwelt, deutlich abgegrenzt. Sie ist für Schleiermacher eine innerliche, geistige und freie Welt. Diese Welt steht aber nicht bloß für die einzelne subjektive Innenwelt eines Menschen, sie steht vielmehr für die innerliche Erscheinungswelt von unendlich vielen Menschen, für das unendliche geistige All. Auf dieser Basis kann Schleiermacher die Beziehung von Menschwerden und Weltbildung folgendermaßen formulieren: „Und war mein Thun darauf gerichtet, die Menschheit in mir [Hervorhebung d. Vf.] zu bestimmen, in irgend einer endlichen Gestalt und festen Zügen sie darzustellen, und so selbst werdend Welt zugleich zu bilden, indem ich der Gemeinschaft freier Geister ein eignes und freies Handeln darbot“ (Monologen 21). Dieses Darbieten („darbot“) lässt sich noch weiter konkretisieren: Wie ich die verschiedenen Gestalten der Menschheit, wie sie zugleich auch im darstellenden Handeln aller andern dargestellt wird, ergreifen und zu meinem eigenen Wesen aneignen kann, könnte jeder Andere sich die Menschheit in mir bzw. meine individuelle Gestalt der Menschheit, die ihm noch fremd bleibt, möglicherweise als eine neue Ich-Möglichkeit für sein eigenes Selbst aneignen. Diese durch die eigene Darstellung der Menschheit von jedem Einzelnen realisierte wechselseitige Mitteilung ermöglicht den unendlichen kommunikativen Bildungsprozess. Insofern leistet jeder Mensch einen Beitrag zur Weltbildung, indem er auf seine eigentümliche Weise Mensch wird. Sagt man, dass die durch das Aneignen erfolgte Selbstbildung ein Prozess des „Einsaugen[s]“ (Empfangens) ist, so kann die Darstellung als ein Prozess des „Ausdehnen[s]“ (Gebens) verstanden werden. Genau durch diese wechselseitige Tätigkeit wird ein eigenes Mensch-Sein verwirklicht. Hiermit zeigt sich eine theoretische Übereinstimmung mit der schon in der ersten Rede aufgezeigten Geisttheorie. Wie bereits herausgearbeitet, ist jeder humane Geist durch zwei entgegengesetzte Triebe gekennzeichnet: Der eine Trieb steht für das Bestreben, all das, was das Individuum umgibt, an sich zu attrahieren und in sein eigenes inneres Wesen einzusaugen; der

138 Friedrich Schleiermacher: Monologen (1822), C50, in: KGA I/12, 354.

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andere für die Sehnsucht, das eigene innere Wesen von innen heraus auszudehnen und mitzuteilen.139 Mit diesem kurzen Rückblick ist nun festzustellen, dass bei Schleiermacher die allgemeine Grundstruktur des Geistes an sich der Darstellung der Menschheit in mir im Vorgang des Menschwerdens zugrunde liegt. In der Genese der Individualität, bzw. im Vorgang des Menschwerdens, ist jeder deshalb sowohl als Mitteilender als auch als Empfänger angeregt, „immer fester durch Geben und Empfangen das eigne Wesen zu bestimmen“ (Monologen 47). Die Darstellung ermöglicht nicht nur die Mitteilung von Geben und Empfangen, sondern sie bietet dem Menschwerden auch einen Realisierungsbereich.140 Damit kann festgestellt werden: Die Forderung – „daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll“ (Monologen 40) – ist nicht weniger bedeutsam als das Bilden der Individualität. Ohne jene ist letzteres unmöglich, umgekehrt ebenso. In der engen Verbindung von Selbstbildung und Darstellung, die Schleiermacher im vierten Monolog als Übergang der inneren Bildung in äußere Darstellung versteht,141 liegt das anvisierte Ziel der Vollendung des Menschseins. Die durch die Selbstbildung erfolgte Individualisierung, an der das Verhältnis von Einzelnem und Menschheit gezeigt wurde, stellt eine anthropologische Konstante dar. Bei dem biographischen Begriff „Entwicklung“ kann man fragen, ob dieser Prozess quantitativ als Wachstum oder qualitativ als Formung zu beschreiben ist. Aufgrund von der von uns schon dargestellten Genese der Individualität lässt sich sagen, dass die Individualisierung sowohl quantitativ als auch qualitativ bestimmt werden kann. Individualisierung ist nach Schleiermacher die einzige Weise, Mensch zu werden, wobei sie jedoch nicht nur Mittel, sondern zugleich Zweck ist, den der Mensch unaufhörlich zu erfüllen anstrebt. Sie hat zunächst das Ziel, meine individuelle Identität als Mensch zu realisieren, das heißt, die Menschheit in mir anschauend zu bestimmen und ein Bewusstsein von ihr zu gewinnen, damit das eigene Menschsein entdeckt und mein eigenes Menschwerden verwirklicht werden kann. In diesem Sinn kann die Individualisierung als Formung des Menschen qualitativ bestimmt werden. Auf der anderen Seite hat Schleiermacher eine unabschließbare biographische Entwicklung vor Augen. Dabei ist die neue Ich-Möglichkeit auf prinzipiell unvollendete Weise zu entdecken und zum eigenen Wesen anzueignen. Es heißt: „[D]en ganzen Inhalt meines Wesens müßte ich genau ermeßen, auf allen Punkten meine Grenzen kennen, und prophetisch wißen, was ich noch sein und werden kann“ (Monologen 41). Schleiermacher fährt fort: „Jedes eigne Wesen möcht ich mit Liebe umfaßen, von der unbefangenen Jugend an in der die Freiheit erst kei-

139 Vgl. oben: Kapitel 1. 1. Die anthropologische Geisttheorie in den Reden (1799). 140 Vgl. dazu Ulrich Barth: Das Individualitätskonzept der ›Monologen‹ (1994/2004), 316–317. 141 Vgl. hierzu Monologen, 129–130: „Es ist das höchste für ein Wesen wie meines, daß die innere Bildung auch übergeh in äußre Darstellung, denn durch Vollendung nähert jede Natur sich ihrem Gegensaz.“

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met, bis zur reifsten Vollendung der Menschheit“ (Monologen 62). Je mehr ich das weite Gebiet der Menschheit anschaue und das Fremde durch den Sinn ergreife, desto mehr eigne ich sie meinem Wesen an. In dieser Hinsicht kann Individualisierung, als Wachstum der Menschheit in mir, ebenso quantitativ dargestellt werden. Entsprechend der Beschreibung des Gegensatzes von „quantitativ“ und „qualitativ“ kann der Individualisierungsprozess anhand von zwei weiteren Aspekten noch präzisiert werden. Zum einen betrifft es den Gegensatz von „extensiv“ und „intensiv“. Während des Selbstbildungsprozesses werden unaufhörlich neue Ich-Möglichkeiten ausgebildet. Vor Augen steht immer ein „unendliche[s] Gebiet der Menschheit“ (Monologen 57), „das unendliche All der Geister“ (Monologen 17). Deswegen sind die potenziellen Ich-Möglichkeiten extensiv unendlich, und somit kann man sich bezüglich des Wachstums der Menschheit in sich extensiv unendlich entwickeln. Indem dabei die potenziellen Ich-Möglichkeiten durch ein einzelnes, bereits individuiertes Wesen angeeignet werden, intensiviert sich die Menschheit immer auf eigentümliche Weise in einer Person. Die Menschheit in mir wird durch die Individualisierung immer stärker. Insofern stellt letztere sowohl eine extensive als auch eine intensive Entwicklung dar. Daneben gibt es den Gegensatz von „kontinuierlich“ und „diskontinuierlich“. Die aneignende Selbstzuschreibung geschieht ständig, denn „[n]icht Alles kann auf einmal der Sinn ergreifen, vergeblich ists, in einer einzigen Handlung sein Geschäft vollenden wollen; unendlich geht es in zwiefacher Richtung immer fort, und Jeder muß seine Weise haben, wie er beides vereint, um so das Ganze zu vollbringen“ (Monologen 56), und „nur in einer unendlichen Reihe des Handelns kann ich mich selbst ganz bestimmen“ (Monologen 144). Der Individualisierungsprozess ist somit ein stets offener und kontinuierlicher Vorgang in Bezug auf die unendlichen Inhalte der Menschheit und in Bezug auf das Ganze der Menschheit. Aber andererseits ist dieser Prozess als qualitative Formung eine auf die Vollendung des Ichs zielende unabschließbare Selbststeigerung, in der man das eigene Menschsein immer erneut entdecken und sich immer erneut bestimmen kann. Die Selbststeigerung macht die Individualisierung zu einer diskontinuierlichen Entwicklung. Also ist die durch die Selbstbildung erfolgte Individualisierung einerseits eine qualifizierte, intensive und diskontinuierliche Selbstbestimmung, gleichzeitig aber eine unendliche quantitative, extensive und kontinuierliche Selbstzuschreibung. Dabei stärken sich die beiden Vorgänge von Formung und Wachstum wechselseitig. Durch die unendliche Selbstzuschreibung, durch die ständige Aneignung von dem, „was ich noch sein und werden kann“ (Monologen 41), ist man unaufhörlich dazu aufgerufen, die Menschheit in sich anzuschauen und sich diskontinuierlich immer neu zu bestimmen: eine stetige Annäherung an die Antwort auf die Frage, „wer ich bin“ (Monologen 22). Meine individuelle Gestalt als Mensch bestimmt sich damit „wachsend“ (Monologen 136) genauer. Die unendliche Aufgabe der Individualisierung vollzieht sich innerhalb der Pole von Selbstfestlegung und Vollendung der Menschheit in mir und innerhalb des ganzen Lebensprozesses. Die ewige Jugend ist

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für Schleiermacher das Symbol für diese unendliche Individualisierung, wie er im fünften Monolog entfaltet. Dieser Bildungsprozess der Individualität kann auch mit dem Deutungsbegriff interpretiert werden. Die Selbstbildung ist das Hervorbringen der Individualität bzw. das Herausfinden der konkreten Identität. Durch Selbstbildung gewinnt jedes Individuum eine eigene Deutung seiner selbst als individuelles Ich. Insofern ist die durch die kommunikative Selbstbildung gekennzeichnete Individualisierung Schleiermachers ein unendlicher Selbstdeutungs- und Selbstauslegungsprozess. Entsprechend des genetischen Erfolgens der Selbstbildung kann dieser Selbstdeutungsprozess in drei miteinander verbundene Vorgänge strukturiert werden: das Errichten eigener Deutungsschemata, das Erfassen anderer Deutungsschemata, und die Zuschreibung anderer Deutungsschemata. Sucht man nach dem Anfang des Deutungsprozesses, so ist das Gewinnen eines eigentümlichen Daseins des Menschen, das durch die freie Tat in der Mischung der allgemeinen „Elemente der menschlichen Natur“ (Monologen 40) realisiert wird, die ursprüngliche Festlegung der eigenen Selbstdeutung. Somit ist das erste Ausprägen eigener Deutungsschemata der Ansatz des Selbstdeutungsprozesses. Davon ausgehend wird „mir“ erst die Entfremdung eigener Selbstdeutung von derjenigen anderer Individuen bewusst. Damit ist der zweite Vorgang der Erfassung anderer Deutungsschemata verbunden, die durch die Tätigkeit des allgemeinen Sinnes und die anziehende Kraft der Liebe erfolgt. Die mir noch fremden Selbstdeutungen der Anderen stellen potenzielle Ich-Deutungen vor, die ich mit meinem geöffneten Sinn erfassen kann – oder anders gesagt: „ergreifen“, „[e]mpfangen“, „umfaß[en]“ kann.142 Der dritte Vorgang ist die Selbstzuschreibung anderer Deutungsschemata, deren Schwerpunkt darauf liegt, die schon erfassten anderen Deutungsschemata mit meinem eigenen Wesen – meiner bisherigen Selbstdeutung – zu verbinden. Nur durch das Übergehen anderer Deutungsschemata – mittels eines persönlichen Aneignungsprozesses – in eigene Deutungsschemata kann der Inhalt einer habitualisierten Selbstdeutung gleichsam erfrischt und neue eigene Deutungsschemata wiedererrichtet werden. Damit fängt wieder eine neue Selbstauslegung an. Ebenso wie die durch Selbstbildung erfolgte Individualisierung unendlich ist, so ist der dreifach strukturierte Selbstdeutungsprozess auch ein offener Prozess. Die drei Vorgänge der Selbstdeutung sind unmittelbar miteinander verbunden, und kraft ihres unendlichen Fortschreitens können dadurch immer wieder neue Selbstdeutungen gewonnen werden. Diese unaufhörliche Annäherung versteht Schleiermacher, wie bereits erwähnt, als eine zunehmende Vertiefung der Antwort auf die Frage, „wer ich bin“. In dieser Hinsicht kann gesagt werden, dass das ganze Leben des Menschen ein unendlicher Entdeckungsprozess ist: sowohl hinsichtlich der Deutungsschemata als auch in Bezug auf das eigene Selbst. Eigenes Menschsein zu

142 Vgl. Monologen: 56, 47 und 57.

2 Das neue Individualitätskonzept in den Monologen (1800)

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verwirklichen heißt, eigene Deutungsschemata für sich zu finden und je zu vollenden. Bis hierher haben wir Schleiermachers neues Individualitätskonzept in den Monologen von 1800 in ihrem philosophiegeschichtlichen Kontext rekonstruiert. Aus dieser Rekonstruktion darf sich nun eine Zusammenfassung ergeben. Das Individualitätsproblem bei Schleiermacher ist in erster Linie in dem im 18. Jahrhundert seit Johann Joachim Spalding als Mittelpunkt fast aller philosophischen Abhandlungen anzutreffenden anthropologischen Thema „Bestimmung des Menschen“ und in zweiter Linie in der von der Neuzeit entdeckten und von der Aufklärung begrifflich bestimmten modernen Subjektivitätsproblematik verankert. Gunter Scholtzs Behauptung, dass Schleiermacher seines Wissens nirgends von der Bestimmung des Menschen gesprochen habe,143 erweist sich in unserer Untersuchung als nicht korrekt. Die tiefe Verankerung des Individualitätsthemas in der Subjektivitätstheorie bei Schleiermacher steht allerdings der vorromantischen Auffassung gegenüber, dass das menschliche Subjekt sich auf das Allgemeine bezieht, das jedoch die Bestimmung des Menschen nicht gewährleisten kann. Als Ergebnis unserer Studie lässt sich vorerst feststellen, dass Schleiermacher auf der Basis seiner früheren anthropologischen Überlegungen144 in den Monologen aufzeigt, dass die Bestimmung des Menschen in der Entstehung der menschlichen Individualität bzw. des individuellen Subjekts besteht. Anders als Kant, bei dem es nur eine rein äußere Individuation durch das ZeitRaum-Koordinationssystem gibt und die verschiedenen Menschen deshalb allein durch diese Kriterien individuiert werden, ist Schleiermacher davon überzeugt, dass ein Subjekt nur binnen des Subjekts individuiert werden kann. In der Suche nach der inneren Individuation des Subjekts versteht er die Genese der menschlichen Individualität als Einheit dreier miteinander verbundener Stufen: die biologische Identität als Voraussetzung, das allgemeine Subjekt bzw. das Bewusstsein der allgemeinen Menschheit und das individuelle Subjekt bzw. die konkrete Identität des individuellen Selbst. Im zweiten Monolog fokussiert unser Autor damit auf das Hervorbringen der Individualität. Schleiermacher entdeckt hierbei zunächst das spinozistische Mischungsmodell als Prinzip der Individuation und verwendet es als logische Struktur für die menschliche Individuation. Diesem Individuationsprinzip zufolge ist die Individualität für ihn die eigentümliche Darstellung der Menschheit. In einem weiteren Schritt gilt die Bildung in seiner Interpretation als ein entscheidender Begriff für die Produktion der Individualität: Die Binnenstruktur der menschlichen Individuation besteht in der Anschauung der individuellen Bildung der Menschheit in mir. Es ist in dieser Diskussion zudem von grundlegender Bedeu-

143 Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik (Aufsatz), in: ders.: Ethik und Hermeneutik (1995), 127– 146, hierzu 127. 144 Vgl. oben: Kapitel 1. 1.1 Die Die anthropologische Ausgangsfragestellung.

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tung, dass die Genese der Individualität bzw. das Werden des eigenen Menschseins kein isolierter und einsamer Akt ist, sondern nur in einem intersubjektiven Kommunikationsvorgang geschehen kann. Die Mitteilung dient als Ort der Produktion der Individualität. Die Individualität ist deshalb bei Schleiermacher immer ein Resultat der unendlichen kommunikativen Selbstbildung. In dieser Hinsicht kann gesagt werden, dass Schleiermachers Individualitätstheorie zugleich eine Intersubjektivitätstheorie ist. Dieser unendliche Bildungsprozess der Individualität kann auch als ein Deutungsprozess interpretiert werden, welcher durch drei Schritte strukturiert ist: das Ausbilden eigener Deutungsschemata, das Erfassen anderer Deutungsschemata und das Sich-selbst-Zuschreiben anderer Deutungsschemata. Es ist die große Leistung Schleiermachers in den Monologen, vor dem Hintergrund der Entdeckung des Subjekts der Neuzeit und auf der Basis der Subjektivitätstheorie der Aufklärung das individuelle Subjekt im frühromantischen Kontext neu bestimmt zu haben. Schleiermacher hat das in den Monologen prominent verhandelte Thema der Individualität in seinem Leben in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder bearbeitet. Damit ist verbunden, dass seine Theorie der Individualität sowohl für die Entwicklung seines Religionsverständnisses als auch für seine Beschäftigung mit anderen philosophischen Disziplinen (zum Beispiel seiner Philosophischen Ethik, Ästhetik, Dialektik sowie Psychologie) von grundlegender Bedeutung ist.145

3 Der Begriff der Geselligkeit in dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799) Dem Gedanken Schleiermachers, dass die ideale Menschheitsentwicklung das vergemeinschaftende Zusammenleben aller Menschen voraussetzt und dass Mitteilung und Geselligkeit im wahren menschlichen Zusammenleben dieser Menschheitsentwicklung zugrunde liegt, sind wir bereits in unserer Darstellung seiner anthropologischen Geisttheorie in der ersten Rede der Reden über die Religion (1799) begegnet. In der darauf folgenden Rekonstruktion seines neuen Individualitätskonzepts in den Monologen von 1800 haben wir herausgefunden, dass Schleiermacher diesen Gedanken verdeutlicht und vertieft, indem er vor dem Hintergrund seiner neuen Bestimmung des individuellen Subjekts aufzeigt, dass die Gestaltung der Individuali-

145 In der neusten Forschung hat Andreas Arndt die grundlegende Bedeutung des Individualitätskonzepts Schleiermachers für seine Philosophie näher geklärt. Arndt stellt fest, dass durch eine Bemerkung – „Das Ausgehn von der Individualität“ (Schleiermachers Brief an Brinckmann, Dezember 1803) – der junge Schleiermacher selbst auf die basale philosophische Relevanz seines Individualitätskonzepts deutlich hingewiesen hat, welche Grundposition „sich erst durch ihre philosophiehistorische[n] und entwicklungsgeschichtliche[n] Kontexte“ (ders.: „Ausgehn von der Individualität“ [2013], 3) erschließt.

3 Der Begriff der Geselligkeit in dem Versuch einer Theorie



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tät bzw. das Werden des eigenen Menschseins keinen isolierten und einsamen Akt bedeutet, sondern sich nur in einem intersubjektiven Kommunikationsvorgang vollziehen kann. Dazu dient die Mitteilung als kommunikativer Ort für die Produktion der Individualität. Von daher ist die Individualität für unseren Autor immer ein Resultat der unendlichen kommunikativen Selbstbildung. Mit dieser kommunikationstheoretischen Grundeinstellung ist ein entscheidender Begriff – die Geselligkeit – direkt verbunden. Die Geselligkeit ist bei Schleiermacher die Gemeinschaft der Individualitäten. Sie ist eine Form des Zusammenlebens von Menschen, in der sich die menschliche Individualität ausprägt, weil der Vollzug der Geselligkeit den intersubjektiven Austausch von Individualität fordert, durch den der Mensch zum Menschen wird. Zu Schleiermachers Individualitätsgedanken in seiner frühromantischen Werkphase gehört deshalb auch der Begriff der Geselligkeit, dem er sich bereits in seiner kurzen Abhandlung Versuch einer Theorie des geselligen Betragens von 1799 gewidmet hat. Der Begriff der Geselligkeit ist nicht nur von grundlegender Bedeutung für seinen Individualitätsgedanken, sondern auch ein Schlüsselbegriff für seine neue Fassung des Religionsverständnisses sowie für seinen neuen Kirchenbegriff in den Reden, die wir im nächsten Kapitel thematisieren werden. Aus diesem Grund ist es erforderlich, uns im Folgenden im Rahmen unserer Untersuchung über die Individualitätstheorie Schleiermachers im frühromantischen Kontext ein klares Bild von seinem Begriff der Geselligkeit in jener kurzen Abhandlung zu verschaffen, bevor wir das Religionsverständnis in den Reden angehen. In der gegen Jahresende 1798 niedergeschriebenen und Anfang 1799 veröffentlichten Schrift Versuch einer Theorie des geselligen Betragens stellt Schleiermacher den Begriff der Geselligkeit ins Zentrum seiner Abhandlung.146 Trotz ihrer kurzen Form und ihrer anonymen Erscheinung genießt diese Abhandlung eine besondere Position in der Philosophiegeschichte. Denn Schleiermacher gebührt das Verdienst, terminologisch erstmals dem Begriff der Geselligkeit mit dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens zu philosophischer Geltung verholfen zu haben.147 Wie die

146 Friedrich Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), in: KGA I/2, 165–184. Die vorliegende Studie zitiert nach der Originalpaginierung in der KGA I/2. Die Schrift Versuch einer Theorie des geselligen Betragens ist zuerst Anfang 1799 in der Zeitschrift Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks (Nr. 5, Teilband 1, Berlin 1799) anonym erschienen und dabei handelt es sich um den ersten Teil seiner nicht wie geplant fortgesetzten Abhandlung. Erst spät wurde festgestellt, dass diese Abhandlung von Schleiermacher stammt. Zur Entstehung und Wiederentdeckung dieser Schrift vgl. Herman Nohl: Vormerkung zur Herausgabe des „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ (1913), in: WA II, XXIII–XXIV; Günter Meckenstock: Historische Einführung (1984), in: KGA I/2, L–LIII; Bernd Oberdorfer: Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit (1995), 469–491. 147 Zur Begriffsgeschichte von „Geselligkeit“ vgl. Wolfgang Hinrichs: Art. Geselligkeit (1974), in: HWPh, Bd. 3, 456–459; und Bernd Oberdorfer und Martin Nicol: Art. Geselligkeit (2000), in: RGG⁴, Bd. 3, 823–825. Wolfram Hogrebe bezeichnet Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen

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Mitteilung war der Begriff der Geselligkeit bereits ein Grundbegriff der Aufklärung. Hier sei exemplarisch an die in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Halle publizierte Zeitschrift Der Gesellige, eine moralische Wochenschrift erinnert.148 In bildungsbiographischer Hinsicht hat Schleiermachers Interesse an dem Phänomen der Geselligkeit drei Ursprünge. Als erster ist sein Herrnhuter Familienhintergrund und seine Herrnhutische Schulerziehung im Pädagogium von Niesky (1783–1785) zu nennen. Hier wurde der junge Schleiermacher von der Konventikelfrömmigkeit des Herrnhuter Pietismus stark geprägt. Für die Herrnhuter Brüdergemeine gehört es zu den grundlegenden Glaubensprinzipien, dass das religiöse Leben weder in der Einsamkeit des Glaubenden noch in einer anonymen Organisation praktiziert und vollzogen werden sollte, sondern in Formen gegenseitiger Kommunikation der je eigenen religiösen Erfahrung.149 Der zweite Ursprung dieses Interesses an dem Phänomen der Geselligkeit ist seine Aristoteles-Forschung in Halle bei Johann August Eberhard (1739–1809). Als junger Student in der Saalestadt widmet Schleiermacher unter der Förderung seines Lehrers viel Zeit der Nikomanchischen Ethik des Aristoteles’. Durch die Rezeption des Nikomachischen Freundschaftsideals reift in Schleiermacher der Gedanke einer idealen Existenzweise von Menschsein.150 Schließlich und drittens ist seine Beschäftigung mit dem Begriff der Geselligkeit um 1799 mit seiner Beteiligung an der frühromantischen Salonkultur in Berlin verbunden. Während seines ersten Aufenthalts in Berlin als reformierter Krankenhauspfarrer an der Charité, zwischen 1796 und 1802, gewinnt Schleiermacher vor allem durch seinen Freund Friedrich Schlegel (1772–1814) einen Zugang zum dortigen frühromantischen Kreis. Der intensive Kontakt mit den Berliner literarischen Sa-

Betragens (1799) als „Haupttext der frühromantischen Theorie der Geselligkeit“. Vgl. Wolfram Hogrebe: Societas Teutonica. Profile der Frühromantik und das Elend der deutschen Geselligkeit, Erlangen/Jena 1996, 1. 148 Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier (Hg.): Der Gesellige. Eine moralische Wochenschrift, Halle 1748–1750 (Nachdruck Hildesheim 1987). Zum Begriff des Geselligen in dieser Zeitschrift vgl. Emanuel Peter: Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999, 86–114. Andreas Arndt weist darauf hin, dass Schleiermachers Theorie des geselligen Betragens in der Kontinuität aufklärerischen Denkens steht. Vgl. ders.: Geselligkeit und Gesellschaft (1997/2013), 58–61. 149 Zu Schleiermachers Herrnhuter Herkunft und ihrem Einfluss auf seinen Werdegang vgl. Samuel Eck: Ueber die Herkunft des Individualitätsgedankens (1908), 26–59; Eilert Herms: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt (1974), 27–36; Kurt Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik (1986), 59–65; ders.: Schleiermacher (2001), 19–32; Ulrich Barth: Die Religionstheorie der ›Reden‹ (1998/ 2004), 263–267; ders.: Schleiermachers Gang durch die Herrnhuter Frömmigkeit und die Hallesche Spätaufklärung, in: Günter Meckenstock (Hg.): Schleiermacher-Tag 2005. Eine Vortragsreihe, Göttingen 2006, 45–50. 150 Zu Schleiermachers Rezeption des nikomachischen Freundschaftsideals vgl. Bernd Oberdorfer: Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit (1995), 25–97; Kurt Nowak: Schleiermacher (2001), 35– 37; Denis Thouard: Schleiermacher. Communauté, Individualité, Communication, Paris 2007, 30– 37.

3 Der Begriff der Geselligkeit in dem Versuch einer Theorie 

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lons, besonders mit dem Salon der jüdischen Frau Henriette Herz (1764–1847), ermöglicht ihm ein anschauliches Bild von dem dort gepflegten intellektuell-geistigen Leben und dem damit verbundenen Phänomen freier Geselligkeit.151 Schleiermachers kurze Abhandlung Versuch einer Theorie des geselligen Betragens hat bereits einige Aufmerksamkeit vonseiten der Literaturwissenschaft, der Philosophie und der Theologie auf sich gezogen.152 Vor dem Hintergrund einer kurzen Beschreibung der bildungsbiographischen Herkünfte seines Begriffs der Geselligkeit wird im Folgenden gezeigt, was der junge Autor unter diesem Begriff in sozialphilosophischer Hinsicht versteht und welche Bedeutung dieser Begriff für seine Individualitätstheorie hat. Schleiermacher führt seinen Versuch, eine Theorie des geselligen Verhaltens aufzustellen bzw. den Begriff der Geselligkeit aufzuklären, in zwei Schritten durch. Im ersten Schritt bemüht sich der Autor darum, die freie Geselligkeit von der gebundenen Geselligkeit zu unterscheiden. Die erste bezeichnet er als Gesellschaft, die zweite als Gemeinschaft. Dann konkretisiert er die Gestaltung dieser Sozialisationsform in einem zweiten Schritt im Rückgriff auf drei miteinander verbundene Gesetze: das formelle Gesetz, das materielle Gesetz und das quantitative Gesetz. Allerdings hat Schleiermacher seine Abhandlung über das gesellige Betragen nicht wie geplant fortgesetzt und den zweiten Schritt schließlich nicht vollständig ausgeführt. Wir fangen mit dem ersten Schritt an. Das gesellige Betragen meint zunächst den sozialen Umgang der Menschen. Eine Theorie des geselligen Betragens handelt deshalb davon, wie die Menschen sich miteinander verbinden und wie sie sich in dieser Verbindung verhalten. Für Schleiermacher ist die freie Geselligkeit das Idealmodell des geselligen Verhaltens der gebildeten Menschen: „Freie, durch keinen äußern Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit wird von allen gebildeten Menschen als eins ihrer ersten und edelsten Bedürfnisse laut gefordert.“ (Versuch 48) Weder das häusliche Leben, in welchem man immer mit denselben wenigen Menschen umgeht, noch das bürgerliche Leben, das die Tätigkeiten des Geistes durch die beruflichen Verhältnisse auf einen engen Kreis beschränkt, können dieses Be-

151 Zur Berliner Salonkultur im frühromantischen Kontext vgl. Detlef Gaus: Geselligkeit und Gesellige. Bildung, Bürgertum und bildungsbürgerliche Kultur um 1800, Stuttgart 1998, 115–362; Emanuel Peter: Geselligkeiten (1999), 235–243; Susanne Schmid (Hg.): Einsamkeit und Geselligkeit um 1800, Heidelberg 2008; Reinhard Blänkner und Wolfgang de Bruyn (Hg.): Salons und Musenhöfe. Neuständische Geselligkeit in Berlin und in der Mark Brandenburg um 1800, Hannover 2009; Hannah Lotte Lund: Der Berliner „jüdische Salon“ um 1800. Emanzipation in der Debatte, Berlin/Boston 2012. Zu Schleiermachers Kontakt mit dem Berliner Salon vgl. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 1)(1970), 219–228; Kurt Nowak: Schleiermacher (2001), 79–113; Wolfgang Virmond: Liebe, Freundschaft, Faublastät – der frühe Schleiermacher und die Frauen (2009). 152 Zum Begriff der Geselligkeit im Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799) vgl. Bernd Oberdorfer: Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit (1995), 492–510; Wolfram Hogrebe: Societas Teutonica (1996), 9–15; Detlef Gaus: Geselligkeit und Gesellige (1998), 61–113; Emanuel Peter: Geselligkeiten (1999), 222–228; Andreas Arndt: Geselligkeit und Gesellschaft (1997/2013).

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dürfnis erfüllen. Diese beiden Umgangsformen der Menschen werden als gebundene Geselligkeit bezeichnet. Um das Idealmodell des menschlichen Umgangs zu charakterisieren, unterscheidet Schleiermacher im Versuch deshalb die freie Geselligkeit von der gebundenen Geselligkeit ausdrücklich. Neben diesen beiden Begriffen verwendet er in dieser Abhandlung noch zwei weitere Begriffe: Gesellschaft und Gemeinschaft. Unser Autor versteht hier die Gesellschaft im eigentlichen Sinn als freie Geselligkeit, die Gemeinschaft als gebundene Geselligkeit.153 Demnach ist der Unterschied zwischen jenen beiden Formen der Geselligkeit bei ihm der Unterschied zwischen der Gesellschaft und der Gemeinschaft. Schleiermachers Unterscheidung der gebundenen Geselligkeit und der freien Geselligkeit kann durch folgende drei Gesichtspunkte aufgeklärt werden. Der erste Unterschied zwischen beiden Formen der Geselligkeit besteht darin, dass die freie Geselligkeit eine Verbindung der Menschen in der geistigen Innenwelt – „in der intellektuellen Welt“ – ist, während die gebundene Geselligkeit eine Verbindung ist, die auf der Außenwelt beruht. Für Schleiermacher wird „die Thätigkeit höherer Kräfte“ (Versuch 49) des Geistes von Menschen in der freien Geselligkeit nicht aufgehalten „durch die Aufmerksamkeit, die überall, wo auf die Außenwelt gewirkt werden soll, dem Geschäft der niederen gewidmet werden muß“ (ebd.). Hierbei unterscheidet Schleiermacher die „Thätigkeit höherer Kräfte“, die sich auf die geistige Innenwelt richtet, und die Tätigkeit niederer Kräfte („Geschäft der niederen“), die zuständig für die Außenwelt ist. Demnach ist die gebundene Geselligkeit eine Form der Sozialisation, in der die Tätigkeit der Mitglieder nur aus den Einwirkungen der Außenwelt hervorgeht. Im Gegensatz dazu ist der Mensch in der freien Geselligkeit „ganz in der intellektuellen Welt, und kann als ein Mitglied derselben handeln“ (ebd.). Hier fokussieren sich die Menschen in der geistigen Innenwelt, und jeder wirkt als ein Mitglied dieser Welt. In dieser intellektuellen Welt ist die Geselligkeit frei, denn kann sich der Mensch „dem freien Spiel seiner Kräfte überlassen, kann er sie harmonisch weiter bilden, und von keinem Gesetz beherrscht, als welches er sich selbst auflegt, hängt es nur von ihm ab, alle Beschränkungen der häuslichen und bürgerlichen Verhältnisse auf eine Zeitlang, soweit er will, zu verbannen“ (ebd.). Durch die Selbstbildung der Kräfte, durch die Selbstgesetzgebung und somit durch die Selbstbefreiung von der Beschränkung der gebundenen Geselligkeit ist das Individuum in dieser Form der Sozialisation frei. Für Schleiermacher ist dieser freie Zustand „der sittliche Zweck der freien Geselligkeit“ (ebd.).

153 Vgl. Versuch, 55 (Anmerkung): „Das Wort sollte nur in diesem Verstande genommen werden. In jeder durch einen äußern Zweck gebundenen und bestimmten geselligen Verbindung ist den Theilhabern etwas gemein, und diese Verbindungen sind Gemeinschaften, κοινονιαι; hier ist ihnen eigentlich nichts gemein, sondern alles ist wechselseitig, das heißt eigentlich entgegengesetzt, und dies sind Gesellschaften, συνουσιαι“.

3 Der Begriff der Geselligkeit in dem Versuch einer Theorie

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Damit ist der zweite Gesichtspunkt ihres Unterschiedes unmittelbar verbunden: Die freie Geselligkeit ist eine freie Verbindung der Menschen und durch die Selbstzwecklichkeit gekennzeichnet. Im Gegensatz dazu ist die gebundene Geselligkeit auf den „einzelnen untergeordneten Zweck“ (ebd.) der häuslichen und bürgerlichen Verhältnisse beschränkt. In der freien Geselligkeit soll „[j]eder für sich selbst Gesetzgeber seyn“ (ebd.). Diese Selbstgesetzgebung in der freien Geselligkeit ist möglich „wegen des nothwendigen Mangels einer öffentlichen Gewalt“ (ebd.). Der sittliche Zweck der freien Geselligkeit kann nur dadurch ermöglicht werden, „daß jeder Einzelne sein gesellschaftliches Betragen diesem Zweck gemäß einrichte“ (Versuch 50). Die Selbstzwecklichkeit in der freien Geselligkeit bedeutet deshalb nicht nur, dass jeder in dieser Verbindung selbst Gesetzgeber sein soll, sondern auch, dass das gesellige Verhalten jedes Einzelnen auf den gemeinsamen sittlichen Zweck zielt. Der dritte Gesichtspunkt des Unterschiedes zwischen der freien Geselligkeit und der gebundenen Geselligkeit bezieht sich auf den Umgang der Menschen miteinander in der Verbindung: Die Einwirkung der Menschen in der freien Geselligkeit aufeinander ist wechselseitig, während das Verhältnis der Menschen in der gebundenen Geselligkeit nur einseitig ist. In der gebundenen Geselligkeit, zum Beispiel im Schauspielhaus oder in der durch eine Vorlesung verbundenen Gemeinschaft, gibt es immer eine leitende Figur, entweder Künstler oder Dozent. Damit ist die Einwirkung zwischen verschiedenen Mitgliedern nur einseitig. Im Gegensatz dazu sollen die Mitglieder der freien Gesellschaft bzw. der Gesellschaft im eigentlichen Sinn „auf einander einwirken“ (Versuch 54). Der Grund besteht darin: „Denn das ist der wahre Charakter einer Gesellschaft in Absicht ihrer Form, daß sie eine durch alle Theilhaber sich hindurchschlingende, aber auch durch sie völlig bestimmte und vollendete Wechselwirkung seyn soll.“ (Versuch 55) Dieses konkretisiert Schleiermacher wie folgt: „Der Zweck der Gesellschaft wird gar nicht als außer ihr liegend gedacht; die Wirkung eines Jeden soll gehen auf die Thätigkeit der übrigen, und die Thätigkeit eines Jeden soll seyn seine Einwirkung auf die andern.“ (ebd.) Nehmen wir die beiden Stellen zusammen, dann ergibt sich folgende Struktur: Jedes Mitglied der Gesellschaft ist nicht nur ein Teil der Geselligkeit als Ganzes, sondern zugleich ein Teilnehmer der Verwirklichung des Zwecks der Geselligkeit, indem jeder durchgehend und konstant („hindurchschlingend[]“) eine Einwirkung auf die Anderen übt und die Tätigkeit eines jeden ebenfalls eine Reaktion auf die Tätigkeit der Anderen ist. Aus diesem Grund soll der Zweck der Geselligkeit nur „unter dieser Form der durchgängigen Wechselwirkung erreicht werden“ (ebd.). Darüber hinaus betont Schleiermacher, dass die „durchgängige[] Wechselwirkung“ in der freien Geselligkeit nur durch „ein freies Spiel der Gedanken und Empfindungen, wodurch alle Mitglieder einander gegenseitig aufregen und beleben“ (Versuch 56), zu verwirklichen ist. Dank dieser Wechselwirkung wird „[d]er Zweck der Gesellschaft […] gar nicht als außer ihr liegend gedacht“ (Versuch 55). Dies entspricht dem Charakter der Selbstzwecklichkeit einer freien Geselligkeit, der bereits geklärt wurde. Aus dem bisher Dargestellten kommt Schleiermacher zu dem

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Schluss: „[I]n dem Begriff derselben [sc. der Wechselwirkung] ist sowohl die Form als der Zweck der geselligen Tätigkeit enthalten, und sie macht das ganze Wesen der Gesellschaft aus“ (Versuch 56). Die Wechselwirkung gilt deshalb als wesensbestimmendes Kennzeichen für die freie Geselligkeit.154 Die Wechselwirkung ist so basal für die freie Geselligkeit, dass alle drei Gesetze der Gesellschaft auf dieser Wechselwirkung beruhen. Bis hierher sehen wir, dass die gebundene Geselligkeit bzw. die Gemeinschaft eine menschliche Verbindung ist, in der die Menschen durch etwas Gemeinsames – durch die Einwirkung der Außenwelt und durch einen äußeren Zweck – verbunden sind und die Verbindungsweise durch ihre Einseitigkeit und Beschränkung charakterisiert ist. Hingegen ist die freie Geselligkeit für Schleiermacher ein freier Umgang der Menschen in der geistigen Innenwelt und sie ist durch ihre Selbstzwecklichkeit und durch die interpersonale Wechselwirkung gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund versucht der Autor, die freie Geselligkeit aus der Perspektive der Gestaltungsgesetze zu beschreiben. Darauf wird nun ein kurzer Blick geworfen. Für Schleiermacher ist die Gestaltung der freien Geselligkeit durch die folgenden drei Gesetze zu bestimmen: das formelle Gesetz, das materielle Gesetz und das quantitative Gesetz. Diese drei Gesetze richten sich auf verschiedene Ebenen der Gestaltung und sind eng miteinander verbunden.155 Die ersten beiden Gesetze sind von dem Wesen der Geselligkeit – von der Wechselwirkung in der Gesellschaft – unmittelbar abgeleitet. Im Vorangehenden haben wir bereits gesehen, dass für Schleiermacher in der Wechselwirkung nicht nur die Form, sondern auch der Zweck der freien Geselligkeit enthalten ist. Daraufhin bestimmt Schleiermacher zunächst das formelle Gesetz der freien Geselligkeit wie folgt: „[S]ie [sc. die Wechselwirkung] wird zuerst als Form betrachtet, und liefert so das formelle Gesetz der geselligen Thätigkeit: Alles soll Wechselwirkung seyn.“ (ebd.) Die Wechselwirkung der Mitglieder aufeinander ist die formelle Bedingung einer freien Geselligkeit; alle Tätigkeiten in der freien Geselligkeit erfolgen nur unter der Form der Wechselwirkung. Für Schleiermacher soll die Wechselwirkung nicht nur als Form der freien Geselligkeit gesehen werden, sondern auch „als Stoff“ (Materie) (Versuch 56). Daher gibt die Wechselwirkung nicht nur das formelle Gesetz vor, sondern zugleich auch

154 Die Wechselwirkung ist ein wichtiger Begriff in den philosophischen Gedanken Schleiermachers. Zu diesem Begriff bei Schleiermacher hat Sarah Schmidt mit ihrer Dissertation eine umfassende Untersuchung durchgeführt (dies.: Die Konstruktion des Endlichen. Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung, Berlin/New York 2005). Zum Begriff der Wechselwirkung in dem Versuch vgl. Schmidts Diskussion im Kapitel 2.4. Vollkommene Wechselwirkung als Realisierung von Sittlichkeit oder die Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft – „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ (1799); „Gedankenheft III“ (1798–1801), 84–94. 155 Zu den drei Gesetzen der freien Geselligkeit vgl. Detlef Gaus: Geselligkeit und Gesellige (1998), 78–86; Andreas Arndt: Geselligkeit und Gesellschaft (1997/2013), 54–58.

3 Der Begriff der Geselligkeit in dem Versuch einer Theorie 

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„das materielle [sc. Gesetz]: Alle sollen zu einem freien Gedankenspiel angeregt werden durch die Mittheilung des meinigen“ (ebd.). Das freie Gedankenspiel in der Wechselwirkung zwischen allen Mitgliedern ist damit ein Austausch der Individualitäten („des meinigen“) – der „Stoff“ dieses Austauschs besteht aus den Individualitäten der Mitglieder. Diesen interpersonalen Austausch nennt Schleiermacher Mitteilung. Dies bringt Schleiermacher an einer späteren Stelle so zum Ausdruck: „[E]r [sc. der Mensch] soll gerade seine Individualität, seine Eigenthümlichkeit mitbringen; denn nur in dieser ist das freie Spiel seiner Gedanken und Gefühle, welches seine Thätigkeit in der Gesellschaft seyn soll, gegründet“ (Versuch 59). Also: Die freie Geselligkeit ist eine Gemeinschaft der Individualitäten; sie ist ein Ort für den Austausch der Individualitäten; die Mitteilung der Individualitäten durch die gegenseitige Wechselwirkung zwischen den Mitgliedern ist das materiale Gesetz der freien Geselligkeit. Neben dem formellen Gesetz und dem materiellen Gesetz ist die freie Geselligkeit auch durch ein quantitatives Gesetz bestimmt. Bei diesem geht es darum, inwiefern eine freie Geselligkeit als ein Individuum, genauer genommen als ein individuelles Ganzes, gesehen werden kann. Der Grund für ein quantitatives Gesetz ist, dass in der Wechselwirkung der freien Geselligkeit sowohl „die Art, wie Menschen einander anregen können“ (Versuch 56) als auch „die Sphäre ihrer freien Aeußerungen“ (ebd.) unendlich ist. Um diejenigen, die zu dieser freien Geselligkeit gehören, von solchen unendlichen Arten und Äußerungen zu schützen und ihnen eine Identität zu geben, muss ein Maß gesetzt werden. Dieses Maß nennt Schleiermacher „ein gewisses endliches Quantum“. Dank dieses Quantums hat jede freie Geselligkeit „einen eignen Umriß und ein eignes Profil“ (ebd.) und kann sich von den anderen freien Geselligkeiten unterscheiden. Alle, die zu dieser freien Geselligkeit gehören, sind verpflichtet, dieses „gewisse[] endliche[] Quantum“ anzunehmen. Für Schleiermacher dient dieses Quantum zwar als eine Grenze („Schranken“) für die Mitglieder der Gesellschaft. Aber diese Grenzbestimmung hat eine sehr positive Bedeutung für eine freie Geselligkeit. Denn nur mit dem gewissen, endlichen und eigenen Profil kann die freie Geselligkeit als „ein Ganzes bestehen“ (Versuch 57) – als ein individuelles Ganzes, als eine Gesellschaft mit Individualität. Während das materielle Gesetz die Individualitäten der Mitglieder innerhalb einer freien Geselligkeit betrifft, geht es beim quantitativen Gesetz um die Individualität einer freien Geselligkeit als ein Ganzes – um eine gemeinschaftliche Individualität. Wohl ist die freie Geselligkeit – im Gegenüber zu der gebundenen Geselligkeit – durch ihre Selbstzwecklichkeit gekennzeichnet, aber jede freie Geselligkeit muss „ein gewisses endliches Quantum“ haben, um ihr eigenes Profil zu setzen. Allerdings ist die freie Geselligkeit für Schleiermacher ein lebendiger Prozess. Das bedeutet, dass die freie Geselligkeit keine abgeschlossene und stille Gesellschaft ist, sondern eine dynamische Gestaltung der menschlichen Verbundenheit. Denn bei der Vollkommenheit eines geselligen Verhaltens geht es nicht nur um das Bilden einer freien Geselligkeit, sondern auch um das Erhalten dieser Gesellschaft im Leben:

100  Kapitel 1 Die anthropologische Grundlegung der Individualitätstheorie

„Beides, das Bilden und Unterhalten der Gesellschaft kann nicht getrennt, sondern muß als eines gedacht werden.“ (Versuch 53)156 Für Schleiermacher gilt die „Gegenwart mehrerer Menschen in einem Raum um des geselligen Zwecks“ (ebd.) als strukturelle Basis einer Gesellschaft – „Körper der Gesellschaft“ (ebd.). Das ist das Bilden der Gesellschaft. Das Bilden des Körpers der Gesellschaft allein reicht nicht für eine freie Geselligkeit. Die Gesellschaft muss noch unterhalten werden. Das heißt: „Dieser [sc. der Köper der Gesellschaft] muß erst durch die Thätigkeit jedes Einzelnen belebt werden, und weil es eine durchaus freie Thätigkeit ist, kann dies Leben nur durch eine ununterbrochene Fortsetzung derselben erhalten werden.“ (Versuch 53– 54) Die Gestaltung der freien Geselligkeit ist also ein kontinuierlicher Prozess, in welchem jeder Einzelne durch seine eigene freie Tätigkeit und durch das freie Spiel mit anderen mitwirkt, und nur dadurch wird die freie Geselligkeit gepflegt. Insofern wird die Gesellschaft bei Schleiermacher in seiner Darstellung des geselligen Verhaltens in einer doppelten Hinsicht betrachtet: „als seyend und als werdend“ (Versuch 54). Seiner Interpretation der freien Geselligkeit als eines dynamischen Gestaltungsprozesses liegt zugrunde, dass er die freie Geselligkeit als einen „freien Umgang vernünftiger sich untereinander bildender Menschen“ (Versuch 49) versteht. Weil die Menschen sich in der freien Geselligkeit ununterbrochen bilden und sich dadurch entwickeln sollen, kann die Gesellschaft dieser Menschen keine abgeschlossene Gemeinschaft sein. Weil die freie Geselligkeit eine Gemeinschaft der sich bildenden Individualitäten ist, kann sie als werdend nicht mechanisiert werden. Im ersten Abschnitt und im zweiten Abschnitt dieses Kapitels haben wir nachvollzogen, wie Schleiermacher in der ersten Rede der Reden über die Religion (1799) ein anthropologisch fundiertes Geistverständnis entwickelt und dann in den Monologen (1800) das Individualitätskonzept neu bestimmt. Bereits in diesen beiden Abschnitten wurde darauf hingewiesen, dass die Akzentuierung der Individualität nicht bedeutet, dass die Bedeutung der Gemeinschaft und des intersubjektiven Austauschs dabei gänzlich vernachlässigt wird. Die sozialphilosophische Dimension ist auch basal für die frühromantische Individualitätstheorie Schleiermachers. Der dritte Abschnitt dieses Kapitels zeigt deshalb, wie sich diese sozialphilosophische Dimension der Individualitätstheorie in seinem Begriff der Geselligkeit kristallisiert: Die freie Geselligkeit ist eine Gemeinschaft der Individualitäten, sie dient als Ort für Mitteilung der Individualitäten und ermöglicht durch die Wechselwirkung den intersubjektiven Austausch der Individualität. Die Wechselwirkung zwischen den Mitgliedern ist entscheidend für die Geselligkeit: Sie hat nicht nur das formelle Gesetz

156 Hierzu vgl. Versuch, 53: „Wenn die Geselligkeit um ihrer selbst willen gesucht wird, und sie selbst ist nichts anders, als ihre moralische Tendenz, so kann die Vollkommenheit des geselligen Betragens in nichts anderem bestehen, als in der Fertigkeit, überall, wo die physische Möglichkeit der Gesellschaft gegeben ist, auch eine wirklich zu bilden, und sie, wo sie schon gebildet ist, beim Leben zu erhalten.“

3 Der Begriff der Geselligkeit in dem Versuch einer Theorie

 101

und das materielle Gesetz der Geselligkeit zur Folge. Wegen der durch Wechselwirkung hervorgebrachten Unendlichkeit muss die Geselligkeit zugleich ein quantitatives Gesetz haben, um sich als ein individuelles Ganzes zu rechtfertigen. Die Geselligkeit ist nicht nur ein Schlüsselbegriff der Individualitätstheorie und des Religionsverständnisses Schleiermachers in seiner frühromantischen Werkphase. Ab 1805 fungiert dieser Begriff als eine Säule seiner als Kulturtheorie rezipierten Philosophischen Ethik, indem Schleiermacher die Geselligkeit als eine der grundlegenden Handlungstätigkeiten der Vernunft bzw. als individuelles Organisieren interpretiert. Damit wird der frühromantische Begriff „Geselligkeit“ um einen kulturtheoretischen Aspekt bereichert.157 Eine bemerkenswerte begriffliche Präzisierung ist, dass Schleiermacher den Begriff „Geselligkeit“ nur in seiner kurzen Abhandlung Versuch einer Theorie des geselligen Betragens auch im Sinne von der „gebundene [n] Geselligkeit“ verwendet hat, um die freie Geselligkeit von dieser Form des sozialen Lebens zu unterscheiden. In allen Schriften nach dem Versuch – sowohl in den kurz darauf erschienenen Werken Reden über die Religion und Monologen als auch in seinen Vorlesungsvorlagen für die Philosophische Ethik – verzichtet Schleiermacher darauf, den Begriff „Geselligkeit“ für andere Formen des sozialen Lebens zu verwenden. So wird der Begriff „Geselligkeit“ bei ihm speziell für die freie Geselligkeit – die Gemeinschaft der Individualitäten – reserviert.

157 Vgl. unten: Kapitel 4. 1.3.3.1 Die Geselligkeit.

Kapitel 2 Der individualitätstheoretische Religionsbegriff in den Reden (1799) Zusammen mit dem Durchbruch der subjektivitätstheoretischen Philosophie markiert die Frühromantik am Ausgang des 18. Jahrhunderts gleichsam eine neue Periode der Deutungs- und Auslegungsgeschichte von Religion und Protestantismus. Auf diesen doppeldimensionalen Wendepunkt haben wir bereits in der Einleitung hingewiesen. Ebenso wie die Subjektphilosophie ihre Neuentwicklung in der Frühromantik durch Schleiermachers Monologen von 1800 erlebt, so ist auch die Umwandlung des Religionsbegriffs einer Programmschrift von ihm zu verdanken. Diese Programmschrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) hat Schleiermacher – auf Vorschlag von seinem Freund Friedrich Schlegel – zwischen Herbst 1798 und Frühjahr 1799 verfasst. Sie zählt zu den bedeutendsten Werken in der religionstheoretischen Geschichte.1 Schleiermachers Reden über die Religion von 1799 bedeuten eine Transformation der Deutung und Auslegung von Religion und Protestantismus. Ideengeschichtlich kann diese Transformation so verstanden werden, dass Schleiermacher mit dieser Schrift die Theologie in der christlichen Tradition auf eine Religionstheorie umstellt. Begrifflich ist Theologie ein vom Griechischen stark geprägtes Wort.2 In der christlichen Tradition gilt die Theologie bis zum Mittelalter als Lehre von Gott – als eine gegenständliche Beschreibung von Gott, bis die Reformation eine neue Dimension in die Theologie einführt. Wohl bestreitet Martin Luther die Gegenständlichkeit des göttlichen Sachverhaltes nicht, aber mit seiner Reformation legt er einen besonderen Akzent auf die menschliche Seite der Theologie. Für Luther ist der Glaube, der auf die menschliche Seite bezogen ist, der Gegenstand der Theologie, weil der Gottesverstand nur auf Menschen bezogen wird. Der Glaube, das Gewissen und die Gemütsaffekte verkörpern bei Luther die menschliche Einstellung in der Theologie. Vor dem Hintergrund der Reformation und freilich auch der Destruktion der Gottesbeweise durch Immanuel Kant geht Schleiermacher im Kontext der Spätaufklärung und Frühromantik einen weiteren wichtigen Schritt, indem er die Theologie als eine Wissenschaft versteht. In dieser Wissenschaft geht es nicht mehr primär um Gott, sondern um die menschliche Bezugnahme auf Gott. Für Schleiermacher ist

1 Für Ulrich Barth besteht die Bedeutung der Reden im Folgenden: „Schleiermachers ‚Reden‘ haben nicht nur der Frühromantik maßgebliche religionsphilosophische Impulse verliehen, sondern zugleich auch den entscheidenden Grundstein gelegt für die gesamte Frömmigkeitsentwicklung des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert.“ (ders.: Die Religionstheorie der ›Reden‹ [1998/2004], 262) Er bezeichnet diese Schrift als „[d]as bedeutendste und einflußreichste Dokument protestantisch-romantischer Religionsauffassung“ (a. a. O., 261). 2 Griechisch: θεολογíα (Rede oder Lehre von Gott und göttlichen Dingen). Zur Begriffsgeschichte von „Theologie“ vgl. Christoph Schwöbel: Art. Theologie (2005), RGG⁴, Bd. 8, 255–266. https://doi.org/10.1515/9783110664393-004

Kapitel 2 Der individualitätstheoretische Religionsbegriff in den Reden (1799) 

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Theologie also keine gegenständliche Beschreibung Gottes, vielmehr handelt sie von der menschlichen Gottesbeziehung. Damit erlebt die protestantische Theologie bei Schleiermacher „eine kopernikanische Wende“, so wie die Philosophie bei Kant.3 Im Vergleich zum Ausdruck „Theologie“ hat „Religion“ erst relativ spät eine gewichtige Bedeutung in der Auslegungsgeschichte des Christentums gewonnen. Trotz seiner antiken Wurzeln und deren mittelalterlicher Rezeption ist der Religionsbegriff das Ergebnis einer kritischen und zugleich konstruktiven Transformation innerhalb der Neuzeit.4 Während Religion in der neuzeitlichen christlichen Tradition stark als Gottesverehrung definiert wurde, interpretiert Schleiermacher Religion in den Reden als Frömmigkeitsgefühl neu. Im Frömmigkeitsgefühl kommt immer das individuelle und eigene Subjekt vor. Mit dieser neuen Fassung des Religionsverständnisses, in enger Verbindung mit der Neuentwicklung der subjektivitätstheoretischen Philosophie in der Frühromantik, trägt Schleiermacher der Bedeutung der Subjektivität in der Religion Rechnung. Die Umstellung der Theo-logie auf eine Religionstheorie gehört zu den wichtigsten Leistungen Schleiermachers. Ausgangspunkt seiner Neuinterpretation des Religionsbegriffs ist eine Krisendiagnose seiner Gegenwart. Für Schleiermacher ist Religion am Ausgang des 18. Jahrhunderts in eine tiefe Krise geraten, vor allem unter den Intellektuellen – den „gebildeten Menschen“ (Reden 2). Der „Untergang der Religion“ (Reden 4) lässt sich aus zwei Perspektiven beobachten: Diese Krise seiner Zeit bezieht sich zunächst auf die veränderte Theorielage in Theologie und Philosophie; sodann geht es um die gesellschaftlich-kulturelle Not.5 Um Schleiermachers neue Fassung des Religionsverständnisses in dieser Programmschrift adäquat rekonstruieren zu können, ist es erforderlich, Schleiermachers Krisendiagnose voranzustellen.6 Drei Debatten kennzeichnen Schleiermacher zufolge die Theorielage am Ausgang des 18. Jahrhunderts: Kants Metaphysikkritik, Fichtes Atheismusstreit und Spinozas Pantheismusdebatte. Kants Erkenntnistheorie führt zu einer Destruktion der traditionellen Metaphysik, indem sie die traditionelle Basis der christlichen Theologie – den ontologischen und den kosmologischen Gottesbeweis – widerlegt. Gottes

3 Kurt Nowak: Schleiermacher (2001), 478. 4 Zur Geschichte des Religionsbegriffs vgl. Falk Wagner: Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart (1986), 19–164; Ernst Feil, Peter Antes u. a.: Art. Religion (2004), in: RGG⁴, Bd. 7, 263–267; Gunter Wenz: Studium Systematische Theologie. Bd. 1, Religion. Aspekte ihres Begriffs und ihrer Theorie in der Neuzeit, Göttingen 2005, 89–103. 5 Ulrich Barth: Die Religionstheorie der ›Reden‹ (1998/2004), 268. 6 Ich folge in dieser Grobskizze weitgehend den Forschungen von Ulrich Barth. Vgl. ders.: Gott als Grenzbegriff der Vernunft. Kants Destruktion des vorkritisch-ontologischen Theismus (1993), in: ders.: Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 235–262; ders.: Die Religionstheorie der ›Reden‹ (1998/2004), bes. 270–279; ders.: Von der Ethikotheologie zum System religiöser Deutungswelten. Pantheismusstreit, Atheismusstreit und Fichtes Konsequenzen (1999), in: ders.: Religion in der Moderne (2003), 285–311.

104  Kapitel 2 Der individualitätstheoretische Religionsbegriff in den Reden (1799)

Existenz könne weder ontologisch als Basis allen Seins noch kosmologisch als letzter Grund bewiesen werden. Vielmehr ist Gott der Inbegriff aller Realität: eine Vernunftidee, das Ziel alles Wissens. Schleiermacher zufolge hat Kants Metaphysikkritik die traditionelle Theologie in ihren Grundlagen erschüttert. Doch auch Kants Lösung einer Ethikotheologie hält er nicht für angemessen. Während Kant Religion mit Moral identifiziert – im Sinn der „Erkenntniß aller Pflichten als göttlicher Gebote“,7 ist Religion für Schleiermacher weder in Metaphysik noch in Moral zu verorten. Vielmehr hat sie einen ganz eigenen empirisch-psychologischen Ausgangspunkt. Wir werden darauf zu sprechen kommen. Vor dem Hintergrund der Metaphysikkritik Kants geht Fichte einen Schritt weiter, indem er eine wissenschaftliche Gottesmetaphysik völlig ablehnt. Diese Auffassung führte zum Atheismusstreit, der als zweite Debatte die Theorielage kennzeichnet. Während bei Kant Gott als Vernunftidee noch denkbar ist, ist Gott für Fichte nicht mehr durch Denken zu begreifen. Seiner Einsicht nach ist Gott weder eine AnSich-Seiende Instanz noch eine subsistierende Instanz. In enger Verbindung mit seinem Begriff Person lehnt Fichte das Merkmal der Persönlichkeit für Gott ab, weil Gott die intersubjektivitätstheoretische Dimension fehle, die für die Bestimmung der Person unentbehrlich sei. Das Göttliche könne deshalb nur als eine moralische Weltordnung in der Zusammenstimmung der Autonomie der Individuen, die in uns wirke, verstanden werden.8 Diese radikale Umprägung des Gottesbegriffs bei Fichte hat Schleiermacher in seinen Reden einer Kritik unterzogen: Einerseits folgt er Fichte und betrachtet Gott nicht mehr als einen konstitutiven Begriff für Religion – Religion kann auch ohne Gott sein; andererseits unterscheidet er Religion von einer moralischen Weltordnung und sucht nach einer neuen Deutung für Religion.9 Neben Kants Metaphysikkritik und Fichtes Atheismusstreit ist der Pantheismusstreit für Schleiermacher die dritte Debatte, die die religionsphilosophische Ausgangslage am Ausgang des 18. Jahrhunderts kennzeichnet. Sie entstand aus einer sich auf Spinozas Metaphysik beziehenden Auseinandersetzung zwischen Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819), Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) und Moses Men-

7 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft (1788), 129. Hier zitiert nach Paginierung der Akademie-Ausgabe. 8 Mehr zu Fichte und dem Atheismusstreit vgl. Emanuel Hirsch: Fichtes Religionsphilosophie im Rahmen der philosophischen Gesamtentwicklung Fichtes, Göttingen 1914, 50–63; Folkart Wittekind: Religiosität als Bewußtseinsform. Fichtes Religionsphilosophie 1795–1800, Gütersloh 1993; Jörg Dierken: Selbstbewusstsein individueller Freiheit (2005), 221–242. Björn Pecina: Fichtes Gott. Vom Sinn der Freiheit zur Liebe des Seins, Tübingen 2007, 31–109. 9 Ob Schleiermacher in der Entstehungsphase der Reden den Atheismusstreit mitbekommen hat, ist bis heute strittig. Ulrich Barth hat darauf hingewiesen, dass die Vorgänge des Atheismusstreites „ja unmittelbar in die Abfassungszeit der ›Reden‹ fielen“ (vgl. ders.: Die Religionstheorie der ›Reden‹ [1998/2004], 273).

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delssohn (1729–1786).10 Der Hintergrund dieser Debatte liegt in der damaligen Krise des Theismus. In seinem metaphysischen Werk Ethik (1677) entfaltete Baruch de Spinoza (1632–1677) bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine substanzontologisch geprägte Absolutheitstheorie. Für ihn ist Gott als das Absolute die einzig wahre Substanz, in dem Wesen und Dasein zusammenfallen.11 Das Absolute hat unendlich verschiedene Eigenschaften, sowohl im geistigen als auch im körperlichen Dasein. Diese unterschiedlichen Existenzen des Universums sind die Modi des Absoluten. So ist alles Endliche Modus des Unendlichen. Beruhend auf diesem Prinzip stellt Spinoza fest: Das Unendliche ist im Endlichen zu erblicken, das Absolute bzw. das Göttliche ist deshalb überall – in der Natur und im Menschen. Durch die Pantheismusdebatte kam Schleiermacher zu Spinozas pantheistisch geprägten Gedanken, die einen unüberschaubaren Einfluss auf seine Religionstheorie ausübte. Spinozas „Modi des Absoluten“ führten ihn zum Leitbegriff seines eigenen Religionsverständnisses in den Reden – „Anschauung des Universums“.12 Der Grundgedanke dieser neuen Fassung ist: Religion ist Anschauung des Universums und alles Endliche ist mannigfaltige Darstellung des Universums. Die drei religionsphilosophischen Debatten sind eng mit der gesellschaftlichkulturellen Entwicklung jener Zeit verbunden. Für Schleiermacher ist der „Untergang der Religion“ daher auch dieser gesellschaftlich-kulturellen Krise zu verdanken, die er in der ersten und dritten seiner Reden thematisiert. Dabei differenziert er zwischen drei von der Aufklärung betroffenen Ländern: Frankreich, England und Deutschland.13

10 Der Auslöser der Pantheismusdebatte ist Friedrich Heinrich Jacobi. In seiner Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785) warf er Lessing einen in den Spinozismus und Atheismus mündenden Pantheismus vor. Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785), auf Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher und Irmgard Maria Piske bearbeitet von Marion Lauschke, Hamburg 2004. 11 Vgl. Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt (1677), Lateinisch-Deutsch. Neu übersetzt, herausgegeben mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat, Hamburg 2010. Hierzu I. Teil, Von Gott, 4–97. 12 Mehr zur Pantheismusdebatte und zu ihrem Einfluss auf den frühen Schleiermacher vgl. Konrad Cramer: „Anschauung des Universums“, Schleiermacher und Spinoza, in: Akten des 1. internationalen Kongresses 1999 (2000), 118–141; Andreas Arndt: Von der Amphibolie religiöser Rede. Religion und Philosophie in Schleiermachers „Reden über die Religion“ (2011), in: ders.: Schleiermacher als Philosoph (2013), 64–75, bes. 67–73; ders.: „Eine Art von Halbdunkel, aus welchem hin und wieder eine pantheistische Ansicht der Dinge hervorzuleuchten scheint“. Schleiermachers systematische Auseinandersetzung mit Spinoza (2001), in: ders.: Schleiermacher als Philosoph (2013), 76– 98, bes. 79–87. 13 Zu der Lage der Religion in diesen drei Ländern während der europäischen Aufklärung vgl. Ulrich Barth: Religion in der europäischen Aufklärung (2013), in: ders.: Kritischer Religionsdiskurs (2014), 77–96. Zur Diagnose der religiösen Krise in den Reden vgl. ferner Wilhelm Gräb: Der kulturelle Umbruch zur Moderne und Schleiermachers Neubestimmung des Begriffs der christlichen Religion (2000), in: Akten des 1. internationalen Kongresses 1999 (2000), 167–177, hierzu 172.

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Das wichtigste Ereignis in Frankreich in dieser Zeit ist die große Revolution. Sie bewirkte einen Modernisierungsschub, der eine radikale mehrdimensionale gesellschaftliche Wende mit sich brachte. Für Friedrich Schlegel gehört die französische Revolution zu den drei größten Tendenzen des Zeitalters.14 Auch Schleiermacher hat die französische Revolution als „die hohe Nemesis“ (Reden 17) und die „erhabenste[] That des Universums“ (ebd.) gesehen. Doch er kritisiert an ihr, dass sich die politische und gesellschaftliche Innovationskraft der Revolution nicht auf die religiöse Ebene auswirkte. In Frankreich gab es ihm zufolge keine Reform des religiösen Lebens.15 Ohne eine solche religiös erneuernde Bedeutung ist die Revolution für Schleiermacher jedoch nur eine „frivole Gleichgültigkeit“ (ebd.) und ein „wizige[r] Leichtsinn“ (ebd.). England sieht Schleiermacher vom Empirismus dominiert. Ihm zufolge stellt England allerdings nur „eine jämmerliche Empirie“ (Reden 16) dar. Die Wissenschaft, die Kultur und die Freiheit, die auf der Basis des Empirismus als Weltanschauung entstehen, sieht er lediglich als „ein leeres Spielgefecht“ (ebd.). Er kritisiert hierbei die durch den Kapitalismus und die Konsumsucht geprägte Einstellung, die sich auf das „Gewinnen und Genießen“ (ebd.) beschränkt. Fokussiere man sich aber auf „das Sinnliche und den nächsten unmittelbaren Nuzen“ (ebd.), so gebe es darüber hinaus nichts Ernstes. Aus diesem Grund bleibt Religion in England für Schleiermacher bis zum Ende des 18. Jahrhunderts „ein todter Buchstabe, ein heiliger Artikel in der Verfaßung, in welcher nichts reelles ist“ (ebd.). In Deutschland diagnostiziert er eine Sakralisierung des Alltagslebens. In den frühromantischen Kreisen wird die Kultur zwecks der Sinnstiftung immer mehr zur Ersatzreligion. Aus dem Rationalismus der Aufklärung entwickelt sich hierbei ein Spezialistentum in der Gesellschaft, woraus eine Religionsverachtung unter den Gebildeten entsteht. Nach Schleiermacher verweisen diese im verächtlichen Ton auf die „Rohen und Ungebildeten“ (Reden 18), die allein noch Religion benötigen. Hierdurch hindern gerade jene „verständigen und praktischen Menschen“ (Reden 144) „das Gedeihen der Religion“ (ebd.). Als „das Gegengewicht gegen die Religion“ (ebd.) sind gerade die Gebildeten für die Krise der Religion in Deutschland verant-

14 Friedrich Schlegel stellt fest: „Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre, und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters.“ (ders.: Athenäums-Fragmente [1798– 1800], in: ders.: Charakteristiken und Kritiken I [1796–1801], Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 1. Abt., Bd. II, hg. von Hans Eichner, Paderborn 1967, 165–255, Nr. 216, 198) 15 Zu Schleiermachers Urteil über die französische Revolution vgl. Kurt Nowak: Die Französische Revolution in Leben und Werk des jungen Schleiermacher, in: Kurt-Victor Selge (Hg.): Internationaler Schleiermacher-Kongreß (Berlin 1984), Bd. 1, Berlin/New York 1985, 103–125; Andreas Arndt: Die Reformation der Revolution. Schleiermachers Umdeutung der Französischen Revolution, in: Akten des Schleiermacher-Kongresses 2017 (2018), 183–194. Zum Thema „Schleiermacher und die Französische Revolution“ vgl. auch Matthias Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit. Schleiermacher-Studien. Bd. 1, Teilband 1, Berlin/New York 2004, 114–131.

Kapitel 2 Der individualitätstheoretische Religionsbegriff in den Reden (1799)  107

wortlich. Schleiermacher beruft sich hierbei aber nicht nur auf die Hochkultur der Fachleute, sondern auch auf das normale Alltagsleben. In allen Schichten werden Priester von der Bevölkerung nicht mehr als Spezialisten für religiöse Anfragen gesehen. Dahinter verbirgt sich insofern auch eine Krise religiöser Mitteilung: Religion verliert in Deutschland nicht nur die kulturelle Relevanz, sondern auch ihre Kommunikationskompetenz im Alltagsleben. Dadurch ist die Religionskrise für Schleiermacher zugleich eine Krise der Kirche. Aus diesem Grund überrascht es nicht, dass er im Rahmen seiner neuen Fassung des Religionsverständnisses einen neuen Kirchenbegriff entwickelt. Fasst man diese sich auf drei europäische Länder beziehende Zeitdiagnose zusammen, so ist zu ersehen, dass für Schleiermacher der Religionsverlust am Ausgang des 18. Jahrhunderts im europäischen Raum ein gesamtkultureller Sachverhalt ist. Dem Untergang der Religion liegt die ganze gesellschaftliche Situation zugrunde. Die Gegenwart seiner Zeit ist nicht in der Lage, die Signale vom radikalen Empirismus zu erkennen, den Rationalismus in der Aufklärung als einen religionshemmenden Faktor zu durchschauen und die unentbehrliche Deutung und unersetzliche Position der Religion in der Gesellschaft und Kultur zu verstehen. Daher ist die Gegenwart – im Ganzen betrachtet – nicht in der Lage, dem Niedergang der Religion entgegen zu wirken. Der Grund für dieses Unvermögen liegt für Schleiermacher im folgenden Sachverhalt: Für eine Epoche wie die Frühromantik, die durch die Individualisierung und Pluralisierung des Lebens charakterisiert ist, fehlt ein dem Kulturzustand entsprechender und moderner Religionsbegriff. Betrachtet man beide Perspektiven der Zeitdiagnose – sowohl die religionsphilosophische als auch die gesellschaftlich-kulturelle, so zeigt sich, wie tiefgreifend Schleiermacher die Krise der Religion gegen Ende des 18. Jahrhunderts bewertet. Durch den engen Kontakt, den er mit dem Berliner frühromantischen Kreis genießt, sieht er die Notwendigkeit, im Sprachstil seiner Zeitgenossen eine neue Fassung des Religionsverständnisses zu formulieren. Schleiermachers Religionsbegriff in den Reden, die ein paar Monate früher als die Monologen erschienen sind, steht hierbei in enger Verbindung mit seinem Individualitätskonzept in den Monologen. Der erste Hauptteil der vorliegenden Untersuchung hat zum Ziel, aufzuzeigen, dass Schleiermacher den inneren Verweisungszusammenhang von Religion und Individualität bereits im frühromantischen Kontext entdeckt und bearbeitet hat. Nachdem im ersten Kapitel seine anthropologische Individualitätstheorie in seiner frühromantischen Werkphase vor dem philosophiegeschichtlichen Hintergrund rekonstruiert wurde, werden wir im Folgenden mit dem zweiten Kapitel eine Studie seines neuen Religionsbegriffs geben. Diese Studie erfolgt in drei Schritten: Zunächst soll Schleiermachers neue Fassung des Religionsverständnisses in der zweiten Rede der Reden über die Religion (1799) thematisiert werden. Dabei wird konkretisiert, wie er das Wesen der Religion als Anschauung und Gefühl des Universums neu bestimmt und welche Rolle seine Individualitätsgedanken in dieser Interpretation spielen (1). Beruhend auf dieser Neubestimmung

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geht es sodann im zweiten Abschnitt um die Mitteilung der Religion in der vierten Rede, dazu gehörend kommt der neue Kirchenbegriff zur Darstellung (2). Schließlich wird im dritten Abschnitt die Individualisierung der geschichtlichen Religionen in der fünften Rede in den Blick genommen werden. Hierdurch soll die zweite Bedeutungsdimension der Verhältnisbestimmung von Religion und Individualität bei Schleiermacher geklärt werden (3).

1 Die neue Fassung des Religionsverständnisses Vor dem Hintergrund seiner Krisenbeschreibung der Religion am Ausgang des 18. Jahrhunderts entwirft Schleiermacher in der zweiten Rede seiner Reden über die Religion (1799) eine revolutionäre Fassung des Religionsverständnisses, die auf die Ausdifferenzierung von Religion gegenüber anderen Vermögen des Geistes oder gegenüber anderen Gebieten der Kultur zielt. Sein neues Religionsverständnis hat deshalb in erster Linie die Aufgabe, Religion von fremden Elementen zu entkoppeln. Auf dieser Basis handelt es sich in zweiter Linie darum, das Wesen der Religion neu zu bestimmen. Daher wird im Folgenden zunächst auf Schleiermachers Entkoppelung der Religion von Metaphysik und Moral kurz eingegangen (1.1); dann werden wir unter Berücksichtigung der neuesten Forschungsergebnisse darstellen, wie er das Wesen der Religion als Anschauung und Gefühl entfaltet (1.2).

1.1 Die Entkoppelung der Religion von Metaphysik und Moral Zu Beginn der zweiten Rede weist Schleiermacher auf die hermeneutischen Probleme der Identifizierbarkeit der Religion hin, weswegen er mit der entscheidenden Frage „was die Religion ist“ nur „mit einer […] Zögerung“ (Reden 38) anfangen kann. Die hermeneutischen Probleme der Identifizierbarkeit der Religion bestehen für Schleiermacher nicht allein darin, dass der freie und wache Sinn für Religion fehlt, auch wenn man nur „mit der unbefangensten Nüchternheit des Sinnes“ (Reden 39) das Wesentliche „klar und richtig“ (ebd.) auffassen kann. Vielmehr bestehen die hermeneutischen Probleme darin, dass das volle Verlangen, „das Dargestellte aus sich selbst zu verstehen“ (ebd.), fehlt. Sucht man nach dem Wesen der Religion statt „voll Verlangen“ nur durch Verführung „von alten Erinnerungen“ oder Bestechung „von vorgefaßten Ahndungen“ (ebd.), so kann man das „himmlische[] Wesen“ (ebd.) nicht erkennen. Für Schleiermacher liegen diese Probleme der Identifizierbarkeit „jeder Verwechselung der Religion mit dem was ihr hie und da ähnlich sieht“ (Reden 41) in gewisser Weise zugrunde. Mit dieser hermeneutischen Reflexion über die Schwierigkeit der Identifizierung der Religion bemüht sich Schleiermacher dann darum, Religion in der Gegenwart seiner Zeit vor der „Verwechselung“ mit Metaphysik und Moral zu retten, die der

1 Die neue Fassung des Religionsverständnisses 

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Religion ähnlich, aber zugleich fremd sind, indem er eine deutliche Unterscheidung von Metaphysik, Moral und Religion vornimmt. Für Schleiermacher haben alle drei aber vorerst etwas Gemeinsames – „denselben Gegenstand, nemlich das Universum und das Verhältniß des Menschen zu ihm“ (ebd.). Diese Gemeinsamkeit ist teilweise für die „Verirrung“ (ebd.) verantwortlich, Religion als ein Epiphänomen von Metaphysik und Moral zu verstehen.16 Metaphysik, Moral und Religion – die drei scheinbar ähnlichen Kulturbereiche – unterscheiden sich nach Schleiermacher dadurch, dass sie den „gleichen Stoff[]“ auf eine „entgegengesezt[e]“ Art behandeln. Diese Art konkretisiert er wie folgt: „[S] ie muß diesen Stoff ganz anders behandeln, ein anderes Verhältniß der Menschen zu demselben ausdrücken oder bearbeiten, eine andere Verfahrungsart oder ein anderes Ziel haben“ (Reden 42). Nur durch die eigene Art, denselben Stoff zu behandeln, gewinnt jeder Kulturbereich „eine besondere Natur und ein eigenthümliches Dasein“ (ebd.). Metaphysik bestimmt Schleiermacher als das begriffliche Unternehmen der Letztbegründung. Denn die Umgangsart der Metaphysik mit dem Universum ist diese: „[S]ie klaßifizirt das Universum und theilt es ab in solche Wesen und solche, sie geht den Gründen deßen was da ist nach, und deduziert die Nothwendigkeit des Wirklichen, sie entspinnet aus sich selbst die Realität der Welt und ihre Geseze.“ (ebd.)17 Hinsichtlich der Umgangsart ist Metaphysik also durch die Klassifikation und Abteilung des Universums charakterisiert. Ebenso wie Metaphysik hat auch Moral ihre eigene Umgangsweise mit dem Universum: „[S]ie gebietet und untersagt Handlungen mit unumschränkter Gewalt“ (Reden 43). Moral bedeutet Normen und Gesetze für die menschlichen Handlungen, die sich auf „das Universum und das menschliche Verhältnis zu ihm“ (Reden 41) richten. Damit verbunden sieht der Autor die Entwicklung eines Systems von Pflichten als Aufgabe von Moral. Anders als Moral hat Religion seiner Einsicht nach nicht die Aufgabe, „Pflichten abzuleiten“ (Reden 43), und darf deshalb keine Sammlung von Regelungen und Gesetzen enthalten. Nimmt man die beiden Unterscheidungen zusammen, so ist deutlich, dass für Schleiermacher Religion zwar wie Metaphysik und Moral „das Universum und das Verhältniß des Menschen zu ihm“ als Stoff hat, diesen Stoff jedoch nicht auf gleiche Weise wie diese beiden behandelt. Religion ist deshalb weder Metaphysik noch Moral, sondern sie hat ihren eigenen empirisch-psychologischen Ort – „eine eigene

16 Vgl. Reden, 41: „[…] daher ist Metaphysik und Moral in Menge in die Religion eingedrungen, und manches was der Religion angehört, hat sich unter einer unschiklichen Form in die Metaphysik oder die Moral verstekt“. 17 Ferner konkretisiert Schleiermacher die Aufgabe der Metaphysik wie folgt: „Wesen zu sezen und Naturen zu bestimmen, sich in ein Unendliches von Gründen und Deductionen zu verlieren, lezte Ursachen aufzusuchen und ewige Wahrheiten auszusprechen.“ (Reden 43)

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Provinz im Gemüthe“ (Reden 37). Durch diese Abgrenzung wird Religion von Metaphysik und Moral entkoppelt.18 Demnach beschreibt Schleiermacher das Verhältnis von Religion zu Metaphysik und Moral folgendermaßen: Religion gilt als „das nothwendige und unentbehrliche Dritte“ (Reden 52) neben Metaphysik und Moral und befindet sich „in dem schneidenden Gegensaz“ (Reden 50)19 zu diesen beiden. Religion hat deshalb einen „gleichen Rang in der menschlichen Natur“ (Reden 35) – einen bestimmten Ort in der Kultur. Bisher ist es offensichtlich, dass für unseren Autor Religion keineswegs Epiphänomen von Metaphysik und Moral ist, sondern viel mehr als ein unersetzbares und unverwechselbares Gegengewicht in der Kultur zu diesen beiden steht. An dieser Stelle verbergen sich die kulturtheoretischen Grundgedanken Schleiermachers, dass Religion nämlich zur Kultur gehört und deshalb ein Gegenstand der Kulturwissenschaft sein soll. Diese aufschlussreiche Perspektive seiner Religionstheorie hat der Autor erst in seiner als Kulturtheorie rezipierten Philosophischen Ethik begründet und verdeutlicht.20 Hierbei stellt sich dann die Frage, ob Schleiermacher in diesem Zusammenhang Religion und Philosophie auch deutlich voneinander unterscheidet. Im Anschluss an seine Abgrenzung der Religion von Metaphysik und Moral sieht er die Aufgaben von Religion und Philosophie ebenfalls als unterschiedlich an. Während Philosophie die Aufgabe hat, diejenigen, „welche wißen wollen, unter ein gemeinschaftliches Wißen zu bringen“ (Reden 63), ist Religion dafür verantwortlich, denjenigen, „welche noch nicht fähig sind das Universum anzuschauen, die Augen zu öfnen“ (ebd.). Damit stellt der Autor an dieser Stelle heraus, dass Religion die Menschen nicht „unter Einen Glauben und Ein Gefühl“ (ebd.) bringen will, weil sie nichts mit der „kahle[n] Einförmigkeit“ (Reden 64) zu tun hat. Philosophie zielt auf ein allgemeines Wissen, hingegen geht es in Religion darum, die individuelle Beziehung des Einzelnen auf das Universum zu entdecken.21 Aber ob die Abgrenzung der Religion von der Philosophie bei Schleiermacher in den Reden tatsächlich gelingt, bleibt nicht unbestritten.22 Mit der scharfen Abgrenzung der Religion von Metaphysik und Moral ist in den Reden eine weitere Differenzierung von Religion verbunden: Das Wesen der Religi-

18 Zum Unterschied zwischen Religion, Metaphysik und Moral in den Reden vgl. auch Christian Albrecht: Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit (1994), 150–155. 19 Vgl. auch Reden, 52: „als ihr natürliches Gegenstük, nicht geringer an Würde und Herrlichkeit, als welches von ihnen Ihr wollt“. 20 Vgl. unten: Kapitel 3. Die handlungstheoretische Grundlegung der Kulturtheorie. 21 Vgl. Reden, 63: „[D]enn jeder Sehende ist ein neuer Priester, ein neuer Mittler, ein neues Organ“. 22 In der neusten Forschung zieht Andreas Arndt beispielsweise aus einer Diskussion über Schleiermachers Auseinandersetzung mit Spinozas Philosophie den Schluss, dass Schleiermachers Abgrenzung von Philosophie und Religion in den Reden „in der Konsequenz“ gescheitert ist (ders.: Von der Amphibolie religiöser Rede (2011/2013), 74).

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on ist „weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl“ (Reden 50). Das Wesen der Metaphysik ist Denken – um „das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären“ (ebd.), das Wesen der Moral ist Handeln, um „es fortzubilden und fertig zu machen“ (ebd.). Wird das Wesen der Metaphysik als Denken und das Wesen der Moral als Handeln verstanden, so behauptet sich der Sachverhalt: Das Wesen der Religion ist weder Handeln noch Denken. Daher sind „die Verständigen und praktischen Menschen“ (Reden 144) in der Gegenwart seiner Zeit „das Gegengewicht gegen die Religion“ (ebd.). Gerade mit dieser zweiten Differenzierung wird die Definition des Wesens der Religion als Anschauung und Gefühl eingeführt. An dieser Stelle ist aber darauf hinzuweisen, dass Schleiermacher hierbei den Begriff des Handelns in einem sehr engen Sinne verwendet, weil das Handeln hier für ihn eher alle praktischen Taten des Menschen, die nach moralischen Regelungen vollgebracht werden sollen, bedeutet.23 Anders als in den Reden hat er später in seiner Philosophischen Ethik einen weiter gefassten Begriff des Handelns, unter dem alle Tätigkeiten der Vernunft auf die Natur als Handeln verstanden werden, so dass nicht nur Denken, sondern auch Religion als eine Handlungsweise interpretiert wird.24 Die Differenzierung der Religion von Metaphysik und Moral und die Differenzierung der Religion von Denken und Handeln sind also äquivalent – beide dienen in den Reden dazu, Religion vor der Verwechslung mit ähnlichen, aber ihr eigentlich fremden Elementen zu retten, nur aus unterschiedlichen Perspektiven. Während jene Differenzierung auf einen eigenständigen Ort für Religion in der Kultur zielt, legt die zweite den Akzent auf das Wesen der Religion – also auf das, was Religion nach Schleiermachers Ansicht eigentlich ist. Mit dieser doppelten Differenzierung grenzt Schleiermacher Religion nicht nur scharf von der auf die Letztbegründung Gottes zielenden Theologie in der scholastischen Tradition ab, sondern er geht zugleich auf kritische Distanz zur kantischen Ethikotheologie. Erst aus dieser radikalen Reinigung von fremden Elementen entwickelt er einen neuen Religionsbegriff im Kontext der Frühromantik. Damit können wir zu seiner Neubestimmung der Religion als Anschauung und Gefühl in der zweiten Rede übergehen.

1.2 Die neue Bestimmung des Wesens der Religion als Anschauung und Gefühl Mit der Bestimmung des Wesens der Religion als „Anschauung und Gefühl“ (Reden 50), so wurde oben gezeigt, zieht Schleiermacher ihre Grenze zu Metaphysik und

23 Dazu vgl. Reden, 68–69: „Alles eigentliche Handeln soll moralisch sein und kann es auch, […]. Wenn Ihr es nicht versteht, daß alles Handeln moralisch sein soll, so seze ich hinzu, daß dies auch von allem andern gilt“. 24 Dazu vgl. unten: Kapitel 3. Die handlungstheoretische Grundlegung der Kulturtheorie.

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Moral, derer Wesen jeweils im Denken und im Handeln liegt. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass die zentrale Definition der Religion Schleiermachers in den Reden ihre Bestimmung als „Anschauung und Gefühl“ ist, obwohl der junge Autor Religion in dieser Schrift darüber hinaus als „Anschauen des Unendlichen“ (Reden 26) und als „Sinn und Geschmak fürs Unendlichen“ (Reden 53) bezeichnet. Anschauung und Gefühl stellen sich somit als zentrale Begriffe für sein Religionsverständnis in den Reden heraus: Anschauung ist die Anschauung des Universums, Gefühl das Innewerden der eigenen Zustände der Anschauung des Universums im Bewusstsein. Dank dieser durch beide elementare Definitionsmomente strukturierten Neuinterpretation des Religionsbegriffs in diesem frühromantischen Werk gilt Schleiermacher als wegbahnender Theoretiker in der Deutungs- und Auslegungsgeschichte von Religion und Protestantismus. In der zweiten Rede führt er seine Neuinterpretation des Religionsbegriffs in zwei eng miteinander verbundenen Schritten aus: In einem ersten Schritt geht es darum, das Wesen der Religion als Anschauung und Gefühl allgemein zu bestimmen. In diesem Zusammenhang gilt es nicht nur, „Anschauen des Universums“ als Leitbegriff seines Religionsverständnisses in dieser Programmschrift zu konstatieren, sondern auch Gefühl als unentbehrlich für das Anschauen des Universums und deshalb als unentbehrlich für die Vollendung der Religion festzustellen (1.2.1). Der zweite Schritt legt sodann den Akzent darauf, Anschauung und Gefühl in konkreten Beispielen näher zu klären (1.2.2).25 Für unsere vorliegende Untersuchung zum Thema „Religion und Individualität bei Schleiermacher“ ist dieser zweite Schritt von besonderer Bedeutung, weil die Anschauung des Universums in der Menschheit als Schlüsselpunkt für seine neue Bestimmung der Religion gilt. Auf diese zweizügige Interpretationsstrategie wird unsere Darstellung seiner neuen Bestimmung des Wesens der Religion folgen, womit wir aufzeigen wollen, wie Schleiermacher den inneren Zusammenhang von Religion und Individualität bereits in seiner ersten Fassung des Religionsverständnisses im frühromantischen Kontext entdeckt und bearbeitet hat und dieses in enger Verbindung mit seinem Individualitätskonzept in den Monologen steht. 1.2.1 Religion als Anschauung und Gefühl Für den jungen Redner ist „Anschauen des Universums“ (Reden 55) nicht nur „der Angel meiner ganzen Rede“ (ebd.) – der Ausgangspunkt seiner ganzen Schrift über Religion, sondern zugleich „die allgemeinste und höchste Formel der Religion“ (ebd.) – das universale Schema für das, was man als Religion verstehen soll. Denn nur durch diesen Begriff sind das Wesen der Religion und ihre Grenzen zu anderen Gebieten in der Kultur „aufs genaueste“ (ebd.) zu bestimmen. Anschauen des Uni-

25 Die zentralen Paragraphen in der zweiten Rede können nach dieser zweiteiligen Interpretation wie folgt gegliedert werden: Die Wesensbestimmung der Religion als Anschauung und Gefühl (vgl. Reden, 50–78); die konkreten Beispiele für Anschauung und Gefühl (vgl. Reden, 108–123).

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versums ist also der einzige wesens- und grenzbestimmende Maßstab für das Phänomen Religion (in der Kultur) überhaupt. So entscheidend das Anschauen des Universums für das Wesen der Religion ist, so deutlich konstatiert Schleiermacher es an dieser Stelle als Leitbegriff für seine neue Fassung des Religionsverständnisses. Dass Schleiermacher den Begriff „Anschauen“ für das Wesen der Religion in den Reden verwendet, ist kein Zufall. Am Ausgang des 18. Jahrhunderts war dieser Begriff sehr präsent in der philosophischen Debatte, und mit diesem Begriff gewinnt der junge Autor einen guten Anschluss an die Diskussion unter den Zeitgenossen, so dass Christof Ellsiepen diese Strategie seiner Reden als klugen „Schachzug“ kommentiert.26 Damit ist der Sachverhalt verbunden, dass Schleiermachers Anschauungsbegriff in den Reden auf dem Boden der philosophischen Debatte seiner Gegenwart steht. Ellsiepen hat mit seiner Untersuchung gezeigt, dass Schleiermachers Idee eines religiösen Anschauungsbegriffs „verschiedene Aspekte des Anschauungsbegriffs“27 in der zeitgenössischen Debatte integriert. Um Schleiermachers Anschauungsbegriff in seiner neuen Fassung des Religionsverständnisses besser zu verstehen, wird es hilfreich sein, einen Blick auf Christof Ellsiepens Entdeckung zu werfen, bevor wir das Wesen der Religion als Anschauung und Gefühl angehen. Für Ellsiepen sind vier der verschiedenen Aspekte des Anschauungsbegriffs in der zeitgenössischen Debatte für Schleiermachers religiösen Anschauungsbegriff in den Reden wesentlich.28 Das erste Element ist, dass in der Anschauung die konkrete Gegenständlichkeit vorausgesetzt wird. Jedes Anschauen als eine mentale Einstellung hat einen Gegenstandsbezug. Diese Perspektive hat ihren Ansatz nicht nur in Christian Wolffs (1679–1754) Psychologie, wobei Wolff den Anschauungsbegriff bereits in seinem berühmten Werk Deutsche Metaphysik (1720) mit dem Ausdruck „cognitio intuitiva“ prägt.29 Sie wird auch in der von Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) ausgelösten Geniedebatte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vertieft. Das zweite Element ist eine erkenntniskritische Restriktion der Anschauung. Diese erkenntniskritische Beschränkung der Anschauung geht ebenfalls auf Christian Wolff zurück, der zwei Erkenntnisvermögen, nämlich „anschauende Erkenntnis“ und „figürliche Erkenntnis“, unterscheidet.30 Bei Wolff ist dieser Unterschied nur ein gradueller. Inwiefern das untere und obere Erkenntnisvermögen genau zu unterscheiden ist, blieb ein viel diskutiertes Thema im 18. Jahrhundert, bis Kant einen

26 Vgl. Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva (2006), 276. 27 A. a. O., 276. 28 Zum Folgenden vgl. Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva (2006), 276–310. 29 Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (¹1720), Halle ¹¹1751 (Nachdruck Hildesheim 1983), hg. von Charles A. Corr, GW I/2 [Deutsche Metaphysik]. 30 Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva (2006), 284.

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entscheidenden Beitrag mit seiner Zwei-Stämme-Theorie der Erkenntnis leistete. Anders als seine Vorläufer, die von einem graduellen Unterschied von Erkenntnisvermögen sprechen, stellt Kant eine strikte Trennung von Sinnlichkeit und Verstand und somit von Anschauung und Begriff heraus: Während durch den Begriff die Vernunft den sinnlich gegebenen mannigfaltigen Erkenntnissen des Verstandes eine Einheit a priori gibt, ist die Anschauung an sich immer nur auf die empirische und sinnliche Rezeptivität beschränkt, obwohl diese nur durch die Form der Anschauung (Raum und Zeit) möglich ist. Durch die sinnliche Anschauung ist der Gegenstand des Verstandes gegeben, aber Anschauung kann die Grenze der Sinnlichkeit nicht überschreiten. Vor diesem Hintergrund stellen sich die hochinteressanten Fragen in Bezug auf die Idee der religiösen Anschauung in den Reden: Ist die religiöse Anschauung eine sinnliche Anschauung? Wenn nicht, wie unterscheidet sich die religiöse Anschauung von der sinnlichen Anschauung? Oder in welchem Zusammenhang steht die religiöse Anschauung mit der sinnlichen Anschauung? Der dritte wesentliche Aspekt in der zeitgenössischen Debatte ist Ellsiepen zufolge die absolutheitstheoretische Dimension des Anschauungsbegriffs. In der nachkantischen Philosophie wird der Begriff „intellektuelle Anschauung“ vor allem von Schelling entwickelt, um die kantische Begrenzung der Anschauung auf die Sinnlichkeit zu überbieten. Dadurch ist dem Anschauungsbegriff eine transzendentalphilosophische Dimension zugeschrieben. Diese absolutheitstheoretische Entwicklung des Anschauungsbegriffs hat Schleiermacher offenbar übernommen, indem er die Idee der Anschauung des Universums und der Anschauung des Unendlichen als Leitbegriff für seine neue Fassung des Religionsverständnisses entdeckt. Schleiermacher unternimmt aber in den Reden durch den religiösen Anschauungsbegriff den Versuch, die sinnliche Anschauung und die intellektuelle Anschauung zu verbinden, während Schelling die beiden scharf auseinander hält. Schließlich besteht viertens in Bezug auf den Darstellungsbegriff in der Anschauung ebenfalls eine unentbehrliche Dimension für Schleiermachers religiösen Anschauungsbegriff. Dieser Aspekt führt auf die Genieästhetik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zurück, obwohl die Darstellung erstmals nur als „das Komplement zu anschauender Erkenntnis“31 erscheint. Das künstlerische Genie hat die Aufgabe, mit der Einbildungskraft die Sache „anschauend zu machen“.32 Bei Kant, sowohl in seiner Mathematiktheorie als auch in seiner Kritik der Urteilskraft (1790), ist es dann sehr deutlich, dass der Darstellungsbegriff für den Anschauungsbegriff eine entscheidende Rolle spielt. Anschauen ist immer mit dem Darstellungsbegriff verbunden, damit der Gegenstandsbezug der Anschauung von den anderen erkannt wer-

31 A. a. O., 309. Christof Ellsiepen weist darauf hin, dass Darstellung als „das Komplement zu anschauender Erkenntnis“ bereits beim Baumgartenschüler Friedrich Gabriel Resewitz um 1759/60 erscheint. 32 A. a. O., 299.

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den kann. Die unmittelbare Verbindung von Anschauen und Darstellen bringt in der damaligen Debatte auch einen intersubjektiven Aspekt im Anschauungsbegriff mit sich. Der Bezug auf den Darstellungsbegriff in der Anschauung ist von sehr hoher Bedeutung in Schleiermachers Gedanken, nicht allein für seinen Begriff der religiösen Anschauung in den Reden – „Darstellungen [sc. des Universums]“ (Reden 50) oder „Darstellung des Unendlichen“ (Reden 56), sondern auch in seiner Philosophischen Ethik, wo das darstellende Handeln als ein zentraler Begriff in seiner Handlungstheorie fungiert.33 Es sind also vier Elemente der zeitgenössischen Debatte um den Anschauungsbegriff für Schleiermachers religiösen Anschauungsbegriff wesentlich: konkreter Gegenstandsbezug, erkenntnistheoretische Restriktion, absolutheitstheoretische Dimension und schließlich noch intersubjektivitätstheoretischer Aspekt. In „Abgrenzung und Anknüpfung“34 an diese vier Elemente und aus einer Synthese von Spinoza und Kant, die bereits anhand seiner frühen Spinoza-Untersuchungen aufgezeigt wurde, entwickelt Schleiermacher seine Idee des religiösen Anschauungsbegriffs in den Reden. Wir kehren nun zu seiner Interpretation des religiösen Anschauungsbegriffs zurück. Was ist eigentlich „Anschauen des Universums“? Ohne den Begriff der sinnlichen Anschauung ist die Anschauung des Universums bei Schleiermacher kaum zu verstehen. Deshalb lassen sich bei der Beantwortung dieser Frage in der allgemeinen Bestimmung von Anschauung und Gefühl in der zweiten Rede drei Analogien zwischen der sinnlichen Anschauung und der religiösen Anschauung aufweisen,35 die alle mit dem Hinweis „So die Religion“ (Reden 56, 58 und 67) versehen werden. Durch jede Analogie der religiösen Anschauung zur sinnlichen Anschauung expliziert der Redner ein Merkmal für das „Anschauen des Universums“, und davon ist die erste Analogie wesensbestimmend für seinen Religionsbegriff in den Reden. Insofern liegt es hierbei nahe, auf die drei Analogien einzugehen. Wir wollen hier nicht Schleiermachers Argumentation in einer eingehenden Rekonstruktion nachgehen.36 Worum es uns hier geht, ist, die inhaltlichen und strukturellen Merkmale des Begriffs „Anschauen des Universums“ in dieser allgemeinen Bestimmung aufzuzeigen und uns dadurch ein klares Bild von seiner zentralen Definition der Religion als „Anschauen des Universums“ für unsere weitere Diskussion zu verschaffen. Schleiermachers nähere Bestimmung von dem „Anschauen des Universums“ in Analogie zur sinnlichen Anschauung beginnt mit einer allgemeinen strukturellen

33 Zum Begriff des Darstellens in seiner Philosophischen Ethik vgl. unten: Kapitel 3. Die handlungstheoretische Grundlegung der Kulturtheorie, 193–195. 34 Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva (2006), 278. 35 Vgl. Reden, 55–70. 36 Solche Rekonstruktion wurden zuletzt durchgeführt von Peter Grove (ders.: Deutung des Subjekts [2004], 290–301) und von Christof Ellsiepen (ders: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva [2006], 373–376).

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Beschreibung des Anschauens an sich: „Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluß des Angeschaueten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem lezteren seiner Natur gemäß aufgenommen, zusammengefaßt und begriffen wird.“ (Reden 55) Jedes Anschauen ist durch eine von dem Angeschauten und dem Anschauenden strukturierte Affektion gekennzeichnet. In dieser Affektionsstruktur sind zwei notwendige Perspektiven des Subjekts der Anschauung bzw. des Anschauenden vorausgesetzt: die Passivität und die Spontaneität. Die Passivität dient hier als Dispositionalität dafür, dass man sich von einem äußeren Gegendstand beeinflussen oder affizieren läßt; die Spontaneität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass man den „Einfluß“ – das Handeln „des Angeschaueten auf den Anschauenden“ – mit der eigenen aktiven Tätigkeit aufnehmen und begreifen kann. Unmittelbar auf diese strukturelle Beschreibung folgt die erste Analogie zwischen der sinnlichen Anschauung und der religiösen Anschauung, die den Gegenstandsbezug der Anschauung betrifft. Für Schleiermacher ist der Gegenstand der sinnlichen Anschauung, das Angeschaute, nicht das Wesen der Dinge, „die Natur der Dinge“ (Reden 56), sondern „ihr Handeln auf Euch“ (ebd.). Mit Kants Worten heißt es: nicht „Ding an sich selbst“, sondern „Erscheinung“.37 Die sinnliche Anschauung hat ihren Gegenstandsbezug in den Erscheinungen bzw. in den konkreten und einzelnen Dingen, die man empirisch wahrnehmen kann. Das Wesen der Dinge ist „jenseits des Gebiets der Anschauung“ (ebd.). Damit rückt die erste Analogie mit dem Hinweis „So die Religion“ ins Licht: Ebenso wie die sinnliche Anschauung einen Gegenstandsbezug auf die konkreten und endlichen Dinge hat, ohne dabei das Ding an sich zu begreifen, so betrifft der Gegenstandsbezug der religiösen Anschauung für unseren Autor auch die konkreten und endlichen Dinge. Diese Pointe betont er hier ausdrücklich mit dem Ausdruck „ein Handeln deßelben [Hervorhebung d. Vf.] auf uns“ (ebd.). Aus dieser Analogie ergibt sich die grundlegende These der Religionstheorie Schleiermachers, dass die Anschauung des Universums ihren Gegenstandsbezug nicht auf das Universum an sich hat, sondern auf das Handeln der konkreten und einzelnen Dinge auf uns. Was ist das Handeln des Universums auf uns? Das ist das, was das Universum „in einer ununterbrochenen Thätigkeit“ (ebd.) und durch seine Offenbarung „jeden Augenblik“ (ebd.) zeigt. Das ist „[j]ede Form“, „jedes Wesen“ und „jede Begebenheit“ (ebd.) – alles Konkrete, Einzelne und Endliche. Bis hierher ist es ersichtlich, dass Schleiermacher zufolge die sinnliche Anschauung und die religiöse Anschauung denselben Gegenstandsbezug haben, der nur empirisch und unmittelbar wahrzunehmen ist. Aus dieser Sicht stellt sich die entscheidende Frage: Wie unterscheidet sich hierbei die religiöse Anschauung grundlegend von der sinnlichen Anschauung? Für Schleiermacher liegt der wesensbestimmende Unterscheide darin, dass in der reli-

37 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781/1787), A27/B43.

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giösen Anschauung eine Teil-Ganzes-Struktur und eine Endlich-Unendlich-Korrelation stecken, in der sinnlichen Anschauung hingegen nicht. In der sinnlichen Anschauung wird das Einzelne das Einzelne bleiben. Das heißt, dass „das Einzelne wieder auf etwas Einzelnes und Endliches bezogen wird“ (Reden 64); im Gegensatz dazu hat alles Einzelne und Endliche in der religiösen Anschauung eine Beziehung auf das Ganze und das Unendliche: „[A]lles Einzelne als [Hervorhebung d. Vf.] einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion“ (Reden 56). An einer weiteren Stelle heißt es: „Alle Begebenheiten in der Welt als [Hervorhebung d. Vf.] Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion“ (Reden 57).38 Die Als-Struktur der Anschauung macht deutlich, dass Religion bzw. die religiöse Anschauung für Schleiermacher eine hermeneutische Fähigkeit des Subjekts bedeutet, das Endliche nicht nur als einen Teil des Ganzen, sondern zugleich als eine Darstellung des Unendlichen zu verstehen („hinnehmen“ und „vorstellen“). Eng damit zusammenhängend interpretiert der Autor Religion zugleich als das, was eine „Beziehung [sc. aller Begebenheiten] auf ein unendliches Ganzes“ (ebd.) ausdrückt. Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass, wie bereits in der Einführung vermerkt, Schleiermacher in dieser Teil-Ganzes-Struktur und dieser Endlich-Unendlich-Korrelation Spinozas „Modi des Absoluten“ aufnimmt. Der Grundgedanke seiner neuen Fassung des Religionsverständnisses ist deshalb dieser: Alles Einzelne und Endliche als mannigfaltige Darstellungen des Universums zu sehen, das ist Religion. Dementsprechend lässt sich feststellen: Anschauung des Universums ist nur im Endlichen und Einzelnen möglich, Anschauung des Unendlichen nur in allen Begebenheiten in der Welt, Anschauung des Ganzen nur in den Teilen.39 Durch die hermeneutische Struktur unterscheidet sich die Anschauung des Universums von der sinnlichen Anschauung. Hiermit ist die weitere Frage verbunden, was die damit verbundene hermeneutische Fähigkeit ist. Für Schleiermacher ist diese hermeneutische Fähigkeit die Anlage zur Religion – eine angeborene Anlage der Menschheit, so wie die Menschen viele andere Anlagen haben, beispielsweise die Anlage für die Musik oder die Male-

38 Vgl. des Weiteren Reden, 51: „sie [sc. Religion] will im Menschen nicht weniger als in allen andern Einzelnen und Endlichen das Unendliche sehen, deßen Abdruk, deßen Darstellung“. 39 Dazu vgl. Reden, 145–146: „Freilich ist es eine Täuschung, das Unendliche gerade außerhalb des Endlichen, das Entgegengesezte außerhalb deßen zu suchen dem es entgegengesezt wird; […]“. Und Reden, 268: „[E]ben so müßt Ihr Jedem ein eigenthümliches geistiges Leben zugestehn, der Euch als Dokument seiner religiösen Individualität ein ebenso unbegreifliches Faktum aufzeigt wie auf einmal mitten unter dem Endlichen und Einzelnen das Bewußtsein des Unendlichen und des Ganzen sich ihm entwikelt hat“.

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rei.40 Parallel zum Begriff der religiösen Anlage verwendet der Autor in diesem Zusammenhang noch einen anderen wichtigen Begriff, um diese hermeneutische Fähigkeit des Subjekts in der Anschauung des Universums zu kennzeichnen. Dieser zweite Begriff ist „der Sinn für Religion“, oder „Sinn fürs Universum“ und „Sinn fürs Unendliche“.41 Der Sinn ist für Schleiermacher ein „Vermögen“ (Reden 147) des Menschen oder ein Bedürfnis nach etwas und darf hier als eine Empfangs- und Wahrnehmungsbegabung des Menschen verstanden werden. Mit dem Begriff „Sinn“ für etwas wird hier auf eine Dispositionalität verwiesen. Der „Sinn fürs Universum“ bedeutet daher die innere Aufgeschlossenheit und Bereitschaft für das sich auf etwas Einlassen oder das sich Findenlassen und gilt als erste subjektive Basis für Religion.42 Der Sinn für Religion umfasst deshalb unsere inneren Augen oder Organe für das Universum – mit Schleiermachers Worten „die Organe unseres Geistes“ (Reden 67), die durch ihre Empfindlichkeit, Aufmerksamkeit und Erregbarkeit für das Universum die unmittelbare religiöse Erfahrung ermöglichen.43 Daraufhin liegt das größte Hindernis der Religion unserem Autor zufolge darin, dass man „den freien und of[fe]nen Blik“ (Reden 231) nicht hat. Um Religion zu haben, um religiös zu sein, müssen die inneren Augen geöffnet werden. Wir haben bereits in unserer Rekonstruktion des Individualitätskonzepts in den Monologen herausgearbeitet, dass Schleiermacher von der allgemeinen Menschheit ausgeht und die menschliche Individualität als eine Konstellation der allgemeinen Elemente versteht. Die allgemeine Menschheit gilt auch als Basis für sein Religionsverständnis in den Reden. Ebenso wie die religiöse Anlage angeboren ist, so ist der Sinn für das Universum auch allgemein. Vor diesem Hintergrund ist Schleiermacher in den Reden der Überzeugung, dass „unbeschränkte Universalität des Sinnes die erste und ursprüngliche Bedingung der Religion“ (Reden 186) ist. Damit ist der Grundgedanke seines Religionsverständnisses in den Reden verbunden: Religion ist ein Wesenselement des Humanum. Anders gesagt: Religion hat eine anthropologische Begründung. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass das Verständnis der Religion als eine humane Allgemeinheit bei Schleiermacher in den Reden am Ausgang des 18.

40 Reden, 144: „Der Mensch wird mit der religiösen Anlage geboren wie mit jeder andern, […]“. Schleiermacher nennt die religiöse Anlage auch die „erhabene[] Anlage“ (Reden 134). Die anderen Anlagen werden als „übrige[n] Anlagen des Menschen“ (Reden 136) bezeichnet. 41 Diese Ausdrücke kommen mehrmals in dieser Schrift vor: „Sinn für Religion“ (Reden 121, 209 und 218); „Sinn fürs Universum“ (Reden 128, 140, 167 und 262) und „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ (Reden 53). 42 Vgl. Reden, 147: „Um den Sinn einigermaßen gegen die Anmaßungen der andern Vermögen zu schüzen, ist jedem Menschen ein eigner Trieb eingepflanzt, bisweilen jede andere Thätigkeit ruhen zu laßen, und nur alle Organe zu öffnen, um sich von allen Eindrüken durchdringen zu laßen“. 43 Die Ableitung des Sinnes als eines geistigen Organs von den biologischen Sinnen und der metaphorische Gebrauch des biologischen Begriffs geht auf Johann Gottfried Herder zurück. Dazu vgl. Eckart Scheerer: Art. Die Sinne (1995), in: HWPh, Bd. 9, 847–849.

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Jahrhunderts nicht neu ist. Die Religionsphilosophie gehört bereits für Kant zum Kanon der Anthropologie.44 Als Stifter und Hauptvertreter der protestantischen Aufklärungstheologie in Deutschland veröffentlicht Johann Joachim Spalding im Frühjahr 1797 die Schrift Religion, eine Angelegenheit des Menschen.45 Mit diesem Alterswerk setzt er seine anthropologischen Gedanken seiner Betrachtung über die Bestimmung des Menschen im Horizont des Religionsproblems fort und sieht Religion als „eine Angelegenheit des Menschen“ – was mit der Frage des Menschen nach sich selbst unmittelbar zusammenhängt. Damit liefert Spalding „das Muster einer anthropologischen Begründung von Religion“.46 Nicht minder bedeutsam bringt ein weiterer Hauptvertreter der protestantischen Aufklärungstheologie in Deutschland – Johann Gottfried Herder – nur ein Jahr später seinen Beitrag zur Religionsdebatte mit der Schrift Von Religion, Lehrmeinung und Gebräuchen (1798)47 heraus. Herder versteht Religion ebenfalls als etwas, das im Wesen des Menschen gründet: „In allen Ständen und Klassen der Gesellschaft darf der Mensch nur Mensch sein, um Religion zu erkennen und zu üben.“48 Und „Religion vereinet: denn in aller Menschen Herzen ist sie nur Eine.“49 Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass Schleiermacher in seiner nur ein Jahr danach erschienenen Religionsschrift nach einer anthropologischen Begründung von Religion sucht. 50 Damit kehren wir zu unserer Diskussion zurück. Bisher ist offensichtlich, dass der allgemeine Sinn als Voraussetzung für die religiöse Erfahrung in Anschauung und Gefühl gilt: Ohne Sinn keine Religion. Vergegenwärtigt man sich an dieser Stel-

44 Vgl. Immanuel Kant: Logik (1800), in: ders.: Logik, Physische Geographie, Pädagogik, AA, Bd. IX, hg. von Gottlob Benjamin Jäsche, Berlin und Leipzig 1923, 1–150, hierzu 25. 45 Johann Joachim Spalding: Religion, eine Angelegenheit des Menschen (¹1797; ²1798; ³1799; 4 1806), SpKA Bd. I/5, Tübingen 2001. Zu dieser Religionsschrift Spaldings vgl. Tobias Jersak und Georg Friedrich Wagner: Einleitung (2001), in: a. a. O., XXI–XXVIII; Albrecht Beutel: Aufklärer höherer Ordnung? Die Bestimmung der Religion bei Schleiermacher (1799) und Spalding (1797), ZThK, Bd. 96 (1999), 351–383; Wilhelm Gräb: Religion – Eine Angelegenheit des Menschen (Spalding 1798), in: Wilfried Engemann (Hg.): Menschsein und Religion: Anthropologische Probleme und Perspektiven der religiösen Praxis des Christentums, Göttingen 2016, 49–64. 46 Ulrich Barth: Religion in der europäischen Aufklärung (2013/2014), 94. 47 Johann Gottfried Herder: Von Religion, Lehrmeinung und Gebräuchen (1798), in: ders.: Theologische Schriften, Johann Gottfried Herder Werke, Bd. 9/1, hg. von Christoph Bultmann und Thomas Zippert, Frankfurt a. M. 1994, 725–857. 48 A. a. O., 727. 49 A. a. O., 727. 50 Gemäß Wolfgang Virmonds Nachwort zur kritischen Edition von Spaldings Religion, eine Angelegenheit des Menschen (Erste Auflage, Leipzig 1797) ist es „nachweislich“, dass Schleiermacher die Erstausgabe dieser Religionsschrift besaß und „dazu Stellung genommen hat“. Vgl. Wolfgang Virmond: Editorisches Nachwort, in: Johann Joachim Spalding: Religion, eine Angelegenheit des Menschen (Erste Auflage, Leipzig 1797), in: Akten des 1. internationalen Kongresses 1999 (2000), Anhang, 987. Zum Zusammenhang von Schleiermachers Reden (1799) mit Spaldings Religion, eine Angelegenheit des Menschen (1797) vgl. Albrecht Beutel: Aufklärer höherer Ordnung? (1999).

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le eine andere berühmte Teildefinition der Religion in der zweiten Rede – „Religion ist Sinn und Geschmak fürs Unendliche“ (Reden 53), so dürfen Sinn fürs Unendliche und Anschauung des Universums in den Reden von 1799 für Schleiermacher als Wechselbegriffe verstanden werden. Mit der Definition „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ wird die Dispositionalität des Subjekts in der Anschauung des Universums akzentuiert.51 Bis hierher ließen wir uns von Schleiermachers erster Analogie zwischen der sinnlichen Anschauung und der religiösen Anschauung leiten und wurden auf die Frage geführt, wie die religiöse Anschauung sich grundlegend von der sinnlichen Anschauung unterscheidet. Als Zwischenfazit lässt sich feststellen: 1. Die Anschauung des Universums hat einen sensuellen Gegenstandsbezug wie auch die sinnliche Anschauung. 2. In der Anschauung des Universums ist eine hermeneutische Leistung des Subjekts vorausgesetzt. Dank dieser hermeneutischen Fähigkeit – mit Schleiermachers Worten „Anlage zur Religion“ oder „Sinn für die Religion“ – ist das Subjekt in der Lage, das Endliche und Einzelne als einen Teil des Ganzen und als eine Darstellung des Unendlichen zu verstehen. 3. Die religiöse Anschauung hat zwar denselben sensuellen Gegenstandsbezug wie die sinnliche Anschauung, geht aber nicht in ihrem Charakter als sinnliche Anschauung auf.52 Die sich auf den Gegenstandsbezug der Anschauung beziehende Analogie zwischen der sinnlichen Anschauung und der religiösen Anschauung gilt als entscheidend für Schleiermachers Neubestimmung der Religion als Anschauung des Universums. Um die weiteren Merkmale für das Anschauen des Universums zu begreifen, wollen wir im Folgenden noch kurz auf zwei weitere Analogien in dieser Rede eingehen.

51 Zur Definition der Religion in den Reden als „Sinn und Geschmak fürs Unendliche“ vgl. Gunther Wenz: Sinn und Geschmack fürs Unendliche. F. D. E. Schleiermachers Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern von 1799 (1999). 52 Christof Ellsiepen hat in seiner Studie die durch den senseullen Gegenstandsbezug und die hermeneutische Fähigkeit des Subjekts strukturierte Anschauung des Universums als einen Deutungsakt interpretiert. Für ihn besteht Religion bei Schleiermacher in den Reden durch das Zusammenspiel von empirischer Erfahrung und Deuteschema. Ellsiepens Grundthese zu Schleiermachers Bestimmung der Religion als Anschauung des Universums lautet folgendermaßen: „Anschauen des Universums heißt […], Gegenstände unserer sinnlichen Anschauung als Darstellungen des Universums zu deuten.“ (ders.: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva [2006], 414) In seinem Explikationsrahmen besteht die Funktion des Erfahrungsbezugs darin, dass „Religion immer eine unübertragbare, auf ein einzelnes menschliches Subjekt bezogene mentale Tätigkeit bleibt“ (a. a. O., 415); das Deuteschema ist „das allgemeinste Schema der religiösen Sinnbedeutung“, eine „im Begriff der Darstellung des Universums im Einzelnen zusammengedrängte Idee“, gerade in diesem Sinne wird es bei Schleiermacher „höchste Formel der Religion“ genannt, und dieses Schema hat deshalb die Aufgabe, „Gegenstände der Erfahrung in den mentalen Horizont“ als „Darstellung des Universums“ zu setzen. Ellsiepen betrachtet die religiöse Deutung als „unprädikativ, aber dennoch nicht gänzlich irrational“ (a. a. O., 414). Die Frage, ob dieses religiöse Deuteschema ein transzendentales ist, bleibt in seiner Studie allerdings offen (mehr dazu vgl. a. a. O., 408–415).

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In der zweiten Analogie geht es um das Verhältnis der Anschauungen zueinander. Schleiermachers Verhältnisbestimmung der Anschauungen geht von der charakteristischen Beschreibung jeder Anschauung aus. Die Anschauung soll als Resultat des Anschauens verstanden werden, wie Peter Grove gezeigt hat.53 Auf die Eigenschaften der sinnlichen Anschauung verweist Schleiermacher wie folgt: „Anschauung ist und bleibt immer etwas einzelnes, abgesondertes, die unmittelbare Wahrnehmung, weiter nichts; sie zu verbinden und in ein Ganzes zusammenzustellen, ist schon wieder nicht das Geschäft des Sinnes, sondern des abstrakten Denkens.“ (Reden 58) An dieser Stelle ist vorerst zu beachten, dass der junge Schleiermacher Anschauung und Wahrnehmung gleichsetzt.54 Mit dieser Gleichsetzung ist die Anschauung als sensuell, empirisch und unmittelbar gefasst und mithin durch ihre Einzelheit, ihre Individualität und ihre Unmittelbarkeit gekennzeichnet. Wir haben im Vorangehenden herausgestellt, dass der Sinn für Schleiermacher ein Vermögen des Menschen ist und als eine Empfangs- und Wahrnehmungsbegabung des Menschen verstanden werden darf. Vor diesem Hintergrund ist hierbei noch deutlicher, dass das Geschäft des Sinnes nur das Wahrnehmen ist. Darauf folgend wird die zweite Analogie zwischen der sinnlichen Anschauung und der religiösen Anschauung wieder mit dem Hinweis „So die Religion“ (ebd.) in die Diskussion eingeführt. Anders als in der sinnlichen Anschauung, die wieder auf das Endliche bezogen wird, geht es in der religiösen Anschauung um eine Beziehung auf das Universum, so wurde oben festgestellt. Trotz dieser Unterschiede bleibt Religion für Schleiermacher wie die sinnliche Anschauung „bei den unmittelbaren Erfahrungen vom Dasein und Handeln des Universums, bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen […] stehen“ (ebd.). Mit Rücksicht auf seine Abgrenzung der Religion von Metaphysik betont der Autor an dieser Stelle wiederum ausdrücklich, dass Religion nichts „von Ableitung und Anknüpfung“ (ebd.) weiß. Die sinnliche Anschauung ist zugleich durch Unendlichkeit und Unermesslichkeit charakterisiert.55 So wie die sinnlichen Anschauungen haben die religiösen Anschauungen weder mit „Verbindung“ oder „Zusammenstellung“ noch mit dem „Allgemeine[n]“ (Reden 60) zu tun, sie bleiben immer das Einzelne, das in der Religion

53 Vgl. Peter Grove: Deutung des Subjekts (2004), 297. Für Grove sind Anschauen und Anschauung bei Schleiermacher in den Reden unterschiedlich. Grove ist der Meinung, dass Schleiermacher hierbei von seinem Lehrer Karl Leonhard Reinhold beeinflusst sei (mehr dazu vgl. a. a. O., 291–292). 54 Zur Gleichsetzung und Parallelstellung von Anschauen und Wahrnehmen vgl. ferner Reden, 56– 57: „Euer Organ berührten, wenn die kleinsten Theile der Körper die Spizen Eurer Finger nicht mechanisch oder chemisch affizirten, wenn der Druk der Schwere Euch nicht einen Widerstand und eine Gränze Eurer Kraft offenbarte, so würdet Ihr nichts anschauen und nichts wahrnehmen, und was Ihr also anschaut und wahrnehmt, ist nicht die Natur der Dinge, sondern ihr Handeln auf Euch“. 55 Vgl. Reden, 59: „[…] zu jenem Unendlichen der sinnlichen Anschauung“; Reden, 154: „das Unermeßliche der sinnlichen Anschauung“.

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aber nicht nur „wahr“, sondern auch „nothwendig“ (ebd.) ist. Denn diese einzelnen Anschauungen sind unendlich und bilden in der unmittelbaren Erfahrung nur ein Chaos. Gerade „dieses unendliche Chaos“ (ebd.) ist für Schleiermacher „das schiklichste und höchste Sinnbild der Religion“ (ebd.) – das höchste Symbol der Religion.56 An dieser Stelle weist der Autor noch darauf hin, dass das Einzelne in der religiösen Anschauung selbstständig ist. Die Selbstständigkeit des Einzelnen bedeutet, dass das Einzelne in der Anschauung weder zu gewinnen noch zu verlieren ist, und dass es sich nicht einem Anderen unterordnen lässt.57 Die Selbstständigkeit des Einzelnen in der Anschauung ist von großer Bedeutung für die Religion, denn „[e]ben wegen dieser selbststtändigen Einzelnheit ist das Gebiet der [sc. religiösen] Anschauung so unendlich“ (Reden 61). Als Ergebnis dieser zweiten Analogie lässt sich feststellen, dass die religiöse Anschauung dank ihres sensuellen Gegenstandsbezugs durch die Einzelheit, die Individualität, die Unmittelbarkeit und die Unermesslichkeit zu charakterisieren ist. Aus diesem Grund ist das Gebiet der religiösen Anschauung unendlich. Mit dem Konzept der Unendlichkeit der religiösen Anschauung findet Schleiermacher den epistemologischen Grund für den religiösen Pluralismus und verortet die Einstellung der Toleranz im Begriff der Religion an sich.58 Damit gehen wir zur dritten Analogie zwischen der sinnlichen Anschauung und der religiösen Anschauung über. Schleiermachers Gedanken, dass in den Reden Anschauung des Universums und Gefühl in einen Zusammenhang gebracht werden, sind wir bereits im Vorangehenden begegnet. Mit einer dritten Analogie hat Schleiermacher das Ziel, diesen Sachverhalt zu begründen und zu plausibilisieren. Für Schleiermacher ist „jede Anschauung ihrer Natur nach mit einem Gefühl verbunden“ (Reden 66). Die Verbindung der sinnlichen Anschauung mit dem Gefühl kommt zuerst wie folgt zum Ausdruck: „Euere Organe vermitteln den Zusammenhang zwischen dem Gegenstande und Euch, derselbe Einfluß des leztern, der Euch

56 Daraufhin stellt unser Autor in der fünften Rede fest: „[D]ie Religion aber ist ihrem Begrif und ihrem Wesen nach auch für den Verstand ein Unendliches und Unermeßliches“ (Reden 241). 57 Vgl. Reden, 61: „Jeder mag seine eigne Anordnung haben und seine eigene Rubriken, das Einzelne kann dadurch weder gewinnen noch verlieren, und wer wahrhaft um seine Religion und ihr Wesen weiß, wird jeden scheinbaren Zusammenhang dem Einzelnen tief unterordnen, und ihm nicht das kleinste von diesem aufopfern“. 58 Vgl. Reden, 62–63: „Jeder muß sich bewußt sein, daß die seinige nur ein Theil des Ganzen ist, daß es über dieselben Gegenstände, die ihn religiös affiziren, Ansichten giebt, die eben so fromm sind und doch von den seinigen gänzlich verschieden, und daß aus andern Elementen der Religion Anschauungen und Gefühle ausfließen, für die ihm vielleicht gänzlich der Sinn fehlt. Ihr seht wie unmittelbar diese schöne Bescheidenheit, diese freundliche einladende Duldsamkeit aus dem Begrif der Religion entspringt, und wie innig sie sich an ihn anschmiegt“. Der religiöse Pluralismus bzw. die Individualisierung von geschichtlicher Religion ist das Thema der fünften Rede Schleiermachers. Darauf wird im Folgenden noch näher eingegangen, vgl. unten: Kapitel 2. 3. Die Individualisierung der geschichtlichen Religionen.

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sein Dasein offenbaret, muß sie auf mancherlei Weise erregen, und in Eurem innern Bewußtsein eine Veränderung hervorbringen. Dieses Gefühl, […], kann in andern Fällen zu einer solchen Heftigkeit heranwachsen“ (ebd.). In dieser Aussage wird nicht nur auf den Zusammenhang von Anschauung und Gefühl, sondern auch auf ihren Unterschied hingewiesen. Anschauung ist eine gegenständliche und deshalb auch intentionale Einstellung, die die sinnlichen Organe voraussetzt. Das Gefühl entsteht aus dem Affekt („erregen“) des Einflusses des Zusammenhanges von dem Gegenstand und Subjekt in der Anschauung und ist ein inneres Veränderlichkeitsbewusstsein dieser Anschauung. Oder in Kürze: Im Gefühl werden wir uns jener Anschauung bewusst. Aus dieser Auslegung ist zu ersehen, dass das Gefühl für Schleiermacher nicht nur ein wahrnehmungspsychologischer Begriff ist, sondern zugleich ein bewusstseinstheoretischer. Während die Anschauung die Passivität und Dispositionalität des Sinnes für etwas voraussetzt, ist das Gefühl ein Resultat der „Selbstthätigkeit Eures Geistes“ (Reden 67). Im Vergleich zu dem Sinn, der zur Verfügung für etwas Äußerliches steht, ist diese Selbsttätigkeit des Geistes „eine ganze andere Quelle […] in Euch“ (ebd.). Bisher darf als Unterschied von Anschauung und Gefühl festgehalten werden: Während sich Anschauung unter der Voraussetzung des Sinnes nach außen richtet, richtet sich Gefühl durch die Selbsttätigkeit des Geistes nach innen. Der Zusammenhang von beiden besteht darin, dass jede Anschauung mit Gefühl verbunden sein muss, weil Gefühl das Innewerden der eigenen Anschauungstätigkeit ist, die sich auf das unendliche Universum richtet. Im Kontext der Explikation der Verbindung der sinnlichen Anschauung mit dem Gefühl wendet der Autor sich nun der religiösen Anschauung zu: „So die Religion; dieselben Handlungen des Universums, durch welche es sich Euch im Endlichen offenbart, bringen es auch in ein neues Verhältnis zu Eurem Gemüth und Eurem Zustand; indem Ihr es anschauet müßt Ihr nothwendig von mancherlei Gefühlen ergriffen werden.“ (ebd.) Ebenso wie die sinnliche Anschauung mit dem Gefühl verbunden sein muss, so ist die Anschauung des Universums auch nicht von dem Gefühl zu trennen. Mit dem Begriff des Gemüts und mit dem des Zustands wird hierbei die wahrnehmungspsychologische Dimension des Gefühlsbegriffs noch stärker hervorgehoben. Das Gefühl ist das Innewerden der eigenen Zustände der Anschauung des Universums im Bewusstsein oder das Zuständlichkeitsbewusstsein der Anschauung des Universums. Im Vergleich zum Verhältnis der sinnlichen Anschauung mit dem Gefühl ist die Verbindung von Anschauung und Gefühl in der Religion für Schleiermacher „ein anderes und festeres Verhältniß“ (ebd.). Der Grund liegt nicht nur darin, dass „nie jene so sehr überwiegt daß dieses beinahe verlöscht wird“ (ebd.). Es geht vielmehr darum, durch diese notwendige Verbindung „das allgemeine Bild der Religion zu vollenden“ (Reden 66). Das Gefühl ist unentbehrlich für die Vollendung der Religion als Anschauung des Universums. So heißt es weiter: „Dieses Gefühl muß Jeden begleiten der wirklich Religion hat.“ (Reden 62) Die notwendige Verbin-

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dung von Anschauung und Gefühl präzisiert Schleiermacher an einer späteren Stelle als ursprüngliche Einheit – „ursprünglich Eins und ungetrennt“ (Reden 73).59 Blickt man an dieser Stelle noch einmal darauf zurück, dass der grundlegende Unterschied zwischen der sinnlichen Anschauung und der religiösen Anschauung bei Schleiermacher darin besteht, dass in der religiösen Anschauung eine Teil-Ganzes-Struktur und eine Endlich-Unendlich-Korrelation stecken, in der sinnlichen Anschauung hingegen nicht, so kann das Gefühl in der Religion oder das religiöse Gefühl wie folgt plausibilisiert werden: Das Bewusstsein des Subjekts, als ein Einzelner und als ein Endlicher im Verweisungszusammenhang mit dem unendlichen Universum zu stehen, ist das religiöse Gefühl. Oder: Das religiöse Gefühl ist das Bewusstsein, ein Teil des Universums, des Ganzen und des Unendlichen zu sein.60 Anders als die intentionale Anschauung des Universums ist das Gefühl in der Religion ein Selbstverhältnis. Das bedeutet aber nicht, dass Schleiermacher die Anschauung des Universums und das Gefühl für gegensätzlich hält. Religion ist sowohl Intentionalität in der Anschauung als auch Selbstverhältnis im Gefühl: Anschauung des Universums ist „die allgemeinste und höchste Formel der Religion“, Gefühl als Zuständlichkeitsbewusstsein ist der Ort, in dem Religion vollendet wird. Oder: Anschauung des Universums ist die allgemeine Struktur der Religion, das Bewusstsein des Individuums ist der Ort der Religion. Allerdings besteht die notwendige Verbindung der Anschauung des Universums mit dem Gefühl nicht nur darin, dass Gefühl unentbehrlich für die Vollendung der Religion ist. Schleiermacher zufolge ist das Gefühl für die Individualität der Religion bei jedem Einzelnen zugleich auch von entscheidender Bedeutung, weil die Stärke der Gefühle den Grad der Religiosität bestimmt.61 Bis hierher haben wir vor dem Hintergrund der verschiedenen Aspekte des Anschauungsbegriffs in der zeitgenössischen Debatte, die für Schleiermachers Idee ei-

59 Die ursprüngliche Einheit von Anschauung und Gefühl in der Religion begründet Schleiermacher ausführlich in den Reden (vgl. Reden, 72–78). Darauf wird in unserer Darstellung nicht näher eingegangen. Die berühmte Stelle dazu lautet: „Anschauung ohne Gefühl ist nichts und kann weder den rechten Ursprung noch die rechte Kraft haben, Gefühl ohne Anschauung ist auch nichts: beide sind nur dann und deswegen etwas, wenn und weil sie ursprünglich Eins und ungetrennt sind.“ (Reden 73) 60 Vgl. Reden, 62: „Jeder muß sich bewußt sein, daß die seinige nur ein Theil des Ganzen ist, […]“; Reden, 109: „[J]enes Gefühls der Dankbarkeit, welches uns antreibt sie zu ehren als solche, die sich mit dem Ganzen schon geeinigt haben, und sich ihres Lebens in demselben bewußt sind?“ 61 Dazu vgl. Reden, 68: „So wie die besondere Art wie das Universum sich Euch in Euren Anschauungen darstellt, das Eigenthümliche Eurer individuellen Religion ausmacht, so bestimmt die Stärke dieser Gefühle den Grad der Religiosität. Je gesunder der Sinn, desto schärfer und bestimmter wird er jeden Eindruk auffaßen, je sehnlicher der Durst, je unaufhaltsamer der Trieb das Unendliche zu ergreifen, desto mannigfaltiger wird das Gemüth selbst überall und ununterbrochen von ihm ergriffen werden, desto vollkommner werden diese Eindrüke es durchdringen, desto leichter werden sie immer wieder erwachen, und über alle andere die Oberhand behalten.“

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nes religiösen Anschauungsbegriffs wichtig sind, geschildert, wie er in der zweiten Rede mithilfe von drei Analogien zwischen der sinnlichen Anschauung und der religiösen Anschauung den Leitbegriff für seine neue Fassung des Religionsverständnisses „Anschauung des Universums“ in unterschiedlichen Perspektiven plausibilisiert. Als Ergebnis unserer Darstellung lässt sich zusammenfassen: 1. In der ersten Analogie geht es um den Gegenstandsbezug der Anschauung. Wie die sinnliche Anschauung hat die religiöse Anschauung einen sensuellen Gegenstandsbezug. Dank der hermeneutischen Fähigkeit – „Sinne für die Religion“ – ist das Subjekt in der Lage, das Endliche und Einzelne als einen Teil des Ganzen und als eine Darstellung und Offenbarung des Universums zu sehen. 2. Mit der zweiten Analogie wird das Verhältnis der Anschauungen zueinander geklärt. Die Anschauung des Universums ist durch die Einzelheit, die Individualität, die Unmittelbarkeit, die Unermesslichkeit und die Unendlichkeit gekennzeichnet. Da es weder Verbindung noch Zusammenstellung zwischen den Anschauungen gibt, bilden die Anschauungen in der Religion lediglich ein unendliches Chaos. 3. In einer dritten Analogie stellen sich Anschauung und Gefühl bereits in dieser allgemeinen Bestimmung als notwendige Korrelate heraus: Mit der nach außen gerichteten Anschauung des Universums verbindet sich unmittelbar das nach innen gerichtete Gefühl. Das Gefühl beschreibt als Zuständlichkeitsbewusstsein die Verinnerlichung der eigenen Zustände in der Anschauung des Universums. Durch die notwendige Verbindung mit dem Gefühl, nämlich durch das Innewerden der Anschauung des Universums im Gefühl, wird das höchste Schema der Religion vollendet. Daraufhin ist Religion bei Schleiermacher nicht nur eine Intentionalität, sondern zugleich ein Selbstverhältnis. 1.2.2 Anschauung des Universums Im Vorangehenden haben wir gesehen, dass Schleiermacher „Anschauen des Universums“ als Leitbegriff für sein Religionsverständnis in den Reden bestimmt und das Gefühl zugleich als unentbehrlich für die Vollendung der Religion betrachtet. Beide verbinden sich zu einer ursprünglichen Einheit. In diesem ersten Schritt seiner Neuinterpretation des Religionsbegriffs geht es wesentlich darum, den ersten Vorbegriff von „Anschauen des Universums“ abstrakt und allgemein zu interpretieren. Vor diesem Hintergrund bemüht sich der Redner in einem zweiten Schritt darum, die Anschauung des Universums und das religiöse Gefühl in konkreten Beispielen zu explizieren. Da, wie bereits kurz erwähnt, die Anschauung des Universums in der Menschheit besonders interessant für unsere gesamte Diskussion über das Verhältnis von Religion und Individualität bei Schleiermacher ist, wird der Akzent der folgenden Darstellung seiner Konkretisierung von Anschauung und Gefühl in der zweiten Rede auf der Anschauung des Universums liegen. Schleiermachers konkrete Ausformung von dem, was er bisher als „Anschauen des Universums“ abstrakt und allgemein dargelegt hat, gründet sich auf sein Verständnis des Universums. Im Rahmen seiner Religionstheorie in den Reden ist der

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Begriff des Universums durch zwei Bedeutungsaspekte zu charakterisieren. Der erste Aspekt bezieht sich auf die inhaltlichen Dimensionen des Universums. Schleiermachers Begriff des Universums impliziert drei inhaltliche Dimensionen: die letzte Einheit, die absolute Totalität und die absolute Ganzheit. In einem zweiten Aspekt geht es um den strukturellen Aufbau des Universums. Das Universum kommt strukturell in zwei Gebieten zur Darstellung: in dem Gebiet der Natur und in dem Gebiet der Menschheit. Wir kommen zunächst zum ersten Bedeutungsaspekt bzw. zu den inhaltlichen Dimensionen des Universums. Das Universum in den Reden impliziert die letzte Einheit als erste inhaltliche Dimension. Für Schleiermacher muss diese letzte Einheit des Universums in der unendlichen Mannigfaltigkeit liegen – „Einheit in Vielheit“ (Reden 128). Zur Begründung dieses Gedankens dient ihm folgendes Argument. Stellt sich das Universum als Einheit ohne Mannigfaltigkeit dar, dann ist das Universum „als ein Chaos gleichförmig in der Verwirrung“ (Reden 126). Aus dieser Vorstellung des Universums ergibt sich Schleiermacher zufolge „ein Gott ohne bestimmte Eigenschaft, ein Göze, ein Fetisch“ (Reden 127). Stellt sich das Universum umgekehrt als Mannigfaltigkeit ohne Einheit dar, dann ist das Universum „ein unbestimmtes Mannigfaltiges heterogener Elemente und Kräfte“ (ebd.). Aus dieser unbestimmten Mannigfaltigkeit entstehen Götter „in unendlicher Anzahl“ (ebd.). Diese Götter sind zu unterscheiden nur „durch verschiedene Objekte ihrer Thätigkeit, durch verschiedene Neigungen und Gesinnungen“ (ebd.). Mit dem Prinzip „Einheit in Vielheit“ grenzt Schleiermacher den Begriff des Universums von der Vorstellung von Götzen und Göttern deutlich ab. In dieser inhaltlichen Dimension des Universums ist die Gottesidee oder genauer genommen ein monotheistischer Gedanke enthalten.62 An dieser Stelle verbirgt sich offensichtlich eine scharfe Kritik an dem spinozistischen Pantheismus. Als eine zweite inhaltliche Dimension besitzt das Universum in den Reden die absolute Totalität. Für Schleiermacher ist das Universum ein System, ein von Einheiten gefülltes Ganzes. In diesen unendlichen Einheiten tritt die Differenz oder die Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit auf. Mit der inhaltlichen Dimension der absoluten Totalität wird in seinem Begriff des Universums auf den Weltgedanken verwiesen. Beinhaltet das Universum beide inhaltliche Dimensionen – die letzte Einheit und die absolute Totalität („Eins und Alles“ [Reden 128]), so kann man im Anschauen des Universums entweder zu einem Gottesgedanken oder zu einem Weltbegriff kommen. Für das Herausbringen von Gott oder von Welt spielen unserem Autor zufolge die unterschiedlichen Richtungen der Phantasie bei dem einzelnen Menschen eine entscheidende Rolle.63 Vermöge der Phantasie wird das Anschauen des Universums

62 Zu den unterschiedlichen Stufen des Monotheismus bei Schleiermacher vgl. auch CG², §8, 64– 73. Hier zitiert nach der Paginierung in der KGA I/13.1. 63 Vgl. Reden, 128–129.

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ein (individueller) Deutungsprozess jedes Einzelnen, wobei das Universum entweder als ein personifizierter Gott oder als eine Welt, die die Differenzen der Wirklichkeit umfasst, verstanden wird. Inwiefern die Phantasie hierbei durch ihre unterschiedlichen Richtungen Gott oder Welt erschafft, wollen wir in unserer Untersuchung nicht thematisieren.64 Neben der letzten Einheit und der absoluten Totalität gilt die absolute Ganzheit als eine weitere inhaltliche Dimension des Universums in den Reden. Es ist hierbei vielleicht nicht präzis, die Ganzheit als eine dritte inhaltliche Dimension des Universums zu betrachten. Denn die Ganzheit ist eigentlich eine inhaltliche Dimension, die sowohl die Einheitsdimension als auch die Totalitätsdimension des Universums beinhaltet.65 Die Ganzheit des Universums bedeutet in erster Linie die Einheit, aber nicht die absolute Einheit, sondern die in sich differenzierte Einheit. Das heißt, dass die Ganzheit als eine begriffliche Präzisierung von Einheit gilt: eine alle Differenzen der Wirklichkeit beinhaltende Einheit. Beinhaltet die Ganzheit alle Differenzen der Wirklichkeit, so ist in der Repräsentation der Ganzheit eine Idee der Totalität mitgesetzt. Das Ganze soll deshalb als Eines und als Totales verstanden werden. Mit der Ganzheitsdimension im Begriff des Universums verbindet sich der Grundgedanke der Religionstheorie Schleiermachers in den Reden: Der Bezug des Einzelnen auf das Ganze ist dafür entscheidend, die religiöse Anschauung von der sinnlichen Anschauung zu unterscheiden, so wurde oben aufgezeigt. Auf die Frage, weswegen die Einheit, die Totalität und die Ganzheit des Universums absolut sind, werden wir später im Zusammenhang der Diskussion über die Anschauung des Universums in der Menschheit zurückkommen. Durch unsere kurze Darstellung der inhaltlichen Dimensionen des Universums darf aber bisher festgestellt werden, dass das Universum als Schlüsselkategorie in der frühsten Fassung des Religionsverständnisses Schleiermachers eine Verschränkung von Gottesgedanken und Weltbegriff ist. Wichtiger noch: Dem jungen Schleiermacher gilt weder Gottesidee noch Weltbegriff allein, sondern das Anschauen des Universums als entscheidend für die Wesensbestimmung der Religion. Damit kommen wir nun zum zweiten Bedeutungsaspekt bzw. zur strukturellen Dimension des Universums: Natur und Menschheit gelten als zwei Darstellungsorte des Universums. Bereits in seiner abstrakten und allgemeinen Interpretation des Wesens der Religion als Anschauen des Universums hat Schleiermacher darauf

64 Zu Schleiermachers Gottesvorstellung in den Reden vgl. Jörg Dierken: „Daß eine Religion ohne Gott besser sein kann als eine andre mit Gott“. Der Beitrag von Schleiermachers ‚Reden‘ zu einer nichttheistischen Konzeption des Absoluten, in: Akten des 1. internationalen Kongresses 1999 (2000), 668–684. 65 Christof Ellsiepen hat die Totalitätsdimension des Universums auf der Basis der spinozistischen Fassung des Darstellungsbegriffs ausgeführt. Siehe ders.: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva (2006), 356–365. Anders als unsere Beobachtung versteht er die Totalität als „Verschränkung von Einheit und unendlicher Ganzheit“ (a. a. O., 358).

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deutlich hingewiesen: „Die Religion lebt ihr ganzes Leben auch in der Natur“ (Reden 51). Ist Religion als Anschauen des Universums nicht nur in der Menschheit, sondern auch in der Natur zu finden, so ist es offensichtlich, dass das Universum strukturell in zwei Gebieten zur Darstellung kommt: dem Gebiet der Natur und dem Gebiet der Menschheit. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass Schleiermacher in diesem Zusammenhang mit dem Begriff „Natur“ die äußere Natur oder das körperliche Phänomen meint, während er an einigen Stellen in dieser Schrift die Menschheit auch als „die menschliche Natur“ bezeichnet, die sich eigentlich auf das menschliche Geistesleben bezieht. In unmittelbarer Verbindung mit seinem Verständnis zum strukturellen Aufbau des Universums handelt die nähere Bestimmung des Leitbegriffs „Anschauen des Universums“ in der zweiten Rede wesentlich davon, mit seinen eigenen Worten, „Anschauungen der Religion auf dem Gebiet der Natur und der Menschheit“ (Reden 104) zu entwerfen. Mit diesem deutlichen Hinweis, dass das Universum strukturell in dem Naturgebiet und in dem Menschheitsgebiet zur Darstellung kommt, übt Schleiermacher eine scharfe Kritik an den Adressaten seiner Reden über die Religion bzw. an seinen Zeitgenossen, die offenbar die Menschheit dem Universum gleichstellen.66 Für Schleiermacher bedeutet gerade dieses Missverständnis das Ende der Religion: „Hier ist das Ende der Religion für diejenigen, denen Menschheit und Universum gleichviel gilt; von hier könnte ich Euch nur wieder zurükführen ins Einzelne und Kleinere.“ (ebd.) Stellt man die Menschheit dem Universum gleich, so kann man im Anschauen des Universums nicht zum absoluten Unendlichen mit Einheit und Totalität geführt werden. Anders gesagt: In dieser Anschauung des Universums ist keine wahre Endlich-Unendlich-Korrelation zu finden, sondern eigentlich eher ein Bezug des Einzelnen und Endlichen auf das Einzelne und Endliche. An dieser Stelle ist noch darauf hinzuweisen, dass die drei inhaltlichen Dimensionen des Universums – die letzte Einheit, die absolute Totalität und die absolute Ganzheit – nicht allein im Universum als Menschheit vorkommen, sondern zugleich im Universum als Natur. So heißt es: „Die Religion lebt ihr ganzes Leben auch [Hervorhebung d. Vf.] in der Natur, aber in der unendlichen Natur des Ganzen, des Einen und Allen; was in dieser alles Einzelne und so auch der Mensch gilt, und wo alles und auch er treiben und bleiben mag in dieser ewigen Gährung einzelner Formen und Wesen, das will sie in stiller Ergebenheit im Einzelnen anschauen und ahnden.“ (Reden 51) Ausgehend davon, dass das Universum sich als absolute Einheit,

66 Vgl. Reden, 89–90: „Hier seid auch Ihr in Eurer eigentlichsten und liebsten Heimat, Euer innerstes Leben geht Euch auf, Ihr seht das Ziel alles Eures Strebens und Thuns vor Euch, und fühlet zugleich das innere Treiben Eurer Kräfte, welches Euch immerfort nach diesem Ziel hinführt. Die Menschheit selbst ist Euch eigentlich das Universum, und Ihr rechnet alles andere nur in so fern zu diesem als es mit jener in Beziehung kommt oder sie umgiebt.“

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absolute Allheit und absolute Ganzheit darstellt, entfaltet Schleiermacher seine nähere Bestimmung des Begriffs „Anschauen des Universums“. Vor dem Hintergrund dieser kurzen Darstellung der beiden Bedeutungsdimensionen des Universums – der inhaltlichen Dimension und der strukturellen Dimension – wollen wir im Folgenden zunächst einen kurzen Blick auf die Anschauung des Universums in der Natur werfen. Dann wollen wir uns auf die Anschauung des Universums in der Menschheit fokussieren. Dabei wird aufgezeigt, dass es einen inneren Verweisungszusammenhang zwischen der Anschauung der Menschheit in mir und der Anschauung des Universums überhaupt gibt. Das Ziel dieser Rekonstruktion ist, herauszufinden, inwiefern die religiöse Anschauung mit der Bildung der Individualität bei Schleiermacher in den Reden innerlich verbunden ist und verbunden sein muss. 1.2.2.1 Anschauung des Universums in der Natur Für Schleiermacher lebt Religion sowohl in der Natur als auch in der Menschheit, aber ihm zufolge unterscheidet sich das Anschauen des Universums in beiden Gebieten auf charakteristische Weise. Er bezeichnet die Anschauung des Universums im Gebiet der Natur und im Gebiet der Menschheit jeweils als „äußersten Vorhof derselben“ (Reden 78 und 86) und „das innerste Heiligthum der Religion“ (Reden 78). Mit der Metapher vom „äußersten Vorhof“ geht Schleiermacher auf kritische Distanz zu Tendenzen einer ausschließlichen Naturverehrung in der Frühromantik, bei Goethe oder in der Naturphilosophie Schellings; zugleich weist er deutlich darauf hin, dass Religion als Anschauung des Universums in der äußeren Natur zwar zu finden ist, aber noch nicht zum Kern der Religion gehört. Statt auf den Begriff der Natur bei Schleiermacher in diesem Zusammenhang näher einzugehen,67 wollen wir deutlich machen, inwiefern Religion als Anschauung des Universums ihm zufolge auch in der Natur liegt. Durch die Bezeichnungen wie „äußerster Vorhof derselben“ (ebd.), „rohe Anfänge in der Religion“ (Reden 79) und „erste Anschauung der Welt und ihres Geistes“ (Reden 78) ist deutlich, dass Schleiermacher die äußere Natur nicht als denjenigen Aspekt des Universums versteht, unter dem man den Kern der Religion erreicht. Aber zugleich weist der Autor mit solchen Ausdrücken darauf hin, dass man doch in der Anschauung der Natur Religion finden kann. Inwiefern ist das möglich? Für Schleiermacher ist die dynamische (chemische) Naturgesetzlichkeit entscheidend dafür, dass es eine religiöse Deutung in der „Anschauung der Natur“ (Reden 86)

67 Christof Ellsiepen hat in seiner Untersuchung aufgezeigt, dass für Schleiermacher die Natur durch drei unterschiedliche Naturgesetzlichkeiten zu betrachten ist: die mechanische (physikalische), die organische (biologische) und die dynamische (chemische). Sie charakterisieren jeweils die überschaubare Sphäre der Natur, die Oberfläche und das Innerste des Mikrokosmos der Natur (mehr dazu vgl. ders.: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva (2006), 315–326).

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gibt, weil wir dadurch das Universum „am klarsten und heiligsten“ (ebd.) anschauen können. Der Grund ist: In den unterschiedlichen Vereinigungen der beiden entgegengesetzten chemischen Kräfte – Attraktion und Repulsion – gestalten sich unendliche Individualitäten in der Natur – „die Körper“ (ebd.). Wohl sind alle Körper individuell, aber für unseren Autor sind sie nur ein Resultat der „überall ununterbrochen[en]“ (ebd.) Tätigkeit jenes Gesetzes. Das Gleiche, das in allen Verschiedenheiten in der Natur verborgen ist, ist für Schleiermacher „der Geist der Welt“ (ebd.), den er an anderen Stellen auch als „Weltgeist“ bezeichnet.68 Das heißt, dass man in der Anschauung der Natur, genauer genommen in der Anschauung des durch das chemische Gesetz charakterisierten Innersten der Natur, alles sowohl „im kleinsten“ als auch „im größten“ (ebd.) als Tätigkeiten des Weltgeistes ansehen kann.69 So betrachtet der Autor alles Dasein in der Natur als „Werk dieses Geistes“ (ebd.)70 und daher „alles Sichtbare“ als das, was „von der Gottheit durchdrungen und Eins“ ist. Aus diesem Grund haben alle einzelnen und endlichen Begebenheiten in der Natur einen Bezug auf die Unendlichkeit („Gottheit“) und sind ein Ganzes. Dieses legt zugrunde, dass Schleiermacher es auch unter Religion begreift, alle einzelnen und endlichen Begebenheiten in der Natur als Darstellungen des Unendlichen und des Ganzen bzw. als Darstellungen des Weltgeistes zu sehen. In diesem Zusammenhang stehen Welt und Geist für das Universum. Aus diesem Grund spricht der Autor von „Anschauung der Welt und ihres Geistes“ (Reden 78), die für ihn „eine [Hervorhebung d. Vf.] Anschauung des Universums“ (Reden 86) ist und daher als Vorform der Anschauung des Universums verstanden werden darf.71 Obwohl die Anschauung des Universums in der Natur nur als „äußerste[r] Vorhof“ der Religion gilt, ist sie für Schleiermacher ein unentbehrlicher Teil der religiösen Anschauung. Jede religiöse Anschauung beinhaltet deshalb eine Anschauung des Universums in der Natur. So heißt es: „Die Religion lebt ihr ganzes Leben auch in der Natur“. 1.2.2.2 Anschauung des Universums in der Menschheit Dass „Menschheit“ ein im 18. und 19. Jahrhundert in vielen philosophischen und theologischen Abhandlungen aufkommender und zunehmend dominierender Begriff ist, haben wir im Rahmen unserer Rekonstruktion des Individualitätskonzepts Schleiermachers in seinen Monologen bereits erwähnt.72 In den Monologen ist

68 Der Begriff „Weltgeist“ in den Reden kommt oft vor. Dazu vgl. Reden, 80, 103, 107, 108, 161, 230, 237 und 242. 69 Damit verbunden spricht der Autor an einer späteren Stelle von „Handlungen des Weltgeistes“ (Reden 107). 70 Vgl. Reden, 237: „ein Werk des ewigen und Alles bildenden Weltgeistes“; und Reden, 242: „ein ins Unendliche fortgehendes Werk des Weltgeistes“. 71 Zum Weltbegriff und zum Begriff des Weltgeistes in ihrer religiösen Bedeutung in den Reden vgl. Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva (2006), 321–326. 72 Vgl. oben: Kapitel 1. 2. Das neue Individualitätskonzept in den Monologen (1800), 78.

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„Menschheit“ für Schleiermacher ein unbedingt relevanter Begriff für die Individualität. Denn jedes Individuum ist eine individuelle Darstellung der unendlichen Menschheit, die freie Anschauung der Menschheit in mir dient als Binnenstruktur der menschlichen Individuation. So zeigt sich jedes Individuum als eine eigentümliche Gestaltung der Menschheit in der Realität. Durch die eigene Selbstbildung hat jedes Individuum einen Anteil an der unendlichen und ungeteilten Menschheit. Damit ist jedes Individuum durch ein spannungsreiches wechselseitiges, von einzelner Individualität und universaler Menschheit geprägtes Verhältnis charakterisiert. Zugleich enthält Schleiermachers Individualitätstheorie einen Intersubjektivitätsgedanken. Die Geselligkeit dient als kommunikativer Ort für die Produktion der Individualität. Darüber hinaus haben wir paraphrasiert, dass die Selbstbildung bzw. das Menschwerden bei Schleiermacher einerseits als ein unendlicher Prozess der qualitativen, intensiven und diskontinuierlichen Selbstbestimmung verstanden werden kann, andererseits als ein unendlicher Prozess der quantitativen, extensiven und kontinuierlichen Selbstzuschreibung. Nach diesem kurzen Rückblick auf das Individualitätskonzept in den Monologen können wir nun zum Anschauen des Universums in der Menschheit in den Reden übergehen. Wohl ist Religion im Gebiet der Natur zu finden, für Schleiermacher kann man aber erst im Menschheitsgebiet in „das innerste Heiligthum der Religion“ (Reden 78) kommen. Das Gebiet der Menschheit ist der vollkommene Bereich für die Anschauung des Universums, oder Religion als Anschauung des Universums realisiert sich im Menschheitsgebiet vollkommen. Ausgangspunkt dieser Überzeugung ist die Annahme, dass es sich bei der Anschauung der Religion auf einer höheren Ebene um die Anschauung der Menschheit in mir handelt, oder mit anderen Worten, dass die Anschauung der Religion mit der Selbstbildung der Individualität in der Menschheit notwendig verbunden ist. So heißt es bei Schleiermacher: „[D]enn um die Welt anzuschauen und um Religion zu haben, muß der Mensch erst [Hervorhebung d. Vf.] die Menschheit gefunden haben, und er findet sie nur in Liebe und durch Liebe. […] Zur Menschheit also laßt uns hintreten, da finden wir Stoff für die Religion“ (Reden 89). Entscheidend ist also die Frage, inwiefern wir in der Menschheit den Stoff für die Religion finden können. Diese Frage steht in engem Zusammenhang mit dem bereits begegneten Grundgedanken Schleiermachers in den Reden, dass die Menschheit nicht identisch mit dem Universum ist. Stellt man die Menschheit dem Universum gleich, wie seine Zeitgenossen, so ergibt sich unserem Autor zufolge „das Ende der Religion“ (Reden 104). Die Verhältnisbestimmung von Menschheit und Universum in den Reden ist bei Schleiermacher von grundlegender Bedeutung dafür, dass man einerseits in der Menschheit den Stoff für die Religion finden kann, und dass man andererseits die Anschauung der Menschheit an sich mit der Religion, deren Wesen in dieser Programmschrift als „Anschauen des Universums“ verstanden wird, nicht identifizieren darf. Schleiermachers Grundgedanken zum Verhältnis von Menschheit und Universum in seiner Religionstheorie der Reden ist durch zwei miteinander verbundene

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Gesichtspunkte nachzugehen: Erstens ist die Menschheit nur ein kleiner Teil des Universums, eine Modifikation des Universums; zweitens dient die Anschauung der Menschheit in jedem Individuum als Weg zum Anschauen des Universums, nämlich als Weg zur Religion. Wir kommen zunächst zu dem ersten Gesichtspunkt der Verhältnisbestimmung von Menschheit und Universum, dass die Menschheit nur ein kleiner Teil des Universums – „ein unendlich kleiner Theil“ (Reden 125) – und eine Modifikation des Universums ist. Für Schleiermacher gerieten seine Zeitgenossen („Ihr“ und die „mehrsten“) in einen großen Irrtum, indem sie die Menschheit dem Universum gleichstellten und daraufhin Religion als Streben nach „der unendlichen, ungetheilten Menschheit“ (Reden 90–91) verstünden und Gott mit dem „Genius der Menschheit“ (Reden 91 und 125) identifizierten. Ihm zufolge ist die Menschheit kein Endziel der Religion, weil Menschheit als Einheit, Unendlichkeit und Ganzheit nicht absolut ist, sondern nur ein kleiner Teil des absoluten Unendlichen bzw. des Universums. Sehr deutlich spricht sich die Einsicht Schleiermachers über das Teilhaben der Menschheit an dem absoluten Unendlichen in der folgenden Passage aus: „Vielmehr verhält sie [sc. die Menschheit] sich zu ihm [sc. dem Universum], wie die einzelnen Menschen sich zu ihr verhalten; sie ist nur eine einzelne Form deßelben, Darstellung einer einzigen Modifikation seiner Elemente, es muß andre solche Formen geben, durch welche sie umgrenzt, und denen sie also entgegengesezt wird.“ (Reden 104–105) Diese Aussage steht in engem Zusammenhang mit dem Grundgedanken des neuen Individualitätskonzepts Schleiermachers in den Monologen: Jedes Individuum ist eine individuelle Darstellung der Menschheit in mir und deshalb ein kleiner Teil der Menschheit, indem jeder durch die Bildung seiner Individualität in der intersubjektiven Mitteilung einen Beitrag zur Weltbildung und zum Hervorbringen der unendlichen Menschheit leistet. So darf die zitierte Passage wie folgt paraphrasiert werden: Es gibt eine strukturelle Analogie zwischen den beiden Verhältnissen, nämlich zwischen dem Verhältnis vom Individuum zur Menschheit und dem Verhältnis von der Menschheit zum Universum. Diese strukturelle Analogie besteht in Folgendem: Ebenso wie das Individuum als eine Darstellung der Menschheit ein kleiner Teil der Menschheit als Ganzheit und Totalität – in „der unendlichen, ungetheilten Menschheit“ – ist, so ist die Menschheit als „Darstellung einer einzigen Modification seiner Elemente“ auch „nur“ ein kleiner Teil des Universums.73 Kurz: Die Menschheit ist eine der vielen Darstellungen des Universums.

73 Einen Hinweis darauf, dass die Menschheit nur eine einzelne Modifikation des Universums ist, findet man an einer weiteren Stelle in den Reden: „[…;] denkt an die verschiedenen Modifikationen unter denen das Universum angeschaut werden kann und an die tausend einzelnen Anschauungen und die verschiedenen Arten wie diese zusammengestellt werden mögen um einander wechselseitig zu erleuchten“ (Reden 221).

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Diese Überlegungen macht Schleiermacher an einer späteren Stelle noch deutlicher: „Nun aber habe ich Euch deutlich genug gesagt, daß die Menschheit nicht mein Alles ist, daß meine Religion nach einem Universum strebt, wovon sie mit allem was ihr angehört, nur ein unendlich kleiner Theil, nur eine einzelne vergängliche Form ist: kann also ein Gott, der nur der Genius der Menschheit wäre, das höchste meiner Religion sein?“ (Reden 125) Diese Aussage verweist deutlich auf die Vergänglichkeit der Menschheit als einer Darstellungsform des Universums, die der Absolutheit in der Religion entgegensteht. Nimmt man die beiden Stellen zusammen, so lässt sich das Verständnis der Menschheit als ein kleiner Teil des Universums bei Schleiermacher zweifach interpretieren. Erstens handelt es sich bei dem Verhältnis zwischen der Menschheit und dem Universum um eine Individuationsrelation, indem die Menschheit als eine der vielen Modifikationen des Universums in der Wirklichkeit gilt, sowie jedes Individuum als eine der vielen Modifikationen der Menschheit. Damit unmittelbar verbunden ist das Verhältnis der Menschheit zum Universum zweitens als eine Beziehung des Teilhabens zu betrachten. Aber bereits an dieser Stelle ist der Sachverhalt ersichtlich, dass die Unendlichkeit und die Ganzheit der Menschheit („der unendlichen, ungetheilten Menschheit“) – aufgrund ihres Teilhabens an dem Universum – bei Schleiermacher keine absolute ist, sondern nur eine sekundäre. Hingegen ist das Universum unendlich, ungeteilt und ganz absolut. Ist die Menschheit kein Endziel der Religion, dann stellt sich die für unsere Diskussion entscheidende Frage, welche Rolle die Menschheit in der Religion bzw. in der Anschauung des Universums spielt. Unmittelbar anschließend an seine Interpretation der Menschheit als eine der multiplen Modifikationen des Universums bringt Schleiermacher das wie folgt zum Ausdruck: „Sie [sc. Die Menschheit] ist nur ein Mittelglied [Hervorhebung d. Vf.] zwischen dem Einzelnen und dem Einen, ein Ruheplaz [Hervorhebung d. Vf.] auf dem Wege zum Unendlichen, und es müßte noch ein höherer Charakter gefunden werden im Menschen als seine Menschheit um ihn und seine Erscheinung unmittelbar aufs Universum zu beziehen. Nach einer solchen Ahndung von etwas außer und über der Menschheit strebt alle Religion um von dem gemeinschaftlichen und höheren in beiden [sc. in Menschheit und in Natur] ergriffen zu werden“ (Reden 105). An dieser Äußerung lässt sich nicht nur erkennen, dass das Universum als „ein höherer Charakter“ in der Religion als die Menschheit gilt. Aus dieser Aussage ergibt sich zugleich die Grundthese Schleiermachers, dass die Menschheit in der Religion als eine Brücke zwischen dem Einzelnen und dem absoluten Unendlichen fungiert. Mit den Ausdrücken wie „ein Mittelglied“ und „ein Ruheplatz“ wird an dieser Stelle auf die Vermittlungsfunktion der Menschheit in der Religion deutlich verwiesen. Dass der Einzelne auf dem Weg zum absoluten Unendlichen einer Vermittlung bedarf, stellt der Autor an einer späteren Stelle in der Diskussion über die Bildung zur Religion wie folgt heraus: „Es giebt in dem Verhältniß des Menschen zu dieser Welt gewiße Übergänge [Hervorhebung d. Vf.] ins Unendliche, durchgehauene Aus-

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sichten, vor denen jeder vorübergeführt wird, damit sein Sinn den Weg finde zum Universum, und bei deren Anblik Gefühle erregt werden, die zwar nicht unmittelbar Religion sind, aber doch, daß ich so sage, ein Schematismus derselben.“ (Reden 153) Nur durch „gewisse Übergänge“ findet der religiöse Sinn des einzelnen Menschen den Weg zum absolut unendlichen Universum. Entscheidend ist hier die Frage, wie der Mensch durch die Menschheit den Weg zum Universum bzw. den Weg zur Religion finden kann. Bei Schleiermacher steht diese religionstheoretische Frage in den Reden mit der anthropologischen Frage seiner Individualitätstheorie in den Monologen, wie jeder Einzelne seine Individualität in der Menschheit bilden kann, in engem Zusammenhang. Mit anderen Worten lässt sich diese Frage so ausdrücken: Wie kann jeder Einzelne durch die Anschauung der Menschheit in mir Mensch werden? Hiermit rückt der zweite Gesichtspunkt der Verhältnisbestimmung von Menschheit und Universum in den Reden ins Licht, dass die Anschauung der Menschheit in jedem Individuum zugleich der Weg zum Anschauen des Universums, also der Weg zur Religion ist. Anders gesagt: In der Menschheit, genauer genommen in dem eigenen Menschwerden findet man den Weg zum absoluten Unendlichen, zum Universum. Für unsere gesamte Studie ist dieser zweite Gesichtspunkt von außerordentlicher Bedeutung, weil es dabei schließlich darum geht, den inneren Verweisungszusammenhang von Religion und Individualität bei Schleiermacher in seiner frühromantischen Werkphase aufzuklären. Im Folgenden wird deutlich gemacht, weshalb Schleiermacher zufolge die Anschauung des Universums notwendig mit der Anschauung der Menschheit verbunden ist, oder inwiefern das neue Individualitätskonzept und die neue Fasuung des Religionsverständnisses in der frühromantischen Werkphase Schleiermachers in engem Zusammenhang stehen. Mit dieser Begründung sind wir auch an die Eingangsfrage in dieser Diskussion zurückgekehrt, inwiefern man in der Menschheit den Stoff für die Religion finden kann. Schleiermacher hat die Reden über die Religion ein paar Monate früher als die Monologen niedergeschrieben und beide Schriften haben unterschiedliche Schwerpunkte: Jene legt ihren Akzent auf eine neue Wesensbestimmung der Religion, diese sucht nach der inneren Individuation des Subjekts, so wie wir bisher aufgezeigt haben. Aus dem bisherigen Dargestellten können ihre unterschiedlichen Aufgaben wie folgt gefasst werden: In dem Religionsverständnis geht es um die Anschauung des Universums, bei dem Individualitätskonzept handelt es sich um das Anschauen der Menschheit in jedem Einzelnen. Trotz dieser inhaltlichen Unterschiede verbinden sich beide Schriften eigentlich innig. Denkt man daran, dass beide Schriften in seiner ersten Berliner Zeit entstehen und als Produkte des Umgangs des jungen Autors mit dem dortigen frühromantischen Kreis gelten, ist ihr enger Zusammenhang wenig verwunderlich. Aber worin besteht die innere Verbindung von dem neuen Individualitätskonzept und der neuen Fassung des Religionsverständnisses bei Schleiermacher in seiner frühromantischen Werkphase?

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In unserer Rekonstruktion des Individualitätskonzepts in den Monologen wurde herausgearbeitet, dass die Bildung der Individualität nach Schleiermacher nur in einem intersubjektiven Kommunikationsvorgang erfolgen kann. Der Grund dafür ist zweifach zu verstehen: Einmal, weil die Bestimmung der eigenen Individualität nur durch eine wechselseitige Attraktion in der Gemeinschaft mit den anderen Individuen möglich ist, zum zweiten, weil jedes Individuum durch die Selbstbildung der eigenen Individualität einen Beitrag zum Hervorbringen der unendlichen Menschheit leistet, womit die Individualität als Darstellung der „Menschheit in mir“ zum Teil der Menschheit als einem Ganzen wird. An dieser Stelle befindet sich der Anschlusspunkt des Individualitätskonzepts zum Religionsverständnis in der zweiten Rede der Reden über die Religion (1799). Schleiermacher zufolge setzt die religiöse Anschauung eine angeborene hermeneutische Fähigkeit des Subjekts – Sinn für Religion oder Sinn fürs Universum – voraus, so wie oben aufgezeigt wurde. Unter dieser hermeneutischen Fähigkeit versteht man in der religiösen Anschauung das Endliche als mannigfaltige Darstellung des Unendlichen, des Universums. Die religiöse Anschauung ist deshalb eine Hermeneutik der Endlichkeit. In einem weiteren Schritt kann die religiöse Anschauung bei Schleiermacher zugleich auch als Tiefenhermeneutik der Individualität verstanden werden: „Den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung unter der Idee endlicher Individualität sehen, heißt ihn als Darstellung des Universums sehen.“74 In dieser Tiefenhermeneutik wird die endliche Individualität in der religiösen Anschauung als Manifestation der absoluten und unendlichen Totalität interpretiert. Darum ist die Individualität nur in der Endlich-Unendlich-Korrelation und in der Teil-Ganzes-Struktur zu verstehen. In diesem Sinne fungiert die religiöse Anschauung als Tiefenhermeneutik der Individualität: „Religiöse Anschauung ist Verstehen von Endlichem als Individuellem – ein Verstehen, das nur im Horizont des Unendlichen möglich ist.“75 Darum ist Individualität „nach Schleiermacher eine religiöse Idee“.76 Wir haben in der obigen Diskussion bereits gesehen, dass es für Schleiermacher eine strukturelle Analogie zwischen dem Verhältnis des Individuums zur Menschheit und dem Verhältnis der Menschheit zum Universum gibt. Ebenso wie das Individuum als eine Darstellung der Menschheit ein kleiner Teil der Menschheit ist, so ist die Menschheit auch eine der vielen Darstellungen des Universums. Berücksichtigt man an dieser Stelle noch einmal Schleiermachers Grundgedanken in den Monologen, dass die Genese der Individualität durch die Selbstbildung in einem intersubjektiven Kommunikationsvorgang erfolgt, so ist ersichtlich, dass jeder Einzelne durch die Selbstbildung der eigenen Individualität nicht nur ein Teil der Mensch-

74 Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva (2006), 379–380. 75 A. a. O., 380. 76 Ebd.

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heit, sondern zugleich ein Teil des absolut unendlichen Universums wird. Durch die Selbstbildung der Individualität hat jeder Einzelne damit einen Bezug auf das Universum bzw. auf das absolute Unendliche und auf das absolute Ganze. Die Individualität als Darstellung der Menschheit und als Anschauung der Menschheit in mir ist im religiösen Sinne bei Schleiermacher zugleich die Darstellung des Universums und die Anschauung des Universums. Die Anschauung der Menschheit in mir gilt als Übergang zum absolut unendlichen Universum. Daraus erhellt die These, dass der Einzelne durch die Selbstbildung der Individualität auf eine Teil-Ganzes-Struktur und eine Endlich-Unendlich-Korrelation bezogen wird. Blickt man an dieser Stelle noch einmal zurück auf den Gedanken in Schleiermachers Neuinterpretation des Religionsbegriffs, dass die Teil-Ganzes-Struktur und die Endlich-Unendlich-Korrelation entscheidend für die religiöse Anschauung sind, so lässt sich auch sagen: Bei Schleiermacher hat die Selbstbildung der Individualität eine religiöse Bedeutung. Damit kehren wir abschließend noch einmal zum zweiten Gesichtspunkt unserer Verhältnisbestimmung von Universum und Menschheit zurück: Die Anschauung der Menschheit in jedem Individuum sei zugleich der Weg zur Religion. Drei Pointen seien hier festgehalten: 1. Die Menschheit hat eine Vermittlungsfunktion zwischen dem absoluten Endlichen und dem absoluten Unendlichen, zwischen dem endlichen Individuellen und der absoluten Totalität. Diese Vermittlungsfunktion besteht darin, dass Religion als Anschauen des Universums (auf höherer Ebene, in ihrem „innerste[n] Heiligthum“) eigentlich durch die Anschauung der unendlichen und ungeteilten Menschheit in mir zu verwirklichen ist.77 2. Die Bildung der Individualität in der Menschheit ist zugleich Bildung zur Religion, und Bildung zur Religion ist zugleich Selbstbildung. Die Bildung zur Religion ist das Thema der dritten Rede. Dass Schleiermacher zufolge jeder Mensch eine angeborene religiöse Anlage oder einen Sinn für Religion als erste subjektive Basis für die Anschauung des Universums hat, wurde oben bereits in unserer allgemeinen Darstellung der Religion als Anschauung und Gefühl hervorgehoben. Für Schleiermacher ist die Unfähigkeit für die Bildung zur Religion nur kulturell erzeugt. In unserer Untersuchung wird der Bildung zur Religion bei Schleiermacher nicht mehr nachgegangen.78 3. Berücksichtigt man an dieser Stelle noch einmal, dass Schleiermacher aus einem spinozistischen Mischungsprinzip die Individualität als Darstellung der Menschheit, die durch die eigentümliche Gestaltung der allgemeinen Elemente der Menschheit realisiert wird, versteht, so klärt sich hierbei zugleich auch die Frage, weshalb Schleier-

77 Ähnlich heißt Ellsiepens Leitthese zum inneren Zusammenhang von Universum und Menschheit bei Schleiermacher, dass „die ‚Darstellung der Menschheit‘ zugleich als ‚Darstellung des Universums‘ versiert“ (a. a. O., 346). 78 Zur Bildung zur Religion in den Reden vgl. Andreas Kubik: Die implizite Religionspädagogik der Reden „Über die Religion“, in: Arnulf von Scheliha/Jörg Dierken (Hg.): Akten des internationalen Kongresses 2015 (2017), 71–91.

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macher in den Reden sagt, dass man in der Menschheit den Stoff für die Religion finden kann. Ohne die Menschheit auf eigentümliche Weise anzuschauen und dadurch die Individualität zu bilden, kann man beim Anschauen des Universums „das innerste Heiligthum“ der Religion nicht erreichen, sondern nur ihren „äußersten Vorhof“, den unser Autor als Religion in der Natur versteht. In unserer obigen Studie zur neuen Fassung des Religionsverständnisses in der zweiten Rede der Reden über die Religion (1799) haben wir in einem ersten Schritt durch eine allgemeine Darstellung der Wesensbestimmung der Religion gesehen, dass Schleiermacher das Anschauen des Universums als Leitbegriff seines Religionsverständnisses aufstellt und das Gefühl trotzdem als unentbehrlich für die Vollendung der Religion versteht. In einem zweiten Schritt geht es darum, wie der Autor auf dieser Basis den Leitbegriff „Anschauen des Universums“ in konkreten Beispielen expliziert: Wir sind zunächst kurz auf die Anschauung des Universums in der Natur eingegangen, dann ließen wir uns von der Frage nach der Verhältnisbestimmung von Menschheit und Universum leiten und wurden schließlich auf die These geführt, dass es sich bei der Anschauung der Religion auf einer höheren Ebene eigentlich um die Anschauung der Menschheit in mir handelt. Denn Schleiermacher zufolge sind die Anschauung der Religion und die Selbstbildung der Individualität in der Menschheit aufs Engste miteinander verbunden: Religion als Anschauen des Universums im Menschheitsgebiet ist mit der anthropologischen Aufgabe des Menschen so verbunden, dass Religion durch die Selbstbildung der Individualität jedes Einzelnen zu verwirklichen ist. Nach seinem neuen Individualitätskonzept in den Monologen ist die Anschauung der Menschheit in mir zugleich die Bildung der Individualität – Mensch zu werden ist ein unendlicher Vorgang. So wie das eigene Menschsein durch die Selbstbildung zu verwirklichen ist, ist religiös zu sein bzw. das Universum anzuschauen auch die Aufforderung des Lebens an jeden einzelnen Menschen. Das bedeutet: Im eigenen Menschwerden findet man seinen Weg zur Religion. Oder: Die Suche nach dem eigenen Menschsein und die Suche nach der Religion sollen sich Schleiermacher zufolge innig verbinden. Das ist die tiefe Bedeutung des inneren Zusammenhangs der beiden frühromantischen Programmschriften Schleiermachers: Reden über die Religion und Monologen. Trotz dieser Nähe zwischen der Anschauung des Universums und der Anschauung der Menschheit darf man aber die Anschauung der Menschheit nicht mit der Religion identifizieren. Vergegenwärtigt man sich an dieser Stelle, dass das neue Individualitätskonzept in den Monologen problemgeschichtlich als Fortführung der subjektivitätstheoretischen Philosophie seit der Neuzeit gilt, so darf hier auch festgestellt werden, dass Schleiermacher bereits um 1800 der Bedeutung der Subjektivität in der Religion umfassend Rechnung trägt.

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2 Der neue Kirchenbegriff In unserer Hinführung zum Religionsverständnis Schleiermachers in den Reden über die Religion (1799) hatten wir darauf aufmerksam gemacht, dass die Krise der Religion am Ausgang des 18. Jahrhunderts für unseren Autor zugleich die Krise der Kirche bedeutet. Als Antwort hat er im Rahmen seiner neuen Fassung des Religionsverständnisses in dieser Programmschrift zugleich einen neuen Kirchenbegriff entwickelt, dem sich seine vierte Rede widmet. Bereits zu Beginn dieser vierten Rede macht Schleiermacher deutlich: Die Kirche ist eine „Veranstaltung, bei der es auf Mittheilung der Religion angesehen ist“ (Reden 175), sie gehört damit zu den „geselligen Einrichtungen“ (ebd.). Die Kirche ist also eine durch die Mitteilung strukturierte religiöse Gemeinschaft. Mit der vierten Rede legt Schleiermacher deshalb keinen dogmatischen, sondern einen sozialphilosophischen Kirchenbegriff vor. Nachdem wir im Vorangehenden seinen neuen Religionsbegriff dargelegt haben, soll nun im Folgenden auf die Grundgedanken seines neuen Kirchenbegriffs eingegangen werden.79 Den Ausgang seines neuen Kirchenbegriffs nimmt Schleiermacher von der Kritik an der Kirche seit der Aufklärung. In der Einleitung der vierten Rede80 gesteht er, dass die Funktion der Kirche in der Aufklärung ein umstrittenes Thema ist. Dabei unterscheidet er zwei Typen der Ablehnung der Religion unter seinen Adressaten. Die erste Gruppe betrachtet Religion als eine Geisteskrankheit („eine Krankheit des Gemüths“ [Reden 174]). Dieses „Übel“ (ebd.), sofern es nur Einzelne betrifft, kann „durch eine zwekmäßige Behandlung“ (ebd.) noch geschwächt werden. Aber bei einer Gemeinschaft wird „dann bald die ganze Atmosphäre vergiftet“ (Reden 175), so dass dieses „Übel“ zu einem „gleichen fieberhaften Wahnsinn“ der ganzen Gesellschaft wird. Dann entsteht bei dieser Gruppe der Ablehnenden ein starker „Widerwille gegen die Kirche“ (ebd.), so dass die Priester für sie „die Verhaßtesten unter den Menschen“ (ebd.) werden. Im Vergleich zu dieser Gruppe hat die zweite Gruppe eine etwas weniger negative Meinung von Religion, indem sie Religion für etwas Unbedeutendes und deshalb auch Ungefährliches hält. Aber sie hat für die religiö-

79 Zu Schleiermachers Kirchenbegriff in der vierten Rede vgl. Trutz Rendtorff: Kirche und Theologie. Die systematische Funktion des Kirchenbegriffs in der neueren Theologie, Gütersloh 1966, 123– 139; Christoph Dinkel: Kirche gestalten – Schleiermachers Theorie des Kirchenregiments, Berlin/ New York 1996, 50–55; Martin Ohst: Schleiermacher und die Kirche, in: Friedrich Huber (Hg.): Reden über die Religion – 200 Jahre nach Schleiermacher. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Schleiermachers Religionskritik, Wuppertal 2000, 50–81, bes. 56–59; Martin Kumlehn: Kirche im Zeitalter der Pluralisierung von Religion. Ein Beitrag zur praktisch-theologischen Kirchentheorie, Gütersloh 2000, 56–77; Theodor Jørgensen: Schleiermachers Impulse für eine Ekklesiologie im kulturellen Kontext der Moderne, in: Wilhelm Gräb/Notgar Slenczka (Hg.): Universität – Theologie – Kirche, Leipzig 2011, 227–240. 80 Vgl. Reden, 174–178.

2 Der neue Kirchenbegriff



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sen Einrichtungen nur „nachtheilige Begriffe“ (ebd.), sie sieht darin eine „[k]nechtische Aufopferung des Eigenthümlichen und Freien, geistlose[n] Mechanismus und leere Gebräuche“ (Reden 176). Ihre Kritik besteht also grundlegend darin, dass die Kirche für sie („die Gebildeten“) dem durch die Aufklärung herausgehobenen Prinzip der Autonomie des einzelnen Menschen widerspricht. Aus diesem Grund zielte die Kirchenkritik seit der Aufklärung hauptsächlich auf eine Entdogmatisierung, Deinstitutionalisierung und Individualisierung von Religion.81 Ebenso wie die Ursache für das Unvermögen der Gebildeten, die Bedeutung der Religion in der Gesellschaft zu erkennen, darin liegt, dass für eine Epoche wie die Frühromantik ein dem Kulturzustand entsprechender moderner Religionsbegriff fehlt, so hängt die damalige Kirchenkritik Schleiermacher zufolge mit dem Sachverhalt zusammen, dass ein adäquater moderner Kirchenbegriff noch nicht vorhanden ist. Schleiermacher nimmt also die Kritikmomente auf und entwickelt vor diesem Hintergrund einen neuen Kirchenbegriff. Dafür ist in erster Linie eine neue Methodologie erforderlich: „laßt uns vielmehr den ganzen Begrif einer neuen Betrachtung unterwerfen und ihn vom Mittelpunkt der Sache aus aufs neue erschaffen“ (ebd.). Interessant ist hier die Frage, worauf sich „der Mittelpunkt der Sache“ bezieht. Anstatt diese Frage jetzt zu beantworten, wollen wir zunächst dem Gedankengang des Autors folgen. Bereits in der Einleitung der vierten Rede wurde darauf hingewiesen, dass die Kirche zu den „geselligen Einrichtungen“ gehört. Bei dem Ausdruck „geselligen Einrichtungen“ denkt man an Schleiermachers Begriff der Geselligkeit, den er vor den Reden in der kurzen Abhandlung Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799) zum Thema gemacht hatte und der bereits in der ersten Rede auftaucht. Wir hatten herausgearbeitet, dass die Geselligkeit für Schleiermacher die Gemeinschaft der Individualitäten ist und das Wort „gesellig“ die Tätigkeit des intersubjektiven Austauschs zwischen Individuen bezeichnet.82 Betrachtet man an dieser Stelle seinen Begriff der Geselligkeit in dem Versuch und seine erste Bestimmung der Kirche als eine der „geselligen Einrichtungen“ zusammen, so lässt sich feststellen, dass diese nach Schleiermacher ein Ort für die Kommunikation der Individuen in der Religion sein soll. Anders als seine Vorgänger, denen die Kirche eine institutionelle Großeinrichtung für die Lehre und die Überlieferung der Dogmen war, ist seine Idee der Kirche eine „neue[] Betrachtung“. Auf welche Weise führt der junge Schleiermacher diese „neue[] Betrachtung“ in den Kirchenbegriff ein? Die Leitthese seiner „neuen Betrachtung“ lautet: „Ist die Religion einmal, so muß sie nothwendig auch gesellig sein: es liegt in der Natur des Menschen nicht nur, sondern auch ganz vorzüglich in der ihrigen.“ (Reden 177) Der Sachverhalt, dass Religion notwendig gesellig sein muss, liegt in der Natur des Menschen und

81 Dazu vgl. Ulrich Barth: Die Religionstheorie der ›Reden‹ (1998/2004). 82 Vgl. oben: Kapitel 1. 3. Der Begriff der Geselligkeit in dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799).

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vor allem in der Natur der Religion begründet. Als Beleg dieser These dient Schleiermacher ein Beweisgang aus drei miteinander verbundenen Schritten. Der erste Schritt seines Beweisganges geht auf die Natur des Menschen zurück. Jeder Mensch hat eine Tendenz zur Selbstvergewisserung. Wie bereits deutlich wurde, hat Schleiermacher in der ersten seiner Reden eine von der Naturphilosophie Schellings beeinflusste anthropologische Geisttheorie entwickelt. Dieser Geisttheorie zufolge hat jeder humane Geist zwei entgegengesetzte Triebe: Der eine Trieb steht für das Bestreben, alles Umgebende an sich zu ziehen und in sein eigenes inneres Wesen einzusaugen; der andere Trieb für die Sehnsucht, das eigene innere Wesen von innen heraus auszudehnen und mitzuteilen.83 So hat jeder Mensch von Natur aus „die ganze Sehnsucht nach Mittheilung und Geselligkeit“ mit seinen „Mitgenossen“ (Reden 14). Für Schleiermacher gründet sich die Geselligkeit der Religion deshalb zunächst auf die Natur des humanen Geistes. So soll jeder in der „intellektuellen Wechselwirkung“ (Reden 177) das, „was in ihm ist“ (ebd.),84 „äußern und mittheilen“ (ebd.). Auch an dieser Stelle begegnet uns Schleiermachers Grundgedanke in der ersten Rede, dass die Äußerung und Mitteilung des humanen Geistes ein durch die gegenseitige Wechselwirkung gekennzeichneter intersubjektiver Akt ist. Mit dieser Äußerung und Mitteilung des Eigenen ist der Wunsch nach Selbstvergewisserung mit der Gattung verbunden: „[J]e heftiger ihn etwas bewegt, je inniger es sein Wesen durchdringt, desto stärker wirkt auch der Trieb, die Kraft deßelben auch außer sich an Andern anzuschauen, um sich vor sich selbst zu legitimiren, daß ihm nichts als menschliches begegnet sei“ (ebd.). Durch die Äußerung und Mitteilung des Eigenen kann der Einzelne sicherstellen, dass er zur allgemeinen Menschheit gehört. Darauf folgt der zweite Schritt seiner Begründung für die „neue[] Betrachtung“ des Kirchenbegriffs: Für Schleiermacher ist der Trieb des Menschen, sich auszudehnen und mitzuteilen, dort besonders stark, wo man Anschauungen und Gefühle hat. Die Ursache liegt darin: „Der eigentlichste Gegenstand aber für dieses Verlangen ist unstreitig dasjenige, wobei der Mensch sich ursprünglich als leidend fühlt, Anschauungen und Gefühle; da drängt es ihn zu wißen, ob es keine fremde und unwürdige Gewalt sei, der er weichen muß.“ (Reden 177–178) Unter allen Gegenständen des ausdehnenden Verlangens gelten Anschauungen und Gefühle als das, was man aus seiner ganzen Tiefe und Innenseite erzeugt hat. Darin zeigt sich die Selbsttätigkeit des Menschen („sich ursprünglich als leidend fühlt“) besonders stark und jeder möchte deshalb auch gewiss sein, dass seine Würde trotz dieser individuellen Selbsttätigkeit nicht in Frage gestellt wird. Deshalb ist dort, wo man Anschauungen und Gefühle hat, die Kommunikation mit Anderen besonders notwendig.

83 Mehr dazu vgl. oben: Kapitel 1. 1. Schleiermachers anthropologische Geisttheorie in den Reden (1799). 84 Vgl. Reden, 177: „dasjenige, was er in sich erzeugt und ausgearbeitet hat, […]“.

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Schleiermacher geht noch einen Schritt weiter und betrachtet die Kommunikation insbesondere in der Religion als im höchsten Maße notwendig. Dieser dritte Schritt seines Beweisgangs beruht auf seiner Neubestimmung des Wesens der Religion. Für Schleiermacher sind unter allen Anschauungen und Gefühlen diejenigen in der Religion die tiefsten und die stärksten, die sich als „Einwirkungen des Universums“ (Reden 178) zu erkennen geben. Denn die „Einwirkungen des Universums“ sind das, „was ihn am stärksten aus sich heraustreibt“ (ebd.). Er beschreibt dieses Verlangen, sich in der Religion mitzuteilen, folgendermaßen: „Sein erstes Bestreben ist es vielmehr, wenn eine religiöse Ansicht ihm klar geworden ist, oder ein frommes Gefühl seine Seele durchdringt, auf den Gegenstand auch Andere hinzuweisen und die Schwingungen seines Gemüths womöglich auf sie fortzupflanzen.“ (ebd.) Diese berühmte Aussage legt mindestens zwei Punkte nahe: Erstens setzt die Mitteilung in der Religion eine klare religiöse Ansicht, nämlich die Gewissheit des eigenen religiösen Gefühls, voraus; zweitens zielt die Mitteilung in der Religion darauf, den Anderen auf die Anschauungen und Gefühle des Universums bzw. auf die eigene religiöse Anlage aufmerksam zu machen, indem man die Regungen der eigenen religiösen Gefühle in Anderen zu initiieren versucht.85 Es ist zu beachten, dass hier nicht von dem Fortpflanzen der Gefühle an sich die Rede ist, sondern von dem Fortpflanzen des Verfahrens, wie religiöse Erregungen entstehen können („die Schwingungen seines Gemüths“). Für Schleiermacher realisiert allerdings jeder Mensch nur einen kleinen Teil von Religion, weil jede einzelne religiöse Anschauung immer nur partikular existiert. Deshalb kann niemand mit dem eigenen religiösen Erleben eine allumfassende Religion ausbilden. Die Folge davon ist: „[W]as er nicht unmittelbar erreichen kann, will er wenigstens durch ein fremdes Medium wahrnehmen“ (Reden 179). Dadurch ist „jede Äußerung derselben [sc. der Religion]“ eine Ergänzung für die Anderen. An dieser Stelle zeigt sich einer der wichtigsten Grundgedanken Schleiermachers: Jeder religiöse Mensch bedarf der Kommunikation mit seinen Mitgenossen, genauer genommen der Ergänzung durch die Anschauungen und Gefühle der Anderen. Mit dem Verweis auf den Mitteilungscharakter des menschlichen Geistes in der Religion formuliert Schleiermacher seine Schlüsselthese: „So organisirt sich gegenseitige Mittheilung [sc. in der Religion], so ist Reden und Hören Jedem gleich unentbehrlich.“ (ebd.) Damit ist die Eingangsdefinition, dass die Kirche eine gesellige Einrichtung ist und diese gesellige Gemeinschaft durch die gegenseitige Mitteilung zu strukturieren ist, erläutert. Die Kirche als eine gesellige Gemeinschaft ist also keine durch äußere Regelung und Gewalt eingerichtete Institution, sondern ein sich selbst

85 Dazu vgl. ferner eine Aussage in der dritten Rede: „Aber auch in den glüklichsten Zeiten, auch mit dem besten Willen, die Anlage zur Religion nicht nur da, wo sie ist, durch Mittheilung aufzuregen, sondern sie auch einzuim-pfen und anzubilden auf jedem Wege der dazu führen könnte: wo gibt es denn einen solchen?“ (Reden 138).

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organisierender und freier Kreis religiöser Menschen. Sie entwickelt sich aus der Notwendigkeit der gegenseitigen Mitteilung in der Religion. An einer späteren Stelle konstatiert der Autor diese Notwendigkeit – „das Bedürfniß“ (Reden 189) – als „das Princip der religiösen Geselligkeit“ (ebd.). Wir haben gesehen, auf welche Weise Schleiermacher mit dem Beweis einer dreifachen Steigerung begründet, dass Religion notwendig gesellig sein muss. Mit geisttheoretischen Argumenten führt er die Mitteilung der Religion auf die Natur der Menschen zurück. Die Mitteilung des Eigenen dient in erster Linie der Selbstvergewisserung. Das Verlangen nach der Mitteilung des Eigenen ist bei den Anschauungen und Gefühlen besonders stark, bei den religiösen Anschauungen und Gefühlen am stärksten. Das begründet sich einerseits aus der Selbsttätigkeit und andererseits aus dem Ergänzungsbedürfnis des religiösen Bewusstseins. Dieser Wunsch nach gegenseitiger Mitteilung der Menschen in der Religion führt zur Entstehung dessen, was Schleiermacher „wahre Kirche“ nennt. Die wahre Kirche ist eine durch gegenseitige Mitteilung strukturierte religiöse Gemeinschaft. Religion ist für Schleiermacher deshalb nicht auf das Individuum begrenzt – Religion ist kein „Privatgeschäft des Einzelnen für sich“ (ebd.), sondern ein genuin soziales Phänomen. Als Ergebnis der Rekonstruktion dieser Begründung lässt sich feststellen, dass Schleiermachers Interpretation der Entstehung der Kirche im Bereich der Anthropologie begründet wird, ebenso wie auch schon seine neue Fassung des Religionsverständnisses in der zweiten Rede. Damit können wir zur oben aufgeworfenen Frage der methodischen Reflexion des Kirchenbegriffs zurückkehren. Was meint der Autor mit dem Ausdruck „Mittelpunkt der Sache“ (Reden 176)? Methodische Grundlage seines neuen Kirchenbegriffs ist das Wesen des Menschen und vor allem das Wesen der Religion. Der „Mittelpunkt der Sache“ ist insofern Anthropologie und Religionstheorie. Vor dem Hintergrund der Kirchenkritik seiner Adressaten führt Schleiermacher in den Kirchenbegriff eine neue Einsicht ein: Religion muss notwendig gesellig sein. Nach dieser „neuen Betrachtung“ entsteht die Kirche aus dem Bedürfnis nach gegenseitiger Mitteilung in der Religion. Die Kirche dient ihm deshalb als Ort für die intersubjektive Kommunikation der religiösen Menschen. Diese Einsicht deutet an, dass die Ursache für die Entstehung der Kirche zugleich den Zweck der Kirche bestimmt. Diesen Sachverhalt bemerkt der Autor selbst: „[I]ch habe die Kirche konstruirt aus dem Begrif ihres Zweks“ (Reden 191). Nachdem wir im Vorangehenden die Begründung Schleiermachers rekonstruiert haben, inwiefern die Kirche aus dem Bedürfnis nach gegenseitiger Mitteilung notwendig entsteht, wollen wir nun darauf eingehen, wie der Zweck der Kirche durch den neuen Kirchenbegriff Schleiermachers erfüllt werden kann. Die wahre Kirche ist für Schleiermacher eine durch die gegenseitige Mitteilung strukturierte religiöse Gemeinschaft, so wurde oben resümiert. Das bedeutet, dass die Kirche als Ort für die intersubjektive Kommunikation in der Religion zugleich ihren Zweck in der gegenseitigen Mitteilung erfüllt. Auf diese Verschränkung von Zweck und Gestalt der Kirche in der vierten Rede hat Martin

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Ohst bereits hingewiesen: „Zweck und Gestalt der religiösen Gemeinschaft fallen in eins: ‚gegenseitige Mitteilung‘, ‚Reden und Hören‘ [sc. Reden 179].“86 Für die Beantwortung der Frage, auf welche Weise der Zweck der Kirche erfüllt werden kann, ist deshalb entscheidend, inwiefern sich die gegenseitige Mitteilung in der Religion gestaltet bzw. selbst „organisirt“ (Reden 179). Schleiermachers Begriff der gegenseitigen Mitteilung in der Religion beinhaltet zwei Bedeutungselemente: die Mitteilung, genauer genommen die Äußerung der Religion sowie die Reziprozität dieser Mitteilung. Um diesen Schlüsselbegriff seines neuen Kirchenverständnisses zu verstehen, sollen im Folgenden beide Elemente jeweils näher geklärt werden. Wir fangen mit der Mitteilung der Religion an. Gleich nachdem er die Geselligkeit als eine „neue[] Betrachtung“ in den Kirchenbegriff eingeführt hat, weist Schleiermacher deutlich darauf hin, dass die schriftliche Sprache kein angemessenes Medium für die Mitteilung der Religion ist: „Aber religiöse Mittheilung ist nicht in Büchern zu suchen, wie etwa andere Begriffe und Erkenntniße.“ (ebd.) Die Bücher stehen für die Schriftlichkeit der Sprache. Schleiermacher beginnt seine Diskussion über die Mitteilung der Religion mit einer sprachphilosophischen Reflexion, genauer gesagt mit einer scharfen Kritik an der Schriftlichkeit der Sprache. Seiner Meinung nach besteht das Problem der schriftlichen Sprache darin, dass sie nur einförmig („die einförmigen Zeichen“, ebd.) und lediglich reduziert („vervielfältige Reflexion“, ebd.) ist. Denn gerade in ihrer Einförmigkeit gehen wichtige Dinge im Medium der schriftlichen Sprache verloren. Dies ist die Schwäche der schriftlichen Sprache. Aus diesem Grund ist die schriftliche Sprache nicht geeignet für die Mitteilung der mentalen Ganzheitlichkeit des Menschen: „[D]ennoch [könnte] die Wirkung auf den ganzen Menschen in ihrer großen Einheit nur schlecht nachgezeichnet werden durch vervielfältigte Reflexion; nur wenn sie verjagt ist aus der Gesellschaft der Lebendigen, muß sie ihr vielfaches Leben verbergen im todten Buchstaben“ (Reden 179–180). Diese Aussage zeigt: Die mentale Ganzheitlichkeit („den ganzen Menschen in ihrer großen Einheit“) vermag die Sprache nicht nachzuzeichnen.87 Durch die Verschriftlichung geht viel verloren. Unter allen Anschauungen und Gefühlen ist Religion als „Einwirkungen des Universums“ die tiefste und stärkste – so wurde oben bereits gezeigt. Aus diesem Grund kann „dieser Verkehr mit dem Innersten des Menschen [sc. auch] nicht getrieben werden im gemeinen Gespräch“ (Reden 180). Das Wesentliche der Religion, das nur in einer mentalen Ganzheitlichkeit kom-

86 Martin Ohst: Schleiermacher und die Kirche (2000), 57. 87 Die mentale Ganzheitlichkeit des Menschen („den ganzen Menschen in ihrer großen Einheit“) gilt als eine wichtige Betrachtung Schleiermachers in seinem System und wird in seiner Philosophischen Ethik als „Einheit des Lebens“ mehrmals zum Thema. Dazu vgl. unten: Kapitel 4. Der Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik von 1812–17, 282–287 und 301–305.

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munizierbar ist, lässt sich in schriftlicher Sprache nur unzureichend mitteilen.88 Dieser Gedanke, dass das, was Religion betrifft, nicht durch die Schriftlichkeit der Sprache (zum Beispiel durch Heilige Schriften) nachzubilden ist, stimmt mit Schleiermachers Grundthese der dritten Rede überein: Die Bildung zur Religion liegt „weit außer dem Gebiet des Lehrens und Anbildens“ (Reden 139). Als Ergebnis seiner Kritik an der Schriftlichkeit der Sprache lässt sich resümieren: Aufgrund der Defizite der schriftlichen Sprache ist sie als Medium für die Mitteilung der Religion nicht geeignet.89 Ist die schriftliche Sprache nicht geeignet für die Mitteilung der Religion, so stellt sich die Frage, in welchem Medium die Religion geäußert werden kann. „In dieser Manier eines leichten und schnellen Wechsels treffender Einfälle laßen sich göttliche Dinge nicht behandeln: in einem größern Styl muß die Mittheilung der Religion geschehen“ (Reden 180–181). Zwar betrachtet Schleiermacher die schriftliche Sprache als schlechtes Medium für die religiösen Dinge, aber er lehnt die Sprache in der vierten Rede nicht grundlegend ab, um die Mitteilung der Religion zu charakterisieren. Für ihn ist nicht die schriftliche Sprache, sondern die Sprache „im größern Styl“ das geeignete Medium für die Mitteilung der Religion. Interessant ist hierbei die Frage, was die Sprache im größeren Stil ist. Die Sprache im größeren Stil, die für die Mitteilung der Religion geeignet ist, ist die rhetorische Sprache – das macht der Autor bereits an einer früheren Stelle deutlich: „[…] da alle Mittheilung der Religion nicht anders als rhetorisch sein kann“ (Reden 49). Der Grund dafür ist: Die rednerische Sprache hat „die ganze Fülle und Pracht“, um die Einwirkungen des Universums auf den Menschen „in angemeßener Kraft und Würde darzustellen“ (Reden 181), wobei „[a]lles zusammengenommen wird“ (ebd.). Schleiermacher stellt hierbei

88 Dazu vgl. ferner Reden, 180: „Religiöse Ansichten, fromme Gefühle und ernste Reflexionen darüber kann man sich auch nicht so in kleinen Brosamen einander zuwerfen, wie die Materialien eines leichten Gesprächs“. 89 Schleiermachers Kritik an der Schriftlichkeit der Sprache ist auch an anderen Stellen seiner Reden zu finden. Bereits in der ersten Rede stellt er fest, dass das ausgebildete einförmige Religionssystem (zum Beispiel Schulsystem) nicht adäquat für die Beschreibung von Geist sowie nicht adäquat für die Beschreibung von religiösen Einzelphänomenen in Primärgestalt ist (vgl. Reden, 24–30). Zum Beispiel: „Man hat aber doch Systeme von allen Schulen? Ja eben von den Schulen, die nichts anders sind als der Siz und die Pflanzstätte des todten Buchstabens, denn der Geist läßt sich weder in Akademien festhalten, noch der Reihe nach in bereitwillige Köpfe ausgießen, er verdampft gewöhnlich auf dem Wege aus dem ersten Munde in das erste Ohr. Würdet Ihr nicht dem, welcher die Verfertiger dieser großen Körper von Philosophie für die Philosophen selbst hielt, und in ihnen den Geist der Wißenschaft finden wollte, belehrend zurufen: nicht also guter Freund!“ (Reden 28) In der zweiten Rede, im Kontext seiner Abgrenzung der Religion von Metaphysik und Moral, macht er darauf aufmerksam, dass die reine Religion nicht in den Heiligen Schriften ausgedrückt werden kann, obwohl diese oft Moral und Metaphysik mit der Religion vermischen (vgl. Reden, 47–49). So heißt es beispielsweise: „Aber das ist es ja eben, was ich Euch gesagt habe, daß die Religion [sc. in den Heiligen Schriften] nie rein erscheint, das alles sind nur die fremden Theile, die ihr anhängen, und es soll ja unser Geschäft sein, sie von diesen zu befreien.“ (Reden 48)

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einen Vergleich zwischen der rednerischen Sprache und der schriftlichen Sprache an: Anders als die schriftliche Sprache, die die Sachen in einer allgemeinen, leichten und schnellen Manier darstellt, drückt die rednerische Sprache diese mit Kraft und Würde aus; und anders als die schriftliche Sprache, durch deren Einförmigkeit und Reflexion zu viel verloren geht, wird „[a]lles“ in der mentalen Ganzheitlichkeit durch den Ausdruck der rednerischen Sprache beibehalten. Aus diesem Vergleich ergibt sich nun sein Ergebnis: „Darum ist es unmöglich Religion anders auszusprechen und mitzutheilen als rednerisch, in aller Anstrengung und Kunst der Sprache“ (ebd.). Als einziges Medium dient ihm die rednerische Sprache zum „Ausdruk des Innersten“ (Reden 183) und zur „Äußerung des eigenen“ (Reden 193), schließlich zum Ausdruck der Religion. Während die schriftliche Sprache in seiner Sprachkritik als allgemein, leicht und nachgiebig bezeichnet wird, ist die rhetorische Sprache dank ihrer Fähigkeit zum Ausdruck des Innersten zur Mitteilung der Religion für Schleiermacher die „Kunst der Sprache“ (Reden 181) und die „erhabene Sprache“ (Reden 183).90 Der Ausdruck „die Kunst der Sprache“ bezeichnet nicht die ästhetische Bedeutung des Kunstbegriffs, sondern er meint die höchste Technik der Sprache – „das höchste was die Sprache erreichen kann“ (Reden 181). In diesem Zusammenhang berücksichtigt unser Autor auch die Funktion der Kunst im ästhetischen Sinne für die Mitteilung der Religion. Die Funktion „aller Künste“ besteht darin, dass sie „der flüchtigen und beweglichen Rede beistehen können“ (ebd.). Bei der Mitteilung der Religion dienen die Künste also als Beihilfe für die rhetorische Sprache.91 Wohl übt Schleiermacher in der vierten Rede scharfe Kritik an der Schriftlichkeit der Sprache für die Religion. Die schriftliche Sprache, die durch die Einförmigkeit und die Reflexion gekennzeichnet ist, ist aus seiner Sicht kein hinreichendes Medium für die Mitteilung der Religion. Aber gleichzeitig wählt er doch die Sprache als Medium für den Ausdruck der Religion. Diese Sprache ist nicht jene schriftliche Sprache, sondern die rhetorische Sprache. Das einzig geeignete Medium für die Kommunikation der Religion ist für unseren Autor in diesem frühromantischen Werk die rhetorische Sprache bzw. die Sprache „in einem größern Styl“. In seiner

90 Zur Mitteilungsfunktion der rhetorischen Sprache in der vierten Rede vgl. Martina Kumlehn: Symbolisierendes Handeln (1999), 123–125. 91 Die Behauptung Thomas Lehnerers, dass Schleiermacher bereits in den Reden „die Mitteilungsfunktion der Kunst für die Religion (vgl. Reden: 11, 49, 168 und 181)“ erörtert (ders: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers [1987], 341), ist nach unserer Beobachtung einseitig. In Bezug auf die Mitteilung der Religion ist in den Reden nur von der rhetorischen Sprache die Rede, die Künste im ästhetischen Sinne gelten als Beihilfe für die Hauptleistung der rhetorischen Sprache. Es kann sein, dass Lehnerer zur Interpretation des Ausdrucks „die Kunst der Sprache“ (Reden 181) Schleiermachers Diskussion über die Unterschiede zwischen der schriftlichen Sprache und der rhetorischen Sprache nicht berücksichtigt hat (mehr dazu vgl. Thomas Lehnerers: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers [1987], 340–341).

146  Kapitel 2 Der individualitätstheoretische Religionsbegriff in den Reden (1799)

Diskussion über die Äußerung der Religion durch die rhetorische Sprache verbirgt sich eine Ausdruckstheorie, die in der vierten seiner Reden nur dargelegt, aber nicht weiter begründet wird. Erst in seiner Philosophischen Ethik hat Schleiermacher dieses Thema vertieft. Allein die Sprache „in einem größern Styl“ reicht für die Mitteilung der Religion noch nicht, „eine andere Art von Gesellschaft, die ihr eigen gewidmet ist, muß daraus entstehen“ (ebd.). Für Schleiermacher ist diese andere Art der Gesellschaft die freie Geselligkeit der Religion, die durch die gegenseitige Wechselwirkung strukturiert ist. Diese gegenseitige Wechselwirkung ist die Reziprozität der Mitteilung der Religion. Damit können wir zu diesem zweiten Bedeutungselement in seinem Begriff der Mitteilung der Religion übergehen. Schleiermachers Grundthese, dass die religiöse Geselligkeit strukturell durch die gegenseitige Wechselwirkung zu charakterisieren ist, steht im Kontext seines Begriffs der Geselligkeit, den er in der kurz zuvor erschienenen Abhandlung Versuch einer Theorie des geselligen Betragens behandelt hat. Wie schon zuvor herausgearbeitet, unterscheidet unser Autor in dieser Schrift die freie Geselligkeit von der gebundenen Gemeinschaft durch drei Merkmale: Während die gebundene Gemeinschaft eine heteronome Verbindung von Menschen ist, gilt die freie Geselligkeit als eine selbstbildende und selbstgesetzgebende. Die gebundene Gemeinschaft entsteht aus dem häuslichen, bürgerlichen oder beruflichen Verhältnis, hingegen ist die freie Geselligkeit durch die Selbstzweckmäßigkeit gekennzeichnet. Anders als die gebundene Gemeinschaft, in der die Verbindung der Mitglieder dank einer leitenden Figur nur einseitig ist, ist die Einwirkung der Menschen in der freien Geselligkeit aufeinander wechselseitig. Diese gegenseitige Wechselwirkung zwischen den Mitgliedern ist für unseren Autor das wesensbestimmende Kennzeichen für die freie Geselligkeit.92 Mit diesem kurzen Rückblick auf Schleiermachers Begriff der Geselligkeit kommen wir zur gegenseitigen Wechselwirkung in der religiösen Geselligkeit in der vierten Rede zurück. Die Grundbedeutung für die Reziprozität der religiösen Mitteilung ist uns bereits begegnet: „So organisirt sich gegenseitige Mittheilung [sc. in der Religion], so ist Reden und Hören Jedem gleich unentbehrlich.“ (Reden 179) Mit dieser Aussage wird darauf hingewiesen: Auf dieselbe Weise, wie die Kirche als Ort für die gegenseitige Mitteilung notwendig entsteht, muss jedes Mitglied zugleich Redner und Hörer sein. Die Reziprozität der religiösen Mitteilung besteht darin, dass jeder in der durch die rhetorische Sprache realisierten intersubjektiven Äußerung der Religion gleichzeitig Redner und Hörer sein muss oder gleichzeitig Priester und Laie.93

92 Vgl. oben: Kapitel 1. 3. Der Begriff der Geselligkeit in dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799). 93 Vgl. Reden, 184: „Jeder ist Priester, indem er die Andern zu sich hinzieht auf das Feld, welches er sich besonders zugeeignet hat, und wo er sich als Virtuosen darstellen kann: jeder ist Laie, indem er der Kunst und Weisung eines Andern dahin folgt, wo er selbst Fremder ist in der Religion“.

2 Der neue Kirchenbegriff 

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Ausgangspunkt seiner Verdeutlichung der Reziprozität der religiösen Mitteilung ist die Annahme, dass es sich bei Religion um ein unendliches Ganzes handelt. Für Schleiermacher muss „die ganze religiöse Welt als ein untheilbares Ganzes erscheinen“ (Reden 187). Das heißt: „Die Religion der Gesellschaft zusammengenommen ist die ganze Religion, die unendliche, die kein Einzelner ganz umfaßen kann, und zu der sich also auch keiner bilden und erheben läßt.“ (Reden 188) Diese Aussage verweist ganz deutlich auf den Sachverhalt, dass kein Mitglied der religiösen Gesellschaft allein die unendliche Religion als eine ganze verstehen oder stiften kann. Mit diesem Sachverhalt ist zugleich der Grundgedanke Schleiermachers verbunden, dass Religion zu verstehen, zu bilden und zu stiften kein privates Geschäft, sondern ein der Kooperation bedürfender sozialer Akt ist. Nur durch die intersubjektive Kooperation und Kommunikation hat der endliche Einzelne einen Zugang zur unendlichen religiösen Welt und damit einen Anteil an diesem unteilbaren Ganzen. Wie gestaltet sich diese auf das Ganze zielende intersubjektive Kooperation und Kommunikation? – Durch gegenseitige Wechselwirkung. Die Wechselwirkung in der Religion illustriert der Autor mit folgender Aussage: „Indem Jeder nur mit dem Nächsten in Berührung steht, aber auch nach allen Seiten und Richtungen einen Nächsten hat, ist er in der That mit dem Ganzen unzertrennlich verknüpft.“ (Reden 187) Wir haben im Vorangehenden dargestellt, dass die Mitteilung des Religiösen in erster Linie durch die rhetorische Sprache ermöglicht werden kann. Damit verbunden ist der Ausdruck „Berührung“ zu verstehen. Für Schleiermacher ist gerade diese Äußerung des Innersten in der heiligen Sprache „die Einwirkung religiöser Menschen aufeinander, […], ihre natürliche und ewige Verbindung“ (Reden 183–184). Diese vermittels der rhetorischen Sprache realisierte Einwirkung religiöser Menschen aufeinander ist die Berührung, die zwischen jedem und seinem Nächsten entsteht. Aus dieser Berührung ergibt sich die „Vereinigung“ (Reden 188) der religiösen Menschen, die das Universum anschauen, aber nur noch „in den Elementen oder im dunkeln Chaos“ (Reden 187). Indem jeder Einzelne in Berührung mit seinem Nächsten und zwar „nach allen Seiten und Richtungen“ steht und sein Nächster ebenfalls in Berührung mit seinem Nächsten steht, wird er mit allen religiösen Menschen verbunden. Das heißt, dass jeder Einzelne durch jene einzelne Vereinigung „ein fließender integrierender Theil des Ganzen“ (ebd.) wird. Auf diese Weise ist jeder Einzelne schließlich „mit dem Ganzen unzertrennlich verknüpft“ (ebd.). Aus diesem Grund sollen alle religiösen Menschen, nämlich alle, die das Universum anschauen, „nur Eins sein“ (ebd.) – ein „himmlische[s] Band“ (Reden 184). Alle müssen nur Eins sein – das bedeutet für unseren Autor nicht nur, dass alle religiösen Menschen sich zu einem Ganzen verbinden, sondern es heißt zugleich auch, dass die Unterschiede aller Menschen kein Hindernis für das Zusammensein sind, weil „[a]lle Unterschiede, die es in der Religion selbst wirklich giebt, eben durch die gesellige Verbindung sanft ineinander fließen“ (Reden 185). Im Hintergrund steht hier der Grundgedanke seines Begriffs der Geselligkeit: Ein Individuum in freier Geselligkeit zu sein, bedeutet nicht, dass seine Individualität wegen des Zu-

148  Kapitel 2 Der individualitätstheoretische Religionsbegriff in den Reden (1799)

sammenseins mit Anderen reduziert wird, sondern vielmehr, dass sich seine Individualität durch die gegenseitige Mitteilung im Zusammensein zentriert und behauptet. Gleichwohl stellt der Autor heraus, dass nicht jeder Mensch in der Lage ist, die religiöse Welt als ein Ganzes wahrzunehmen, sondern nur „die Höchsten und Gebildetsten sehen einen allgemeinen Verein, und eben dadurch daß sie ihn sehen, stiften sie ihn auch“ (Reden 187). Das heißt: Bereits die Betrachtung der religiösen Welt als eines Ganzen, aber auch die Gestaltung dieses Ganzen ist nur den Intelligentesten und Bestgebildeten möglich. Schleiermacher hat hier den inneren Kreis, die Elite einer religiösen Gemeinschaft vor Augen. Geschichtsphilosophisch sind diese „Höchsten und Gebildetsten“ die Stifterpersönlichkeiten einer religiösen Gemeinschaft. In Übereinstimmung mit seiner Abhandlung zum Begriff der Geselligkeit in dem Versuch dient unserem Autor hier ein Vergleich der religiösen Geselligkeit mit der weltlichen Gemeinschaft dazu, die gegenseitige Wechselwirkung in der Religion zu veranschaulichen. Während die weltliche Gemeinschaft, so wie ein „irdisches politisches Band“, „nur ein erzwungenes, vergängliches, interimistisches Werk“ (Reden 184) ist, gilt die religiöse Geselligkeit als frei, als natürlich und als ewig („natürliche und ewige Verbindung“). Die Verbindung der Mitglieder der irdischen Gemeinschaft ist einseitig und „völlig paßiv“ (Reden 193), denn „[a]lle wollen empfangen und nur einer ist da der geben soll“ (ebd.), „ohne an eine Gegenwirkung auf Andere auch nur zu denken“ (Reden 194). Hingegen ist die religiöse Geselligkeit ein freier Verein, strukturell durch die gegenseitige Wechselwirkung – durch die Einwirkung und die Gegenwirkung – gekennzeichnet: Jeder in der religiösen Gemeinschaft ist zugleich Redner und Hörer. Vor dem Hintergrund dieser Konkretisierung der Gestaltung der gegenseitigen Mitteilung in der Religion fasst der Autor ihre Funktion schließlich wie folgt zusammen: „daß in der wahren religiösen Geselligkeit alle Mittheilung gegenseitig ist, das Princip, welches uns zur Äußerung des eigenen antreibt, innig verwandt mit dem, was uns zum Anschließen an das Fremde geneigt macht und so Wirkung und Gegenwirkung aufs unzertrennlichste mit einander verbunden“ (Reden 193). An dieser Zusammenfassung lässt sich die Leistung der gegenseitigen Mitteilung in der idealen religiösen Geselligkeit dreifach zeigen: Erstens hat die gegenseitige Mitteilung die Funktion, die religiösen Menschen zum Ausdruck ihres Innersten anzuregen; zweitens führt sie dazu, eine innere Verwandtschaft des Eigenen mit dem Fremden aufzubauen; schließlich werden Wirkung und Gegenwirkung der religiösen Menschen miteinander durch die gegenseitige Mitteilung aufs Engste verbunden. Diese Reziprozität der religiösen Mitteilung ist das Prinzip der wahren religiösen Geselligkeit und insofern das Prinzip der wahren Kirche bei Schleiermacher. Bis hierher sehen wir, auf welche Weise Schleiermacher zufolge die gegenseitige Mitteilung als Zweck der Kirche realisiert werden soll. Das erste notwendige Element dafür ist der durch die rhetorische Sprache ermöglichte Ausdruck der Religion; das zweite die Reziprozität dieser Mitteilung: Die religiöse Mitteilung ist

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strukturell durch die gegenseitige Wechselwirkung der religiösen Menschen bestimmt. Die Kirche ist für unseren Autor deshalb in erster Linie eine freie Vereinigung religiöser Menschen, eine gesellige Verbindung. Das ist nach der Idee unseres Autors („nach meiner Idee“ [Reden 199]) die wahre Kirche, mithin die ideale Form der Kirche. Bisher ist aber nur von dem inneren Kreis der religiösen Gemeinschaft die Rede gewesen. In diesem inneren Kreis ist die Mitteilung der Religion wechselseitig, so dass jedes Mitglied gleichzeitig Redner und Hörer, Priester und Laie ist. Schleiermacher zufolge besteht der innere Kreis einer religiösen Gemeinschaft aus den „Höchsten und Gebildetsten“ (Reden 187) der religiösen Menschen. In der vierten Rede, im Rahmen seiner Neuinterpretation des Kirchenbegriffs, ist nun vom Verhältnis des inneren Kreises der religiösen Gemeinschaft zu ihrem äußeren Kreis die Rede. Im Kontrast zum inneren Kreis, der sich aus der Notwendigkeit der religiösen Mitteilung bildet, hat die religiöse Gemeinschaft einen äußeren Kreis. Dieser äußere Kreis besteht aus Menschen, die zwar einen Sinn für Religion haben, aber noch nicht zum klaren religiösen Bewusstsein gekommen sind. Wie bereits gezeigt, setzt die Mitteilung in der Religion für Schleiermacher die Gewissheit des eigenen religiösen Gefühls voraus. Aus diesem Grund sind diejenigen aus dem äußeren Kreis nicht in der Lage, das Religiöse auszudrücken und eine religiöse Gemeinschaft zu stiften.94 Während die Verbindung der religiösen Menschen im inneren Kreis der religiösen Gemeinschaft durch die Reziprozität gekennzeichnet ist, ist die Mitteilung der Religion im Verhältnis vom inneren zum äußeren Kreis der religiösen Gemeinschaft unserem Autor zufolge nur einseitig. Die Mitteilung der Religion ist hier durch ein Meister-Jünger-Verhältnis bestimmt. Im Verhältnis vom inneren zum äußeren Kreis der religiösen Gemeinschaft ist es nicht mehr so, dass jedes Mitglied gleichzeitig Redner und Hörer sein muss. Es muss einen Redner für alle geben, „die hören wollen“ (Reden 224). Dieser Redner hat die Aufgabe, „seine eigne Anschauung hinzustellen, als Objekt für die Übrigen, sie hinzuführen in die Gegend der Religion wo er einheimisch ist, und seine heiligen Gefühle ihnen einzuimpfen“ (Reden 182). Das heißt, die Aufgabe des Redners besteht darin, diejenigen, die keine klare Religionsansicht haben, zum religiösen Bewusstsein anzuregen. So wie die Mitteilung der Religion im inneren Kreis der religiösen Gemeinschaft wird die Mitteilung der Religion vom Meister zu den Jüngern ebenfalls durch die rhetorische Sprache ermöglicht: „[E]r spricht das Universum aus, und im heiligen Schweigen folgt die Gemeine seiner begeisterten Rede“ (ebd.).

94 Vgl. dazu Reden, 218–219: „Der eigentliche Hauptbegriff davon ist doch dieser, daß denjenigen die in einem gewissen Grade Sinn für die Religion haben, die aber weil sie in ihnen noch nicht zum Ausbruch und zum Bewußtsein gekommen ist, noch nicht fähig sind der wahren Kirche einverleibt zu werden, absichtlich soviel Religion gezeigt werde, daß dadurch ihre Anlage für dieselbe nothwendig entwikelt werden muß“.

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Damit rückt hier in den Reden die große Bedeutung des Mittlers ins Licht, und zwar sein kommunikationstheoretischer Aspekt. Der Mittler in der wahren Kirche soll das Religiöse mitteilen. Er hat dabei eine kommunikative Funktion. In dieser Hervorhebung der Funktion des Mittlers in der religiösen Gemeinschaft zeigt sich Schleiermachers Unterschied zu Luther und zur altprotestantischen Kirchenlehre. Bei Luther führt die Tilgung der Differenz zwischen Klerus und Laien dazu, dass jeder seinen direkten Zugang zu Gott haben kann, so dass jeder in der Lage ist, die Tätigkeit des Mitteilenden auszuüben. Demgegenüber macht Schleiermacher in dieser früheren Programmschrift ganz deutlich: Nicht jeder kann Priester sein, denn nicht jeder ist in der Lage, Religion mitzuteilen – der „Unterschied zwischen Priestern und Laien“ (Reden 225) muss bestehen.95 Interessant ist hier, dass die Kirche als eine religiöse Gemeinschaft für unseren jungen Autor keine durch Gewalt und Regelungen strukturierte institutionelle Einrichtung ist, trotz des notwendigen Unterschiedes von Priestern und Laien. Der Grund dafür ist: „Meister und Jünger müßen einander in vollkommener Freiheit aufsuchen und wählen dürfen, sonst ist Einer für den Andern verloren; Jeder muß suchen dürfen was ihm frommt, und keiner genöthigt sein mehr zu geben als das, was er hat und versteht.“ (Reden 221–222) Seitens des Meisters ist sein Hervortreten als Redner eine „freie Regung des Geistes“ (Reden 182); Seitens der Jünger ist die Suche nach dem Meister – nach dem Lehrer für die Religion – ebenfalls eine freie Wahl, gemäß ihrem eigenen Bedürfnis. Aus diesem Grund gibt es keine „geschloßene[] Verbindung der Laien und Priester“ (Reden 224), „kein festes Band zwischen Lehrer und Gemeine“ (ebd.). Die Jünger oder die Hörer, die einen Meister „in vollkommener Freiheit“ aufsuchen und wählen und dadurch zusammenkommen, bilden „keinen Körper“ (ebd.), der geschlossen ist, sondern aus ihrem freiwilligen Zusammenkommen bildet sich eine freie Vereinigung – mit Schleiermachers Worten: „eine Versammlung“ (ebd.) oder ein „Verein“ (Reden 187). Der Priester sieht keine Gemeinde vor sich, sondern nur eine Versammlung. Aus diesem Grund kann ein privater Ort auch der Tempel sein.96

95 Mehr zu Schleiermachers Kritik an Luthers Tilgung der Differenz zwischen Klerus und Laien vgl. Reden, 225: „Gemildert wird durch die allgemeine Freiheit der Wahl, der Anerkennung, und des Urtheils der allzuharte und schneidende Unterschied zwischen Priestern und Laien, bis die Beßeren unter diesen dahin kommen wo sie jenes zugleich sind. Auseinander getrieben und zertheilt wird alles was durch die unheiligen Bande der Symbole zusammengehalten ward, wenn es gar keinen Vereinigungspunkt dieser Art mehr giebt, wenn keiner den Suchenden ein System der Religion anbietet, sondern Jeder nur einen Theil, und das ist das einzige Mittel diesen Unfug einmal zu enden. Es ist nur ein schlechter Behelf der frühern Zeit, die Kirche – um auch in diesem schlechtesten aller Sinne das Wort zu brauchen – zu zerschneiden“. 96 Mehr dazu vgl. Reden, 224: „Ein Privatgeschäft ist nach den Grundsäzen der wahren Kirche die Mißion eines Priesters in der Welt; ein Privatzimmer sei auch der Tempel wo seine Rede sich erhebt, um die Religion auszusprechen; eine Versammlung sei vor ihm und keine Gemeine; ein Redner sei er für alle die hören wollen, aber nicht ein Hirt für eine bestimmte Herde.“

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Aus dem gerade Dargestellten darf das Verhältnis zwischen dem inneren und dem äußeren Kreis der religiösen Gemeinschaft, zwischen Priester und Laien, zwischen Redner und Hörer, bei Schleiermacher wie folgt interpretiert werden: Die Kirche ist ein freier religiöser Verein oder eine freie religiöse Versammlung, deren Mitglieder sich durch einen mitteilenden Meister, Lehrer oder Mittler verbinden. Bei der Idee der Versammlung ist die biographische Prägung der Herrnhuter Brüdergemeine auf Schleiermacher spürbar. Aus seiner Sicht hatte das Urchristentum die perfekte Form der Kirche. Anzumerken ist schließlich, dass Schleiermachers neuem Kirchenbegriff in dieser frühromantischen Schrift eine Institutionstheorie fehlt – und das, obwohl er den Unterschied von Priester und Laie für notwendig hält. In der Literatur wird das Fehlen der Institutionstheorie in den Reden von 1799 immer wieder als besonderes Kennzeichen genannt und diskutiert.97 Bisher haben wir die Grundgedanken des neuen Kirchenbegriffs Schleiermachers in der vierten Rede der Reden über die Religion (1799) aufgezeigt. Als Ergebnis lässt sich festhalten: Vor dem Hintergrund der Kirchenkritik seit der Aufklärung und unter Anlehnung an zwei Grundbegriffe der Aufklärung – Geselligkeit und Mitteilung – versteht Schleiermacher die Kirche sozialphilosophisch als freie religiöse Geselligkeit und als freie religiöse Versammlung. Die Kirche entsteht aus dem Bedürfnis nach religiöser Mitteilung und ist ein nicht-institutioneller Ort für die Mitteilung der Religion, die durch die rhetorische Sprache ermöglicht wird. Die Kirche als religiöse Gemeinschaft besteht aus einem inneren und einem äußeren Kreis. Der innere Kreis der religiösen Gemeinschaft kann als religiöse Geselligkeit bezeichnet werden und ist strukturell durch die gegenseitige Wechselwirkung charakterisiert. Die Mitteilung der Religion ist hier wechselseitig: Jeder religiöse Mensch in diesem inneren Kreis muss zugleich Redner und Hörer sein. Die Mitteilung der Religion im äußeren Kreis ist demgegenüber einseitig. Weil die Menschen hier eine noch unklare Religionseinsicht haben und damit Religion nicht mitzuteilen vermögen, bedürfen die Menschen im äußeren Kreis eines Redners, Priesters und Lehrers, der Religion zum Ausdruck bringt. Trotz des notwendigen Unterschiedes von Priester und Laie ist die Kirche als religiöse Gemeinschaft in den Reden keine institutionelle Ein-

97 Einige Forscher sind an dieser Stelle der Meinung, dass es sich hierbei doch um eine institutionelle Kirche handelt. Theodor Jørgensen weist beispielsweise darauf hin, dass sich Schleiermacher in der vierten Rede wohl die Allianz zwischen Staat und Kirche aufgehoben wünscht. Aber das bedeute nicht, „dass Schleiermacher auch die Kirche als Institution, als Anstalt gerne abgeschafft sieht“ (ders.: Schleiermachers Impulse [2011], 234). Es bedeutet vielmehr, dass „die institutionelle Kirche […] also eine Art Schule für die Lehrlinge und Suchenden in der Religion sein“ soll (ebd.). Mehr dazu vgl. a. a. O., 234–235. Aus unserem Dargestellten zeigt sich, dass Schleiermacher mehr von einer freien religiösen Versammlung spricht, die durch die einseitige Mitteilung des Priesters und durch das Hören bestimmt ist. Die Gegenüberstellung von Priester und Laie, von Lehrer und Schüler, spricht hierbei nicht für einen institutionellen Kirchenbegriff.

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richtung, sondern eine freie religiöse Versammlung, die durch ein Meister-JüngerVerhältnis charakterisiert ist. Ebenso wie unser junger Autor Religion in der zweiten Rede als ein Wesenselement des Humanum versteht, gründet auch sein neuer Kirchenbegriff der vierten Rede auf der Anthropologie. Mit diesem sozialphilosophischen Kirchenbegriff wendet sich Schleiermacher gegen den herkömmlichen dogmatischen Kirchenbegriff, der die Kirche einerseits als eine legitimierte institutionelle Großeinrichtung für die Lehre und als Überlieferungsinstanz für Dogmen versteht und sie andererseits auf supranaturale Heilsgaben bezieht. Mit dem Gedanken, dass Religion gleichrangig in der menschlichen Natur steht – also „eine eigene Provinz im Gemüthe“ (Reden 37) ist – und mit dem damit verbundenen Begriff der religiösen Gemeinschaft, interpretiert Schleiermacher die Kirche in der vierten Rede als eine selbsständige Sphäre für die religiöse Kommunikation neu. In diesem Sinne unterscheidet sich seine Kirchentheorie von der Idee einer umfassenden und universalen Vergesellschaftung, die im 18. Jahrhundert von Leibniz erstmals zu philosophischer Geltung gebracht wurde und später von Kant vertreten wird.98 Die Neuinterpretation des Kirchenbegriffs in diesem frühromantischen Werk gilt als eine der wichtigsten Leistungen Schleiermachers für die Religionswissenschaft und die protestantische Theologie. Werkgeschichtlich betrachtet gilt diese Neuinterpretation als erste Fassung seines Kirchenbegriffs, den er später in seiner als Kulturtheorie rezipierten Philosophischen Ethik ausführt. Freilich enthält dieser erste Entwurf auch unterschiedliche Probleme, die die idealistische Tendenz des jungen Autors zeigen. Erstens: Unser Autor hält die Kirche für „einen allgemeinen Verein“ (Reden 187) – wie der Religionsbegriff in der zweiten Rede beruht dieser frühromantische Kirchenbegriff auf der Theorie einer allgemeinen Religionsgeschichte. Zweitens: Für Schleiermacher ist diese Form der Kirche die wahre Kirche, allerdings „allein nach meiner Idee“ (Reden 199). Die freie Geselligkeit ist eine Gemeinschaft der Individualitäten. Die wahre Kirche als freie Geselligkeit setzt voraus, dass jeder Mensch „ein Freigeborner“ (Reden 231) sein muss. Die Verwirklichung der wahren Kirche ist deshalb noch in weiter Ferne – was dem Autor auch selbst bewusst gewesen ist.99 Das dritte und markanteste Signal liegt nun darin, dass diesem Kirchenbegriff – trotz Hervorhebung des Unterschiedes von Priestern und Laien – eine Institutionstheorie fehlt. Alle diese Momente seines neuen Kirchenbegriffs – die Anlehnung an die Universalität, das Bewusstsein eines fernen Zieles und das Fehlen einer Institutionstheorie – beschreiben lediglich eine Utopie der Religion, weswegen der junge Autor oft scharf kritisiert wurde. In seiner Philosophischen Ethik wird Schleiermacher dieses Kirchenverständnis in einen erweiterten kultur-

98 Zum Begriff „Vergesellschaftung“ im 18. Jahrhundert vgl. Klaus Lichtblau: Art. Vergesellschaftung (2001), in: HWPh, Bd. 11, 666. 99 Dazu vgl. Reden, 230–232.

3 Die Individualisierung der geschichtlichen Religionen



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philosophischen Horizont einzeichnen und es damit verdeutlichen und verbessern. Diese Vertiefung kann als Versuch verstanden werden, die oben genannten Probleme der ersten Fassung seines neuen Kirchenbegriffs zu überwinden.100

3 Die Individualisierung der geschichtlichen Religionen In unserer bisherigen Untersuchung zur Religionstheorie in den Reden über die Religion (1799) wurde zunächst aufgezeigt, wie in der zweiten Rede das Wesen der Religion als Anschauung und Gefühl neu bestimmt wird, um die Religion vor der Verwechslung mit Metaphysik und Moral zu retten, und inwiefern Schleiermacher zufolge bei jedem Einzelnen die Suche nach Religion und die Suche nach der eigenen Individualität innig verbunden sein müssen. Auf dieser Basis wurde daraufhin der Grundgedanke des Kirchenbegriffs der vierten Rede thematisiert. Wir haben gesehen, dass Schleiermacher die Kirche sozialphilosophisch als eine religiöse Gemeinschaft begreift, die aus dem Bedürfnis der Menschen nach wechselseitiger religiöser Mitteilung entsteht. Sowohl die neue Wesensbestimmung der Religion als auch der damit verbundene neue Kirchenbegriff betreffen das Religionsverständnis im Allgemeinen. Für unseren Autor existiert die Religion in der Wirklichkeit allerdings nur in den geschichtlichen positiven Religionen. So ruft er seinen Adressaten am Anfang der fünften Rede zu: „[I]n den Religionen sollt Ihr die Religion entdeken“ (Reden 238). Die Reden thematisieren deshalb nicht nur das Wesen der Religion im Allgemeinen, sondern sie suchen die Religion auch in ihren geschichtlichen Erscheinungsformen auf. So widmet sich die fünfte Rede (besonders in der ersten Hälfte)101 der Aufgabe, die Verwirklichung der Religion und das Wesen der individuellen geschichtlichen Religionen aufzuklären. Nachdem wir Schleiermachers Wesensbestimmung der Religion dargestellt haben, wollen wir im Folgenden sehen, wie er das Wesen einer einzelnen Religion versteht. In individualitätstheoretischer Hinsicht steht damit die Mannigfaltigkeit innerhalb der Religion bzw. die Individuation der Religion zur Diskussion.102 Bisher

100 Vgl. unten: Kapitel 4. 3. Der Kirchenbegriff der Philosophischen Ethik. 101 Abgesehen von den Eingangsüberlegungen besteht die fünfte Rede aus zwei Teilen: Die erste Hälfte (vgl. Reden, 238–286) bezieht sich auf die theoretische Begründung der Individualisierung von geschichtlichen Religionen; in der zweiten Hälfte (vgl. Reden, 286–312) werden hauptsächlich die empirischen Religionen anhand des Christentums und des Judentums dargestellt. 102 Dazu vgl. Markus Schröder: Das „unendliche Chaos“ der Religion. Die Pluralität der Religionen in Schleiermachers ‚Reden‘, in: Akten des 1. internationalen Kongresses 1999 (2000), 585–608; Claus-Dieter Osthövener: Die Christologie der „Reden“, in: Nico F. M. Schreurs (Hg.): „Welche unendliche Fülle offenbart sich da …“. Die Wirkungsgeschichte von Schleiermachers „Reden über die Religion“, Assen 2003, 61–78; Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intui-

154  Kapitel 2 Der individualitätstheoretische Religionsbegriff in den Reden (1799)

haben wir nur die erste Bedeutungsdimension der Problematik „Religion und Individualität“ berührt: Religion und die Individuation der Menschen. Mit einer Darstellung der Wesensbestimmung der einzelnen Religionen in der fünften Rede wird unsere Untersuchung zum ersten Mal auf die zweite Bedeutungsdimension dieser Problematik stoßen: die Individuation der Religion. Die Überlegungen der fünften Rede, inwiefern die Religion durch die Individualisierung in den positiven Religionen verwirklicht wird, stehen religionstheoretisch vor dem Hintergrund der Wesensbestimmung der Religion in der zweiten Rede; individualitätstheoretisch beruhen sie auf Schleiermachers Individuationsgedanken, den er – wie gesehen – bereits in seinen frühen Spinoza-Studien entwickelt und in den Monologen vertieft hat. In der folgenden Darstellung ist auf die beiden Aspekte zurückzukommen. Zur Klärung der geschichtlichen Individualisierung der Religion bei Schleiermacher sind die folgenden drei Themen zu bearbeiten: Zunächst geht es um die Notwendigkeit der Individualisierung der Religion und damit um die Legitimität religiöser Verschiedenheit (3.1); zweitens ist der für das Phänomen des religiösen Pluralismus entscheidende Punkt zu erläutern, wie die Individuation der Religion vonstattengeht (3.2); drittens wird das Verhältnis von Religion und Religionen kurz thematisiert (3.3).

3.1 Die Notwendigkeit der Individualisierung der Religion Bereits zu Beginn seiner Thematisierung der geschichtlichen Religionen weist Schleiermacher darauf hin, dass er „überall die Vielheit der Religionen und ihre bestimmteste Verschiedenheit als etwas nothwendiges und unvermeidliches vorausgesezt“ (Reden 238) hat. Dass es zahlreiche und unterschiedliche Erscheinungen der Religion in der Wirklichkeit gibt, sieht er als einen notwendigen Sachverhalt an: Die Religion existiert nur in den Religionen. Aus welchem Grund ist die Existenz der Religion in Form mannigfaltiger Religionen für Schleiermacher unvermeidlich? Dies ergibt sich „aus der Natur der Sache“ (ebd.), will heißen: Es ist „im Wesen der Religion gegründet“ (Reden 240).103 Aus ihrem Wesen folgt, „daß Niemand die Religion

tiva (2006), 392–407; Wilhelm Gräb: Religion „ist nicht anders möglich als in einer unendlichen Menge verschiedener Formen“. Schleiermacher und die Vielfalt der Formen des Religiösen, in: Friedrich Hermanni/Burkhard Nonnenmacher/Friederike Schick (Hg.): Religion und Religionen im Deutschen Idealismus: Schleiermacher – Hegel – Schelling, Tübingen 2015, 65–84; Arnulf von Scheliha: Schleiermacher als Denker von Pluralität, in: Akten des internationalen Kongresses 2017 (2018), 25–44. 103 An einer späteren Stelle betont Schleiermacher erneut diese These: „Warum habe ich angenommen, daß die Religion nicht anders als in einer unendlichen Menge durchaus bestimmter Formen vollständig gegeben werden kann? Nur aus Gründen welche als ich vom Wesen der Religion sprach entwikelt worden sind.“ (Reden 249)

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ganz haben kann; denn der Mensch ist endlich und die Religion ist unendlich“ (ebd.). Um diese Aussage zu verstehen, bedarf es einer näheren Klärung. Unsere Darstellung des neuen Religionsbegriffs in der zweiten Rede hat gezeigt, dass Schleiermacher das Wesen der Religion als Anschauung und Gefühl bestimmt: Anschauung bedeutet hier die Anschauung des unendlichen Universums im Endlichen, Gefühl gilt als Zuständlichkeitsbewusstsein zur Verinnerlichung der eigenen Zustände der Anschauung des Universums. Die einzelnen Elemente der Religion sind damit nichts anderes als Anschauungen und Gefühle. Mittels einer Analogie zu der sinnlichen Anschauung wird uns damit zugleich deutlich gemacht, dass die religiöse Anschauung vermöge ihres sensuellen Gegenstandsbezugs durch die Einzelheit, die Individualität, die Unmittelbarkeit und die Unermesslichkeit zu charakterisieren ist. Jede Anschauung ist selbstständig, so dass es keine durch Ableitung und Abhängigkeit gekennzeichnete Verbindung zwischen einzelnen individuellen Anschauungen gibt. Das Gebiet der religiösen Anschauungen ist deshalb unendlich – Schleiermacher betrachtet es als „unendliche[s] Chaos“ (Reden 60). Nach diesem kurzen Rückblick kehren wir zurück zur Begründung der Notwendigkeit der „Vielheit der Religionen“. Für diese Begründung ist es von grundlegender Bedeutung, dass jede Anschauung individuell und selbstständig ist und dass die religiösen Anschauungen mithin unendlich sind. So führt Schleiermacher in der fünften Rede aus: Weil nehmlich jede Anschauung des Unendlichen völlig für sich besteht, von keiner andern abhängig ist und auch keine andere nothwendig zur Folge hat; weil ihrer unendlich viele sind, und in ihnen selbst gar kein Grund liegt, warum sie so und nicht anders eine auf die andere bezogen werden sollten, und dennoch jede ganz anders erscheint, wenn sie von einem andern Punkt aus gesehen, oder auf eine andere bezogen wird, so kann die ganze Religion unmöglich anders existiren als wenn alle diese verschiedne Ansichten jeder Anschauung die auf solche Art entstehen können wirklich gegeben werden; und dies ist nicht anders möglich als in einer unendlichen Menge verschiedner Formen, deren jede durch das verschiedene Princip der Beziehung in ihr durchaus bestimmt, und in deren Jeder derselbe Gegenstand ganz anders modifizirt ist, das heißt welche sämmtlich wahre Individuen sind. (Reden 249)

Die „vollständig[e]“ (ebd.) Religion ist nur „in einer unendlichen Menge verschiedner Formen“ möglich. Dieser unendlichen Gestaltungsmannigfaltigkeit liegt die Möglichkeit einer Beziehungsvielfalt in den einzelnen Anschauungen an sich zugrunde, insofern das unendliche Universum („Jeder derselbe Gegenstand“) als das Angeschaute unterschiedlich, unmittelbar und unabhängig auf jeden Einzelnen einwirkt. Das bedeutet, dass zwischen den einzelnen Anschauungen des Unendlichen qualitative Unterschiede bestehen.104 Ausgehend davon, dass die Religion unend-

104 Schleiermachers Bestimmung des Verhältnisses von Anschauungen und Gefühlen zueinander findet sich auch in der folgenden Passage: „Zum Wesen der Religion haben wir es gerechnet daß es keinen bestimmten innern Zusammenhang zwischen den verschiedenen Anschauungen und Gefüh-

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lich ist, hebt der Autor an einer späteren Stelle hervor, dass die ganze Religion nur „in der Totalität“ (Reden 260) jener unendlichen Menge verschiedener Formen wirklich angegeben werden kann.105 Dieser Sachverhalt schließt die Möglichkeit aus, dass ein einzelner Mensch (bzw. eine bestimmte Menschengruppe) die Religion vollständig haben kann, auch wenn er alle seine Anschauungen des Unendlichen vor Augen hat. Denn die Menschen sind endlich. Daraus erklärt sich die These, dass die Pluralität der Religionen „etwas notwendiges und unvermeidliches“ (Reden 238) ist. Zur Verdeutlichung dieser Grundthese führt Schleiermacher die Unterscheidung von natürlicher und positiver Religion ein. „Natürliche Religion“ (Reden 272) und „Vernunftreligion“ (Reden 273) sind Schlüsselbegriffe im Religionsdiskurs der Aufklärung. Sie sprechen die Annahme einer „natürlichen“ religiösen Verfasstheit des Menschen aufgrund einer allgemeinen religiösen Anlage aus. Für Schleiermacher ist damit indessen „keine bestimmte Form, keine eigne individuelle Darstellung der Religion“ (Reden 275–276) bezeichnet, sondern nur eine „magre und dünne Religion“ (Reden 275). Denn „[d]ie sogenannte natürliche Religion ist gewöhnlich so abgeschliffen, und hat so philosophische und moralische Manieren, daß sie wenig von dem eigenthümlichen Charakter der Religion durchschimmern läßt, sie weiß so artig zu leben, sich einzuschränken und sich zu fügen, daß sie überall wol gelitten ist“ (Reden 243). Die natürliche Religion ist nur eine abstrakte Position und ein abstraktes Produkt der Philosophie. Wie das Naturrecht, dem ein Bezug zur geschichtlich-positiven Realität fehlt, hat sie „keinen bestimmten Wohnsiz in ihrem Reich“ (Reden 276). Hingegen hat „jede positive Religion gar starke Züge und eine sehr markirte Physiognomie […], so daß sie bei jeder Bewegung welche sie macht und bei jedem Blik, den man auf sie wirft, ohnfehlbar an das erinnert, was sie eigentlich ist“ (Reden 243–244). Nur in den positiven Religionen mit ihrem je eigenen „Antlitz“ existiert Religion. Sie sind die „bestimmten Gestalten“ (Reden 244 und 279) in der Wirklichkeit, in denen „das Eigenthümliche und Unterscheidende der Religion“ (Reden 244) ausgebildet wird. So untermauert die Absage an das Konzept der natürlichen Religion Schleiermachers Behauptung, dass die Pluralität der Religionen in der Wirklichkeit notwendig und unvermeidlich ist.106 Die bisherige Darstellung von Schleiermachers Argumenten für die Notwendigkeit der „Vielheit der Religionen“ lässt sich trefflich mit der folgenden Aussage zusammenfassen: „[D]ie Religion aber ist ihrem Begrif und ihrem Wesen nach auch

len vom Universum giebt, daß Jedes einzelne für sich besteht und durch tausend zufällige Combinationen auf Jedes andre führen kann. Daher ist schon in der Religion jedes einzelnen Menschen, wie sie sich im Lauf seines Lebens bildet, nichts zufälliger als die bestimmte Summe seines religiösen Stoffs.“ (Reden 251–252) 105 Vgl. Reden, 260: „Nur in der Totalität aller nach dieser Construktion möglichen Formen kann die ganze Religion wirklich gegeben werden“. 106 Den Unterschied von natürlicher und positiver Religion hat Schleiermacher auch in seiner Glaubenslehre thematisiert, vgl. dazu CG², § 10. Zusaz, 86–93.

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für den Verstand ein Unendliches und Unermeßliches; sie muß also ein Princip sich zu individualisiren in sich haben weil sie sonst gar nicht dasein und wahrgenommen werden könnte; eine unendliche Menge endlicher und bestimmter Formen in denen sie sich offenbart müßen wir also postuliren und aufsuchen“ (Reden 241). Kurz: Der epistemologische Grund der Vielheit und Individualität der Religionen besteht in dem Wesen der Religion an sich. Mit dieser zusammenfassenden Aussage stellt sich nun die Frage, wie die Individualisierung der Religion genauer zu verstehen ist: „Wodurch werden nun diese Individuen bestimmt und wodurch unterscheiden sie sich von einander?“ (Reden 249–250)

3.2 Die Individualisierung der Religion Wie die zitierte Problemstellung bereits andeutet, nimmt Schleiermacher die Näherbestimmung der Individualisierung der Religion in zwei Schritten vor: Zuerst (a.) geht es um das Individuationsprinzip: Wodurch werden die Religionen als individuell bestimmt? Der zweite Schritt (b.) zielt dann darauf, den Geist oder den Charakter einer positiven Religion aufzufinden und mithin die Frage zu beantworten: Wodurch unterscheiden sich die individuellen Religionen voneinander? a. Schleiermacher setzt mit seiner Klärung an, indem er zwei übliche Missverständnisse hinsichtlich des Individuationsprinzips der Religion ausräumt: zum einen den Fehler, die Individualität der Religion nach einem Subtraktionsmodell zu denken; zum anderen den Irrtum, die Individuation der Religion mit ihrer Klassifikation zu verwechseln. In unserer Untersuchung zum Individualitätskonzept der Monologen haben wir festgestellt, dass Schleiermacher bei der Suche nach der inneren Individuation des Subjekts das spinozistische Mischungsmodell als Prinzip der Individuation entdeckt und es als logische Struktur für die menschliche Individuation geltend gemacht hat. Das besagte Individuationsmodell geht von allgemeinen Elementen der Menschheit aus und nimmt die unterschiedlichen Vereinigungsweisen jener allgemeinen Elemente als entscheidend für die Individuation einzelner Menschen. In Anknüpfung an den von der Spätaufklärung und Frühromantik geprägten Bildungsbegriff versteht Schleiermacher die personale Individualität demnach als je verschiedene Konstellation der allgemeinen Elemente der Menschheit und die Bildung dieser Individualität ist nur in einem intersubjektiven Kommunikationsvorgang möglich. Dabei grenzt er sich von dem damals von Wilhelm von Humboldt vertretenen Subtraktionsmodell ab, wonach durch „Abzug“ gewisser allgemeiner Elemente eine Reihe von exklusiven Elementen aufgefunden werden können, die den individuellen Menschen bestimmen. In Übereinstimmung mit den betreffenden Ausführungen der Monologen geht Schleiermacher in der fünften Rede nun bei der Bestimmung der Individuation der Religion wiederum auf kritische Distanz zum Subtraktionsmodell: „Eine bestimmte

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Form der Religion kann dies nicht deswegen sein, weil sie etwa ein bestimmtes Quantum religiösen Stoffs enthält. – Dies ist eben das gänzliche Mißverständniß über das Wesen der einzelnen Religionen“ (Reden 250). Das Problem dieser Individuationsmethode besteht darin, dass man „das eigentliche Charakteristische und Individuelle einer Religion […] aus dem Einzelnen abstrahirt“ (ebd.), wodurch „die positiven Religionen“ „eine bestimmte Summe von religiösen Anschauungen und Gefühlen fordern und andere ausschließen“ (Reden 250–251).107 Kurz: Das Problem des fraglichen Modells liegt in der Methode des Abstrahierens und Ausschließens. Dass eine bestimmte Religion nicht auf diese Weise zu charakterisieren ist, folgt aus dem Wesen der Religion an sich: „Einzelne Anschauungen und Gefühle sind wie Ihr wißt die Elemente der Religion“ (Reden 251). An dieser Stelle ist noch einmal daran zu erinnern, dass Schleiermacher jede Anschauung und jedes Gefühl charakteristisch als individuell und selbstständig bestimmt hat. In diesem Kontext fügt er erläuternd hinzu: „Wer den Charakter einer besondern Religion in einem bestimmten Quanto von Anschauung und Gefühlen sezt, der muß nothwendig einen innern und objektiven Zusammenhang annehmen, der gerade diese unter einander verbindet und alle anderen ausschließt“ (Reden 253). Den inneren und objektiven Zusammenhang zwischen Anschauungen und Gefühlen herauszufinden, ist unmöglich, weil das dem am konkreten Einzelnen haftenden „Geist der Religion“ (ebd.) ganz entgegengesetzt ist. Der Versuch, ein bestimmtes Quantum religiösen Stoffs zu finden, nimmt also methodisch einen gänzlich falschen Ausgangspunkt. Es ist ausgeschlossen, mit dieser Methode „auf den Charakter eines Individuums der Religion“ (Reden 251), auf die Individualität einer bestimmten Religion, zu kommen. Was sich daraus ergeben kann, ist für Schleiermacher „nicht eine Religion, sondern eine Sekte, der irreligiöseste Begrif“ (Reden 253). Zusammenfassend lässt sich feststellen: Das Subtraktionsmodell der Individuation, eine durch Abstrahieren und Ausschließen gekennzeichnete Methode, widerspricht unserem Autor zufolge dem Wesen der Religion und kommt folglich für die Individuation der Religion nicht infrage.108

107 Dazu vgl. ferner Reden, 251: „[W]enn die positiven Religionen sich nur durch eine solche Ausschließung unterschieden, so wären sie freilich nicht die individuellen Erscheinungen, welche wir suchen“; und Reden, 281: „Noch einmal warne ich Euch, ihn nicht abstrahiren zu wollen aus dem, was Allen, die eine bestimmte Religion bekennen, gemeinschaftlich ist: Ihr verirrt Euch in tausend vergeblichen Nachforschungen auf diesem Wege, und kommt am Ende immer anstatt des Geistes der Religion auf ein bestimmtes Quantum von Stoff“. 108 An anderen Stellen zeigt Schleiermacher seine Abneigung gegenüber dieser Methode für die Individuation der Religion, indem er sie zum Beispiel als einen „Irrtum“ (Reden 251) sowie als ein „falsche[s] Princip“ (Reden 255) bezeichnet. Zu Schleiermachers Kritik am Subtraktionsmodell in diesem Zusammenhang vgl. ferner Markus Schröder: Das „unendliche Chaos“ der Religion (2000), 599.

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Wie bei der Bestimmung menschlicher Individualität ergibt sich die Individualität der Religion für Schleiermacher nicht aus der Subtraktion, sondern aus der Kombination. Dieser Grundgedanke begegnete uns bereits in der obigen Diskussion über die Notwendigkeit der „Vielheit der Religionen“: „[D]ies [sc. das Existieren der Religion] ist nicht anders möglich als in einer unendlichen Menge verschiedner Formen, deren jede durch das verschiedene Princip der Beziehung in ihr durchaus bestimmt“ (Reden 249). Bevor wir auf dieses Individuationsprinzip – „das verschiedene Princip der Beziehung“ – näher eingehen, wollen wir noch in Betracht ziehen, wie Schleiermacher sich mit dem zweiten Fehler bei der Bestimmung der Individualität der Religion auseinandersetzt. Diesen zweiten Fehler erkennt er in der Verwechslung der Individuation der Religion mit ihrer Klassifikation („Unterabtheilungen“ [Reden 255]; „Eintheilung“ [Reden 256]). Eine Einteilung von Religionen in bestimmte Religionsklassen ist für Schleiermacher nicht etwa per se verfehlt. Sie erreicht aber nicht die individuelle Bestimmtheit von religiösen Erscheinungen. Die Klassifikation erfasst Arten der Religion, aber nicht deren individuelle Gestalten. Um die Individuation von der Klassifikation der Religion abzugrenzen, macht Schleiermacher deutlich, worum es sich bei den durch die klassifikatorische Einteilung bestimmten Religionsarten handelt. Bereits in der zweiten Rede wurden im Anschluss an die Wesensbestimmung der Religion die Götzenverehrung, der Polytheismus und der Monotheismus als Resultate unterschiedlicher Vorstellungen des Universums vorgestellt.109 Im Rückblick auf diese Diskussion stellt die fünfte Rede fest: „Jene drei so oft angeführten Arten das Universum anzuschauen als Chaos, als System und in seiner elementarischen Vielheit, sind weit davon entfernt eben so viel einzelne und bestimmte Religionen zu sein.“ (Reden 255)110 Die auf die zentralen Vorstellungen des Universums rekurrierende Differenzierung erfasst noch nicht die Individuation der Religion. Durch sie kommt man „nie auf Individuen, sondern immer nur auf weniger allgemeine Begriffe, die unter jenen enthalten sind, auf Arten und Unterabtheilungen, die wieder eine Menge sehr verschiedener Individuen unter sich begreifen können“ (Reden 255–256).111 Die Unterscheidung von „Arten und Un-

109 Dazu vgl. Reden, 126–130. 110 Dazu vgl. Reden, 259: „Also weder der Naturalismus […] noch der Pantheismus, weder die Vielgötterei noch der Deismus, sind einzelne und bestimmte Religionen, wie wir sie suchen, sondern nur Arten, in deren Gebiet gar viele eigentliche Individuen sich schon entwikelt haben, und noch mehrere sich entwikeln werden“. Dieser durch die Vorstellungsarten des Universums bestimmten Einteilung kommt später in den Prolegomena der Glaubenslehre eine wichtige Funktion zu; vgl. CG², § 7, 60–64. 111 Vgl. Reden, 256: „Jene drei Verschiedenheiten in der Religion sind aber in der Tat nichts anders als eine gewöhnliche und überall wiederkommende Einteilung des Begriffs der Anschauung. Sie sind also Arten der Religion, aber nicht bestimmte Formen“.

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terabteilungen“ von Religion liegt differenzierungslogisch also immer noch auf der Ebene des Allgemeinen. Das Besondere individueller Ausprägungen von Religion ist jedoch „unterhalb“ dieser Ebene angesiedelt. Um es zu erfassen, bedarf es zusätzlicher Differenzkriterien, welche die Stufe der Allgemeinheit hinter sich lassen: „[U]m aber den Charakter der Einzelwesen selbst zu finden muß man aus dem allgemeinen Begrif und seinen Merkmalen herausgehn“ (Reden 256). Ebenso wie die Individuation der Menschen verlässt die Individuation der Religion das Allgemeine. Um das individuell Besondere der Religion zu bestimmen, genügt mithin nicht die Berufung auf die allgemeine Art der Anschauung des Universums, sondern es bedarf des Rekurses auf „eine eigne Beziehung und Lage der verschiedenen Anschauungen gegen einander“ (ebd.). Charakteristisch für die individuelle Religionsgestalt ist nicht der Typus der Anschauung des Universums, sondern die individuelle Kombination verschiedener religiöser Einzelanschauungen. Es ist deutlich geworden, dass es sich bei der Klassifikation und bei der Individuation der Religion nach Schleiermacher um zwei zu unterscheidende Probleme im religionsphilosophischen Diskurs handelt, die nicht nur unterschiedliche Aufgaben, sondern auch unterschiedliche Ausgangspunkte haben. Jenes Problem sucht nach den unterschiedlichen Typen von Vorstellungen religiöser Anschauung, die eigentlich keimartig in allen Religionen vorkommen, um demgemäß die Religion nach Arten einzuteilen. Das Problem der Individuation der Religion handelt demgegenüber von der charakteristischen Bestimmtheit der religiösen Einzelanschauungen und ihrer Verknüpfung in einer einzelnen Religion.112 Schleiermacher lehnt es ab, die Individualität der Religion durch das Subtraktionsmodell oder durch die Klassifikationsmethode zu bestimmen. Vielmehr zielt er auf „das verschiedene Princip der Beziehung“ (Reden 249) der religiösen Einzelanschauungen. Das heißt: Die Individualität der Religion ergibt sich aus der eigentümlichen Konstellation von einzelnen Elementen der Religion, nämlich von Anschauungen und Gefühlen. Wie aber sind die individuellen Religionen nach Maßgabe dieses Konstellationsmodells näher zu bestimmen? Schleiermachers Schlüsselgedanke zu dieser Frage lautet wie folgt: „[E]in Individuum der Religion, wie wir es suchen, kann nicht anders zustande gebracht werden, als dadurch, daß irgendeine einzelne Anschauung des Universums aus freier Willkühr – denn anders kann es nicht geschehen weil eine jede gleiche Ansprüche darauf hätte – zum Centralpunkt der ganzen Religion gemacht, und Alles darin auf sie bezogen wird“ (Reden 259–260). Eine individuelle Religion realisiert sich demzufolge, indem eine religiöse Grundanschauung als Mittelpunkt etabliert wird, von dem her alle anderen Elemente derselben Religion ein eigentümliches Gepräge er-

112 Zur Abgrenzung der Individuation von der Klassifikation der Religion vgl. ferner Markus Schröder: Das „unendliche Chaos“ der Religion (2000), 599–600.

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halten. Schleiermacher bezeichnet diesen Vorgang als „Formation“ (Reden 260) oder „Gestaltung der Religion“ (ebd.). Inwiefern eine bestimmte Religion durch eine Grundanschauung und die Beziehung aller anderen Elemente auf sie gestaltet wird, konkretisiert unser Autor mit der folgenden Passage: Dadurch kommt auf einmal ein bestimmter Geist und ein gemeinschaftlicher Charakter in das Ganze; Alles wird fixirt was vorher vieldeutig und unbestimmt war; von den unendlich vielen verschiednen Ansichten und Beziehungen einzelner Elemente, welche Alle möglich waren, und Alle dargestellt werden sollten, wird durch jede solche Formation Eine durchaus realisirt; alle einzelnen Elemente erscheinen nun von einer gleichnamigen Seite, von der, welche jenem Mittelpunkt zugekehrt ist, und alle Gefühle erhalten eben dadurch einen gemeinschaftlichen Ton und werden lebendiger und eingreifender in einander. (Reden 260)

Mindestens drei Aspekte sind an dieser Beschreibung hervorzuheben. Erstens formiert sich der individuelle Charakter einer Religion zugleich als „gemeinschaftlicher Charakter“ aller Elemente dieser Religion. Während bisher vom Geist oder vom Wesen der Religion die Rede war, spricht Schleiermacher nun von einem bestimmten „Geist“ der Religion, der den eigentümlichen Charakter der Religion kennzeichnet. Alle religiösen Elemente als ein Ganzes haben nun eine bestimmte „Farbe“: Sie tragen das individuelle Gepräge einer bestimmten Religion. Das bedeutet aber zweitens: Während alle Anschauungen und Gefühle als Elemente der Religion ursprünglich einzeln, unermesslich, selbstständig und unendlich sind, werden sie nun durch ihre Beziehung auf die Grundanschauung „fixiert“ und dadurch zu einem Ganzen verknüpft, eben zum Ganzen der individuellen Religion. Drittens konstituiert sich jede Einzelanschauung in dieser so formierten Religion dadurch, dass sie auf die im Mittelpunkt stehende Grundanschauung bezogen wird. Alle Anschauungen haben nun infolgedessen eine „gleichnamige Seite“; alle Gefühle in dieser Religion, die als Verinnerlichungsreflexe der unterschiedlichen Anschauungen des Universums an sich sehr unterschiedlich sind, haben dank des Bezogenseins der Anschauungen auf die Grundanschauung nun eine Grundstimmung – „einen gemeinschaftlichen Ton“. Für Schleiermacher ist jede derartige Gestaltung der Religion nur eine von unendlich vielen möglichen Verwirklichungen der Religion in der Realität. In diesem Zusammenhang weist er erneut darauf hin, weshalb es die Religion nur in Gestalt von positiven Religionen geben kann. „Nur in der Totalität aller nach dieser Construction möglichen Formen kann die ganze Religion wirklich gegeben werden, und sie wird also nur in einer unendlichen Succeßion kommender und wieder vergehender Gestalten dargestellt, und nur was in einer von diesen Formen liegt trägt zu ihrer vollendeten Darstellung etwas bei.“ (ebd.) Die Religion lebt nur in einer ununterbrochenen Abfolge unendlicher Gestaltungen, in der Abfolge einzelner geschichtlicher Religionen. Jede dieser individuellen Gestaltungen gilt dabei nicht nur als eine besondere Darstellung der Religion, sondern sie leistet einen Beitrag zur Voll-

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endung der Religion. Das heißt aber auch: Im Gegensatz zur „ewige[n] und unendliche[n] Religion“ (Reden 247) sieht Schleiermacher die individuellen Religionen als endlich und vergänglich an. „Jede solche Gestaltung der Religion, wo in Beziehung auf eine Centralanschauung Alles gesehen und gefühlt wird, wo und wie sie sich auch bilde, und welches immer diese vorgezogene Anschauung sei, ist eine eigene positive Religion“ (Reden 260) – so fasst Schleiermacher seinen Grundgedanken zur Individualisierung der Religion zusammen. Eine individuelle positive Religion ist dadurch bestimmt, dass alle religiösen Elemente, alle Anschauungen und Gefühle, durch ihre Beziehung auf eine Zentralanschauung bestimmt werden. Insofern der Bildung der eigenen Zentralanschauung für die Individuation der Religion kardinale Bedeutung zukommt, hat Schleiermachers Individuationstheorie im Übrigen auch eine bildungstheoretische Pointe.113 Die Einnahme einer bestimmten religiösen Position, nämlich die Entwicklung einer bestimmten Religiosität, stellt sich – im Verhältnis zur Religion als einer ganzen betrachtet – bei jedem Individuum als ein subjektives Wählen dar. Das bedeutet: Individuelle Religion ist „in Beziehung auf das Ganze eine Häresis“ (ebd.). Dieses Wählen ist subjektiv, weil die Ursache für die Entstehung einer positiven Religion „etwas höchst willkührliches“ (Reden 261) ist. Denn es gibt unendlich viele solcher Gestaltungen der Religion. In diesem Zusammenhang ist auch vom religiösen Stifter und von der religiösen Gemeinschaft die Rede. Ausgehend von den skizzierten Gedanken über das Hervorbringen einer positiven Religion ist der religiöse Stifter für Schleiermacher derjenige, der „zuerst jene Anschauung im Mittelpunkt der Religion sah“ (ebd.); in dem Verhältnis aller „Theilhaber“ (ebd.) zum Stifter bildet sich „eine eigne Schule und Jüngerschaft“ (ebd.) heraus. Daraus ergibt sich, dass die Beziehung aller religiösen Elemente auf eine Zentralanschauung Schleiermacher zufolge nicht nur eine positive Religion generell bestimmt, sondern insbesondere die jeweilige religiöse Gemeinschaft charakterisiert.114 Bis hierher haben wir dargestellt, wie Schleiermacher seine Leser durch die Ablehnung des individualitätstheoretischen Subtraktionsmodells und durch die Abgrenzung der Individuation von der Klassifikation der Religion auf die These führt, dass die Individuation der Religion als individuelle Konstellation der allgemeinen Elemente von Religion zu konzipieren ist. Eine derartige individuelle Konstellation formiert sich wiederum, indem irgendeine religiöse Anschauung in den Mittelpunkt

113 Zur bildungstheoretischen Bedeutung des Individuationsverständnisses Schleiermachers in diesem Zusammenhang vgl. Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva (2006), 396. 114 Mehr dazu vgl. ferner Markus Schröder: Das „unendliche Chaos“ der Religion (2000), 601–602; Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva (2006), 400–402.

3 Die Individualisierung der geschichtlichen Religionen

 163

rückt, um den sich alle anderen Elemente gruppieren. Jede positive Religion hat damit eine eigene Zentralanschauung. b. Ist aber jede positive Religion durch eine bestimmte Zentralanschauung charakterisiert, dann muss sich die Individualität einer positiven Religion wesentlich dadurch bestimmen lassen, dass jene ihr eigene Zentralanschauung angegeben wird. Mit Schleiermachers Lösung des Individuationsproblems ist also auch eine hermeneutische Einsicht betreffs der Wesensbestimmung einer positiven Religion verknüpft. Trotz aller vorangegangenen Klärungen stuft der Autor der Reden die Wesensbestimmung einer positiven Religion „immer noch“ als „ein schwieriges Geschäft“ (Reden 281) ein. Es geht um die religionsphilosophische Aufgabe, „den Geist der Religionen zu entdeken und sie durchaus zu verstehen“ (ebd.). Aber dieses Verstehen ist alles andere als leicht, weil es bedeutet, den in allen Einzelzuständen regierenden Geist einer positiven Religion festzustellen. Gilt indes die jeweilige Zentralanschauung als individuelles Merkmal einer positiven Religion, dann muss die Auffindung dieses Geistes eben darin bestehen, jenes Zentralelement einer Religion in allen ihren geschichtlichen Momenten zu identifizieren, es aus ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen „herauszupräparieren“. Die Annahme einer religiösen Zentralanschauung setzt Schleiermacher mit einer frömmigkeitsbiographischen Beobachtung in Beziehung. „Religiöse Menschen sind durchaus historisch“ (282) – so stellt er fest. Das heißt, es ist bei ihnen mit markanten lebensgeschichtlichen Einschnitten zu rechnen: „Der Moment in welchem sie selbst von der Anschauung erfüllt worden sind, welche sich zum Mittelpunkt ihrer Religion gemacht hat, ist ihnen immer heilig; er erscheint ihnen als eine unmittelbare Einwirkung der Gottheit, und sie reden nie von dem was ihnen eigenthümlich ist in der Religion, und von der Gestalt die sie in ihnen gewonnen hat, ohne auf ihn hinzuweisen.“ (Reden 282–283) Dieser biographische Augenblick ist für jeden religiösen Menschen von entscheidender Bedeutung, so dass man von konkreter Religion nicht sprechen kann, ohne auf ihn zurückzuweisen. Noch „heiliger“ (Reden 283) erscheint den Menschen indessen jener Moment, in dem „diese unendliche Anschauung überhaupt zuerst in der Welt als Fundament und Mittelpunkt einer eignen Religion aufgestellt worden ist, da an diesen die ganze Entwikelung dieser Religion in allen Generationen und Individuen sich eben so historisch anknüpft“ (ebd.). Gemeint ist nun jener weltgeschichtliche Augenblick, wo eine bestimmte Anschauung sich einem „Hero[s] der Religion“ (Reden 284) erstmalig als religiöse Zentralanschauung erschließt, so dass er mit dieser Neuschöpfung zum Religionsstifter wird. Denn in jedem Augenblick wird die ganze Entwicklung dieser neu gestifteten Religion „durchaus historisch“ verankert. Betrachten die Menschen die eigene Endlichkeit und die geringe Bedeutung des eigenen religiösen Erlebens, so ist ihnen klar, dass „doch dieses Ganze der Religion und die religiöse Bildung einer großen Maße der Menschheit etwas unendlich größeres ist, als ihr eignes religiöses Leben und das kleine Fragment dieser Religion,

164  Kapitel 2 Der individualitätstheoretische Religionsbegriff in den Reden (1799)

welches sie persönlich darstellen“ (Reden 283). Dies ist der Grund für eine „natürliche“ (ebd.) Tendenz, diesen historischen Moment zu verherrlichen: Die Frommen „reden nie von ihrer Religion, stellen nie eins von ihren Elementen auf, ohne es in Verbindung mit diesem Faktum zu sezen und so darzustellen“ (ebd.). Für Schleiermacher birgt die besagte Tendenz nun aber die Versuchung, bei der Auffindung des Geistes einer bestimmten Religion einen großen Fehler zu begehen. Denn es „ist nichts natürlicher als dieses Faktum mit der Grundanschauung der Religion selbst zu verwechseln“ (ebd.). Demgegenüber schärft Schleiermacher ein, das historische Faktum der Religionsstiftung nicht mit der Grundanschauung dieser Religion selbst zu identifizieren und damit das individuelle Wesen derselben Religion zu bestimmen. Die historische Stiftung und das eigentümliche Wesen einer Religion fallen nicht zusammen. Als Ergebnis lässt sich festhalten: Wohl hat die Religion jedes einzelnen Menschen eine Gründungsgeschichte, insofern dieselben in einem Moment ihrer Biographie erstmals von deren religiöser Zentralanschauung ergriffen wurden. Wohl sind alle positiven Religionen in einem gewissen historischen Gründungsgeschehen verankert, insofern der jeweilige Religionsstifter in einem geschichtlichen Moment jene Anschauung erstmals in den Mittelpunkt seiner Religion gestellt hat. Allerdings darf dies Schleiermacher zufolge nicht dazu verleiten, das Gründungsfaktum mit der Zentralanschauung in eins zu setzen. Diese Ineinssetzung liegt freilich allzu nahe, daher ist der Sachverhalt der Geschichtlichkeit positiver Religion für ihn „auch die Quelle großer Mißverständniße“ (Reden 282). Anstelle solcher Ineinssetzung ermahnt Schleiermacher zur Differenzierung zwischen dem geschichtlichen Ursprung und dem Wesen positiver Religion: „Nicht das ursprüngliche Faktum als solches, sondern seine Vernetzung und Sinnintegration in das geistige Leben als Ganzes qualifiziert dieses als religiöse Zentralanschauung“, so hat Markus Schröder treffend formuliert.115 Ist der Geist einer individuellen Religion unabhängig von allen historischen Zusammenhängen zu identifizieren, so kann die Grundanschauung einer Religion durchaus auch in anderen Religionen als eines von vielen Elementen gefunden werden: „Vergeßt also nie, daß die Grundanschauung einer Religion nichts sein kann, als irgendeine Anschauung des Unendlichen im Endlichen, irgendein allgemeines Element der Religion; welches in allen andern aber auch vorkommen darf, und wenn sie vollständig sein sollten, vorkommen müßte, nur daß es in ihnen nicht in den Mittelpunkt gestellt ist.“ (Reden 283–284) Der Unterschied zwischen den indivi-

115 Markus Schröder: Das „unendliche Chaos“ der Religion (2000), 601. Davon ausgehend stellt Markus Schröder fest: „Das Wesen einer geschichtlichen Religion muß nach Schleiermacher dabei ausschließlich aus der religiösen Grundanschauung selbst begriffen werden, unabhängig von allen historischen Zusammenhängen.“ (a. a. O., 602) Dementsprechend erkennt er das hermeneutische Kriterium zum Auffinden einer religiösen Grundanschauung in der „Ablösung von allen historischen Bezügen“ (ebd.).

3 Die Individualisierung der geschichtlichen Religionen



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duellen Religionen besteht allein darin, welchem der „allgemeine[n] Element[e] der Religion“ jeweils die Zentralfunktion zukommt, woraus sich die charakteristische Konstellation dieser Elemente ergibt. Allein diese Zentral- oder Grundanschauung, die nicht aus den historischen Zusammenhängen abgeleitet werden kann, darf als individuelles Kennzeichen der einzelnen Religion gelten.

3.3 Das Verhältnis von Religion und Religionen Die bisherige Darstellung von Schleiermachers Begründung der Notwendigkeit für „die Vielheit der Religionen“ und seiner Interpretation der Individualität positiver Religion hat Folgendes ergeben: Die Individualität der Religion gründet im Wesen der Religion. Von daher gilt die Wesensbestimmung der Religion in der zweiten Rede als theoretische Basis für seine Diskussion über den religiösen Pluralismus. Vor dem Hintergrund des zuletzt Dargestellten wird nun das Verhältnis von Religion und Religionen summarisch in den Blick genommen. Damit wollen wir eine Schlussbetrachtung zu Schleiermachers Thematisierung der religiösen Individuation geben. Religion existiert nur in Gestalt von positiven Religionen, sie sind die historischen Erscheinungen der Religion in der Wirklichkeit; eine „natürliche Religion“ gibt es nicht. Das ist der Grundgedanke der fünften Rede. Was das Verhältnis von Religion und positiven Religionen betrifft, fallen in Schleiermachers Interpretation der Individualität der Religion zumindest zwei theoretische Aspekte ins Auge. Zunächst weist der Begriff „Darstellung“ auf eine metaphysische Struktur in der Individuation der Religion hin. Indem die positiven Religionen als Darstellungen der unendlichen Religion im Endlichen begriffen werden, erhalten sie den metaphysischen Status einer Modifikation des Unendlichen im Endlichen. Diese von Spinoza inspirierte metaphysische Struktur der Individuation ist uns nicht fremd. Bereits in Schleiermachers Interpretation humaner Individuation, die ihren Niederschlag in den Monologen findet, wird das menschliche Individuum als eine Darstellung der Menschheit verstanden und damit hat jeder Einzelne einen Anteil an der als Ganzheit und Totalität gefassten Menschheit. Dieser Gedanke kehrt nun in der fünften Rede wieder, übertragen auf das Verhältnis von Religion und Religionen. Für Schleiermacher kommt Religion, verstanden als eine unendliche Totalität, nur in den positiven Religionen vor. Indem jede solche individuelle Gestaltung als eine Darstellung der Religion gilt, hat sie Anteil am Ganzen. Offensichtlich schließt seine Interpretation der Individualität der Religion also an jene metaphysische Struktur der Individuation an.116 Insgesamt darf gesagt werden, dass es bei Schleiermacher

116 Dazu vgl. Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva (2006), 402– 405. Ellsiepen hat in seiner Studie darauf hingewiesen, dass der Darstellungsbegriff in der fünften

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eine strukturelle Nähe zwischen dem Verhältnis von Religion und Religionen, zwischen dem Verhältnis von Individuum und Menschheit und zwischen dem Verhältnis von Menschheit und Universum gibt. Noch ein zweiter Punkt ist hervorzuheben. So hat die fragliche Verhältnisbestimmung auch eine geschichtsphilosophische Bedeutung, insofern Schleiermacher die Darstellung der Religion in den positiven Religionen zugleich als Offenbarung versteht. Wie schon gesehen sind die positiven Religionen für ihn „eine unendliche Menge endlicher und bestimmter Formen in denen sie sich offenbart“ (Reden 241). Das Verhältnis von Religion und Religionen rangiert in der fünften Rede als ein Verhältnis der Offenbarung. Dabei ist der Begriff der Offenbarung in einem geschichtsphilosophischen Sinne verwendet.117 Die Religion als ganz, unendlich, ungeteilt und ewig offenbart sich in den endlichen, vergänglichen und abgesonderten positiven Religionen. Ohne die geschichtliche Positivität gibt es Religion nicht. Dieser geschichtsphilosophische Aspekt im Verhältnis von Religion und Religionen wird in der Glaubenslehre (1830/31) durch das Begriffspaar „positiv“ und „geoffenbart“ verdeutlicht werden.118 Diesbezüglich ist noch zu notieren, dass für Schleiermacher die Offenbarung der Religion in den Religionen ein geschichtlich offener Prozess ist. Denn die Religion ist unendlich, die Offenbarung der Religion in der geschichtlichen Positivität erfolgt deshalb „in einer unendlichen Succeßion kommender und wieder vergehender Gestalten“ (Reden 260). Ist das Verhältnis von Religion und Religionen durch die Termini „Darstellung“ und „Offenbarung“ zu charakterisieren, so muss der Sachverhalt der Individualisierung der Religion bei Schleiermacher nicht nur als ein individualitätstheoretisches, sondern zugleich als ein metaphysisches und ein geschichtsphilosophisches Problem verstanden werden.

Rede in einer doppelten Beziehung verwendet wird: „Religion als Anlage stellt sich in den Individuen dar (Reden 248). Das Subjekt des Darstellens, die unendliche Religion, wird hier gleichsam die immanente Ursache aller individuellen Modifikationen von Religion. Und zugleich wird die ganze Religion durch die individuellen Formen dargestellt (Reden 260 f). Religion als Objekt des Darstellens ist zugleich der Bezugsrahmen, innerhalb dessen die Bestimmung der Religion zur individuellen Religion allein möglich ist.“ (a. a. O., 405) 117 Zur geschichtsphilosophischen Verwendung des Offenbarungsbegriffs in den Reden vgl. Ulrich Barth: Die Religionstheorie der ›Reden‹ (1998/2004), 275–276. Für Barth ist diese Neubestimmung des Offenbarungsbegriffs in der Philosophischen Ethik bereits in den Reden zu sehen. Barth weist darauf hin: „Offenbarung darf nicht – wie in der gesamten mittelalterlichen und altprotestantischen Tradition – als überhaupt übernatürliche Erkenntnisquelle aufgefaßt werden. An die Stelle dieses doktrinalen Offenbarungsbegriffs setzt Schleiermacher vielmehr mit Fichte – und zuvor schon Herder – ein geschichtsphilosophisches Verständnis.“ (ebd.) Zum Begriff der Offenbarung in Schleiermachers Philosophischer Ethik vgl. unten: Kapitel 4. 1.3.3 Das Gefühl im Verhältnis der Offenbarung. 118 CG², §10. Zusaz, 89. Dazu vgl. Markus Schröder: Das Wesen des Christentums (1996), 179.

Zwischenertrag Schleiermachers frühromantisches Individualitätskonzept ist an das im 18. Jahrhundert seit Johann Joachim Spalding als Mittelpunkt fast aller philosophischen Abhandlungen anzutreffende Motiv der „Bestimmung des Menschen“ rückgebunden. Mit der anthropologischen Fragestellung beschäftigt sich Schleiermacher spätestens seit dem Jahr 1792. Die gedankliche Spur dieser ersten anthropologischen Überlegungen zeigt sich bereits in der Jugendschrift Über den Wert des Lebens (1792/93). In der Folgezeit werden diese Überlegungen durch seine Auseinandersetzung mit den natur- und geistmetaphysischen Theoretikern der Frühromantik entwickelt. Aus diesem Ansatz ergibt sich zunächst ein anthropologisches Geistverständnis, das Schleiermacher in der ersten Rede seiner religionstheoretischen Schrift Reden über die Religion (1799) vorlegt. Dieses steht zwar in einem engen Verhältnis zu seinem neuen Religionsbegriff, kann aber auch unabhängig von ihm verstanden werden. Schleiermachers strukturelle Beschreibung des Geistes in der ersten Rede erfolgt unter Anlehnung an die zeitgenössische Naturphilosophie und ein dort vorausgesetztes Gesetz. Dieses Gesetz hat förmlich den Rang einer Universaltheorie und sieht die Gesamtsphäre des Daseins als von zwei entgegengesetzten Kräften bestimmt: Attraktion und Repulsion. Schleiermacher überträgt das naturphilosophische, allgemeine Gesetz auf die menschliche Geistessphäre und interpretiert es so auch als anthropologisches Grundmodell: Jedes konkrete Individuum ist durch die beiden Elementarfunktionen des Geistes strukturiert. Die Vereinigung der beiden entgegengesetzten Kräfte – Attraktion und Repulsion – liegt den möglichen Zuordnungsvariationen aller Menschen zugrunde. Auf der Basis der in der ersten Rede fortgeführten anthropologischen Überlegungen legt Schleiermacher dann mit der kurz darauf erschienenen Schrift Monologen ein neues Individualitätskonzept vor. In diesem philosophischen Werk spitzen sich seine anthropologischen Überlegungen zu der Frage zu, wie das individuelle Subjekt überhaupt möglich ist, oder wie wir vom allgemeinen Subjekt zum individuellen Subjekt kommen können. Für den jungen Schleiermacher ermöglicht die bisherige Subjektivitätstheorie nur einen allgemeinen Subjektbegriff, der jedoch die Bestimmung des Menschen nicht gewährleisten kann, die im individuellen Subjektsein besteht. Seine Diskussion über die menschliche Individualität ist einerseits als eine Fortführung der Subjektivitätsproblematik seit der Neuzeit und andererseits als eine Weiterentwicklung des in der abendländischen Metaphysik verwurzelten Individuationsproblems zu verstehen. Mit einer Kritik an Kant, bei dem die Individualität nur als eine rein äußere Individuation durch das Zeit-Raum-Koordinatensystem bestimmt werde, sucht Schleiermacher in den Monologen nach einem inneren Kriterium für die Individuation des Subjekts. Er entdeckt zunächst das spinozistische Mischungsmodell, womit er bereits seit seinen frühen Spinoza-Studien vertraut war, als logisches Strukturprinzip menschlicher Individuation. Diesem Individuationsprinzip zufolge ist Individualität https://doi.org/10.1515/9783110664393-005

168  Zwischenertrag

in erster Linie als Konstellation der allgemeinen Elemente der Menschheit zu fassen. Sodann beschreibt Schleiermacher die Gestaltung der Individualität in einem weiteren Schritt als Selbstbildung in einem intersubjektiven Prozess und entdeckt die innere, freie Anschauung der Menschheit in mir als die Binnenstruktur der menschlichen Individuation. Die Individualität ist die individuelle Darstellung der Menschheit in mir. Es ist in dieser Diskussion von grundlegender Bedeutung, dass die Genese der Individualität bzw. das Werden des eigenen Menschseins kein isolierter und einsamer Akt ist, sondern nur in einem intersubjektiven Kommunikationsprozess geschehen kann. Die Mitteilung dient als Ort der Gestaltung der Individualität. Die Individualität ist immer ein Resultat der unendlichen kommunikativen Selbstbildung. In dieser Hinsicht kann gesagt werden, dass Schleiermachers Individualitätstheorie zugleich eine Intersubjektivitätstheorie ist. Die intersubjektive Dimension seiner Individualitätstheorie hat darüber hinaus eine soziale Dimension: Jedes Individuum leistet durch die Darstellung seiner Individualität einen Beitrag zur Weltbildung und zum Hervorbringen der unendlichen Menschheit. Die Individualität ist für Schleiermacher nicht nur die individuelle Lebensgestaltung und die konkrete Ausgestaltung der Identität, sondern auch eine soziale Lebenspraxis. Die Selbstverwirklichung jedes Einzelnen, nämlich die Bildung zur eigenen Individualität, in der sich jeweils das Menschsein verwirklicht, ist ihm zufolge im Verlauf des Lebens zu keinem Zeitpunkt vollendet und somit eine lebenslange Aufforderung. Es ist die große Leistung Schleiermachers in den Monologen, vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Entdeckung der Subjektivität das individuelle Subjekt konzeptionalisiert zu haben. Durch den Entwurf eines neuen Individualitätskonzepts legt Schleiermacher einen starken Akzent auf die Bedeutung jedes Einzelnen als eigentümliches Dasein des Menschen. Aber die Akzentuierung der Individualität bedeutet deshalb nicht, dass die Bedeutung der Gemeinschaft und des intersubjektiven Austauschs dabei gänzlich vernachlässigt wird. Zu Schleiermachers Individualitätsgedanken in seinen frühromantischen Werken gehört deshalb auch eine sozialphilosophische Dimension. Diese Dimension kristallisiert sich in dem Begriff der Geselligkeit, den er noch vor der Veröffentlichung der Reden und der Monologen in der kurzen Abhandlung Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799) entwickelt. Für Schleiermacher ist die Geselligkeit eine Gemeinschaft der sich bildenden Individualitäten. Als ein freier Umgang der Menschen in der geistigen Innenwelt ist sie – im Gegenüber zu den gebundenen Gemeinschaften – durch die Selbstzwecklichkeit und durch die interpersonale Wechselwirkung charakterisiert. Zwischen den Reden und den Monologen liegt nicht mehr als ein Jahr, beide Schriften sind nicht nur hinsichtlich ihres frühromantischen Schreibstils verwandt, sondern auch inhaltlich eng verbunden. Der Anlass für das religionstheoretische Modernisierungsprogramm Schleiermachers ist in der zeitgenössischen Situation vorzufinden. Aus seiner Sicht lässt sich die Krise – der „Untergang der Religion“ – am Ausgang des 18. Jahrhunderts nicht nur durch die religionsphilosophischen De-

Zwischenertrag 

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batten (Kants Metaphysikkritik, Fichtes Atheismusstreit und Spinozas Pantheismusdebatte), sondern auch durch die gesellschaftlich-kulturelle Lage klären. Ein adäquates Verständnis der Religion sieht er durch unterschiedliche Missverständnisse und Vorurteile verstellt. Daher entwirft er vor diesem Hintergrund in der zweiten seiner Reden eine neue Fassung des Religionsverständnisses, die in erster Linie auf die Ausdifferenzierung von Religion gegenüber anderen Vermögen im menschlichen Geistesleben oder gegenüber anderen Gebieten der Kultur – Metaphysik und Moral – zielt. Bereits für Immanuel Kant (Logik von 1800) gehört die Religionsphilosophie zum Kanon der Anthropologie. Nachdem Johann Joachim Spalding mit seiner Religionsschrift Religion, eine Angelegenheit des Menschen (1797) „das Muster einer anthropologischen Begründung von Religion“1 geliefert hat, macht Johann Gottfried Herder in seinem Werk Von Religion, Lehrmeinung und Gebräuchen (1798) gleichfalls deutlich, dass Religion etwas ist, was im Wesen des Menschen gründet. Es ist deshalb kein Zufall, dass Schleiermacher in seiner religionstheoretischen Programmschrift nicht nur nach einer anthropologischen Begründung von Religion sucht, sondern weiterführend und durchaus kritisch darum bemüht ist, für die Religion einen selbstständigen Platz im menschlichen Geistesleben zu rechtfertigen. So wie Kant, Spalding und Herder versteht Schleiermacher Religion auch als ein Wesenselement des Humanum – Religion ist eine humane Allgemeinheit. Bei Schleiermacher bedeutet diese humane Allgemeinheit: Jeder Mensch hat eine angeborene religiöse Anlage oder einen angeborenen Sinn für Religion. Das ist die erste allgemeine subjektive Basis für die Anschauung des Universums. Diese Anlage zur Religion entwickelt sich im Verlauf des Lebens. Die Anschauung fungiert dabei als Leitbegriff in dieser Neuinterpretation des Religionsbegriffs. Aber auch dem Begriff des Gefühls kommt dabei eine unentbehrliche Rolle zu. Mit der nach außen gerichteten Anschauung des Universums verbindet sich unmittelbar das nach innen gerichtete Gefühl. Das Gefühl dient als Zuständigkeitsbewusstsein zur Verinnerlichung der eigenen Zustände in der Anschauung des Universums. Durch die notwendige Verbindung mit dem Gefühl, nämlich durch das Innewerden der Anschauung des Universums im Gefühl, wird das höchste Schema der Religion vollendet. Demnach hat Religion bei Schleiermacher nicht nur eine Intentionalitätsdimension, sondern ist zugleich als Selbstverhältnis bestimmt. Mit dieser anthropologischen Bestimmung von Religion führt Schleiermacher nun auch den in den Monologen entwickelten Ansatz weiter. Die Antwort auf die Frage, wie man sein eigenes Menschsein gestalten bzw. das individuelle Subjekt verwirklichen kann, wird nun mit seiner neuen Bestimmung der Religion angereichert. Der entscheidende Anschlusspunkt dafür ist, dass das Endliche in der Darstellung des Universums in den Reden als individuell verstanden werden soll – das

1 Ulrich Barth: Religion in der europäischen Aufklärung (2013/2014), 94.

170  Zwischenertrag

Endliche ist die Darstellung des Universums als Individualität. Für Schleiermacher setzt die religiöse Anschauung eine angeborene Anlage – Sinn für Religion oder Sinn fürs Universum – als eine hermeneutische Fähigkeit des Subjekts voraus. Mit dieser hermeneutischen Fähigkeit versteht man in der religiösen Anschauung das Endliche als mannigfaltige Darstellungen des Unendlichen und des Universums. Die religiöse Anschauung ist deshalb eine Hermeneutik der Endlichkeit. Versteht man das Endliche in der Darstellung des Universums zugleich als individuell, so ist die religiöse Anschauung bei Schleiermacher ebenfalls eine Tiefenhermeneutik der Individualität. In dieser Tiefenhermeneutik wird die Idee der Individualität in der religiösen Anschauung als Manifestation der absoluten und unendlichen Totalität im Endlichen impliziert. Aus diesem Grund ist die Individualität nur im Unendlichen und im Ganzen oder genauer genommen in der Endlich-Unendlich-Korrelation und in der Teil-Ganzes-Struktur zu verstehen. Religion und Individualität gehören bei Schleiermacher also aufs Engste zusammen. Entsprechend fordern sich die Bildung zur Individualität und die Bildung zur Religion einander. Das innere Wachsen eines Einzelnen vollendet sich in der Bildung zur Religion. Alle Bildungen zur Religion sind zugleich Selbstbildung. Ebenso wie Religion bei Schleiermacher eine Bedeutung für die Individualität hat, so hat die Individualität ihm zufolge auch eine religiöse Bedeutung. Ebenso wie das eigene Menschsein durch die Selbstbildung zu verwirklichen eine Aufforderung des Lebens ist, so bedeutet auch religiös zu sein bzw. das Universum anschauen zu können für Schleiermacher Aufgabe eines jeden Einzelnen. Auf diese Weise verbindet sich die philosophische Schrift Monologen innig mit der religionstheoretischen Schrift der Reden über die Religion, obwohl der junge Autor in der erstgenannten Schrift scheinbar mit keiner Silbe auf die Religion eingeht. Dieser tiefen Verquickung von Religion und Individualität liegt bei Schleiermacher nicht allein deren gemeinsame anthropologische Wurzel zugrunde: Ebenso wie die Individualität zur anthropologischen Fragestellung gehört, gründet das Wesen der Religion auch in der Anthropologie. Die engste Zusammengehörigkeit von Religion und Individualität ist zugleich durch die gemeinsame Interpretationsstruktur Schleiermachers für beide Konzepte zu erklären – durch den Begriff der Darstellung: Individualität als Darstellung der Menschheit im Einzelnen und Religion als Darstellung des Unendlichen im Endlichen. Die Selbstanschauung und die religiöse Anschauung (die Anschauung des Universums) sind bei Schleiermacher deshalb „Wechselbegriffe“.2 Beide Begriffe unterscheiden sich allein in der divergierenden Perspektive: Der eine bezieht sich auf sein Individualitätskonzepts in den Monologen, der andere betrifft sein Religionsverständnis in den Reden.

2 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Gedanken III (1798–1801), Nr. 34: „Selbstanschauung und Anschauung des Universums sind Wechselbegriffe; darum ist jede Reflexion unendlich.“ (KGA I/2, 127)

Zwischenertrag 

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Ebenso wie sein neues Individualitätskonzept der Monologen beinhaltet Schleiermachers neues Religionsverständnis der Reden auch eine sozialphilosophische Dimension. Diese Dimension verkörpert sich insbesondere in seinem neuen Kirchenbegriff. Im Rahmen seines neuen Religionsverständnisses und in engem Zusammenhang mit seinem Begriff der Geselligkeit entwirft Schleiermacher in der vierten Rede einen sozialphilosophischen Kirchenbegriff. Er versteht die Kirche als eine freie religiöse Gemeinschaft, die sich aus der Notwendigkeit der Mitteilung in der Religion entwickelt. Der Austausch in der Religion wird durch die rhetorische Sprache realisiert. Wie die freie Geselligkeit ist die Kirche – die freie religiöse Geselligkeit – strukturell durch die gegenseitige Wechselwirkung charakterisiert. Die wahre Kirche dient also als Ort für die intersubjektive Kommunikation der religiösen Menschen und ist unentbehrlich für die Bildung des religiösen Gefühls. Im Religionsverständnis der Reden kommt die Individualitätsproblematik freilich noch auf einer zweiten Ebene ins Spiel: Die Individuation der Religion im Kontext der historischen Pluralität der Religionen in der fünften Rede. Für Schleiermacher existiert Religion nur in Gestalt von positiven Religionen. Das Individuationsprinzip, das er in seinen frühen Spinoza-Studien entdeckt und in den Monologen weiterentwickelt und verdeutlicht hat, dient auch als gedankliche Voraussetzung für seine Diskussion über die Individualisierung von Religion. Die religiöse Pluralität gründet in dem Wesen der Religion als Anschauung. Weil nun aber jede Anschauung individuell und selbstständig ist, resultiert daraus notwendig eine unendliche Pluralität religiöser Anschauungen. Auch die Individualität der Religion ist nach Schleiermacher wiederum durch verschiedene Konstellationen religiöser Anschauungen zu klären. Das Wesen einer bestimmten historischen Religion besteht also darin, welche religiöse Anschauung im Mittelpunkt dieser Religion steht. Diese im Mittelpunkt stehende Anschauung ist die Grundanschauung einer Religion und alle anderen Elemente der Religion werden von dieser Grundanschauung gesehen. Daraus ergeben sich unterschiedliche Gestaltungen von Religion.

 Teil II: Die kulturtheoretische Neuentwicklung des Religions- und Individualitätsbegriffs in der Philosophischen Ethik

Einleitung In der Forschung ist allgemein anerkannt, dass Schleiermachers Philosophische Ethik als Kulturtheorie oder Kulturphilosophie verstanden werden kann. Begriffsgeschichtlich und forschungsgeschichtlich stellt sich dann die entscheidende Frage, wie Schleiermachers Philosophische Ethik des Näheren als moderne Kulturtheorie gelesen werden kann. Die systematische Absicht der vorliegenden Abhandlung, die Weiterentwicklung des Wechselverhältnisses von Religion und Individualität in der Philosophischen Ethik Schleiermachers zu untersuchen, findet ihre Durchführung zunächst in einer Vorstellung des Grundkonzepts seiner Philosophischen Ethik sowie ihres kulturtheoretischen Aspekts. Bevor wir auf Schleiermachers Philosophische Ethik eingehen, wollen wir vorerst kurz beleuchten, in welchem Sinne der Kulturbegriff hier verwendet wird. Um die Bedeutung des modernen Kulturbegriffs zu klären, ist eine kurze begriffsgeschichtliche Analyse notwendig.1 Wortgeschichtlich ist Kultur auf das lateinische Wort ‚cultura‘ zurückzuführen,2 welches zunächst den ursprünglichsten Bereich menschlicher Sorge-um-etwas, vor allem den Ackerbau, bezeichnet und zumeist in Genitivkonstruktionen vorkommt. Bereits in der Antike verbindet sich dank Cicero der Kulturbegriff mit dem Begriff humanitas.3 Die ‚humanitas‘ begründet „rechtliche Gemeinschaft, fordert und bedeutet menschenwürdiges Verhalten und formschönes Reden“.4 Zum humanen Verhalten gehören auch Bildung und Erziehung. In der frühchristlichen, altkirchlichen und mittelalterlichen Zeit hat das Wort ‚cultura‘ zwei Bedeutungen – einmal im landwirtschaftlichen Sinne die Bedeutung von Ackerbau und im christlich-religiösen Kontext die Bedeutung von Verehrung.5 Im Zeitalter des Humanismus erlebt der Kulturbegriff eine Cicero-Renaissance, bspw. als „Bezeichnung der Körper- und der Seelenpflege oder -gepflegtheit“.6 Wie in der

1 Zum Kulturbegriff vgl. Wilhelm Perpeet: Art. Kultur, Kulturphilosophie (1976), in: HWPh, Bd. 4, 1309–1324; Emanuel Hirsch: Der Kulturbegriff, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (1925/III), 398–400; Joseph Niedermann: Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, Florenz 1941; Bernhard Kopp: Beiträge zur Kulturphilosophie der deutschen Klassik. Eine Untersuchung im Zusammenhang mit dem Bedeutungswandel des Wortes Kultur, Meisenheim am Glan 1974, 2–4. 2 Vgl. Wilhelm Perpeet: Art. Kultur, Kulturphilosophie (1976), 1309. 3 Vgl. Joseph Niedermann: Kultur (1942), 29–31. 4 A. a. O., 30. Niedermann ist der Meinung, dass der Begriff humanitas „in der Antike und in den humanistischen Jahrhunderten zum Teil den Begriff der Kultur“ vertritt (vgl. a. a. O., 29). 5 Vgl. Wilhelm Perpeet: Art. Kultur, Kulturphilosophie (1976), 1309; Bernhard Kopp: Beiträge zur Kulturphilosophie der deutschen Klassik (1974), 2–3. 6 Joseph Niedermann: Kultur (1942), 62. Zu den wichtigen Autoren in dieser Phase gehören Erasmus von Rotterdam (1466–1536) und Thomas Morus (1478–1535). Mehr dazu vgl. Wilhelm Perpeet: Art. Kultur, Kulturphilosophie (1976), 1309; Joseph Niedermann: Kultur (1942), 60–102. https://doi.org/10.1515/9783110664393-006

176  Einleitung

Antike erfordert das Wort ‚cultura‘ im Zeitalter des Humanismus den Genitiv: ‚cultura‘ ist immer Kultur von etwas. Der moderne Kulturbegriff wird demgegenüber im absoluten Sinne gebraucht und erfordert mithin keinen Genitiv mehr. Dazu Joseph Niedermanns präzise Definition (1941): „‚Kultur‘ bedeutet alles, was der Mensch an der Natur und über die Natur hinaus für sich und die Gemeinschaft schafft und geschaffen hat, und ist damit der umfassendste Begriff der Geschichte, soweit sie menschliches Tun in sich begreift.“7 Der moderne Kulturbegriff setzt die Gegenüberstellung von Menschen und Natur voraus. Kultur umfasst eine von Menschen in ihrem sozialen Leben geschaffene und gestaltete Welt. Die Wandlung von der antiken über die humanistische zur modernen Bedeutung des Kulturbegriffs erfolgt in der Aufklärung. Die begriffliche Neuprägung des Ausdrucks ‚cultura‘ im absoluten Sinne ist dem Naturrechtslehrer Samuel von Pufendorf (1732–1794) zu verdanken,8 auch wenn er noch keine elaborierte Kulturtheorie entfaltet hat. Er setzt dem status naturalis den status cultura entgegen9 und betrachtet ‚cultura‘ – wie Niedermann sagt – als „Zustand einer Kollektivität“ und als „den zivilisatorischen Zustand“.10 Nach Pufendorf haben auch andere große Philosophen und Denker der Aufklärung im 18. Jahrhundert ihren Beitrag zum Kulturbegriff geleistet. Als Begründer der Kulturtheorie gilt bekanntlich Johann Gottfried Herder.11 Er bestimmt den Kulturbegriff in der Dimension der Historizität. Diese besteht darin, dass jede Kultur eine Epoche hat und jede Epoche einer Kultur gleichwertig ist. Für Herder ist der Mensch von Natur aus ein Kulturwesen; kein Mensch überlebt ohne Kultur und ohne eine kultivierte Gestaltung der Natur. Aus diesem Grund wird Herders Kulturtheorie in der Forschung oft als „Kulturanthropologie“ bezeichnet.12

7 Joseph Niedermann: Kultur (1942), Vorwort, VII. 8 Zu Pufendorfs Prägung von ‚cultura‘ zum modernen Kulturbegriff vgl. Niedermann: Kultur (1942), 150–170; Emanuel Hirsch: Der Kulturbegriff (1925). In diesem kurzen Aufsatz bezeichnet Hirsch Pufendorf als „Gestalter unseres modernen Kulturbegriffs“ (ders.: Der Kulturbegriff [1925], 400). 9 Samuel von Pufendorf: Eris Scandica und andere polemische Schriften über das Naturrecht (1686), hg. von Fiammetta Palladini, in: Samuel Pufendorf Gesammelte Werke, hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Bd. 5, Berlin 2002. 10 Joseph Niedermann: Kultur (1942), 152. Niedermann fasst den Inhalt des Pufendorfschen Kulturbegriffs in drei Elementen zusammen: 1. menschliche Erfindungen und Einrichtungen; 2. das Resultat der Tätigkeit der Menschen; 3. die Pflege und Hilfe, die der naturhaft bedürftige und schwache Mensch von den Mitmenschen erfährt. Vgl. a. a. O., 159. 11 Vgl. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784). 12 Zu Herders Kulturtheorie vgl. Joseph Niedermann: Kultur (1942), 213–218; Irmgard Taylor: Kultur, Aufklärung, Bildung, Humanität und verwandte Begriffe bei Herder, Gießen 1938; Bernhard Kopp: Beiträge zur Kulturphilosophie der deutschen Klassik (1974), 19–26; Ulrich Barth: Kreativität und Kreatürlichkeit. Vernunfttheoretische Motive in Herders Kulturtheorie, in: ders.: Gott als Projekt der Vernunft (2005), 173–192. Barth betrachtet das Aufkommen der Kulturtheorie im 18. Jahrhundert als „Ausdruck der europäischen Krisenerfahrung wie Dokument ihrer konstruktiven Überwindung“ (a. a. O., 173).

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Wenden wir uns nun nach dieser kurzen Darstellung über die Genese des modernen Kulturbegriffs Schleiermachers Kulturtheorie zu, die er in seiner Philosophischen Ethik, genauer genommen in seiner ersten systematischen Darstellung der Philosophischen Ethik namens Brouillon zur Ethik (1805/06), vorlegt.13 Diese ist als Handlungstheorie, als „wissenschaftliche Darstellung des menschlichen Handelns“ (Brouillon 86) konzipiert. Für den Autor steht Ethik als „die ganze Eine Seite der Philosophie“ (ebd.) der anderen Seite der Philosophie bzw. Physik gegenüber. Die Ethik, die Schleiermacher auch als „eigentlich[e] Sittenlehre“ (ebd.) bezeichnet, steht nach der grundlegenden Unterscheidung der Philosophie für die praktische, die Physik für die theoretische Philosophie. Beide Disziplinen stehen „in einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit“ (ebd.).14 In seiner späten Ethikvorlesung werden Physik und Ethik jeweils als „speculative[r] Ausdruck des endlichen Seins unter der Potenz der Natur“ und als „speculative[r] Ausdruck des endlichen Seins unter der Potenz der Vernunft“ präzisiert,15 oder jeweils als „das Erkennen des Wesens der Natur“ und „das Erkennen des Wesens der Vernunft“.16 Für Schleiermacher ist die Ethik „wissenschaftliche Darstellung des menschlichen Handelns“. Sie kann also zunächst als Handlungstheorie bestimmt werden. Sodann versteht er darunter die Lehre von der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt. In beiden Hinsichten handelt es sich also nicht um eine normative Ethik. Beide Aspekte zusammenfassend kann die Ethik Schleiermachers als deskriptive historische Darstellung des menschlichen Handelns bezeichnet werden. Darauf hat der Autor bereits zu Beginn der Einleitung des Brouillon zur Ethik (1805/06) deutlich hingewiesen. Ethik ist eine deskriptive „Beschreibung der Geseze des menschlichen

13 Friedrich Schleiermacher: Brouillon zur Ethik (1805/06), in: WA II, 75–239. Im zweiten Hauptteil der vorliegenden Studie zu Schleiermachers Philosophischer Ethik zitiert nach der Paginierung in der Ausgabe von Otto Braun: Friedrich Schleiermacher: Entwürfe zu seinem System der Sittenlehre / nach den Handschriften Schleiermachers neu herausgegeben und eingeleitet von Otto Braun, WA II, (Leipzig 1913), 2. Neudruck der 2. Auflage Leipzig 1927 (Nachdruck Aalen 1981). Zur Datierung und zur Abkürzung der Vorlesungsmanuskripte in der Ausgabe von Otto-Braun für die vorliegende Studie vgl. Siglenverzeichnis. 14 Mehr zum inneren Zusammenhang von Ethik und Physik, Brouillon 86–87: „Beide Seiten stehen in einem Verhältniß gegenseitiger Abhängigkeit vermittelst der gleichen Nothwendigkeit der Gesinnung und der Wissenschaftlichkeit; können sich also auch nur gemeinschaftlich und parallel der Vollkommenheit nähern.“ 15 Vgl. PhE 1816, 496–497. Entsprechend sind Naturkunde und Geschichtskunde „der empirische“ Ausdruck, mehr dazu vgl. ebd. 16 Vgl. PhE 1816/17, 535, §59; 536, §60. Als erster in der Forschung gliedert Hermann Süskind Schleiermachers wissenschaftliches System als zwei reale Wissenschaften unter einer höchsten oder Fundamentalwissenschaft: Physik (Naturphilosophie) und Ethik (Geistesphilosophie) unter Dialektik. Vgl. ders.: Der Einfluss Schellings (1909), 96–98. Mehr dazu vgl. Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre (1964), 33–36; Theodor Jørgensen: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis des späteren Schleiermacher, Tübingen 1977, 7.

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Handelns“ (Brouillon 80).17 Denn „[d]ie eigentliche Form für die Ethik also ist die schlichte Erzählung: das Aufzeigen jener Geseze […] in der Geschichte“ (ebd.). „Der Stil der Ethik ist der historische“ (Brouillon 87) und die Ethik ist eine „Wissenschaft der Geschichte“ (ebd.).18 Fasst man das Bisherige zusammen, so lässt sich feststellen: Für Schleiermacher ist Ethik weder Normenreflexion noch Begründung von Normen, sondern eine gesellschaftlich-geschichtliche deskriptive Darstellung des menschlichen Handelns. Das Prinzip der Philosophischen Ethik bestimmt Schleiermacher bereits in der Einleitung des Brouillon zur Ethik als „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“ (ebd.). Dieses Prinzip steht unter der Voraussetzung, dass „die Vernunft als Seele eingetreten ist“ (Brouillon 84), oder wie er an einer anderen Stelle noch deutlicher sagt: „Die Vernunft soll Seele sein“ (Brouillon 85). Um dieses Prinzip richtig zu verstehen, muss zunächst geklärt werden, wie der Autor die Funktion der Vernunft versteht. Schleiermacher unterscheidet zwei eng verbundene Funktionen der Vernunft: „sich die menschliche Natur aneignend und sich nun als Seele mit dem Ganzen in Wechselwirkung erhaltend“ (ebd.). In einem ersten Schritt geht es der Vernunft also darum, die organischen Vermögen des Menschen – die menschliche Natur – zu erfassen; in einem zweiten Schritt hat die Vernunft die Aufgabe, eine Beziehung der menschlichen Natur auf das Ganze in Wechselwirkung aufzubauen. In diesem Schritt tritt die Vernunft als Seele auf. Durch diese Unterscheidung macht er deutlich, dass die Vernunft nicht identisch mit der Seele ist: Die Vernunft ist nur in ihrer höheren Funktion Seele. Die Beseelung der menschlichen Natur ist das Geschäft der Vernunft – „das Erheben dieses organischen Vermögens zur Potenz der Idee“ (Brouillon 103). Aus dem gerade Dargestellten ist zu ersehen, dass hier von der zweiten bzw. der höheren Funktion der Vernunft die Rede ist. Demnach bedeutet das Ethische für Schleiermacher, dass die organische menschliche Natur durch das Vermögen der Vernunft auf die Ideen bezogen wird.19 Das ist der Grundgedanke der Philosophischen Ethik Schleiermachers, auf den wir noch zurückkommen werden. Hierbei ist vorerst hervorzuheben, dass Ethik bei Schleiermacher nicht identisch mit Moral ist. Wenn er also in den Reden (1799) Religion ausdrücklich von Moral und Metaphysik abgrenzt, bedeutet dies nicht eo ipso, dass Religion von Ethik abgegrenzt werden soll. Wäh-

17 In seiner späteren Ethikvorlesung hat Schleiermacher ähnliche Interpretationen gegeben. In der Vorlesung von 1812/13 bestimmt er die Ethik als „Darstellung des Zusammenseins der Vernunft mit der Natur“ (PhE 1812/13, 251, §50). Nach seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre von 1816/17 besteht die Aufgabe der Ethik darin, „das wirkliche Handeln der Vernunft auf die Natur“ zu „beschreiben“ (PhE 1816/17, 545, §95). 18 Dazu vgl. auch PhE 1812/13, 251, §50: „Die Ethik als Darstellung des Zusammenseins der Vernunft mit der Natur ist die Wissenschaft der Geschichte.“ 19 PhE 1812/13, 248, §28. Lemma 10: „Die Ethik ist also Darstellung des endlichen Seins unter der Potenz der Vernunft“.

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rend Ethik für Schleiermacher eine deskriptive historische Darstellung der Gesamtheit menschlichen Handelns darstellt, ist Moral ein System der Pflichten, das „aus der Natur des Menschen und seines Verhältnißes gegen das Universum“ (Reden 43) entwickelt wird. Schließlich gilt es, neben der handlungs-, geschichts- und vernunfttheoretischen Theorieebene noch darauf hinzuweisen, dass Schleiermacher seine Ethik in die antike Tradition der Güterlehre einzeichnet. Platon hatte den Begriff des Guten als höchste Orientierung menschlichen Handelns eingeführt. Alles Wollen und Denken orientiert sich am Guten. Dieses Gute ist für Platon eine Idee. Aristoteles verlagert dann die Idee des Guten in die Sphäre des menschlichen Handelns. Demzufolge zielt alles menschliche Handeln auf ein Gutes. Darauf wird noch näher einzugehen sein. Fassen wir alle vier Bestimmungsmomente der Ethik Schleiermachers zusammen: Ihr geht es als geschichtliche Handlungstheorie um die Beschreibung menschlichen Handelns als Realisierung des Guten und als Erhebung der menschlichen Natur durch das Vermögen der Vernunft auf die Ebene der Idee. In der Rezeptionsgeschichte ist Wilhelm Dilthey der erste gewesen, der Schleiermachers Philosophische Ethik als eine Theorie der Kultur rekonstruiert hat. In seinen Studien zu Schleiermacher kommt der Philosophischen Ethik eine besondere Bedeutung zu. Er wurde nicht nur bereits 1864 mit einer Arbeit zu ihr promoviert,20 sondern hat sie in seiner Darstellung des Systems Schleiermachers auch durch „[d] ie sehr ausführlichen, zum Teil breit geratenen Darstellungen der philosophischen Ethik“21 gewürdigt. Für Dilthey repräsentiert Schleiermachers Philosophische Ethik nicht nur eine neue Sozialethik, denn die Aufgabe der Güterlehre ist „eine kritische Betrachtung der sozialen und geschichtlichen Erscheinungen“22 und zugleich „eine Theorie der menschlichen Kultur und ihrer Geschichte“.23 Dilthey sieht es als „Schleiermachers unvergängliches Verdienst [sc. an], daß er den inneren Zusammenhang fand, in welchem diese Ideale, die auch den einzelnen Lebensgebieten sich ausgebildet hatten, zu einer Sittenlehre verknüpft werden konnten“.24 Dilthey hebt zwei Punkte hervor: Zunächst erblickt er das Wesentliche der Idee Schleiermachers in seiner Philosophischen Ethik darin, „daß in dem Zweckzusammenhang der Kultur das höchste Gute enthalten sei, und daß aus ihm alle Regeln des sittlichen Verhaltens und alle Tugenden folgen“.25 Sodann geht es ihm in der Güterlehre Schleiermachers um die Beschreibung der „Lebensgebiete der Kultur in scharfen Li-

20 Wilhelm Dilthey: De principiis ethices Schleirmacheri. Phil. Diss. Berlin 1864. 21 Martin Redeker: Einleitung des Herausgebers, in: Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 2)(1966), XXV–LXXIV, XXXIII. 22 Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 2)(1966), 278. 23 A. a. O., 368. 24 A. a. O., 25. 25 Ebd.

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nien“.26 Die vier Handlungstätigkeiten der Vernunft auf die Natur in der Güterlehre sind für Dilthey die „großen Funktionen des Kulturlebens“ und die „großen Formen der Kultur“.27 Die Leistung Schleiermachers besteht also darin, die beiden Seiten – die Sittenlehre und die Kulturtheorie – vor dem Hintergrund der sozialen Entwicklung des 18. Jahrhunderts in seiner Ethikkonzeption zu kombinieren. Die Sittenlehre fungiert als Grundlage seiner Beschreibung der Lebensgebiete der Kultur; die konkreten Lebensgebiete der Kultur dienen als Orte der Realisierung des höchsten Gutes. Aus dieser inneren Verknüpfung ergibt sich, dass in jeder Handlungstätigkeit der Vernunft die Sittlichkeit enthalten ist. Daraus folgt, dass jeder Mensch durch seine sittliche Handlung in einer der Formen der Kultur die Möglichkeit hat, das höchste Gute zu verwirklichen und damit einen Bezug auf das höchste Gute zu gewinnen. In dieser Interpretation ist deutlich, dass es sich für Dilthey bei Schleiermachers Philosophischer Ethik um eine Theorie der Kultur handelt.28 Leider ist Diltheys Darstellung des Systems Schleiermachers erst im Jahr 1966 posthum veröffentlicht worden. Jedoch hat seine Interpretation der Philosophischen Ethik durch seine Schüler und Zuhörer an der Berliner Universität eine breite Wirkung auf die Entwicklung der Kulturphilosophie um die Jahrhundertwende entfalten können.29 Schleiermachers Philosophische Ethik als Kulturphilosophie oder als Kulturtheorie zur Geltung zu bringen, hat sich dann in der Forschungsliteratur seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts durchzusetzen begonnen. Dazu haben zwei Autoren wichtige Beiträge geleistet – Ernst Troeltsch (1865–1923) und Albert Reble (1910– 2000). Nach Dilthey war es vor allem Troeltsch, der Schleiermachers Philosophische Ethik als Kulturphilosophie interpretiert hat. In seiner Herrmann-Rezeption – Grundprobleme der Ethik. Erörtert aus Anlaß von Herrmanns Ethik (1902)30 – stellt Troeltsch zunächst die Geschichte der Ethik dar. In seiner Darstellung entwickelt sich aus der Suche nach einer allgemeinen bzw. nicht-christlichen Theorie der Mo-

26 A. a. O., 369. Außerdem: „Der zweite Hauptsatz der Ethik […] sondert in der Kultur der Menschheit vier große Lebensgebiete aus“ (a. a. O., 370). 27 A. a. O., 367 und 368. 28 Zu Wilhelm Diltheys Rezeption der Philosophischen Ethik Schleiermachers vgl. Martin Redeker: Einleitung des Herausgebers (1966), XXXIII–XXXVI. Zu Diltheys Interpretation der Philosophischen Ethik als eine Theorie der Kultur stellt Redeker fest: „Dilthey kennzeichnet die Ethik Schleiermachers als das Musterbild einer weltsicheren, optimistischen und von den Dämonien dieses Daseins nur gelegentlich etwas ahnenden Kultur- und Geschichtsphilosophie, die in mancherlei Abwandlungen, z. B. auch in der Ethik Spencers, der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Gepräge gegeben hat. Dilthey beschreibt diesen Sachverhalt ohne grundsätzliche Kritik.“ (a. a. O., XXXV) 29 Vgl. Sarah Schmidt: Kulturkritik als geschichtliches Verstehen in Friedrich Schleiermachers Ethik (2010), 43. 30 Ernst Troeltsch: Grundprobleme der Ethik. Erörtert aus Anlaß von Herrmanns Ethik (Aus: Zeitschrift für Theologie u. Kirche, 1902.), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2. Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, 552–672, zu Schleiermachers Philosophischer Ethik vgl. 565–566.

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ral im 18. Jahrhundert eine moderne Philosophische Ethik, die sich als „eine selbstständige und originale Fortbildung der antiken Ethik“ versteht.31 Im Zuge dieser Entwicklung wird Ethik von vielen Denkern der Aufklärung als „Lehre von der subjektiven Bestimmung des handelnden Willens“32 verhandelt. Die kantische Ethik bildet den Höhepunkt dieser Entwicklungslinie. Troeltsch zeichnet Schleiermachers Ethik zwar in diese ein, markiert sie aber auch als Wendepunkt in der Genese neuzeitlicher Ethik.33 Diese Wendung besteht darin, dass sich Ethik bei Schleiermacher zu einer selbstständigen und objektiven Bestimmung des Handelns wandelt – „als Lehre von den das Handeln bestimmenden letzten objektiven Zielen“.34 Indem die Ethik „die Wendung zu einer objektiven Bestimmung der großen allgemeingültigen Zwecke des Handelns und zur Zusammenfassung dieser Zwecke im Wesen der Vernunft, aus dem sie als notwendige Vernunftgüter hervorgehen“35 nimmt, kann Troeltsch sie auf den Begriff einer „Kulturphilosophie unter ethischem Gesichtspunkt“36 bringen. Er weist darauf hin, dass vermittels ihrer kulturphilosophischen Wendung der Ethik eine besondere Bedeutung für die Konzeptualisierung von Religion zuwachse. Denn Religion kommt nun als „ein eigener objektiver Wert neben den anderen objektiven Kulturwerten“37 zu stehen und gewinnt dadurch den Status eines selbstständigen Bereichs in der Kulturwelt. Troeltschs Interpretation folgend hat dann Albert Reble Schleiermachers Kulturphilosophie systematisch zum Thema gemacht. In seiner Leipziger Dissertation Schleiermachers Kulturphilosophie. Eine entwicklungsgeschichtlich-systematische Würdigung (1935) hat er aufgezeigt, dass Schleiermachers kulturphilosophische Gedanken bereits in den Reden (1799) und in den Monologen (1800) zu greifen sind. Wenngleich sie zunächst nur „in verschiedenen Zusammenhängen in unsystematischer Form“38 angedeutet sind, so lässt sich aber aus „vielen Partien [sc. eine] ausgewachsene Kulturphilosophie“39 rekonstruieren. Zu einem formalen System hat Schleiermacher seine Kulturphilosophie dann jedoch erst in seinen Schriften zur Philosophischen Ethik ausgebaut. Reble versteht Schleiermachers Kulturphiloso-

31 Ernst Troeltsch: Grundprobleme der Ethik (1902), 562. Zum Zusammenhang der Philosophischen Ethik Schleiermachers mit der antiken Ethik ist Michael Moxters Beobachtung bemerkenswert: „Ihr Rückgriff auf den antiken Begriff des Gutes geschah nicht in der Absicht einer Repristinationsbemühung, sondern beanspruchte, die Kantische Ethik der traditionellen Ethiken zumindest nicht zu unterschreiten.“ (ders.: Güterbegriff und Handlungstheorie [1992], 4) 32 Ernst Troeltsch: Grundprobleme der Ethik (1902), 564. 33 Dazu ist Michael Moxter der Meinung: „Schleiermachers Güterethik war das positive Resultat einer kritischen Abkehr von Kant.“ (ders.: Güterbegriff und Handlungstheorie [1992], 4) 34 Ernst Troeltsch: Grundprobleme der Ethik (1902), 566. 35 A. a. O., 565. 36 Ebd. 37 A. a. O., 566. 38 Albert Reble: Schleiermachers Kulturphilosophie (1935) 32. Mehr dazu vgl. a. a. O., 24–72. 39 A. a. O., 71.

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phie als „Prinzipienlehre der objektiv-geistigen Welt“40 und sieht „die Lebenszusammenhänge“ als das Problem, das „im Vordergrund“ ihrer kulturphilosophischen Sachprobleme steht.41 Für ihn besteht deshalb der Zusammenhang von Ethik und Kulturphilosophie bei Schleiermacher im Folgenden: Indem Ethik – parallel zur spekulativen Naturwissenschaft in seinem Wissenschaftssystem – die Konstruktion der gesamten sittlich-menschlichen Welt als Pflicht darstellt, so umgreift sie einerseits „die ganze kulturphilosophische Problematik“, andererseits wird sie zu „einer Prinzipienwissenschaft des geistigen Seins“42 erweitert. In dieser Hinsicht steht nun die ethische Kulturphilosophie für eine „umfassende Philosophie des geistigen Lebens“.43 Reble hat darauf hingewiesen, dass sich der „Aufbau der Kultur“ in Schleiermachers Entwurf von 1802 „bereits klarer abzeichnete“,44 jedoch ein systematisches Bild der Kulturphilosophie erst im Brouillon zur Ethik (1805/06) zur Darstellung kommt.45

40 A. a. O., 101. 41 Vgl. A. a. O., 72. 42 A. a. O., 76. 43 A. a. O., 102. 44 A. a. O., 73. Vermutlich ist hier Schleiermachers Schrift Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) gemeint. 45 Neben Ernst Troeltsch und Albert Reble haben weitere Autoren darauf hingewiesen, dass Schleiermachers Ethik als Kulturphilosophie betrachtet werden soll. In seiner Dissertation stellt Hermann Süskind fest: „Die Aufgabe der Ethik [sc. Schleiermachers] ist, die einzelnen Sphären oder Systeme der Kultur, des sozialen, geselligen, politischen, wissenschaftlichen, religiösen Lebens zu untersuchen und ihre Bildungsgesetze abzuleiten. […] Die Ethik ist demnach die Philosophie der Kultur“ (ders.: Der Einfluss Schellings [1909], 206). In der Einleitung zu Schleiermachers Philosophischer Ethik bezeichnet Otto Braun seine Ethik als „allumfassende[] Kulturphilosophie“, und als „eine Philosophie der gesamten Kultur“ (ders.: Einleitung [1913], X). Für Emanuel Hirsch gilt Schleiermachers Philosophische Ethik als „Geistes- oder Kulturphilosophie im allgemeinen Sinne“ (ders.: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. IV [1952], 544). Dazu bezeichnet er Schleiermacher als einen der „Künder und Bahnbrecher der Kultur- und Geschichtsphilosophie“, „welche in mancherlei Abwandlungen dem 19. Jahrhundert ihr Gepräge gegeben hat“ (a. a. O., 551). Bernhard Kopp betrachtet Kultur als Gestaltung der Natur in der Philosophischen Ethik Schleiermachers als eine entscheidende Wendung in der Wortgeschichte von Kultur (ders.: Beiträge zur Kulturphilosophie der deutschen Klassik [1974], 68–81). Gunter Scholtz versteht Schleiermachers Ethik als „Theorie der Modernen Kultur“ (ders.: Ethik als Theorie der modernen Kultur [1983/1995], 35). Der Grund ist: „sie [sc. Schleiermachers Ethik] ist eine Philosophie der entia moralia, der menschlichen Welt, oder eben eine Kulturphilosophie. […] denn sie hat das ‚Gesamtgebiet der Kulturaufgabe‘ zum Thema“ (ebd.). Zu diesem Thema vgl. ferner auch Hans-Joachim Birkner: Einleitung (1981), in: Friedrich Schleiermacher: Brouillon zur Ethik (1805/06)(1981), XI; Cornelia Richter: Die Religion in der Sprache der Kultur. Schleiermacher und Cassirer, Tübingen 2004, 16–19; Brent W. Sockness: Cultural Theory as Ethics, in: Akten des internationalen Kongresses 2006 (2008), 517–525; Sarah Schmidt: Kulturkritik als geschichtliches Verstehen in Friedrich Schleiermachers Ethik (2010); Matthias Heesch: Philosophische Ethik, in: Martin Ohst (Hg.): Schleiermacher Handbuch, Tübingen 2017, 267–279.

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Da der Kulturbegriff erst um 1900 zu einem akademischen Schlüsselbegriff avancierte,46 ist es nicht verwunderlich, dass er keinen Zentralbegriff in der Philosophischen Ethik Schleiermachers darstellt und dass dieser seine Handlungstheorie selbst nicht als Kulturtheorie bezeichnet. Seine frühen Texte indizieren jedoch eine interessierte Rezeption und Verarbeitung des aufklärungsphilosophischen Kulturbegriffs durch den jungen Professor in Halle. Einen Beleg dafür bietet sein Brouillon zur Ethik: „Aelteste Vorstellung des höchsten Gutes Ebenbild Gottes; Gott als Herrscher gedacht. Herrschaft des Menschen über die Erde gleich vollständiger Organbildung, denn man beherrscht nur seine Organe, und alles Beherrschte wird Organ. Diese Herrschaft erfodert ein gänzliches Durchschauen der Natur; sie ist nur möglich in absoluter Gemeinschaft; Jeder kann sein Maximum nur beitragen durch Eigenthümlichkeit. – In den neueren Zeiten ist diese Ansicht [sc. die Herrschaft des Menschen über die Erde] wiedergekommen unter der Idee einer vollkommenen Kultur.“ (Brouillon 92) Hierbei beziehen sich die „neueren Zeiten“ auf die Phase der Spätaufklärung. Somit stellt sich Schleiermacher in seinem frühen Ethikkonzept explizit in eine Kontinuität im aufklärerischen Diskurs über den Kulturbegriff und weist ihm hier die Funktion eines Leitbegriffs seiner Philosophischen Ethik zu, während er sich in den späteren Systementwürfen bezüglich des Kulturbegriffs wieder zurückhaltender gibt.47 Hinsichtlich der benannten Kontinuitätslinien gibt es in der neusten Forschung aufschlussreiche Hinweise auf ideengeschichtliche Bezüge des Kulturbegriffs bei Schleiermacher zu Herders Kulturbegriff. Ulrich Barth (2009) stellt fest: „Schleiermachers Kulturbegriff ist – ähnlich wie bei Herder – zugleich handlungstheoretisch und kulturanthropologisch ausgerichtet, sofern er sämtliche Kulturgebiete als Handlungsfelder der menschlichen Vernunft begreift.“48 Wilhelm Gräb (2013) ist der ähnlichen Meinung, dass Schleiermacher „sich implizit auf Herder bezogen hat, indem er dort [sc. im Brouillon zur Ethik] den Kulturbegriff mit seiner ‚in den neueren Zeiten‘ aufgekommenen Bedeutungserweiterung aufnimmt“.49

46 Zum Kulturbegriff als akademischer Schlüsselbegriff vgl. Cornelia Richter: Die Religion in der Sprache der Kultur (2004), 11–12. 47 Hierzu hat Wilhelm Gräb darauf hingewiesen, dass der Kulturbegriff, der in der Hallenser Vorlesung Brouillon zur Ethik als ein Leitfaden fungiert und das Profil seiner Ethik schärft, für seine spätere bzw. Berliner Philosophische Ethik nicht mehr zutrifft. Der Grund liegt vermutlich darin, dass Schleiermacher „aber offensichtlich fürchtete, der Kulturbegriff könnte der Klarheit dieser sozial-anthropologischen Grundansicht seiner Ethik einerseits, deren geschichtsphilosophischer Weite andererseits abträglich sein“ (ders.: Die anfängliche Ausbildung des Kulturbegriffs in Schleiermachers Hallenser Ethik, in: Andreas Arndt [Hg.]: Friedrich Schleiermacher in Halle 1804–1807 [2013], 77–89, hier 89). 48 Ulrich Barth: Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft. Kritische Anfragen an Schleiermachers Theologieprogramm (2009), in: ders.: Kritischer Religionsdiskurs (2014), 293– 320, hier 298.

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Dass Schleiermachers Philosophische Ethik als eine Kulturtheorie oder Kulturphilosophie verstanden werden kann, ist also nicht mehr umstritten. Darüber hinaus weist Ulrich Barth (2007) darauf hin, dass seine Philosophische Ethik ein mehrere Perspektiven aufnehmendes Gedankensystem ist: „Sie [sc. die Philosophische Ethik] ist als Handlungstheorie im Spannungsfeld von Anthropologie, Vernunfttheorie, Kulturtheorie angesiedelt.“50 Mit Hinblick auf die Genese der modernen Kulturtheorie besteht Schleiermachers Beitrag zu derselben darin, sie handlungstheoretisch fundiert und ihre Leistungsfähigkeit für die Konzeptualisierung einer philosophischen Ethik ausgelotet zu haben. Seine Philosophische Ethik kann somit auch als handlungstheoretische Kulturphilosophie bezeichnet werden. Wir haben bereits den Begriff des Gutes und der Güterlehre benannt und damit Schleiermachers Rekurs auf traditionelle ethische Theoriemodi im Brouillon zur Ethik (1805/06). Mit der Einlassung „Bei den Alten höchstes Gut und Tugend“ (Brouillon 84) bezieht er sich auf Aristoteles’ Güterlehre und Platons Tugendlehre; auf Kants Ethik spielt er mit „bei den Neuen Tugend und Pflicht“ (ebd.) an. Im Anschluss an bisherige Behandlungsweisen der Ethik unterscheidet der Autor Tugendlehre, Pflichtenlehre und Güterlehre.51 Die Tugendlehre fragt nach der Kraft, nach der „Dynamik“ (Brouillon 85) zur Vervollkommnung des Menschen. Die Pflichtenlehre betrachtet das menschliche Handeln als Gesolltes oder Sollen und bezieht sich auf die Normengemäßheit menschlichen Handelns. Die Güterlehre betrachtet das Hervorbringen des menschlichen Handelns, und ihre Aufgabe besteht somit darin, „das ganze organisirte Leben“ (Brouillon 87) darzustellen. Für Schleiermacher ist die Güterlehre als Darstellung des höchsten Gutes nicht nur die Basis für Tugendlehre und Pflichtenlehre, sondern sie umfasst auch diese beiden. Das gesamte System der Philosophischen Ethik Schleiermachers ist dem Begriff des Guten verpflichtet. Schleiermacher präzisiert den Begriff des Guten, indem er eine Struktur in den Begriff des Guten einzeichnet und sie seiner Entfaltung zugrunde legt. Diese Struktur kann auf den mittlerweile gebräuchlichen Begriff des Quadruplizitätssche-

49 Wilhelm Gräb: Die anfängliche Ausbildung des Kulturbegriffs (2013), 87. Zum begriffsgeschichtlichen Hintergrund von Schleiermachers Kulturbegriff vgl. a. a. O., 85–89. 50 Ulrich Barth: Vernunft der Religion. Das Erbe der Aufklärung (2007), in: ders.: Kritischer Religionsdiskurs (2014), 452–468, hier 461. Die vernunfttheoretische Perspektive von Schleiermachers Philosophischer Ethik erhellt eine andere Aussage von Ulrich Barth: „Von einer vernunfttheoretischen Beschreibung der Religion kann hier insofern gesprochen werden, als die philosophische Ethik insgesamt als Entfaltung der im menschlichen Handeln erfolgenden Einwirkung von Vernunft auf Natur konzipiert ist.“ (ders.: Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft [2009/2014], 298) Zum anthropologischen Aspekt der Philosophischen Ethik Schleiermachers vgl. ferner Wilhelm Gräb: Humanität und Christentumsgeschichte (1980). Gräb interpretiert Schleiermachers Philosophische Ethik als „eine anthropologische begründete Strukturtheorie der Geschichte“ (a. a. O., 178). Dazu stellt er heraus, dass die anthropologische Grundlegung der Philosophischen Ethik in engem Zusammenhang mit der Naturphilosophie steht (mehr dazu vgl. a. a. O., 26–35). 51 Mehr dazu vgl. Brouillon, 84–85.

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mas gebracht werden, wonach die gesellschaftlich-historische Welt des menschlichen Handelns durch vier miteinander verbundene Kulturfelder interpretiert wird. Die Philosophische Ethik Schleiermachers fungiert für viele andere Theoriekontexte in seinem Œuvre als wissenschaftssystematisch grundlegende Referenztheorie. Das trifft nicht nur für sein Religionsverständnis in der Urfassung der Reden (1799) und für seine Glaubenslehre (1821/22; 1830/31) zu, sondern beispielsweise auch für seine Staatslehre und seine Sprachphilosophie. Daher bietet seine Philosophische Ethik mit ihrer handlungs- und kulturtheoretischen Anlage auch für eine Studie zum Verhältnis von Religion und Individualität einen weiten Theoriehorizont. Um sich seiner Philosophischen Ethik zu nähern und damit dann auf das Thema einzugehen, ist hierbei eine kurze Darstellung ihres Werdegangs erforderlich. Die Entwicklung der Philosophischen Ethik Schleiermachers kann durch die folgenden sechs Stationen skizziert werden. 1. Studienzeit in Halle. Schleiermachers Interesse an Ethik ist bis in seine Studienzeit in Halle vom Frühjahr 1787 bis Anfang 1789 zurückzuverfolgen. Das Studium der antiken Philosophie bei seinem philosophischen Lehrer Johann August Eberhard hat zunächst einen hohen Stellenwert für seine Zeit in Halle und eine große Bedeutung für seinen Werdegang. Auf Anregung von Eberhard hin widmet er sich vor allem dem Studium der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Daneben befasst sich Schleiermacher auch mit Kants Philosophie, die zu seiner Studienzeit gerade eine breite Wirkung entfaltete.52 2. Jugendmanuskripte. Nach seiner Studienzeit in Halle entstanden zahlreiche Manuskripte während des Aufenthalts bei seinem Onkel Samuel Ernst Stubenrauch (1738–1807) in Drossen. Seine Anmerkungen zu Aristoteles: Nikomachischen Ethik (8–9) (1789) und die Schrift Über das höchste Gut (1789)53 führen Linien aus der ersten Hallenser Zeit unmittelbar weiter. Bis zum Jahr 1793/94 folgen weitere Jugendmanuskripte. Diese stellen den Versuch einer ersten Orientierung dar, die Schleiermachers Rezeption von Kants Ethik dokumentieren.54 Für den Werdegang seiner Philosophischen Ethik sind zwei weitere Manuskripte hier erwähnenswert: Über die Freiheit (Zwischen

52 Zu Schleiermachers Studienzeit in Halle und dessen Beschäftigung mit antiker Philosophie und Kants Philosophie vgl. Rudolf Haym: Die romantische Schule (1870), 394–396; Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 1)(1970), 37–45; Eilert Herms: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt (1974), 39–44; Bernd Oberdorfer: Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit (1995), 25–97; Andreas Arndt: Kommentar, in: Friedrich Schleiermacher: Schriften, hg. von Andreas Arndt, Frankfurt a. M. 1996, 993–1349, hierzu 1036–1040; Kurt Nowak: Schleiermacher (2001), 32–42. 53 Friedrich Schleiermacher: Anmerkungen zu Aristoteles: Nikomachischen Ethik (8–9) (1789), in: KGA I/11, 1–43; Über das höchste Gut (1789), in: KGA I/11, 81–125. Zu diesen beiden Schriften vgl. Günter Meckenstock: Historische Einführung (1984), in: KGA I/1, XXXXII–XXXVI und XL–XLII. 54 Dazu vgl. Günter Meckenstock: Deterministische Ethik und kritische Theologie (1988); Bernd Oberdorfer: Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit (1995), 193–243.

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1790 und 1792) und Über den Wert des Lebens (1792/93).55 3. Grundlinien einer Kritik aller bisherigen Sittenlehre (1803).56 Dieses im Jahr 1803 erschienene Buch markiert einen Übergang von seinen ersten Überlegungen über Ethik hin zu seiner dann entfalteten Philosophischen Ethik. In den Grundlinien prüft Schleiermacher die Leitprinzipien der Ethik in der Lehrtradition: die antike Ethik, vor allem die von Platon und Aristoteles; die kantische Ethik; daneben noch die Ethik von Spinoza und Fichte. Dabei werden drei Grundlinien der Ethik unterschieden: die platonische Tugendlehre, die aristotelische Güterlehre und die stoische und kantische Pflichtenlehre.57 Deren kritische Prüfung ist ein wichtiger Schritt in der Genese seines reifen Systems der Philosophischen Ethik. 4. Brouillon zur Ethik (1805/06). Nachdem Schleiermacher im Wintersemester 1804/05 in Halle zum ersten Mal über Ethik, genauer genommen nur über die Tugendlehre gelesen hat, notiert er mit dem Titel „Brouillon zur Ethik. 1805“ den ersten systematischen Gesamtentwurf seiner Philosophischen Ethik.58 Als Vorlage für die Vorlesung im Wintersemester 1805/06 hat ihr Schleiermacher lediglich die Form einer Skizze gegeben. In ihr verbirgt sich bereits ein vollständiges System einer handlungstheoretischen Kulturphilosophie. Dieser Entwurf gilt als Wegmarke der Philosophischen Ethik Schleiermachers. 5. Philosophische Ethik seiner Berliner Reifezeit (1812–17). Während seiner zweiten Berliner Zeit hat Schleiermacher mehrmals über die Philosophische Ethik gelesen.59 In den zu diesen Vorlesungen vorliegenden Manuskripten wird sein im Brouillon zur Ethik entworfe-

55 Friedrich Schleiermacher: Über die Freiheit (Zwischen 1790 und 1792), in: KGA I/11, 217–356; Über den Wert des Lebens (1792/93), in: KGA I/11, 391–471. Zu den beiden Schriften vgl. Günter Meckenstock: Historische Einführung (1984), in: KGA I/1, LIV–LVIII und LXII–LXVI. 56 Friedrich Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik aller bisherigen Sittenlehre (1803), in: KGA I/ 4, 24–357. 57 Zu Schleiermachers Grundlinien einer Kritik aller bisherigen Sittenlehre (1803) vgl. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 2)(1966), 231–236; Kurt Nowak: Schleiermacher (2001), 124–131; Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre (1964), 46–47; ders.: Einleitung (1981), VIII. Birkner bezeichnet die Grundlinien als „eine Analyse der ethischen Theorie und Systeme von der Antike bis zu Kant und Fichte unter dem Gesichtspunkt ihrer wissenschaftlichen Form und ihres thematischen Bestandes“ (ebd.). Dazu vgl. ferner Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. IV (1952), 542–549; Eilert Herms: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt (1974), 168–234; Michael Moxter: Güterbegriff und Handlungstheorie (1992), 54–63; Andreas Arndt: Kommentar (1996), 1160–1172. 58 Friedrich Schleiermacher: Tugendlehre (1804/05), in: WA II, 33–74; ders.: Brouillon zur Ethik (1805/06), in: WA II, 75–239. Zur Entstehung des Brouillon zur Ethik vgl. Kurt Nowak: Schleiermacher (2001), 158; Andreas Arndt: Schleiermachers Grundlegung der Philosophie in den Hallenser Vorlesungen (2013), 56–65. 59 Vgl. Hans-Joachim Birkner: Einleitung (1981), XIV–XXII. Laut Birkner hat Schleiermacher achtmal über die Philosophische Ethik gelesen: „in Halle in den Wintersemestern 1804/05 und 1805/06, in Berlin Anfang 1808 (vor Eröffnung der Universität), dann im Wintersemester 1812/13 und in den Sommersemestern 1816, 1824, 1827 und 1832.“ (a. a. O., XIV) Dazu vgl. ferner Otto Braun: Einleitung (1913), XIV–XVIII; Kurt Nowak: Schleiermacher (2001), 296–297.

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nes Schema der Handlungstheorie verfeinert, vertieft und erweitert.60 Diese Ausarbeitung ist mit Schleiermachers Beschäftigung mit fundamentalphilosophischen, wissens-, wissenschafts- und wahrheitstheoretischen Fragestellungen eng verbunden, die er unter dem Titel Dialektik in Vorlesungen vorgetragen und in Textentwürfen systematisiert hat.61 6. Akademieabhandlungen. Neben seinen Vorlesungen hat Schleiermacher die Philosophische Ethik auch in vier Akademieabhandlungen zum Thema gemacht. Über den Tugendbegriff und über den Pflichtbegriff hat er jeweils im Jahr 1819 und 1824 vorgetragen.62 In seiner späteren Zeit in Berlin hat er noch zweimal einen Vortrag über den Begriff des höchsten Gutes (1827 und 1830) gehaltenen.63 Diese vier Akademievorträge gelten als wichtige Quellen für die Rekonstruktion der Genese seiner Philosophischen Ethik.64 Neben seine Philosophische Ethik stellt Schleiermacher als Pendant zur Glaubenslehre eine theologische Ethik, die er als christliche Sitte bzw. Sittenlehre bezeichnet.65 Dass er dieser einen hohen Stellenwert in seinem philosophisch-theolo-

60 Zur inneren Kontinuität zwischen dem Brouillon zur Ethik (1805/06) und der Philosophischen Ethik seiner Berliner Reifezeit (1812–17) stellt Emanuel Hirsch fest: „Sie haben sich in der Berliner Reifezeit wohl verfeinert und im einzelnen genauer bestimmt, aber nicht gewandelt und bleibt somit der feste Rückhalt auch des in diesem Kapitel Darzustellenden.“ (ders.: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. V [1954], 282) 61 Dazu vgl. unten: Kapitel 4. Der Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik von 1812–17, 265–266 und 307–310. 62 Friedrich Schleiermacher: Über die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs (Vorgetragen am 4. März 1819), in: KGA I/11, 313–336; ders.: Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs (Vorgetragen am 12. August 1824), in: KGA I/11, 415–428. 63 Friedrich Schleiermacher: Über den Begriff des höchsten Gutes. Erste Abhandlung (Vorgetragen am 17. Mai 1827), in: KGA I/11, 535–554; Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung (Vorgetragen am 27. März 1830), in: KGA I/11, 657–677. Samuel Eck betrachtet die beiden Abhandlungen als reifste Ausführung der ethischen Gedanken Schleiermachers (vgl. ders.: Ueber die Herkunft des Individualitätsgedankens [1908], 11). 64 Zum Werdegang der Philosophischen Ethik Schleiermachers haben noch folgende Autoren beigetragen: Franz Vorländer: Schleiermachers Sittenlehre ausführlich dargestellt und beurtheilt mit einer einleitenden Exposition des historischen Entwicklungsgangs der Sittenlehre überhaupt, Marburg 1851; Otto Braun: Einleitung (1913), VIV–XVI; Hans-Joachim Birkner: Einleitung (1981), VII–XI; Albert Reble: Schleiermachers Kulturphilosophie (1935), 248–250; Eilert Herms: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt (1974); Günter Meckenstock: Deterministische Ethik und kritische Theologie (1988); Michael Moxter: Güterbegriff und Handlungstheorie (1992), 18–53; Andreas Arndt: Kommentar (1996), 1034–1060. 65 Friedrich Schleiermacher: Die christliche Sitte nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt von Dr. Friedrich Schleiermacher. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, in: SW I/12, hg. von Ludwig Jonas, Berlin 1843; ders.: Christliche Sittenlehre (Vorlesung im Wintersemester 1826/27). Nach größtenteils unveröffentlichten Hörernachschriften und nach teilweise unveröffentlichten Manuskripten Schleiermachers herausgegeben und eingeleitet von Hermann Peiter, Münster 2011. Zu Schleiermachers christlicher Sittenlehre vgl. Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre (1964).

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gischen System einräumte, dokumentieren seine mehrmaligen Vorlesungen zum Thema – sowohl in Halle als auch in Berlin.66 Um Schleiermachers Philosophische Ethik innerhalb dieser Duplizität recht verstehen zu können, wollen wir eine kurze Klärung des Verhältnisses beider ethischer Disziplinen unter Anlehnung an HansJoachim Birkners Interpretation (1964)67 voranstellen, bevor wir dann auf das handlungstheoretische Schema seiner Philosophischen Ethik eingehen. In welchem Zusammenhang stehen die Philosophische Ethik und die Christliche Sitte bei Schleiermacher? Birkner hat deutlich gemacht, dass das Verhältnis von beiden in zwei Aspekten bestimmt werden kann. Der erste Aspekt besteht in jeweils unterschiedlichen Aufgabenstellungen. Für Birkner ist die Philosophische Ethik Schleiermachers „eine deduktiv verfahrende spekulative Wissenschaft“,68 indem sie „in abstrakt-allgemeiner Weise das Ganze der Strukturen und Formen menschlich-geschichtlichen Lebens, den Gesamtbereich menschlichen Handelns“69 beschreibt. Damit fungiert die Philosophische Ethik als „spekulative Grundwissenschaft für alle historischen Wissenschaften“.70 Im Gegensatz dazu hat die christliche Sitte eine „begrenzte konkret-historische Aufgabe“.71 Denn sie gehört zur „empirischen Geschichtswissenschaft“,72 und als ein Teil der dogmatischen Theologie des Protestantismus beschreibt sie „eine konkrete Lebensgestalt, das Handeln, das aus der Herrschaft des christlich-frommen Selbstbewusstseins im Menschen entsteht“.73 Die christliche Sitte verfährt als eine empirisch-konkrete Beschreibung des historischen Handelns, das sich auf die christliche Kirche bezieht. Mit dieser sich aus der Aufgabe ergebenden Differenz ist der zweite Aspekt in der Verhältnisbestimmung von beiden Disziplinen verbunden. Birkner zufolge befinden sich die beiden Disziplinen „nicht in einem Verhältnis der Konkurrenz“,74 sondern in einer positiven Beziehung zueinander. „Positiv“ heißt: Als eine sich auf die christliche Kirche beziehende empirisch-konkrete Beschreibung lehnt sich Schleiermachers Christliche Sittenlehre

66 Über die Christliche Sittenlehre hat Schleiermacher insgesamt zwölfmal Vorlesung gehalten. Zur Entstehung der christlichen Sittenlehre Schleiermachers und zu seinen Vorlesungen darüber vgl. Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre (1964), 11–20. 67 Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre (1964), 83–87. Zum Verhältnis von Philosophischer Ethik und Christlicher Sittenlehre bei Schleiermacher vgl. ferner Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. IV (1952), 555–556; Eilert Herms: Reich Gottes und menschliches Handeln (1985/2003); Claus Müller: Ist theologische Ethik philosophisch möglich? Zum Verhältnis von Philosophischer Ethik und Christlicher Sittenlehre im philosophisch– theologischen System Fr. Schleiermachers, Frankfurt a. M. 2002. 68 Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre (1964), 84. 69 Ebd. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Ebd. 73 A. a. O., 84–85. 74 A. a. O., 87.

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„an die in seiner philosophischen Ethik entwickelte[n] Kategorien“75 an. Die christliche Sitte ruht auf der „in einem ganz allgemeinen Sinn“76 als Handlungstheorie formierten Philosophischen Ethik auf. Anders gesagt: Letztere hat den Status einer kategorialen Voraussetzung von Schleiermachers christlicher Sittenlehre. Bisher haben wir zunächst die Grundstruktur der Philosophischen Ethik Schleiermachers skizziert und dargelegt, inwiefern sie als eine Kulturtheorie verstanden werden kann. Dann haben wir nicht nur den Werdegang seiner Philosophischen Ethik nachgezeichnet, sondern auch ihr Verhältnis zu seiner christlichen Sittenlehre geklärt. Mit dieser einführenden Darstellung wird der zweite Hauptteil der vorliegenden Untersuchung der Philosophischen Ethik Schleiermachers nachgehen, um die Weiterentwicklung der Verhältnisbestimmung von Religion und Individualität in dieser zweiten werkgeschichtlichen Prägephase zu untersuchen. Die Studie des zweiten Hauptteils wird im Folgenden in zweien Schritten (Kapitel 3 und Kapitel 4) durchgeführt. Das dritte Kapitel ist der Hallenser Ethikvorlesung Brouillon zur Ethik (1805/06) gewidmet. Im ersten Hauptabschnitt (1) dieses Kapitels kommen die Grundelemente der Handlungstheorie zur Darstellung. Danach hat der zweite Hauptabschnitt (2) den ethischen Religionsbegriff in dieser frühen Ethikvorlesung zum Gegenstand. Darauf aufbauend wird sich das vierte Kapitel auf den Begriff des individuellen Symbolisierens nach der Philosophischen Ethik seiner Berliner Reifezeit (1812–1817) fokussieren, um den Verweisungszusammenhang von Religion und Individualität in der Kulturtheorie Schleiermachers näher bestimmen zu können.

75 A. a. O., 85. 76 A. a. O., 83.

Kapitel 3 Die handlungstheoretische Grundlegung der Kulturtheorie im Brouillon zur Ethik (1805/06) 1 Die Grundelemente der Handlungstheorie Wie wir in der obigen Einleitung aufgezeigt haben, stellt die Güterlehre und die Lehre vom höchsten Gut eine der drei Betrachtungsweisen der Ethik Schleiermachers dar. Für ihn besteht die Aufgabe der Güterlehre darin, „das ganze organisirte Leben“ als „höchstes Gut“ (Brouillon 87) zur Geltung zu bringen. Zu seinem Ausdruck „höchstes Gut“ weist der Autor auf „höchst“ und „Gut“ als zwei unentbehrliche Bestimmungen für die Güterlehre hin: „Höchst“ bedeutet, dass diese Darstellung sich auf das Leben als ein Ganzes bezieht – „gar nicht comparativ zu nehmen als Einzelnes, sondern als Totalität“ (ebd.). Der Bezug auf die Totalität gilt als Kennzeichen für das höchste Gut; „Gut“ besteht darin, dass diese Darstellung „nur die Affirmation dessen [sc. ist], was in der Idee liegt“ (ebd.), denn die Handlungstheorie ist eine Darstellung der „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“ (ebd.). Beide Bestimmungen zusammennehmend bezeichnet der Autor diese Darstellung als „vollständige Beseelung“ (ebd.) – damit ist die Lehre vom höchsten Gut als Inbegriff aller Güter zu formieren. Im Rückbezug darauf, dass der Stil seiner Ethik der historische ist, stellt diese Darstellung für Schleiermacher zugleich „am vollständigsten Wissenschaft der Geschichte“ (ebd.) dar. Das ganze organisierte Leben darzustellen, ist das höchste Gute für Schleiermacher. Diese Darstellung führt der Autor durch die folgende Behauptung ein: „Das Leben erscheint überall in verschiedenen Functionen, die mit einander in relativen Gegensäzen stehn, aber doch einzeln weder verstanden werden noch existiren können, sondern in nothwendiger Verbindung stehen.“ (Brouillon 88) In dieser Behauptung sind zwei Aufgaben seiner Darstellung enthalten. Insofern das Leben an sich das Beschreibungsobjekt seiner Güterlehre ist, muss man zunächst das Leben bestimmen – „So müssen wir also auch das Leben der beseelenden Vernunft finden“ (ebd.). Daher gilt die Bestimmung des Lebens der Vernunft als Ausgangspunkt seiner Darstellung des höchsten Gutes. Sodann ist eine zweite Aufgabe seiner Güterlehre in der Behauptung zu sehen, das Leben in seinen in relativen Gegensätzen stehenden verschiedenen Funktionen zu beschreiben – „in Einzelheiten müssen wir es betrachten, die aber organisch und nothwendig zusammenhängen“ (ebd.). Dabei geht es um ein durch zwei Gegensätze strukturiertes Quadruplizitätsschema, womit Schleiermacher die gesamte Sphäre des menschlichen Handelns umfasst. Im Rahmen einer Rekonstruktion der Grundelemente der Handlungstheorie gehen wir im Folgenden deshalb vorerst kurz auf seine Bestimmung des Lebens im Brouillon zur Ethik (1805/06) ein, dem ersten systematischen Gesamtentwurf seiner Philosophihttps://doi.org/10.1515/9783110664393-007

1 Die Grundelemente der Handlungstheorie

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schen Ethik (1.1). Auf dieser Basis werden danach die Funktionen des Lebens durch das Quadruplizitätsschema expliziert, um uns einen Überblick über seine Beschreibung des Gesamtspektrums humaner Kultur zu verschaffen (1.2).

1.1 Die Bestimmung des Lebens Die Bestimmung des Lebens – „Anschauung des Lebens“ – ist der Ausgangspunkt seiner Darstellung des ganzen organisierten Lebens bzw. seiner Güterlehre.1 Für Schleiermacher ist das Leben grundlegend durch zwei Existenzweisen gekennzeichnet: „Abgeschlossenes Dasein und Gemeinschaft mit dem Ganzen.“ (ebd.) Das abgeschlossene Dasein ist „das Gebundensein aller Naturkräfte in einem Centro“ (ebd.). Diese Beschreibung zeigt, dass der Mensch als ein abgeschlossenes Dasein in erster Linie ein Naturwesen ist, das aus der Vereinigung aller Naturkräfte entsteht. Hierbei setzt Schleiermacher ein naturphilosophisches Grundgesetz des Geistes voraus, das sich auf die Prozesse der Attraktion und Repulsion bezieht. Dieses naturphilosophische Grundgesetz ist bei Schleiermacher nicht neu und spielt in seinem System eine gewichtige Rolle. Wir haben im ersten Abschnitt des ersten Kapitels aufgezeigt, dass Schleiermacher bereits zu Beginn der ersten Rede seiner Reden über die Religion (1799) ein Geistverständnis dargelegt hat. Seine Beschreibung des menschlichen Geistes in der ersten Rede orientiert sich an der zeitgenössischen Naturphilosophie und folgt damit zu seiner Zeit allgemein bekannten Gesetzmäßigkeiten. Indem er das naturphilosophische Gesetz von Attraktion und Repulsion auf die menschliche Geistessphäre überträgt, transformiert er es in ein anthropologisches Grundmodell: Jedes konkrete Individuum ist durch die beiden Elementarfunktionen des Geistes bestimmt. Die Vereinigung der beiden entgegengesetzten Kräfte – Attraktion und Repulsion – liegt den möglichen Zuordnungsvariationen aller Menschen zugrunde. In diesem Zusammenhang besteht das Menschheitsideal in einer vollkommenen Balance zwischen beiden Kräften.2 Unter der Voraussetzung dieses naturphilosophisch fundierten Grundgesetzes des Geistes versteht Schleiermacher in dieser Ethikvorlesung das abgeschlossene Dasein als ein „Gebundensein aller Naturkräfte in einem Centro“. Mit dem Ausdruck „Gemeinschaft mit dem Ganzen“ meint Schleiermacher das Zusammensein des abgeschlossenen Daseins mit dem Ganzen in Wechselwirkung, die Vereinigung des Ichs mit dem Nicht-Ich, die Einheit des individuellen Subjekts mit seiner ganzen Umwelt. An dieser Stelle ist zu beobachten, dass das Ganze für ein abgeschlossenes Dasein nicht nur seine ganze natürliche Umwelt, sondern auch

1 Brouillon, 88: „Um diesen [sc. allgemeinen Umriß] richtig zu zeichnen, müssen wir von der Anschauung des Lebens ausgehn.“ 2 Vgl. oben: Kapitel 1. 1. Die anthropologische Geisttheorie in den Reden (1799).

192  Kapitel 3 Die handlungstheoretische Grundlegung der Kulturtheorie

seine Mitmenschen umfasst. So geht es bei der Gemeinschaft mit dem Ganzen um die Beziehung zwischen dem abgeschlossenen Dasein und der ganzen Welt.3 Sowohl das abgeschlossene Dasein als auch seine Gemeinschaft mit dem Ganzen ist direkt mit der Ausbildung verbunden: „Je höher ausgebildet, desto bestimmter abgeschlossen das Dasein, desto freier die Gemeinschaft.“ (ebd.) Die gute Ausbildung bestimmt den Grad der Abgeschlossenheit des Individuums und den Grad der Freiheit der Vereinigung dieses Daseins mit dem Ganzen. Die Gemeinschaft als Vereinigung des Ichs mit dem Nicht-Ich in Wechselwirkung ist für Schleiermacher durch zwei Tätigkeiten des Geistes zu verstehen: „ein in sich Aufnehmen und ein aus sich Hervorbringen“ (ebd.). Mit anderen Worten heißt das, wie er an späterer Stelle erklärt, dass „die Gemeinschaft mit der übrigen Welt durch Action und Reaction“ (Brouillon 150) entsteht. Diese Interpretation ist auf das durch Attraktion und Repulsion strukturierte naturphilosophische Modell des Geistes zurückzuführen. Vor dem entwickelten Hintergrund präzisiert Schleiermacher in dieser ethischen Schrift die beiden Tätigkeiten in unterschiedlichen Erscheinungen auf folgenden drei verschiedenen Ebenen des Lebens: beim Tier, beim Menschen als Natur und beim durch die Vernunft beseelten Menschen. Dementsprechend hat die Gemeinschaft des abgeschlossenen Daseins mit dem Ganzen unterschiedliche Gestalten. „Auf der niedrigsten Stufe“ – beim Tier – ist das In-sich-Aufnehmen bloß eine sinnliche Mischung – „nur eine organische Vereinigung“ (Brouillon 88); das Aussich-Hervorbringen ein passives Absagen von dem, was man von dem Draußen bekommen hat – „nur ein anorganisches Absezen“ (ebd.). Es ist kein produktiver Vorgang. An dieser Stelle folgt Schleiermacher der schellingschen Entgegensetzung von organisch und anorganisch.4 „Auf den höheren Stufen“ – beim Menschen „auch als Natur“ (Brouillon 89) – wird das In-sich-Aufnehmen sich „zur Wahrnehmung“ entwickeln. Das heißt: Die Tätigkeit des sinnlichen Organs des Subjekts ist an der Attraktion beteiligt, während das Aus-sich-Hervoringen sich „zur Erzeugung“ entwickelt. Die Repulsion wird somit ein produktiver Vorgang. Daher besteht der Unterschied zwischen dem Tier und dem Menschen als Natur für Schleiermacher im Folgenden: „Beim Thier ist das in sich Aufnehmen mehr Gefühl als Wahrnehmung oder Anschauung, das aus sich Hinstellen in die Welt mehr organische Secretion als Darstellung für sich.“ (Brouillon 90) Auf den höchsten Stufen steht das vernünftige Leben des Menschen – das Leben des durch die Vernunft beseelten Menschen. Auf dieser Stufe modifiziert sich das naturphilosophische Grundmodell des Geistes als eine Gegenüberstellung von

3 Michael Moxter bezeichnet hierbei die Gemeinschaft mit dem Ganzen im Leben als „aufgeschlossen“, im Vergleich zur ersten Existenzweise des Lebens bzw. zum abgeschlossenen Dasein. Dazu vgl. ders.: Güterbegriff und Handlungstheorie (1992), 208. 4 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), in: SchlW, Bd. I.7, hg. von Wilhelm G. Jacobs und Paul Ziche, Stuttgart 2001, 143 und 146.

1 Die Grundelemente der Handlungstheorie



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Erkennen und Darstellen: „Im vernünftigen Leben ist das in sich Aufnehmen ein Erkennen, Einsehn, das aus sich Hervorbringen ein Darstellen, die Zeugung nur ein Darstellen der Natur, die Kunst ein Darstellen der Idee.“ (Brouillon 88) Während das Aus-sich-Hervorbringen auf der zweiten Stufe des Lebens als Zeugung „nur ein Darstellen der Natur“ ist, wird diese Tätigkeit hier im vernünftigen Leben Kunst – eine Darstellung der Idee. Somit ist für den Autor der Unterschied zwischen zwei Ebenen beim Menschen, nämlich zwischen den Funktionen des Menschen als Natur und denen des durch die Vernunft beseelten Menschen, größer als der Unterschied zwischen den ersten zwei Ebenen des Lebens, nämlich zwischen den Funktionen des Tiers und denen des Menschen als Natur. Dies erklärt er mit der folgenden Aussage noch deutlicher: „Denn bei dem ersten [sc. Menschen als Natur] hat doch alles nur eine Beziehung auf die Persönlichkeit, auf das Gefühl und das organische Bedürfniß. In der Vernunftbeseelung soll alles Aufnehmen und Darstellen sich auf die Ideen beziehen und Ideen enthalten, ja auch die persönliche Beziehung soll nur so mitgegeben sein.“ (Brouillon 90) Während auf der Ebene des Menschen als Naturwesen nur eine Beziehung des Einzelnen auf die Persönlichkeit und die Sinnlichkeit gegeben wird, handelt es sich auf der Ebene des Menschen als durch die Vernunft beseelt um die Beziehung des Einzelnen auf die Ideen. Da in dieser Beziehung jene persönliche Beziehung mitgegeben ist, ist die Beziehung des Einzelnen auf die Ideen zugleich auch „die Vereinigung der Idee mit der Organisation“ (Brouillon 153). Diese Aussage über das vernünftige Leben gehört zu den wichtigsten Thesen der Handlungstheorie Schleiermachers und hat eine große Bedeutung für seine Interpretation des menschlichen Handelns. Deshalb wird sie uns auch in anderen Zusammenhängen unserer Untersuchung begegnen. Produziert das Erkennen und das Darstellen im vernünftigen Leben das, was in der Idee liegt, so ist die Vereinigung des abgeschlossenen Daseins mit dem Ganzen auf diesen höchsten Stufen ein Hervorbringen des Guten und soll ein sittliches Leben zur Folge haben. Schleiermacher bezeichnet diese Wechselwirkung von Erkennen-Einsehen und Darstellen deshalb als „Oscillation des sittlichen Lebens“ (Brouillon 88),5 und die Gemeinschaft des abgeschlossenen Daseins mit dem Ganzen in einem vernünftigen Leben ist nur durch jene Wechselwirkung ermöglicht – „keins von beiden kann ohne das andere gedacht werden“ (ebd.). Mit dieser wichtigen „Oscillation des sittlichen Lebens“ – der Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen – ist eine zweite Oszillation des Lebens verbunden – die Wechselwirkung von Setzen eines Persönlichen und Zeitlichen und das Aufheben der persönlichen

5 Vgl. auch Brouillon, 96: „Diese Oscillation kommt nun in jeder Function der Natur im sittlichen Leben vor.“

194  Kapitel 3 Die handlungstheoretische Grundlegung der Kulturtheorie

und zeitlichen Beschränkung.6 Auf diese zweite Oszillation des Lebens wollen wir im Folgenden kurz eingehen. Wir haben im Vorangehenden gesehen, dass für Schleiermacher die „Beseelung der menschlichen Natur“ nur durch die Vernunft verwirklicht wird. Erst in der Wechselwirkung von Einsehen und Darstellen im vernünftigen Leben bildet sich die Vernunft. Dadurch ist die Vernunft die Seele in jedem Individuum und sie wird von der Persönlichkeit und Zeitlichkeit des Individuums beschränkt. Denn „indem die Vernunft Seele wird, wird sie in Persönlichkeiten zertheilt, in Raum und Zeit versezt. Ihr Erkennen hat nun immer eine persönliche Beziehung, ihr Darstellen ist für die Person und für den Moment“ (Brouillon 89). Dieser Vorgang wird das „Sezen eines Persönlichen und Zeitlichen“ (ebd.) – die Gestaltung oder Bestimmung der Persönlichkeit und Zeitlichkeit – genannt. Wie gesehen liegt die Gemeinschaft des abgeschlossenen Daseins mit dem Ganzen im vernünftigen Leben – die Wechselwirkung von Einsehen und Darstellen – für Schleiermacher nur in der Idee. Daher hebt er zugleich hervor: „Die Ideen aber sind gar nicht in der Zeit und in einem endlichen Mittelpunkt. Soll sie [sc. die Idee] also als beseelendes Princip auch ihre Natur als Vernunft behalten, so muß diese Beschränkung aufgehoben werden.“ (ebd.) Das Eingehen der Vernunft in Persönlichkeit und Zeitlichkeit und die Nicht-Zeitlichkeit der Ideen bringen eine Ambivalenz ins vernünftige Leben. Die Aufhebung der persönlichen und zeitlichen Beschränkung gilt als erste Bedingung für die Beseelung der menschlichen Natur, für die Gemeinschaft des abgeschlossenen Daseins mit dem Ganzen in einem sittlichen Leben. Aus dieser komplexen Situation ergibt sich für Schleiermacher eine zweite Oszillation des sittlichen Lebens: „Dieses Sezen eines Persönlichen und Zeitlichen und Aufheben der Persönlichkeit und der Zeit“ (ebd.). Diese Oszillationsweise gilt als ein zweiter Schlüsselpunkt für das sittliche Leben. Die Frage nach dem Aufheben der persönlichen und zeitlichen Beschränkung im vernünftigen Leben gehört zu den Grundfragen der Handlungstheorie Schleiermachers. Die zwei Oszillationen des sittlichen Lebens – Oszillation von Erkennen und Darstellen einerseits, Oszillation von Setzen eines Persönlichen und Zeitlichen sowie Aufheben der persönlichen und zeitlichen Beschränkung andererseits – sind auf die Weise miteinander verbunden, dass die zweite Oszillation nur vermöge der ersten erfolgt: „[D]urch jedes Erkennen wird ein Persönliches gesezt. Durch jedes Darstellen wird die Persönlichkeit darin aufgehoben“ (ebd.). Zwar weist der Autor auf den engen Zusammenhang beider Oszillationen bereits hier deutlich hin, aber inwiefern das Setzen und das Aufheben der persönlichen und zeitlichen Beschränkung im Vorgang der Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen geschieht, wird in dieser Einleitung nicht geklärt.

6 Der Gedanke der Wechselwirkung gilt als Ausgangspunkt für die Entfaltung des philosophischen Systems Schleiermachers. Dazu vgl. Sarah Schmidt: Die Konstruktion des Endlichen (2005).

1 Die Grundelemente der Handlungstheorie



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Als Ergebnis dieser einführenden Diskussion zur Bestimmung des Lebens wollen wir drei wichtige Punkte festhalten: 1. Das Leben ist durch das abgeschlossene Dasein und seine Vereinigung mit dem Ganzen zu bestimmen. Das Leben befindet sich immer in der Wechselwirkung des Ichs mit dem Nicht-Ich. 2. Die Gemeinschaft des abgeschlossenen Daseins mit dem Ganzen interpretiert Schleiermacher – nach dem naturphilosophischen Grundmodell des Geistes – als zwei miteinander verbundene Tätigkeiten des Geistes: Attraktion und Repulsion. Auf verschiedenen Ebenen des Lebens zeigen sich diese beiden Tätigkeiten auf unterschiedliche Weise. Auf der höchsten Ebene bzw. im vernünftigen Leben des Menschen modifizieren sie sich als Erkennen und Darstellen. 3. Es gibt zwei miteinander verbundene Oszillationen im sittlichen Leben: Die eine ist die Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen; die andere ist die Wechselwirkung von Setzen eines Persönlichen und Zeitlichen und Aufheben der persönlichen und zeitlichen Beschränkung. Auf der Basis dieser Bestimmung des Lebens lässt sich nach Schleiermacher das gesamte menschliche Handeln entfalten.

1.2 Das Quadruplizitätsschema menschlicher Handlung Schleiermachers handlungstheoretische Kulturphilosophie ist durch ein Quadruplizitätsschema gekennzeichnet. In seiner Interpretation des menschlichen Handelns baut er dieses Schema auf zwei relative Gegensätze auf und gliedert dadurch die Welt der Kultur. Dem ersten Gegensatz geht es um die Funktion menschlichen Handelns: Es gibt zwei Grundtypen menschlichen Handelns – Organisieren und Symbolisieren. Der zweite Gegensatz betrifft den Handlungsträger: entweder alle Menschen als Handlungsträger oder der einzelne Mensch als Handlungsträger. Die beiden Differenzierungsweisen überkreuzen einander und haben vier Tätigkeiten der Vernunft zur Folge: identisches Organisieren, individuelles Organisieren, identisches Symbolisieren und individuelles Symbolisieren. Diese sich aus dem Quadruplizitätsschema ergebenden vier Handlungstätigkeiten erschöpfen den gesamten Bereich dessen, was wir heute „Kultur“ nennen.7 In dieses Schema zeichnet nun Schleiermacher auch Religion ein und begreift sie mithin als ein Kulturphänomen. Für ihn ist Religion eine der vier Handlungstätigkeiten der Vernunft; genauer ge-

7 Zum Aufbau des handlungstheoretischen Schemas in Schleiermachers Philosophischer Ethik vgl. Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre (1964), 39–46; Theodor Jørgensen: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis (1977), 25–42; Wilhelm Gräb: Humanität und Christentumsgeschichte (1980), 43–55; Gunter Scholtz: Ethik als Theorie der modernen Kultur (1983/1995), 31–46; Michael Moxter: Güterbegriff und Handlungstheorie (1992), 219–220; Sarah Schmidt: Analogie versus Wechselwirkung – Zur „Symphilosophie“ zwischen Schleiermacher und Steffens (2013), in: Andreas Arndt (Hg.): Friedrich Schleiermacher in Halle 1804–1807 (2013), 91– 114, hierzu 111–112.

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nommen gehört sie im Rahmen dieses Quadruplizitätsschemas zur Handlungssphäre des individuellen Symbolisierens. In Hinsicht auf das Ziel unserer Abhandlung, die kulturtheoretische Einordnung des Verhältnisses von Religion und Individualität in seiner Philosophischen Ethik zu rekonstruieren, wird unsere Untersuchung sich auf die Handlungssphäre des individuellen Symbolisierens fokussieren. Bei Schleiermacher, für den die vier Tätigkeiten den gesamten Bereich menschlichen Handelns erschöpfen, kann kaum eine Handlungssphäre ohne ihren Kontext in diesem Quadruplizitätsschema interpretiert werden.8 Deshalb sei eine Darstellung des Gesamtschemas seiner Handlungstheorie im Brouillon zur Ethik, wo der Autor das Bild dieses Schemas nicht gerade ausführlich, aber zum ersten Mal systematisch vorlegt, hier vorangestellt. Unsere Darstellung von Schleiermachers Quadruplizitätsschema wird in zwei Schritten erfolgen: Zunächst werden die wesentlichen Aufbaumomente dieses Schemas – die beiden Gegensätze – aufgekärt (1.2.1), auf dieser Basis gehen wir sodann auf das Spektrum der Kultur bzw. auf vier Handlungsgebiete ein (1.2.2). 1.2.1 Die Aufbaumomente des Quadruplizitätsschemas 1.2.1.1 Die Handlungstypen: Organisieren und Symbolisieren Schleiermachers Beschreibung des menschlichen Handelns geht vom Grundgedanken aus, dass Vernunft und Natur einerseits eine Einheit bilden, andererseits in einem Gegensatz stehen. Diese Verhältnisbestimmung von Vernunft und Natur ist wahrscheinlich von der über seinen halleschen Kollegen Henrich Steffens (1773– 1845) vermittelten romantischen, Schelling nahestehenden, Naturphilosophie beeinflusst. Dieser naturphilosophische Einfluss kann als Resultat von Schleiermachers Auseinandersetzung mit Schelling während seiner halleschen Professur betrachtet werden.9 Die Vereinigung und die Gegenüberstellung von Vernunft und Natur ist bereits durch das Prinzip seiner Philosophischen Ethik zu fassen: „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“ (Brouillon 87) – jedes Handeln firmiert als Handeln der Vernunft auf die Natur durch die Beseelung. Dabei wird die Natur,

8 Vgl. Brouillon, 92: „Erstlich: keines von den vier Gliedern kann in seinem ganzen Umfang recht verstanden werden ohne das andere, weil jedes auf alle zurückweiset. Daher man in allen zugleich fortschreiten muß, erst der Umriß, dann die weitere Auszeichnung. Zweitens, daß jedes recht betrachtet das Ganze der Sittlichkeit in sich enthält“. 9 Wie bereits erwähnt, kann Schleiermachers philosophische Auseinandersetzung mit Schelling in zwei Phasen unterteilt werden (vgl. oben: 46). Zu seiner philosophischen Auseinandersetzung mit Schelling während seiner halleschen Professur vgl. Hermann Süskind: Der Einfluss Schellings (1909), bes. 57–98 und 109–134. Nach Süßkind gilt diese Auseinandersetzung mit Schelling als „treibende[r] Faktor in der Entwicklung von Schleiermachers Systems“ (a. a. O., 57), und nicht erst seit 1804, nämlich seit seiner Professur in Halle, „sondern schon seit 1802“ (ebd.). Zu Schleiermachers Verhältnis zu Henrich Steffens vgl. a. a. O., 196–203; und Sarah Schmidt: Analogie versus Wechselwirkung (2013).

1 Die Grundelemente der Handlungstheorie

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die mit der Vernunft vereinigt ist, und die Natur, die außerhalb des menschlichen Lebewesens existiert, unterschieden. Bei der Beschreibung des menschlichen Handelns lassen sich nun auf der Basis dieses Grundprinzips seiner Philosophischen Ethik zwei Handlungstypen als grundsätzliche Formen unterscheiden: „Bilden der Natur zum Organ und Gebrauch des Organs zum Handeln der Vernunft“ (Brouillon 89). Jene Handlungsweise wird im Brouillon zur Ethik die organisierende (bildende) Funktion, diese wird hier die erkennende Funktion genannt und in der Philosophischen Ethik seiner Reifezeit (1812–1817) präziser als bezeichnende Tätigkeit bestimmt. Sie sind beide Funktionen des Lebens und stehen „mit einander in relativen Gegensäzen“ und „in nothwendiger Verbindung“ (Brouillon 88). Alles menschliche Handeln kann auf diese beiden Grundtypen zurückgeführt werden: „Andere giebt es nicht als diese. Denn in diesen ist das Wesen des beseelenden Princips erschöpft.“ (Brouillon 89–90) Die beiden Funktionen stehen in der Weise „in nothwendiger Verbindung“ (Brouillon 88), dass „Organbildung nur durch Organgebrauch erfolgt“ (Brouillon 103). Insofern kann jede der beiden Handlungsweisen der Vernunft nur im Zusammenhang mit der jeweils anderen erklärt werden. Wir fangen mit der organisierenden Tätigkeit an. Organisieren ist ein schwieriger und bislang unzureichend geklärter Begriff in der Handlungstheorie Schleiermachers. Terminologisch geht das Organisieren als ein Grundtyp menschlichen Handelns auf den antiken Begriff „Organon“ (ὄργανον) zurück. Da das Organon die ursprüngliche Bedeutung von Werkzeug, Instrument und Mittel hat,10 bedeutet der Begriff „Organisieren“ hier für Schleiermacher: sich etwas zum Werkzeug machen. Deshalb heißt „Bilden der Natur zum Organ“ die Bildung oder die Gestaltung der Natur zum Werkzeug der Vernunft.11 Diese organisierende Funktion des Lebens hat die Aufgabe, die menschliche Natur zum Werkzeug der Vernunft zu bilden. Diese Bestimmung wird durch die folgende Aussage präziser gefasst: „Die Vernunft eignet sich die Natur an als Organ des Erkennens und des Ideendarstellens.“ (Brouillon 103) Der erste Teil dieser Aussage zeigt, dass die organisierende Tätigkeit der Vernunft zuerst „Aneignung der Natur“ (Brouillon 116) ist. Was Werkzeug der Vernunft wird, ist „nicht als Natur gegeben, sondern ist nur zu denken als Resultat der Beseelung durch Vernunft“ (Brouillon 103). So hat die Vernunft hierbei das „Geschäft“, das organische (tierische) Vermögen „zur Potenz der Idee“ (ebd.) zu erheben.12 Darauf folgt der Befund, dass die organisierende Tätigkeit als Aneignung der Natur ein Vorgang der Beseelung der Natur durch Vernunft ist. Blickt man an dieser Stelle zurück auf die vorher begegnete These Schleiermachers, dass das Gute in sei-

10 Vgl. Reinhard Finster: Art. Organon (1984), in: HWPh, Bd. 6, 1363–1368. 11 Zur Interpretation der organisierenden Tätigkeit vgl. Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre (1964), 39. 12 Mehr dazu vgl. Brouillon, 103.

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ner Güterlehre in der Bejahung dessen besteht, was in der Idee liegt, so ist hier deutlich, dass die organisierende Tätigkeit zum sittlichen Leben gehört. Den zweiten Teil der zitierten Aussage – „als Organ des Erkennens und des Ideendarstellens“ – verdeutlicht der Autor mit folgender Erklärung: „Die Vernunft bildet sich für jede bestimmte Art des Erkennens und Darstellens ein eignes Organsystem = Talent. Und so ist der Inhalt des Ganzen die vollkommene Ausbildung aller Talente“. (Brouillon 104) Die Aneignung der Natur durch die Vernunft hat „ein eigenes Organsystem“ zur Voraussetzung, dies bezeichnet Schleiermacher als Talent. Das Talent ist hier für Schleiermacher das Kombinationsvermögen.13 Demnach ist es deutlich, dass die organisierende Tätigkeit der Vernunft zugleich auch „Ausbildung des Talents“ (Brouillon 116) ist – eine Ausbildung des Kombinationsvermögens. Bisher war zu sehen, dass Schleiermacher die organisierende Tätigkeit durch zwei als ein Ganzes dargestellte Vorgänge konkretisiert: Aneignung der Natur und Ausbildung des Talents. Der Begriff des Talents ist ein wichtiger Begriff in der Philosophischen Ethik Schleiermachers, worauf wir noch zurückkommen werden.14 Unmittelbar mit dieser organisierenden (bildenden) Tätigkeit verbunden ist die erkennende (symbolisierende) Tätigkeit – „Gebrauch des Organs zum Handeln der Vernunft“. In den nachfolgenden Vorlesungsstunden nennt Schleiermacher diese Tätigkeit auch „Gebrauch der Natur als Organ des Erkennens“ (Brouillon 96) oder „Vernunftgebrauch der Natur“ (Brouillon 97). Diese Handlungsweise hat das Ziel, das von der organisierenden Tätigkeit Gebildete zu erkennen und zu bezeichnen – „Gebrauch der Organe zum Wissen und Darstellen“ (Brouillon 90), um Erkennbarkeit schließlich herzustellen.15 Dies ist durch die Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen im sittlichen Leben zu realisieren. Bisher konnten wir zwei Begriffe des Erkennens in der Handlungstheorie Schleiermachers fassen: das Erkennen als erkennende Tätigkeit der Vernunft und das Erkennen als im sittlichen Leben eng mit dem Darstellen verbunden. Schleiermacher präzisiert das Erkennen, das in seiner Diskussion dem Darstellen gegenübersteht, im Manuskript für seine Ethikvorlesung von 1812/1316 in Berlin durch die Modifizierung „Erkennen im engern Sinn“ (Brouillon 259) und verwendet danach den Begriff „Symbolisieren“ oft, um die zwei-

13 Mehr dazu Brouillon, 93–94: „Es soll alles die Stufen der Verbindung durchgehn von Object, Symbol und Organ; alles soll jedes sein nur in verschiedener Beziehung, und zwar nicht für die Persönlichkeit, sondern für die Vernunft. Dies schon ist nur gegeben nach der Organisirung des Physischen. Dieses als Combinationsvermögen gesezt und als Talent. Talent Harmonie einzelner physischer und psychischer Functionen mit einzelnen Qualitäten der Natur. Denkt man es sich abstrahirt vom Erkennen, so bildet es keine Function des sittlichen Lebens. Talent an sich gehört der Persönlichkeit an.“ 14 Zum Begriff des Talents vgl. unten: Kapitel 4. 2.1.2.1 Phantasie. 15 Zur Interpretation der symbolisierenden Tätigkeit vgl. Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre (1964), 39–40. 16 Friedrich Schleiermacher: Ethik 1812/13 (Einleitung und Güterlehre), in: WA II, 241–371; Ethik 1812/13 (Tugend- und Pflichtenlehre), in: WA II, 373–420.

1 Die Grundelemente der Handlungstheorie



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te Handlungsweise der Vernunft bzw. die erkennende Tätigkeit zu bezeichnen. In der vorliegenden Studie werden wir der präzisierten Formulierung Schleiermachers folgen und die zweite Funktion der Vernunft als „die symbolisierende Tätigkeit“ oder „die bezeichnende Tätigkeit“ benennen. Parallel zu der symbolisierenden Tätigkeit verwenden wir somit das Nomen actionis „Symbolisieren“, wenn es um das Handeln selbst geht, und parallel zu der organisierenden Tätigkeit das Nomen actionis „Organisieren“. Für Schleiermacher befindet sich das eigentliche Erkennen „nur im Vermögen der Ideen“ (Brouillon 150), und das Erkennen hat also die Funktion, das sinnliche Wahrnehmen und Empfinden zur Potenz der Idee zu erheben. Demzufolge gehört die symbolisierende Tätigkeit – wie die organisierende Tätigkeit – ebenfalls zum sittlichen Leben. Da Religion – als Zentralthema unserer Untersuchung – im Rahmen der Handlungstheorie Schleiermachers zur Handlungssphäre der symbolisierenden Tätigkeit unter dem Charakter der Individualität gehört, wollen wir im zweiten Teil dieses Kapitels auf seine Erkenntnistheorie näher eingehen und auf dieser Basis dann zu seinem Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik kommen.17 Für Schleiermachers Bestimmung der beiden Grundtypen menschlichen Handelns ist es von grundlegender Bedeutung, dass die beiden Handlungsweisen zwar unterschiedlich sind, aber gleichwohl ursprünglich unzertrennlich. Das ist die Grundlage seiner Handlungstheorie. Das heißt, dass sich die beiden Grundtypen des Handelns der Vernunft auf die Natur in unterschiedlicher Weise vollziehen, sie aber nur als ein Ganzes ihre jeweilige Funktion erfüllen können. Denn „[d]urch den Gebrauch bildet sich das Organ, und durch das Bilden entsteht Erkennbares“ (Brouillon 92). Ohne den Vernunftgebrauch der Natur ist das Bilden des Organs unmöglich; umgekehrt ist das Herstellen der Erkennbarkeit ohne das Bilden des Organs nicht zu denken. So beschreibt er die innere Vereinigung der beiden Handlungsweisen als „in einer nothwendigen Wechselverbindung, in lebendigem organischen Zusammenhang“ (Brouillon 90) stehend. In dieser Aussage besteht das Grundprinzip seiner Handlungstheorie, aber wie diese „Wechselverbindung“ geschieht, hat Schleiermacher im Brouillon zur Ethik nicht hinreichend geklärt. Die Verhältnisbestimmung der beiden Handlungstypen bleibt trotz der vertiefenden Bearbeitung in der Philosophischen Ethik seiner Reifezeit eines der schwierigsten Themen in der Diskussion über Schleiermachers Handlungstheorie. 1.2.1.2 Die Handlungsträger: Gattungsvernunft und individuelle Vernunft Neben der Unterscheidung der Handlungstypen gibt es bei Schleiermacher auch eine Unterscheidung der Handlungsträger. Ist alles Handeln das Handeln der Vernunft auf die Natur, so geht die Diskussion über den Handlungsträger wesentlich

17 Vgl. unten: Kapitel 3. 2. Der ethische Religionsbegriff in einem erkenntnistheoretischen Kontext.

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von der Frage aus, was die Vernunft eigentlich ist. Der Grundgedanke der Vernunfttheorie Schleiermachers in seiner Philosophischen Ethik besteht darin, dass weder reine Vernunft noch empirische Vernunft für sich in Erscheinung treten, sondern die Vernunft sich immer unter den anthropologischen Bedingungen des Menschseins entfaltet und dass Gattungsvernunft und individuelle Vernunft als zwei entgegengesetzte, aber nie abgesonderte Handlungsträger fungieren. In diesem Gedanken verbirgt sich eine Kritik Schleiermachers an dem kantischen Vernunftbegriff. Bevor Schleiermachers eigenem Konzept von Vernunft im Brouillon zur Ethik nachgegangen werden soll, wird es hier deshalb hilfreich sein, die Grundlinie von Kants Verständnis dieser Frage zu skizzieren. In seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk Kritik der reinen Vernunft (1781/ 1787) spricht Kant ausdrücklich von dem Begriff der „reinen Vernunft“. Das Verständnis der reinen Vernunft bei Kant ist eng mit seiner Zwei-Stämme-Theorie der Erkenntnis verbunden. Um seinen Begriff der reinen Vernunft zu begreifen, gehen wir hierbei deshalb zunächst kurz auf seine Zwei-Stämme-Theorie der Erkenntnis ein. Für Kant gibt es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis. Der eine Stamm ist die Sinnlichkeit, sie bestimmt die Anschauung; der zweite Stamm ist der Verstand, er gibt die Regeln. Die sinnliche Anschauung hat die Funktion, einen Gegenstand für den Verstand auszumachen, indem sie die empirischen Daten durch die apriorischen Formen der Anschauung (Raum und Zeit) ordnet und damit erst verfügbar macht. Die sinnliche Anschauung konstituiert allein aber nicht den Gegenstand für das Erkennen. Der Verstand hat die Aufgabe, einen Gegenstand für die Erkenntnis auszumachen, indem er die sinnlich gegebene Mannigfaltigkeit durch die Formen des Verstands (die Kategorien) verbindet. Das Zusammenarbeiten der beiden Stämme konstituiert die Gegenstände der Erkenntnis, während die Vernunft den mannigfaltigen Erkenntnissen des Verstandes eine Einheit a priori durch Begriffe gibt. Das ist der Vorgang des Erkennens für Kant. Trotzdem ist die reine Vernunft für Kant aber „schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig“.18 Das ist das Grundprinzip des kantischen Vernunftbegriffs, das mit dem inneren Zusammenhang und dem Unterschied von Verstand und Vernunft verbunden ist. Das Verhältnis von Verstand und Vernunft artikuliert Kant in der folgenden Passage: „Der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinung vermittels der Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipen. Sie geht also niemals zunächst auf Erfahrung, oder auf irgend einen Gegenstand, sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heißen mag, und von ganz anderer Art ist, als sie von dem Verstand geleistet werden kann.“19 Ebenso wie die sinnliche Anschauung, die einen Gegenstand für den Verstand ausmacht, macht der Verstand

18 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781/1787), B3. 19 A. a. O., A302/B359.

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auch einen Gegenstand für die Vernunft aus. Aber diese Aussage macht zugleich deutlich, dass die Vernunft als „das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipen“ fern von der Erfahrung bleibt – sie geht nur auf den Verstand. Der Gegensatz von „rein“ ist für Kant „empirisch“. Empirisch ist nur a posteriori möglich. So besteht der Schlüsselpunkt des Ausdrucks „rein“ in Kants Erkenntnistheorie nicht in „a priori“, sondern darin, dass der Erkenntnis nichts Empirisches beigemischt ist.20 Die reine Vernunft ist somit bei Kant eine von der Erfahrung unabhängige spekulative Einheit der Erkenntnis, sie hat das Geschäft, „[d]ie Einheit aller möglichen empirischen Verstandeshandlung systematisch zu machen“.21 Für Schleiermacher ist Kants Begriff der reinen Vernunft unsachgemäß: Sie ist ein Grenzbegriff, den es in der Wirklichkeit nie geben kann. Denn die Vernunft ist immer eine anthropologisch zum Vollzug gebrachte Vernunft. Ausgehend von dem naturphilosophischen Grundsatz seiner Handlungstheorie – „der Mensch wird uns gegeben als Naturwesen von der Naturphilosophie“ (Brouillon 150) und unter Anlehnung an den naturphilosophischen Unterschied von Gattung und Individuum differenziert Schleiermacher die Vernunft als identische Vernunft (Gattungsvernunft) und individuelle Vernunft: „die Vernunft an sich“ (Brouillon 96, 111, 117 und 159) oder „die Vernunft überhaupt“ (Brouillon 91, 94 und 116) und „die Vernunft als Seele des Einzelnen“ (Brouillon 91 und 159).22 Die Gattungsvernunft setzt voraus, dass alle Menschen als Exemplare der Gattung identisch sind; die individuelle Vernunft geht davon aus, dass jeder einzelne Mensch als ein Individuum von jedem Exemplar unterschieden ist. Dass die Individualität des Menschen mit dem Menschwerden an sich verbunden ist, gehört zu den Grundgedanken des Individualitätskonzepts Schleiermachers in den Monologen (1800). Diese naturphilosophische Differenz von Gattung und Individuum bzw. von Identität und Individualität bestimmt die Vernunft und bildet das zweite Aufbaumoment für das Quadruplizitätsschema. Die Gattungsvernunft und die individuelle Vernunft sind die beiden relativ entgegengesetzten Handlungsträger in diesem Schema. In dieser Differenz tritt die Vernunft also unter verschiedenen Charakteren auf. Im Kontext der Differenz von zwei Grundtypen menschlichen Handelns – Organisieren und Symbolisieren – konstatiert Schleiermacher nun, dass die beiden Funktionen des Lebens jeweils einen der beiden Charaktere der Vernunft haben:

20 Vgl. a. a. O., B3: „Von den Erkenntnissen a priori heißen aber diejenigen rein, denen gar nichts Empirisches beigemischt ist.“ 21 Vgl. a. a. O., A664/B692. 22 Die Gattungsvernunft und die individuelle Vernunft im Brouillon zur Ethik werden auch in weiteren Ausdrücken gefasst: Für die Gattungsvernunft gibt es „die Vernunft mit dem Charakter ihrer ursprünglichen Freiheit und Einheit“ (Brouillon 91), „die Vernunft im Ganzen“ (Brouillon 94), „die Gesamtvernunft der Einzelnen“ (ebd.) und die „Vernunft als Geist des Ganzen“ (Brouillon 211); die individuelle Vernunft wird die „[Vernunft] als einwohnender Geist der einzelnen Organisation“ (ebd.) genannt.

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Entweder dass „mehr der Charakter der Identität der Vernunft“ oder „mehr der Charakter der Individualität hervortritt“ (Brouillon 90). Das heißt, wenn ein Charakter bei einer Handlungsweise mehr hervortritt – zum Beispiel „das Bilden der Organe mit hervorstehendem Charakter der Individualität“ (ebd.), so muss der andere Charakter – der Charakter der Identität – in dieser Tätigkeit „eingeprägt“ und „untergeordnet“ (ebd.) sein. Aus dem Sich-Überkreuzen der beiden Handlungsweisen mit zwei verschiedenen Charakteren der Vernunft ergeben sich nun vier Handlungstätigkeiten der Vernunft: identisches Organisieren, individuelles Organisieren, identisches Symbolisieren und individuelles Symbolisieren. Durch den Ausdruck – „mehr […] hervortritt“, im Vergleich zu „eingeprägt“ und „untergeordnet“ – wird hier deutlich, dass das Hervortreten eines Charakters der Vernunft in jeder Handlungsweise „nur relativ“ (ebd.) zu verstehen ist.23 „Was leisten nun die beiden relativ entgegengesezten Charaktere dieser Functionen?“ (Brouillon 91) – so stellt sich Schleiermacher die Frage zur Bedeutung dieser beiden Charaktere der Vernunft als Handlungsträger in den Funktionen des Lebens. In Bezug auf die identische Vernunft heißt es: „Was die Vernunft mit dem Charakter ihrer ursprünglichen Freiheit und Einheit bildet, das hat keine persönliche Geltung. Für wen also? Für die Vernunft überhaupt, wie sie als überhaupt und nicht als persönlich beseelendes Princip gebildet hat.“ (ebd.) In dieser Aussage ist vorerst eine nähere Bestimmung der identischen Vernunft zu sehen – die Vernunft „als überhaupt und nicht als persönlich beseelendes Princip“: „als überhaupt“ deutet an, dass das, was die identische Vernunft als Handlungsträger bildet, jedem Einzelnen bedingungslos verfügbar ist; „nicht als persönlich beseelendes Princip“ heißt, dass die identische Vernunft zwar im menschlichen Handeln als ein beseelendes Prinzip – „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“ – dient, aber nicht persönlich. Dazu kommt: „Die Vernunft ist aber nur in den Persönlichkeiten vertheilt gegeben, also für die Gesamtheit der Persönlichkeiten, für die Gemeinschaft“ (ebd.). Die identische Vernunft ist kein abstrakter gemeinsamer Handlungsträger für alle Einzelnen, weil ein solches Subjekt niemals existiert. Was die identische Vernunft als Gattungsvernunft bildet, ist für die Gemeinschaft, ist also „ein absolut Gemeinschaftliches“ (ebd.). Dieses „absolut“ ist von Schleiermacher nicht im Sinne von „rein“ oder „letzt“ gemeint, denn „das absolut Gemeinschaftliche soll wieder ein Individuelles werden; das Individuelle soll wieder in eine Gemeinschaft treten“ (ebd.). Hier bezieht sich „absolut“ auf die Tatsache, dass das, was die Gattungsvernunft bildet, unbedingt ein Gemeinschaftliches sein muss. Die Kombinati-

23 Vgl. Brouillon, 92: „Die Eigenthümlichkeit wäre keine, wenn sie nicht in Gemeinschaft träte: denn sie existirt nur relativ gegen andere. Und die Gemeinschaft hätte kein Fundament, wenn es nicht die Eigenthümlichkeit wäre.“ Und Brouillon, 159: „In facto ist also immer nur von einem relativen Hervortreten die Rede, wobei als Bewährung dafür, daß der Gegensaz nicht etwa eine bloße Fiction ist, allemal ein nie ganz gelingendes Bestreben sich findet das Gegentheil auszuschließen.“

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on einer Handlungsweise mit der identischen Vernunft beschreibt er dann so: „Die Beziehung einer Thätigkeit auf die Vernunft an sich offenbart sich nicht nur durch das Hinausgehn über die Persönlichkeit, welches nur ein negativer Gedanke wäre, sondern durch die Beziehung auf die Totalität aller Persönlichkeiten, nemlich auf die ihnen einwohnende Vernunft, […] also auf die ganze Vernunft an sich.“ (Brouillon 111) Hierbei ist zu erkennen, dass eine Handlungsweise mit dem primären Charakter der Identität nur durch zwei verschränkte Vorgänge zu verwirklichen ist: Einerseits ist sie ein Vorgang des Überschreitens der Persönlichkeit; andererseits ist sie ein Vorgang des Aufbaus einer Beziehung auf die ganze Vernunft an sich, die jedem Individuum einwohnt. Im Gegensatz zur identischen Vernunft hat die individuelle Vernunft als Handlungsträger in den Funktionen des Lebens das Individuelle zur Folge: „Was die Vernunft als Seele des Einzelnen bildet, das soll auch den Charakter der Eigenthümlichkeit haben und für ihn abgeschlossen sein.“ (Brouillon 91) Wenn etwas Individuelles für einen handelnden Einzelnen etwas Abgeschlossenes ist, dann ist es den Anderen unzugänglich. Damit verbunden bringt Schleiermacher einen wichtigen Begriff ins Spiel: die Unübertragbarkeit. „Dem Individuellen schreiben wir nemlich den Charakter der Unübertragbarkeit zu.“ (Brouillon 92) Für Schleiermacher gilt die Unübertragbarkeit als allererstes Kennzeichen für Individualität. Sie betrifft nicht nur die individuelle Vernunft bzw. die Vernunft im individuellen Gebrauch eines Individuums, sondern auch das individuelle Handeln an sich. In Bezug auf beide Handlungstätigkeiten heißt Unübertragbarkeit: „Das angebildete Organ, insofern es Organ der Eigenthümlichkeit ist, kann es nicht eines Anderen werden. Die Erkenntniß, insofern Eigenthümlichkeit in ihr niedergelegt ist, kann nicht eben so lebendige Erkenntniß seines Anderen werden.“ (ebd.) Daraus ist zu ersehen, dass sich die Unübertragbarkeit gegen die Anderen oder das Nicht-Ich richtet. Dass das Individuelle auf die Anderen nicht übertragbar ist, bedeutet, dass das Individuelle den Anderen unzugänglich ist. An dieser Stelle ist noch darauf zu verweisen, dass die Unübertragbarkeit bei Schleiermacher sich nicht nur auf die Individualität des Einzelnen bezieht, sondern auch auf die gemeinschaftliche Individualität, wenn die Individualität die Identität einer bestimmten Gemeinschaft vertritt. So kann sich die Unübertragbarkeit auch gegen die Anderen richten, die nicht zu dieser bestimmten Gemeinschaft mit einer individuellen Identität gehören. Da die Unübertragbarkeit einen zentralen Begriff in der Handlungstheorie Schleiermachers, vor allem für seine Darstellung individuellen Handelns, darstellt, wird uns dieser Begriff in verschiedenen Zusammenhängen unserer Untersuchung wieder begegnen und näher zu klären sein. Im Vorangehenden haben wir gesehen, dass der Autor an verschiedenen Stellen immer wieder hervorhebt, dass die beiden Charaktere des Handlungsträgers bzw. die Identität und die Individualität der Vernunft nur in einer relativ entgegengesetzten Beziehung stehen: Jeder dieser beiden Charaktere kommt nur relativ gegenüber dem anderen vor. Dies führt nun aber weiter zu der wichtigen Frage: Gibt es einen

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inneren Zusammenhang zwischen den beiden relativ entgegengesetzten Charakteren der Vernunft? Dieser innere Zusammenhang besteht bei Schleiermacher darin, dass der übergeordnete Charakter den untergeordneten Charakter prägen kann. Diese Einprägung beschreibt der Autor folgendermaßen: „Die Aufgabe jedem den entgegengesezten Charakter einzuprägen bedeutet also: das absolut Gemeinschaftliche soll wieder ein Individuelles werden; das Individuelle soll wieder in eine Gemeinschaft treten.“ (Brouillon 91) Durch die Einprägung ist eine absolute Entgegensetzung beider Charaktere ausgeschlossen. Damit verbunden ist folgender Sachverhalt: „Beide Charaktere kommen in facto nicht abgesondert vor“ (Brouillon 159).24 Aber entscheidend ist hier die Frage, worin der innere Grund für diese Einprägung besteht. Dies macht Schleiermacher erst in einer späteren Vorlesungsstunde zur Tugendlehre deutlich: „Wenn man von der Grundanschauung des Lebens ausgeht, so ist eben das zwiefache Verhältniß der Vernunft als Geist des Ganzen und als einwohnender Geist der einzelnen Organisation die Spannung, in welcher das sittliche Leben beruht, und die immer aufgehoben wird und sich auch immer wieder herstellt, wenn das Einzelne bestehen soll.“ (Brouillon 211) Wir haben in der Diskussion zur Bestimmung des Lebens bereits dargestellt, dass das sittliche Leben für Schleiermacher auf zwei miteinander verbundenen Oszillationen beruht: Die eine ist die Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen; die Andere ist die Wechselwirkung von Setzen eines Persönlichen und Zeitlichen und Aufheben der persönlichen und zeitlichen Beschränkung.25 Vor diesem Hintergrund kann die zitierte Passage wie folgt interpretiert werden: Schleiermacher betrachtet die relativ entgegengesetzte Beziehung zwischen der Gattungsvernunft und der individuellen Vernunft als eine dem sittlichen Leben einwohnende Spannung. Von daher gründet sich der innere Zusammenhang zwischen beiden Charakteren auf das sittliche Leben. Der Vorgang, dass das Gemeinschaftliche wieder ein Individuelles werden soll, ist das Setzen eines Persönlichen und Zeitlichen; der Vorgang, dass das Individuelle wieder ein Gemeinschaftliches werden soll, ist das Aufheben der persönlichen und zeitlichen Beschränkung. Dadurch kann der innere Zusammenhang zwischen den beiden relativ entgegengesetzten Charakteren der Vernunft als Oszillation von Setzen eines Persönlichen und Zeitlichen und Aufheben der persönlichen und zeitlichen Beschränkung verstanden werden. Vor dem Hintergrund der Grundlinie des kantischen Vernunftbegriffs haben wir bisher Schleiermachers Vernunfttheorie im Brouillon zur Ethik dargestellt. In seinen Gedanken ist die Vernunft durch zwei gegengesetzte Charaktere gekennzeichnet

24 Vgl. Brouillon, 159: „Beide Charakter kommen in facto nicht abgesondert vor; […] In facto ist also immer nur von einem relativen Hervortreten die Rede, wobei als Bewährung dafür, daß der Gegensaz nicht etwa eine bloße Fiction ist, allemal ein nie ganz gelingendes Bestreben sich findet das Gegentheil auszuschließen.“ 25 Vgl. oben: Kapitel 3. 1.2.1: Die Bestimmung des Lebens.

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und daraus bilden sich zwei Handlungsträger seines Quadruplizitätsschemas. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Bei Schleiermacher handelt es sich bei der Identität der Vernunft um die Gattungsvernunft, um das Gattungsallgemeine in der Vernunft; die Individualität der Vernunft betrifft die Vernunft im individuellen Gebrauch eines Individuums. Diese Differenz ist mit der naturphilosophischen Betrachtung des Menschen als eines vernunftbegabten Naturwesens unmittelbar verbunden. Es ist hierbei hervorzuheben, dass Schleiermachers Begriff der identischen Vernunft – „die Vernunft an sich“ – nicht mit Kants Begriff der reinen Vernunft zu verwechseln ist. Während die reine Vernunft bei Kant eine von der Erfahrung unabhängige spekulative Einheit des Menschen ist, bezieht sich die identische Vernunft bei Schleiermacher auf die Gattungsallgemeinheit, die aber immer in der Spannung von Gattung und Individuum des Menschen als Naturwesen steht. Das heißt, dass die identische Vernunft als Gattungsallgemeinheit immer ihren entgegengesetzten Charakter bzw. den durch die anthropologischen Bedingungen des Menschen gegebenen Charakter der Individualität annimmt. Die Unübertragbarkeit gilt als Kennzeichen für das Individuelle – die individuelle Vernunft und das individuelle Handeln. Beide Charaktere der Vernunft kommen für Schleiermacher nie abgesondert vor, weil sie sich immer in einer relativ entgegengesetzten Beziehung befinden. Diese relative Entgegensetzung ist auf die Grundanschauung des Lebens zurückzuführen, genauer genommen auf die Wechselwirkung von Setzen eines Persönlichen und Zeitlichen und Aufheben der persönlichen und zeitlichen Beschränkung im sittlichen Leben an sich. Die Differenz von Gattungsvernunft und individueller Vernunft wird in der Philosophischen Ethik seiner Berliner Reifezeit durch die Gegenüberstellung von Gattungsbewusstsein und unmittelbarem Selbstbewusstsein präzisiert. Auf dieses Thema werden wir deshalb später an der entsprechenden Stelle noch einmal zurückkommen. Die Unterscheidung von identischer und individueller Vernunft im Brouillon zur Ethik bildet für Schleiermacher nicht nur zwei Handlungsträger seines Quadruplizitätsschemas, sondern sie bringt auch eine vernunfttheoretische Interpretation der Individualität mit sich. Damit bereichert Schleiermacher sein bereits in den Monologen vorgelegtes Individualitätskonzept um eine vernunfttheoretische Dimension. Die Entwicklung seiner Individualitätstheorie in dieser frühen Ethikvorlesung ist ebenfalls durch die Zuschreibung der Unübertragbarkeit als Kennzeichen der Individualität zu erkennen. 1.2.2 Das Spektrum der modernen Kultur: die vier Handlungsgebiete Nachdem die Aufbaumomente des Quadruplizitätsschemas menschlicher Handlung im Brouillon zur Ethik aufgeklärt wurden, sollen jetzt die vier Handlungsgebiete bzw. die vier Kulturfelder unter diesem Schema betrachtet werden, um uns für unsere weitere Untersuchung einen Überblick über seine Beschreibung des Gesamt-

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spektrums der Kultur zu verschaffen. Wir werden zunächst auf die beiden identischen, dann auf die beiden individuellen Handlungsgebiete eingehen. 1.2.2.1 Identisches Organisieren Ist die organisierende Tätigkeit die Aneignung der Natur und die Ausbildung des Talents, so ist das identische Organisieren an sich dasselbe, aber unter dem Charakter der Gemeinschaftlichkeit – es bezieht sich auf die identische Vernunft bzw. auf die Vernunft überhaupt. In der allgemeinen Übersicht interpretiert der Autor diese Handlungstätigkeit anhand von drei Merkmalen. Erstens: Das identische Organisieren hat „durchaus“ (Brouillon 94) den Charakter der Gemeinschaftlichkeit. Das heißt: „Es ist kein Soll, keine Beschränkung, sondern unmittelbar selbst gegeben im Organisiren der Vernunft.“ (ebd.) Der Charakter der Gemeinschaftlichkeit in der Handlungstätigkeit des identischen Organisierens ist allen unter allen Umständen gegeben. Der Grund dafür ist: „Denn sonst müßte jeder wieder zerstören, was der Andere organisirt hätte, um es für sich zu organisiren.“ (ebd.) Zweitens: Das identische Organisieren ist durch den Zustand des Rechts zu charakterisieren. „Was von irgend einem Punkt aus, ist für die Vernunft überhaupt und was für diese, ist für jeden Punkt organisirt.“ (ebd.) Hierbei ist von der Allgemeingültigkeit dieser Handlungstätigkeit die Rede. Dies bezeichnet der Autor als „Zustand des Rechts“ (ebd.). Diesen Zustand konkretisiert er wie folgt: „Alles Organisiren muß gleich mit diesem [sc. Zustand] und in Beziehung auf diesen [sc. Zustand] betrachtet werden.“ (ebd.) Damit kann festgestellt werden, dass der Zustand des Rechts als Kennzeichen für die Handlungstätigkeit des identischen Organisierens gilt. Drittens: Der Staat ist der Vollzug dieser Handlungstätigkeit. Die Entstehung der Idee des Staats ist damit verbunden, dass das identische Organisieren den Charakter der Individualität hat, weil die Gemeinschaftlichkeit „sich aber wieder organisiren“ (ebd.) soll. Hier bezieht sich der individuelle Charakter auf eine gemeinschaftliche Individualität: „Aber auch dieses Unübertragbare soll doch in Gemeinschaft treten.“ (ebd.) Um die organisierende Handlungstätigkeit unter dem Charakter der Identität als ein Kulturfeld besser zu begreifen, wollen wir im Folgenden in einem Seitenblick den dritten Punkt bzw. den Staat als Vollzug dieser Tätigkeit näher betrachten. Die Idee des Staats bei Schleiermacher hat ihren Ausgangspunkt im Gedanken, dass es einen Charakter der absoluten Gemeinschaftlichkeit des Organisierens gibt. Dies hängt mit seiner Interpretation der organisierenden Tätigkeit als Ausbildung des Talents zusammen.26 Das Talent an sich gehört zur Persönlichkeit, aber in jedem Talent ist eine besondere Beziehung auf die Anderen als Grundlage enthalten.27 In der Handlungstätigkeit des identischen Organisierens bezieht sich jedes Talent auf

26 Vgl. oben: 198. 27 Brouillon, 94: „Das vorige wieder aufgenommen bei dem Begriff eines Talentes. Es liegt ein besonderes Verhältniß zu einem bestimmten Theile der Natur dabei zum Grund.“

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„die ganze Naturseite“ (ebd.). Demnach heißt es: „So wie jedes einzelne Talent sich auf eine bestimmte Seite der Natur im Ganzen bezieht, so auch jedes zum Organ der Vernunft Erhobene auf die Vernunft im Ganzen, also auch auf die Gesamtvernunft der Einzelnen.“ (ebd.) Ist die Organbildung der Vernunft im sittlichen Leben das Erheben des organischen Vermögens zur Potenz der Idee, so wie oben bereits herausgearbeitet, so hat jedes Erhobene ein Verhältnis mit der notwendigen Gemeinschaft der Vernunft.28 Vor diesem Hintergrund erklärt der Autor nun den Charakter der absoluten Gemeinschaftlichkeit des Organisierens wie folgt: „Indem jeder bildet, will er auch für die Andern bilden, ihre Vernunft soll auch durch dies Organ erkennen; dies [sc. ist] der Charakter der absoluten Gemeinschaftlichkeit.“ (Brouillon 94) Jeder bildet in dieser Tätigkeit nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Anderen. Das Resultat seiner Bildung wird auch von allen erkannt. Dieser Charakter der Gemeinschaftlichkeit ist in diesem Sinne absolut: „Dies ist keine fremde von außen herzukommende Bedingung und Forderung, sondern [sc. ist] in der Sache selbst gegeben durch die Beziehung auf eine ganze Naturseite, die doch von einer Persönlichkeit aus nicht kann erreicht werden.“ (ebd.) Dank der Beziehung des Talents auf die ganze Naturseite ist dieser Charakter allen bedingungslos gegeben und niemand kann ihn allein persönlich schaffen. Dabei bezieht sich die absolute Gemeinschaftlichkeit auf die Gemeinsamkeit aller Menschen als Gattung der Naturwesen. Das ist die eine Ansicht der organisierenden Tätigkeit im Gegensatz zu der anderen, in der die organisierende Tätigkeit durchaus den Charakter der Individualität hat. Die absolute Gemeinschaftlichkeit des Organisierens individualisiert sich. Für Schleiermacher geht die Individualisierung der absoluten Gemeinschaftlichkeit beim Organisieren von folgendem Sachverhalt aus: „[D]ie Vernunft prägt einer jeden [sc. Ansicht] auch wieder den Charakter der entgegengesezten ein“ (Brouillon 95). Denn es gibt weder reine Vernunft noch empirische Vernunft überhaupt. Damit ist die Idee des Staats direkt verbunden: „Die absolute Gemeinschaftlichkeit des Organisirens wieder individualisirt giebt die Idee des Staates.“ (ebd.). Für Schleiermacher heißt „die Idee des Staates“ wie folgt: „[E]ine Masse davon soll eine Unübertragbarkeit an das Ueberige annehmen und eine besondere Bestimmtheit in sich. Aus der Gemeinschaftlichkeit soll wieder eine Eigenthümlichkeit hervortreten. Eine gemeinschaftliche Eigenthümlichkeit muß also das vereinigende Princip sein“ (ebd.). Entsteht aus der Individualisierung der absoluten Gemeinschaftlichkeit eine Unübertragbarkeit und eine besondere Bestimmtheit in einer Masse, so tritt aus der Gemeinschaftlichkeit eine Individualität hervor. Diese gemeinschaftliche Individua-

28 Hierzu Brouillon, 104: „Die Vernunft bildet sich für jede bestimmte Art des Erkennens und Darstellens ein eignes Organsystem = Talent. […] Im Einzelnen und für ihn selbst sind seine Talente durch die Individualität bestimmt und sie bestimmend. Im Ganzen erscheinen die in jedem Einzelnen zusammenkommenden mehreren Talente nur als Fragemente, und auch dies führt von jedem Punkt aus auf die Nothwendigkeit der Gemeinschaft.“

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lität fungiert als ein Prinzip, die Angehörigen dieser Masse als ein Ganzes zu vereinigen. Dem Autor zufolge hängt die Entstehung des Staats mit den natürlichen Zuständen zusammen – „[sc. den] großen klimatischen und kosmischen Verhältnisse [n]“ (ebd.). Denn durch solche natürlichen Zustände ist die Bedingung für die Konstruktion in der Masse unterschiedlich gestaltet.29 Dies hat die Entstehung des Staats zur Folge: „[I]ndem die Vernunft auch diese Eigenthümlichkeit durchdringt und anzieht und sie zum Organ des Erkennens erhöht, entsteht der Staat“ (ebd.). Bisher wurde deutlich, dass der Staat für Schleiermacher das Resultat der Individualisierung der absoluten Gemeinschaftlichkeit des Organisierens ist. An späteren Stellen bezeichnet der Autor diesen Vorgang als „ein nothwendiges Resultat der sittlichen Thätigkeit“ (Brouillon 141), und die Individualität des Staates „als Resultat einer gemeinschaftlichen Beseelung“ (Brouillon 219). Vor diesem Hintergrund wird der Staat schließlich wie folgt bestimmt: „Er [sc. Der Staat] ist eine bestimmte unübertragbare Weise des gemeinschaftlichen Organisirens und das höchste Bestimmte in dieser Function.“ (Brouillon 95) Also: Der Staat ist eine individuelle Bestimmtheit des identischen Organisierens und der Vollzug dieser Handlungstätigkeit. Dazu betont der Autor, dass der Staat „[a]ber auch nur in dieser [sc. Funktion]“ (ebd.) unter dem Charakter der Identität möglich ist. Worin besteht dann die Individualität eines Staates? Schleiermachers Diskussion über die Gegenüberstellung von willkürlicher Gemeinschaft der organisierenden Tätigkeit und von Staat verhilft dazu, diese Frage zu beantworten. Die willkürliche Gemeinschaft der organisierenden Tätigkeit entsteht aus der freien Gemeinschaft der Familie und aus dem erweiterten Verhältnis der Verwandtschaft.30 In dieser Gemeinschaft gibt es „keine lebendige Einheit, keine Individualität“ (Brouillon 139). Denn sie ist durch „Vertrag oder Wohlthätigkeit“ (ebd.) verbunden und dieser Vertrag ist „bloß der Akt der Bestimmung für eine einzelne That“ (ebd.). Diese willkürliche Gemeinschaft bildet noch keinen Staat, aber sie dient als Vorform des Staats in dessen natürlicher Entstehung. Anders als die willkürliche Gemeinschaft ist der Staat nicht abhängig von einer einzelnen Person oder einer zufälligen Tat: „Wenn diese Gemeinschaft sich individualisiren soll, so muß eben, was vorher nur Führen des Einzelnen oder die zufällige Vorstellung eines anderen Einzelnen war, zu einer Gemeinschaft werden, die für alle unter einer bestimmten Einheit steht.“ (Brouillon 139–140) Für den Staat muss sich eine Gemeinschaft als führend aus der Individualisierung der willkürlichen Gemeinschaft gestalten und diese Gemeinschaft steht unter einer bestimmten Einheit und dient allen. Diese bestimmte Einheit einer Gemeinschaft des identischen Organisierens nennt Schleiermacher Kultur: „Die Bezeichnung ist hier wie dort Kultur. Die Einheit also eine individuelle Idee der Kultur, zu der sich nun die bildende Thätigkeit aller Einzelnen nur verhält wie Theile ihres

29 Dazu vgl. Brouillon, 95. 30 Vgl. Brouillon, 139.

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organischen Vermögens.“ (Brouillon 140) Die Einheit der Gemeinschaft als eine individuelle Idee der Kultur gilt als Kennzeichen für den Staat. So heißt es: „[D]er Staat beruht doch ganz auf der Basis der Kultur und ist nichts anders als die zur höchsten Potenz erhobene Kultur selbst“ (Brouillon 110). An dieser Stelle wird der Staat in einem idealen Zustand mit der Kultur in einer vollkommenen Form identifiziert. Nimmt man die beiden Zitate zusammen, so wird deutlich, dass der Staat bei Schleiermacher auf der Idee der Kultur beruht. Demzufolge versteht er den Staat schließlich als „eine gemeinsame organisirende Thätigkeit unter einer individuellen Idee der Kultur“ (Brouillon 140). Die individuelle Idee der Kultur ist die Individualität des Staates – „die Nationalindividualität“ (Brouillon 186) – und gilt als Seele eines Staats. Zu Schleiermachers Bestimmung des Staats durch den Begriff der Kultur ist zu betonen, worauf Hans-Joachim Birkner bereits hingewiesen hat, dass der Begriff der Kultur hier nicht in modernem Sinne gebraucht, sondern nur auf die Handlungsgebiete des identischen Organisierens beschränkt ist.31 Als eine individuelle Gemeinschaftlichkeit des identischen Organisierens ist der Staat durch Vertrag zu strukturieren. Im Staat ist eine Gattung gegeben, die nicht nur unter der bestimmten Einheit als Kultur, sondern auch unter dem Vertrag steht. Aber anders als in der willkürlichen Gemeinschaft, wo der Vertrag „bloß der Akt der Bestimmung für eine einzelne That“ ist, hat der Vertrag im Staat die Funktion, die Tat des Einzelnen im Staat zu legitimieren und ihre Forderung anzuerkennen. Der Grund ist: „[D]er Einzelne muß sich immer als Repräsentant derselben [sc. der Gattung] entweder für die bestimmte Foderung oder im Allgemeinen legitimiren“ (Brouillon 115). Nur durch die Legitimierung hat die organisierende Tätigkeit jedes Einzelnen im Staat immer die Bedeutung seiner Gattung. Somit fasst der Autor die Funktion des Vertrags im Staat auf folgende Weise zusammen: „Diese Legitimation und die damit verbundene Anerkennung der Foderung ist die sittliche Bedeutung des Vertrages.“ (ebd.) Betrachtet man die individuelle Idee der Kultur als innere Bedingung des Staates, so kann man den Vertrag als äußere Bedingung des Staates interpretieren. Durch den Vertrag ist der Staat institutionalisiert. Sprache und Geld sind „der allgemeine Präliminärvertrag“ (ebd.) des Staates – in formeller Hinsicht setzt der Staat die beiden voraus. Demzufolge bestimmt der Autor Sprache und Geld als „Elemente des Staates und der Staatenverbindung“ (ebd.). Geld ermöglicht die Wirtschaft, die deshalb ebenfalls zum Handlungsgebiet des identischen Organisierens gehört; Sprache ermöglicht nicht nur die Kommunikation der Einzelnen miteinander im Staat, sondern sie garantiert auch die Tradierung der individuellen Idee der Kultur des Staates bzw. die Individualität des Staats.32

31 Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre (1964), 41, Fußnote 56. Mehr dazu vgl. Rudolf Heinze: Die Kulturauffassung Schleiermachers, Gotha 1935. 32 Mehr dazu vgl. Brouillon, 113–114.

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Fassen wir unsere Darstellung zum Handlungsgebiet des identischen Organisierens zusammen, so legen sich vier Punkte nahe. Erstens ist vorauszusetzen, dass die organisierende Tätigkeit im Modus der Identität den Charakter der absoluten Gemeinschaftlichkeit hat. Der Zustand des Rechts gilt als Kennzeichen für diese Handlungstätigkeit. Zweitens ist zu erkennen, dass der Staat als Vollzug dieser Handlungstätigkeit das Resultat der Individualisierung der absoluten Gemeinschaftlichkeit des Organisierens ist. Drittens haben wir festgestellt, dass der Staat auf der individuellen Idee der Kultur beruht. Die individuelle Idee der Kultur als Individualität des Staats vereinigt die unter dem Staat stehende Masse zu einem Ganzen. Deshalb ist die individuelle Idee der Kultur die innere Bedingung für den Staat. Dank dieser Individualität ist der Staat auf die nicht diesem Staat Angehörigen unübertragbar. Viertens ist festzustellen, dass der Staat durch den Vertrag strukturiert ist. Der Vertrag gilt als äußere Bedingung für den Staat und macht diesen zu einer Institution. Zum Vertrag gehören Geld und Sprache, sie sind primäre Elemente des Staates.33 Wohl hat der Autor bereits hier die Sprache zum Thema gemacht, aber unter seinem Quadruplizitätsschema gehört die Sprache an sich eigentlich zum Handlungsgebiet des identischen Symbolisierens. Dem inneren Zusammenhang von Staat und Sprache liegt das Grundprinzip seiner Handlungstheorie zugrunde, dass „Organbildung nur durch Organgebrauch erfolgt“ (Brouillon 103). Damit können wir nun zum Handlungsgebiet des identischen Symbolisierens übergehen. 1.2.2.2 Identisches Symbolisieren Wir haben in der Darstellung zur Bestimmung des Lebens herausgearbeitet, dass die Gemeinschaft des abgeschlossenen Daseins mit dem Ganzen im sittlichen Leben als Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen zu verstehen ist. Dies ist auf das durch Attraktion und Repulsion strukturierte naturphilosophische Grundgesetz des Geistes zurückzuführen. Zur Interpretation seiner beiden symbolisierenden Tätigkeiten – „Gebrauch der Natur als Organ des Erkennens“ (Brouillon 96) – nimmt Schleiermacher diese Wechselwirkung als Grundprinzip und bringt sie wieder zum Ausdruck: „In der Vernunft an sich, im absoluten Sein der Ideen ist Erkennen und Darstellen identisch. Im Endlichen wird diese Identität eine Oscillation. Diese Oscillation kommt nun in jeder Function der Natur im sittlichen Leben vor.“ (ebd.) Seine

33 Ausführlich hat Schleiermacher den Begriff des Staats in seinen Berliner Vorlesungen thematisiert, vgl. ders: Vorlesungen über die Lehre vom Staat (1817, 1817/18, 1829 und 1833), in: KGA II/8. Seine Staatslehre hat er auch in dem Akademievortrag Über den Begriff der verschiedenen Staatsformen (1814) entfaltet (KGA I/11, Akademievorträge, 95–124). Zu Schleiermachers Staatslehre vgl. Günter Holstein: Die Staatsphilosophie Schleiermachers, Bonn 1923; Matthias Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit (2004), Teilband 1, 285– 308; ders.: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft (2004), Teilband 2; Miriam Rose: Schleiermachers Staatslehre, Tübingen 2011.

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Interpretation der beiden symbolisierenden Tätigkeiten besteht deshalb grundlegend darin, die Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen unter dem Charakter der Identität und unter dem Charakter der Individualität zu konkretisieren.34 Im Anschluss an unsere vorangehende Darstellung zum identischen Organisieren gehen wir nun vorerst auf das identische Handlungsgebiet des Symbolisierens ein. Schleiermachers Interpretation der Handlungstätigkeit des identischen Symbolisierens beginnt mit der Frage, inwiefern eine solche Tätigkeit mit dem hervortretenden Charakter der Identität überhaupt möglich ist. „[I]ndem die Handlung als eine absolut gemeinschaftliche gesezt wird“ (Brouillon 97) – so lautet seine Leitthese. Für Schleiermacher beinhaltet diese eine doppelte Bedeutung: einerseits muss die Handlung „gesezt werden als für alle von demselben Gehalt“ (ebd.), andererseits muss sie „wirklich aus den Gränzen der Persönlichkeit heraustreten und Anderen angehören“ (ebd.). Auf Basis des Grundprinzips der Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen erklärt der Autor diese doppelte Bedeutung näher. „Jenes, das Erkennen unter der Vorausezung der Gültigkeit und des gleichen Gehaltes für alle, heißt Denken.“ (ebd.) Das heißt, dass das Erkennen allgemeingültig sein und den gleichen Gehalt haben muss. Das Erkennen in dieser Tätigkeit nennt Schleiermacher „Denken“. Das Denken soll „die Anschauung selbst“ (ebd.) sein. Dementsprechend wird das Darstellen in dieser Tätigkeit als „aus der Persönlichkeit Herausgehn und sich Aeußern“ (ebd.) verstanden. Das Darstellen bedeutet hier das Herausgehen aus der Persönlichkeit und das Hervorbringen der Zugänglichkeit durch die Äußerung für alle. Dies bezeichnet Schleiermacher als „Sprechen“. Das Sprechen als Darstellen – „Aeußerlichwerden“ – ist „nur möglich unter der organischen Bedingung eines vermittelnden und modificabeln Mediums“ (ebd.). Das Sprechen braucht ein Medium, um das Erkennen zu vermitteln. Dieses Medium ist Sprache – „das Element des einen Gliedes dieser Function des sittlichen Lebens“ (ebd.). Die Sprache ist das Element des Darstellens in Bezug auf diese Handlungstätigkeit im sittlichen Leben. Hier betrachtet Schleiermacher Denken und Sprechen als zwei unentbehrliche Glieder dieser Funktion. Nimmt man beide Seiten zusammen, so steht die Handlungstätigkeit des identischen Symbolisierens als „eine absolute gemeinschaftliche“ also unter zwei Bedingungen: einerseits muss das Erkennen allgemeingültig sein, andererseits muss das Erkennen durch die Äußerung aus der Persönlichkeit heraustreten und allen zugänglich werden. Dadurch modifiziert sich die Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen in diesem identischen Handlungsgebiet als Wechselwirkung von Denken und Sprechen. Gerade in dieser Wechselwirkung besteht die Identität von Denken und Sprechen: „alles Denken als ein inneres Sprechen und alles innere Sprechen als Tendenz zum Aeußern“ (ebd.). Denn „[w]ir vernehmen unsere Gedanken selbst nur durch Worte“ (ebd.).

34 Brouillon, 90: „[E]in Gebrauch der Organe zum Wissen und Darstellen mit hervortretender Individualität und mit hervortretender Identität.“

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Im Kontext dieser allgemeinen Erklärung der Handlungstätigkeit des identischen Symbolisierens stellt Schleiermacher in den späteren Vorlesungsstunden zum Brouillon zur Ethik dieses Handlungsgebiet als ein Kulturfeld dar. Wir fangen mit der Seite des Denkens an. Das Denken als das Erkennen unter dem Charakter der Identität hat das Wissen zur Folge. Für Schleiermacher ist das Wissen das System der objektiven Erkenntnis. In der folgenden Passage wird die objektive Erkenntnis erklärt: „Die objective Erkenntniß macht unter sich ein System, ein organisches Ganze aus. Denn einmal ist sie die Totalität der Verhältnisse der Welt zum Menschen, welcher ja selbst ein organisches Ganze ist. Dann ist sie das Ganze der Darstellung der Welteinheit in der Unendlichkeit des Einzelnen, also als ein unendlich Gegliedertes, dem Eine Seele einwohnt, auch ein organisches Ganze.“ (Brouillon 160) Dies zeigt, dass die objektive Erkenntnis ein System bildet, das ein organisches Ganzes bildet. Dies ist mit dem doppelten Inhaltaspekt der objektiven Erkenntnis verbunden: Einerseits hat die objektive Erkenntnis die Verhältnisse der Welt zum Menschen als ihren ersten Inhaltsaspekt und bezieht sich auf die Totalität solcher Verhältnisse. Dazu ist der Mensch selbst ein System – „ein organisches Ganze“. Andererseits hat sie die Welteinheit als ihren zweiten Inhaltsaspekt und es geht in der objektiven Erkenntnis deshalb um das Ganze der Darstellung der Welteinheit. Hierbei ist die Welt als „ein unendlich Gegliedertes“ ebenfalls ein System– „ein organisches Ganze“. Dank dieses doppelten Inhalts bildet die objektive Erkenntnis ein System unter sich. An dieser Stelle folgt Schleiermacher dem durch Romantik und Idealismus im 19. Jahrhundert gebildeten Systemgedanken.35 Mit dieser Interpretation der objektiven Erkenntnis können wir nun zur Seite des Darstellens in diesem Handlungsgebiet, nämlich zur Seite des Sprechens, übergehen. Schleiermacher betrachtet das Darstellen der objektiven Erkenntnis als Manifestieren des objektiven Charakters. Für ihn manifestiert sich dieser objektive Charakter „zugleich als gemeinschaftlicher auf zwiefache Weise“ (Brouillon 161). Zum einen „[d]urch die innere Tendenz der Mittheilung“ (ebd.), das heißt, durch eine innere Tendenz, die Erkenntnis mit anderen zu kommunizieren. Damit ist dem Autor zufolge verbunden: „In jeder Erkenntniß sezen wir zu unserem Ich ein Du und damit die Foderung der Gemeingültigkeit, der Identität in allen, wobei wir zugleich das Subjective als ein ins Unendliche Abzusonderndes sezen.“ (ebd.) Diese Tendenz wird von einer sozialen Existenz des Menschen und vom Verlangen des Menschen nach einer Gemeingültigkeit mit der unendlichen Individualität vorausgesetzt. Zum anderen manifestiert sich dieser Charakter auch „durch eine damit verbundene Tendenz des äußerlichen Hervortretens aus der Persönlichkeit behufs des Uebergangs in andere Persönlichkeiten“ (ebd.). Das ist eine Tendenz des Menschen, aus der Per-

35 Zu Schleiermachers Systemgedanken vgl. Ulrich Barth: Theologie und Systemgedanke. Schleiermacher und der Aufstieg eines epochalen Methodenbegriffs (2011), in: ders.: Kritischer Religionsdiskurs (2014), 279–292.

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sönlichkeit herauszutreten, um in andere Individuen überzugehen. Der Grund für diese Tendenz ist: „Das allgemeingültige Identische ist das Product der Vernunft an sich. Aber soll es ein solches wirklich werden durch die Täthigkeit des Einzelnen, so muss es die Täthigkeit aller Einzelnen sein, also heraustreten für sie, um in sie überzugehn.“ (ebd.) Nur durch das Heraustreten des Einzelnen aus der Persönlichkeit für die anderen Einzelnen und durch das Übergehen in andere Einzelne kann der objektive Charakter der objektiven Erkenntnis – „[d]as allgemeingültige Identische“ – in diesem Handlungsgebiet überhaupt möglich sein. In diesem Gebiet wird das Heraustreten des Einzelnen aus der Persönlichkeit nur durch „ein[en] Aufruf zum Nachbilden“ (ebd.) realisiert. Dies nennt Schleiermacher „Bezeichnung“ (ebd.). Die Systematisierung der nachbildenden Bezeichnung hat Sprache zur Folge: „So wie nun die objective Erkenntniß unter sich ein organisches Ganze bildet, so auch die Bezeichnung. System der Bezeichnung des Wissens: Sprache.“ (ebd.) Hiermit gibt er hier schließlich eine Definition für die Sprache: Sprache als ein System der Bezeichnung des Wissens. Die Sprache ist für die Bezeichnung wie das Wissen für die objektive Erkenntnis. Bei der Verwendung des Begriffs „Bezeichnung“ folgt Schleiermacher hier der Tradition der Ästhetik der Halleschen Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts, die durch den Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten (1714– 1762) und seinen Schüler Georg Friedrich Meier (1727–1777) vertreten wird.36 Die Bezeichnung ist einer der wichtigsten Begriffe in der Darstellung Schleiermachers zur symbolisierenden Tätigkeit. Nehmen wir die beiden Seiten in der obigen Diskussion – die Seite des Erkennens und die des Darstellens – zusammen, so wird deutlich, dass die Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen im Handlungsgebiet des identischen Symbolisierens durch die Wechselwirkung von Wissen und Sprache in einem weiteren Schritt folgendermaßen präzisiert wird: Wissen als Erkennen ist das System der allgemeingültigen Erkenntnis, Sprache als Darstellen ist das System der Bezeichnung des Wissens. Die Identität von Wissen und Sprache heißt: „Ohne Sprache also gäbe es kein Wissen und ohne Wissen keine Sprache.“ (Brouillon 161) Die Identität von Wissen und Sprache kann anhand von zwei Punkten verdeutlicht werden. Der erste Punkt besteht darin, dass das Wissen in die Sprache übergehen muss, weil die Sprache die Funktion hat, das objektive Erkennen zu repräsentieren und verschiedene Momente im objektiven Erkennen zu fixieren.37 Ist die Repräsentation im modernen Sinne ein Begriff der Performanz, so kann gesagt werden, dass das objektive Erkennen seine Performanz in der Sprache hat. Außerdem ist die Sprache für Schleierma-

36 Dazu vgl. unten: Kapitel 4. 1.2 Die Bezeichnungstätigkeit, 275–276. 37 Brouillon, 162: „Die ethische Ansicht [sc. der Sprache] hat es mit der Verknüpfung der bedeutsamen Einheiten zu thun, wodurch in einem vollständigen Act des Sprechens ein vollständiger Act des Erkennens repräsentirt wird.“ Und Brouillon, 164: „Nur dadurch ist die Bezeichnung auch für das Ganze wie für den Einzelnen Fixirung der früheren Momente für die späteren.“

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cher das optimale Mittel, die Erkenntnis mitzuteilen und nachzubilden. „Wo also nur wahres Wissen ist, wird Sprache schon sich zur Bezeichnung bilden.“ (Brouillon 162–163)38 Bei dem zweiten Punkt handelt es sich um das Entstehen der Sprache in dem Einzelnen: „Die Sprache ist mit dem Wissen zugleich gegeben als eine nothwendige Function des Menschen und ist nichts anderes als die heraustretende Gemeinschaftlichkeit desselben.“ (Brouillon 164) Das Wissen und die Sprache sind also auf ursprüngliche Weise verbunden, weil die Sprache allen Einzelnen immer mit Wissen zugleich gegeben ist. In diesem Zusammenhang ist die Sprache nicht nur eine notwendige Funktion des Menschen, sondern repräsentiert zugleich die überwiegende Gattungsallgemeinheit des Menschen.39 Bisher ist zu ersehen, dass das identische Symbolisieren, das nach Schleiermacher handlungstheoretisch als eine der vier Handlungstätigkeiten im Rahmen seines Quadruplizitätsschemas gilt, eine Kulturbedeutung in der Realität gewinnt, indem der Autor Wissen und Sprache als Resultat dieser Handlungstätigkeit interpretiert. Ebenfalls wie in seiner Darstellung des identischen Organisierens legt Schleiermacher hierbei auch den Akzent darauf, dass das Handlungsgebiet des identischen Symbolisierens auch den entgegengesetzten Charakter haben muss – „so muß auch das allgemeingültige Denken wieder den Charakter der Eigenthümlichkeit annehmen“ (Brouillon 100). Um die symbolisierende Handlungstätigkeit unter dem Charakter der Identität als ein Kulturphänomen zu veranschaulichen, wollen wir im Folgenden kurz auf Schleiermachers Diskussion zur Individualisierung des Denkens und der Sprache eingehen. Wir kommen zunächst zur Seite der Sprache: „[D]ie Sprache muß sich individualisiren. Sonst kann sie nur als Vermögen gedacht werden, aber nicht wirklich existiren“ (ebd.). Die Sprache ist immer auf zwei Ebenen zu verstehen: In einem allgemeinen Sinne ist sie das Medium von Wissen, aber absolut identisch kommt sie nie vor und kann darüber hinaus als eine Fähigkeit des Menschen angesehen werden; in einem höheren Sinne ist sie nationale Sprache, diese individualisiert sich wieder in unterschiedliche Muttersprachen. Dem Autor zufolge ist die Individualisierung der Sprache von zwei Elementen bedingt. Ist die Sprache das höchste Produkt des gemeinschaftlichen Lebens des Menschen – das „höchste Product der Organisation“, so hängt ihre Individualisierung zuerst mit dem klimatischen Zustand dieser Gemeinschaft zusammen – „von den großen kosmischen Bedingungen der Organisation“ (ebd.). Sodann ist die Individualisierung der Sprache

38 Dazu gibt es noch eine andere Aussage im Brouillon zur Ethik: „Also genaueste Correspondenz; was demnach im Denken gegeben ist, muß auch in der Sprache darstellbar sein.“ (Brouillon 164) 39 Mehr zum Entstehen der Sprache im Einzelnen vgl. Brouillon, 164–165. Über die Sprachphilosophie hat Schleiermacher keinen eigenständigen Text verfasst. Seine Gedanken über die Sprache befinden sich hauptsächlich in seiner Hermeneutik. Friedrich Schleiermacher: Vorlesung zur Hermeneutik und Kritik, KGA II/4. Zu Schleiermachers Sprachphilosophie in der Hermeneutik vgl. Denis Thouard: Die Sprachphilosophie der Hermeneutik, in: Andreas Arndt/Jörg Dierken (Hg.): Friedrich Schleiermachers Hermeneutik. Interpretationen und Perspektiven, Berlin/Boston 2016, 85–99.

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mit „dem Stil und Sprachgebrauch in den einzelnen Menschen verbunden“ (ebd.). Dieser von jedem Einzelnen bedingte Unterschied ist für Schleiermacher „das Bestimmteste“ in der realen Sprache.40 Für Schleiermacher sind die Individualisierung des Denkens und die Individualisierung der Sprache nicht voneinander zu trennen. Damit gehen wir zur Individualisierung des Denkens über. „Daher nun das Individualisiren von Seiten des Denkens angesehen uns führt auf ein eigenthümliches mit der Sprache zusammen gewachsenes Wissen, welches ebenfalls unübertragbar ist.“ (ebd.) Das Individualisieren des Denkens hat das individuelle Wissen zur Folge – das Wissen mit dem Element der Individualität.41 Durch das Element der Individualität wird das Wissen als individuell angesehen und damit für die Anderen als unübertragbar und unverständlich.42 Für Schleiermacher sind die Wissenschaft, die Spekulation und die Philosophie „die Vollendung und Sphäre alles Denkens“ (Brouillon 101), und diese individualisieren sich „in und mit der Sprache“ (ebd.), weil das Wissen ein „mit der Sprache zusammen gewachsenes“ ist. Im Rückblick auf die Individualisierung der Sprache kann hier gesagt werden, dass das Wissen immer nur in und mit der Muttersprache in Erscheinung treten kann. Damit ist die These Schleiermachers verbunden, dass die Philosophie ein nationales Wissen ist.43 Die Philosophie und die Sprache gehören auch in diesem Sinne zusammen: „Man kann sagen, alles Philosophiren thue nichts als die Sprache entwickeln; auch die Sprache sei nichts anders als die Darstellung der eigenthümlichen Philosophie.“ (ebd.) Für Schleiermacher hängt die Individualisierung des Denkens nicht nur mit der nationalen Unterschiedlichkeit zusammen, sondern sie ist auch mit der klimatischen Unterschiedlichkeit verbunden.44 Aus der Zusammengehörigkeit der Philosophie und der Sprache ergibt sich dann die Idee der Akademie: „Diejenigen nun, die zusammen eine eigenthümliche Philosophie und Sprache bilden, sind die Akademie.“ (ebd.) Bei Schleiermacher entspricht die Idee der Akademie im Handlungsgebiet des identischen Symbolisierens der Idee des Staats im Handlungsgebiet des identischen Organisierens. So heißt es: „Hiedurch [sc. als ein einzelner Act in der Reihe von Darstellungen der Individuali-

40 Mehr zur Individualisierung der Sprache vgl. Brouillon, 100. 41 Hierzu Brouillon, 166: „Wir haben nemlich nun zu sehn, wie das Wissen auch wieder den entgegengesezten Charakter der Subjektivität und Unübertragbarkeit annimmt.“ 42 Vgl. Brouillon, 169: „Nun wird aber jedes Wissen durch das Element des Besonderen ein Unübertragbares, also Unverständliches, ohnerachtet des herrschenden Charakter des Objektiven.“ 43 Vgl. Brouillon, 167: „Bildet also das organische Wissen ein Ganzes, so ist dieses auch schlechthin ein nationelles. Also muß auch die Philosophie eine nationelle sein, und es ist verkehrt eine allgemeingültige zu sezen.“ 44 Vgl. Brouillon, 101: „Allerdings ist aber der innere Gehalt jeder Philosophie derselbe, die Anschauung der Natur und der Vernunft, die objectiv überall dieselbigen sind; er ist aber nicht abzutrennen von der großen nationalen und klimatischen Individualität.“

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tät]45 aber kann die Idee einer Gemeinschaft des objectiven Wissen nicht vollkommen dargestellt werden, sondern wie das nationale Wissen eins ist, muß es sich auch zu Einem Ganzen vereinigen, das der Idee des Staates entspricht und dies ist die Akademie, das nationale Erkennen zu einem organischen Ganzen vereinigt.“ (Brouillon 170) Die Akademie steht für die vollkommene Gemeinschaft des objektiven Wissens und die nationale institutionelle Gestaltung dieses Handlungsgebiets. Ihre Funktion besteht darin, dass das nationale Erkennen zu einem System vereinigt wird. Wie der Staat der Vollzug für die Handlungstätigkeit des identischen Organisierens ist, so gilt die Akademie bei Schleiermacher als Vollzug für die Handlungstätigkeit des identischen Symbolisierens. Die Idee der Akademie hat er in seinen 1807/08 erschienenen Universitätsschriften näher betrachtet.46 Mit der obigen Rekonstruktion der Beschreibung Schleiermachers zur symbolisierenden Handlungsweise unter dem Charakter der Identität ist nun deutlich, dass der Autor einerseits Wissen als System der allgemeingültigen Erkenntnis und Sprache als System der Bezeichnung des Wissens definiert und andererseits ausdrücklich von der Individualisierung des Wissens und der Sprache spricht. Die Identität und die Individualität des Wissens widersprechen sich nicht. Das hängt nicht nur mit dem naturphilosophischen Prinzip – „Identität des Allgemeinen und Besonderen“ (Brouillon 102) – zusammen, sondern es geht auch darum, das objektive Wissen und das individuelle Wissen aus unterschiedlichen Beobachtungsperspektiven zu erkennen. Dies fasst der Autor mit dieser Aussage zusammen: „Nationelles Wissen und Sprache ist als objektiv auch Andern verständlich, als nationelles unverständlich“ (Brouillon 169). Schleiermachers Diskussion über die Individualisierung des Denkens und der Sprache spricht nun gegen eine Idee des rein allgemeingültigen Wissens: „Bildet also das organische Wissen ein Ganzes, so ist dieses auch schlechthin ein nationelles. Also muß auch die Philosophie eine nationelle sein, und es ist verkehrt eine allgemeingültige zu sezen. Die Allgemeingültige ist in allen Individuellen, aber eben deshalb kann sie nie rein in facto hervortreten, weil hier alles individualisirt sein muß.“ (Brouillon 167) Dadurch geht Schleiermacher wieder auf kritische Distanz zur kantischen Transzendentalphilosophie. Er argumentiert wie folgt: Wenn man von einem allgemeinen objektiven Wissen spricht, das „von aller Individualität abstrahirt“ (Brouillon 175) ist, kann man nur „eine gehaltlose und unbestimmte Form“ (ebd.) bekommen. An dieser Stelle ist wieder hervorzuheben, dass sich diese Kritik nicht gegen das Apriori allgemeingültigen Wissens richtet, sondern gegen ein rein allgemeingültiges Wissen. Anders gesagt: Es gibt zwar ein allgemeingültiges Wissen, aber dank des individuellen Faktors kommt ein rein allgemeingültiges nie vor.

45 Dazu vgl. Brouillon, 169–170. 46 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken über die Universitäten in deutschem Sinn (1807/08), 2. Von Schulen, Universität und Akademie, in: KGA I/6, 30–42.

1 Die Grundelemente der Handlungstheorie



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Fassen wir das Bisherige zusammen, so lassen sich die folgenden fünf Punkte als Resümee zum Handlungsgebiet des identischen Symbolisierens festhalten. (1) Die symbolisierende Handlungsweise unter dem Charakter der Identität ist dadurch möglich, dass sowohl das Erkennen als auch dessen Darstellen in diesem Gebiet als absolut gemeinschaftlich gesetzt wird. Die Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen modifiziert sich in diesem Handlungsgebiet als Wechselwirkung von Denken und Sprechen. (2) Diese Handlungstätigkeit hat Wissen und Sprache zur Folge: Das Wissen ist das System der objektiven Erkenntnis, die Sprache ist das System der Bezeichnung des Wissens. Damit ist die Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen in einem weiteren Schritt durch die Identität von Wissen und Sprache konkretisiert. (3) Das Denken und die Sprache individualisieren sich. Das Wissen erscheint immer in und mit der nationalen Sprache. Indem das Wissen diesen individuellen Charakter annimmt, hat es für Nichtangehörige einer Sprachfamilie den Status des Unverständlichen. Ein rein allgemeingültiges Wissen existiert mithin nicht. (4) Die Wissenschaft und die Philosophie ist die Vollendung und die Sphäre des Denkens; als vollkommene Gemeinschaft des objektiven Wissens ist die Akademie die nationale Institution dieser Handlungstätigkeit, die dem Staat im Handlungsgebiet des identischen Organisierens parallel läuft. (5) Der Staat hängt immer mit dem individuellen Wissen und mit der Sprache zusammen. Die nationale Sprache ist das primäre Element des Staates. Die individuelle Idee der Kultur des Staates ist in der nationalen Philosophie enthalten und ihre Mitteilung und Tradierung ist deshalb durch die nationale Sprache ermöglicht. 1.2.2.3 Individuelles Organisieren Ebenso wie das identische Organisieren formiert sich das individuelle Organisieren für Schleiermacher als Aneignung der Natur und Ausbildung des Talents, nun jedoch unter dem Charakter der Individualität der Vernunft. Dass das Talent sich auf die Vernunft überhaupt bezieht, haben wir in der Darstellung zum identischen Organisieren gezeigt. Anschließend an diesen Gedanken kommen wir nun zur Interpretation des individuellen Organisierens. Das Talent bezieht sich nicht nur auf die ganze Naturseite, sondern auch auf die Individualität: „Eben so aber wie ein Talent sich auf die ganze Naturseite bezieht, gründet es sich doch auch in der Eigen-thümlichkeit des Einzelnen.“ (Brouillon 94) Damit hat das individuelle Organisieren als eine Handlungstätigkeit der Vernunft durchaus den Charakter der Individualität. Während das identische Organisieren den Staat als Vollzug zur Folge hat, bringt das individuelle Organisieren die Geselligkeit als seine Vollzugsform mit sich. Wir wollen im Folgenden zunächst Schleiermachers Interpretation der Funktion des individuellen Organisierens an sich kurz darstellen, dann die Idee der Geselligkeit. Das individuelle Organisieren hat unter allen Umständen den Charakter der Individualität. Der Verankerung des Talents in der Individualität des Einzelnen liegt Schleiermacher zufolge der notwendige Zusammenhang von Talent und Individua-

218  Kapitel 3 Die handlungstheoretische Grundlegung der Kulturtheorie

lität zugrunde. Dieser Zusammenhang kommt wie folgt zum Ausdruck: „Ohne sie [sc. die Individualität] würde es kein Talent sein, kein bestimmtes Maaß haben; ohne sie hinge dies organische Fragment weit genauer mit den übrigen gleichartigen Fragmenten zusammen als mit der Persönlichkeit und durch sie mit andern Organen.“ (Brouillon 94–95) Ohne die Individualität gibt es das Talent überhaupt nicht und lässt sich auch nicht unterscheiden; ohne sie ist das unterschiedliche Verhältnis eines Talents zu den übrigen ebenfalls nicht zu erkennen. Diesem Argument folgt Schleiermachers Grundthese zur individuellen Organbildung: „Also wird mit dem Organ als Talent auch die Eigenthümlichkeit gebildet, durch die sein Verhältniß zu den übrigen gegeben ist, und dieses Bilden hat den Charakter der Unübertragbarkeit, das Bewußtsein, daß es ein rein in sich abgeschlossenes ist.“ (Brouillon 95) Vor dem Hintergrund seiner Interpretation des identischen Organisierens zeigen sich nun in dieser Aussage zwei wichtige Punkte für die Handlungstätigkeit des individuellen Organisierens. Erstens: Im Vorgang der Organbildung bzw. der Ausbildung des Talents wird nicht nur der Charakter der absoluten Gemeinschaftlichkeit, sondern auch der Charakter der Individualität gebildet; durch diesen Charakter ist das Verhältnis jedes Einzelnen zu den anderen Einzelnen gegeben. Dies klärt der Autor an einer späteren Stelle näher: „Aber was uns in Beziehung auf die Vernunft überhaupt als Talent erscheint, das erscheint in Beziehung auf den Einzelnen und seine Eigenthümlichkeit als Neigung, weil es in ihm als ein bestimmtes Quantum im bestimmten Verhältniß gegen die übrigen gesezt ist“ (Brouillon 116–117). Das Talent – das Kombinationsvermögen – erscheint im Gebiet des individuellen Organisierens als Neigung. Zeichnet die Neigung das freiwillige gegenseitige Verhältnis zwischen Menschen aus, so kann die organisierende Tätigkeit „als That des Einzelnen angesehn“ für Schleiermacher nicht „auf ein besonderes Talent bezogen werden, sondern auf alle [sc. Talente] in ihrem gegenseitigen Verhältniß“ (Brouillon 117). Der individuellen organisierenden Tätigkeit geht es also um die Talente in einem gegenseitigen Verhältnis. Zweitens: Das Bilden der Individualität ist durch die Unübertragbarkeit charakterisiert. Für Schleiermacher hat diese im Gebiet der individuellen organisierenden Tätigkeit zweierlei Bedeutung. Sie besteht zunächst darin, dass „in jeder [sc. organisierenden Tätigkeit] das für keinen Andern anwendbare Grundverhältniß der Person darin ausgedrückt ist“ (ebd.). Das Grundverhältnis des Einzelnen zu den Anderen ist so individuell, dass kein Anderer sich durch dieses Verhältnis bestimmen kann. Daraus ergibt sich die Unübertragbarkeit: „Durch die individuelle organisirende Thätigkeit wird nun die ganze Sphäre jedem Andern unzugänglich wegen des innern Dranges das schon Gebildete als solches anzuerkennen“ (Brouillon 125). Durch die Unzugänglichkeit für die Anderen ist die ganze Sphäre des individuellen Organisierens „ein rein in sich abgeschlossenes“ (Brouillon 95). Das individuelle Organ, das in dieser individuellen Tätigkeit gebildet wird, ist „das vollkommenst Gebildete“ (Brouillon 125), was „nie […] Organ eines Andern werden“ (ebd.) kann. Die Unübertragbarkeit ist deshalb mit der individuellen organisierenden Tätigkeit ursprünglich verbunden. Dazukommend verweist der Autor

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darauf, dass diese Unübertragbarkeit sich hier als „Trieb des ausschließenden Absonderns, des absoluten Aneignens“ (Brouillon 117–118) zeigt. Dieser Trieb hat das Eigentum zur Folge. Demnach gilt das Eigentum als Kennzeichnen für die individuelle organisierende Tätigkeit und das Handlungsgebiet des individuellen Organisierens ist die Sphäre des Eigentums. Wir haben in der Darstellung zum identischen Organisieren aufgezeigt, dass die absolute Gemeinschaftlichkeit des Organisierens sich jeweils individualisiert. Denn „die Vernunft prägt einer jeden [sc. Ansicht] auch wieder den Charakter der entgegengesezten ein“ (Brouillon 95). Durch die Einprägung der Individualität in die absolute Gemeinschaftlichkeit des Organisierens gibt es die Idee des Staates, den Vollzug dieser Handlungstätigkeit. Ebenso wie beim identischen Organisieren prägt die Vernunft dann der am vollkommensten gebildeten Individualität des Organisierens den entgegengesetzten Charakter ein: „Eben so auch soll der Eigenthümlichkeit, dem Unübertragbaren wieder der Charakter der Gemeinschaft aufgedrückt werden.“ (Brouillon 95–96) Der Abdruck des Charakters der Gemeinschaft auf die unübertragbare Individualität, oder anders gesagt, die Einprägung der Gemeinschaftlichkeit in die vollkommene Individualität des Organisierens erweist sich als notwendig. Diese Einprägung bedeutet: „Nemlich das als Organ eigenthümlich Gebildete ist zugleich Object der Erkenntniß und Symbol für die Andern, und es wird gleich mit diesem Bewußtsein und in dieser Idee gebildet.“ (Brouillon 96) Das heißt, dass der individuelle Charakter gemeinschaftlich wird, um Gegenstand der Erkenntnis für andere sein zu können. Das Gemeinschaftlichwerden der Individualität im Handlungsgebiet des individuellen Organisierens ist ein notwendiges Resultat der Oszillation von Identität und Individualität im sittlichen Leben. Der Grund ist: Die Tätigkeit des individuellen Organisierens hat eine Selbstbezogenheit – „ein rein in sich abgeschlossenes“ (Brouillon 95) – zur Folge. Aus dieser Selbstbezogenheit „entstände nun ein völliges Isolirtsein jeder gebildeten Sphäre, womit der allgemeine Charakter der Vernunft nicht bestehen kann“ (Brouillon 125). Mit dem völligen Isoliertsein befände sich diese Tätigkeit nur in der Beschränkung der Persönlichkeit.47 An dieser Stelle betont Schleiermacher die entscheidende Rolle der Gemeinschaft: „Nur durch diese Gemeinschaft wird sie [sc. die Beschränkung] aufgehoben und das Bewußtsein wieder erzeugt.“ (Brouillon 96) Das Gemeinschaftlichwerden der Individualität des Organisierens dient deshalb nicht nur dazu, die persönliche Beschränkung des Individuums in dieser Funktion aufzuheben, sondern es geht auch darum, das Bewusstsein, dass jeder als ein rein in sich Zurückkehrendes individuell ist, wieder zu erzeugen. Nur dadurch wird das individuelle Organisieren eine sittliche Tätigkeit. Mit dieser Explikation der notwendigen Einprägung der Gemeinschaftlichkeit in die Individualität des Organisierens kommt der Autor zu dem Befund, „daß wieder-

47 Brouillon, 96: „Sonst wäre auch das Versezen des Erkennens in die Eigenthümlichkeit eine Beschränkung.“

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um eine Gemeinschaft der Individualität muß gestiftet werden, die aber auf nichts anderes gehen kann als auf das gegenseitige Anschauen und Erkennen“ (Brouillon 125). Eine Gemeinschaft der Individualität muss entstehen und sie ist für Schleiermacher „die Idee der freien Geselligkeit“ (Brouillon 96). Während aus der Individualisierung der absoluten Gemeinschaftlichkeit des Organisierens sich die Idee des Staates ergibt, gründet sich auf das Gemeinschaftlichwerden der gebildeten Individualität des Organisierens die Idee der Geselligkeit. Die eigentliche Tendenz der freien Geselligkeit besteht darin, „die Eigenthümlichkeit der Organe zur Anschauung zu bringen“ (ebd.) und „die Individualitäten um sich zu versammeln“ (Brouillon 125). Darum gilt die freie Geselligkeit nicht nur als ein Kommunikationsort für die Individualität des Organisierens – „das gegenseitige Anschauen und Erkennen“, sondern auch als ein Versammlungsort der Individualitäten. Für Schleiermacher setzt die freie Geselligkeit voraus, dass jeder den inneren Trieb hat, „die unzugängliche und unübertragbare Individualität anzuschauen“ (ebd.). Er identifiziert diesen Trieb mit der Liebe im engeren Sinne.48 Das allgemeine Medium der Geselligkeit ist die Sphäre des Eigentums.49 Die freie Geselligkeit ist einer der wichtigsten Begriffe in der Handlungstheorie Schleiermachers, aber in seinen Gedanken taucht dieser Begriff nicht erst hier in der Philosophischen Ethik auf. Diesem Begriff hat er bereits seine kurze Abhandlung Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799) gewidmet.50 Während Schleiermacher die Geselligkeit in dem Versuch im Debattenkontext der Frühromantik sozialphilosophisch als Gemeinschaft von Individualitäten bzw. als freier Umgang der Menschen in der geistigen Innenwelt versteht, gibt er diesem Begriff im Brouillon zur Ethik eine handlungstheoretische Begründung: Die freie Geselligkeit als eine Gemeinschaft der Individualitäten gehört zum Handlungsgebiet des individuellen Organisierens und gilt als Vollzug dieser Tätigkeit – „das höchste Object für diese Thätigkeit“ (ebd.). Mit dieser handlungstheoretischen Begründung bereichert und vertieft Schleiermacher sein frühromantisches Konzept der Geselligkeit, das er auch danach sukzessive weiterentwickelt. Nachdem wir über das Entstehen der Idee der Geselligkeit im Kontext unserer Darstellung des individuellen Organisierens aufgeklärt haben, kommen wir nun zur formellen Gestaltung der Geselligkeit. „Die allgemeine Form ist also das freiwillige Eintretenlassen der Andern in die Sphäre des Eigenthums, und da überall nur der,

48 Vgl. Brouillon, 125: „Sie [sc. Die Liebe] ist aber keinesweges eine Thätigkeit, die uns hier erst besonders entsteht, sondern schon in der allgemeinen bildenden enthalten“. 49 Dazu vgl. Brouillon, 125–126: „Dasselbe, was die Thätigkeit unübertragbar macht, muß auch die Gemeinschaft möglich machen. Nemlich das Organ wird Object der Erkenntnis durch seine symbolischen Eigenschaften. Durch die vorausgesezte Identität des Organischen sind wir im Stande die Differenz in den Aeußerungen der Individuen von den unsrigen zu verstehen“. 50 Vgl. oben: Kapitel 1. 3. Der Begriff der Geselligkeit in dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799).

1 Die Grundelemente der Handlungstheorie

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welcher innerhalb dieser Sphäre betrachtet wird, erkannt werden kann, so muß es gegenseitig sein = gegenseitige Gastfreiheit.“ (Brouillon 126) Diese Aussage zeigt, dass die freie Geselligkeit formell nur dadurch möglich ist, dass ich den Anderen in meine individuelle Sphäre ohne Zwang eintreten lasse. Dieses Eintretenlassen ist nicht nur freiwillig, sondern auch gegenseitig: Lasse ich jemanden ein, dann muss er in meiner individuellen Welt auch erkannt werden. Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit gelten als zwei Merkmale für die freie Geselligkeit. Diese allgemeine Form der Geselligkeit differenziert sich in zwei miteinander verbundene Formen aus: die freie Geselligkeit und die Freundschaft, „je nachdem mehr das Gefühl hervorsticht als das Erkennen“ (ebd.). Der Grund liegt darin, dass die Individualität „etwas durch den Gedanken nicht Erreichbares“ (ebd.) ist. Damit ist der Grundgedanke Schleiermachers verbunden, dass das Gefühl, das zum Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens gehört, nur erkannt und nicht erreicht werden kann, während der Gedanke durch Nachbildung der Sprache möglich ist. Auf diese Einsicht wollen wir später in der Darstellung des individuellen Symbolisierens näher eingehen. Demnach unterscheidet Schleiermacher die freie Geselligkeit und die Freundschaft wie folgt: „Wo nun vernemlich durch die Beobachtung erkannt werden soll, da ist freie Geselligkeit, wo das Gefühl die Grundlage ist, da ist Freundschaft.“ (ebd.) Die freie Geselligkeit hängt also mit der Beobachtung zusammen, die Freundschaft mit dem Gefühl. Trotz dieser Unterschiede stehen die beiden Formen der Geselligkeit in einem inneren Zusammenhang: „Jede Verbindung der freien Geselligkeit ist eine Tendenz Freundschaft zu werden; jede Freundschaft stiftet eine freie Geselligkeit.“ (ebd.) Daraus erhellt, dass die Freundschaft die Grundform der freien Geselligkeit und jede freie Geselligkeit eine werdende Freundschaft ist. Als „ursprünglich Gegebenes“ (Brouillon 135) ist die Familie für Schleiermacher der Ursprungsort der Geselligkeit – „die ursprüngliche Sphäre der freien Geselligkeit“ (ebd.), denn die Geschwisterliebe ist „die ursprüngliche Freundschaft zwischen den Geschlechtern“ (Brouillon 136).51 Somit wird nicht nur die Freundschaft, sondern auch die Familie der Sphäre der Geselligkeit zugeordnet. Dadurch gewinnen die beiden ursprünglichen Existenzweisen der menschlichen Gemeinschaft ihre Position in Schleiermachers handlungstheoretischem Schema. Nämlich: Die Familie und die Freundschaft gehören zum Handlungsgebiet des individuellen Organisierens. Der Umfang der Geselligkeit ist durch die Verständlichkeit innerhalb dieser Sphäre begrenzt, die von der Identität der Sitte in diesem Kreis bedingt ist.52 Zwar gelten die Freundschaft und die Familie als Grundformen der freien Geselligkeit, aber für Schleiermacher kommt die freie Geselligkeit zugleich in allen Sphären des Lebens vor: Denn „wo das Leben ist, da ist auch die Individualität thätig“ (Brouillon

51 Mehr zur Familie als einer freien Geselligkeit vgl. Brouillon, 135–136. 52 Mehr dazu vgl. Brouillon, 128.

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130). Gibt es die freie Geselligkeit überall, wo die Individualität als Charakter hervortritt, so kann sie als eine freiwillige und gegenseitige Verbindung der Individualitäten auch im Staat, in der Kirche und in der Akademie gefunden werden.53 Als Ergebnis können wir resümieren: Erstens: Als eine organisierende Handlungstätigkeit ist das individuelle Organisieren die Aneignung der Natur und die Ausbildung des Talents unter dem Charakter der Individualität der Vernunft. Aus dem individuellen Organisieren bildet sich das vollkommene Individuelle. Das Eigentum gilt als Kennzeichen für diese Handlungstätigkeit. Zweitens: Ebenso wie im identischen Gebiet prägt die Vernunft der Individualität des Organisierens den entgegengesetzten Charakter ein. Aus dem Gemeinschaftlichwerden der Individualität ergibt sich die Idee der Geselligkeit. Als eine Gemeinschaft der Individualitäten ist die freie Geselligkeit einerseits der Kommunikationsort für die Individualität des Organisierens, andererseits der Versammlungsort der Individualitäten. Drittens: Die freie Geselligkeit setzt die Liebe voraus; die allgemeine Form der freien Geselligkeit ist das freiwillige Eintretenlassen und die gegenseitige Gastfreiheit. Die Freundschaft und die Familie sind die Grundformen der freien Geselligkeit. Viertens: Der Umfang der freien Geselligkeit ist durch die Verständlichkeit innerhalb der Sphäre begrenzt. Die freie Geselligkeit ist auch in anderen Lebensbereichen zu finden. Der Begriff der Geselligkeit spielt bei Schleiermacher bereits in der Religionstheorie in den Reden (1799) und in der Individualitätstheorie in den Monologen (1800) eine zentrale Rolle. In Hinsicht darauf, dass die Geselligkeit einer der wichtigsten Begriffe in seiner Handlungstheorie und von außergewöhnlicher Bedeutung für unseren Diskurs zum Thema Religion und Individualität ist, wollen wir auf diesen Begriff wieder zurückkommen. 1.2.2.4 Individuelles Symbolisieren Schleiermachers Diskussion über das individuelle Symbolisieren in seinem Quadruplizitätsschema menschlicher Handlung bildet den Schwerpunkt unserer vorliegenden Abhandlung. Denn ihm zufolge gehört Religion als ein Kulturphänomen und als eine Vernunfttätigkeit zu diesem Handlungsgebiet. In Hinsicht darauf wollen wir das individuelle Symbolisieren im Nachfolgenden ausführlich untersuchen. Um uns einen Überblick über sein Gesamtbild innerhalb der Kultur zu verschaffen, wollen wir hier vorerst eine Skizze von diesem Kulturfeld geben. Dass seine Interpretation der symbolisierenden Tätigkeit von dem Grundprinzip der Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen ausgeht, haben wir in der obigen kurzen Darstellung des identischen Symbolisierens herausgestellt. Während die Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen sich im identischen Handlungsgebiet als Identität von Denken und Sprechen sowie als Identität von Wissen und Sprache

53 Mehr dazu vgl. Brouillon, 130: „Die freie Geselligkeit ist aber zugleich in allen Sphären, dann in allem Thun des Menschen, Staat, Kirche, Akademie; […]“.

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konkretisiert, artikuliert sich dieses Verhältnis im entsprechenden individuellen Handlungsgebiet als Identität von Gefühl und Darstellen. Die Eingangsthese zu dieser Handlungstätigkeit lautet: „Das Erkennen tritt aber auch hervor auf der andern Seite mit dem Charakter der Eigenthümlichkeit d. h. der Unübertragbarkeit. Das nennen wir nun im eigentlichen Sinne Gefühl.“ (Brouillon 97) Das Erkennen zeigt sich in seinem individuellen Modus als Gefühl, das durch die Unübertragbarkeit charakterisiert ist. Das heißt, dass das Erkennen mit dem primären Charakter der Individualität als Gefühl zu verstehen ist. Hierbei ist ersichtlich, dass der Autor das Gefühl als individuelles Erkennen bestimmt.54 Die Identifizierung des Gefühls mit dem individuellen Erkennen dient als interpretatorischer Schlüssel für sein Verständnis über die Handlungstätigkeit des individuellen Symbolisierens. Das Gefühl als individuelles Erkennen ist unübertragbar. Diese Unübertragbarkeit gilt für Schleiermacher „nicht nur zwischen mehreren Personen, sondern auch zwischen mehreren Momenten desselben Lebens“ (Brouillon 98). Daraus ergibt sich die Frage, wie die persönliche Beschränkung im Gefühl trotz der Unübertragbarkeit aufgehoben werden kann, damit das individuelle Symbolisieren eine sittliche Tätigkeit wird. „Die Einheit des Lebens und die Identität der in die Einzelnen vertheilten Vernunft würde also ganz aufgehoben, wenn das Unübertragbare nicht wieder ein Gemeinschaftliches und Mittheilbares werden könnte.“ (ebd.) Mit diesen Worten verweist Schleiermacher auf den entscheidenden Sachverhalt für das individuelle Symbolisieren im sittlichen Leben: Nur wenn das Unübertragbare im Gefühl gemeinschaftlich und mitteilbar wird, kann diese Handlungstätigkeit aus der persönlichen Beschränkung heraustreten und damit eine Beziehung auf die Einheit des Lebens und die Identität der Vernunft gewinnen. Der Autor betrachtet dieses zugleich als Grund für eine „nothwendige Einpflanzung des entgegengesezten Charakters“ (ebd.) – die Einprägung der Gemeinschaftlichkeit in das Gefühl. In Bezug darauf, auf welche Weise das Unübertragbare im Gefühl gemeinschaftlich und mitteilbar werden kann, kommt nun die Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen zum Zuge: „Dies geschieht nun durch das Darstellen und vermittelst der beständigen Oscillation zwischen dem Erkennen und Darstellen.“ (ebd.) Das Unübertragbare im Gefühl wird durch das Darstellen gemeinschaftlich und mitteilbar; ist das Gefühl das individuelle Erkennen, so geht das Darstellen des Gefühls von der grundlegenden Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen im Leben aus. Damit kommen wir zur Oszillation von Erkennen und Darstellen in ihrem individuellen Modus, nämlich zur Oszillation von Gefühl und Darstellen. Zur Aufklärung dieser Oszillation dient dem Autor eine Analogie in der sinnlichen Welt – „in der bloßen Organisation“ (ebd.): „Jede Einwirkung nach innen, die ein Gefühl wird, treibt auch durch organische Nothwendigkeit nach außen.“ (ebd.) Die Wechselwir-

54 An anderen Stellen im Brouillon zur Ethik wird Gefühl auch als subjektives Erkennen bezeichnet, dazu vgl. Brouillon, 186 und 187.

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kung von Gefühl und Darstellen ist damit mit der Korrelation von Einwirkung und Rückwirkung in der sinnlichen Welt vergleichbar. Denn „[d]as Erkennen gründet sich nun auf jene organische Nothwendigkeit. Man sezt Organisation und Erfahrung gleich, also auch ein Erkennen der Einwirkung aus der Rückwirkung“ (ebd.). Aber anders als im identischen Handlungsgebiet des Symbolisierens, wobei das Denken durch die Sprache nachgebildet und dargestellt werden kann, hat das Darstellen des Gefühls – „Aeußerlichwerden des Gefühls“ – für Schleiermacher „aber nicht den Charakter der Sprache“ (ebd.) In diesem individuellen Handlungsgebiet des Symbolisierens ist das Gefühl als individuelles Erkennen durch die Nachbildung der Sprache nicht darzustellen. Denn durch die Sprache kann das Gefühl nicht äußerlich werden. Der Grund hierfür lautet: „Es geschieht nicht als Erregungsmittel derselben Thätigkeit in Andern; sondern es soll nur erkannt werden.“ (ebd.) Damit ist der erste Grundgedanke Schleiermachers zum Gefühl in seiner Handlungstheorie ins Licht gerückt: Dank der Unübertragbarkeit kann das Gefühl nur erkannt und durch die Sprache nicht dargestellt werden; für das Gefühl ist die Sprache, die als Darstellungs- und Erregungsmittel des identischen Erkennens dient, nicht das optimale Medium. Aus dieser Sicht stellt sich dann die Frage, wie das Gefühl erkannt werden kann. Das ist eine der kompliziertesten Fragen in der Handlungstheorie Schleiermachers, worauf wir im Nachfolgenden näher eingehen werden. Hier wird nur die Grundidee benannt. „Nun ist jedes Vernunftgefühl im Einzelnen eingehüllt in eine organische Operation und wird auch durch eine solche wieder äußerlich.“ (ebd.) Das Gefühl jedes Individuums ist in einem sinnlichen Vorgang ursprünglich gegeben und wird auch durch diesen sinnlichen Vorgang äußerlich. Darauf folgt: „Der Vernunftgehalt wird mittheilbar durch Anbilden der Organe für die Vernunft. Bezeichnung der Organe für die Individualität: Ton, Geberde, vorzüglich Antliz, Auge.“ (ebd.) Diese natürlichen Bezeichnungen der Organe für die Individualität sind die ursprüngliche Äußerung des Gefühls. Aber für Schleiermacher ist das Darstellen des Gefühls nicht nur dieses, sondern auch die Kunst: „Das Darstellen auf den Vernunftgehalt bezogen und im Großen angesehn ist Kunst.“ (ebd.). Wir haben in der Darstellung Schleiermachers zur Gemeinschaft des Individuums mit dem Ganzen gesehen, dass im vernünftigen Leben Kunst eine Darstellung der Idee ist. Nimmt man beide Stellen zusammen, so wird nun ein zweiter Grundgedanke des Autors zum Gefühl deutlicher: Das Darstellen des Gefühls auf einer höheren Stufe ist Kunst; statt Sprache ist Kunst das angemessenere Medium des Gefühls. Bis hierher ist zu ersehen, dass die Oszillation von Erkennen und Darstellen im individuellen Handlungsgebiet des Symbolisierens in einem weiteren Schritt durch die Wechselwirkung von Gefühl und Kunst konkretisiert wird. Schleiermacher zufolge soll Gefühl und Darstellen – ebenfalls wie Denken und Sprechen – in der sittlichen Bedeutung eins sein. Die Identität von Gefühl und Darstellen in ihrer sittlichen Bedeutung ist durch die Trennung der beiden Seiten wie folgt aufzuzeigen: Die Ethisierung der Darstellung besteht darin, „daß jede Darstel-

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lung ein reines Product des Gefühls sei“ (Brouillon 184); die Ethisierung des Gefühls, „inwiefern es ein gemeinschaftliches werden soll“, besteht darin, „daß jedes Gefühl in Darstellung übergehe“ (ebd.). Mit der Ethisierung des Gefühls ist bei Schleiermacher der Begriff der Religion in seiner Handlungstheorie direkt verbunden: „Die eigentliche Sphäre des Gefühls im sittlichen Sein ist nun die Religion.“ (Brouillon 99) Der Grund hierfür liegt in der entscheidenden Frage: Was bedeutet die Religion eigentlich? „Denn des sittlichen Lebens kann man sich nicht bewusst werden, wenn man sich nicht des beseelenden Princips auch als Vernunft d. h. in seiner Identität mit dem Absoluten bewusst ist. Und diese Beziehung unmittelbar gegeben ist Religion.“ (Brouillon 99–100) Blicken wir zurück auf Schleiermachers Diskussion über die Bestimmung des Lebens, wobei das Leben durch das abgeschlossene Dasein und seine Gemeinschaft mit dem Ganzen zu bestimmen ist, so ist hier deutlich, dass die Identität mit dem Absoluten die Vereinigung des Individuums mit dem Absoluten bedeutet. In dieser Aussage deutet sich demnach folgender Gesichtspunkt an: Ohne das Bewusstsein der Identität des Individuums mit dem Absoluten gibt es kein Bewusstsein eines sittlichen Lebens. Anders gesagt: Das sittliche Leben setzt die Identität des Individuums mit dem Absoluten voraus. Diese Beziehung – die Vereinigung des Individuums mit dem Absoluten – „unmittelbar gegeben“ ist für Schleiermacher Religion. „Unmittelbar gegeben“ bedeutet hier, dass diese Beziehung auf die Identität mit dem Absoluten für das Individuum nicht durch die Reflexion zu erreichen ist. Für die Identität des Individuums mit dem Absoluten spielt die Vernunft als beseelende die entscheidende Rolle. Damit ist die bereits herausgestellte Grundthese des Autors verbunden, dass nur auf der Ebene des Menschen als durch die Vernunft beseelt eine Beziehung des Einzelnen auf die Ideen gegeben werden kann. Demzufolge ist deutlich, dass Religion eine Vernunfttätigkeit ist. Nimmt man beide Zitate zusammen, dann lässt sich folgender Gedankengang aufzeigen: Weil die Beziehung auf die Identität des Individuums mit dem Absoluten unmittelbar gegeben Religion ist und diese Identität sich in der Ethisierung des Gefühls realisiert, ist das Gefühl im sittlichen Sein die Religion. Darauf folgt nun der dritte Grundgedanke Schleiermachers zum Gefühl, dass das Gefühl in seiner sittlichen Bedeutung religiös ist und religiös sein muss. Aus dieser Sicht versteht sich die notwendige Verschränkung von Gefühl und Religion bei Schleiermacher. Diese Verschränkung besteht nicht nur darin, dass Religion zur Sphäre des Gefühls bzw. zum Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens gehört, sondern es geht vielmehr um die Tatsache, dass Religion ihre Wurzel im Gefühl hat, oder anders gesagt, dass Religion eigentlich im Gefühl gründet. Ebenso wie die Wissenschaft und die Philosophie „die Vollendung und Sphäre alles Denkens“ (Brouillon 101) ist, betrachtet Schleiermacher die Religion als „die Vollendung und Sphäre des Gefühls“ (ebd.). Kehren wir an dieser Stelle zum Darstellen des Gefühls zurück. Schleiermacher zufolge wird das Gefühl dank ihrer Unübertragbarkeit durch die Sprache nicht äußerlich. Das angemessenere Medium des Gefühls ist Kunst. Das bedeutet: Auf eine

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optimale Weise geht das Gefühl durch Kunst in die Darstellung über. Mit der Einsicht der sittlichen Bedeutung des Gefühls verbindet sich nun der Befund, dass das Gefühl in der Kunstdarstellung sittlich werden kann. Daraus ergibt sich bei Schleiermacher die Nähe von Religion und Kunst: „Also muß auch Religion und Kunst zusammenfallen, und die sittliche Ansicht der Kunst besteht eben in ihrer Identität mit der Religion. Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös.“ (Brouillon 100) Religion und Kunst gehören unmittelbar zusammen. In dieser Äußerung verbirgt sich zwar die Gefahr, dass die Kunst durch ihre Verschmelzung mit der Religion ihre Eigenständigkeit verlieren könnte.55 Von entscheidender Bedeutung für unsere weitere Untersuchung ist hier aber die Grundidee: Im Rahmen des Quadruplizitätsschemas menschlicher Handlung Schleiermachers gehören Religion und Kunst zusammen zum Gebiet des individuellen Symbolisierens. Die Korrelation zwischen Religion und Kunst in diesem Handlungsgebiet entspricht der Korrelation von Wissen und Sprache in diesem Handlungsgebiet. Der Sachverhalt, dass Religion im Gefühl gründet, das unübertragbar ist, verstärkt aber die Schwierigkeit, das Verhältnis zwischen Religion und Kunst aufzuklären. Dieses Verhältnis näher zu bestimmen, bemüht sich der Autor in seinen späteren ethischen Entwürfen.56 Dieses wird in den nachfolgenden Untersuchungen ausführlich entfaltet. Wir haben in der obigen kurzen Darstellung zum identischen Handlungsgebiet des Symbolisierens gesehen, dass die Akademie – eine institutionelle Gestaltung – ein Resultat der Individualisierung von Denken und Sprache ist. „Dasselbe gilt in der entgegengesezten Sphäre des Gefühls.“ (Brouillon 101) Aus der Individualisierung des Gefühls und seines Darstellens ergibt sich die Kirche – die institutionelle Gestaltung zum Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens. „Das Mittheilen desselben individualisirt sich, je nachdem die Identität großer organischer Bedingungen einen bestimmten Kreis der Verständlichkeit bildet; und diese individuelle Einheit des Gefühls selbst und der Darstellung ist die Idee einer Kirche.“ (Brouillon 101–102) Indem die Gemeinschaftlichkeit der großen sinnlichen Bedingungen – zum Beispiel der klimatischen und geographischen Bedingungen – einen bestimmten Kreis der Verständlichkeit zur Folge hat, individualisiert sich das Darstellen desselben religiösen Gefühls. Diese als Gemeinschaftlichkeit geltende individuelle Einheit des Gefühls und der Darstellung eines bestimmten Kreises ist für Schleiermacher die Idee der Kirche. Wie die Religion gehört die Kirche nun folgerichtig ebenfalls zum Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens. Wie bereits herausgestellt, verbinden sich die organisierende Tätigkeit und die symbolisierende Tätigkeit. Dies betont Schleiermacher wie folgt ausdrücklich wieder: „Weil Organbildung nur durch Organgebrauch erfolgt, so hängt der Staat zusammen mit dem indi-

55 Dazu vgl. Anne Käfer: „Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös“. Schleiermachers Ästhetik im Kontext der zeitgenössischen Entwürfe Kants, Schillers und Friedrich Schlegels, Tübingen 2006. 56 Vor allem in der Güterlehre von 1812/13.

1 Die Grundelemente der Handlungstheorie

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viduellen Wissen, die freie Geselligkeit mit der Kunst und der Religion.“ (Brouillon 103) In Bezug auf die institutionelle Gestaltung beider individuellen Handlungstätigkeiten besteht dieser Zusammenhang darin, dass die Kirche als eine religiöse Gemeinschaft der Individualität die vollkommenste Form der freien Geselligkeit ist. Dass Schleiermacher den Kirchenbegriff im Kontext seiner Kulturtheorie neu bestimmt, gehört zu seinen wichtigsten Leistungen für die Religionstheorie und die Theologie.57 Hiermit kann eine zusammenfassende Skizze zum individuellen Symbolisieren anhand von fünf Punkten gegeben werden. (1) Die symbolisierende Handlungstätigkeit unter dem Charakter der Individualität ist das Gefühl. Damit bestimmt Schleiermacher das Gefühl als individuelles Erkennen. Die Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen artikuliert sich demnach im Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens als Identität von Gefühl und Darstellen. (2) Während das Wissen durch die Sprache nachgebildet und dargestellt werden kann, kann das Gefühl dank seiner Unübertragbarkeit nur erkannt werden. Die Kunst ist das optimale Medium des Gefühls. Damit konkretisiert sich die Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen in dieser Sphäre in einem weiteren Schritt als Identität von Gefühl und Kunst. (3) Gefühl und Religion gehören zusammen: Das Gefühl im sittlichen Sein ist Religion. Die Verschränkung von Gefühl und Religion ist in zweierlei Hinsicht zu verstehen: Das Gefühl in seiner sittlichen Bedeutung ist religiös und muss religiös sein; Religion hat ihre Wurzel im Gefühl. Religion gehört deshalb zum Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens und gilt als Vollendung dieser Sphäre. (4) Die Ethisierung des Gefühls besteht darin, dass das Gefühl in die Darstellung übergeht. Ist die Kunst das optimale Darstellungsmedium des Gefühls, so ergibt sich hierbei eine Nähe zwischen Religion und Kunst. Kunst wird als Medium der Religion betrachtet. Die Korrelation zwischen Religion und Kunst in diesem Handlungsgebiet entspricht der Korrelation von Wissen und Sprache im Handlungsgebiet des identischen Symbolisierens. (5) Als eine religiöse Gemeinschaft ist die Kirche die institutionelle Gestaltung zum Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens, die zur Akademie im Handlungsgebiet des identischen Symbolisierens parallel steht. Bis hierher wurden alle vier Handlungsgebiete unter dem Quadruplizitätsschema Schleiermachers nach dem Brouillon zur Ethik – seinem allerersten vollständigen und systematischen Entwurf zur Philosophischen Ethik – in einer allgemeinen Darstellung rekonstruiert. Dadurch haben wir uns einen Überblick über seine Beschreibung des Gesamtspektrums der modernen Kultur verschafft. Im Rahmen dieses Schemas wird ein Panorama der menschlichen Gesellschaft anhand von vier Handlungsweisen präsentiert: Recht, freie Geselligkeit, Wissen und Religion. Mit diesen vier Handlungsweisen sind die entsprechenden Institutionen in der Gesellschaft

57 Zum Kirchenbegriff Schleiermachers in seiner Handlungstheorie vgl. unten: Kapitel 4. 4. Der Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik.

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verbunden: Staat, Haus/Familie, Akademie und Kirche. Diese vier Handlungsgebiete erschöpfen den gesamten Bereich dessen, was wir heute Kultur in einem weiteren Sinne nennen. In dieser Hinsicht ist Schleiermacher ohne Zweifel auch ein bedeutender Kulturtheoretiker. Für die Religionstheorie ist diese Beschreibung der menschlichen Kulturwelt in diesem Sinne von hoher Bedeutung, dass unter diesem Schema Religion als eine Handlungsweise des Menschen – wie Staat, Familie und Akademie – zur Kultur gehört und sich dadurch als eine selbstständige und notwendige Funktion der Kultur erweist, analog zu den anderen Kulturgebieten. Wir haben gesehen, dass Religion im Rahmen der Handlungstheorie Schleiermachers als eine Vernunfttätigkeit interpretiert und dem Kulturfeld des individuellen Symbolisierens zugeordnet wird. Auf diese Interpretation gründet sich die Verhältnisbestimmung von Religion und Individualität. Indem Schleiermacher Religion zum Gegenstand der Kulturwissenschaft macht, legt er eine kulturtheoretische Begründung für den Zusammenhang von Religion und Individualität vor. Insofern ist das individuelle Symbolisieren in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse und wird deshalb in den nachfolgenden Teilen näher untersucht. Mit Bezug auf unseren Diskurs können hier die wichtigen Themen zu diesem Handlungsgebiet genannt werden. In der ersten Frage geht es darum, weshalb das Gefühl im sittlichen Sein Religion ist. Durch diese Fragestellung ist bei Schleiermacher der ethische Religionsbegriff in seine Handlungstheorie eingeführt. Bei der zweiten Frage handelt es sich darum, inwiefern die Kunst die angemessenere Darstellung des Gefühls ist. Auf dieser Grundlage stellt sich dann die dritte Frage, wieso gerade die Kunst das optimale Medium der Religion ist. Damit ist schließlich die Neuinterpretation des Kirchenbegriffs Schleiermachers verbunden. Während der Autor bereits im Brouillon zur Ethik einen klaren ethischen Religionsbegriff gegeben hat, führt er die anderen Themen erst in den ethischen Entwürfen seiner Reifezeit aus. Vor dem Hintergrund unserer Rekonstruktion des Quadruplizitätsschemas menschlicher Handlung wollen wir im nachfolgenden Hauptabschnitt Schleiermachers ethischen Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik nachgehen.

2 Der ethische Religionsbegriff in einem erkenntnistheoretischen Kontext Spricht man heute von der Religionstheorie Schleiermachers, denkt man oft zunächst an seine beiden berühmten Fassungen des Religionsverständnisses in seinem frühromantischen Werk Reden über die Religion von 1799 und in seiner so genannten Glaubenslehre – unter dem Titel Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt (1821/22; 1830/31). Trotz der in den nachfolgenden 15 Jahren erfolgten Selbstkorrektur bleibt die Urfassung der Reden eine Programmschrift in der Geschichte der protestantischen Theologie und die Bestimmung der Religion als Anschauung des Universums in dieser Urfas-

2 Der ethische Religionsbegriff in einem erkenntnistheoretischen Kontext 

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sung gehört nach wie vor zu seinen wirkmächtigsten religionstheoretischen Grundgedanken. In der Glaubenslehre, seiner systematischen Darstellung der christlichen Dogmatik, modifiziert Schleiermacher vor dem entwickelten Hintergrund sein Religionsverständnis in den Reden. Die Thematisierung der Religion in der Einleitung der Glaubenslehre von 1830/31 gilt als letzte Fassung seines Religionsverständnisses. Weniger bekannt ist vielleicht, dass Schleiermacher im Rahmen seiner als Kulturtheorie gelesenen Philosophischen Ethik, genau genommen im Brouillon zur Ethik von 1805/06, einen ethischen Religionsbegriff entwickelt. Dieser ethische Religionsbegriff ist von besonderer Bedeutung für die gesamte Thematisierung der Religion Schleiermachers. Zumindest drei Aspekte dieser besonderen Bedeutung sind hier zu benennen. Zunächst legt Schleiermacher mit diesem ethischen Religionsbegriff eine begriffliche Umbildung in seinem Religionsverständnis vor. Diese Umbildung ist entscheidend für die vorliegende Studie, weil sie einen neuen Raum für den religionsphilosophischen Diskurs über das Wechselverhältnis von Religion und Individualität eröffnet, das er bereits in seinen frühromantischen Werken entdeckt hat. Sodann geht Schleiermachers Thematisierung der Religion in den Ethikvorlesungen seiner Berliner Reifezeit, vor allem seine Diskussion über das Verhältnis von Religion und Kunst, gänzlich von diesem ethischen Religionsbegriff aus. Denn eine Interpretation dieses Religionsbegriffs hat der Autor in keiner weiteren Vorlesung zu seiner Philosophischen Ethik als nur im Brouillon zur Ethik wiedergegeben. Schließlich dient der Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik als Brücke zwischen seiner frühsten Fassung des Religionsbegriffs in den Reden von 1799 und seiner späteren Fassung des Religionsverständnisses in der Glaubenslehre. Dank dieses Religionsbegriffs können sowohl die Kontinuität als auch die Diskontinuität in seiner gesamten Thematisierung der Religion aufgespürt werden. Wohl hat der ethische Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik eine ganz wichtige Position in der gesamten Thematisierung der Religion Schleiermachers, wohl haben einige Autoren auf die hohe Bedeutung des Religionsbegriffs in dieser frühen Vorlesung der Philosophischen Ethik Schleiermachers hingewiesen und zu diesem Thema beigetragen, aber eine gründliche und zutreffende Studie zum Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik ist seit Wilhelm Dilthey (1966), Eugen Huber (1901) und Hermann Süskind (1909) selbst in der neusten Forschung leider schwer zu finden.58 Peter Grove (2004) behauptet in seiner Habilitationsschrift, dass Schleiermachers Aussagen über die Religion in seiner Philosophischen Ethik nur „kürzer und unergiebiger als andere religionstheoretische Reflexionen Schleiermachers“ sind und eher eine den Theorierahmen bildende Funktion für sein Religionsverständnis in der

58 Wilhelm Diltheys kurzer Beitrag zum ethischen Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik ist in seiner posthum erschienenen Darstellung des Systems Schleiermachers zu sehen (vgl. ders.: Leben Schleiermachers [Bd. 2][1966], 560–563); Eugen Huber: Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher (1901), 89–96; Hermann Süskind: Der Einfluss Schellings (1909), 134–138.

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Glaubenslehre haben.59 Groves Beobachtung ist nur zum Teil richtig. Es stimmt zwar, dass Schleiermachers Diskussion über Religion in der Philosophischen Ethik nicht so ausführlich ist wie in den Reden oder in der Glaubenslehre, weil die Ethik an sich weder eine religionstheoretische noch eine theologische Abhandlung ist. Aber anders als bei seinen anderen philosophischen Vorlesungen, zum Beispiel bei Ästhetik und bei Dialektik, handelt es sich bei seiner Philosophischen Ethik, genauer genommen bei dem Brouillon zur Ethik, nicht bloß um Aussagen über Religion, sondern vielmehr um einen ethischen Religionsbegriff, den der Autor im Rahmen seiner handlungstheoretischen Kulturphilosophie entwickelt hat. Vor dem Hintergrund unserer einführenden Darstellung des handlungstheoretischen Schemas bei Schleiermacher wird im Folgenden sein ethischer Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik durch die Aufklärung des Verhältnisses von Gefühl und Religion in der Weiterführung und Auseinandersetzung mit bisherigen Beobachtungen in der Forschung näher untersucht. Die Grundidee Schleiermachers, dass Religion als Vernunfttätigkeit zur Handlungssphäre individuellen Symbolisierens gehört und das Gefühl im sittlichen Sein Religion ist, haben wir in unserer vorangehenden Darstellung seiner Kulturtheorie bereits gesehen. Die Einführung seines ethischen Religionsbegriffs steht unter der Voraussetzung, dass das Gefühl als individuelles Erkennen verstanden wird. An diese erkenntnistheoretische Interpretation schließt der Autor seine Diskussion über die Ethisierung des Gefühls an. Demnach ist es nicht verwunderlich, dass der ethische Religionsbegriff Schleiermachers auf seinen erkenntnistheoretischen Gedanken im Brouillon zur Ethik beruht. Vor unserem Versuch einer Rekonstruktion der Interpretation der Ethisierung des Gefühls und des damit verbundenen ethischen Religionsbegriffs Schleiermachers in dieser früheren ethischen Vorlesung (2.2) ist es deshalb notwendig, zunächst auf seine Erkenntnistheorie im Allgemeinen einzugehen (2.1).

2.1 Die Erkenntnistheorie im Allgemeinen Schleiermachers Erkenntnistheorie ist nicht nur im Brouillon zur Ethik zu finden. Im Rahmen seiner durch ein Quadruplizitätsschema strukturierten Handlungstheorie in dieser frühen Vorlesungsvorlage zur Ethik legt er seine erste Fassung der Erkenntnistheorie vor, worin er die erkennende Tätigkeit mit dem überwiegenden

59 Peter Grove: Deutungen des Subjekts (2004), 533. Groves These zur Bedeutung der Religionsgedanken in der Philosophischen Ethik lautet: „Die religionstheoretische Bedeutung der Ethik beruht nicht so sehr auf den materialen Bestimmungen des Religionsthemas als darauf, daß sie nach Schleiermachers Wissenschaftssystematik den nächsten theoretischen Rahmen des Religionsbegriffs bildet. So gehört der allgemeine Religionsbegriff der Glaubenslehre prinzipiell in die Ethik.“ (a. a. O., 533–534)

2 Der ethische Religionsbegriff in einem erkenntnistheoretischen Kontext

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Charakter der Identität und mit dem überwiegenden Charakter der Individualität jeweils als identisches Erkennen einerseits und als individuelles Erkennen andererseits interpretiert. Die Grundlegung seiner Erkenntnistheorie entfaltet er erst in der Dialektik (1811 und 1814/15), nämlich in seinen philosophischen Schriften zum Problem der Letztbegründung. Außerdem zeigt sich der erkenntnistheoretische Gedanke auch in seinen Vorlesungen zur Hermeneutik (1805, 1809/10 und 1819), zur Ästhetik (1819 und 1825) und zur Psychologie oder Seelenlehre (1818, 1834, 1830 und 1833/34).60 In Hinsicht auf unsere Aufgabe, uns eine Basis für die Rekonstruktion seines ethischen Religionsbegriffs im Brouillon zur Ethik zu verschaffen, wollen wir uns hier auf seine Erkenntnistheorie in dieser Schrift beschränken.61 Schleiermachers Erkenntnistheorie im Brouillon zur Ethik ist mit der Entfaltung der erkennenden Tätigkeit im Rahmen seiner Handlungstheorie verschränkt und geht ebenfalls von der ursprünglichen Idee dieser Handlungstheorie aus. Diese ursprüngliche Idee beinhaltet zwei Grundsätze: 1) „[D]er Mensch wird uns gegeben als Naturwesen von der Naturphilosophie“ (Brouillon 150). In diesem Grundsatz deutet sich an, dass der Mensch als Naturwesen ebenso wie das Tier ein organisches Vermögen hat. 2) „[W]as so in ihm vorkommt, wird durch die einwohnende Idee, die Gesinnung, zur höheren Potenz erhoben“ (ebd.). Der Mensch kann das, was es in ihm als Naturwesen gibt, mit der Idee zur höheren Potenz erheben. Die Idee gilt hier als ein höheres Vermögen des Menschen, wodurch dieser sich vom Tier grundlegend unterscheidet. Mit dem Erheben der organischen Seite zur höheren Potenz ist die Sittlichkeit des Lebens in jeder Funktion verbunden. Die Erkenntnistheorie in dieser Schrift handelt schließlich von der erkennende Funktion des sittlichen Lebens. In Schleiermachers Verständnis über die erkennenden Funktion im sittlichen Leben sind zwei miteinander eng verbundene Bedeutungsschichten enthalten: Die erste Bedeutungsschicht besteht darin, dass das Wahrnehmen und Empfinden zum Erkennen erhoben werden muss; in der zweiten geht es darum, dass das Erkennen in das sinnliche Wahrnehmen und Empfinden eingehen muss, nämlich dass das Erkennen von dem sinnlichen Wahrnehmen und Empfinden nicht zu trennen ist. In dieser Verhältnisbestimmung zwischen dem sinnlichen Wahrnehmen und Empfinden und dem Erkennen bildet sich seine Erkenntnistheorie. Um Schleiermachers Grundgedanken zur erkennenden Funktion im sittlichen Leben besser zu begreifen, wollen wir die beiden Bedeutungsschichten im Folgenden jeweils näher betrachten. Wir fangen mit der ersten Bedeutungsschicht an, dass das Wahrnehmen und Empfinden zum Erkennen erhoben werden muss. Schleiermachers Diskussion wird

60 Vgl. Rudolf Odebrecht: Schleiermachers System der Ästhetik. Grundlegung und Problemgeschichtliche Sendung, Berlin 1932, 54–77. 61 Zu Schleiermachers Erkenntnistheorie im Brouillon zur Ethik vgl. Eilert Herms: „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“ (1984/2003), 92–96; Peter Grove: Deutungen des Subjekts (2004), 382–396.

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durch die folgende Eingangsthese eröffnet: „Das eigentliche Erkennen wohnt nur im Vermögen der Ideen, alles andere ist nur ein Analogon, ein mögliches Substrat des Erkennens. Aber dennoch auch in dem organischen [sc. Reiche] ein Aufsteigen.“ (ebd.) In dieser Eingangsthese zeigt sich ein scheinbarer Widerspruch: Das eigentliche Erkennen ist einerseits nur im höheren Vermögen des Menschen gegeben – im Vermögen der Idee, und andererseits – von der organischen Seite des Menschen aus gesehen – ist es zugleich „ein Aufsteigen“. Der Autor paraphrasiert diese Eingangsthese durch den Versuch, das Aufsteigen des sinnlichen Wahrnehmens und Empfindens zum Erkennen zu beschreiben, nämlich das Entstehen des eigentlichen Erkennens darzustellen. An dieser Stelle muss vorerst kurz auf die Anschauung des Lebens zurückgeblickt werden, die wir in der allgemeinen Einführung in die Handlungstheorie thematisiert haben. Wie bereits aufgezeigt ist das Leben bei Schleiermacher durch das abgeschlossene Dasein und seine Gemeinschaft mit dem Ganzen gegeben: das Ich als individuelles Dasein und die Vereinigung des Ichs mit dem Nicht-Ich. Die Gemeinschaft des abgeschlossenen Daseins mit dem Ganzen ist durch die Wechselwirkung von zwei miteinander verbundenen Kräften zu beschreiben – Attraktion und Repulsion.62 Für Schleiermacher beruht ebenfalls das Erkennen des Menschen auf diesem Grundgesetz des Lebens. In der „Gemeinschaft mit der übrigen Welt durch Action und Reaction“ (ebd.) oszilliert das abgeschlossene Dasein immer zwischen dem Sich-Verlieren und dem Sich-Wiederfinden, zwischen dem Sich-Bestimmen, mehr als ein Teil des Ganzen und mehr als ein Individuum zu sein. Dies hat das Auseinandertreten von Wahrnehmen und Empfinden zur Folge, das nur bei Menschen geschieht.63 Wahrnehmen und Empfinden gehören zum organischen Vermögen des Menschen: jenes auf der objektiven Seite heißt deshalb auch „die objective Wahrnehmung“ (ebd.), auf Gegenstände bezogen; dieses auf der subjektiven Seite, wie „Schmerzen und Lust“ (ebd.), ist auf die unterschiedlichen Zustände bezogen. Im Gegensatz dazu treten Empfinden und Wahrnehmen bei Tieren nicht auseinander,64 sie sind die „unter einander gemischten“ (Brouillon 176).65 Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass der Autor zwar auf die Trennung von Wahrnehmen und Empfinden beim Menschen einen besonderen Akzent legt, aber in seiner erkenntnistheoretischen Diskussion im Brouillon zur Ethik oft den Begriff des Wahrnehmens allein (zum Beispiel das sinnliche Wahrnehmen oder das menschli-

62 Vgl. oben: Kapitel 3. 1.1 Die Bestimmung des Lebens. 63 Vgl. Brouillon, 150: „Das abgeschlossene Dasein besteht in einer Oscillation von beiden. Aber die entgegengesezten Factoren treten nur bei dem Menschen recht aus einander in Empfindung und Wahrnehmung.“ 64 Vgl. Brouillon, 150: „Wir schreiben den Thieren weder eine objective Wahrnehmung zu wie uns, daß sie wirklich Gegenstände oder auch nur Facta wahrnehmen, noch in demselben Sinne Schmerz und Lust, daß sie Zustände in sich unterschieden und entgegensezten.“ 65 Zum Unterschied zwischen Mensch und Tier im organischen Vermögen im Brouillon zur Ethik vgl. Peter Grove: Deutungen des Subjekts (2004), 386.

2 Der ethische Religionsbegriff in einem erkenntnistheoretischen Kontext 

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che Wahrnehmen)66 verwendet, um die beiden Seiten des organischen Vermögens des Menschen zu bezeichnen. Vor diesem Hintergrund setzt sich der Autor dann mit der kantischen Erkenntnistheorie kritisch auseinander. „Die Dialektik, welche bloß auf dem sinnlichen Standpunkt steht und von da aus gegen das Erkennen polemisirt hat Recht, daß man durch das bloße Wahrnehmen zu keinem Gegenstande gelangt und durch die bloße Empfindung nicht zu einer Einheit des Bewußtseins, sondern daß beides nur beständige Fluxionen sind, nur ein ewiges Werden ohne Sein und nur Besonderes ohne Allgemeines.“ (Brouillon 150–151) In dieser Erkenntnisdialektik sind zwei Grundsätze zum sinnlichen Vermögen des Menschen enthalten: 1) das Wahrnehmen und das Empfinden sind nur auf der sinnlichen Ebene gegeben; 2) die beiden isolieren sich vom Erkennen. Für Schleiermacher ist dieser Gedanke sehr wichtig, weil auf zwei Sachverhalte zum Wahrnehmen und Empfinden verwiesen wird. Zum einen geht es darum, dass man durch das Wahrnehmen und das Empfinden weder zu einem Gegenstand noch zu einer Einheit des Bewusstseins gelangen kann; zum anderen geht es darum, dass beide bloß etwas Fluktuierendes sind. Diese „beständige Fluxion“ bedeutet für Schleiermacher „ein ewiges Werden ohne Sein und nur Besonderes ohne Allgemeines“. Wahrnehmen und Empfinden selbst sind also kein Erkennen, das mit Ewigkeit und Einheit zu tun hat. In dieser Hinsicht hat die kantische Erkenntnistheorie zwar Recht, aber unser Autor grenzt sich gegen den zweiten Grundsatz ab, dass das Wahrnehmen und das Empfinden vom Erkennen isoliert existiert – „gegen das Erkennen polemisirt“. Damit kommt Schleiermacher zur Schlüsselthese seiner erkenntnistheoretischen Ausführungen im Brouillon zur Ethik: „Dieses soll nun aufgehoben werden durch die einwohnende Idee und das Vermögen der Ideen, und dies ist eben das Ethisiren. Nur durch sie kommt zu dem Werden ein Sein, zu dem schlechthin Besonderen ein wahrhaft Allgemeines.“ (Brouillon 151) In dieser Aussage liegt vorerst, dass die jedem Menschen gehörende Idee und deren Vermögen für das Aufheben des Fluktuierenden im Wahrnehmen und Empfinden die entscheidende Rolle spielt. Wir haben anfangs in unserer Einleitung herausgestellt, dass das Prinzip der Philosophischen Ethik Schleiermachers „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“ (Brouillon 87) ist und diese Beseelung durch das Geschäft der Vernunft – „das Erheben dieses organischen Vermögens zur Potenz der Idee“ (Brouillon 103) erfolgt. Mit diesem Grundgedanken seiner Philosophischen Ethik ist nun zu konstatieren, dass das Vermögen der Idee in jener Aussage das Vermögen der Vernunft bedeutet. Darauf folgt der Sachverhalt, dass das stetig Fluktuierende und Besondere im sinnlichen Wahrnehmen und Empfinden – „ein ewiges Werden ohne Sein und nur Besonderes ohne Allgemeines“ – durch das Vermögen der Vernunft überwunden werden kann. Diesen Vorgang bezeichnet der Autor hier als das Ethisieren. So-

66 Vgl. Brouillon, 155 und 176.

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dann zeigt diese Aussage, dass dieses Aufheben zugleich der einzige Weg ist, wodurch ein Sein zum Werden und ein wahrhaft Allgemeines zum absolut Individuellen kommt. Anders gesagt: Das Aufheben des Fluktuierenden im Wahrnehmen und Empfinden ermöglicht die Vereinigung von Werden und Sein und die Vereinigung vom schlechthin Besonderen und wahrhaft Allgemeinen. Diese Beobachtung begründet der Autor, indem er „das ursprüngliche Object“ und „das ursprüngliche Allgemeine“ im Erkennen wie folgt aufklärt: „Denn das ursprüngliche Object ist kein anderes als das Ganze, jedes andere kann uns wieder in der Wahrnehmung verschwinden, und das ursprünglich Allgemeine ist nichts andres als die gegenseitige Auflösung des Idealen und Realen in einander.“ (Brouillon 151) Das ursprüngliche Objekt im Erkennen ist das Ganze, und das ursprüngliche Allgemeine im Erkennen ist die gegenseitige Auflösung des Idealen und Realen. So wird ein Sein zum Werden, wodurch das Ganze hervorgeht, und ein wahrhaft Allgemeines (ein Ideales) wird zum Besonderen (zum Realen), wodurch das Ideale und das Reale sich ineinander auflösen. An dieser Stelle rücken zwei für sein ethisches Religionsverständnis wichtige Begriffe ins Licht – die Totalität für den Gedanken des Ganzen und die Einheit für den Gedanken des ursprünglichen Allgemeinen. „Die Totalität kommt durch die Idee an sich, die Einheit durch die Idee als einwohnendes Princip, wodurch zugleich das Besondere im Allgemeinen und dieses in jenem gesezt wird.“ (ebd.) Aus diesen Worten ist ersichtlich, dass sowohl die Totalität als auch die Einheit nur vermittels des Vermögens des Menschen in der Idee aufgefasst werden können und die Idee an sich das allen Menschen gehörige wesensbestimmende Prinzip ist. Die Idee besitzt das höhere Vermögen des Menschen, das Fluktuierende und das Sinnliche des Wahrnehmens und des Empfindens aufzuheben. Daraufhin stellt Schleiermacher fest: „Daher ist nur, wo das Vermögen der Ideen einwohnt, eine Monade, welche Weltvorstellungen hat; das sinnliche Wahrnehmen und Empfinden an sich ist nur Beziehung des Einzelnen auf das Einzelne.“ (ebd.) Das heißt, die Idee ermöglicht einer Monade weiterhin Weltvorstellungen, und ohne dieses Vermögen der Idee bleibt das sinnliche Wahrnehmen und Empfinden nur fluktuierend und besonders. Während es im sinnlichen Wahrnehmen und Empfinden nur die Beziehung des Einzelnen auf das Einzelne gibt, richtet das Erkennen sich vermittels des Vermögens der Idee auf die Totalität und auf die Einheit. An dieser Stelle ist zu bemerken, dass der Leibnizsche Begriff „Monade“ dem Autor dazu verhilft, Totalität und Einheit als Kennzeichen für das eigentliche Erkennen aus einer neuen Perspektive zu verstehen. Aber anders als Leibniz beschränkt sich hierbei der Umfang seiner Verwendung von „Monade“ nur auf die geistige Sphäre des Menschen bzw. auf die Sphäre der Idee.67

67 Zu Schleiermachers Auseinandersetzung mit Leibniz’ Monadologie (1714) in seiner Jugendschrift Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems (Vermutlich 1793/94) vgl. oben: Kapitel 1. 2.2 Die neue Bestimmung der Individualität, 75–77.

2 Der ethische Religionsbegriff in einem erkenntnistheoretischen Kontext 

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Aus der obigen Diskussion über das eigentliche Erkennen im Vermögen der Idee fasst Schleiermacher nun die erste Bedeutungsschicht in seinem Verständnis über die erkennende Funktion im sittlichen Leben zusammen: „Diese [sc. erkennende] Function des sittlichen Lebens besteht also darin, das Wahrnehmen und Empfinden zum Erkennen zu erheben. Natürlich muß aber diese Erhebung eine Totalität sein. Im sittlichen Leben giebt es kein Wahrnehmen und Empfinden, das nicht zur Potenz der Idee erhoben und mit ihr eins wäre.“ (ebd.) Diese Aussage wird durch eine spätere Bemerkung am Rande ergänzt: „Indem Wahrnehmen und Empfinden immer bestimmter auseinander treten, werden sie erst zum Erkennen erhoben.“68 Damit liegen hier vier Punkte nahe. Zuerst ist festzustellen, dass das Entstehen des eigentlichen Erkennens ein Ethisierungsvorgang ist, der durch die Erhebung des bloß sinnlichen Wahrnehmens und Empfindens zum Erkennen erfolgt. Zweitens ist hervorzuheben, dass die Erhebung als ein Ganzes („eine Totalität“) betrachtet werden muss. Das heißt: Weder das Wahrnehmen und Empfinden allein noch das Erkennen allein kann als Ethisierung betrachtet werden. Damit ist der dritte Punkt verbunden, dass das sinnliche Wahrnehmen und Empfinden an sich aber nicht zum sittlichen Leben gehört. Das Sittliche bedeutet hier, dass das Wahrnehmen und Empfinden zur Potenz der Idee erhoben und dadurch mit der Idee vereinigt wird. Schließlich ist viertens deutlich, dass das Aufsteigen des sinnlichen Wahrnehmens und Empfindens zum Erkennen durch deren immer klareres Auseinandertreten ermöglicht ist. In dieser Zusammenfassung deutet der Autor bereits die zweite Bedeutungsschicht an, dass das Erkennen genetisch vom Wahrnehmen und Empfinden ausgeht. Anders gesagt: Das Erkennen ist genetisch vom Wahrnehmen und Empfinden nicht zu trennen. Bisher haben wir gesehen, dass Schleiermacher das Erheben des Wahrnehmens und Empfindens zum Erkennen als einen Ethisierungsvorgang konstatiert. Dieser Vorgang ist nur vermittels der Idee und des Vermögens der Idee – des höheren Vermögens des Menschen – möglich und kann als folgendes verschränktes Verfahren verstanden werden: Dieser Vorgang ist das Aufheben des Fluktuierenden und Besonderen im Wahrnehmen und Empfinden; er ist auch das Aufsteigen des sinnlichen Wahrnehmens und Empfindens auf das Erkennen; er ist zugleich das Hervorbringen der Beziehung des Einzelnen auf die Totalität und die Einheit. Daraus stellt sich eine für die Interpretation der Ethisierung in der erkennenden Funktion entscheidende Frage: Weshalb muss das sinnliche Wahrnehmen und Empfinden zum Erkennen aufsteigen? Diese Frage ist ebenfalls für unsere nachfolgende Diskussion über den ethischen Religionsbegriff von hoher Bedeutung. Insofern soll das Problem im Folgenden näher geklärt werden, bevor wir uns der zweiten Bedeutungsschicht in seinem Grundgedanken zur erkennenden Funktion zuwenden.

68 Brouillon, 151 (Fußnote), Späterer Zusatz am Rand.

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Der Grund dafür, dass das sinnliche Wahrnehmen und Empfinden im sittlichen Leben zum Erkennen aufsteigen muss, liegt nach Schleiermacher darin, dass es – außer im Erdgeist69 – keine sittliche Einheit in der organischen Tätigkeit des Menschen geben kann. Um das aufzuklären, dient dem Autor folgendes Argument: Man kann zwar denken, dass es „zweierlei Einheiten“ – die Einheit des Moments und die Einheit der Tat – „in der organischen Thätigkeit des Wahrnehmens und Empfindens“ (Brouillon 153) gibt, aber man kann die beiden Einheiten durch das organische Vermögen des Menschen allein nicht erreichen. Wir kommen zunächst zur Einheit des Moments. Wohl ist es möglich: „Oder man kann die Thätigkeit selbst in der Zeit so lange spalten, daß man auf entfernte Theile kommt, von denen man für sich nicht mehr zeigen kann, daß sie von höhern Vermögen producirt worden sind.“ (ebd.). Dazu kann es eine Einheit des Moments geben, „der sich über alle die verschiedenen einzelnen Thätigkeiten erstreckt“ (ebd.). Aber für Schleiermacher ist diese Einheit des Moments in der organischen Tätigkeit an sich nicht möglich. Denn „[i]st nun in dieser [sc. Einheit] das Erkennen, so ist sie auch in allem Mannigfaltigen, das in dieser Einheit mit aufgenommen ist“ (ebd.). Wenn das Erkennen in dieser Einheit des Moments ist, so ist diese Einheit auch in allen verschiedenen einzelnen Tätigkeiten des Erkennens. Die Identität des Allgemeinen und des Besonderen ist aber ohne das höhere Vermögen der Idee nicht zu denken. Neben der Einheit des Moments könnte es noch die Einheit der Tat in der organischen Tätigkeit des Wahrnehmens und Empfindens geben. Es ist ebenfalls möglich: „Man kann das Organische so lange spalten, daß man auf unendlich kleine Einzelheiten kommt, in denen keine Verbindung mit der Idee mehr nachzuweisen ist.“ (ebd.) Dazu ist die Einheit der Tat zu bedenken, „die sich eben wegen der organischen Geseze der Wechselwirkung, der Gewöhnung u. s. w. über viele Momente erstreckt“ (ebd.). Aber nach Schleiermacher ist diese Einheit nicht mehr rein in dem organischen Bereich. Der Grund dafür ist: „Was also von einer solchen That abhängt, das ist insofern auch durch das höhere Vermögen producirt worden.“ (ebd.) Insofern sind diese zweierlei Einheiten im sinnlichen Wahrnehmen und Empfinden an sich nur der „bloße[] Schein“ (ebd.). Daraus schließt der Autor, „daß in einer einzelnen Function des Erkennens die Ethisirung nie vollständig gegeben ist“ (ebd.). Die sittliche Einheit ist

69 Für Schleiermacher existiert die Sittlichkeit auch im Erdgeist: „Zuletzt bleibt als letzte Einheit, in welcher alles Sittliche ist, der Erdgeist übrig.“ (Brouillon 153) Mehr dazu vgl. a. a. O., 153–154. Zu Schleiermachers Begriff des Erdgeistes vgl. Hermann Patsch: Metamorphosen des Erdgeistes. Zu einer mythologischen Metapher in der Philosophie der Goethe-Zeit, in: New Athenaeum/Neues Athenaum vol. 1, Lewiston (USA) u. a. 1989, 248–279, hierzu 256–265; ders.: Der „Erdgeist“ als philosophischer Topos bei Friedrich Schlegel, Schleiermacher, Schelling und Hegel, in: Sergio Sorrentino (Ed.): Schleiermacher’s Philosophy and the Philosophical Tradition, Schleiermacher Studies and Translations, vol. 11, Lewiston (USA) 1992, 75–90, hierzu 80–87; Matthias Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft (2004), Teilband 1, 302, Fußnote 249.

2 Der ethische Religionsbegriff in einem erkenntnistheoretischen Kontext

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weder in der einzelnen Tat des Erkennens noch in dem einzelnen Menschen allein zu finden. Für Schleiermacher steht die sittliche Einheit unter der Voraussetzung, „daß die Vereinigung der Idee mit der Organisation auch nur eine Oscillation ist zwischen dem Allgemeinen und Besonderen, und daß die Vernunft als Seele eines Einzelnen nur ein oscillirendes Element einer größern Einheit ist, in welcher also jene Identität sein kann, nemlich in einem gemeinschaftlichen größeren Ganzen“ (ebd.). In dieser Aussage sind zwei Bedingungen für die sittliche Einheit zu erkennen. Die sittliche Einheit besteht zuerst darin, dass die Identität der Idee mit der Sinnlichkeit – die Identität des höheren Vermögens und des niederen Vermögens des Menschen – nur eine Wechselwirkung zwischen dem Allgemeinen und Besonderen ist. Die sittliche Einheit ist auch dadurch bedingt, dass die individuelle Vernunft unentbehrlich für die Identität der Idee mit der Sinnlichkeit ist. Denn ohne die individuelle Vernunft als oszillierend ist die Wechselwirkung zwischen dem Allgemeinen und Besonderen in einer größeren Einheit bzw. in einer größeren Gemeinschaftlichkeit nicht denkbar. Nimmt man jenes Argument gegen die sittliche Einheit in dem sinnlichen Bereich des Menschen und diese Voraussetzungsklärung der sittlichen Einheit zusammen, so lässt sich nun feststellen: Weil die sittliche Einheit nur in der Identität der Idee mit dem sinnlichen Wahrnehmen und Empfinden ist, so muss das sinnliche Wahrnehmen und Empfinden zum Erkennen aufsteigen. Diese Diskussion führt auf die Frage nach der Sittlichkeit des Begriffs: „Wenn die sittliche Dignität nur in der Identität der Idee und der sinnlichen Wahrnehmung ist, was ist dann die Dignität des Begriffs?“ (Brouillon 154) Für Schleiermacher gibt es zwei Einheiten im Begriff. Die eine Einheit bringt der Begriff „in die Fluxion der sinnlichen Wahrnehmung“ (ebd.). Diese Einheit ist nur „eine gemachte, willkührliche überall, wo der Begriff in etwas Unbegriffenes und als unbegreifbar Geseztes endet“ (ebd.). Diese Einheit im Begriff entsteht aus der fluktuierenden sinnlichen Wahrnehmung und hat Freiheit und Willkür zur Folge. Im Gegensatz dazu ist die andere Einheit im Begriff „das Begreifbare und Begriffene“ (ebd.) bzw. das, was von dem Verstand zu ergreifen und verstanden ist. Diese Einheit gründet sich auf die Idee und ist aus der Idee konstruiert. Weil die Identität des Allgemeinen und des Besonderen nur in der Idee ist, so ist „das Mannigfaltige, das Merkmale, das Besondere“ in dieser Einheit im Begriff auch „begreifbar und begriffen“ (ebd.). Dem Autor zufolge tritt diese Einheit mit dem Bewusstsein zusammen und hat die Freiheit und Konstruktion zur Folge. Schleiermacher bezeichnet diese Einheit im Begriff als „seine sittliche Dignität“ (ebd.) – die Sittlichkeit des Begriffs. Diese Einsicht in den Begriff steht vor dem Hintergrund des kantischen Begriffsgedankens und bleibt zugleich in kritischer Distanz zu diesem. Damit ist die weitere Frage verbunden, woher der Irrtum im Erkennen eigentlich kommt. Für Schleiermacher irrt weder das sinnliche Vermögen noch das höhere Vermögen des Menschen noch die Verbindung von beiden. Das sinnliche Vermögen an sich irrt nicht, „denn in der bloßen Wahrnehmung ist nichts gegeben als ein be-

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stimmtes Verhältniß der Organisation“ (ebd.). Das höhere Vermögen – die Vernunft – irrt auch nicht, denn die Vernunft an sich ist „die Quelle der Wahrheit“ (Brouillon 155): Würde die Vernunft irren, dann könnte der Irrtum nur „aus nichts erkannt werden“ (ebd.). Da das Erkennen des sittlichen Lebens „in der Verknüpfung der sinnlichen Wahrnehmung mit der Idee“ (ebd.) besteht, so ist der Irrtum auch nicht die Vereinigung des niederen Vermögens und des höheren Vermögens. Für Schleiermacher liegt der Irrtum des Erkennens „nur in dem Comperativen, in der Reflexion“ (ebd.). Dies wird wie folgt erklärt: „Darum liegt auch der verbreitetste Irrthum überall da, wo man schon von einem Gemeinschaftlichen, von einem größeren Ganzen ausgeht.“ (ebd.) Das heißt, dass der Irrtum im Erkennen darin liegt, dass man ohne das sinnliche Wahrnehmen und Empfinden reflektiert, oder anders gesagt, dass man das Allgemeine als Ursprung des Erkennens nimmt. Mit dieser Diskussion über den Irrtum im Erkennen kommt Schleiermacher zu der zweiten Bedeutungsschicht seines Verständnisses über die erkennende Funktion im sittlichen Leben: „daß auch das Erkennen ganz in das sinnliche eingehe“ (ebd.). Es ist hier ersichtlich, dass der Autor – von seinem naturphilosophischen Grundsatz ausgehend – auf die Trennung des Erkennens von dem organischen Vermögen des Menschen als Naturwesen verzichtet. Diesen Gedanken konkretisiert der Autor mit den Worten: „Es giebt für uns kein Erkennen als in der Identität mit dem sinnlichen Wahrnehmen. Was man von einem reinen Erkennen a priori redet, ist immer Irrthum, wenn damit etwas anderes gemeint ist, als dass ein Vermögen des Höhern und des Niedern soll abgesondert gedacht werden können.“ (ebd.) In dieser Aussage verbirgt sich Schleiermachers scharfe Kritik an der kantischen Erkenntnistheorie. Kant spricht ausdrücklich von den reinen Erkenntnissen a priori. Der Begriff „rein“ bedeutet bei ihm, dass es Erkenntnisse a priori gibt, „denen gar nichts Empirisches beigemischt ist“,70 oder die „völlig unabhängig von aller Erfahrung“71 sind. Es ist an dieser Stelle hervorzuheben, dass Schleiermachers Kritik an Kant nicht im „a priori“ liegt, sondern im „rein“. Für ihn gibt es kein reines Erkennen a priori: Alles Erkennen ist mit der sinnlichen bzw. empirischen Erfahrung verbunden.72 Blickt man hier zurück auf die erste Bedeutungsschicht, dass das Erkennen des sittlichen Lebens darin besteht, das Wahrnehmen und Empfinden zum Erkennen zu erheben, dann zeigt sich, dass das sinnliche Vermögen des Menschen für das Erkennen des sittlichen Lebens unentbehrlich ist. Die Identität des Erkennens mit dem sinnlichen Wahrnehmen und Empfinden gilt als ein Grundprinzip der Erkenntnistheorie Schleiermachers.

70 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781/1787), B3. 71 A. a. O., A85/B117. 72 Zu Schleiermachers Kritik an Kants Erkenntnistheorie vgl. Peter Grove: Deutungen des Subjekts (2004), 384–385.

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Für seine weitere Diskussion über das Erkennen und vor allem über das Gefühl hat diese zweite Bedeutungsschicht zur erkennenden Funktion im sittlichen Leben eine besondere Bedeutung, weil sie „uns auf die beiden entgegengesezten Charakter des Erkennens führt“ (Brouillon 155) – auf die Identität und die Individualität. Anders gesagt: Auf die notwendige Verbindung des Erkennens mit dem sinnlichen Wahrnehmen gründet sich die Ausdifferenzierung von identischem und individuellem Symbolisieren. Dies macht der Autor dadurch deutlich, dass er von dieser zweiten Seite seiner Grundansicht ausgehend den Gegensatz zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven in der erkennenden Funktion und damit den klaren Unterschied zwischen Anschauung und Gefühl näher klärt. Im Folgenden wird auf Schleiermachers Erörterung dieses Problems eingegangen. Wir haben anfangs zur ersten Bedeutungsschicht dargelegt, dass das abgeschlossene Dasein in seiner Vereinigung mit der übrigen Welt durch Aktion und Reaktion immer zwischen dem Sich-Verlieren und dem Sich-Wiederfinden oszilliert, nämlich zwischen dem Sich-Bestimmen mehr als ein Teil des Ganzen und dem SichBestimmen mehr als ein Individuum zu sein. Dies hat das Auseinandertreten von Wahrnehmen und Empfinden zur Folge.73 In diesem Kontext kommen wir vorerst zu seiner Interpretation des Wahrnehmens unter dem Charakter der Identität: „Das Wahrnehmen, wodurch das organische Wesen vermittelst eines bestimmten Einwirkenden mehr mit dem Ganzen als wie in sich coalirt, wird nun Repräsentation des Gegenstandes und in dieser [sc. Repräsentation des Gegenstandes] wird das organische Wesen gleichsam mit dem Gegenstande eins.“ (ebd.) Dieses Wahrnehmen zielt auf die Darstellung des Gegenstands. Durch dieses Wahrnehmen ist der Mensch als Naturwesen mit dem Gegenstand vereinigt und fühlt sich mehr als ein Teil des Ganzen. Dieses Wahrnehmen nennt Schleiermacher die Anschauung, genauer genommen die Anschauung auf der niederen Stufe. Im Gegensatz dazu heißt das Wahrnehmen unter dem Charakter der Individualität bei Schleiermacher wie folgt: „Das Wahrnehmen, wodurch es sich mehr findet als verliert, d. h. sich noch bestimmter aussondert, und ganz mit seinem momentanen Zustande eins wird, dieses wird Gefühl.“ (Brouillon 155–156) Dieses Wahrnehmen bezieht sich auf die momentanen Zustände des Menschen als ein abgeschlossenes Dasein. Durch dieses Wahrnehmen ist der Mensch mehr als nur ein abgesondertes Dasein. Dieses Wahrnehmen nennt Schleiermacher „Gefühl“, genauer genommen das Gefühl auf der niederen Stufe. Bei Schleiermacher ist das Wahrnehmen unter dem Charakter der Individualität auch als „Empfinden“ bezeichnet. Für ihn besteht der innere Zusammenhang des Erkennens mit den beiden Formen des Wahrnehmens darin: „Erkennen ist beides [sc. Wahrnehmen] auf der höhern Stufe.“ (Brouillon 156) Vor diesem Hintergrund stellt Schleiermacher fest: „Dieser Gegensaz stellt sich zuerst dar als der zwischen einem Objectiven und Subjectiven.“ (ebd.) Aber für ihn

73 Vgl. oben: Kapitel 3. 2.1 Die Erkenntnistheorie im Allgemeinen.

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trifft der Gegensatz zwischen dem Objektiven und Subjektiven auf den gerade aufgezeigten Unterschied im Wahrnehmen nicht ganz zu. Denn „[a]llein sowol die sinnliche Anschauung als [sc. auch] die höhere lässt sich immer auch als ein Subjectives ansehn. Denn die Bestandtheile des sinnlich Objectiven sind doch zulezt Gefühle, Subjectives; und die Idee tritt immer in die Reihe der wirklichen Thätigkeiten ein als ein dem Subject Einwohnendes“ (ebd.). Daraus erhellt, dass auch das Wahrnehmen unter dem Charakter der Identität – sowohl auf einer niederen Stufe als auch auf einer höheren Stufe – mit dem Subjekt und dem Subjektiven ursprünglich verbunden ist. Die Subjektivität ist die Voraussetzung für alles Wahrnehmen. Um den Gegensatz zwischen beiden Formen des Wahrnehmens genauer zu bestimmen, unterscheidet der Autor die gemeinschaftliche und individuelle Subjektivität. Der Unterschied von Anschauung und Gefühl liegt also in dem Gegensatz von gemeinschaftlicher und individueller Subjektivität: Was wir als Anschauung sezen, das sezen wir als eine gleichförmige Beziehung auf die gemeinschaftliche Subjectivität, auf die Natur der Menschen. Was wir als Gefühl sezen, das sezen wir dagegen als persönliche, individuelle, lokale, temporelle Subjectivität. Jene [sc. Anschauung] sehen wir überall und unbedingt an als in allen dieselbige; von diesem [sc. Gefühl] bescheiden wir uns, dass es in keinem ganz dasselbe ist wie in uns. (Brouillon 156)

Aus dieser Äußerung lässt sich erkennen: Die Anschauung fungiert als eine Grundstruktur, durch die man sich in gleicher Weise auf die allgemeine Menschheit bezieht und somit die gemeinschaftliche Subjektivität repräsentiert; unter dieser Voraussetzung stellt das Gefühl die individuellen Zustände jedes Einzelnen jeweils nach zeitlich und räumlich unterschiedlichen Situationen dar, und somit ist es das Resultat der individuellen Subjektivität. Aufgrund dessen ist der Gegensatz zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven wie folgt zu präzisieren: Dem Objektiven geht es um das Gleichförmige und Gemeinschaftliche in der Subjektivität; im Gegensatz dazu betrifft das Subjektive das Persönliche, das Individuelle, das Örtliche und das Zeitliche in der Subjektivität. Im Hinblick darauf dient die Gegenüberstellung vom Objektiven und Subjektiven hier dazu, die verschiedenen Dimensionen der erkennenden Tätigkeit des Subjekts zu beschreiben und herauszustellen. In Kürze: Das Objektive bezieht sich auf den allgemeinen strukturellen Aspekt der Tätigkeit der Vernunft, das Subjektive auf die realen konkreten Zustände des Aktes jedes einzelnen Subjekts und beide sind unentbehrlich für jede Tätigkeit des Subjekts. Die Anschauung richtet sich auf das objektive Erkennen,74 das Gefühl auf das individuelle Erkennen. Anschauung und Gefühl gehören im Brouillon zur Ethik zu unterschiedlichen Handlungsgebieten.

74 Zum Anschauungsbegriff in der Erkenntnistheorie Schleiermachers im Brouillon zur Ethik vgl. Peter Grove: Deutungen des Subjekts (2004), 393–394.

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Bisher ist deutlich, dass in der Diskussion Schleiermachers über das Erkennen „objektiv“ gemeinschaftlich und identisch bedeutet, „subjektiv“ eigentümlich und individuell. Die hier herausgestellte Gegenüberstellung der gemeinschaftlichen Subjektivität und der individuellen Subjektivität entspricht dem Gegensatz der Gattungsvernunft und der individuellen Vernunft, der als ein Aufbaumoment von Schleiermachers Quadruplizitätsschema fungiert. Beruhend auf dem Prinzip, wie bereits herausgestellt, dass die beiden Charaktere der Vernunft in der Realität nie abgesondert vorkommen, bringt der Autor das Zusammenbleiben von Anschauung und Gefühl wie folgt zum Ausdruck: „[K]eine Anschauung ist ohne Gefühl, kein Gefühl ohne Anschauung, und die Vernunft kann immer nur als Seele des Einzelnen in wirkliche Thätigkeit ausbrechen“ (Brouillon 159). Folgt man dieser Diskussion, dann ist mit der zweiten Bedeutungsschicht in Schleiermachers Gedanken zur erkennenden Funktion im sittlichen Leben die Individualität des Menschen verbunden. „Soll das Erkennen ferner ganz in die organische Function eingehn, so muß es eben so in Harmonie gebracht werden mit der persönlichen Eigenthümlichkeit, die dem Menschen schon als Naturwesen vorkommt.“ (Brouillon 156) Durch sein Eingehen in das organische Vermögen steht das Erkennen mit der Individualität des Menschen im Zusammenhang. Was der Autor darunter versteht, ist im Folgenden zu erörtern. „Nemlich im Typus der menschlichen Organisation ist ein Unendliches von Relativitäten gegeben, und nur in diesen Relativitäten erscheint er; überall ein eignes Verhältniß des Hervor- und Zurücktretens einzelner Functionen.“ (ebd.) Der Mensch als Naturwesen ist durch zwei Merkmale zu charakterisieren. Das erste Merkmal ist, dass es auf der organischen Ebene ein Unendliches von fluktuierenden und unbestimmten Elementen gibt. Der Mensch als Naturwesen zeigt sich nur in diesem Unendlichen. Das zweite Merkmal besteht darin, dass es auf dieser Ebene überall eine eigentümliche Verbindung der organischen Funktionen in ihrem unterschiedlichen Auftreten – im Hervortreten oder im Zurücktreten – gibt. Dieses Unendliche liegt der natürlichen Eigentümlichkeit des Menschen zugrunde. Im Zuge der Erhebung des sinnlichen Wahrnehmens zum Erkennen verschwindet die natürliche Individualität des Menschen nicht, „sondern die Gesinnung geht in dieselben ein und erhebt dadurch jenes Analogon zur wahren Individualität“ (ebd.). Die einwohnende Idee geht in das unendliche Fluktuierende in der Organisation ein und erhebt dadurch die natürliche Individualität zur wahren Individualität – zur Individualität in der Idee. Von daher ist zu ersehen, dass Schleiermacher zufolge das Erheben des sinnlichen Wahrnehmens zum Erkennen zugleich das Erheben der natürlichen Individualität des Menschen zur wahren Individualität ist. Dadurch befindet sich das Erkennen schließlich in einer Harmonie mit der eigenen Individualität. Anschließend an diese Diskussion konkretisiert der Autor die Funktion des Vermögens der Idee im Vorgang der Erhebung des Wahrnehmens und Empfindens zum Erkennen: „Darum ist das höhere Vermögen in seinem Einfluß auf das Organische nicht anders aufzufassen als combinatorisches [Hervorhebung d. Vf.]. Dies Vermö-

242  Kapitel 3 Die handlungstheoretische Grundlegung der Kulturtheorie

gen im Individuo ist Fantasie. Zuerst jeder einzelne Actus, auch ohne seinen Zusammenhang mit dem vorigen und folgenden, Combination [Hervorhebung d. Vf.], indem aus dem mannigfaltig Fluctuirenden eine objective Einheit der Anschauung gebildet wird und eine subjektive des Bewußtseins.“ (Brouillon 156–157) Hierbei ist zu ersehen, dass der Autor das höhere Vermögen in der erkennenden Funktion der Vernunft als ein kombinierendes Vermögen konstatiert. Das heißt, dass das höhere Vermögen die mannigfaltig unendlich fluktuierenden Elemente des sinnlichen Wahrnehmens und Empfindens verknüpft, damit auf der gemeinschaftlichen Seite des Erkennens eine objektive Einheit der Anschauung und auf der individuellen Seite eine subjektive Einheit des Bewusstseins hervorgebracht wird. Dazu kommt noch: „Dann ist der Uebergang Combination, indem eine Stetigkeit der Zeit gebildet wird durch die Einheit des Gedächtnisses und eine Stetigkeit der Anschauung durch die Einheit der Vernunftbeziehung auf die Totalität.“ (Brouillon 157) In dieser Aussage wird gezeigt, dass die Kombination im höheren Vermögen als Übergang vom Fluktuierenden zur Stetigkeit fungiert, oder anders gesagt, dass sie eine Brücke zwischen dem Sinnlichen und dem Sittlichen bildet. Denn in der Vereinigung des Gedächtnisses bildet sich die Stetigkeit des Vergänglichen und in der Vereinigung der Vernunft mit der Totalität bildet sich die Stetigkeit der Anschauung. Schleiermacher bezeichnet diese kombinierende Funktion des Vermögens der Idee auf der individuellen Seite des Erkennens als Fantasie, er spricht an dieser Stelle sogar von einer „Identität der Fantasie und des Gefühls“ (ebd.). Der Begriff der Phantasie, der hier in die Diskussion eingeführt wird, hat in Schleiermachers Denken eine sehr große Bedeutung für die Darstellung des Gefühls sowie für die Verhältnisbestimmung von Gefühl und Kunst – sowohl in diesem frühen Aufriss als auch in der Philosophischen Ethik aus seiner Berliner Reifezeit. Aus diesem Grund wird dieser Begriff uns an den späteren Stellen noch begegnen, wo wir uns mit diesen wichtigen Themen beschäftigen.75 Hiermit sind wir Schleiermachers Erörterung über die zweite Bedeutungsschicht, dass das Erkennen in das sinnliche Vermögen eingehen muss, ebenfalls nachgegangen. Diese zweite Seite lässt sich in fünf Punkten zusammenfassen. Erstens ist festzulegen, dass alles Erkennen mit der sinnlichen bzw. empirischen Erfahrung verbunden ist. Es gibt kein reines Erkennen a priori. Zweitens ist zu verdeutlichen, dass die sinnliche Funktion des Menschen sich unter zwei unterschiedlichen Charakteren zeigt: das Wahrnehmen unter dem Charakter der Gemeinschaftlichkeit; das Empfinden unter dem Charakter der Individualität. Damit ist der dritte Punkt verbunden, dass das Erkennen auf der höheren Stufe zwei Erscheinungsformen hat: die Anschauung als objektives Erkennen und das Gefühl als individuelles Erkennen. Der vierte Punkt betrifft den Zusammenhang von Erkennen und Individualität: Im Vorgang der Erhebung des sinnlichen Wahrnehmens zum Erkennen durch das hö-

75 Vgl. unten: Kapitel 4. 2.1.2.1 Phantasie.

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here Vermögen wird die natürliche Individualität des Menschen zur wahren Individualität in der Idee ebenfalls erhoben. Anschließend ist der fünfte Punkt hervorzuheben, dass das höhere Vermögen der Idee in jenem Erhebungsvorgang als kombinierend fungiert. Dank dieser Kombination wird das höhere Vermögen des Menschen eine Brücke zwischen der Flüchtigkeit und der Stetigkeit. Dadurch wird das Fluktuierende im sinnlichen Wahrnehmen und Empfinden auf die Einheit und Totalität in der Idee bezogen. Nimmt man diese zwei miteinander eng verbundenen Bedeutungsschichten in Schleiermachers Verständnis über die erkennende Funktion im sittlichen Leben zusammen, dass das Wahrnehmen und Empfinden zum Erkennen erhoben werden muss und dass das Erkennen in das sinnliche Wahrnehmen und Empfinden eingehen muss, so ergibt sich, dass die Identität des Erkennens und des Wahrnehmens das allererste Prinzip seiner Erkenntnistheorie ist. Nach unserer obigen Rekonstruktion seiner Erkenntnistheorie im Brouillon zur Ethik ist es offenkundig, dass der Autor auf eine kritische Distanz zu der Erkenntnistheorie der Transzendentalphilosophie geht, vor allem zur kantischen Erkenntnistheorie. Schleiermacher bemüht sich in dieser ersten systematischen Darstellung seiner Philosophischen Ethik darum, eine Synthese zwischen dem Empirismus und dem Transzendentalismus zu geben, indem er einen besonderen Akzent auf das empirisch-sensuelle Wahrnehmen und Empfinden im Erkennen legt. Anders als die Transzendentalphilosophie betrachtet Schleiermacher die sinnliche Erfahrung als notwendig und unentbehrlich für das Erkennen. Diese Einstellung hat im Werdegang Schleiermachers sowie im zeitgenössischen Diskussionskontext ihre Herkunft, die anhand von drei Richtungen aufgeklärt werden kann. Mit seiner Aufnahme des empirisch-sensuellen Theoriemodells in seine Erkenntnistheorie knüpft Schleiermacher erstens an die Moralphilosophie der englischen Aufklärung an. Diese Rezeption ist ihm grundlegend durch seinen halleschen Lehrer Johann August Eberhard vermittelt worden.76 Darüber hinaus ist Schleiermacher vor allem von Anthony Shaftesburys (1671–1713) Grundbegriffen wie „moral sense“, „sensation“ (Empfindung) und „sensitiveness“ (Empfindsamkeit) geprägt. Unter dem Begriff „sense“ (Sinn) versteht Shaftesbury eine bestimmte Disposition, das Gute und das Schöne wahrzunehmen. Bereits in den Reden von 1799 betrachtet der junge Autor den Sinn als die Voraussetzung für die religiöse Erfahrung in Anschauung und Gefühl. Der Begriff der Empfindsamkeit ist inzwischen in der deutschen Aufklärung zentral geworden. Zu den wichtigen Sense-Theoretikern außerhalb des europäischen Festlands, die in der deutschen Aufklärung eine

76 Dazu vgl. Andreas Arndt: Schleiermacher und die englische Aufklärung (2000), in: ders.: Friedrich Schleiermacher als Philosoph (2013), 102–113. Arndt weist darauf hin, dass Schleiermachers Rezeption der Moralphilosophie der englischen Aufklärung „vor allem durch den zeitgenössischen Diskussionskontext in Deutschland am Ende des 18. und Anfang 19. Jahrhunderts angeregt und bestimmt worden sein“ dürfte (a. a. O., 111). Dazu nennt Arndt drei Vermittlungsträger: Johann August Eberhard, Johann Joachim Spalding und Christian Garve (1742–1798).

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breite Wirkung genossen, zählt auch der schottische Philosoph Thomas Reid (1710– 1796). Bei Reid ist von einem gesunden Menschenverstand („common sense“), der als Fundament jeglicher philosophischer Untersuchung gilt, die Rede.77 Reids Konzept stellt auch eine Quelle für Schleiermachers Erkenntnistheorie dar. Zweitens, in Bezug auf seine Akzentuierung des empirischen Vermögens von Menschen – insbesondere des Empfindens und der Empfindsamkeit – ist Schleiermacher auch von der empirisch-psychologischen Tradition der Halleschen Schulphilosophie stark beeinflusst. Zu den wichtigen Theoretikern dieser Tradition gehören Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. Schleiermachers Rezeption dieser Tradition ist ebenfalls hauptsächlich durch seinen Lehrer Eberhard vermittelt.78 Drittens darf nicht ignoriert werden, wie bereits herausgestellt, dass Schleiermacher von der Schelling nahestehenden Naturphilosophie beeinflusst ist. Die erste naturphilosophische Grundlage seiner Philosophischen Ethik besteht darin, dass der Mensch als ein Naturwesen gegeben ist.

2.2 Der ethische Religionsbegriff Mit dem Bisherigen haben wir Schleiermachers Erkenntnistheorie im Allgemeinen im Brouillon zur Ethik rekonstruiert. In diesem Kontext soll nun auf die Ethisierung des Gefühls und auf den damit unmittelbar verbundenen ethischen Religionsbegriff näher eingegangen werden. Dies entfaltet der Autor in seiner näheren Betrachtung des Erkennens „mit dem vorherrschenden Charakter der Subjectivität = Unübertragbarkeit“ (Brouillon 176). Wir haben in der obigen Darstellung aufgezeigt, dass Schleiermacher zufolge das eigentliche Erkennen auf dem sinnlichen Wahrnehmen und Empfinden beruht. Jenes betrifft die objektive Seite des Wahrnehmens, dieses bezieht sich auf die subjektive Seite des Wahrnehmens und wird auch als Empfinden bezeichnet. Oft hat der Autor in dieser Schrift nur den Begriff des Wahrnehmens allein verwendet, worin aber die beiden Seiten des organischen Vermögens des

77 Zu Thomas Reids Gedanken über „common sense“ vgl. Thomas Reid: Inquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense, Glasgow/London, 1764 (dt.: Untersuchung des menschlichen Geistes entsprechend den Prinzipien des gesunden Menschenverstandes, aus dem Englischen, nach der 3. Auflage, Leipzig 1782). 78 Dazu vgl. Rudolf Odebrecht: Schleiermachers System der Ästhetik (1932), 55–56; Kurt Nowak: Schleiermacher (2001), 39. Johann August Eberhards Erkenntnistheorie und Erfahrungstheorie ist hauptsächlich in seiner Schrift Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens (1776) zu finden. Dazu vgl. Bernd Oberdorfer: Sinnlichkeit und Moral. Zur Bedeutung der Erfahrungstheorie für die „intellektuelle und moralische Bildung des Menschen“ in Eberhards Allgemeiner Theorie des Denkens und Empfindens, in: Hans-Joachim Kerstscher/Ernst Stöckmann (Hg.): Ein Antipode Kants? Johann August Eberhard im Spannungsfeld von spätaufklärerischer Philosophie und Theologie, Berlin/Boston 2012, 108–118; Peter Grove: Johann August Eberhards Theorie des Gefühls, in: Ein Antipode Kants? (2012), 119–131.

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Menschen enthalten sind. Damit bezeichnet der Autor hier die Basis des subjektiven Erkennens als „die subjective Seite des menschlichen Wahrnehmens, wie es sich der Trennung des Wahrnehmens und Empfindens nähert“ (ebd.). Ausgehend von der sinnlichen Basis des Erkennens, um die subjektive Seite des Erkennens anschaulich auszulegen, führt Schleiermacher hier vorerst zwei strukturelle Analogien zwischen dem objektiven Wahrnehmen und dem subjektiven Wahrnehmen in die Diskussion ein. Die erste Analogie lautet: „Wie die objective Seite [sc. des menschlichen Wahrnehmens], in der Gemeinschaft zwischen dem abgeschlossenen Dasein und der Welt, die Welt in der Beziehung darstellt als bestimmte Anschauung, so stellt die subjective [sc. des menschlichen Wahrnehmens] das abgeschlossene Dasein dar in der bestimmten Beziehung d. h. als fixirten Moment, als veränderlichen Zustand im bestimmten Gefühle.“ (ebd.) Bei dieser Aussage fällt zunächst auf, dass sowohl die objektive Seite als auch die subjektive Seite des menschlichen Wahrnehmens unter der Voraussetzung der Vereinigung des abgeschlossenen Daseins mit der Welt steht. Damit ist das Leben des Menschen an sich verbunden. Wie wir in der Diskussion über die Anschauung des Lebens bereits gesehen haben, ist das Leben nach Schleiermacher durch das abgeschlossene Dasein und seine Gemeinschaft mit dem Ganzen zu bestimmen. Ebenso wie die objektive Seite des menschlichen Wahrnehmens eine Darstellung der Welt als bestimmte Anschauung ist, ist die subjektive Seite des menschlichen Wahrnehmens die Darstellung des abgeschlossenen Daseins als fixierte Momente und als innere mentale Zustände im bestimmten Gefühl. Hier ist auf den Unterschied des objektiven und subjektiven Wahrnehmens zurückzublicken: Das objektive Wahrnehmen zielt auf die Darstellung des Gegenstands, Schleiermacher betrachtet es als Anschauung auf einer niederen Ebene; das subjektive Wahrnehmen bezieht sich auf die momentanen Zustände des Menschen als ein abgeschlossenes Dasein und gilt als Gefühl auf einer niederen Ebene. Dank des höheren Vermögens des Menschen muss das sinnliche Wahrnehmen auch in der empirischen Welt nicht fluktuierend bleiben. Dazu bringt der Autor eine zweite Analogie in die Diskussion ein: „Wie aber ohne Einfluß des höheren Vermögens die Wahrnehmung ein bloß Fluctuierendes ist und erst durch diesen Einfluß zur geordneten Anschauung, Welt, wird, so auch die Empfindung ohne diesen Einfluß ein Fluctuirendes, in dem keine Einheit des Bewußtseins in der Succestion zu fixiren ist.“ (ebd.) Wir haben in der vorangehenden Darstellung der Erkenntnistheorie im Allgemeinen aufgezeigt, dass das höhere Vermögen in der erkennenden Funktion der Vernunft als ein kombinierendes fungiert. Mit diesem kombinierenden Vermögen wird aus dem sinnlichen Wahrnehmen eine objektive Einheit der Anschauung und aus dem sinnlichen Empfinden eine subjektive Einheit des Bewusstseins gebildet. Vor diesem Hintergrund ist dann in dieser zweiten Analogie offensichtlich: Wie im objektiven Bereich des menschlichen Wahrnehmens spielt das höhere Vermögen auf der subjektiven Ebene die entscheidende Rolle. Während mit dem höheren Vermögen das objektive Wahrnehmen zur Weltanschauung geordnet

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wird, wird die fluktuierende Empfindung mit dem höheren Vermögen zur Einheit des Bewusstseins in der Reihenfolge fixiert. Mit dieser Aussage wird das höhere Vermögen des Menschen also zugleich noch als ordnend und fixierend präzisiert. An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass diese Einheit des Bewusstseins auf der subjektiven Seite des menschlichen Wahrnehmens nur eine empirische ist. In dieser empirischen Einheit des Bewusstseins bildet sich das Ich-Bewusstsein. So heißt es: „Kein Ich ohne das höhere Vermögen, sondern nur durch dasselbe.“ (ebd.) Daraus ist zu ersehen, dass das höhere Vermögen des Menschen entscheidend für das Bilden des Ichs ist. Die empirische Einheit ist somit das, wodurch der Mensch als Natur sich von der tierischen Organisation wesentlich unterscheidet. Denn „[d]ie thierische Organisation [sc. ist] nur Durchgangspunkt für ein Fluctuirendes, des selbst unter einander gemischten Wahrnehmens und Empfindens. Die Einheit ist nicht in ihnen, sondern nur in uns“ (ebd.). Die Tiere besitzen kein höheres Vermögen, und somit ist ihre sinnliche Funktion nur fluktuierend – Wahrnehmen und Empfinden treten nicht auseinander. Aus diesem Grund bildet sich keine empirische Einheit des Bewusstseins in ihnen, kurz: Das höhere Vermögen des Menschen liegt der empirischen Einheit des Bewusstseins im Einzelnen zugrunde. Darauf folgt dann eine für die Diskussion über die Sittlichkeit des Gefühls wichtige Aussage: „Da nun in allem menschlichen Bewußtsein das Ich ist, so ist auch auf der Seite des subjectiven Erkennens das höhere Vermögen von den Functionen der menschlichen Organisation unabtrennbar.“ (ebd.) Nimmt man die gerade herausgestellte These mit in den Blick, dass das Ich nur durch das höhere Vermögen, die fluktuierende sinnliche Empfindung zur Einheit des Bewusstseins in einer Kontinuität zu fixieren, möglich ist, so ist es folgerichtig, dass ohne die organische Funktion des Menschen kein Ich denkbar ist. Hierbei ist offensichtlich, dass das höhere Vermögen von der sinnlichen Funktion des Menschen nicht zu trennen ist, auch auf der Seite des individuellen Erkennens nicht . Durch „auch“ weist der Autor auf seinen Grundgedanken zum identischen Erkennen zurück, dass es kein rein allgemeingütiges objektives Wissen gibt und das objektive Erkennen von der organischen Funktion nicht zu trennen ist. Als Ergebnis dieser beiden strukturellen Analogien zwischen dem objektiven und subjektiven Wahrnehmen lässt sich zeigen, dass das höhere Vermögen auf der subjektiven Seite ebenso wie auf der objektiven Seite des Wahrnehmens eine entscheidende Rolle spielt. Die Funktion des höheren Vermögens auf der subjektiven Seite des Wahrnehmens besteht darin, das fluktuierende Empfinden zur empirischen Einheit des Bewusstseins in einer Kontinuität zu fixieren und dadurch das Ich hervorzubringen. Die empirische Einheit des Bewusstseins gibt es nur in der menschlichen, nicht in der tierischen Organisation. Zudem wird darauf hingewiesen, ebenso wie auf der Seite des objektiven Erkennens, dass auf der Seite des subjektiven Erkennens das höhere Vermögen von der organischen Funktion des Menschen nicht zu trennen ist. Aber trotz der empirischen Einheit bleibt das Gefühl noch auf der Ebene des Menschen als Natur, und es ist bis hierher noch nicht von

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der Sittlichkeit des Gefühls die Rede. Beruhend auf dieser Darstellung über die subjektive Seite des Wahrnehmens wenden wir uns nun Schleiermachers Diskussion über die Sittlichkeit des Gefühls bzw. über die Sittlichkeit des Erkennens auf der subjektiven Seite zu. Die Eingangsthese Schleiermachers zur Sittlichkeit des Gefühls zeigt sich in der folgenden Aussage: „Die durchgängige Sittlichkeit des Gefühls ist nun eigentlich nichts anders, als daß jene Einheit auch für das, was sie ist, für das Product des höhern Vermögens erkannt werde und also alles, was in ihr vorkommt, auf die Identität der Vernunft und der Organisation bezogen.“ (Brouillon 176–177) Im Kontext der vorangehenden Darstellung kann diese wichtige Aussage zunächst wörtlich wie folgt artikuliert werden. Für die Stetigkeit der Sittlichkeit des Gefühls gelten zwei Bedingungen: Zuerst soll die empirische Einheit des Bewusstseins als Produkt des höheren Vermögens der Idee identifiziert werden; sodann soll diese empirische Einheit des Bewusstseins („jene Einheit“) auf die Identität der Vernunft und der Organisation bezogen werden. Demnach ist hier in erster Linie ersichtlich, dass die empirische Einheit des Bewusstseins, die – so wurde oben gesagt – sich vermittels des höheren Vermögens aus dem fluktuierenden Empfinden ergibt, als Voraussetzung für die Sittlichkeit des Gefühls gilt. Neben der empirischen Einheit des Bewusstseins ist „die Identität der Vernunft und der Organisation“ in dieser Eingangsthese auch ein Schlüsselausdruck. Denkt man an den Einfluss der schellingschen Identitätsphilosophie auf Schleiermacher, so ist verständlich, dass „die Identität der Vernunft und der Organisation“ die Vereinigung der Vernunft und der Organisation bzw. die Vereinigung der Vernunft mit der menschlichen Sinnlichkeit bedeutet. Die Implikation dieser Grundgedanken über die Sittlichkeit des Gefühls bedarf einer näheren Klärung dieses Ausdrucks. Dieser Ausdruck lässt sich durch zwei Punkte verstehen. Die Identität der Vernunft und der Organisation ist zunächst auf die Anschauung des Lebens zurückzuführen. Wir haben in der Diskussion zur Anschauung des Lebens aufgezeigt, dass Schleiermacher zufolge das menschliche Leben durch das abgeschlossene Individuum und seine Gemeinschaft mit dem Ganzen zu bestimmen ist. Die Gemeinschaft des abgeschlossenen Individuums mit dem Ganzen ist auf zwei Ebenen des Menschen angesiedelt – beim Menschen als Natur und beim Menschen als durch die Vernunft beseelt. Während auf der Ebene des Menschen als Naturwesen nur eine Beziehung des Einzelnen auf die Persönlichkeit und die Sinnlichkeit in dieser Gemeinschaft gegeben wird, handelt es sich auf der Ebene des Menschen als durch die Vernunft beseelt um die Beziehung des Einzelnen auf die Ideen. Und weil in dieser Beziehung jene persönliche Beziehung mitgegeben ist, ist die Beziehung des Einzelnen auf die Ideen zugleich auch die Vereinigung der Idee mit der Organisation.79 An diesem Gedanken ist also festzustellen, dass die Identität der Vernunft mit der Organisation

79 Vgl. oben: Kapitel 3. 1.1 Die Bestimmung des Lebens.

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nur auf der Lebensebene des durch die Vernunft beseelten Menschen möglich ist. Sodann ist die Identität der Vernunft und der Organisation mit der sittlichen Einheit in der erkennenden Funktion unmittelbar verbunden. In der Darstellung zur Erkenntnistheorie im Allgemeinen wurde herausgearbeitet, dass es keine sittliche Einheit in der organischen Funktion des Menschen geben kann. Die Sittlichkeit in der erkennenden Funktion besteht nur in der Vereinigung des höheren Vermögens und des niederen Vermögen des Menschen bzw. in der Identität der Idee mit der Sinnlichkeit.80 Darauf folgend wird in der Eingangsthese darauf verwiesen, dass eine Beziehung auf „die Identität der Vernunft und der Organisation“ – auf die Vereinigung der Vernunft und der Sinnlichkeit – wesentlich ein Kennzeichen für die Sittlichkeit der erkennenden Funktion auf der subjektiven Seite ist. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Ausdruck „die Identität der Vernunft und der Organisation“ in der zitierten Aussage die Vereinigung der Vernunft mit der menschlichen Sinnlichkeit bedeutet und diese als eine Gestaltungsform der Gemeinschaft des abgeschlossenen Daseins mit dem Ganzen im menschlichen Leben gilt. Die Vereinigung der Vernunft mit der menschlichen Sinnlichkeit ist nur auf der Lebensebene des Menschen als durch die Vernunft beseelter möglich und gilt als Kennzeichen für die Sittlichkeit in der erkennenden Funktion des Lebens. Mit dieser näheren Klärung kehren wir nun zur Diskussion Schleiermachers über die Sittlichkeit des Gefühls zurück. Um die Bedeutung für die Beziehung der empirischen Einheit des Bewusstseins auf die Identität der Vernunft und Organisation zu plausibilisieren, führt der Autor an dieser Stelle eine Diskussion über den Gegensatz zwischen dem Guten und dem Bösen ein. Als Grundsatz wird in seiner Diskussion vorerst herausgestellt, dass sowohl das Gute als auch das Böse „auf dem gemeinschaftlichen Boden der empirischen Einheit des Bewußtseins“ (Brouillon 177) steht. Damit kommen wir zunächst zum Bösen. Das Böse betrachtet der Autor als „das Heraustreten aus der Identität [sc. der Vernunft und Organisation]“ (ebd.). Dies geschieht, „wenn die Gemeinschaft subjectiv nur auf die Organisation bezogen wird“ (ebd.). Das heißt, die Vereinigung des abgeschlossenen Daseins mit der Welt auf der subjektiven Seite des Erkennens bezieht sich nur auf die Sinnlichkeit. Damit befindet sich der Mensch nur in einer „Beziehung des Einzelnen auf das Einzelne“ (Brouillon 151), oder anders gesagt, in einer „bloß persönlichen Beziehung“ (Brouillon 178). Abgesehen „von allem Objectiven [sc. Wahrnehmen]“ (ebd.) ergeben sich aus dieser Beziehung Lust und Unlust.81 In diesem Zusammenhang versteht Schleiermacher das Böse als eine Beschränkung des Gefühls, nämlich: „das subjective Erkennen auf Lust und Unlust beschränken“ (Brouillon 177). Diese Beschränkung des Gefühls auf Lust und Unlust hat aus seiner Sicht folgende zeitgenössische Erschei-

80 Vgl. oben: Kapitel 3. 2.1 Die Erkenntnistheorie im Allgemeinen. 81 Hierzu Brouillon, 177: „Dies ist nun, wenn von allem Objectiven abstrahirt wird, nichts anders als Lust und Unlust.“

2 Der ethische Religionsbegriff in einem erkenntnistheoretischen Kontext 

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nungen – „die sinnliche Denkungsart, Egoismus und in der Reflexion eingestanden Eudämonismus“ (ebd.). Im Gegensatz zu dem Bösen – dem Heraustreten der Identität der Vernunft und Organisation – ist das Gute für Schleiermacher die Beziehung auf die Identität der Vernunft und Organisation. „Das Gute ist nun die subjective Seite der Gemeinschaft auf die Identität der Vernunft und der Organisation beziehen, d. h. sie als Beziehung des abgeschlossenen Daseins auf das Uebrige als Ganzes, als Welt im eigentlichen Sinne sezen; denn nur so hat das Afficirtsein der Organisation eine Beziehung auf die Vernunft.“ (ebd.) Mit diesen Worten hat Schleiermacher die Grundbedeutung des Guten im Gebiet des Gefühls aufgezeigt. Das Gute ist, dass die subjektive Seite der Gemeinschaft des abgeschlossenen Daseins mit der Welt sich auf die Vereinigung der Vernunft mit der Sinnlichkeit bezieht. Dies identifiziert er als den Vorgang, die Gemeinschaft des abgeschlossenen Daseins und der Welt als Beziehung des Ichs auf das Nicht-Ich – „als Ganzes“ – zu bestimmen. Der Grund dafür liegt darin, dass das Erregtsein der menschlichen Sinnlichkeit auf der subjektiven Seite nur vermittels der Beziehung auf die Identität der Vernunft und der Organisation ein Verhältnis mit der Vernunft gewinnt. An dieser Stelle ist auf den Gedanken zurückzublicken, dass die Sittlichkeit in der erkennenden Funktion nur in der Vereinigung des höheren und niederen Vermögens des Menschen besteht. Bis hierher ist deutlich, dass in der Identität der Vernunft und der Organisation die Beziehung des abgeschlossenen Daseins auf das Ganze enthalten ist. Anders gesagt: Die Vereinigung der Vernunft mit der menschlichen Sinnlichkeit auf der subjektiven Seite ist zugleich die Vereinigung des abgeschlossenen Individuums mit dem Ganzen. Kehren wir von hier zu seiner Eingangsthese zurück, so lässt sich nun feststellen: Die Beziehung der empirischen Einheit des Bewusstseins auf die Identität der Vernunft und Organisation in der konstanten Sittlichkeit des Gefühls bedeutet schließlich, dass auf der subjektiven Seite des Erkennens bzw. im Gebiet des Gefühls das abgeschlossene Individuum auf das Ganze bezogen wird. Mit dieser Interpretation über das Gute im Gebiet des Gefühls gelangt Schleiermacher zu seiner Spitzenaussage hinsichtlich des Verhältnisses von Religion und Gefühl in seiner Philosophischen Ethik: „Hiedurch nun wird das Gefühl auf die Potenz der Sittlichkeit erhoben, und dies Verfahren ist nichts anders als das, was wir Religion nennen.“ (ebd.) Im Kontext des gerade Dargestellten ist der erste Teil dieser Aussage wie folgt zu konkretisieren: Durch das Beziehen der empirischen Einheit des Bewusstseins auf die Identität von Vernunft und Organisation wird das Gefühl von der sinnlichen Ebene auf die Potenz der Sittlichkeit erhoben. Damit ist Schleiermachers Religionsbegriff seiner Philosophischen Ethik unmittelbar verbunden: Das Sittlich-Werden des Gefühls oder die Ethisierung des Gefühls ist Religion. Durch diese Spitzenaussage wird Religion der Sphäre des Gefühls in einem handlungstheoretischen Schema zugeordnet und mit dem Verfahren der Erhebung des Gefühls auf die Potenz der Sittlichkeit gleichgestellt. Demzufolge ist Religion für Schleiermacher ein ethischer Prozeß im Gebiet des Gefühls, so dass wir den Religi-

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onsbegriff Schleiermachers als einen ethischen Religionsbegriff bezeichnen können. Nimmt man hier seine Bemerkung zur Religion in der allgemeinen Übersicht in den Blick, dass die Beziehung auf die Identität des abgeschlossenen Daseins mit dem Absoluten unmittelbar Religion ist, so erklärt sich, dass die Beziehung auf die Identität der Vernunft und der Organisation für Schleiermacher zugleich die Beziehung auf die Identität des abgeschlossenen Daseins mit dem Absoluten ist: Die Vereinigung der Vernunft mit der Sinnlichkeit in der Sphäre des Gefühls ist zugleich die Vereinigung des abgeschlossenen Daseins mit dem Absoluten. Bis hierher kann zur handlungstheoretischen Verhältnisbestimmung von Religion und Gefühl festgestellt werden, dass Religion und Gefühl im sittlichen Leben bei Schleiermacher zusammengehören. Diese Zusammengehörigkeit ist zweifach zu betrachten: Einerseits gründet sich Religion ursprünglich auf das Gefühl, weil Religion der ethische Prozess ist – die Ethisierung des Gefühls. Andererseits muss das sittliche Gefühl religiös sein, denn die Sittlichkeit des Gefühls besteht nur in der Beziehung auf die Identität des abgeschlossenen Daseins mit dem Absoluten; und diese Beziehung ist für Schleiermacher Religion. Religion gehört zum Gebiet des Gefühls und ist die Ethisierung des Gefühls, sie ist die Beziehung der empirischen Einheit des Bewusstseins auf die Identität der Vernunft und der Organisation. Dieser neue Religionsbegriff klingt abstrakt und scheint fern von Schleiermachers Religionsverständnis in den Reden zu sein. Um seinen ethischen Religionsbegriff zu veranschaulichen, führt der Autor sodann einen Dialog mit seinem Religionsverständnis in den Reden von 1799. Dieser Dialog besteht aus drei Diskussionen. Die erste Diskussion betrifft die Einsicht: „Religion sei unmittelbare Beziehung des Endlichen auf das Unendliche“ (ebd.). Für Schleiermacher hat diese Beziehung denselben Gehalt („ganz derselbe“[ebd.]) wie die Beziehung des Endlichen auf die Identität der Vernunft und der Organisation. Der Grund besteht darin: Wenn das Endliche nichts anderes als die auf die Sinnlichkeit beschränkte Vernunft ist, so ist das Unendliche nichts anderes als die Vereinigung der Vernunft mit dem sinnlichen Ganzen – „die Identität der Vernunft mit der Totalität des Realen“ (ebd.). Demzufolge ist Religion als die Beziehung der empirischen Einheit des Bewusstseins auf die Identität der Vernunft und der Sinnlichkeit zugleich die unmittelbare Beziehung des Endlichen auf das Unendliche. Die zweite Diskussion richtet sich auf die Behauptung: „Religion sei Streben nach der Wiedervereinigung mit dem All“ (ebd.). Für den Autor ist die Wiedervereinigung mit dem All eigentlich auch die Beziehung des abgeschlossenen Daseins auf die Identität der Vernunft und der Organisation. Denn wenn dieses Streben sich auf die Identität der Vernunft mit der Organisation richtet, bedeutet es nur ein Bedürfnis für „absolute Gemeinschaft derselben [sc. der Organisation] als eines Einzelnen, für sich Abgeschlossenen mit dem Ganzen“ (ebd.). Hierbei ist an Schleiermachers erkenntnistheoretisches Grundprinzip zu erinnern, dass die Totalität nur durch die Idee an sich in die Vernunft kommt. Ohne die Vernunft gibt es kein All. Mithin ist die Beziehung des abgeschlossenen Daseins auf die Identität der Vernunft und der Organisa-

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tion zugleich seine Vereinigung mit der Totalität – „mit dem All“. Bei der dritten Diskussion handelt es sich um die Überzeugung: „Religion sei Gemeinschaft nicht mit der Welt, sondern mit Gott“ (ebd.). Für Schleiermacher ist die Gemeinschaft mit Gott ebenfalls zugleich die Beziehung des abgeschlossenen Daseins auf die Identität der Vernunft und der Organisation. Damit ist wieder sein erkenntnistheoretisches Grundprinzip verbunden, dass die Einheit und die Totalität nur in der Idee an sich in die Vernunft kommt. Wenn Gott das ist, „in welchem die Einheit und Totalität der Welt gesezt wird“ (Brouillon 178), so ist Gott nur in der Idee an sich in der Vernunft möglich. Daraus erklärt sich schließlich auch, weshalb die Vereinigung mit Gott zugleich die Beziehung auf die Identität der Vernunft und der Organisation ist. Anders als in den Reden (1799), wo der junge Autor das Universum noch als Verschränkung von Gottesgedanken und Weltbegriff betrachtet und Religion als Beziehung auf das Universum – als Anschauung des Universums – interpretiert, wird hier im Brouillon zur Ethik verdeutlicht, dass Religion die Vereinigung des Einzelnen mit Gott und nicht mit der Welt ist. Fassen wir diese drei Diskussionen zusammen, so lässt sich resümieren, dass Religion als ein ethischer Prozeß in der Handlungssphäre des Gefühls bei Schleiermacher die unmittelbare Vereinigung mit dem Unendlichen, mit dem absoluten All und schließlich die unmittelbare Vereinigung mit Gott impliziert. Das Unendliche, das absolute All und Gott sind nur in der Idee zu finden und sind eigentlich dasselbe, was Schleiermacher später die absolute Einheit und Totalität nennt und was man in der Religion als das Erhabene bezeichnet. Durch diese dreifache Verdeutlichung grenzt der Autor sein Religionsverständnis nicht nur von dem Eudämonismus bzw. von dem Irreligiösen ab, sondern auch von der atheistischen Glaubensweise.82 Zu diesem wichtigen ethischen Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik haben einige Autoren vor hundert Jahren Interpretationsvorschläge gemacht. Ihre Beobachtungen sind uns dabei behilflich, Schleiermachers ethischen Religionsbegriff besser zu verstehen. Im Kontext des gerade Dargestellten soll hierbei deshalb ein Blick auf ihre Beobachtungen geworfen werden. In seiner posthum erschienenen Darstellung des Systems Schleiermachers interpretiert Wilhelm Dilthey diesen Religionsbegriff als „Überwindung des bloß Sinnlichen, Eudämonistischen“, und damit zugleich als „Beziehung alles Erlebens auf das Universum“.83 Diese Interpretation ist zwar treffend, kann aber nun noch folgendermaßen präzisiert werden: Religion ist Überwindung des bloß Sinnlichen bzw. Überwindung des Gegensatzes zwischen Lust und Unlust in Bezug auf die subjektive Seite des Erkennens in der Handlungssphäre des Gefühls. Zwar steht das Sinnliche im Gegensatz zum Sittlichen in der Erkenntnis-

82 Dazu vgl. Brouillon, 178. 83 Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 2)(1966), 560–561: „Die Religion hat also ein negatives und ein positives Merkmal: sie ist Überwindung des bloß Sinnlichen, Eudämonistischen, und sie ist Beziehung alles Erlebens auf das Universum.“

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theorie, zwar ist Religion als ein ethischer Prozess identisch mit der Überwindung des bloß Sinnlichen, aber die Ethisierung des Gefühls ist nach Schleiermacher vom sinnlichen Gefühl untrennbar. Dies bestätigt sich durch eine andere Stelle im Brouillon zur Ethik: „[W]eil über all die Erhebung zur Potenz der Sittlichkeit vom subjectiven Erkennen als dem Princip der Einheit des empirischen Bewußtseins ausgehen muß“ (Brouillon 194–195). Diese Aussage verweist darauf, dass die Erhebung zur Potenz der Sittlichkeit auf dem subjektiven Erkennen als Empfinden und auf der sich daraus ergebenden Einheit des empirischen Bewusstseins beruht. Dilthey betrachtet außerdem den Gegensatz von Sinnlichem und Sittlichem nicht als einen absoluten, sondern er interpretiert vielmehr dieses Verhältnis in dem subjektiven Erkennen als eine Stoff-Form-Beziehung.84 In seiner Diskussion über Schleiermachers Religionsverständnis in dieser Schrift identifiziert Eugen Huber (1901) Religion mit Sittlichkeit oder Vernunft.85 Diese Identifizierung ist nicht ganz zutreffend. Denn die Bestimmung der Religion als Verfahren der Erhebung des Gefühls auf die Potenz der Sittlichkeit bei Schleiermacher bedeutet vielmehr, dass Religion ein ethischer Prozess ist. Und die Tatsache, dass diese Erhebung vermittels des Vermögens der Idee in der Vernunft erfolgt ist, führt nur dazu, dass Religion als ein ethischer Prozess an sich eine Handlungstätigkeit der Vernunft ist. Eine einfache Identifizierung von Religion und Vernunft kommt für Schleiermacher nicht in Frage. Hermann Süskind (1909) versteht Schleiermachers ethischen Religionsbegriff als eine Überbietung des Gefühlslebens über das persönliche Glück und Leid, als ein „Hinzutreten der Vernunft […] zu dem Bewusstsein der Bedingtheit unseres persönlichen Lebens durch unsern Zusammenhang mit dem Ganzen, dem Universum“.86 In dieser Interpretation stellt Süskind heraus, dass Religion für Schleiermacher statt eines ethi-

84 Vgl. a. a. O., 560: „Das Sittliche steht also für Schleiermacher im Gegensatz zum Sinnlichen, der Gegensatz ist aber kein absoluter; beide fallen nicht etwa gänzlich auseinander. Vielmehr ist das Sittliche nur die höhere Potenz des Sinnlichen; dieses ist der Stoff, dessen sich die Vernunft als formierendes Prinzip bemächtigt, um das Sittliche zu erzeugen. Das Sittliche hat keine Existenz für sich, es ist nur etwas am Sinnlichen.“ Wahrscheinlich von Wilhelm Dilthey beeinflusst gelangt Eugen Huber ebenfalls zu einer ähnlichen Sichtweise. Vgl. ferner Eugen Huber: Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher (1901), 92. 85 Vgl. Eugen Huber: Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher (1901), 93–94. Huber ist davon überzeugt: „Neu ist aber, dass das ‚Verfahren‘ der Religion mit dem Prinzip der Ethisierung, dass Religion und ‚Sittlichkeit‘ oder ‚Vernunft‘ identifiziert werden.“ (a. a. O., 93) Außerdem heißt es bei ihm: „Nun ist die Religion identisch mit der Sittlichkeit; also ist sie nichts anderes als dieses Einheitsetzen, als das Selbstbewusstsein, das die Grundlage alles psychischen Lebens bildet.“ (ebd.) 86 Vgl. Hermann Süskind: Der Einfluß Schellings (1909), 137: „Religion ist also da, wo unser Gefühlsleben sich nicht mehr erschöpft in der sinnlichen-natürlichen Empfindung unseres persönlichen Wohls und Wehes, sondern wo es vielmehr durch das Hinzutreten der Vernunft erweitert, geklärt und vergeistigt ist zu dem Bewusstsein der Bedingtheit unseres persönlichen Lebens durch unsern Zusammenhang mit dem Ganzen, dem Universum.“

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schen Zustands ein zur Sittlichkeit führender dynamischer Prozess ist. Insofern ist Hubers Identifizierung der Religion mit Sittlichkeit oder Vernunft für Süskind nicht richtig.87 Mit diesen Hinweisen auf die Forschungsliteratur wollen wir im Folgenden den Gegensatz vom sinnlichen und sittlichen Gefühl bei Schleiermacher näher betrachten, um uns ein klareres Bild seines ethischen Religionsbegriffs zu verschaffen. Beruhend auf seiner Diskussion über den Gegensatz zwischen böse und gut beschreibt der Autor das Erheben des Gefühls auf die Potenz der Sittlichkeit auch als „[d]ie durchgängige Aufnahme der Lust und Unlust in die Religion, der bloß persönlichen Beziehung in die Identität der Vernunft mit der Organisation“ (Brouillon 178). Ist die Beschränkung des subjektiven Erkennens auf Lust und Unlust bzw. die bloße Beziehung des Einzelnen auf das Einzelne, wie oben gesagt, das Böse, so lässt sich in dieser näheren Bestimmung zeigen, dass das Erheben des Gefühls auf die Potenz der Sittlichkeit zugleich auch die Überwindung der Beschränkung auf Lust und Unlust und die Aufhebung der bloß persönlichen Beziehung bedeutet. Zudem wird hier deutlich darauf verwiesen, dass Religion durch die Vereinigung der Vernunft mit der Sinnlichkeit in der Sphäre des Gefühls gekennzeichnet ist. Dies bedeutet zugleich, dass Religion und die Vereinigung der Vernunft mit der Sinnlichkeit zu derselben Lebensebene gehören. Diese Aufnahme der Lust und Unlust in die Religion scheint vielen „abentheuerlich“, „wenn man auf einzelne Functionen sieht“ (ebd.). Dabei stellt sich die Frage, wo es dann die Identität der Vernunft mit der Organisation gibt. Damit ist eine weitere Frage unmittelbar verbunden, nämlich wo Religion zu finden ist. Für Schleiermacher ist die Identität der Vernunft mit der Organisation in allen menschlichen Handlungsbereichen gegeben. Der Grund dafür liegt darin: „Allein die Persönlichkeit existirt für die sittliche Potenz nirgends isolirt; sie ist mit jedem organischen System in ein größeres Ganze eingewurzelt, es sei Familie, Staat, freie Geselligkeit, Akademie. Also jede Beziehung auf die Persönlichkeit ist auch eine Beziehung auf diese, und in diesen ist offenbar die Identität der Vernunft mit der Organisation.“ (ebd.) Eine isolierte Persönlichkeit gibt es nirgendwo, die Persönlichkeit ist mit dem leiblichen System des Einzelnen immer in einem größeren Ganzen festgesetzt. Dieses Ganze kann jede institutionelle Gestaltung der Handlungstätigkeit sein. Das bedeutet, dass die Persönlichkeit in Familie, in Staat, in freier Geselligkeit oder in der Akademie festgesetzt werden kann. Somit ist es folgerichtig, dass jede Beziehung auf die Persönlichkeit zugleich auch eine Beziehung auf diese institutionellen Gestaltungen der Handlungstätigkeit ist. Darauf folgend ist es für unseren Autor deutlich, dass die Identität der Vernunft mit der Organisation in allen diesen Handlungsbereichen vorkommt. Denkt man an dieser Stelle daran, dass bei Schleiermacher die Beziehung auf die Identität der Vernunft mit der Organisation Religion ist, so ist

87 Vgl. a. a. O., 137–138.

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ersichtlich, dass Religion überall bzw. in allen menschlichen Handlungsbereichen zu finden ist. Aber dies bedeutet nicht, dass Religion ebenfalls aus den anderen Handlungsbereichen entsteht oder zu ihnen gehört, sondern es heißt nur, dass alle anderen Handlungsgebiete mit Religion zu tun haben oder, wie er bereits in den Reden (1799) angedeutet hat, dass Religion wie eine Melodie alle anderen Kulturfelder begleitet.88 Bereits in dieser zitierten Aussage deutet sich der wichtige Gedanke Schleiermachers an, dass Religion als ein ethischer Prozess kein isolierter Akt des Einzelnen, sondern nur in einem Sozialverhältnis denkbar ist. Auf diesen wichtigen Gedanken wird nachher näher eingegangen, wenn wir uns mit der Kunstdarstellung und mit dem Kirchenbegriff seiner Philosophischen Ethik beschäftigen. Bis hierher ist die in der allgemeinen Übersicht vorgelegte Behauptung ausgeführt: „Die eigentliche Sphäre des Gefühls im sittlichen Sein ist Religion.“ (Brouillon 99) Dementsprechend lässt sich dann diese Behauptung an einer späteren Stelle wie folgt reformulieren: „Daher hat man immer diese Gefühle in einem engeren Sinne Religion genannt.“ (Brouillon 197) Beruhend auf unserer bisherigen Diskussion ist nun offenkundig, dass der Autor mit dem Ausdruck „das Gefühl in einem engeren Sinne“ das Gefühl im sittlichen Sinne – „im sittlichen Sein“ – meint. Um die möglichen Missverständnisse in seinem Begriff des sittlichen Gefühls – das Gefühl im sittlichen Sein – in seinem ethischen Religionsverständnis abzubauen, grenzt sich Schleiermacher an dieser Stelle von den Engländern ab, die den Begriff des Gefühls in verschiedenen Zusammenhängen ebenfalls bearbeitet haben. So heißt es weiter: „Und diejenigen, in welchen so auf der Seite des Gefühls nur Sinnlichkeit ist, verhalten sich wieder so wie die, in denen auf Seiten des Wissens nur Empirie ist. Sie haben keine sittliche Selbständigkeit“ (Brouillon 179). Mit diesen Worten weist der Autor auf zwei Richtungen des Englischen Empirismus hin: Die erste Richtung bezieht sich auf Anthony Shaftesbury, der von einer hohen Bedeutung des Gefühls spricht, das Gefühl aber nur als sinnlich interpretiert; bei der zweiten macht der Autor eine Anspielung auf die von Thomas Hobbes und John Locke präsentierten Empiristen, für die die empirische Erfahrung als einzige wahre Quelle des Wissens gilt. Für Schleiermacher enthalten die beiden Richtungen keinen wesentlichen Unterschied, weil beide nur vom sinnlichen Wahrnehmen des menschlichen Erkennens handeln. Denn „[j]enes Gefühl ist nun das, was vorzüglich die Engländer als common sense, sympathy bearbeitet haben, die sich eben recht national in dem aufgezeigten Falle befinden“ (ebd.). In diesem Sinne stellt der Autor fest: „Shaftesbury

88 Hierzu Reden, 68–69: „Alles eigentliche Handeln soll moralisch sein und kann es auch, aber die religiösen Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Thun des Menschen begleiten; er soll alles mit Religion thun, nichts aus Religion.“ Und Reden, 139: „Und von dieser Art ist die Religion; in dem Gemüth welches sie bewohnt, ist sie ununterbrochen wirksam und lebendig, macht Alles zu einem Gegenstande für sich, und jedes Denken und Handeln zu einem Thema ihrer himmlischen Fantasie.“

2 Der ethische Religionsbegriff in einem erkenntnistheoretischen Kontext

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und Hobbes stehn auf gleicher Stufe“ (ebd.) – in beiden Richtungen des Englischen Empirismus gibt es keine sittliche Selbstständigkeit. Allerdings hebt Schleiermacher zugleich hervor, dass das Gefühl bei den Engländern auf das sittliche erhoben werden kann. Vor dem Hintergrund seiner Diskussion über die Ethisierung des Gefühls lässt sich dann dieses Verfahren folgendermaßen aufzeigen: [A]ber mit der Einheit ihres Bewußtseins ist ihnen zugleich gegeben das Gefühl eines Eingewurzeltseins in einem größeren Ganzen, dessen Organe sie sind, und in dem sich gewiß, inwiefern es anders selbständig ist, die ihnen persönlich mangelnde Einwohnung des höheren Vermögens wiederfindet, und nur mit diesem zusammen bilden sie eine ethische Einheit, so daß auch auf diesem Gebiet in jeder solchen wirklich das Ganze ist. (Brouillon 179)

In dieser Passage fasst Schleiermacher drei unentbehrliche Elemente für die Ethisierung des Gefühls zusammen: die empirische Einheit des Bewusstseins im sinnlichen Gefühl, das Eingewurzeltsein des Einzelnen in einer institutionellen Gestaltung und das ihnen einwohnende höhere Vermögen der Idee. Im Zusammenarbeiten dieser drei Elemente bildet sich eine sittliche Einheit im Gefühl. Damit kann das sinnliche Gefühl bei den Engländern auf das sittliche Gefühl erhoben werden. Bisher ist es eindeutig, dass Schleiermacher zufolge das Gefühl als individuelles Erkennen auf zwei Stufen zu betrachten ist: das sinnliche Gefühl auf der niederen Stufe (es heißt auch Empfindung) und das sittliche Gefühl auf der höheren Stufe. Jenes niedere Gefühl wird später in der Philosophischen Ethik seiner Reifezeit das leibliche Gefühl genannt.89 Die Gegenüberstellung von niederem und höherem Gefühl artikuliert der Autor in einem drei Jahre später geschriebenen Manuskript zur Theologischen Ethik – Die Christliche Sitte.90 In diesem Manuskript von 1809 heißt es: „Das Gefühl ist ein höheres und niederes. Das gemeinsame ist die Unmittelbarkeit des als Zustand bestimmten Bewußtseins, welches außer seiner Bestimmtheit zugleich als Förderung oder Minderung des Lebens in Lust und Unlust erscheint. Der Gegensaz [sc. vom niederen und höheren Gefühl] beruht auf der Beziehung des einen [sc. Gefühls] auf das sinnliche [sc. Dasein], des anderen [sc. Gefühls] auf das intellectuelle Dasein.“91 Sowohl niederes Gefühl als auch höheres Gefühl beziehen sich auf die inneren unmittelbaren Zustände des Menschen. Während das niedere Gefühl auf dem sinnlichen Dasein basiert, gründet sich das höhere Gefühl auf das intellektuelle Dasein. Vergegenwärtigt man sich an dieser Stelle Schleiermachers Anschauung des Lebens im Brouillon zur Ethik, wobei das natürliche und vernünftige Leben des Menschen zu unterscheiden sind, so ist es ersichtlich, dass der Autor

89 Vgl. PhE 1816/17, 589. 90 Friedrich Schleiermacher: Die christliche Sitte (1843), SW I/12, Beilage A. Manuskript 1809, 1– 101. 91 A. a. O., 7, §18.

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jene zwei Lebensbereiche hier als sinnliches und intellektuelles Dasein präzisiert. Aus der zitierten Passage ergibt sich deshalb, dass bei Schleiermacher das niedere Gefühl auf der natürlichen und das höhere Gefühl auf der von Vernunft beseelten Lebensebene des Menschen beruht. Niederes und höheres Gefühl befinden sich nicht im absoluten Gegensatz. Denn wie er im Brouillon zur Ethik aufzeigt, kann das niedere Gefühl auf die Potenz der Sittlichkeit des Gefühls erhoben werden. Dieses Verfahren bezeichnet der Autor als Religion. Religiös zu sein bedeutet also, vom sinnlichen zum intellektuellen Dasein aufzusteigen, ein Aufstieg, der im Gefühl erfolgt. Damit ist allerdings die Frage verbunden, was das religiöse Gefühl genau ist. Im Brouillon zur Ethik taucht der Begriff noch nicht auf. Kann man bei Schleiermacher das sittliche Gefühl mit dem religiösen Gefühl identifizieren? So wie zur Gegenüberstellung vom niederen Gefühl und höheren Gefühl gibt der Autor in dem Manuskript von 1809 zur Christlichen Sitte ebenfalls eine Erklärung zum Verhältnis vom sittlichen Gefühl und religiösen Gefühl. Sein Grundgedanke ist dieser: „Das höhere Gefühl ist nur Eins. Das sittliche und religiöse sind nur zwei verschiedene Ansichten eines und desselbigen.“92 Das höhere Gefühl kann aus zwei verschiedenen Perspektiven als sittliches Gefühl und als religiöses Gefühl verstanden werden, aber beide sind nur ein und dasselbe Gefühl. Diese verschiedenen Perspektiven erläutert der Autor wie folgt: „Entweder religiös ist die Beziehung auf Gott, und sittlich die Beziehung auf die Welt, oder sittlich ist das Sein der Vernunft in der Sinnlichkeit, religiös das Sein des göttlichen Geistes [sc. in der Sinnlichkeit].“93 In dieser Aussage werden zwei Interpretationsmöglichkeiten für die Einheit von sittlichem und religiösem Gefühl gegeben. Bei der ersten Interpretation geht es um die Verhältnisbestimmung von Welt und Gott bei Schleiermacher: Bereits im Brouillon zur Ethik, so wurde oben gesehen, wird darauf hingewiesen, dass Gott das ist, „in welchem die Einheit und Totalität der Welt gesezt wird“ (Brouillon 178). Gott dient als Inbegriff für die Einheit und Totalität der Welt. In diesem Manuskript von 1809 wird präzisiert: „Die Welt läßt sich nicht vollkommen denken (als Totalität und Einheit) außer in und mit Gott, und von Gott giebt es keine andere Offenbarung als die Welt.“94 Die Welt als Totalität und Einheit ist nur in und mit Gott, und Gott hat seine Offenbarung nur in der Welt. Aus dieser Verhältnisbestimmung ergibt sich, dass die sittliche Beziehung auf die Welt als Totalität und Einheit und die religiöse Beziehung auf Gott ineinandergreifen. Die zweite Interpretation für die Einheit von sittlichem und religiösem Gefühl handelt vom inneren Zusammenhang der Vernunft und des göttlichen Geists. Das sittliche Gefühl betrifft die Vereinigung der Vernunft und der Sinnlichkeit, das religiöse Gefühl die Vereinigung des göttlichen Geistes und der Sinnlich-

92 A. a. O., §19. 93 Ebd. 94 A. a. O., §19, ad 1.

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keit, aber für Schleiermacher sind die Vernunft als das Absolute und als der göttliche Geist identisch. An dieser Stelle ist wieder an sein erkenntnistheoretisches Grundprinzip zu erinnern, dass das Absolute – als die Einheit und die Totalität umfassend – nur in der Idee an sich in der Vernunft vorkommt. Dementsprechend lässt sich dann festlegen: „Wenn man die Vernunft ganz anerkennt, als das Absolute in uns: so muss sie auch als göttlicher Geist erscheinen.“95 Darauf folgt, dass die Vereinigung der Vernunft mit der Sinnlichkeit als sittlich und die Vereinigung des göttlichen Geistes mit der Sinnlichkeit als religiös wesentlich dieselbe sind. Beruhend auf den beiden Begründungen schließt Schleiermacher: „Aller Widerstreit zwischen den beiden ist nur scheinbar.“96 Als Fazit dieser Interpretation über das Verhältnis von sittlichem und religiösem Gefühl lässt sich konstatieren: In Schleiermachers ethischem Religionsverständnis im Brouillon zur Ethik kann man das sittliche Gefühl durch das religiöse Gefühl ersetzen, denn beide sind dasselbe. Die unterschiedlichen Ansichten von beiden bestehen nur im folgenden Sachverhalt: Während der Begriff des sittlichen Gefühls sich mehr auf die Beziehung des Einzelnen auf die Welt in Totalität und Einheit und auf die Vereinigung der Vernunft mit der Sinnlichkeit richtet, legt der Begriff des religiösen Gefühls den Schwerpunkt mehr auf die Beziehung zu Gott und auf die Vereinigung des göttlichen Geistes mit der Sinnlichkeit. Als Ergebnis der vorangehenden Darstellung lässt sich nun bestimmen, dass bei Schleiermacher die menschliche Sinnlichkeit als ein unentbehrliches Element für Religion gilt. Damit ist der anfangs herausgestellte Grundsatz verbunden, dass das Gute und das Böse auf dem gemeinschaftlichen Boden der empirischen Einheit des Bewusstseins stehen. Blickt man hierbei darauf zurück, dass die Ethisierung des Gefühls Religion ist, so erklärt sich der grundlegende Befund bei Schleiermacher, dass Religion auf dem Boden der empirischen Einheit des Bewusstseins steht. Religion ist von der Sinnlichkeit nicht zu trennen, da ohne die empirische Erfahrung Religion undenkbar ist, aber das muss nicht bedeuten, dass Religion identisch mit der empirischen Erfahrung ist, sondern es heißt nur, dass die Beziehung der empirischen Einheit des Bewusstseins im Gefühl auf die Identität von Vernunft und Organisation unmittelbar Religion ist. Damit wird auch deutlich darauf hingewiesen, dass Religion als ein ethischer Prozess weder auf der Lebensebene des Menschen als Natur allein noch auf der Lebensebene des Menschen als durch die Vernunft beseelt allein zu verwirklichen ist, sondern Religion ist ein Resultat des Menschen als

95 A. a. O., §19, ad 2. 96 A. a. O., §20. Der scheinbare Widerstreit zwischen beiden hat zwei Ursachen: „Theils findet er statt, wenn eine von beiden Ansichten unvollkommen ausgebildet ist. So kann sittliches Gefühl irreligiös erscheinen, und religiöses unsittlich. Theils ist er gegen einzelne individuelle Formen gerichtet.“ (ebd.)

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eines Ganzen – ein Produkt der beseelenden Vernunft auf dem Boden der empirischen Erfahrung. Bis hierher haben wir Schleiermachers ethischen Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik rekonstruiert. Als Resümee dieser Rekonstruktion lässt sich feststellen, dass Religion zum Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens gehört und somit im Gefühl gründet. Religion ist die Ethisierung des Gefühls. Als ein ethischer Prozess im Gefühl bedeutet Religion, das niedere Gefühl auf das höhere Gefühl zu erheben, nämlich das sinnliche Gefühl auf seine Potenz der Sittlichkeit zu erheben. Religiös zu sein, bedeutet für einen Menschen, im Gebiet des Gefühls auf die Identität der Vernunft und der Organisation bezogen zu werden und sich als mit dem Unendlichen, mit dem Ganzen und schließlich mit Gott vereinigt zu fühlen. In Hinsicht auf das Leben an sich bedeutet religiös zu sein für einen Menschen, im Gebiet des Gefühls von der Lebensebene des Menschen als Natur auf die Lebensebene des durch die Vernunft beseelten Menschen aufzusteigen, oder anders gesagt, von seinem sinnlichen Dasein auf ein intellektuelles Dasein aufzusteigen. Mit dem Brouillon zur Ethik hat Schleiermacher im Rahmen seines kulturtheoretischen Schemas einen klaren ethischen Religionsbegriff herausgearbeitet, aber wie Religion als ein ethischer Prozess sich verwirklicht bzw. wie das Gefühl ethisch werden kann, wird in dieser Hallenser Ethikvorlesung nicht ausgeführt. Diese Problematik hat er später in seinen Ethikvorlesungen in Berlin näher geklärt. Darauf wollen wir im vierten Kapitel mit einer zuspitzenden Untersuchung zum Begriff des individuellen Symbolisierens näher eingehen. Bevor wir zum Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik der Berliner Reifezeit Schleiermachers übergehen, wollen wir einen Blick auf den Unterschied zwischen dem Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik und dem Religionsbegriff in den Reden von 1799 werfen. Denn der Schritt des Religionsbegriffs in der ersten Auflage der Reden zum ethischen Religionsbegriffs im Brouillon zur Ethik bedeutet eine Wende in der religionstheoretischen Entwicklung Schleiermachers. Es geht um eine „Umbildung von Schleiermachers Religionsbegriff“.97 Zu dieser Wende gehört auch die kurz nach dem Brouillon zur Ethik erschienene umgearbeitete neue Auflage der Reden (1806).98 Diese Umbildung des Religionsbegriffs um 1806 hat einen tiefwirkenden Einfluss auf die religionstheoretischen Gedanken in seiner Glaubenslehre. Vor dem Hintergrund unserer Rekonstruktion des ethischen Religionsbegriffs im Brouillon zur Ethik wird ein Blick auf seinen Unterschied zum Religionsbegriff in den Reden von 1799 hilfreich sein, um die Bedeutung des Religionsbegriffs

97 Hermann Süskind: Der Einfluß Schellings (1909), 99. 98 Zum Erscheinen der zweiten Auflage der Reden (1806) vgl. Günter Meckenstock: Historische Einführung (1995), in: KGA I/12, XI–XXIII. Zu den Textveränderungen in Bezug auf den Religionsbegriff in der zweiten Auflage der Reden vgl. auch: Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799 | 1806 | 1821), Studienausgabe (2012).

2 Der ethische Religionsbegriff in einem erkenntnistheoretischen Kontext

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in dieser frühen Ethikvorlesung für seine ganze religionstheoretische Entwicklung zu begreifen. Wie bereits im zweiten Kapitel aufgezeigt gilt die Anschauung als Leitbegriff für das Religionsverständnis in den Reden von 1799. In dieser frühromantischen Schrift ist „Anschauen des Universums“ für Schleiermacher nicht nur „der Angel meiner ganzen Rede“, also der Drehpunkt seiner ganzen Schrift über die Religion, sondern zugleich „die allgemeinste und höchste Formel der Religion“ – das universale Schema für das, was man unter Religion verstehen kann. Damit ist Anschauen des Universums der wesens- und grenzbestimmende Maßstab für das Phänomen Religion überhaupt. Im Vergleich dazu gilt das Gefühl als zweiter zentraler Begriff für sein Religionsverständnis. Schleiermacher versteht das Gefühl in dieser Religionsschrift als Innewerden der eigenen Zustände der Anschauung des Universums im Bewusstsein; aus diesem Grund ist das Gefühl ebenfalls unentbehrlich für die Vollendung der Religion. Gewiss gehört das Gefühl als ein zentraler Begriff wie die Anschauung in dieser ersten Auflage der Reden zur Wesensbestimmung der Religion, aber die Bedeutung des Gefühls für die Religion ist hier von der Anschauung abhängig und tritt somit eher in den Hintergrund. Blickt man an dieser Stelle auf meine Studie zum ethischen Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik zurück, so ist der Unterschied der beiden Schriften hinsichtlich des Religionsbegriffs deutlich: Während die Anschauung als Leitbegriff in der Wesensbestimmung der Religion in der ersten Auflage der Reden (1799) vorherrscht, gehen Anschauung und Gefühl im Brouillon zur Ethik andere Wege: Anschauen wird dem identischen Erkennen bzw. dem Wissen zugeordnet, und das Gefühl gehört zum gegenüberstehenden Handlungsgebiet und tritt als entscheidend bzw. als Leitbegriff für seine Interpretation der Religion hervor. Um 1806, durch die Hallenser Vorlesung Brouillon zur Ethik und durch die im Zuge dieser Vorlesung herausgegebene zweite Auflage der Reden markiert, fungiert die Anschauung nicht mehr als Leitbegriff. Die vorherrschende Position im Religionsgedanken wird ab 1805 von dem neu eingeführten Begriff des Gefühls ersetzt. Religion gründet nun im Gefühl. Das ist die wichtigste Wende in der religionstheoretischen Entwicklung Schleiermachers. Auf diese in der Ethikvorlesung von 1805/ 06 vollzogene Änderung wird von einigen Forschern aufmerksam gemacht. Bereits zum Beginn des 20. Jahrhundert war es in der Schleiermacher-Forschung Konsens, dass die Jahre 1804–06 in Halle als „Wendepunkt in Schleiermachers Entwicklung“ und als „eine Zeit wesentlicher Umbildung“ gelten.99 Dieser Beobachtung folgend weist Hermann Süskind (1909) auf die entscheidende Bedeutung dieser Jahre für Schleiermachers Umbildung des Religionsbegriffs noch deutlicher hin. Ein halbes

99 Hermann Süskind: Der Einfluß Schellings (1909), 100. Wilhelm Dilthey, Rudolf Haym und Emil Fuchs gehören auch zu den Autoren, die die wichtige Bedeutung der Jahre 1804–06 bei Schleiermacher für seine religionstheoretische Entwicklung gesehen haben.

260  Kapitel 3 Die handlungstheoretische Grundlegung der Kulturtheorie

Jahrhundert später betrachtet Emanuel Hirsch (1960) den „Wandel zur Theorie des religiösen Gefühls“100 im Brouillon zur Ethik als „Hauptschritt zu dem Religionsbegriff […], auf den er dann später seine Glaubenslehre bauen sollte“.101 Damit hat dieser Schritt für Hirsch eine „schicksalhafte Bedeutung“.102 Wohl ist die hohe Bedeutung des Wandels von der Theorie der religiösen Anschauung zur Theorie des religiösen Gefühls um 1806 in der Schleiermacher-Forschung nicht mehr umstritten. Aber bei der Suche nach dem Grund für diesen theoretischen Wandel sind viele bis heute uneinig. Eugen Huber (1901), Emil Fuchs (1901; 1903) und Hermann Süskind (1909) vertreten die Meinung, dass die Wende von der religiösen Anschauung zur Theorie des religiösen Gefühls in den Religionsgedanken Schleiermachers um 1806 das Resultat seiner Auseinandersetzung mit Schelling ist.103 Aber ihre Argumentationen für diese Auffassung sind unterschiedlich. Während für Huber Schleiermachers Bestreben, die schellingschen Spuren in der ersten Auflage der Reden zu verwischen, der Wende zugrunde liegt, sehen Fuchs und Süskind seinen Verzicht auf die Anschauung im Religionsverständnis als Folge seiner Auseinandersetzung mit der Identitätsphilosophie Schellings seit 1801. Für Süskind ist diese Umbildung des Religionsbegriffs unter dem Einfluss Schellings seit 1802 geschehen – an diesem „entscheidenden Punkt“ befindet sich Schleiermacher „in direkter Abhängigkeit mit Schelling“.104 Der Grund dafür ist: „Was nach Schleiermachers ersten R. das Wesen der Religion ausmachte: die Anschauung des Universums als eines Entwicklungssystems von Individuationen, deren jede als solche ein positiver Ausdruck des Unendlichen – genau dasselbe wurde nun in Schellings Identitätssystem als das Wesen der Philosophie, der Kern und Grundgedanke der wissenschaftlichen Welterkenntnis entwickelt.“105 Also: Der Begriff Anschauung in den Reden von 1799 ist nun von Schellings philosophischem Identitätssystem besetzt. Vor diesem Hintergrund, um Religion gegenüber der Philosophie abzusichern, ist Schleiermacher gezwungen, einen neuen

100 Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. IV (1952), 562. 101 A. a. O., 559. 102 A. a. O., 582. Hirsch interpretiert die schicksalhafte Bedeutung dieser Schrift folgendmaßen: „Das heißt nicht, daß alle damaligen oder späteren theologischen Aussagen Schleiermachers von dem wiederholt werden müßten, der in der großen geistigen Grundentscheidung auf seine Seite tritt. Er ist dem Geschichtsschreiber der Theologie nicht ein Ende, sondern ein neuer Anfang theologischer Arbeit.“ (a. a. O., 582) 103 Vgl. Eugen Huber: Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher (1901); Emil Fuchs: Schleiermachers Religionsbegriff und religiöse Stellung zur Zeit der ersten Ausgabe der Reden (1799–1806), Gießen 1900; ders.: Wandlung in Schleiermachers Denken zwischen der ersten und zweiten Ausgabe der Reden (1903); ders.: Vom Werden dreier Denker. Was wollten Fichte, Schelling und Schleiermacher in der ersten Periode ihrer Entwicklung? Tübingen/Leipzig 1904; Hermann Süskind: Der Einfluß Schellings (1909). 104 Hermann Süskind: Der Einfluß Schellings (1909), 139. 105 A. a. O., 100.

2 Der ethische Religionsbegriff in einem erkenntnistheoretischen Kontext

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Weg einzuschlagen.106 Für Süskind ist die Ethikvorlesung von 1805/06 der entscheidende Schritt für die Umbildung seines Religionsbegriffs. Ebenso wie Süskind sieht auch Emanuel Hirsch (1952) Schleiermachers Wandel zur Theorie des religiösen Gefühls als Resultat eines Fremdeinflusses. Aber anders als Süskind betrachtet Hirsch einen Fremdeinfluss außerhalb des frühromantischen Kreises als entscheidenden Faktor für diesen Wandel. Aus seiner Sicht ist dieser Faktor Fichtes Wissenschaftslehre von 1801. Diese Behauptung lässt sich zweifach beweisen.107 Zuerst versteht Fichte in dieser Schrift das Wissen als Vereinigung der Anschauung und des Denkens – Anschauung gehört zum Wissen; damit verbunden betrachtet Fichte zweitens das Gefühl, genauer genommen „das unmittelbare Gefühl der Gewißheit“, als „absolute Vereinigung der Anschauung u. des Denkens“.108 In diesem Zusammenhang fungiert das Gefühl als Stellvertreter des Absoluten in Wissen und Bewusstsein. Also sowohl Anschauung als auch Gefühl haben eine andere Funktion in der Wissenschaftslehre Fichtes als bei Schleiermacher in den Reden: Anschauung hat ihren Platz im Wissen, dem Gefühl wird eine hohe Bedeutung für das Dasein des Absoluten zugeschrieben. Hirsch zufolge ist diese neue Entwicklung in der zeitgenössischen Philosophie der wahrscheinlichste Anlass für Schleiermacher, sich hinsichtlich seiner Verwendung der beiden Begriffe in seinem Religionsverständnis neu orientieren zu müssen. Im Gegensatz zu Emil Fuchs, Hermann Süskind und Emanuel Hirsch vertritt Friedrich Wilhelm Graf (1978) die Meinung, dass der Wandel des Religionsbegriffs Schleiermachers in der zweiten Auflage der Reden nicht durch einen Fremdeinfluss verursacht wurde.109 Sein Argument: Der Begriff Anschauung ist während der Phase, wo Schleiermacher die erste Auflage der Reden niedergeschrieben hat, bereits in den zeitgenössischen Philosophien „besetzt“. Denkt man daran, dass sich Schleiermacher bereits während seines Studiums in Halle mit der Philosophie Kants beschäftigt hat, so besteht die Möglichkeit, dass dieser den „Anschauungsbegriff im

106 Vgl. a. a. O., 99–134. 107 Vgl. dazu Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. IV (1952), 564. 108 Johann Gottlieb Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus den Jahren 1801/02, in: ders.: Nachgelassene Schriften 1800–1803, J. G. Fichte-Gesamtausgabe, Bd. II.6, hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky unter Mitwirkung von Erich Fuchs, Peter K. Schneider und Manfred Zahn, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, 105–324, 180. Fichte versteht diese Gewissheit als „Absolutheit, Unerschütterlichkeit, Unveränderlichkeit des Wissens“ (ebd.). Zu Fichtes Diskussion über das Wissen als Vereinigung der Anschauung und des Denkens in seiner Wissenschaftslehre von 1801 vgl. Johann Gottlieb Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre (1801/02), §15, 160–169, bes. 165–166; zu seiner Diskussion über das Gefühl als Vereinigung der Anschauung und des Denkens vgl. a. a. O., §[18], 176–181, bes. 180. 109 Friedrich Wilhelm Graf: Ursprüngliches Gefühl unmittelbarer Koinzidenz des Differenten. Zur Modifikation des Religionsbegriffs in den verschiedenen Auflagen von Schleiermachers „Reden über die Religion“, in: ZThK (75/2, 1978), 147–186.

262  Kapitel 3 Die handlungstheoretische Grundlegung der Kulturtheorie

Sinne der kantischen strengen Fassung des Begriffs verwenden“ konnte.110 Allein dieser Sachverhalt spricht gegen ein „Okkupationsargument“.111 Mit einem Aufsatz zur Modifikation des Religionsbegriffs Schleiermachers in den verschiedenen Auflagen der Reden versucht er, anstelle von „den angeblichen externen Motiven“, „den sachlichen Gründen“ bei dem Autor an sich für den um 1806 geschehenen Wandel nachzuspüren.112 Gewiss hat Graf eine gründliche Studie zu verschiedenen Auflagen der Reden gegeben, aber hinsichtlich der Begründung des Wandels von der ersten Auflage zur zweiten Auflage besteht ein Defizit in seiner Studie: In seiner Diskussion wurde die Ethikvorlesung von 1805/06, die eine entscheidende Rolle für die Umbildung des Religionsbegriffs Schleiermachers in der zweiten Auflage seiner Reden spielt, leider nicht berücksichtigt.113 Vor dem Hintergrund der Debatten in der bisherigen Forschung, nach einer allgemeinen Darstellung der als Kulturphilosophie bezeichneten Handlungstheorie Schleiermachers und der darauffolgenden Untersuchung zu seinem ethischen Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik, können wir nun versuchen, die Frage nach dem Grund für diesen theoretischen Wandel zu beantworten. Schleiermachers Umbildung seines Religionsbegriffs um 1806 ist ein Resultat von inneren Motiven und externen Faktoren. Schleiermachers Umbildung des Religionsbegriffs ist in der ersten Linie mit der Bildung seines eigenen wissenschaftlichen Systems bzw. seiner als Kulturtheorie rezipierten Philosophischen Ethik eng verbunden. Der junge Autor hat zwischen 1801 und 1806 einen für seine Gesamtgedanken entscheidenden theoretischen Werdegang erlebt: Während Schleiermacher in seinen beiden frühromantischen Werken Reden über die Religion von 1799 und Monologen von 1800 mit frühromantisch-vorwissenschaftlichem Stil konkrete Themen – jene Schrift hat das Ziel, das Wesen der Religion neu zu bestimmen; dieser geht es darum, über die Individualität des Menschen zu diskutieren – behandelt, reift in ihm bis 1806 mit der Philosophischen Ethik ein eigenes wissenschaftliches System. Die Bildung dieses rationalen Systems beginnt mit den Grundlinien einer Kritik aller bisherigen Sittenlehre (1803). Mit diesem System reflektiert und korrigiert Schleiermacher vor dem entwickelten Hintergrund der zeitgenössischen Philosophie seine bisherige Verwendung der beiden Begriffe Anschauung und Gefühl in der ersten Auflage der Reden. Schleiermachers Umbildung des Religionsbegriffs steht auch im Zusammenhang mit der

110 A. a. O., 157. 111 A. a. O., 156. 112 A. a. O., 158. 113 Zur Modifikation des Religionsbegriffs in der zweiten Auflage der Reden (1806) vgl. ferner Hermann Süskind: Der Einfluß Schellings (1909), 100–109; Niklaus Peter: Einleitung (2012), in: Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799 | 1806 | 1821), Studienausgabe (2012), XII–XXV; Hermann Patsch: „… mit Interesse die eigentliche Theologie wieder hervorsuchen“. Schleiermachers theologische Schriften der Hallenser Zeit, in: Andreas Arndt (Hg.): Friedrich Schleiermacher in Halle 1804–1807 (2013), 31–54, bes. 47–52.

2 Der ethische Religionsbegriff in einem erkenntnistheoretischen Kontext 

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neuen Entwicklung der zeitgenössischen Philosophie und mit der neuen gesellschaftlichen Lage. Ein Beleg dafür findet sich in einem Schreiben des Autors an seinen Freund Carl Gustav Brinckmann (1764–1847) zu der zweiten Ausgabe der Reden: Die zweite Erscheinung dieser Schrift ist „jedoch nicht so, […], auf eine ganze freie Weise; sondern Thema und Ausführung war mir abgedrungen von der Zeit und den Umgebungen, und stand in der genauesten Beziehung auf die welche mich zunächst hören sollten“.114 Unsere Studie zeigt, dass allein die Grundlage seiner Philosophischen Ethik, die Verhältnisbestimmung von Vernunft und Natur, von der über seinen halleschen Kollegen Henrich Steffens vermittelten romantischen, Schelling nahestehenden Naturphilosophie beeinflusst ist. Ohne den philosophiegeschichtlichen Kontext kann man Schleiermacher nicht verstehen, weder hinsichtlich seines neuen Religionsbegriffs in der ersten Auflage der Reden noch in Bezug auf die Umbildung dieses Religionsbegriffs um 1806. Für unsere Untersuchung ist die Bedeutung der Umbildung seines Religionsbegriffs im Brouillon zur Ethik von außergewöhnlicher Bedeutung. Wie bereits herausgestellt, hängt dieser theoretische Wendepunkt mit der unterschiedlichen Verwendung des Anschauungsbegriffs bei Schleiermacher in beiden Phasen unmittelbar zusammen. Anders als in den Reden (1799), wo Anschauung und Gefühl als eng verbunden dem jungen Schleiermacher zur Wesensbestimmung der Religion dienen, legt er hier im Brouillon zur Ethik einen klaren Akzent auf den Unterschied von beiden, auch wenn sie nicht abgesondert vorkommen, um das objektive Erkennen und das subjektive Erkennen näher zu bestimmen. Anschauung und Gefühl gehören zu unterschiedlichen Handlungssphären: Jene gehört zum erkennenden Handlungsgebiet mit überwiegendem Charakter der Identität, dieses zum gegenüberstehenden Handlungsgebiet mit überwiegendem Charakter der Individualität. Religion als Ethisierung des Gefühls gründet auf dem Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens. Die Interdependenz von Religion und Individualität, die der junge Autor bereits in seinen frühromantischen Werken entdeckt hat, wird nun mit einem handlungstheoretischen System begründet. Durch diese Begründung wird der individuelle Charakter der Religion verstärkt.

114 Friedrich Schleiermacher: Zueignung der zweiten Ausgabe. „An Gustaf von Brinkmann“ (Halle, den 29. August 1806), in: KGA I/12, 5. Darauf hat Niklaus Peter in der oben genannten Einleitung hingewiesen.

Kapitel 4 Der Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik von 1812–1817 Dass Schleiermacher im Brouillon zur Ethik von 1805/06 im Rahmen seiner Beschreibung des menschlichen Handelns Religion als Vernunfttätigkeit des individuellen Symbolisierens interpretiert und dadurch einen neuen ethischen Religionsbegriff entwickelt, haben wir im dritten Kapitel aufgezeigt. Dieser Hallenser Ethikvorlesung zufolge gründet Religion ursprünglich im Gefühl: Das Sittlich-Werden des Gefühls ist Religion. Damit wird Religion als ein ethischer Prozess verstanden. Aber wie die Versittlichung des Gefühls geschieht, oder wie es konkret realisiert wird, bleibt im Brouillon zur Ethik unzureichend geklärt. In der Philosophischen Ethik seiner Berliner Reifezeit macht Schleiermacher den Realisierungsprozess der Versittlichung des Gefühls durch die Verhältnisbestimmung von Religion und Kunst deutlicher. Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Darstellung der Grundelemente der Handlungstheorie und einer Rekonstruktion des ethischen Religionsbegriffs im Brouillon zur Ethik wird das vierte Kapitel unserer Untersuchung sich deshalb auf den Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik seiner Berliner Reifezeit fokussieren. Die theoretische Verdeutlichung der Versittlichung des Gefühls setzt voraus, dass Schleiermacher den Begriff Gefühl entsprechend seiner vertiefenden und erweiternden Ausarbeitung der Philosophischen Ethik zwischen 1812 und 1817 näher bestimmt. Insofern ist es in diesem Kapitel vorerst erforderlich, die nähere Bestimmung des Gefühls in der Philosophischen Ethik seiner Berliner Reifezeit zu rekonstruieren (1). Darauf folgend werden wir den inneren Zusammenhang von Religion und Kunst bei Schleiermacher interpretieren (2), indem wir uns in einem ersten Schritt in einer Ausdruckstheorie dem Problem zuwenden, wie das Gefühl als Ausdruck der inneren mentalen Zustände vermöge eines Mediums extra dargestellt oder ausgedrückt werden kann (2.1), und in einem zweiten Schritt erörtern, welche Funktion Kunst als System der Darstellungen des Gefühls in Bezug auf die Ethisierung des Gefühls hat (2.2). Im Anschluss daran wird schließlich der Kirchenbegriff seiner Philosophischen Ethik als Theorie der Vergemeinschaftung religiöser Ausdruckstätigkeit thematisiert (3).

1 Die nähere Bestimmung des Gefühls Im Brouillon zur Ethik geht Schleiermachers Philosophische Ethik bzw. seine durch das Quadruplizitätsschema strukturierte Handlungstheorie – wie im dritten Kapitel dargestellt – von der Einheit von Vernunft und Natur aus. Eingeleitet von dem Grundprinzip „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“ wird das https://doi.org/10.1515/9783110664393-008

1 Die nähere Bestimmung des Gefühls



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Verhältnis von Vernunft und Natur einerseits als Einssein, andererseits als Gegensatz bestimmt. Denn der Mensch als Naturwesen kann nur durch die Beseelung der Vernunft ein Lebewesen sein – wesentlich anders als das Tier – und alle menschlichen Handlungen sind die Tätigkeit der Vernunft auf die Natur. Dass diese Verhältnisbestimmung von Vernunft und Natur von der über seinen halleschen Kollegen Henrich Steffens vermittelten romantischen, Schelling nahestehenden Naturphilosophie beeinflusst ist, ist bereits herausgestellt worden.1 Beruhend auf dem Quadruplizitätsschema und in Verbindung mit seiner Kritik an der bisherigen Erkenntnistheorie legt Schleiermacher hier die erste Fassung seiner Erkenntnistheorie vor, in der er die erkennende Tätigkeit mit dem überwiegenden Charakter der Identität und mit dem der Individualität jeweils als identisches Erkennen und als individuelles Erkennen darstellt. In diesem Rahmen wird das Gefühl der erkennenden Tätigkeit der Vernunft zugeordnet, sofern es sich um das Erkennen im Modus der Individualität handelt. Indem das Gefühl mit dem individuellen subjektiven Erkennen gleichgesetzt wird, kommt es zwischen dem identischen Erkennen einerseits und dem sinnlichen Gefühl andererseits zu stehen. Abgesehen davon, dass Schleiermacher Anfang 1808, noch vor der Eröffnung der Berliner Universität, bereits über Ethik las, hat er insgesamt fünfmal während seiner Professur in Berlin die Vorlesung über Philosophische Ethik gehalten.2 Die neun Vorlesungsvorlagen zur Ethik im Schleiermacher-Nachlaß aus den Jahren zwischen 1812 und 1817 sind die grundlegenden Quellen zur Philosophischen Ethik des reifen Schleiermacher, weil sie – wie Hans-Joachim Birkner sagt – „das Ganze oder größere Teile des Systems der Ethik behandeln“.3 Zwischen der frühen skizzenhaften, aber schon systematischen Darstellung im Brouillon zur Ethik und der vertiefenden und erweiternden Ausarbeitung der Philosophischen Ethik hat Schleiermacher die transzendentale Grundlegung seiner Erkenntnistheorie unter dem Titel Dialektik entwickelt, die er in Berlin neben seiner theologischen Professur als philosophischer Lehrer 1811 zum ersten Mal las und dann vier Male wiederholte.4 In der Dialektik wird die materiale Systemphilosophie in zwei parallel stehende Bereiche bzw. Physik und Ethik deutlich gliedert, jene als spekulative Naturphilosophie, diese als

1 Zur philosophischen Auseinandersetzung zwischen Schelling und Steffens vgl. Hermann Süskind: Der Einfluß Schellings (1909), 196–197; Paul Ziche: Henrich Steffens und F. W. J. Schelling. Naturphilosophie um 1800 als Modell wissenschaftlicher Kooperation, in: Zbliżenia Interkulturowe Polska – Niemcy – Europa / Interkulturelle Annäherungen Polen – Deutschland – Europa 2 (41), 2005, 190–198. 2 Dazu vgl. oben: 186, Fußnote 59. 3 Hans-Joachim Birkner: Einleitung (1981), XIV. 4 Friedrich Schleiermacher: Vorlesung über die Dialektik, in: KGA II/10.1–2. Schleiermacher hat die Vorlesung Dialektik 1811, 1814/15, 1818/19, 1822, 1828 und 1831 gehalten. Dazu vgl.: Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 2)(1966), 148–155; Andreas Arndt: Einleitung (1986), in: Friedrich Schleiermacher: Dialektik (1811), hg. von Andreas Arndt, Hamburg 1986, XLVII–LX; ders.: Historische Einführung (2002), in: KGA II/10.1, VII–LVII; Kurt Nowak: Schleiermacher (2001), 283–293.

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spekulative Theorie der Geschichte.5 In diesem Kontext nimmt es nicht wunder, dass die Ausarbeitung der Philosophischen Ethik in enger Verbindung mit seiner Beschäftigung mit der Dialektik steht, sodass Schleiermacher in der Ethikvorlesung von 1812/13 das Verhältnis von beiden sogar als eine „Deduction der Ethik aus der Dialektik“ versteht.6 Ebenso wie im Brouillon zur Ethik ist die reife Fassung seiner Philosophischen Ethik in ein Gesamtsystem eingeordnet. Dementsprechend fängt die Ausarbeitung dieses Entwurfs damit an, dass der Autor in einer weiteren Auseinandersetzung mit der romantischen Naturphilosophie das Verhältnis von Vernunft und Natur präzisiert. Erst auf dieser Basis kann Schleiermacher das Quadruplizitätsschema seiner Handlungstheorie entfalten und dann die Funktion des Gefühls als individuelle bezeichnende Tätigkeit näher bestimmen. Von daher wollen wir hier in einem ersten Schritt die Darstellung des Verhältnisses von Vernunft und Natur nach dem Manuskript für seine Ethikvorlesung von 1816/177 mit Blick auf seine theoretische Hintergrundfunktion für das Verständnis des Gefühls betrachten.8

5 Zu Schleiermachers Dialektik vgl. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 2)(1966): 65–227; Andreas Arndt: Einleitung (1986), VII–XXVI; ders.: Einleitung (1988), in: Friedrich Schleiermacher: Dialektik (1814/15), Einleitung zur Dialektik (1833), hg. von Andreas Arndt, Hamburg 1988, IX– XXXV; Rudolf Odebrecht: Einleitung des Herausgebers (1942), in: ders. (Hg.): Friedrich Schleiermachers DIALEKTIK (Im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf Grund bisher unveröffentlichten Materials), Leipzig 1942, V–XXXIII; Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. V (1960), 281–299; Hans-Richard Reuter: Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers. Eine systematische Interpretation, München 1979; Christian Albrecht: Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit (1994), 261–305; Ingolf Hübner: Wissenschaftsbegriff und Theologieverständnis. Eine Untersuchung zu Schleiermachers Dialektik, Berlin/New York 1997; Ulrich Barth: Der Letztbegründungsgang der ‚Dialektik‘. Schleiermachers Fassung des transzendentalen Gedankens, in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus (2004), 353–388; Peter Grove: Deutung des Subjekts (2004), 435–480; Andreas Arndt: Dialektik und Transzendentalphilosophie. Schleiermacher und die Klassische Deutsche Philosophie (2010), in: ders.: Friedrich Schleiermacher als Philosoph (2013), 17–28. 6 Vgl. PhE 1812/13, 247–248. 7 Friedrich Schleiermacher: Ethik 1816 (Einleitung und Güterlehre I) (Neuer Anfang der Ethik [Vermutlich 1816/17 entstanden]), in: WA II, 513–557; Ethik 1816 (Einleitung und Güterlehre I) (Güterlehre. Letzte Bearbeitung [Vermutlich 1816/17 entstanden]), in: WA II, 559–626. Hier wird die Datierung von Hans-Joachim Birkner berücksichtigt, vgl. Hans-Joachim Birkner: Einleitung (1981), XIV– XVI. 8 Zwar haben einige Autoren Schleiermachers Philosophische Ethik seiner Berliner Reifezeit zum Thema gemacht, aber das Verhältnis von Vernunft und Natur als Grundlage der Philosophischen Ethik wird nicht vermerkt oder nicht ausreichend diskutiert. Vgl. Eilert Herms: Die Ethik des Wissens beim späten Schleiermacher (1976/2003); Theoder Jørgensen: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis des späteren Schleiermacher (1977), 7–24; Wolfgang H. Pleger: Schleiermachers Philosophie, Berlin 1988, 12–30; Michael Moxter: Güterbegriff und Handlungstheorie (1992); Michael Feil: Die Grundlegung der Ethik bei Friedrich Schleiermacher und Thomas von Aqiun, Berlin/New York 2005, 22–26; Peter Grove: Deutungen des Subjekts (2004), 377–379. Moxter hat das

1 Die nähere Bestimmung des Gefühls

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1.1 Vernunft und Natur Schleiermacher gründet seine nähere Untersuchung von Natur und Vernunft auf den Gegensatz des Dinglichen und des Geistigen. In dem Manuskript ‚Neuer Anfang der Ethik‘,9 vermutlich von 1816/17, die sich bis dahin als „vollständige Neufassung der Einleitung“10 seiner Philosophischen Ethik zeigt, heißt es: „Der höchste Gegensaz, unter dem uns alle andern begriffen vorschweben, ist der des dinglichen und des geistigen Seins.“ (PhE 1816/17, 531, §46) Dieser Gegensatz entspricht der schon in der Dialektik ausführlich dargestellten Wissenstheorie: „Dinglich ist das Sein als das Gewußte, geistig als das Wissende, beides natürlich im weitesten Sinne genommen“ (PhE 1816/17, 531). Somit ist der Gegensatz durch die Gegenüberstellung von Sein als „das Gewußte“ und als „das Wissende“ zu beschreiben. Dass dieser Gegensatz der Höchste ist, hängt mit zwei miteinander verbundenen Sachverhalten zusammen: 1. Wir existieren nur „vermöge unseres Zwecks in der Thätigkeit des Wissens“ (ebd.). 2. Dieser Gegensatz „ist aber der aller Wissensthätigkeit als ihre allgemeinste Bedingung einwohnende“ (ebd.). Diese beiden Sachverhalte bringen mit sich, dass wir als Wesen von dem Gegensatz des Dinglichen und des Geistigen immer begleitet werden, oder anders gesagt, dass unsere Wissenstätigkeit diesen Gegensatz voraussetzt. Dieser Erklärung folgend bringt Schleiermacher nun die basale Kategorie seiner Handlungstheorie – Natur und Vernunft – ins Spiel: „Das Ineinander aller unter diesem höchsten begriffenen Gegensäze, auf dingliche Weise angesehen, oder das Ineinander alles dinglichen und geistigen Seins als Dingliches d. h. Gewußtes ist die Natur. Und das Ineinander alles Dinglichen und Geistigen als Geistiges d. h. Wissendes ist die Vernunft.“ (PhE 1816/17, 532, §47) Obwohl Natur und Vernunft zunächst einander gegenüberstehen, wie sich Dingliches zum Geistigen verhält, haben sie doch – näher betrachtet – jeweils an deren Einheit teil. Sie unterscheiden sich nur durch das quantitative Überwiegen des einen oder anderen Faktors. Darum sind sie trotz ihres Gegensatzes immer auch miteinander verbunden. Im Grunde vertritt Schleiermacher hier ein durchaus an Schelling erinnerndes Identitätsmodell. Dies ist natürlich nur möglich auf der Basis der Logik des konträren Gegensatzes. Sehen wir uns die Argumentation im Einzelnen an: „Zunächst ist also hier die Rede von Einer Natur und Einer Vernunft. Aber jede Einheit des dinglichen und geistigen Seins von ihrer dinglichen Seite, und selbst das Wissen als Gewußtes also dinglich

Verhältnis von Vernunft und Natur als Grundlage der Philosophischen Ethik in seiner Dissertation nicht vermerkt. Pleger bezeichnet die Ethik Schleiermachers als „Einigung von Natur und Vernunft“, dieses Einigungsverhältnis wird bei ihm aber nicht weiter herausgearbeitet. Für Feil ist das Verhältnis von Vernunft und Natur zwar das Grundthema der Ethik bei Schleiermacher, aber seine Diskussion beschränkt sich nur auf die Schrift zur Ethik von 1812/13. 9 Vgl. dazu oben: 266, Fußnote 7. 10 Hans-Joachim Birkner: Einleitung (1981), XVI.

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angesehen wird Natur. Und eben so, worin noch ein kleinster Antheil des Geistigen ist, das ist in diesem Sinne eine Vernunft.“ (PhE 1816/17, 532) Hierbei fällt auf, dass der Autor durch die Betonung von „Einer“ Natur und „Einer“ Vernunft im Hinblick auf beide ein Einheitsmoment herausstellt. In dieser Aussage wird darüber hinaus angedeutet, dass der Gegensatz von Natur und Vernunft sich der Betrachtung nach unterschiedlichen Abstraktionshinsichten verdankt. An dieser Stelle ist zu bemerken, dass die dingliche Seite hier die gegenständliche Dimension insgesamt repräsentiert, unabhängig davon, ob der Gegenstand ein ideeller oder ein reeller ist. Entsprechend steht die subjektive Dimension überhaupt für die Sphäre des Geistigen. Diese Beobachtung bestätigt sich in der anschließenden Passage: „Daß nun Vernunft gleich wieder als Natur gedacht werden muß, wenn sie Gegenstand sein und gewußt werden soll, und eben so Natur als Vernunft, wenn sie als Ideen Zwecke in sich tragend und vorstellend gedacht wird, leuchtet ein und beweiset eben das Untergeordnete und Unvollkommene der Trennung.“ (ebd.) Bisher haben wir gesehen, dass der höchste Gegensatz und das Ineinander des Dinglichen und des Geistigen nicht nur die Gegenüberstellung von Natur und Vernunft zur Folge hat, sondern auch ihre ursprüngliche Einheit begründet – somit kann Natur als Vernunft gedacht werden, und ebenfalls Vernunft als Natur.11 Ausgehend davon ist Schleiermacher der Überzeugung: „Das höchste Bild aber des höchsten Seins, also auch die vollkommenste Aufassung der Gesamtheit alles bestimmten Seins, ist die vollständige Durchdringung und Einheit von Natur und Vernunft.“ (PhE 1816/17, 532, §48) Diese prinzipientheoretische These unterstreicht, dass Schleiermacher das Ineinander von Natur und Geist letztlich darauf zurückführt, dass es eine Erscheinung dessen darstellt, was Schelling als absolute Indifferenz bezeichnet hat. Ohne die identitätsphilosophischen Hintergründe sind die angeführten Einleitungsparagraphen gar nicht zu verstehen. Die Folgerungen, die Schleiermacher aus der These der „Einheit von Natur und Vernunft“ zieht und denen wir uns nun zuwenden wollen, führen in die Anthropologie. Das Zusammensein und der Gegensatz von Leib und Seele sind die Erscheinungsweise für „das Ineinander des Dinglichen und Geistigen“ (PhE 1816/17, 532, §49). Das heißt: „[W]as wir Leib nennen, ist als solcher überall schon ein Ineinander des Dinglichen und Geistigen, und was Seele als solche eben so“ (PhE 532). Den inneren Zusammenhang zwischen den drei genannten Korrelationen – dem Verhältnis von Natur und Vernunft, dem Verhältnis von dem Dinglichen und dem Geistigen und dem Verhältnis von Leib und Seele – erläutert Schleiermacher folgendermaßen: „Das Werk, die That des Geistigen in der Natur ist überall die Gestalt; das Werk des Dinglichen in der Vernunft ist überall das Bewußtsein.“ (PhE 1816/17, 533, §50) Und: „Ueberall durch die Gestaltung ist der Leib Leib“ (PhE 1816/17, 533), und

11 Wolfgang H. Pleger spricht hier von „vernünftiger Natur“ und „natürlicher Vernunft“ (vgl. ders.: Schleiermachers Philosophie [1988], 15).

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„überall durch das Bewußtsein ist die Seele Seele“ (ebd.). Nehmen wir die beiden Zitate zusammen, so lässt sich bestimmen, dass das Verhältnis von Leib und Seele als Vereinigung der Natur mit der Vernunft im Einzelmenschen eigentlich durch das Verhältnis von Gestalt und Bewusstsein zu erklären ist. Daraus ergibt sich der Befund: „Leib und Seele im Menschen ist die höchste Spannung des Gegensazes, ein zwiefaches Ineinander des Dinglichen und Geistigen.“ (ebd.) Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass das Auseinander und Ineinander von Vernunft und Natur sich im Einzelwesen als Gegensatz und Einheit von Seele und Leib konkretisiert.12 In dieser Abschwächung des cartesianischen Dualismus berührt sich Schleiermacher eng mit Herders Anthropologie.13 Erst auf der Basis jener identitätsphilosophischen Prämisse und ihrer Konkretisierung in der Anthropologie ist Schleiermacher in der Lage, sein Modell des Handelns der Vernunft auf die Natur genauer zu entfalten. So bestimmt er die Aufgabe der philosophischen Sittenlehre dahingehend, „das wirkliche Handeln der Vernunft auf die Natur“ (PhE 1816/17, 545, §95) zu beschreiben, oder wie früher (1812/13) gesagt: Ethik ist die „Darstellung des Zusammenseins der Vernunft mit der Natur“ (PhE 1812/13, 251, §50). Jenes Modell ist in sich dann höchst voraussetzungsreich, denn es entfaltet nicht bloß jene Prämissen in Gestalt einer Handlungstheorie, sondern führt zugleich weitere Begriffe ein, die teils in der Naturphilosophie, teils in der Ontologie ihren Ursprung haben. „Inwiefern die Vernunft auf die Natur handelt, ist ihr Werk in der Natur Gestaltung, und die Natur verhält sich zu ihr wie Masse zur Kraft.“ (PhE 1816/17, 546, §96) Schleiermachers Analogie zur Kraft-Masse-Relation dient dazu, die Gestaltungsfunktion der Vernunft zu veranschaulichen. Es handelt sich im Wesentlichen um ein Strukturierungsmodell: „Denn die Vernunft verhält sich zur Natur wie Geistiges zum Dinglichen, und zu dem, was sie hervorbringt, in jeder Handlungsweise wie die Einheit des Allgemeinen zur Mannigfaltigkeit des Besonderen. Das Dingliche, Besondere, aber angesehen als Mannigfaltiges und abgesehen von aller Gestaltung ist Masse.“ (PhE 1816/17, 546) Das Verhältnis von Formlosigkeit und Formung in diesem Strukturierungsprozess ist für Schleiermacher

12 Vgl. Theodor Jørgensen: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis (1977), 12–14. Diesen Befund Schleiermachers hat Jørgensen folgendermaßen umschrieben: „Zwar ist einerseits die Vernünftigkeit der menschlichen Natur als die höchste Entwicklung des Geistigen im Dinglichen zu verstehen, und insofern ist die menschliche Natur Ausdruck einer hohen Gestaltung der Natur überhaupt. Andererseits tritt der Mensch als Vernunftwesen der gesamten Natur gegenüber, weil erst in ihm der Geist zum Wissenden geworden ist. Bewußtsein im vollen Sinn hat nur der Mensch. Hiermit ist sozusagen die Möglichkeit einer Gestaltung der Natur in zweiter Potenz gegeben, wo die schon mehr oder weniger gestaltete Natur nun vom Menschen her und auf den Menschen hin erneut gestaltet wird, wodurch sie ihre Vollendung erfährt.“ (a. a. O., 13–14) 13 Zu Herders Seelenbegriff vgl. Roderich Barth: Von Wolffs ‚Psychologia empirica‘ zu Herders ‚Psychologie aus Bildwörtern‘. Beobachtungen zur Umformung des Seelenbegriffs in der Aufklärung (2010), in: Katja Crone/Robert Schnepf/Jürgen Stolzenberg (Hg.): Über die Seele, Frankfurt a. M. 2010, 174–209, 191–203.

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durchaus verschieblich. Gestaltetsein ist also eine relative Eigenschaft. „Gestaltet ist die Natur, welche Gegenstand des Vernunfthandelns ist, für sich schon, aber sie ist Masse beziehungsweise auf die Gestaltung, welche sie durch die Vernunft erhalten soll.“ (ebd.) Folgt man dieser Erklärung, dann sind in Bezug auf das Handeln der Vernunft auf die Natur mindestens die folgenden drei Bedeutungsfacetten miteinander verbunden. Die erste Bedeutungsfacette ist in der Beziehung von Geistigem und Dinglichem zu sehen, diese Beziehung haben wir in den vorigen Abschnitten aufgezeigt. Die zweite ist in der Korrelation der Einheit des Allgemeinen mit der Mannigfaltigkeit des Besonderen zu erblicken. Hier spielt die Vernunft als Einheit des Allgemeinen die Rolle eines ordnenden Prinzips. Die Natur hingegen ist als Masse charakterisiert, das heißt, sie ist der Vernunft gegenüber nichts anderes als dingliche Mannigfaltigkeit. Darauf folgt die dritte und entscheidende Bedeutungsfacette, dass die ordnende Vernunft als eine handelnde zu verstehen ist, demgegenüber die Natur dasjenige ist, worauf gehandelt wird. Vernunft und Natur verhalten sich wie gestaltende Instanz und zu Gestaltendes bzw. Gestaltetes. Wir haben gesehen, dass ein Handeln der Vernunft auf die Natur nur möglich ist, wenn das Einsgewordensein beider in anderer Weise bereits vorausgesetzt ist. Doch bei dieser abstrakten Prämisse bleibt Schleiermacher nicht stehen. Auf die äußere Natur kann durch die Vernunft nur gehandelt werden, wenn die am Orte des Menschen vorausgesetzte Einheit ihrerseits als ein Bildungsprozess verstanden wird. Diesen Prozess beschreibt Schleiermacher als das Organisieren einer Masse: Der auf das welthafte Handeln Abzielende muss seinen Leib so organisieren und organisiert haben, dass er überhaupt in der Lage ist, in den Naturprozess einzugreifen. Die im Menschen vorausgesetzte Einheit von Vernunft und Natur muss gleichsam operationalisiert werden. „Inwiefern die Vernunft nur gehandelt hat, wenn Natur mit ihr geeinigt worden ist, und die mit der handelnden Vernunft Einsgewordene Natur auch mit ihr [sc. der Vernunft] handelnd und hervorbringend sein muß, so ist das Handeln der Vernunft auf die Natur das Bilden eines Organismus aus der Masse.“ (PhE 1816/17, 546, §97) Der Begriff der Natur besetzt hier also zwei unterschiedliche Positionen: zum einen eine mit der handelnden Vernunft bereits einsgewordene, und zum anderen eine in solche Einheit erst zu überführende. Erstere besetzt die Kraft der Vernunft, zu handeln und hervorzubringen, und gehört zum Menschen als organischem Wesen. Die Bearbeitung letzterer hingegen ist die eigentliche ethische Aufgabe. Und damit gewinnt Schleiermacher einen neuen Gesichtspunkt für die Anthropologie: „Es giebt also eine in der Sittenlehre nirgend ausgedrückte Einheit von Vernunftkraft und Naturmasse, ein immer schon vorausgeseztes Organisirtsein der Natur für die Vernunft, und dieses ist die menschliche Natur als Gattung.“ (PhE 1816/17, 546, §99) Weil das immer schon Geeintsein von Natur und Vernunft und das aktive Fortbilden derselben zu einem Organismus eine generische Bestimmung ist, die jedes menschliche Einzelwesen betrifft, spricht Schleiermacher hier von einer Gattungsbestimmtheit. Die menschliche Natur als Gattung ist ein immer schon vorausgesetztes Organisiertsein der Natur. Diese vor-

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ausgesetzte Einheit der menschlichen Natur mit der Vernunft liegt dem menschlichen Handeln zugrunde. „Denn alles Gestalten irdischer Natur für die Vernunft geht vom Menschen aus, aber nur inwiefern die menschliche Natur Gattung ist, kann die Vernunft immer schon in ihr [sc. der menschlichen Natur] sein.“ (PhE 1816/17, 546) Diese Begründung erklärt sich, wie gesehen, aus zwei Punkten: 1. Der Mensch ist ein Vernunftwesen; 2. Die Einheit der Vernunft mit der menschlichen Natur impliziert a priori den Gattungscharakter der menschlichen Natur. Weiterhin beschreibt Schleiermacher die menschliche Natur von der Seite der Natur an einer anderen Stelle wie folgt: „[D]ie menschliche Natur […], also ursprünglich gesezt, ist nur ein integrirender Theil der Natur überhaupt“ (PhE 1816/17, 585). Diese Überzeugung, dass der Mensch als Naturwesen ein Teil der Natur ist, ist eine Voraussetzung der Handlungstheorie. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Einerseits steht der Mensch als Vernunftwesen der Natur gegenüber, andererseits ist der Mensch als Naturwesen ein Teil der Natur.14 Vor dem Hintergrund der Verdeutlichung einer Interdependenz von Vernunft und Natur – eines Ineinanderseins und Gegenübergesetztseins von beiden – bringt Schleiermacher in seiner letzten Bearbeitung der Einleitung und Güterlehre (1816/ 17) schließlich eine ausführliche und präzise Darstellung seiner schon im Brouillon zur Ethik skizzierten Handlungstheorie hervor, genauer genommen seine Güterlehre, die durch ein Quadruplizitätsschema strukturiert ist. Das nehmen wir als Hintergrund für die nähere Bestimmung des Gefühls und werden hier eine Übersicht seiner letzten Bearbeitung geben. Schleiermacher unterscheidet zwei untrennbare Grundtypen menschlicher Tätigkeit – die bezeichnende und die organisierende, in in dieser späteren Vorlesung zur Philosophischen Ethik durch die unterschiedlichen Zuordnungen von Vernunft und Natur innerhalb der Vereinigung derselben: „Welches Ineinander von Vernunft und Natur wir auf die bezeichnende Thätigkeit beziehen, darin sezen wir Natur, auf welche gehandelt worden ist, eins geworden mit der Vernunft; was auf die anbildende [sc. Thätigkeit], darin sezen wir Natur, mit welcher gehandelt werden soll, eins geworden; also diese mehr um eines Handelns willen vor demselben, jene mehr vermittelst eines Handelns, also nach demselben.“ (PhE 1816/17, 570) Das Zitat lässt erkennen: Die organisierende Tätigkeit („die anbildende [Thätigkeit]“) benötigt das Einswerden der Natur mit der Vernunft – „mit welcher gehandelt werden soll“, bei der organisierenden Tätigkeit hat die mit Vernunft einsgewordene Natur eine instrumentelle Funktion. Bei dieser Tätigkeit soll die Natur mehr um eines Handelns willen mit der Vernunft eins werden. Hier geht die Einheit von Vernunft und Natur dem Handeln gleichsam voraus. Jener instrumentellen Funktion wegen ist im organisierenden Handeln immer ein „Einswerdensollen“ dessen mitgedacht, was mit seiner Hilfe hervorgebracht wird.15 Im Gegensatz dazu hat

14 Hierzu vgl. Theodor Jørgensen: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis (1977), 8. 15 Vgl. PhE 1816/17, 570: „[W]enn wir uns denken ein Organ, denken wir ein Einswerdensollen.“

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ein Handeln von der Form der bezeichnenden Tätigkeit das Einswerden der Natur mit der Vernunft direkt zur Voraussetzung. Das Zeichen, vermittels dessen die noch nicht mit Vernunft geeinte Natur bezeichnet werden soll, geht als selbst bereits Einsgewordensein der Natur mit der Vernunft dem Bezeichnen voraus. Symbol ist für Schleiermacher jedes Zeichen als Einsgewordensein der Natur mit der Vernunft zum Zweck des Bezeichnens. Somit heißt das: „[W]enn wir uns denken ein Einsgewordensein, so denken wir ein Symbol“ (ebd.). Das Ineinander von Vernunft und Natur ist in beiden Fällen dasselbe, nur kommen sie innerhalb der Struktur der Vernunfttätigkeit unterschiedlich zu stehen. Damit verbunden ist die bereits im Brouillon zur Ethik herausgestellte Tatsache, dass die bezeichnende Tätigkeit und die organisierende Tätigkeit im sittlichen Sein überall ineinander sind. Mit dieser Herleitung der beiden Tätigkeiten aus dem Einswerden der Natur mit der Vernunft legt Schleiermacher nun seine neue Beschreibung für die beiden Tätigkeiten vor. Zum Ausdruck kommt zuerst die organisierende Tätigkeit: „Zwischen den Grenzen des sittlichen Seins betrachtet, ist die organisirende Thätigkeit die steigende Spannung und die werdende Aufhebung des beziehungsweisen Gegensazes zwischen der der Vernunft ursprünglich geeinigten und der nie ganz mit ihr eins werdenden Natur“ (PhE 1816/17, 572, §26). Im Vergleich dazu ist die symbolisierende Tätigkeit „die steigende Spannung und der sich aufhebende Gegensaz zwischen der von der Vernunft ursprünglich bezeichneten und der nie ganz von ihr zu bezeichnenden Natur.“ (PhE 1816/17, 574, §31) Trotz ihres strukturellen Unterschiedes gleichen sich die beiden Tätigkeiten darin, dass sie zwischen einem gegebenen Terminus a quo und einem aufgegebenen Terminus ad quem stehen, wobei letzterer nur in assymptotischer Annäherung erreicht werden kann. Terminus a quo der ersten Tätigkeit ist der menschliche Leib, Terminus a quo der zweiten die allem geistigen Leben ursprünglich eigene Einheit von Bewusstem und Unbewusstem. Terminus ad quem der ersten Tätigkeit wäre die vollendete Gestaltung des Erdkörpers, Terminus ad quem der zweiten wäre der Vollendungszustand des Verstehens. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die Funktion der zweiten Tätigkeit und zwar näherhin im Modus ihres individuellen Vollzugs. Im Vorangehenden hatten wir festgestellt, dass der Mensch als Naturwesen ein Teil der Natur ist. Darauf folgend beschreibt Schleiermacher das Phänomen des Einzelwesens als die „Zerspaltung der menschlichen Natur in die Mehrheit von Einzelwesen“ (PhE 1816/17, 577 und 585), die „mit dem Handeln der Vernunft in ihr [sc. der menschlichen Natur]“ (PhE 1816/17, 585) besteht. Bei der Zerspaltung der Menschheit gibt es zwei Bedingungen dafür, dass das Sein der Vernunft in der menschlichen Natur bzw. das Handeln der Vernunft in ihr vollständig ist: Die eine ist „die sittliche Gemeinschaft der Einzelwesen“ (PhE 1816/17, 577, § 35), die andere ist die Unterscheidung der Einzelwesen in dieser Gemeinschaft. Die Vollständigkeit des Seins der Vernunft in der Menschheit bedeutet hier die Einheit der Vernunft in ihrem Handeln auf die Natur. Im Folgenden soll hier noch ein Blick auf die beiden Bedingungen des zuletzt Beschriebenen geworfen werden, um das Sein der Ver-

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nunft in der menschlichen Natur in einem weiteren Schritt zu klären, bevor wir uns der bezeichnenden Tätigkeit zuwenden. Wir kommen zunächst zu der ersten Bedingung: die sittliche Gemeinschaft der Einzelwesen. Schleiermacher begründet diese Bedingung mit einem Argument: „Die menschliche Natur ist nur wirklich in dem Nebeneinander und Nacheinander der Einzelwesen, und also ist auch die Vernunft nur handelnd in ihr, indem sie es in ihnen ist.“ (PhE 1816/17, 577) In dieser Aussage wird die Bedeutung des Einzelwesens sowohl für die menschliche Natur als auch für das Handeln der Vernunft herausgestellt. Die Einzelwesen sind einerseits die Verwirklichung der mit der Vernunft geeinigten menschlichen Natur, andererseits die konkreten Träger jenes Vernunfthandelns. Aber allein durch das Einzelwesen wird das Sein der Vernunft in der menschlichen Natur nicht vollständig sein. Diese Aussage wird wie folgt konkretisiert: „Jedes Einzelwesen ist aber als ein für-sich-geseztes einzelnes Ineinander von Vernunft und Natur selbst nur Organ und Symbol, und also nur sittlich, inwiefern in ihm und von ihm aus für die Vernunft überhaupt die Natur überhaupt organisirt wird und symbolisirt.“ (ebd.) Jedes Einzelwesen als Verwirklichungsort und Träger des Handelns der Vernunft auf die Natur kann im Gesamtprozess der Einigung von Vernunft und Natur gleichsam als Symbol und Organ angesprochen werden. Organ und Symbol sind die Einzelwesen aber auf je individuelle Art. Das bedeutet, dass alle anderen Handlungssubjekte daran nicht beteiligt sind und überhaupt nicht sein können. Sodann heißt es: „Handelt aber die Vernunft nur in den Einzelwesen, und ist ihr Handeln in jedem von dem in allen andern geschieden, so sind von dem, was jedem angeeinigt wird, symbolisch und organisch ausgeschlossen.“ (ebd.) Das führt dazu, dass die Einheit der Vernunft in ihrem Handeln auf die Natur bzw. „die Vollständigkeit des sittlichen Seins“ (ebd.) ganz aufgehoben ist durch die Zerspaltung der menschlichen Natur. Diese Folge steht im Widerspruch in dem sittlichen Menschsein. Daraufhin stellt Schleiermacher fest: „Das sittliche Sein kann also mit dieser Einrichtung der Natur nur bestehen, inwiefern die Scheidung aufgehoben, also die Gemeinschaft gesezt wird; d. h. indem es giebt ein Füreinandersein und Durcheinandersein der einzelnen Vernunftpunkte.“ (ebd.) Er versteht die sittliche Gemeinschaft also als ein „Füreinandersein und Durcheinandersein“ von Individuen. Dies bedeutet, dass jedes Einzelwesen nicht nur für die Anderen existiert, sondern auch seitens der anderen Einzelwesen bedingt ist („durcheinander“). Schleiermacher zufolge ist diese die Unterscheidung der Einzelwesen aufhebende Gemeinschaft nur dadurch möglich, „daß, indem Vernunftthätigkeit auf Ein Einzelwesen bezogen und an das System seiner ursprünglichen Organe und Symbole angeknüpft wird, dasselbe Handeln doch auch auf die andern Einzelwesen bezogen werde und in das System ihrer Organe und Symbole gehöre; und eben so ihr Handeln zugleich auf jenes Einzelwesen bezogen werde und dem System seiner Organe und Symbole angehöre“ (ebd.). Schleiermachers Argument hat also den Charakter einer Analogie. Diejenige Vernetzung, die am Ort jedes Individuums zwischen dessen einzelner organi-

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sierender und symbolisierender Tätigkeit besteht, wird auf die organisierende und symbolisierende Tätigkeit anderer Individuen bezogen, so dass auch hier eine Vernetzung untereinander zustande kommt. Wir fassen dieses Argument zusammen: Wenn es nur Einzelwesen, keine sittliche Gemeinschaft der Einzelwesen geben würde, dann würde die Einheit der Vernunft in ihrem Handeln auf die Natur durch die Zerspaltung der menschlichen Natur in die Mehrheit der Einzelwesen aufgehoben. Darum ist eine Vergemeinschaftung der Individuen für die Vollständigkeit des Seins der Vernunft in der Menschheit ethisch notwendig. Auf der anderen Seite ist für die Vollständigkeit des Seins der Vernunft in der Menschheit aber auch die Unterscheidung der Einzelwesen, nämlich das Für-SichSein der Individuen in der Gemeinschaft, notwendig. Wenden wir uns also dieser zweiten Bedingung zu. „Bei derselben Zerspaltung [sc. der menschlichen Natur] aber ist das Sein der Vernunft in der menschlichen Natur nur vollständig, inwiefern jedes Einzelwesen mit seinem Gebiet von den andern und ihrem Gebiet geschieden ist.“ (PhE 1816/17, 577–578, §36) Schleiermacher begründet diesen Leitsatz folgendermaßen: „Denn wenn die Einzelnen nicht nur dem Raum und der Zeit nach, sondern auch als Einheit des Allgemeinen und Besonderen, also begriffsmäßig verschieden sein müssen, wie alles sittlich für sich Gesezte, so wird auch das Handeln der Vernunft von jedem aus, wenn jedes ganz, also mit seiner Besonderheit, thätig ist, nothwendig ein Verschiedenes.“ (PhE 1816/17, 578) In Übereinstimmung mit den Monologen (1800), wo Schleiermacher die kantische durch Raum-Zeit-Koordination bestimmte Individuationstheorie scharf kritisiert, bleibt er auch hier in kritischer Distanz dazu. Dem Zitat zufolge ist das Handeln der Vernunft von jedem Einzelwesen aus, aufgrund von dessen qualitativer Besonderheit, notwendig verschieden. Das besagt für die Vernetzung der organisierenden und symbolisierenden Tätigkeit sowohl am Ort des Individuums wie am Ort der Individuen untereinander: Die Gemeinschaftlichkeit beider Tätigkeiten realisiert sich auf keine andere Weise, als dass ihre individuellen Vorkommnisse ineinandergreifen. Die qualitative Verschiedenheit der Individuen voneinander stellt sich als Geschiedenheit des Ineinandergreifenden dar. „Das Organisirte ist sonach für diese Verschiedenheit mit organisirt, und das Symbolisirte prägt diese Verschiedenheit mit aus. Alles sittlich Gehandelte ist daher an diese Verschiedenheit gänzlich gebunden, und, was es sein kann, vollständig nur für sie.“ (ebd.) Schleiermacher kommt es darauf an, dass alles sittlich Gewirkte sowohl in der organisierenden als auch in der symbolisierenden Tätigkeit – jeweils auf verschiedene Weise – an die Verschiedenheit der Einzelwesen gebunden ist, und dass die Wirkung jedes Einzelwesens vollständig nur in Bezug auf seine eigene Besonderheit sein kann. Beide dargelegten Bedingungen sind also gleichursprünglich und unaufhebbar – „die Vollkommenheit des sittlichen Seins ist zugleich die Vollständigkeit dieser Scheidung“ (ebd.). Bisher haben wir die beiden Bedingungen für das vollständige Handeln der Vernunft in der menschlichen Natur bei Schleiermacher in seiner Güterlehre von 1816/ 17 – die sittliche Gemeinschaft der Einzelwesen und die Unterscheidung der Einzel-

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wesen in dieser Gemeinschaft – skizzenhaft dargestellt. Diesen beiden Bedingungen entspricht das im Brouillon zur Ethik genutzte Begriffspaar von Identität und Individualität. In Bezug auf die Vernunft werden sie dort jeweils als „Vernunft an sich“ (Brouillon 159) und als „Vernunft als Seele des Einzelnen“ (ebd.) bezeichnet. Daraus ist eine theoretische Weiterentwicklung erkennbar: Bei der näheren Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Natur in dieser Berliner Ethikvorlesung von 1816/17 reichert Schleiermacher sein Individualitätsverständnis im Brouillon zur Ethik mit neuen Gesichtspunkten an.

1.2 Die Bezeichnungstätigkeit In unserer allgemeinen Darstellung der Grundelemente der Handlungstheorie im dritten Kapitel haben wir gesehen, dass Schleiermacher bei der Beschreibung des menschlichen Handelns im Brouillon zur Ethik zwei Handlungstypen unterscheidet: die organisierende Tätigkeit und die erkennende Tätigkeit. Die erkennende Tätigkeit wird in der Philosophischen Ethik seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre (1816/ 17) als bezeichnende Tätigkeit präzisiert. Dass „Bezeichnen“ in der Handlungstheorie Schleiermachers als ein zentraler Begriff auftaucht, ist kein Zufall. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war dieser Begriff fast in aller Munde. Begriffsgeschichtlich könnte der Terminus „Bezeichnen“ oder „die bezeichnende Tätigkeit“ bei Schleiermacher auf die philosophische und ästhetische Tradition der Aufklärung zurückgeführt werden. Unsere Absicht, dem Begriff der bezeichnenden Tätigkeit Schleiermachers in seiner Philosophischen Ethik näher kommen zu können, bedarf eines kurzen Überblicks über den Begriff „Bezeichnen“ im Horizont der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert, vor allem in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts. Der Begriff „Bezeichnen“ oder „Bezeichnung“ erscheint in der deutschen Aufklärung in zwei Richtungen: in der Halleschen Schulphilosophie und in der kantischen Anthropologie.16 In dieser alternativen Parallelstellung folgt Schleiermacher grundsätzlich der Tradition der Halleschen Schulphilosophie, die von dem Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) und seinem Schüler Georg Friedrich Meier (1727–1777) vertreten ist. Wohl gehört das Bezeichnen sowohl nach der Halleschen Schulphilosophie als auch bei Kant zum erkennenden Vermögen. Aber das Bezeichnungsvermögen hat bei Halleschen Philosophen (vor allem in ihrer Ästhetik) und bei Kant unterschiedliche Bedeutung. Bei Meier ist das Bezeichnungsvermögen das menschliche Vermögen, den Zusammenhang zwischen dem Zeichen

16 Vgl. Andreas Kubik: Die Symboltheorie bei Novalis. Eine ideengeschichtliche Studie in ästhetischer und theologischer Absicht, Tübingen 2006, 25–26.

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und seiner bezeichneten Sache vorzustellen.17 Meiers Bestimmung des Bezeichnungsvermögens setzt seine Ansicht voraus, dass die Wirklichkeit einer Sache durch eine andere Sache bzw. durch ein Zeichen erkannt werden kann. Neben Meier ist Kant derjenige, der ebenfalls zum Terminus „Bezeichnung“ oder „Bezeichnungsvermögen“ im 18. Jahrhundert beigetragen hat.18 Anders als Meier hält Kant das Bezeichnungsvermögen für das, was die vorhergesehene Vorstellung und die vergangene Vorstellung in der Erkenntnis zusammen verknüpft. Dass Schleiermachers Verwendung des Terminus „Bezeichnen“ in seiner Philosophischen Ethik terminologisch grundsätzlich der Tradition der Halleschen Schulphilosophie folgt, ist in seiner Interpretation der bezeichnenden Tätigkeit als einer Handlungsweise deutlich zu sehen. Damit kommen wir zu Schleiermachers Philosophischer Ethik zurück. Wie dargestellt ist die Vernunft im Brouillon zur Ethik nach Schleiermacher in zwei Formen zu unterscheiden: Die eine Form ist die „Vernunft an sich“ (Brouillon 159), d. h. die Vernunft als Gattungsvernunft in Bezug auf die Gemeinsamkeit aller Menschen. Die andere Form ist die „Vernunft als Seele des Einzelnen“ (Brouillon 91 und 159), d. h. die Vernunft als individuelle Vernunft in Hinsicht auf das eigentümliche Dasein jedes Menschen. Dementsprechend bestehen zwei unterschiedliche Bezeichnungsgebiete in seiner durch das Quadruplizitätsschema strukturierten Handlungstheorie, nämlich das Wissen als identisches Erkennen und das Gefühl als individuelles Erkennen. Durch die Einführung der Kategorie „Bewusstsein“ in die Bestimmung der bezeichnenden Tätigkeit in der Philosophischen Ethik seiner Reifezeit formuliert Schleiermacher nun die beiden Bezeichnungsgebiete um, jenes wird als ein identisches Bewusstsein des menschlichen Geschlechts bzw. als Gattungsbewusstsein bezeichnet, dieses als ein individuelles Selbstbewusstsein. Dadurch wird sowohl das Wissen als auch das Gefühl in den späteren Ethikvorlesungen in theoretischer Kontinuität mit dem Brouillon zur Ethik präziser interpretiert. Unserer Fragestellung gemäß liegt der Akzent der folgenden Untersuchung auf der Explikation des Begriffs des Gefühls. Schleiermachers Erläuterung über die individuelle Bezeichnungstätigkeit setzt seine Darstellung der identischen Bezeichnungstätigkeit voraus, und das individuelle Selbstbewusstsein ist bei ihm gewissermaßen nur in dem entgegengesetzten Zusammensein mit dem Gattungsbewusstsein zu verstehen. Aus diesem Grund wollen wir kurz auf Schleiermachers ebenfalls vertiefte Gedan-

17 Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (1755), Bd. 2, Halle 1755 (Nachdruck Hildesheim 1976), Der dreyzehnte Abschnit. Von dem Bezeichnungsvermögen, §§ 513–528, 609–637. Zu Meiers Begriff „Bezeichnungsvermögen“ vgl. Andreas Kubik: Die Symboltheorie bei Novalis (2006), 31–36. 18 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798). In dieser als letzter von ihm selbst herausgegebenen Schrift kommen die beiden Termini „Bezeichnung“ und „Bezeichnungsvermögen“ innerhalb des ersten Teils der Schrift „Anthropologische Didaktik“ zur Sprache. Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Von dem Bezeichnungsvermögen (Facultas signatrix), 191–196.

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ken zur identischen Bezeichnungstätigkeit eingehen (1.2.1), bevor wir uns der Darstellung zuwenden, wie Schleiermacher im Kontext seiner Erörterung über das Verhältnis von Vernunft und Natur die individuelle Bezeichnungstätigkeit interpretiert und dann den Begriff des Gefühls mit unterschiedlichen Bedeutungsaspekten präzisiert (1.2.2). Zu der vielschichtig erweiterten und vertieften Darstellung der bezeichnenden Tätigkeit seiner Berliner Reifezeit folgt unsere Untersuchung grundlegend der letzten Bearbeitung der Güterlehre (1816/17).19 1.2.1 Die identische Bezeichnungstätigkeit Eng verbunden mit seiner vertieften Verhältnisbestimmung von Vernunft und Natur leitet Schleiermacher seine Darstellung der bezeichnenden Tätigkeit in seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre mit der folgenden Behauptung ein: „Das Bezeichnen der Natur ist bei der Zerspaltung in die Mehrheit der Einzelwesen dennoch in allen dasselbe, inwiefern außer der Vernunft auch in allen die Natur, an welcher bezeichnet wird, oder die bezeichnende, und die Natur, welche bezeichnet wird, dieselben sind.“ (PhE 1816/17, 584, §46) In diesem Leitsatz zeigt sich zuerst, dass die Natur in Bezug auf die bezeichnende Tätigkeit zweifach zu verstehen ist: Einerseits ist Natur der Gegenstand der bezeichnenden Tätigkeit, als eine zu bezeichnende Natur; andererseits ist die Natur selbst mit der Vernunft an der bezeichnenden Tätigkeit beteiligt, als eine aktiv bezeichnende Natur. Auch der Begriff der Vernunft wird hier im Kontext der bezeichnenden Tätigkeit erklärt: „Unter Vernunft verstehe ich hier nur diese bezeichnende Tätigkeit selbst, und deren Einerleiheit ist also die erste Bedingung.“ (PhE 1816/17, 584) Hierbei ist Vernunft als bezeichnende Tätigkeit zu verstehen und die Identität der Vernunft – „Einerleiheit“, oder wie im Brouillon zur Ethik „die Vernunft an sich“ genannt – als primäre Bedingung für die bezeichnende Tätigkeit festzustellen. Darauf folgt direkt: „Die Vernunft aber, welche ausgedrückt werden soll in der bezeichnenden Natur, ist ganz dasselbe mit der Natur, welche ihr gegenübersteht.“ (ebd.) Diese Ergänzung, dass die Vernunft durch die bezeichnende Natur eins mit der Natur werden kann, geht aus von dem schon in der Einleitung paraphrasierten Befund: „[D]ie Vernunft ist dasselbe auf geistige Weise, was die Natur ist auf dingliche“ (ebd.).20 Die geistige Interdependenz von Vernunft und Natur bezeichnet Schleiermacher als das „ursprüngliche Geistiggeseztsein der Natur in der Vernunft“ (ebd.). Die Frage, wie die bezeichnende Natur und die bezeichnete Natur in der identischen bezeichnenden Tätigkeit der Vernunft dieselbe sein kann, ist für die identische bezeichnende Tätigkeit von entscheidender Bedeutung. Dafür benennt Schleiermacher zwei Voraussetzungen: Die erste ist, dass die angeborenen Begriffe in allen dieselben sind; die zweite ist, dass die Gesetze des Bewusstseins in allen eben-

19 Vgl. dazu oben: 266, Fußnote 7. 20 Vgl. ferner PhE 1816/17, 532.

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falls dieselben sind. Denn die Identität der Vernunft bestimmt sich anhand von zwei Elementen: durch die angeborenen Begriffe und durch dieselben Gesetze des Bewusstseins. Im Folgenden sollen die beiden Voraussetzungen aufgeklärt werden. Als erste Voraussetzung kommt das Konzept der „angeborenen Begriffe“ zunächst zum Ausdruck: „Dieses ursprüngliche Geistiggeseztsein der Natur in der Vernunft ist das, was man mit einem mißverständlichen, freilich aber auch richtig zu deutenden Ausdruck die angeborenen Begriffe zu nennen pflegt.“ (ebd.) In dieser Aussage setzt Schleiermacher das durch die Interdependenz von Vernunft und Natur bestimmte ursprüngliche Geistiggesetztsein der Natur in der Vernunft mit den angeborenen Begriffen gleich, die schon bei seinen Zeitgenossen, vor allem bei Kant, herausgestellt werden, obwohl seiner Beobachtung nach der Ausdruck „die angeborenen Begriffe“ einen Widerspruch enthält. Die Widersprüchlichkeit dieses Ausdrucks lässt sich wie folgt erklären: „angeboren“ ist in diesem Sinn gemeint – „vor aller sittlichen Thätigkeit der Vernunft in ihr vorhergebildet und bestimmt“ (PhE 1816/17, 585), das heiß a priori; „Begriffe“ können aber nicht angeboren sein, „weil sie dieses erst werden in der sittlichen Thätigkeit der Vernunft“ (ebd.). An dieser Stelle ist die Prägung der kantischen Erkenntnistheorie bei Schleiermacher zwar spürbar, aber seine kritische Distanz zu ihr ist ebenfalls nicht zu übersehen. Die zweite Voraussetzung stellt Schleiermacher sodann vor, indem er die bezeichnende Tätigkeit der Natur wie folgt beschreibt: „Die bezeichnende Natur aber ist die der Vernunft schon geeinigte [sc. Natur] als die Functionen des Bewußtseins in sich enthaltend.“ (ebd.) In dieser Beschreibung zeigt sich, dass die bezeichnende Natur als menschliche Natur durch zwei Merkmale grundlegend charakterisiert ist: Sie ist schon mit der Vernunft geeinigt, zugleich muss sie die Funktionen des Bewusstseins in sich enthalten. Dazu kommt noch: „Wenn diese [sc. die Functionen des Bewußtseins] verschieden sind, muß offenbar auch die Bezeichnung verschieden sein.“ (ebd.) Das heißt, die Funktionen des Bewusstseins in der bezeichnenden Natur sind dafür entscheidend, ob die bezeichnende Tätigkeit der Natur eine identische oder eine individuelle ist. Beruhend auf seiner Erklärung der beiden Elemente ist Schleiermacher nun davon überzeugt: „Also die Zerspaltung der menschlichen Natur in die Mehrheit der Einzelwesen besteht nur mit dem Handeln der Vernunft in ihr [sc. der menschlichen Natur], sofern die angeborenen Begriffe und die Geseze und Verfahrungsarten des Bewußtseins in allen dieselben sind.“ (ebd.) Daraus erhellt, dass die Individualisierung der menschlichen Natur in die Mehrheit der Einzelwesen ursprünglich mit dem Handeln der Vernunft in der bezeichnenden Natur verbunden ist und dass dabei eine ursprüngliche Verbundenheit mit dem allgemeinen Sachverhalt in der bezeichnenden Natur vorausgesetzt ist: Die angeborenen Begriffe und die Gesetze und Verfahrungsarten des Bewusstseins sind in jedem Einzelnen dieselben. Anschließend daran wird der innere Zusammenhang zwischen den eben diskutierten beiden Elementen und der bezeichnenden Tätigkeit in der folgenden Aussage aufgezeigt: „Daher auch aller bezeichnenden Thätigkeit diese Voraussezung lebendig einwohnt

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und sie nur vermittelst dieser eine Vernunftthätigkeit sein kann.“ (ebd.) Nach diesem Zitat kann Schleiermachers These zusammengefasst werden: Die Grundlage für die Individualisierung der menschlichen Natur, dass die angeborenen Begriffe und die Gesetze und Verfahrungsarten des Bewusstseins in jedem Einzelnen dieselben sind, ist zugleich die Bedingung für die bezeichnende Tätigkeit. Hier stellt sich die weiterführende Frage, in welchem Zusammenhang die beiden Voraussetzungen – die angeborenen Begriffe und die Gesetze des Bewusstseins – miteinander stehen. Schleiermacher hält die beiden Voraussetzungen für eine. Diese Überzeugung begründet er wie folgt: „Denn die menschliche Natur vor aller bezeichnenden Thätigkeit, also ursprünglich gesezt, ist nur ein integrirender Theil der Natur überhaupt, und also auch die Geseze des Bewußtseins, sofern sie in ihr [sc. der menschlichen Natur] liegen gleichsam auf dingliche Art, sind selbst in dem begriffen, was in der Vernunft als angeborene Begriffe auf geistige Art gesezt ist.“ (ebd.) Der Ausgangspunkt dafür besteht in der im Vorangehenden schon aufgezeigten Tatsache: Die menschliche Natur ist ursprünglich gesetzt als ein integrierender Teil der Natur, somit ist sie nicht nur auf geistige Weise, sondern zugleich auf dingliche Weise zu verstehen. Diesem Umstand folgend können die Gesetze des Bewusstseins, die sich in der menschlichen Natur befinden, ebenfalls auf dingliche Weise beobachtet werden. Diese Behauptung bringt mit sich, dass die Gesetze des Bewusstseins selbst als ursprüngliches Geistiggesetztsein der Natur in der Vernunft zu verstehen ist. In Hinblick darauf, dass das ursprüngliche Geistiggesetztsein der Natur in der Vernunft wie üblich mit dem Terminus der „angeborenen Begriffe“ benannt wird, sind die Gesetze des Bewusstseins Schleiermacher zufolge ebenfalls durch die angeborenen Begriffe zu verstehen. Daraus erklärt sich, dass die beiden Voraussetzungen für die bezeichnende Tätigkeit wesentlich nur Eine sind. Vor dem Hintergrund der Erklärung der beiden ursprünglichen Voraussetzungen gehen wir zur genaueren Beschreibung des der identischen Bezeichnungstätigkeit entsprechenden Handlungsgebiets über. Dieses Handlungsgebiet wird mit der folgenden Behauptung eingeleitet: „Soweit daher in mehreren dieselben angeborenen Begriffe sind und dieselben Geseze des Bewußtseins, giebt es ein gemeinsames und in sich abgeschlossenes Bezeichnungsgebiet im Zusammensein des Denkens und Sprechens.“ (PhE 1816/17, 586, §48) Mit diesem Leitsatz verdeutlicht Schleiermacher, dass dieselben angeborenen Begriffe und dieselben Gesetze des Bewusstseins ein gemeinsames und in sich abgeschlossenes Bezeichnungsgebiet mit sich bringen und dass dieses Bezeichnungsgebiet durch Denken und Sprechen strukturiert ist. Die Notwendigkeit, dass das gemeinsame Bezeichnungsgebiet mit Denken und Sprechen eng verbunden ist, geht erkenntnistheoretisch von der menschlichen Geistesstruktur selbst und handlungstheoretisch von der Sittlichkeit der bezeichnenden Tätigkeit der Vernunft aus. Der erkenntnistheoretische Hintergrund liegt darin, dass die Grundstruktur des Geistes durch die Gegenüberstellung von Erkennen und Darstellen zu bestimmen ist. Dies wurde bereits in unserer Rekonstruktion der Grundelemente seiner Handlungstheorie im Brouillon zur Ethik (1805/06) aufge-

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zeigt. Der ethische Aspekt wiederum kommt in folgender Passage zum Ausdruck: „Die bezeichnende Thätigkeit, inwiefern sie auf die in allen gleiche und selbige Natur zurückgeht, ist also in den Einzelnen nur als eine sittliche wirklich, inwiefern sie zugleich eine mittheilbare ist.“ (PhE 1816/17, 585–586) Dementsprechend muss Denken durch Sprechen äußerlich und mitteilbar werden. Die beiden Dimensionen sind eigentlich eine, aber in zwei verschiedenen Perspektiven. Der obigen Darstellung folgend bestimmt Schleiermacher schließlich das identische Bezeichnungsgebiet durch das menschliche Gattungsbewusstsein: „Im weitesten Sinn ist alles verständige Bewußtsein des menschlichen Geschlechts Ein gemeinsames Bezeichnungsgebiet.“ (PhE 1816/17, 587, §49) Mit dem Gattungsbewusstsein zusammen ermöglichen die beiden Voraussetzungen für die identische Bezeichnungstätigkeit die Verständlichkeit in diesem Handlungsgebiet. „Denn die ganze Erde ist Eine Natur, deren Leben in dem System der angeborenen Begriffe in jeder menschlichen Vernunft vorgebildet ist; und welches Bewußtsein wir als ein menschliches sezen, dem schreiben wir auch die gleichen Geseze zu.“ (PhE 1816/17, 587) Daraus folgt: „Also sind alle Bedingungen überall vorhanden, und die sittliche Vernunftthätigkeit muß daher auch überall Mittheilung und Verständlichkeit hervorbringen.“ (ebd.) Nehmen wir die beiden Stellen zusammen, so kann man nun vor dem Hintergrund des gerade Herausgearbeiteten feststellen, dass dank der angeborenen Begriffe und dank der Gesetze und Verfahrungsarten des Bewusstseins die Kommunikation im identischen Bezeichnungsgebiet durch Mitteilung und Verständlichkeit gestaltet werden kann. Dies schlägt sich auch im Gattungsbewusstsein nieder. Zum Begriff des Gattungsbewusstseins kommen wir später noch einmal zurück und thematisieren es dann im Zusammenhang mit dem Begriff des unmittelbaren Selbstbewusstseins.21 Während Schleiermacher im Brouillon zur Ethik hauptsächlich die Gestaltung der identischen Bezeichnungstätigkeit im Rahmen des Quadruplizitätsschemas menschlicher Handlung skizzienhaft darstellt, wo diese Tätigkeit durch das Zusammensein von Denken und Sprechen strukturiert wird und mithin durch Wissen und Sprache zu beschreiben ist, sucht er hier in seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre nach den konkreten philosophischen Voraussetzungen für die identische Bezeichnungstätigkeit. Zusammenfassend lässt sich noch einmal bündeln: Im Kontext einer Explikation des Verhältnisses von Vernunft und Natur findet Schleiermacher diese Voraussetzungen in der Identität der angeborenen Begriffe und der Gesetze des Bewusstseins. Auf diese beiden Voraussetzungen begründet Schleiermacher die Gemeinschaftlichkeit der identischen Bezeichnungstätigkeit. Weiterhin verdeutlicht er wie im Brouillon zur Ethik das durch das Zusammensein von Denken und Spre-

21 Vgl. unten: Kapitel 4. 1.3.2.2 Das Selbstbewusstsein als individuellstes Bezeichnungsgebiet, 303– 307.

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chen strukturierte Bezeichnungsgebiet. Zuletzt bestimmt er das Gattungsbewusstsein schließlich als ein gemeinsames Bezeichnungsgebiet. 1.2.2 Die individuelle Bezeichnungstätigkeit Der religionsphilosophischen Problematik entsprechend ist der Begriff „Gefühl“ bei Schleiermacher fast in seinem ganzen Leben im Spiel und hat eine entscheidende Bedeutung für sein Religionsverständnis. Im Brouillon zur Ethik hat Schleiermacher das Gefühl im Rahmen seiner Handlungstheorie als eine menschliche Tätigkeit, genau genommen als Grundlage individuellen Erkennens, interpretiert. Dieses Verständnis des Gefühls bleibt grundlegend. In der Vertiefung und Ausführung seiner Philosophischen Ethik führt Schleiermacher diese frühe Interpretation fort und gelangt im Jahr 1817 zu einem klareren Begriff des Gefühls, der sich bis zu seinem Tod nur geringfügig verändert und der für seine Religionsphilosophie und Theologie, vor allem in der Glaubenslehre, entscheidend wird. In den vorangehenden Abschnitten haben wir aufgezeigt, wie Schleiermacher ausgehend von seiner ausführlichen Darstellung der Interdependenz zwischen Vernunft und Natur die identische Bezeichnungstätigkeit in der Philosophischen Ethik seiner Reifezeit näher bestimmt. Vor diesem Hintergrund wollen wir uns im Folgenden auf seine ebenfalls vertieften und erweiterten Gedanken der individuellen Bezeichnungstätigkeit fokussieren, um sodann sein präzisiertes Verständnis des Gefühls zu untersuchen und uns dadurch eine theoretische Grundlage für die weitere Diskussion über das Verhältnis zwischen Gefühl, Religion und Kunst zu verschaffen. In einer zu der Aussage über die identische Bezeichnungstätigkeit parallel stehenden Formulierung fasst Schleiermacher die individuelle Bezeichnungstätigkeit folgendermaßen: „Das Bezeichnen der Natur ist ohnerachtet der Einerleiheit der Vernunft in allen doch in jedem ein anderes, sofern in jedem die bezeichnende Natur eine andere ist, und jeder eine andere Thätigkeit auf die zu bezeichnende ‚Natur‘ richtet.“ (PhE 1816/17, 587, §50) Mit diesem Leitsatz stellt sich die entscheidende Frage, wie eine Bezeichnungstätigkeit individuell („in jedem ein anderes“) sein kann oder woraus die Verschiedenheit der Bezeichnungstätigkeit in jedem Individuum entsteht, wenn die Identität der Vernunft – „Einerleiheit der Vernunft in allen“ – als Bedingung des Menschseins schon vorausgesetzt wurde. Insofern der Begriff der Natur im Ausdruck „das Bezeichnen der Natur“, wie schon in der Bestimmung der identischen Bezeichnungstätigkeit, wieder zwei grammatikalische Funktionen hat – als genitivus subjektivus wie als genitivus objektivus, weist bereits der Leitsatz darauf hin, dass es zwei Bedingungen dafür geben muss, dass das Bezeichnen der Natur individuell ist: Zum einen muss die bezeichnende Natur als Subjekt der Bezeichnungstätigkeit in jedem eine andere sein; zum anderen muss auch die auf die zu bezeichnende Natur bezogene Tätigkeit in allen unterschiedlich sein, hierbei ist die Natur der Gegenstand der Bezeichnungstätigkeit. Dem entsprechend enthält die Pa-

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raphrasierung dieses Leitsatzes zwei Teile, die wir in den nächsten Abschnitten jeweils untersuchen werden. Wir kommen zunächst zur ersten Bedingung, dass „in jedem die bezeichnende Natur eine andere ist“ (PhE 1816/17, 587). Zur Erläuterung dieser Bedingung ist Schleiermachers Bestimmung der bezeichnenden Natur selbst, die sich in der Erörterung über die identische Bezeichnungstätigkeit befindet, hilfreich: „Die bezeichnende Natur aber ist die der Vernunft schon geeinigte [sc. Natur] als die Functionen des Bewußtseins in sich enthaltend. Wenn diese [sc. Funktionen] verschieden sind, muß offenbar auch die Bezeichnung verschieden sein.“ (PhE 1816/17, 585) Gerade von dieser Behauptung ausgehend erläutert Schleiermacher in drei Schritten, inwiefern die bezeichnende Natur individuell sein kann. In einem ersten Schritt ist zu fragen, inwiefern die Individualität für die Einzelnen überhaupt möglich ist. Dabei führt Schleiermacher hier im Kontext seiner Darstellung der Bezeichnungstätigkeit seine Diskussion über die Individualität, welche er schon in seinen frühen Ethikvorlesungen zum Thema gemacht hatte, in einer neuen Perspektive ein. „Da die Gesamtheit der Einzelwesen nicht Eine Gattung bildete, wenn nicht die Formen und Geseze des Bewusstseins dieselben wären, so kann die Verschiedenheit nur in der Art liegen, wie die mannigfaltigen Functionen desselben zu einem Ganzen verbunden sind, d. h. in der Verschiedenheit ihres Verhältnisses unter sich in der Einheit des Lebens.“ (PhE 1816/17, 587) Mit diesem Argument behauptet Schleiermacher, dass die Individualität des Einzelwesens nur in der unterschiedlichen Verbindungsweise des Bewusstseins des Einzelnen mit einem Ganzen besteht. Diese Behauptung hängt eng mit dem bereits aufgezeigten Sachverhalt zusammen, dass alle Menschen als Gattung dieselben Formen und Gesetze des Bewusstseins besitzen, oder dass das menschliche Gattungsbewusstsein nur durch dieselben Formen und Gesetze des Bewusstseins zu bestimmen ist. Schleiermacher schließt aus, dass die Verschiedenheit der Einzelnen in den Formen und Gesetzen des menschlichen Bewusstseins an sich zu finden ist. Wenn die Verschiedenheit der Einzelnen nur auf der Ebene des Bewusstseins liegt, dann kann sie nur „in der Art liegen, wie die mannigfaltigen Functionen desselben [sc. des Bewusstseins] zu einem Ganzen verbunden sind“ (ebd.). Die Individualität jedes Individuums ist folglich nur durch sein einzigartiges Verhältnis zum Ganzen zu bestimmen. An dieser Stelle sind zwei Beobachtung zu machen, um die Individualität als verschiedenes Verhältnis des Einzelnen zu dem Ganzen zu begreifen. 1) „Das Ganze“ bezieht sich hier auf die gesamte Natur, in der jedes Einzelwesen lebt und deren Beziehung zu jedem sich in dieser Äußerung spiegelt: „Dies [sc. Jedes Einzelne] ist aber nothwendig im Zusammenhang der gesamten Natur, von der auch die [sc. Natur] jedes menschlichen Einzelwesens ursprünglich gesezt ein Theil ist.“ (PhE 1816/ 17, 588) Das heißt, jedes Einzelwesen muss in seinem Verhältnis zu der gesamten Natur bestimmt werden. Die Notwendigkeit besteht in dem Einzelwesen selbst, denn es ist ursprünglich ein Teil der Natur. Darin verbirgt sich der Gesichtspunkt, dass die ganze Natur nicht nur die unendliche Natur, sondern auch die Existenz al-

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ler menschlichen Naturen einschließt. Somit enthält das Verhältnis des Einzelnen zu dem Ganzen nicht nur seine Beziehung zu der organischen und anorganischen Natur, sondern zugleich seine Relation zu seinen Mitmenschen. 2) Herauszustellen ist auch, dass die unterschiedliche Verbindung des Einzelwesens mit dem Ganzen nur „unter sich in der Einheit des Lebens“ stattfinden kann. Daraus folgt, dass die Idee der Einheit des Lebens die Individualität voraussetzt. Da der Begriff „die Einheit des Lebens“ insgesamt eine wichtige Rolle für Schleiermachers religionsphilosophischen Gedanken vor allem in seiner Darstellung der individuellen Bezeichnungstätigkeit spielt, soll hier vorerst ein Blick auf diesen Begriff geworfen werden. Auf die Einheit des Lebens weist Schleiermacher direkt oder indirekt an verschiedenen Stellen seiner unterschiedlichen Schriften hin. Wir nehmen im Folgenden einige Beispiele auf, um die Bedeutung seiner Wendung zu beleuchten. Bereits in den Reden (1799) weist Schleiermacher darauf hin, dass „die Wirkung [sc. von außen] auf den ganzen Menschen in ihrer großen Einheit“22 stattfindet. Damit ist seine These verbunden, dass Religion in der mentalen Ganzheitlichkeit des Menschen und insofern nicht allein durch die schriftliche Sprache mitgeteilt werden kann. In der Philosophischen Ethik stellt Schleiermacher zunächst in der Vorlesung von 1812/13 fest: „Jede Person ist eine abgeschlossene Einheit des Bewusstseins.“ (PhE 1812/13, 303) Dann, in der Vorlesung von 1816/17, hält er den menschlichen Leib für die uns gegebene kleinste Einheit, und das Leben ist „das völligst abgeschlossene und unübertragbarste Eigenthum“ (PhE 1816/17, 583). Schließlich, in der Glaubenslehre (1830/31), weist er auf Henrich Steffens Beschreibung des Gefühls als „unmittellbare Gegenwart des ganzen ungetheilten Daseins“ hin, die „sehr verwandt“ mit seiner eigenen Interpretation sei.23 Nehmen wir diese Stellen zusammen, so kann zum Begriff der „Einheit des Lebens“ bei Schleiermacher folgendes zusammengefasst werden: Jedes Einzelwesen ist ein ungeteiltes, anderen gegenüber abgeschlossenes und kontinuierliches Dasein, das durch den Leib begrenzt ist.24 In einem zweiten Schritt ist interessant, wie die Individualität des Einzelnen sich mit der bezeichnenden Tätigkeit vereinbaren lässt, damit die bezeichnende Tätigkeit als individuell vorgestellt werden kann. Interessant ist die folgende Passage: „Insofern also die ganze der Vernunft im Einzelwesen geeinigte Natur wirksam und die Einheit des Lebens erregt ist in der bezeichnenden Thätigkeit, wird eine Verschiedenheit derselben gesezt sein, nicht etwa nur in dem Mehr und Weniger des schon Bezeichneten, wovon die bezeichnende Thätigkeit in dem Einen ausgeht und

22 Reden, 179. 23 Hier zitiert Schleiermacher nach Henrich Steffens Von der falschen Theologie und dem wahren Glauben (Breslau 1823, 99). Vgl. CG², §3.2, Anm., 23. 24 Zur „Einheit des Lebens“ in der Philosophischen Ethik der Reifezeit Schleiermachers, vgl. auch Peter Grove: „Deutungen des Subjekts“ (2004), 422–426.

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in dem Anderen.“ (PhE 1816/17, 587–588) Wir haben weiterhin gesehen, dass Schleiermacher durch seine Erläuterung der Interdependenz von Vernunft und Natur den Befund erhoben hat: „Die bezeichnende Natur aber ist die der Vernunft schon geeinigte [sc. Natur] als die Functionen des Bewußtseins in sich enthaltend.“ (PhE 1816/ 17, 585) So ist auch klargeworden, dass die Individualität des Einzelnen bzw. die verschiedene Verbindungsweise jedes Einzelnen mit der gesamten Natur sich in der Einheit des Lebens befindet. Damit können die Zitate so verstanden werden, dass die Voraussetzung für die Individualität der bezeichnenden Tätigkeit darin liegt, dass die bezeichnende Natur des Menschen aktiv und die die Individualität enthaltende Einheit des Lebens jedes Einzelnen erregt ist. Aber wie die Einheit des Lebens erregt werden kann, bleibt an dieser Stelle noch offen. In dem ersten angeführten Zitat (PhE 1816/17, 587–588) wird darauf hingewiesen, dass die Verschiedenheit der bezeichnenden Tätigkeit nicht in der Menge des schon Bezeichneten besteht. Anschließend daran erklärt der Autor in einem dritten Schritt, inwiefern die in der bezeichnenden Tätigkeit gesetzte Verschiedenheit eine wesentliche und begriffsmäßige sein muss. Wieso kann die Individualität der bezeichnenden Tätigkeit nicht in der Menge des schon Bezeichneten liegen? Schleiermacher begründet das im weiteren Gedankenverlauf wie folgt: „Denn es ist nur sittlich zufällig in Zeit- und Raumverhältnissen gegründet, wenn bei der Gleichheit der Functionen und der Gleichheit der gegebenen Natur nicht dieses Mehr und Weniger sich in allen jeden Augenblick ausgleicht, und also eine völlige Gleichheit aller entsteht.“ (PhE 1816/ 17, 588) Wie in den Monologen richtet sich Schleiermacher an dieser Stelle deutlich gegen das durch das äußerliche Zeit-Raum-Koordinatensystem bestimmte kantische Individualitätskonzept. Denn diese „Individualität“ als Verschiedenheit hält er nur für ethisch zufällig, weil unter den Bedingungen identischer Funktionen des Bewusstseins und der allen gegebenen Natur „dieses Mehr und Weniger“ in Zeit- und Raumverhältnissen keine innerliche und wesentliche Verschiedenheit zur Folge haben kann. Wir haben bereits aufgezeigt, dass Schleiermacher zufolge die Individualität der Einzelnen auf den unterschiedlichen Verhältnissen der mannigfaltigen Funktionen des Bewusstseins des Einzelwesens zur gesamten Natur beruht. Anders als die durch das Ausgleichen von dem „Mehr und Weniger“ der schon bezeichneten in Zeit- und Raumverhältnissen bestimmten äußerlichen und zufälligen Verschiedenheit, ist Individualität hiermit – so kann man sagen – durch einen Vergleich des Einzelnen mit der gesamten Natur zu bestimmen. Darin liegt Schleiermachers Pointe. Daraus folgernd fasst Schleiermacher selbst zusammen: „Unter der hier aufgestellten Voraussezung ist die Gleichheit wesentlich und begriffsmäßig aufgehoben und die Verschiedenheit gesezt; und nur wiefern diese Verschiedenheit gesezt ist, haben die Einzelwesen ein Recht sich auf dem sittlichen Gebiet als ein für sich Bestehendes zu sezen.“ (ebd.) Aus all dem Gesagten ist festzustellen, dass Schleiermacher von der wesentlichen und begriffsmäßigen Identität und Individualität spricht. Damit verbunden ist, dass sowohl die Identität der Menschen als auch ihre Individualität auf der Ebene

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des Bewusstseins bestehen: Alle Menschen sind einer Gattung zugehörig, weil sie alle dieselben Formen und Gesetze des Bewusstseins besitzen, und jedes Einzelwesen ist verschieden, nur weil in ihm die Funktionen des Bewusstseins eine unterschiedliche Verbindungsweise mit der gesamten Natur haben. Insofern das Bewusstsein das ist, wodurch Menschen sich von anderen Lebensformen unterscheiden, so sind Identität und Individualität gattungsmäßig wesentlich. Insofern Bewusstsein in der Vernunft begreifbar ist, sind Identität und Individualität begriffsmäßig zu bestimmen. In dem letztgenannten zusammenfassenden Zitat ist auch von der Legitimierung des Menschen als individuelles „Einzelwesen“ die Rede. Da ein sittliches Gebiet für Schleiermacher das gesellige Zusammenleben aller Menschen ist, kann dieser Legitimierungsvorgang folgendermaßen interpretiert werden: Jeder Mensch, der durch die wesentliche und begriffsmäßige Individualität in der Einheit des Lebens bestimmt wird, hat das Recht, trotz seines gemeinsamen Lebens mit den Anderen, nämlich trotz seines Zusammenseins mit anderen menschlichen Naturen, sich als ein eigenständiges und eigentümliches Einzelwesen – „ein für sich Bestehendes“ – zu setzen, oder anders gesagt, seine einzigartige individuelle Existenz zu bewahren. Weil die Legitimierung des Menschen als individuelles Einzelwesen von hoher Bedeutung für die individuelle Bezeichnungstätigkeit ist und damit in einem engen Zusammenhang mit dem Gefühl steht, werden wir später darauf zurückkommen. Bisher haben wir untersucht, inwiefern in der individuellen Bezeichnungstätigkeit die bezeichnende Natur in jedem Einzelnen eine andere ist. Das ist die erste Bedingung dafür, dass das Bezeichnen der Natur individuell ist. Wie der im Text ausschlagende Leitsatz zeigt, heißt die zweite Bedingung, dass „jeder eine andere Thätigkeit auf die zu bezeichnende [sc. Natur] richtet“ (PhE 1816/17, 587, §50). Nun wollen wir herausfinden, inwiefern diese zweite Bedingung nach Schleiermacher überhaupt erfüllbar ist. Wenn die Natur als Gegenstand der Bezeichnungstätigkeit fungiert, nennt Schleiermacher diese Tätigkeit „die der äußern Natur, wenn auch diese für alle ganz dieselbe wäre, zugewendete Thätigkeit der Vernunft“ (PhE 1816/ 17, 588). Unsere obige Diskussion hat gezeigt, dass eine Voraussetzung für die Individualität der bezeichnenden Tätigkeit der Natur darin besteht, dass die bezeichnende Natur des Menschen aktiv und die die Individualität enthaltende Einheit des Lebens jedes Einzelnen erregt ist. Aus dieser doppelten Voraussetzung ergibt sich die Verschiedenheit der Bezeichnungstätigkeit, in der die Natur als Gegenstand fungiert. „Daß aber unter dieser Voraussezung auch die der äußern Natur, […] zugewendete Thätigkeit der Vernunft im Durchgang durch diese begriffsmäßig verschiedene Einheit des Lebens eine andere werden muß, leuchtet ein.“ (ebd.) Schleiermacher begründet seine Behauptung mit folgendem Argument: „Denn die Natur verhält sich anders zu einer andern Complexion von Functionen, und muß also auch anders aufgefaßt werden, nicht nur inwiefern die Thätigkeit streng genommen jedesmal auf die ganze Natur gerichtet wird, sondern schon wiefern jedes Einzelne, worauf sie gerichtet werden kann, ein Mannigfaltiges ist und mit allen Functionen

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des Bewußtseins verwandt.“ (ebd.) Das setzt die im Vorangehenden bereits erwähnte Ansicht Schleiermachers voraus, dass die äußere Natur nicht nur die nichtmenschliche Natur enthält, sondern auch die menschliche Natur. Denn jedes Einzelwesen ist „aber nothwendig im Zusammenhang der gesamten Natur, von der auch die jedes menschlichen Einzelwesens ursprünglich gesezt ein Theil ist“ (ebd.). Daraus folgernd ergibt sich: Die gesamte Natur ist jedesmal („streng genommen“) der Gegenstand der Bezeichnungstätigkeit und durch seine verschiedene Kombination von Funktionen des Bewusstseins mit dem Ganzen ist jedes Einzelwesen eine individuelle und mannigfaltige Natur und damit ein Teil der ganzen Natur als Gegenstand der Bezeichnungstätigkeit. Aus diesem Grund muss das Verhältnis der zu bezeichnenden Natur zu ihrem Bezeichnenden (nämlich zu dem individuellen Einzelwesen – zu „einer andern Complexion von Functionen“ des Bewusstseins) verschieden sein und damit unterschiedlich bezeichnet – „aufgefaßt“ – werden. Folglich ist die Bezeichnungstätigkeit bei jedem anders trotz des Bezugs auf die Ganzheit. So kann man zusammenfassend sagen: Die zu bezeichnende Natur selbst bzw. die gesamte Natur und ihr Verhältnis zu der individuellen menschlichen Natur haben die Verschiedenheit der sich auf die zu bezeichnende Natur richtenden Bezeichnungstätigkeit zur Folge. Im Brouillon zur Ethik hat Schleiermacher den Begriff der Unübertragbarkeit in die Diskussion eingeführt. Als Grundprinzip der Individualität bedeutet Unübertragbarkeit in der Hallenser Ethikvorlesung, dass das Individuelle jedes Einzelnen etwas „rein in sich abgeschlossenes“ (Brouillon 95) ist. Das bedeutet: Im Gegensatz zur Identität ist das Individuelle allen Anderen durch Nachbildung unzugänglich. Der Begriff bleibt dann auch in seinen späteren Ethikvorlesungen ein Schlüsselbegriff in der Diskussion über die individuellen Handlungsweisen, vor allem für seine nähere Bestimmung des Gefühls. Im Kontext der erweiterten und vertieften Darstellung der individuellen Bezeichnungstätigkeit erläutert Schleiermacher, inwiefern die individuelle Bezeichnungstätigkeit unübertragbar ist. Hier soll ein Seitenblick darauf geworfen werden. Zentral ist die Aussage: „Aber nur sofern die in jedem verschiedene bezeichnende Thätigkeit nicht kann im Bewußtsein der Anderen nachgebildet werden, ist sie auch eine unübertragbare.“ (PhE 1816/17, 588, §51) Diese Bestimmung der Unübertragbarkeit folgt seiner Grundidee im Brouillon zur Ethik, aber der Akzent liegt hier auf der Formulierung „im Bewußtsein der Andern“. Weil die individuelle Bezeichnungstätigkeit nur auf der Ebene des Bewusstseins zu bestimmen ist, ist die Nachbildung oder Übertragung in diesem Handlungsgebiet unmöglich. Der Grund dafür lautet: „Denn wäre sie [sc. die individuelle Bezeichnungstätigkeit] mittheilbar auf dieselbe Weise wie der Gedanke, so wäre alle Differenz der Einzelwesen im Bewußtsein nur noch eine räumliche und zeitliche.“ (PhE 1816/17, 588) Dass dieselben angeborenen Begriffe und dieselben Gesetze des Bewusstseins von der identischen Bezeichnungstätigkeit der Menschen vorausgesetzt werden, haben wir in der obigen Untersuchung zur identischen Bezeichnungstätigkeit gesehen. Der Gedanke enthält

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keine Differenz in sich auf der Ebene des Bewusstseins und kann durch Sprache nachgebildet und dadurch mitgeteilt werden. Wenn die individuelle Bezeichnungstätigkeit wie der Gedanke mitgeteilt werden könnte, müsste die Differenz in ihr nicht im Bewusstsein liegen, sondern äußerlich bzw. räumlich und zeitlich bestimmt werden. Aber eine Charakterisierung der Individualität als räumliche und zeitliche Differenz widerspricht der wesentlichen Bestimmung dieser Tätigkeit selbst. Im Anschluss daran wird folglich das Gegenteil dieser Voraussetzung, nämlich dass die individuelle Bezeichnungstätigkeit in einem Anderen nicht auf gleiche Weise gesetzt werden kann, gerechtfertigt: „Denn was Ausdruck ist von dem Verhältniß der gesamten Natur zu einer begriffsmäßig bestimmten Einheit des Lebens, das kann nicht in einer andern [sc. Einheit des Lebens] auf gleiche Weise gesezt sein.“ (ebd.) Dieser Rechtfertigung liegt die bereits diskutierte Voraussetzung für die individuelle bezeichnende Tätigkeit zugrunde, dass die Individualität jedes Einzelwesens in der unterschiedlichen Verbindung oder Mischung von Funktionen des Bewusstseins jedes Einzelnen mit der gesamten Natur besteht und nur in der Einheit des Lebens liegt. Beachtet man, dass Schleiermachers Verwendung des Terminus „Bezeichnung“ der Tradition der Halleschen Schulphilosophie folgt und damit die Bezeichnungstätigkeit hier von der Korrelation von Ausdruck und Inhalt oder dem Zusammenhang von dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten handelt, so kann diese Tätigkeit auf gleiche Weise in einer anderen Einheit des Lebens nur dann gesetzt sein, wenn die beiden Seiten der Bezeichnungstätigkeit, nämlich sowohl Ausdruck als auch Inhalt, gleich sind. Aber dass beide gleich sind, ist in einer individuellen bezeichnenden Tätigkeit ausgeschlossen: „Denn was in diesem Ausdruck dasselbe ist, das muß dem Inhalt nach verschieden sein, und was dem Inhalt nach dasselbe, kann in ihm nicht auf gleiche Weise die Einheit des Lebens ausdrücken.“ (ebd.) Dafür spricht der Inhalt der individuellen bezeichnenden Tätigkeit selbst, nämlich das Verhältnis der gesamten Natur zu einer begriffsmäßig bestimmten Einheit des Lebens, weil dieses Verhältnis in der Einheit jedes Lebens wesentlich und begriffsmäßig unterschiedlich ist. Blickt man von hier aus insgesamt zurück, wie Schleiermacher die Unübertragbarkeit der individuellen bezeichnenden Tätigkeit begründet, so lässt sich feststellen, dass in Bezug auf die individuelle Bezeichnungstätigkeit nicht nur die Handlung selbst unübertragbar ist, sondern auch die Produkte dieser Art der Bezeichnungstätigkeit. Dies hat unser Autor bereits in der Vorlesungsvorlage zur Ethik von 1814/1625 unterstrichen: „Die Producte des Symbolisirungsprozesses sind daher unübertragbar, weil jeder die Thätigkeit selbst auf das Besondere seines Daseins bezieht und also die Andern von derselben ausschließt, so wie auch die An-

25 Friedrich Schleiermacher: Ethik 1814/16 (Einleitung und Güterlehre I), in: WA II, 421–455; Ethik 1814/16 (Pflichtenlehre), in: WA II, 457–484.

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dern darin das Besondere anerkennen und ihr eigenes Dasein davon unterscheiden. Daher kann keiner den Ausdrukk des andern als seinen eigenen adoptiren oder in die Darstellung des Andern eingreifen.“ (PhE 1814/16, 440, §31) Gerade an dieser Textstelle wird deutlich, dass der Ausdruck jedes Einzelwesens, der durch seine, für alle anderen verschiedene bezeichnende Tätigkeit produziert wird, ebenfalls nicht übertragbar ist. Aber insofern dieser Ausdruck nicht wie der Gedanke von anderen nachgebildet und somit „adoptiert“ werden kann, ergibt sich bereits hier in unserer Untersuchung der individuellen Bezeichnungstätigkeit neben der ersten Frage eine weitere entscheidende Frage,26 wie der unübertragbare Ausdruck mitteilbar werden kann. Über dieses Problem wird später diskutiert. Im folgenden Abschnitt wollen wir uns zunächst darauf konzentrieren, wie Schleiermacher vor dem Hintergrund seiner näheren Bestimmung der individuellen Bezeichnungstätigkeit den Begriff des Gefühls expliziert.

1.3 Das Gefühl Dass Gefühl der Grundbegriff im religionsphilosophischen und theologischen System Schleiermachers ist, ist allgemein anerkannt. Deshalb kann man seinen Religionsbegriff als „Religion des Gefühls“ bezeichnen. Denn ohne den Begriff des Gefühls könnte Schleiermacher sein Religionsverständnis überhaupt nicht entfalten. Das ist nicht nur in seiner frühromantischen Programmschrift Reden über die Religion (1799) und in seiner systematischen Darstellung der christlichen Theologie der Glaubenslehre (1821/22; 1830/31), sondern auch in seiner als Kulturtheorie entfalteten Philosophischen Ethik der Fall. Wir haben im dritten Kapitel bereits aufgezeigt, dass Schleiermacher im Brouillon zur Ethik das Gefühl im Rahmen seiner durch ein Quadruplizitätsschema strukturierten Handlungstheorie der individuellen Bezeichnungsstätigkeit zuordnet und es mit dem individuellen Erkennen identifiziert. Aber in seiner späteren Philosophischen Ethik zeigt sich das Gefühl als weitaus perspektivenreicherer Begriff. Während der Autor das Gefühl in dieser Hallenser Ethikvorlesung hauptsächlich erkenntnistheoretisch als individuelles Erkennen interpretiert, reichert er diesen Begriff in der Güterlehre seiner Berliner Reifezeit mit ausdruckstheoretischen, subjektivitätstheoretischen und kommunikationstheoretischen Perspektiven an. Erst auf der Basis dieser mehrschichtigen Präzisierung des Gefühlsbegriffs kann die im Brouillon zur Ethik verborgene schwierige Frage beantwortet werden, wie es überhaupt möglich ist, Religion als einen ethischen Prozess bzw. als Ethisierung des Gefühls zu verwirklichen. In der neusten Forschung hat Peter Grove eine eingehende und detaillierte Studie zum Begriff des Gefühls in Schleiermachers

26 Die erste Frage bezieht sich darauf, inwiefern ein Bezeichnen der Natur in jedem anders ist (vgl. oben: 282).

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Philosophischer Ethik gegeben. Aufgrund der Fragestellung seiner gesamten Abhandlung fokussiert sich seine Diskussion insbesondere auf die subjektivitätstheoretische Perspektive des Begriffs des Gefühls in der Ethik.27 Schleiermachers nähere Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Natur und die darauffolgende Ausführung der Bezeichnungstätigkeit vor allem im Modus ihres individuellen Vollzugs in der Philosophischen Ethik seiner Berliner Reifezeit haben wir im Vorangehenden herausgearbeitet. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden näher darauf eingegangen, wie er sein Verständnis des Gefühls entsprechend entfaltet. Unsere Rekonstruktion wird nach den eben genannten drei Perspektiven in drei Schritten durchgeführt werden: Zunächst geht es darum, Schleiermachers Begriff des Gefühls in einer ausdruckstheoretischen Dimension auszulegen (1.3.1); sodann wird rekonstruiert, wie er sein Verständnis des Gefühls in einer subjektivitätstheoretischen Dimension weiter ausbaut (1.3.2); schließlich ist zu fragen, wie der Begriff um eine kommunikationstheoretische Dimension bereichert wird (1.3.3). 1.3.1 Das Gefühl als Ausdruck der inneren Zustände In der strukturellen Erörterung der individuellen Bezeichnungstätigkeit verbirgt sich Schleiermachers Absicht, den Begriff des Gefühls zu präzisieren. Seine nähere Bestimmung dieses Begriffs in seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre von 1816/17 beginnt mit der folgenden These: „Sofern daher in jedem Einzelwesen eine ursprünglich verschiedene Einrichtung des Bewußtseins gesezt ist, welche die Einheit seines Lebens bildet, ist auch in jedem ein eignes und abgeschlossenes Bezeichnungsgebiet der Erregung und des Gefühls gesezt.“ (PhE 1816/17, 589, §52) Dass die Individualität des Einzelwesens in dem jeweiligen Verhältnis der Funktionen des Bewusstseins zur gesamten Natur in der Einheit seines Lebens besteht und sich mithin auf eine innerliche und begriffsmäßige Ebene des Bewusstseins bezieht, wurde bereits aufgezeigt. Direkt damit verbunden nennt Schleiermacher in dieser Aussage den Vorgang der zur Individualität führenden unterschiedlichen Mischung der Funktionen des Bewusstseins mit der gesamten Natur in jedem Individuum „eine ursprünglich verschiedene Einrichtung des Bewußtseins“. Er ist davon überzeugt, dass dieser Vorgang die Einheit des Lebens bzw. das ungeteilte, anderen gegenüber abgeschlossene und kontinuierliche Dasein jedes Einzelwesens mit sich bringt. Ebenso wie in der identischen Bezeichnungstätigkeit ein gemeinsames Bezeichnungsgebiet entsteht, geht hier im Rahmen der individuellen Bezeichnungstätigkeit aus einer individuellen Einrichtung des Bewusstseins quasi auch ein eigenes Bezeichnungsgebiet hervor. Aber im Gegensatz zum gemeinsamen Bezeichnungsgebiet, das durch Zusammensein von Denken und Sprechen strukturiert ist, wird hier

27 Vgl. Peter Grove: Deutungen des Subjekts (2004), 397–430.

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das der individuellen Bezeichnungstätigkeit entsprechende Bezeichnungsgebiet als „ein eignes und abgeschlossenes Bezeichnungsgebiet der Erregung und des Gefühls“ konstituiert. Dadurch steht der Schlüsselbegriff für die individuelle Bezeichnungstätigkeit, also das Gefühl, in einem engen Zusammenhang mit dem Begriff „Erregung“ in seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre zur Sprache. Wird die individuelle Bezeichnungstätigkeit in der Philosophischen Ethik seiner Reifezeit auf der Basis seiner Ausführung des Verhältnisses von Vernunft und Natur konkretisiert, wie oben gezeigt, dann muss die nähere Bestimmung des Gefühls Schleiermacher zufolge ebenfalls ausgehend von dieser Verhältnisbestimmung durchgeführt werden. Schleiermacher bestimmt das Gefühl zuerst folgendermaßen: „Was wir Gefühl nennen insgesammt, ist eben so wie der Gedanke Ausdruck der Vernunft in der Natur. Es ist eine in der Natur gewordene Lebensthätigkeit, aber nur durch die Vernunft geworden, und dies gilt nicht nur von dem sittlichen und religiösen Gefühl, sondern auch von dem leiblichen Gefühl, wenn es nur als ein menschliches und als ein ganzer Moment des Gefühls gesezt wird.“ (PhE 1816/17, 589) In dieser Aussage versteht der Autor das Gefühl als „Ausdruck“. Damit bereichert er sein Verständnis des Gefühls um eine ausdruckstheoretische Dimension. Um diese neue Theoriedimension des Gefühls zu veranschaulichen, wollen wir die Aussage anhand von drei Gesichtspunkten konkretisieren. Erstens ist das Gefühl wie der Gedanke ein Ausdruck des Zusammenseins von Vernunft und Natur in der Natur. Daher sind Gefühl und Gedanke beide nach Schleiermacher Ausdrucksphänomene, wobei der Begriff „Ausdruck“ hier nur in einem schwachen Sinne gemeint ist. Zweitens ist das Gefühl als Ausdruck eine Lebenstätigkeit. Aus den Erläuterungen „in der Natur gewordene“ und „nur durch die Vernunft geworden“ lässt sich ersehen, dass das Gefühl als eine Lebenstätigkeit in der Natur, genau genommen in der menschlichen Natur, geschieht und die Vernunft sozusagen die Rolle des Handelnden übernimmt. Das Gefühl als eine Tätigkeit wird in diesem Zusammenhang durch die Formulierung „jeden Act des Gefühls“ (ebd.) erneut herausgestellt. Das stimmt mit der Interpretation im Brouillon zur Ethik überein, wo das Gefühl als individuelles Erkennen der individuellen Bezeichnungstätigkeit zugeordnet wird. Drittens wird hier wieder hervorgehoben, dass Gefühl als ein Ausdruck und als eine Lebenstätigkeit nicht nur sittlich und religiös, sondern zugleich auch leiblich bzw. sinnlich ist. Denn „das Gefühl auch von der niedrigsten Art sagt immer aus, was die Vernunft wirkt oder nicht wirkt in der Natur“ (ebd.). Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass Schleiermachers Verwendung des Terminus „Bezeichnung“ der Tradition der Halleschen Schulphilosophie vor allem der Richtung Georg Friedrich Meiers folgt. An dieser Stelle zeigt sich in Bezug auf den Umfang des Begriffs aber eine Differenz zwischen Meier und Schleiermacher. Während Meier das Bezeichnungsvermögen nur auf den Bereich des sinnlichen Erkenntnisvermögens beschränkt, bezieht sich die Bezeichnungstätigkeit Schleiermachers zugleich auch auf die sittliche und religiöse Ebene. Inwiefern Gefühl sittlich und religiös werden kann, ist ein entscheidendes Thema, nicht allein für die nähere Bestimmung des Gefühls, sondern zugleich für die Ver-

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hältnisbestimmung von Gefühl und Religion. Darauf werden wir noch zurückkommen. Diese bisher dargestellten drei Gesichtspunkte gelten für Schleiermacher als Zugang für seine weitere Bestimmung des Begriffs „Gefühl“. In Hinsicht darauf, dass das Gefühl als eine Lebenstätigkeit der bezeichnenden Tätigkeit zugeordnet wird, ist also in erster Linie festzustellen, was das Gefühl eigentlich bezeichnet oder ausdrückt. Gefühl ist „also bestimmter Ausdruck von der Art zu sein der Vernunft in dieser besonderen Natur. Denn das Gefühl auch von der niedrigsten Art sagt immer aus, was die Vernunft wirkt oder nicht wirkt in der Natur“ (ebd.). Daraus ist zu erkennen, dass das Gefühl die Art ausdrückt, wie die Vernunft sich mit seiner besonderen Natur verbindet, und diese Art ist davon abhängig, wie die Vernunft auf die Natur wirkt. Gleichzeitig wird hier mit dem Wort „bestimmter“ darauf verwiesen, dass das Gefühl kein identischer Ausdruck wie der Gedanke ist. Um das Gefühl vom Gedanken deutlich zu unterscheiden, charakterisiert Schleiermacher es durch folgende vier Merkmale. Das erste Merkmal liegt darin, dass das Gefühl eine reine Selbstbezogenheit ist. „Organ ist aber das Gefühl an sich noch weniger als der Gedanke, weil es rein in sich zurückgeht.“ (ebd.) Richtet sich das Gefühl als ein Ausdruck nur („rein“) auf die eigenen inneren Zustände, so ist es nicht auf die Anderen bezogen, sondern eine Selbstbeziehung. Das zweite handelt davon, dass sich das Gefühl nur auf die Einheit des Lebens bzw. nur auf das ungeteilte, anderen gegenüber abgeschlossene und kontinuierliche Dasein jedes Einzelwesens bezieht. „[J]edes Gefühl geht immer auf die Einheit des Lebens, nicht auf etwas Einzelnes“ (ebd.), d. h. nicht auf einzelne sinnliche Gegebenheiten, sondern auf deren Gesamtheit in einem Bewusstsein. Damit verbindet sich das dritte Merkmal: Insofern das Gefühl etwas auf der Ebene des Bewusstseins ausdrückt, ist das Gefühl ein Ausdruck der mentalen Zustände. Dieses hat Schleiermacher bereits im Brouillon zur Ethik schon angedeutet: „[J]edes Gefühl ist Bewußtsein von dem Zustande des sittlichen Lebens, also Bewußtsein von der Harmonie des Organs zur Vernunft“ (Brouillon 96). Schließlich unterstreicht er: „Alles Mannigfaltige und auf einzelnes Bezogene, was darin herausgehoben wird, ist nicht mehr das unmittelbare Gefühl selbst.“ (PhE 1816/17, 589) Bereits hier verbirgt sich die Gegenüberstellung von Gefühl und Reflexion: Das Gefühl richtet sich unmittelbar auf die Einheit des Lebens, im Gegensatz dazu handelt es sich bei der Reflexion nur um die in dem Gefühl ausgewählte („herausgehobene“) Vorstellung – „[a]lles Mannigfaltige und auf einzelnes Bezogene“. Das heißt, das Gefühl ist primär und ursprünglich, im Gegensatz dazu ist die Reflexion etwas Abgeleitetes. Folglich ist das vierte Merkmal, dass Gefühl ein unmittelbarer oder vorreflexiver Ausdruck ist. Fassen wir die vier Merkmale zusammen, so lässt sich feststellen: Das Gefühl als Ausdruck ist eine unmittelbare Selbstbeziehung des Subjekts und richtet sich nur auf die Lebenseinheit des Individuums. Denn das Gefühl als eine individuelle Bezeichnungstätigkeit drückt die eigenen inneren mentalen Bewusstseinszustände des Einzelwesens unmittelbar aus. Aus dem gerade Dargestellten ergibt sich nun die Frage, was diese eigenen inneren mentalen Zustände, die vom Gefühl ausgedrückt werden, eigentlich sind und

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wie diese Zustände entstehen. Diese Fragestellung und ihre Beantwortung bringt Schleiermacher mit der folgenden Passage zum Ausdruck: Wenn es aber scheinen könnte, als ob hiebei die mit der Vernunft nicht geeinigte Natur gar nicht im Spiel wäre, und also das Gefühl entweder überhaupt nicht sittlich oder wenigstens nicht für sich, sondern nur zusammen mit anderem ein sittliches wäre, so drückt vielmehr jedes Gefühl immer aus, was die Vernunft wirkt oder nicht wirkt in der mit ihr geeinigten Natur zufolge des Verhältnisses, in welchem diese steht gegen die nicht geeinigte; und dies eben ist die zu jedem Gefühl nothwendig gehörige Erregung. (PhE 1816/17, 589)

Diese Aussage lässt sich zuerst so interpretieren: Was jedes Gefühl jeweils ausdrückt, macht die ethische Qualität des Gefühls aus. Zum Verstehen der Bestimmung des Gefühls als eines Ausdrucks soll diese Behauptung im Folgenden noch präziser gefasst werden. Wir haben in der obigen Untersuchung über das Verhältnis von Vernunft und Natur herausgefunden, dass der Begriff der Natur hier zwei unterschiedliche Funktionen hat: zum einen die mit der handelnden Vernunft bereits einsgewordene Natur, und zum anderen die in solche Einheit erst zu überführende Natur. Erstere besitzt die Kraft der Vernunft, zu handeln und hervorzubringen und gehört zum Menschen selbst als organisches Wesen. Die Bearbeitung letzterer hingegen ist die eigentliche ethische Aufgabe.28 Vor diesem Hintergrund ist das, „was die Vernunft wirkt oder nicht wirkt in der mit ihr geeinigten Natur“ (ebd.), durch die Gegenüberstellung der beiden Positionen von Natur, nämlich durch die Gegenüberstellung der mit der Vernunft geeinigten und der mit der Vernunft ungeeinigten Natur, hervorgebracht worden. Betrachtet man es so, dass das Gefühl als ein Ausdruck sich nur auf die Einheit des Lebens bzw. nur auf das ungeteilte, anderen gegenüber abgeschlossene und kontinuierliche Dasein jedes Einzelwesens bezieht, so kann die Gegenüberstellung von der mit der Vernunft geeinigten Natur und der nicht geeinigten durch den Gegensatz von Ich und Nicht-Ich im Einzelwesen interpretiert werden. Das heißt, meine eigene menschliche Natur steht derjenigen Natur gegenüber, die mir als Vernunftwesen nicht gehört. Dies ist wesentlich das Verhältnis jedes Einzelwesens mit der gesamten Natur, das – wie gesehen – auf der Ebene des Bewusstseins als in allen begriffsmäßig verschieden bestimmt werden kann. Daraus lässt sich ersehen, dass das Gefühl die Aktivität der Vernunft in der mit ihr geeinigten Natur ausdrückt und diese aus dem je verschiedenen Verhältnis von Ich und Nicht-Ich entstehende Aktivität unsere eigenen inneren mentalen Zustände darstellt. Insofern das Verhältnis der mit der Vernunft geeinigten Natur zu der nicht geeinigten Natur dem zugrunde liegt, was Gefühl als eine bezeichnende Tätigkeit ausdrückt, fungiert dieses Verhältnis für Schleiermacher als ein Reizendes in dem Entstehungsvorgang des Gefühls – mit seinen eigenen Worten: „die zu jedem Ge-

28 Vgl. oben: Kapitel 4. 1.1 Vernunft und Natur.

1 Die nähere Bestimmung des Gefühls



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fühl nothwendig gehörige Erregung“. Damit ist der Zusammenhang von Erregung und Gefühl aufgeklärt. Bisher ist deutlich zu sehen, dass das Gefühl als Ausdruck wesentlich durch die Interdependenz von Vernunft und Natur in jedem bestimmten Einzelwesen zu bestimmen ist. Blickt man an dieser Stelle darauf zurück, dass die Interdependenz von Vernunft und Natur ausgehend von dem Ineinander des Geistigen und des Dinglichen zu verstehen ist und folglich sich im Einzelwesen nur als Gegensatz und Einheit von Seele und Leib konkretisiert, so kann hierzu in einem weiteren Schritt gesagt werden, dass das Gefühl in jedem Einzelwesen als ein Ausdruck der Seele-LeibEinheit betrachtet werden kann. Dies hat Schleiermacher bereits in der Ethik von 1814/16 vermerkt: „Unter dem Gefühl wird aber hier im Allgemeinen verstanden nicht nur das Lebendigwerden der Vernunft im sinnlichen System, sondern auch das Menschlich-Werden des Leiblichen im Bewußtsein.“ (PhE 1814/16, 441) Diese Aussage zeigt deutlich, dass die Seele-Leib-Einheit sich in ihrem Ausdruck im Gefühl sowohl als Vernünftigwerden der Sinnlichkeit als auch als Humanisierung des Leiblichen im Bewusstsein darstellt. Schleiermachers Interpretation des Gefühls als eines Ausdrucksphänomens ist noch durch die Unterscheidung von Gefühl und Gemütsbewegung zu vertiefen. Im Brouillon zur Ethik identifiziert Schleiermacher die Gemütsbewegung als „Reaction des Gefühls“,29 so ist das Verhältnis von Gefühl und Gemütsbewegung durch das Verhältnis von Aktion und Reaktion zu bestimmen. In der Ethik von 1814/16 nennt der Autor das Gebiet der symbolisierenden Tätigkeit im Modus der Individualität „das [sc. Gebiet] des Gefühls oder des bewegten Gemüthes“ (ebd.).30 Das Gefühl und die Gemütsbewegung entstehen aus demselben Prozess: „Jedes Gefühl oder Gemüthsbewegung ist immer veranlaßt durch eine Einwirkung in das Einzelne als solches“ (ebd.). Dazu bringt Schleiermacher den Unterschied von Gefühl und Gemütsbewegung während der Vorlesungsstunde folgendermaßen zum Ausdruck: „Gefühl und Gemüthsbewegung drükken die eigenthümliche Bestimmtheit des Einzelwesens in seiner symbolisirenden Thätigkeit aus; das erste ist mehr passiv, Ausdrukk des von einem andern her; lezteres mehr activ, Ausdrukk einer Richtung auf etwas hin.“31 Diese Aussage zeigt: Gefühl und Gemütsbewegung sind beide Ausdrucksphänomene und sie drücken die Individualität des Individuums in seiner eigenen symbolisierenden Tätigkeit aus. Aber der Unterschied der beiden Ausdruckstätigkeiten ist nicht zu übersehen: Jene bezieht sich mehr auf die Rezeptivitätsdimension des Subjekts in der symbolisierenden Tätigkeit, diese mehr auf die Spontaneitätsdimen-

29 Brouillon, 182: „Denn 1.) was man Effekt nennt, ist nicht mehr das Gefühl allein, sondern die Reaction des Gefühls, die Gemüthsbewegung.“ 30 PhE 1814/16, 441: „Das abgeschiedene Gebiet dieses unenthüllbaren Geheimnisses ist das des Gefühls oder des bewegten Gemüthes.“ 31 Friedrich Schleiermacher: Entwurf eines Systems der Sittenlehre (1835), SW III/5, 139, Fußnote.

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sion. Damit verbunden ist das durch Aktion und Reaktion bestimmte Verhältnis zwischen Gefühl und Gemütsbewegung. Diese Differenzierung gibt es im Gebiet der symbolisierenden Tätigkeit im Modus der Identität bzw. im Gebiet des Gedankens aber nicht.32 Dass das Gefühl ohne Gemütsbewegung nicht zu fassen ist, gehört zu den Grundgedanken Schleiermachers in seiner Diskussion über den Begriff des Gefühls. Von daher wird uns dieser Gedanke in der nachfolgenden Untersuchung wieder begegnen. Wir haben im vorigen Abschnitt gesehen, wie Schleiermacher im Rahmen seiner Begründung der individuellen Bezeichnungstätigkeit die Unübertragbarkeit dieser Handlungsweise erläutert. Im Zusammenhang mit seiner Interpretation des Gefühls als Ausdruck der inneren mentalen Zustände veranschaulicht Schleiermacher nun die Unübertragbarkeit des Gefühls. Diese Unübertragbarkeit bedeutet: „Aber jeden Act des Gefühls vollzieht jeder als einen solchen, den kein anderer ebenso vollziehen kann, und durch das Gefühl spricht sich aus das Recht jedes Einzelwesens ein für sich Geseztes zu sein.“ (PhE 1816/17, 589) In dieser Aussage sind zwei Aspekte der Unübertragbarkeit des Gefühls enthalten. Erstens kann das Gefühl als eine Tätigkeit jedes Einzelnen – eine symbolisierende Tätigkeit im Modus der Individualität – von keinem Anderen vollzogen werden. Diese sich auf die anderen Personen beziehende Unübertragkeit des Gefühls besteht darin: „daß, sofern es [sc. das Gefühl] vollkommen ist, auch an derselben Stelle und unter denselben Umständen kein anderer eben so fühlen würde; wie in der Vollkommenheit des Gedankens das Entgegengesezte liegt“ (ebd.). Wenn das Gefühl eines Individuums vollkommen ist, ist es auf keine Weise von Anderen ebenso zu vollziehen, sogar wenn der Andere „an derselben Stelle und unter denselben Umständen“ stehen würde – ich bin der Einzige, der unter denselben Bedingungen auf diese Weise fühlen kann. Im Gegensatz dazu kann jeder Andere im Gebiet des Gedankens, wenn der Gedanke vollkommen ist, an derselben Stelle und unter denselben Umständen ebenso gleich wie ich denken. Das heißt, dass mein Gedanke von jedem Anderen nachvollzogen werden kann. Zweitens gilt die Tatsache, dass die Individualität jedes Einzelnen durch das Gefühl legitimiert wird. Das heißt, erst durch das Gefühl als Ausdruck der inneren mentalen Zustände wird das Recht jedes Einzelnen kundgegeben, ein eigentümliches Individuum – „ein für sich Geseztes“ – zu sein. Damit ist noch die Aussage verbunden: „[I]m Gefühl am meisten ist die Geschiedenheit“ (ebd.). Das heißt, dass die Individualität des Menschen, die durch die Unübertragbarkeit gekennzeichnet ist, sich hauptsächlich im Gefühl manifestiert. Durch das Wort „am meisten“ wird hierbei noch darauf hingewiesen, dass es keine absolute Individualität im Gefühl gibt,

32 Vgl. a. a. O., Fußnote *): „Dieser Zweiheit haben wir im identischen Gebiet nur Eines gegenüber gestellt, den Gedanken, allein dieser enthält auch eine Zweiheit in sich, Gedanke in seiner Allgemeinheit, als Formel, wo er auch überwiegend activ ist, und Gedanke mehr auf Seite der Einzelheit, der weil durch Afficirtsein von einem bestimmten Object hervorgerufen überwiegend passiv ist.“

1 Die nähere Bestimmung des Gefühls

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sondern nur eine relative Individualität. Darauf werden wir in der späteren Diskussion noch zurückkommen. Bisher haben wir, gemäß seiner letzten Bearbeitung der Gütelehre von 1816/17, untersucht, wie Schleiermacher den Begriff des Gefühls vor dem Hintergrund seiner Ausführung der Interdependenz von Vernunft und Natur in einer ausdruckstheoretischen Dimension näher bestimmt. Als Ergebnis lässt sich zusammenfassen: Das Gefühl ist eine Lebenstätigkeit und ein Ausdrucksphänomen. Wie der Gedanke ist das Gefühl Ausdruck der Vernunft in der Natur. Aber anders als der Gedanke ist das Gefühl eine reine Selbstbezogenheit. Das Gefühl drückt die inneren mentalen Bewusstseinszustände aus, die die Aktivität der Vernunft in der mit ihr geeinigten Natur darstellen und die ohne die verschiedenen Verhältnisse des Einzelnen zu seiner Umgebung nicht bestehen können. Hierbei fungieren diese verschiedenen Verhältnisse als notwendige Erregung für das Gefühl. In seiner Interpretation unterstreicht der Autor noch, dass das Gefühl ein unmittelbarer und vorreflexiver Ausdruck ist. Dies gilt nicht nur auf der sittlichen und religiösen Ebene, sondern auch auf der sinnlichen Ebene. 1.3.2 Das Gefühl als Selbstbewusstsein Mit dem Bisherigen haben wir aufgezeigt, dass Schleiermacher vor dem Hintergrund seiner Verdeutlichung des Verhältnisses von Vernunft und Natur und seiner Ausführungen zur individuellen Bezeichnungstätigkeit das Gefühl als ein Ausdrucksphänomen auslegt, genauer genommen als Ausdruck der inneren mentalen Bewusstseinszustände. Doch bei diesem Ergebnis bleibt Schleiermacher nicht stehen. Im Zuge seiner Arbeit am Brouillon zur Ethik und an der Ethikvorlesung von 1812/13 bringt er den Begriff des Selbstbewusstseins ins Spiel, um den Begriff des Gefühls aus einer subjektivitätstheoretischen Perspektive näher zu klären.33 Wenden wir uns nun dem zu, wie Schleiermacher sein Verständnis des Gefühls unter Rückgriff auf den Begriff des Selbstbewusstseins in der Philosophischen Ethik seiner Reifezeit weiter ausbaut. Schleiermachers Interpretation des Gefühls als Selbstbewusstsein in seiner Philosophischen Ethik vollzieht sich in drei zeitlich aufeinander folgenden Bearbeitungsschnitten: Zunächst wird der Begriff des Selbstbewusstsein zur näheren Bestimmung des Gefühls in seine Güterlehre von 1812/13 eingeführt (1.3.2.1); dann wird dieser Begriff im Manuskript für die Vorlesung von 1816/17 ausgeführt (1.3.2.2); im Zuge seiner Beschäftigung mit der Dialektik und der Glaubenslehre präzisiert der Autor diesen Begriff schließlich in seinen Bemerkungen zur Güterlehre von 1812/13 im Jahr 1832 zum letzten Mal (1.3.2.3).

33 Zur Einführung des Selbstbewusstseinsbegriffs in die Philosophische Ethik Schleiermachers vgl. Peter Grove: Deutungen des Subjekts (2004), 415–417.

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1.3.2.1 Die Einführung des Begriffs des Selbstbewusstseins in die Ethik Wir fangen mit der Einführung des Begriffs des Selbstbewusstseins in Schleiermachers Ethikvorlesung von 1812/13 an.34 Der Ausgangspunkt von Schleiermachers Diskussion über den Begriff des Selbstbewusstseins in dieser Vorlesung ist die Annahme, dass das Bewusstsein zum Handlungsbereich gehört: „Unser Sein ist nur als Bewußtsein gegeben und also eine erkennende Thätigkeit ursprünglich gesezt; aber auch das ursprüngliche Bewußtsein ist nach §2 nur als Resultat einer Vernunftthätigkeit anzusehen.“ (PhE 1812/13, 264, §8)35 Diese Aussage zeigt, dass das Bewusstsein ursprünglich der erkennenden Handlungssphäre angehört und ein Produkt unserer Vernunfttätigkeit ist. Darauf folgt: „Die ursprüngliche menschliche Form des Erkennens im weitern Sinne ist das bestimmte Auseinandertreten von Subject und Object, also von Gefühl und Wahrnehmung, in welchem der Mensch sich ein Ich wird und das Außerihm eine Mannigfaltigkeit von Gegenständen, indem wir dem Thier weder ein wahres Selbstbewußtsein noch ein wahres Wissen von Gegenständen zuschreiben.“ (PhE 1812/13, 264, §9) Durch diese erkenntnistheoretische Überlegung versucht der Autor, den Ursprung des menschlichen Erkennens aufzuhellen. Ihm zufolge bildet sich das menschliche Erkennen in dem Vorgang der bestimmten Trennung von Subjekt und Objekt, wodurch ein Individuum („ein Ich“) sich von der äußeren mannifaltigen Welt (dem „Außerihm“) unterscheidet und näherhin ein wahres Selbstbewusstsein und ein wahres Wissen von Gegenständen entsteht. Anders gesagt: Die Trennung von Subjekt und Objekt liegt dem Bewusstsein sowohl von einem „Ich“ bzw. von einem wahren Selbstbewusstsein als auch von dem wahren Wissen von Gegenständen zugrunde. Dank dieser beiden Elemente grenzt sich der Mensch vom Tier ab.36 An dieser Stelle kommt der Begriff des Selbstbewusstseins zum ersten Mal in seiner Philosophischen Ethik zur Sprache. Mit dem Ausdruck „das wahre Selbstbewusstsein“ wollte der Autor vermutlich herausstellen, dass das Selbstbewusstsein als eine Verwirklichung des abstrakten Ich-Bewusstseins in der Realität, d. h. in jedem Subjekt, existiert.37 Eine konkrete Auslegung des Selbstbewusstseins ist hier zunächst nicht gegeben.

34 Vgl. PhE 1812/13, Allgemeine Übersicht, 263–275. 35 Vgl. dazu PhE 1812/13, 263, §2: „Das ursprüngliche organische System erscheint uns zwar überall gegeben, wir können es aber, wie der einzelne Mensch selbst ja aus einem ethischen Act entsteht, auch an sich nur als Resultat einer Vernunftthätigkeit ansehen.“ 36 Die Beziehung von Selbstbewusstsein und Gegenstand erklärt Schleiermacher folgendermaßen: „Das Aufgehen des Gegenstandes im Selbstbewußtsein ist der ursprüngliche, sich immer erneuernde Act der Freiheit, das Aufgehen des Selbstbewußtseins im Gegenstande der der Hingebung.“ (PhE 1812/13, 264, §10) 37 Peter Grove interpretiert „das wahre Selbstbewußtsein“ als eigentliches Selbstbewusstsein. Zu der zitierten Passage hat Grove darauf hingewiesen: „Neu in der Erklärung ist allein die Verwendung des Selbstbewußtseinsbegriffs. Konnte früher [sc. im Brouillon zur Ethik] eventuell noch bezweifelt werden, inwiefern beim Auseinandertreten von Subjekt und Objekt, Gefühl und Anschauung ein bewußtes Selbstverhältnis intendiert war, ist Zweifel hier nicht möglich. Er wird durch die

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Neben dem Begriff des wahren Selbstbewusstseins führt Schleiermacher in die weitere Diskussion von 1812/13 den präzisierenden Ausdruck „das bewegte Selbstbewusstsein“ ein, indem er im Kontext seines Aufrisses der Handlungstheorie das subjektive Erkennen in der Gegenüberstellung zum objektiven Erkennen präziser auslegt.38 Für Schleiermacher besteht der Charakter der Identität der bezeichnenden Vernunfttätigkeit darin, „daß jeder einzelne diesen Act nur eben so vollziehen und nur eben dieses Resultat gewinnen könne, also unter denselben Bedingungen einen dem Act des Andern durchaus gleichen aufzuzeigen habe“ (PhE 1812/13, 267, §25). Die Identität bedeutet hier nicht nur die Nachvollziehbarkeit der erkennenden Tätigkeit unter denselben Bedingungen, sondern auch das Gewinnen desselben Produkts dieser Tätigkeit. Insofern heißt es: „Die Totalität des unter diesem Charakter [sc. der Identität] gegebenen Seins der Vernunft in der Natur bildet die Sphäre des objectiven Erkennens oder des Wissens.“ (PhE 1812/13, 267, §27) Dabei wird herausgestellt, dass nicht die einzelne identische Bezeichnung, sondern die „Totalität“ – die Gesamtheit aller identischen Bezeichnungen – das Gebiet des objektiven Erkennens bzw. des Wissens hervorbringt. „Jeder auch objective Act des Erkennens ist in der Realität verbunden mit einem bewegten Selbstbewußtsein, so daß wir ihn ohne dieses [sc. das bewegte Bewusstsein] nicht für ursprünglich erzeugt, sondern für mechanisch nachgebildet halten.“ (PhE 1812/13, 267, §28) Sogar das objektive Erkennen steht im untrennbaren Verhältnis mit dem bewegten Selbstbewusstsein, aber für den individuellen Akt des Erkennens spielt es eine entscheidende Rolle. Damit unmittelbar verbunden kommt der Begriff des bewegten Selbstbewusstseins sodann zum Ausdruck: „Das bewegte Selbstbewußtsein ist überall der Ausdrukk der eigenthümlichen Art, wie alle Functionen der Vernunft und Natur Eins sind in dem besondern Dasein, und ist also ein jedem eignes und unübertragbares Erkennen, von welchem auch jeder alle Andern ausschließt.“ (PhE 1812/13, 267, §29) In dieser Aussage ist unter dem Begriff des bewegten Selbstbewusstseins zweierlei zu verstehen. Zuerst wird festgestellt, dass das Selbstbewusstsein zum Ausdrucksphänomen gehört: Es drückt die besondere Art des inneren Zusammenhangs von Vernunft und Natur im Individuum aus. An dieser Stelle denkt man an den Grundgedanken Schleiermachers, dass das Gefühl Ausdruck der Vernunft in der Natur ist. Sodann ist zu erkennen, dass das bewegte Selbstbewusstsein in erkenntnistheoretischer Hinsicht identisch mit dem individuellen Erkennen ist, das wiederum durch Unübertragbarkeit zu charakterisieren ist. Durch „bewegte“ deutet der Autor an,

unzweideutige Rede vom wahren, d. h. eigentlichen Selbstbewußtsein und vom Fürsichwerden des Menschen als Ich, das also als ein sich seiner selbst bewußtes verstanden wird, ausgeschlossen. Im Brouillon wurden Ich und Einheit des Bewußtseins in der Sukzession gleichgesetzt, ohne daß ihre Bewußtheit erklärt wurde. So schließt sich nun eine Lücke im Gedankengang Schleiermachers, wie er ihn bisher entfaltet hat.“ (ders.: Deutungen des Subjekts (2004), 415) 38 Zum objektiven Erkennen vgl. PhE 1812/13, 267, §§25–27; zum subjektiven Erkennen vgl. a. a. O., §§28–30.

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dass das Entstehen des Selbstbewusstseins sich mit der Affektion eines Anderen verbindet. „Die Totalität des unter diesem Charakter gegebenen Seins der Vernunft in der Natur bildet die Sphäre des subjectiven Erkennens, der Gemüthsstimmungen und Bewegungen.“ (PhE 1812/13, 267, §30)39 Ebenso wie bei der Bestimmung des objektiven Erkennens unterstreicht der Autor hier die Totalität der Bezeichnungstätigkeiten: Nicht eine einzelne Bezeichnungstätigkeit im Modus der Individualität, sondern die Gesamtheit aller individuellen Bezeichnungen in einem Individuum bildet das Gebiet des individuellen Erkennens. Unter Anlehnung an den von Herder und Kant geprägten Begriff der Stimmung und der Gemütsstimmung verweist der Autor an dieser Stelle noch darauf, dass das subjektive Erkennen zur Empfindungssphäre des Menschen gehört und somit sich in einer gewissen Unbestimmtheit befinden kann.40 Betrachten wir noch einmal, dass, wie wir im dritten Kapitel herausgearbeitet haben, das Subjektive des „subjektive[n] Erkennens“ sich im Brouillon zur Ethik auf die individuelle Subjektivität bezieht, so bedeutet das subjektive Erkennen in dieser Aussage das individuelle Erkennen. Darüber hinaus sind wir aus der dortigen Untersuchung zum Befund gekommen, dass der Autor das individuelle Erkennen mit dem Gefühl gleichsetzt. So verbirgt sich hier schon die Einsicht, dass das Gefühl in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Selbstbewusstsein steht. Wenn Schleiermacher es hierbei noch nicht wagt, zu behaupten, dass das Selbstbewusstsein identisch mit dem Gefühl ist, hat er die Identität zwischen beiden an einer anderen Stelle in der „Einzelne[n] Ausführung“ seiner Güterlehre (1812/13) folgendermaßen gefasst: „In den Umfang derselben [bzw. der Eigenthümlichkeit] gehört das bestimmte Selbstbewußtsein = Gefühl“ (PhE 1812/13, 310, §207).41 Dabei ist von dem bestimmten Selbstbewusstsein die Rede, wodurch das Selbstbewusstsein in diesem

39 Otto Braun hat in der Fußnote darauf hingewiesen, dass dem Satz die gestrichenen Worte „oder des Gefühls“ folgen (vgl. PhE 1812/13, 267, Fußnote 3). 40 Der Begriff der Stimmung in der deutschen Sprache um 18. Jahrhundert ist vor allem von Herder und Kant geprägt. Herder setzt den Begriff der Stimmung schon in der Diskussion über die menschliche Individualität ein: „Jeder Mensch hat ein eignes Maß, gleichsam eine eigne Stimmung aller sinnlichen Gefühle zu einander, so daß bei außerordentlichen Fällen oft die wunderbarsten Äußerungen zum Vorschein kommen, wie einem Menschen bei dieser oder bei jener Sache sei.“ (Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit [1784], 287) Bei Kant gilt Gemütsstimmung als ein wichtiges Element für das Geschmacksurteil, denn ihm zufolge ist es die Gemütsstimmung, „die sich selbst erhält und von subjektiver allgemeiner Gültigkeit ist“ (Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft [1790], §16, 230–231. Hier nach Paginierung der Akademie-Ausgabe). Zum Begriff der Stimmung vgl. ferner Franz Josef Wetz: Art. Stimmung (1998), in: HWPh, Bd. 10, 173–176. Schleiermacher hat die Stimmung als unentbehrlich für die Kunsttätigkeit in seiner Ästhetik thematisiert. Dazu vgl. Thomas Lehnerer: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (1987), 254–262; und Michael Moxter: Religion und Kunst (2008), 600–605. 41 In der Ausgabe von Alexander Schweizer steht hier „das bestimmte Bewußtsein oder Gefühl“, SW III/5, 241.

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Zusammenhang nicht als allgemeines, sondern als konkretes und individuelles betrachtet wird. Es scheint an dieser Stelle so zu sein, dass der Autor noch vorsichtig ist, das Gefühl mit dem Selbstbewusstsein eindeutig zu identifizieren.42 Aus der Verwendung des Begriffs des Selbstbewusstseins in der Ethik von 1812/ 13 sind mindestens zwei Beobachtungen zu ersehen. Erstens: Obwohl Schleiermacher in dieser Vorlesungsvorlage keine nähere Bestimmung des Selbstbewusstseins gegeben hat, hat er hier darauf hingewiesen, dass das Selbstbewusstsein der Ausdruck einer eigentümlichen Art der Interdependenz von Vernunft und Natur einerseits und ein individuelles Erkennen andererseits ist. Mit Rückbezug auf seine Bestimmung des Gefühls als individuelles Erkennen im Brouillon zur Ethik zeigt dieser Hinweis, dass es einen inneren und engen Zusammenhang zwischen den Begriffen des Gefühls, des individuellen Erkennens und des Selbstbewusstseins im Rahmen der Handlungstheorie Schleiermachers gibt. Dieser Zusammenhang besteht darin, dass alle drei Begriffe zu derselben Tätigkeitssphäre gehören, d. h. dass sie alle im Handlungsgebiet des individuellen Bezeichnens liegen. Eine zweite Beobachtung betrifft das Selbstbewusstsein selbst: Nähert man sich der Beschreibung des Selbstbewusstseins gemäß den obigen drei zitierten Ausdrücken – „das wahre Selbstbewusstsein“, „das bewegte Selbstbewußtsein“ und „das bestimmte Selbstbewusstsein“, so lässt sich erkennen, dass Schleiermacher das Selbstbewusstsein einerseits als ein Affiziertsein im Zusammensein mit den Anderen und andererseits als konkret, als individuell und als unübertragbar versteht. Bereits hier ist die Absicht des Autors erkennbar, das Selbstbewusstsein als individuelle erkennende Tätigkeit von dem kantischen abstrakten und allgemeinen Ich-Bewusstsein abzugrenzen. Vor dem Hintergrund dieser skizzenhaften Darstellung wollen wir nun zu Schleiermachers letzter Bearbeitung der Güterlehre von 1816/17 übergehen und untersuchen, wie er seine Bestimmung des Gefühls als Selbstbewusstsein in seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre verdeutlicht. 1.3.2.2 Das Selbstbewusstsein als individuellstes Bezeichnungsgebiet In der vorangehenden Untersuchung haben wir gesehen, wie Schleiermacher in seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre das individuelle Bezeichnungsgebiet der Erregung und des Gefühls bei jedem Einzelnen konkretisiert und dadurch das Gefühl als Ausdruck der inneren mentalen Bewusstseinszustände bestimmt.43 Anschließend daran bringt er das kleinste individuelle Bezeichnungsgebiet wie folgt zum Ausdruck: „Als kleinstes Bezeichnungsgebiet in diesem Sinne ist uns gegeben das

42 Dazu passend weist Peter Grove darauf hin, „dass Schleiermacher nicht einfach Selbstbewusstsein und Gefühl identifiziert“ (ders.: Deutung des Subjekts [2004], 418). Zum Ausdruck „das bestimmte“ ist er der Meinung: „Das Gefühl verhält sich zum Selbstbewusstsein wie eine Bestimmtheit desselben.“ (ebd.) Mehr dazu vgl. a. a. O., 418–419. 43 Vgl. PhE 1816/17, 589, §52.

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in dem Leibe jedes einzelnen Menschen eingeschlossene und durch ihn vermittelte Bewußtsein, und also [sc. ist] das Selbstbewußtsein das Eigenthümlichste und Unübertragbarste der symbolisirenden Thätigkeit.“ (PhE 1816/17, 589, §53) „In diesem Sinne“ bezieht sich auf das individuelle Bezeichnungsgebiet der Erregung und des Gefühls, dessen Charakter – wie bereits gezeigt – durch das ungeteilte, anderen gegenüber abgeschlossene Dasein jedes Einzelnen bestimmt ist. Damit kann dieser Leitsatz folgendermaßen paraphrasiert werden: Insofern das kleinste Bezeichnungsgebiet im Modus der Individualität mit dem in dem Leib jedes einzelnen Menschen eingeschlossene und durch ihn vermittelte Bewusstsein ursprünglich eins ist, so ist das Selbstbewusstsein das individuellste und unübertragbarste Bezeichnungsgebiet. Diese Folgerung besteht unter der Prämisse, dass der Begriff des Selbstbewusstseins von dem „ganze[n] Selbstbewußtsein des Menschen als Eines“ (PhE 1816/17, 590) handelt, das sich einerseits durch den Leib von den Anderen unterscheidet und andererseits den eigenen Leib als einzigen Handlungsträger und Verwirklichungsort der Vernunfttätigkeit nimmt. Ebenso wie in seiner Darstellung der Bezeichnungstätigkeit im Modus der Identität, worin er das menschliche Gattungsbewusstsein als ein gemeinsames Bezeichnungsgebiet „im weitesten Sinn“ bestimmt,44 so spricht Schleiermacher hier von einem individuellen Bezeichnungsgebiet auch „im weitesten Sinn“ – von einem kleinsten Bezeichnungsgebiet im Modus der Individualität. Dementsprechend stehen in dieser Aussage zwei weitere Superlative – „Eigenthümlichste und Unübertragbarste“, womit das Selbstbewusstsein als im höchsten Maße individuelles und unübertragbares Bezeichnungsgebiet konstatiert wird. Von einem „eigene[n] und abgeschlossene[n] Bezeichnungsgebiet der Erregung und des Gefühls“ (PhE 1816/ 17, 589, §52) zum „eigentümlichste[n] und unübertragbarste[n] Bezeichnungsgebiet“ verkleinert sich der Umfang des individuellen Bezeichnungsgebiets. Aus diesem Leitsatz ist nun zu erkennen, dass das Selbstbewusstsein als kleinstes individuelles Bezeichnungsgebiet zu dem Bereich des Gefühls gehört. Auf dieser Basis stellt Schleiermacher nun fest: „Selbstbewußtsein nemlich ist jedes Gefühl. Denn jedes Bewußtsein eines Anderen wird Gedanke. Aber [sc. Selbstbewußsein ist] auch nur unmittelbares; denn das mittelbare, in dem wir uns selbst wieder Gegenstand geworden sind, wird Gedanke, und [sc. Selbstbewußsein] ist nicht übertragbar.“ (PhE 1816/17, 589–590) Die Behauptung „Selbstbewußsein nemlich ist jedes Gefühl“ ist eine vorsichtige Formulierung. Kann eine Identifizierung des Gefühls mit dem Selbstbewusstsein sich aus dieser Behauptung ergeben? Sehen wir uns vorerst die Begründung des Autors an. Aus dessen Erläuterung sind zwei wichtige Aspekte für den Begriff des Selbstbewusstseins zu entnehmen: Zum einen bezieht sich das Selbstbewusstsein auf das handelnde Subjekt der bezeichnenden Tätigkeit selbst, denn das Bewusstsein des Nicht-Ichs wird schon Gedanke, somit gilt das Selbstbe-

44 Vgl. PhE 1816/17, 587, §49.

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wusstsein wesentlich als eine Selbstbeziehung. Zum anderen wird diese Selbstbeziehung durch Unmittelbarkeit ausgezeichnet. Das geschieht in Abgrenzung von einer Gegenständlichkeit des Gedankens. Damit direkt verbunden wird dem Selbstbewusstsein der Charakter der Unübertragbarkeit zugeschrieben. Mit Rückbezug darauf, dass das Gefühl als eine Selbstbeziehung durch Unmittelbarkeit und Unübertragbarkeit zu kennzeichnen ist, gewinnt das Selbstbewusstsein hierbei die Wesensmerkmale für das Gefühl. Insofern ist die Behauptung „Selbstbewußsein nemlich ist jedes Gefühl“ in dem Sinne gemeint, dass das Selbstbewusstsein zur Sphäre des Gefühls gehört, weil es die Wesensmerkmale jedes Gefühls besitzt. Aber diese Behauptung bedeutet nicht, dass jedes Gefühl Selbstbewusstsein ist, weil unserem Autor zufolge der Bedeutungsumfang des Begriffs des Gefühls größer ist als das, was der Begriff des Selbstbewusstseins als individuelles Bezeichnungsgebiet umfassen kann. Denn wie bereits gesehen gilt das Gefühl als Ausdruck nach Schleiermacher nicht nur für das sittliche, sondern auch für das sinnliche Gefühl. In dieser Hinsicht gilt die Identifizierung des Gefühls mit dem Selbstbewusstsein in seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre ebenfalls nicht ohne Einschränkung. Nun lässt sich resümieren: Das Gefühl kann zwar als Selbstbewusstsein interpretiert werden, aber nicht alle Gefühle sind Selbstbewusstsein.45 Entscheidend ist an dieser Stelle die Frage, inwiefern das Gefühl als Selbstbewusstsein „das Eigenthümlichste und Unübertragbarste“ ist. Könnte es eine andere Unübertragbarkeit darüber hinaus als höchste geben? Das führt der Autor mit folgendem Argument als unmöglich aus. Im Brouillon zur Ethik hat Schleiermacher bereits darauf hingewiesen, dass es zwei Arten der Unübertragbarkeit für die individuelle Bezeichnungstätigkeit gibt: Die eine ist die Unübertragbarkeit des Selbstbewusstseins als eines Ganzen zwischen verschiedenen Lebenseinheiten, d. h. zwischen verschiedenen Menschen; die andere ist die Unübertragbarkeit des Selbstbewusstseins zwischen verschiedenen Momenten innerhalb des Lebens eines Menschen.46 Ausgehend hiervon wird hier in der Ausführung von 1816/17 geprüft, ob die Unübertragbarkeit zwischen mehreren Momenten desselben Lebens eine höchste sein könnte: Vielleicht aber könnte man meinen, das höchste Unübertragbare wäre nur der einzelne auf bestimmte Weise bewegte Moment, nicht das ganze Selbstbewußtsein des Menschen als Eines, denn keiner könne auch sein eignes Gefühl aus einem Augenblick ganz als dasselbe auf einen andern übertragen. Dies ist zwar richtig; aber so gewiß der Mensch Einer ist, gehen alle Momente des Gefühls in ihm hervor aus derselben besonderen Einheit des Lebens. Und reißen wir aus dieser einen Moment heraus: so kann dieser insofern einem analogen Moment eines anderen verwandter und also minder unübertragbar sein. Diese Lebenseinheit aber ist der identi-

45 Dazu vgl. Peter Grove: Deutungen des Subjekts (2004), 429–430. 46 Hierzu Brouillon, 98: „Die Unübertragbarkeit gilt aber nicht nur zwischen mehreren Personen, sondern auch zwischen mehreren Momenten desselben Lebens.“

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sche Grund alles Eigenthümlichen in allen auf einander folgenden Gefühlsmomenten. (PhE 1816/17, 590)

In dieser Passage zeigt sich deutlich: Die verschiedenen Momente des Gefühls in einem Leben sind zwar aufeinander unübertragbar. Das heißt, niemand kann das Gefühl aus einem erlebten Augenblick als dasselbe nachbilden, mit anderen Worten: In jedem kommenden Augenblick kann ein Individuum sich nicht mehr so wie jetzt fühlen. Aber insofern jeder Mensch eine Einheit des Lebens ist und alle verschiedenen Momente des Gefühls in ihm aus seiner individuellen Einheit des Lebens entstehen, so dient jedem die ihm jeweils eigene Einheit des Lebens dazu, einen Moment mit einem zu ihm analogen anderen Moment zu verbinden. Solche durch die Analogie erfolgten Verbindungen zwischen verschiedenen Momenten machen die Unübertragbarkeit nicht absolut. Das bezeichnet der Autor als „minder unübertragbar“ – weniger unübertragbar, im Vergleich zur Unübertragbarkeit „des ganzen Selbstbewusstseins des Menschen als Eins“. Denn dieses letztere ist in dem eigenen Leib eingeschlossen und wird nur durch den Leib vermittelt. Diese komparative „minder[e]“ Unübertragbarkeit spricht gegen eine höchste Unübertragbarkeit zwischen verschiedenen Momenten eines Lebens. Somit bestätigt sich, dass nur das in dem eigenen Leibe eingeschlossene und durch die Ganzheit und Einheit zu kennzeichnende Selbstbewusstsein jedes Individuums das individuellste und unübertragbarste Bezeichnungsgebiet ist. Dass der Ausdruck „Einheit des Lebens“ bei Schleiermacher bedeutet, dass jedes Einzelwesen ein ungeteiltes, anderen gegenüber abgeschlossenes und kontinuierliches mentales Dasein ist, das durch den Leib begrenzt ist, haben wir früher in der strukturellen Darstellung der bezeichnenden Tätigkeit im Modus der Individualität herausgearbeitet.47 In der obigen Diskussion über die Unübertragbarkeit kommt nun die Einheit des Lebens wieder zur Sprache. Hierbei zeigt sich eine wichtige Funktion der Lebenseinheit: „Diese Lebenseinheit aber ist der identische Grund alles Eigenthümlichen in allen auf einander folgenden Gefühlsmomenten.“ (ebd.) Die entscheidende Funktion der Lebenseinheit besteht darin, die Kontinuität des Lebens trotz verschiedener unübertragbarer „Gefühlsmomente[]“ zu sichern. Aber dabei ist zu berücksichtigen, dass die Einheit des Lebens ihre Verbindungsfunktion nur unter gewissen Bedingungen durchführen kann. Sie kann nämlich nicht alle Gefühlsmomente eines Lebens verknüpfen, sondern nur die zeitlich „auf einander folgenden“ Gefühlsmomente eines Lebens. Die Unübertragbarkeit zwischen mehreren Gefühlsmomenten desselben Lebens ist zwar „minder“, also weniger gegeben, aber das bedeutet nicht gleich das Gegenteilige, dass es zwischen ihnen etwas Gemeinschaftliches geben muss. Denn „[d]aher [sc. ist] aber auch als das Gemeinschaftliche von diesen nur Gedanke, und in allen derselben, nemlich das Ich.“ (ebd.) Das heißt:

47 Vgl. oben: Kapitel 4. 1.2.2 Die individuelle Bezeichnungstätigkeit, 282–287.

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Das Gemeinschaftliche von verschiedenen Gefühlsmomenten ist nicht Gefühl, sondern Gedanke, d. h. ein gemeinsames Bezeichnungsgebiet; und derselbe Gedanke in allen diesen Momenten ist das allgemeine Subjekt, wie Schleiermacher selbst sagt, ein „alles verständige Bewußtsein des menschlichen Geschlechts“ (PhE 1816/17, 587, §49) bzw. ein Gattungsbewusstsein. Darauf folgt noch: „Und nur indem so das Eigenthümliche wiederum gemeinschaftlich ist, ist es ein wahrhaft Sittliches.“ (PhE 1816/17, 590) Diese Aussage zeigt deutlich: Das individuelle Gefühl kann zwar ein sittliches sein, aber dies ist nur dadurch möglich, dass das unübertragbare Gefühl im Gedanken gemeinschaftlich ist. An dieser Stelle wird das Problem der Ethisierung des Gefühls wieder in den Blick genommen. Aber wie der Vorgang vom Unübertragbaren zum Gemeinschaftlichen geschieht oder sich realisiert, bleibt bis hierher in seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre noch offen. Für Schleiermacher ist das Gattungsbewusstsein unentbehrlich für seine Bestimmung des Gefühls als Selbstbewusstsein. Denn das Selbstbewusstsein ist nur durch das „Zusammensein“ (PhE 1816/17, 591) mit dem Gattungsbewusstsein zu klären. Im Brouillon zur Ethik versteht Schleiermacher das Wissen als objektives Erkennen und das Gefühl als individuelles Erkennen. In der Ethikvorlesung von 1812/13 spricht er von der hohen Bedeutung des Selbstbewusstseins für das objektive Erkennen, weil das ursprüngliche Erzeugen des Wissens das individuelle Selbstbewusstsein voraussetzt. In seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre von 1816/17 wird das Verhältnis von objektivem Erkennen und subjektivem Erkennen entsprechend seiner terminologischen Präzisierung der beiden Bezeichnungstätigkeiten durch das Verhältnis von Gattungsbewusstsein und Selbstbewusstsein ersetzt. Das „Zusammensein“ von beiden Existenzweisen des Bewusstseins wird als sittliche Notwendigkeit hervorgehoben. Um den Begriff des Selbstbewusstseins besser zu verstehen, wollen wir uns im Folgenden nahebringen, was das „Zusammensein“ eigentlich bedeutet. Schleiermachers Grundlegung des Verhältnisses von Selbstbewusstsein und Gattungsbewusstsein zeigt sich im folgenden Leitsatz: „Vom einzelnen Selbstbewußtsein an bis zum Gesammtbewußtsein des menschlichen Geschlechts ist also alles im sittlichen Sein ein Ineinander von Einerleiheit und Verschiedenheit, und es ist Gedanke und Gefühl überall, aber nur theilweise außer einander, Abgeschiedenheit und Mittheilung überall, aber nur beziehungsweise entgegengesezt.“ (PhE 1816/17, 590, §54) In dieser Passage lassen sich bei genauerem Hinsehen zwei Grundeinsichten beobachten. Zunächst ist zu erkennen, dass alle Bezeichnungstätigkeit zwischen der im Modus der Individualität im weitesten Sinne und der im Modus der Identität im weitesten Sinne, d. h. zwischen dem individuellen Selbstbewusstsein und dem Gattungsbewusstsein des menschlichen Geschlechts, ethisch gesprochen nur in einer Korrelation von Identität und Individualität besteht. Sodann wird hier festgestellt, dass Gedanke und Gefühl in der Realität gleichursprünglich sind und ihre Trennung immer nur relativ ist. Dementsprechend sind Isolation

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und Kommunikation ebenfalls gleichursprünglich, ihre Entgegensetzung nur relativ. Kurz gesagt: Es gibt weder den reinen Gedanken noch das reine Gefühl. Zur Entfaltung dieser beiden Grundgedanken dient dem Autor eine Analyse, der wir im Folgenden nachgehen wollen. Zunächst fängt er mit dem Gefühl an: „Kein einzelnes Gefühl ist eben wegen seiner Unübertragbarkeit ohne den zusammenhaltenden Gedanken des Ich, der in allen völlig derselbe ist und auf dieselbe Weise vollzogen, denn die persönliche Verschiedenheit ist darin ihrem Inhalte nach nicht gesezt.“ (PhE 1816/17, 590) Der Grund für das Zusammensein des Gefühls mit dem Ich-Gedanken liegt im Gefühl als einer durch die Unübertragbarkeit gekennzeichneten Bezeichnungstätigkeit. Somit ist hier an dieser Stelle ein Rückblick auf Schleiermachers Ausführung der bezeichnenden Tätigkeit im Modus der Individualität notwendig. Wir haben bereits herausgearbeitet, dass Schleiermacher zufolge die Individualität der Einzelwesen nicht im Inhalt des Bewusstseins, sondern in der Art besteht, wie die mannigfaltigen Funktionen des Bewusstseins, die allen Menschen gemeinsam sind, mit der gesamten umgebenden Natur verbunden sind.48 Dieser Befund geht davon aus, dass alle Menschen als eine Gattung dieselben Formen und Gesetze des Bewusstseins besitzen und sich dieser im Gattungsbewusstsein bewusst sind. Das heißt, ohne ein Gattungsbewusstsein würde es keine Individualität des Menschen geben. Das führt dazu, dass auch das Gefühl als Bezeichnungstätigkeit im Modus der Individualität nicht ohne Gattungsbewusstsein zu denken ist. Somit muss jedes einzelne Selbstbewusstsein mit dem allgemeinen Ich-Bewusstsein – dem „Gedanken des Ich“ – zusammengehalten werden. Seitens des Gedankens heißt es dann: „Eben so wenn wir uns in allem Denken bewußt sind, der Inhalt und die Geseze desselben seien das eigenthümlich Menschliche, so ist dieses [sc. Bewusstsein] unmittelbar kein Gedanke, denn sonst müßten uns andere Geseze und ein anderer Inhalt des Bewußtseins im Gegensaz mit unserem gemeinschaftlichen [sc. Bewusstsein] wirklich gegeben sein, welches nicht ist; sondern es ist das alle Gewißheit alles Denkens begleitende Gefühl des Menschseins als einer bestimmten Einheit des Lebens.“ (ebd.) Das Bewusstsein von Inhalten und Gesetzen des Denkens, welche das „Humanum“ ausmachen, ist noch nicht der Gedanke oder das Gattungsbewusstsein bei Schleiermacher. Denn die Rede von einer „Gattung“ hat nur Sinn in Abgrenzung zu einer anderen Gattung. Aber es ist uns Menschen unmöglich, Gesetze und Inhalte des Denkens einer anderen Gattung zu haben. Somit muss man auf eine andere Weise festlegen, was es heißt, dass wir eine Gattung sind. Hier spielt das Gefühl eine entscheidende Rolle. Denn das Gefühl dient an dieser Stelle dazu, das Menschsein als eine in sich selbst bestimmte Einheit des Lebens auszudrücken. Hierbei ist in Bezug auf den Gedanken von einer anderen Einheit des Lebens die Rede, die eine Einheit des allgemeinen Menschseins bedeutet. Möglicherweise von dem kantischen Motiv einer alle Vorstellungen begleiten-

48 Vgl. PhE 1816/17, 587–588.

1 Die nähere Bestimmung des Gefühls

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den Einheitsbildung inspiriert unterstreicht Schleiermacher hier noch,49 dass das Gefühl des Menschseins als einer bestimmten Einheit des Lebens für alle Gedanken unentbehrlich ist. Es gilt demnach: Ebenso wie das Gefühl ohne Gedanke nicht vorkommt, so kann es auch keinen Gedanken ohne Gefühl geben. In Anschluss daran wird aufgezeigt, inwiefern der Gedanke und das Gefühl bzw. das Gattungsbewusstsein und das Selbstbewusstsein ineinander verwoben sind. So heißt es weiter: „Wenn also auf dem innersten Gebiet der Unübertragbarkeit der Gedanke das Gefühl, und in dem äußersten Umfang der Gemeinschaftlichkeit das Gefühl den Gedanken begleitet, so werden auch auf allen dazwischen liegenden beide nicht von einander lassen.“ (ebd.) An dieser Stelle spricht der Autor von „dem innersten Gebiet der Unübertragbarkeit“ und von „dem äußersten Umfang der Gemeinschaftlichkeit“. Diese beiden Pole entsprechen den in den vorherigen Abschnitten schon dargestellten Bezeichnungsgebieten: dem gemeinsamen Bezeichnungsgebiet im weitesten Sinne und dem individuellen und unübertragbaren Bezeichnungsgebiet im weitesten Sinne, oder wie der Leitsatz formuliert – dem Gesamtbewusstsein des menschlichen Geschlechts und dem einzelnen Selbstbewusstsein. Daraus ergibt sich folgender Sachverhalt: Selbst auf dem extremsten Pol des Bezeichnungsgebiets wird das entgegengesetzte Bezeichnungsgebiet nicht verschwinden, sondern es spielt immer eine unentbehrliche begleitende Rolle. Das Gesamtbewusstsein des menschlichen Geschlechts beruht also auf dem äußersten Umfang der Identität, wo der durch die Verständlichkeit und durch die Identität gekennzeichnete Gedanke die überwiegende Rolle spielt. Im Vergleich dazu hat das Gefühl hier nur eine begleitende Funktion. Hingegen befindet sich das individuelle Selbstbewusstsein auf dem innersten Gebiet der Individualität, wo das durch die Unübertragbarkeit und Verschiedenheit charakterisierte Gefühl die überwiegende Position besetzt, der Gedanke jedoch die begleitende. Diese überwiegende Position hat der Autor an einer anderen Stelle wie folgt charakterisiert: „[I]m Gefühl am meisten ist die Geschiedenheit“ (PhE 1816/17, 589). Damit verbunden sind zwei Gesichtspunkte zum Verhältnis von Identität und Differenz: Zunächst ist zu bemerken, dass Identität und Differenz überall bzw. auf allen zwischen beiden extremen Polen des Bezeichnungsgebiets liegenden Gebieten untrennbar bleiben. Dies hat seinen Grund darin: „[J]eder muß verglichen mit diesen beiden nur sein ein Abnehmen des Gefühl- und Zunehmen des Gedankengehaltes, oder umgekehrt“ (PhE 1816/17, 590). Das heißt, jeder einzelne Bewusstseinsmoment existiert nur zwischen den beiden Polen, entweder als überwiegendes Gefühl mit begleitenden Gedanken oder als überwiegender Gedanken mit begleitendem Gefühl. Sodann ist an dieser Stelle evident, dass es weder absolute Identität noch absolute Individualität gibt. Demzufolge

49 Zu den kantischen Gedanken einer alle Vorstellungen begleitenden Einheitsbildung vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781/1787), §16. Von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption, B131–136.

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sind beide gleichermaßen nur relativ, genauer gesagt korrelativ.50 Zusammenfassend stellt der Autor fest: „Die Forderung also, daß überall zusammen sein solle Einerleiheit und Verschiedenheit, ist für die symbolisirende Thätigkeit erfüllt durch das überall Zusammensein von Gedanken und Gefühl.“ (PhE 1816/17, 590–591) Bisher haben wir den Begriff des Selbstbewusstseins in dessen engem Zusammenhang mit dem Begriff des Gattungsbewusstseins näher betrachtet. Als Fazit lässt sich resümieren: Für Schleiermacher ist jedes einzelne Bewusstsein in der Realität ein Gemisch von Individualität und Identität, ein Gemisch von individuellem Selbstbewusstsein und allgemeinem Gattungsbewusstsein und ein Gemisch von Gefühl und Gedanke. Das Vervollkommnen der beiden Handlungsgebiete ist nur in ihrem entgegengesetzten Zusammensein möglich. Bis hierher ist zu ersehen, dass der Begriff des Selbstbewusstseins in Schleiermachers letzter Bearbeitung der Güterlehre von 1816/17 – im Vergleich zur Ethikvorlesung von 1812/13 – eine wichtigere Rolle in seiner Handlungstheorie spielt. Während der Begriff des Selbstbewusstseins in dieser früheren Vorlesung nur in die Diskussion über das individuelle Bezeichnungsgebiet eingeführt wurde, zeigt er sich in der letzten Bearbeitung der Güterlehre als unentbehrlich für seine Interpretation des Gefühls. Als Ergebnis unserer Untersuchung lässt sich feststellen: Schleiermacher ordnet das Selbstbewusstsein in seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre eindeutig dem Bezeichnungsgebiet unter dem Charakter der Individualität zu und bestimmt es zugleich als das individuellste und unübertragbarste Bezeichnungsgebiet. Daraus erklärt sich die für sein Religionsverständnis entscheidende These, dass das Selbstbewusstsein auf eine beschränkte Weise identisch mit dem Gefühl ist. Die Identifizierung des Gefühls mit dem Selbstbewusstsein ist beschränkt, weil das Gefühl sich nicht nur auf die sittliche, sondern auch auf die leibliche Ebene des menschlichen Lebens bezieht. Insofern ist der Bedeutungsumfang des Begriffs des Gefühls größer als der des Begriffs des Selbstbewusstseins. Auf Grund dessen, dass das Selbstbewusstsein nur durch den Leib vermittelt ist, zeigt sich die Unübertrag-

50 Diese Aufhebung der absoluten Identität und absoluten Individualität und die Betonung der Relativität hat Schleiermacher bereits in seinen Grundzügen der Güterlehre von 1814/16 in einem anderen Zusammenhang zum Ausdruck gebracht: „Jedes Denken geht nothwendig von einer Erregung aus und hat um deswillen Antheil an der Eigenthümlichkeit. Es giebt also keine absolute Einerleiheit des Denkens und also auch keine allgemeine Gemeinschaft desselben, sondern nur eine Mehrheit eigentümlichen Denkens. Ebenso aber müssen die Gemüthsbewegung auch gemeinschaftlich sein, weil es sonst auch keine Identität des organisirenden Prozesses geben könnte, indem jede Organbildung von einer Erregung ausgeht. Es giebt also auch keine absolute Eigenthtümlichkeit des Empfindens und also auch keine absolute Trennung und Verborgenheit, sondern nur besondere Eigenthümlichkeit unter gemeinschaftlicher.“ (PhE 1814/16, 450) Darauf folgt noch: „Die Identität also der Vernunft ist Ursache, daß die Eigenthümlichkeit sowohl im Bilden als im Symbolisiren nur relativ sein kann, und die Gemeinschaft zusammengefaßt; und die Besonderheit der Organisation ist Ursache, daß die Gemeinschaft in beiden nur relativ sein kann und durch Eigenthümlichkeit getrennt.“ (a. a. O., 450)

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barkeit des Selbstbewusstseins zwischen Subjekten für Schleiermacher an diesem Punkt auf höchstem Niveau. Trotz dieser höchsten Stufe der Unübertragbarkeit betrachtet der Autor eine absolute Unübertragbarkeit als unmöglich. Denn das Gattungsbewusstsein und das Selbstbewusstsein sind nicht zu trennen. Ebenso wie das Gattungsbewusstsein immer von dem Selbstbewusstsein begleitet werden muss, kommt das Selbstbewusstsein auch immer nur mit dem Gattungsbewusstsein vor. Schließlich ist hervorzuheben: Im Manuskript für die Ethikvorlesung von 1816/17 hat Schleiermacher dem Gefühl als Selbstbewusstsein den Charakter der Unmittelbarkeit zugeschrieben, um das Gefühl vom mittelbaren Gedanken abzugrenzen, aber von dem Gefühl als unmittelbarem Selbstbewusstsein ist bisher in seiner Philosophischen Ethik sowie in seinen anderen philosophischen Entwürfen noch nicht die Rede. Damit gehen wir nun zu seiner Interpretation des Gefühls als unmittelbares Selbstbewusstsein über. 1.3.2.3 Das Gefühl als unmittelbares Selbstbewusstsein Im Rahmen seiner Handlungstheorie der Philosophischen Ethik hat Schleiermacher seine Interpretation des Gefühls als Selbstbewusstsein später in seinem Leben wieder aufgegriffen und präzisiert. Diese abschließende Thematisierung ist in seinen im Jahr 1832 geschriebenen Bemerkungen zur Ethik, genau genommen in seinen Bemerkungen zur Güterlehre von 1812/13, zu sehen.51 In diesen Bemerkungen präzisiert der Autor seine Bestimmung des Gefühls als Selbstbewusstsein in der frühen Ethikvorlesung mit dem Ausdruck des unmittelbaren Selbstbewusstseins in einem weiteren Schritt. Der Hintergrund für diese Entwicklung ist, dass Schleiermacher zwischen seinem Manuskript für die Ethikvorlesung von 1816/17 und seinen Bemerkungen zur Güterlehre (1812/13) von 1832 eine sehr fruchtbare Zeit erlebt. Für den Berliner Professor für Theologie und Philosophie52 ist diese Phase ein neuer Höhepunkt seines wissenschaftlichen Lebens. Denn dazwischen hat er nicht nur seine philosophische Prinzipienlehre Dialektik mit neuen Vorlesungen weiterentwickelt und sein theologisches Hauptwerk Glaubenslehre (die erste Auflage, 1821/22; die zweite Auflage, 1830/31) niedergeschrieben, sondern auch über andere philosophische Disziplinen wie die philosophische Seelenlehre (Psychologie, ab 1818) und die philosophische Ästhetik (Ästhetik 1819/25) gelesen. Darüber hinaus hat Schleiermacher in dieser Phase als Mitglied und Sekretär der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zahlreiche akademische Vorträge gehalten.

51 Friedrich Schleiermacher: Bemerkungen zur Ethik (1832). Nach Schweizer, in: WA II, 627–672. Hierzu: Zu Güterlehre 1812/13, II. Teil, zu §§212–227, 647–648. 52 Schleiermacher war formell nicht Professor der Philosophie in Berlin, hatte aber durch seine Mitgliedschaft in der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften auch die Lehrbefugnis an der philosophischen Fakultät (vgl. Kurt Nowak: Schleiermacher [2001], 283).

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Im Rahmen der Philosophischen Ethik wird das Gefühl erst in seinen Bemerkungen zur Ethik von 1832 als unmittelbares Selbstbewusstsein bezeichnet. Aber die Gleichsetzung des Gefühls mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein hat Schleiermacher bereits um 1822 in seinem System in zwei unterschiedlichen Zusammenhängen eingeführt: Zum einen im Zusammenhang der religionstheoretischen Diskussion (in der ersten Auflage der Glaubenslehre, 1821/22) und zum anderen im Zusammenhang der philosophischen Diskussion (in der Vorlesung zur Dialektik von 1822). Bevor wir auf die Verdeutlichung des Gefühls als unmittelbares Selbstbewusstsein in seinen Bemerkungen zur Ethik (1832) eingehen, wollen wir zunächst einen kurzen Blick auf die Grundposition Schleiermachers für die Bestimmung des Gefühls in der Dialektik und in der ersten Auflage der Glaubenslehre von 1821/22 werfen. In der Dialektik, der philosophischen Prinzipienlehre Schleiermachers,53 gelten das Denken und das Wollen als zwei entgegengesetzte Grundfunktionen des Menschen: Das Denken ist begriffliche Abbildung, die sich durch Kombination der Begriffe bzw. durch das Urteil verwirklicht; das Wollen ist die Ausbildung von Intention. Die Entgegensetzung von Denken und Wollen ist nicht absolut, denn es gibt eine relative Identität von beiden. In der relativen Identität von Denken und Wollen liegt Schleiermacher zufolge der transzendentale Grund, der das Gefühl konstituiert. Diesen Grundgedanken seiner Dialektik hat Schleiermacher bereits in seiner Vorlesung von 1814/15 vorgelegt.54 In seiner Vorlesung zur Dialektik von 1822 – im Zuge der abschließenden Arbeit an der ersten Auflage seiner Glaubenslehre (1821/22) – wird dieser Grundgedanke präziser dargestellt.55 In der Einleitung der Glaubenslehre, im Rahmen seiner Bestimmung der Frömmigkeit als „eine Neigung und Bestimmtheit des Gefühls“56, stellt Schleiermacher zum ersten Mal in seinem System das Gefühl mit dem unmittelbare Selbstbewusstsein gleich: „Unter Gefühl verstehe ich das unmittelbare Selbstbewußtsein“.57 Inwiefern das Gefühl mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein gleichgeltend sein soll, wird hier in der ersten Auflage der Glaubenslehre nicht geklärt. Das hat Schleiermacher in der im Sommersemester 1822 gehaltenen Vorlesung zur Dialektik unternommen.

53 Zu der reichhaltigen Forschungsliteratur zu Schleiermachers Dialektik vgl. oben: 266, Fußnote 5. 54 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Vorlesung über die Dialektik. Ausarbeitung zum Kolleg 1822, 142. Hier zitiert nach der Paginierung in der KGA II/10.1. 55 „Im Zuge der abschließenden Arbeit an seiner Glaubenslehre, an der er seit 1818 schrieb und die 1821/22 in zwei Bänden erschien, las Schleiermacher im Sommer 1822 vor 118 Hörern fünfmal wöchentlich von 6–7 morgens über Dialektik.“ – so beschreibt Andreas Arndt den Zusammenhang von der ersten Auflage der Glaubenslehre (1821/22) und der Vorlesung über Dialektik von 1822 (ders.: Historische Einführung [2002], in: KGA II/10.1, XXXV). 56 Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), KGA I/7.1–2, §8, 26. Hier zitiert nach der Paginierung in der KGA. 57 A. a. O., Anm.

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Vor dem Hintergrund seiner bisherigen Vorlesungen zur Dialektik macht Schleiermacher seinen Grundgedanken über die Identität von Denken und Wollen im Gefühl in seiner Vorlesung zur Dialektik von 1822 deutlich. In dieser Vorlesung präzisiert unser Autor die relative Identität des Denkens und Wollens als Übergang des Denkens zum Wollen bzw. umgekehrt: „Der Uebergang ist das aufhörende Denken und das anfangende Wollen und dieses muß identisch sein.“58 Im Wendepunkt dieses Übergangs gelangt unser Sein zu einem „Nullpunkt“,59 wobei unser Sein sich in der „Indifferenz beider Formen [sc. Denken und Wollen]“60 befindet. In diesem Zusammenhang versteht Schleiermacher „unser Sein“ in dieser Indifferenz von Denken und Wollen als unmittelbares Selbstbewusstsein. Und wohl unter Anlehnung an die kurz zuvor erschienene Glaubenslehre stellt Schleiermacher hier fest: „das unmittelbare Selbstbewusstsein = Gefühl“.61 Während die Gleichsetzung des Gefühls mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein in der ersten Auflage der Glaubenslehre nicht geklärt wird, wird sie in der Vorlesung zur Dialektik von 1822 konkretisiert. Schleiermacher dient die Gleichsetzung des Gefühls mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein dazu, das Missverständnis hinsichtlich des Begriffs „Gefühl“ zu vermeiden. Sie richtet sich erstens gegen die Verwechslung des Gefühls mit dem reflektierten und vermittelten Selbstbewusstsein. Dieses ist das Ich, welches die Allgemeinheit des Subjekts vertritt. Die Gleichsetzung des Gefühls mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein richtet sich zweitens gegen die Verwechslung des Gefühls mit der Empfindung. Die Empfindung ist nur das durch Affektion verursachte persönliche Bestimmtsein in unterschiedlichen Momenten. In der Empfindung ist weder das Denken noch das Wollen zu finden, so kann hier überhaupt nicht von der Identität beider die Rede sein. Im Gegensatz dazu sind wir im Gefühl gleichzeitig denkend und wollend – „die Einheit des denkend wollenden und wollend denkenden Seins irgendwie“,62 und das Denkende und das Wollende sind dabei zudem „gleichviel Wie“.63 Darin haben wir im Gefühl eine Analogie mit dem transzendentalen Grund.64 Die Gleichsetzung des Gefühls mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein, die in der ersten Auflage der Glaubenslehre zum ersten Mal im System Schleiermachers vorkommt und dann in der kurz darauf gehaltenen Vorlesung zur Dialektik näher geklärt wird, bleibt bis zu seinem Tod die Grundposition für seine weitere philoso-

58 Friedrich Schleiermacher: Vorlesung über die Dialektik. Ausarbeitung zum Kolleg 1822, 266. 59 Ebd. Hier operiert Schleiermacher offenbar mit mathematischen Metaphern. Im Wendepunkt einer mathematischen Kurve ist die erste Abteilung Null. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Zur Analogie mit dem transzendentalen Grund im Gefühl vgl. Peter Grove: Deutung des Subjekts (2004), 500–513.

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phische und religionstheoretische Thematisierung des Begriffs des Gefühls. Diese Grundposition gilt damit in der zweiten Auflage der Glaubenslehre von 1830/31 auch als Ausgangspunkt für seine nähere Bestimmung der Frömmigkeit als eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewusstseins (§3) und für seine Interpretation des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls (§4 und §5).65 All dies spricht dafür, dass unser Autor es vor dem entwickelten Hintergrund als erforderlich sieht, seine bisherige Interpretation des Gefühls als Selbstbewusstsein in der Philosophischen Ethik zu überarbeiten, um sein Verständnis des Gefühls zu verdeutlichen. Wir haben bisher die Einführung des Begriffs des Selbstbewusstseins in seiner Ethikvorlesung von 1812/13 skizzenhaft dargestellt und sind der Konstatierung des Gefühls als Selbstbewusstsein in der Ethikvorlesung von 1816/17 nachgegangen. Schleiermachers Begriff des unmittelbaren Selbstbewusstseins in der Dialektik und in den beiden Auflagen der Glaubenslehre wollen wir hier nicht näher in den Blick nehmen, weil sich bereits zahlreiche hervorragende Studien diesem Begriff in beiden Schriften widmen.66 Stattdessen wird hier auf seine abschließende Plausibilisierung der Bestimmung des Gefühls als unmittelbares Selbstbewusstsein in Rahmen der Handlungstheorie in den Bemerkungen zur Ethik (1832) eingegangen. Damit wollen wir herausfinden, welchen neuen Akzent Schleiermacher in sein bisheriges Verständnis des Gefühls als Selbstbewusstsein in der Philosophischen Ethik bringt. Um seine Darstellung der erkennenden Funktion der Vernunft unter dem Charakter der Individualität in der Güterlehre von 1812/1367 zu präzisieren, setzt Schleiermacher das Gefühl in seinen Bemerkungen zur Ethik mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein gleich. Seine These lautet: „Die bezeichnende Thätigkeit unter diesem Charakter fassen wir zusammen unter dem Namen des Gefühls oder unmittelbaren Selbstbewußtseins.“ (Bemerkungen 1832, 647) Diese Entwicklung seiner Interpretation zeigt sich bereits in der präzisierten Begrifflichkeit. Durch die Parallelstellung des Gefühls mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein macht der Autor hier deutlich, dass beide Begriffe in Bezug auf die Bezeichnungstätigkeit im Modus der Individualität synonym gelten. Aber er hebt zugleich hervor, dass der Ausdruck „das unmittelbare Selbstbewusstsein“ „Vorzüge“ (ebd.) hat. Für den Vorzug des Begriffs des unmittelbaren Selbstbewusstseins in diesem Zusammenhang gibt Schleiermacher zwei Gründe an. Der erste Grund besteht darin, dass „viele dem erstern nur eine niedere Region anweisen“ (ebd.). Damit verbunden ist die grundlegende Einsicht des Autors, dass das Gefühl als Ausdruck sich nicht nur auf die sittliche Ebene, sondern auch auf die leibliche bezieht. So kann der Begriff „Gefühl“ allein

65 Vgl. CG², §3, 19–32; §4, 32–40; §5, 40–53. 66 Zuletzt hat Peter Grove den Begriff des Gefühls und des Selbstbewusstseins in beiden Schriften Schleiermachers gründlich studiert (ders.: Deutung des Subjekts [2004], 397–430). 67 Vgl. PhE 1812/13, §§212–227, 311–314.

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zu dem Missverständnis führen, dass die individuelle Bezeichnungstätigkeit eine sinnliche Tätigkeit ist. So nimmt es nicht wunder, dass der Autor mit dem Begriff des Selbstbewusstseins das Gefühl als individuelle Bezeichnungstätigkeit von der niederen Region des Gefühls, nämlich vom sinnlichen Gefühl, abgrenzen möchte. Der zweite Grund betrifft die Unmittelbarkeit des Gefühls. Denn „allein Selbstbewußtsein kann man nicht gebrauchen, ohne jenen Beisaz wegen des reflectirten Selbstbewußstseins, welches unter den vorigen Titel gehört“ (ebd.). An dieser Stelle macht Schleiermacher deutlich, worauf er bereits in der Vorlesung zur Dialektik von 1822 deutlich hingewiesen hat, dass der Begriff des Selbstbewusstseins allein zwei Bedeutungen impliziert: einmal das unmittelbare Selbstbewusstsein, das dem individuellen Bezeichnungsgebiet bzw. dem Bereich des Gefühls gehört; dann das reflektierte Selbstbewusstsein, das sich im Medium des Gedankens ausdrückt. Die Verwendung des Begriffs des unmittelbaren Selbstbewusstseins richtet sich daraufhin nicht nur gegen die Verwechslung des Gefühls mit dem sinnlichen Gefühl, sondern auch gegen die Verwechslung des Gefühls als Selbstbewusstsein mit dem reflektierten Selbstbewusstsein bzw. mit der Ich-Vorstellung. Nachdem Schleiermacher die Bezeichnung des Gefühls als unmittelbares Selbstbewusstsein in Abgrenzung vom leiblichen Gefühl und vom reflektierten Selbstbewusstsein aufgeklärt hat, fokussiert er sodann seine Darstellung in den Bemerkungen zur Ethik darauf, die Bedeutung des Gefühls als unmittelbares Selbstbewusstsein zu konkretisieren. Die Ausgangsthese des Autors lautet wie folgt: „Es [sc. Das unmittelbare Selbstbewusstsein] ist das Sichwiewissen in verschiedenen Momenten verschieden und doch stetig denselben.“ (ebd.) Durch den Ausdruck „Sichwiewissen“ – das Sich-irgendwie-wissen – stellt Schleiermacher zuerst erneut heraus, dass das unmittelbare Selbstbewusstsein eine Selbstbeziehung ist, weil es sich als eine bezeichnende Vernunfttätigkeit auf den Handelnden selbst richtet. Durch „wie“ bzw. irgendwie wird die individuelle Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins angedeutet. Sodann ist in dieser Behauptung deutlich, dass das unmittelbare Selbstbewusstsein als Sich-irgendwie-Wissen durch zwei Faktoren zu bestimmen ist: Einerseits ist es „in verschiedenen Momenten verschieden“, also wechselnd, einen Zustand widerspiegelnd und mannigfaltig. Auf der anderen Seite bleibt es trotz dieser zeitlichen Verschiedenheit konstant („stetig denselben“). Schleiermacher betrachtet den ersten Faktor des unmittelbaren Selbstbewusstseins in einer „mathematischen“ und den zweiten in einer „transzendenten“ Perspektive. Zur Verdeutlichung des Begriffs des unmittelbaren Selbstbewusstseins soll an dieser Stelle daher an seine Idee des Mathematischen und des Transzendenten in der Philosophischen Ethik erinnert werden. Vor dem Hintergrund seiner Beschäftigung mit der Grundlegung der Erkenntnistheorie in der Dialektik hat Schleiermacher die Diskussion über „das Mathematische“ und „das Transzendente“ schon in der Güterlehre von 1812/13 eingeführt. Für ihn gelten das Mathematische und das Transzendente als zwei basale Aspekte des wirklichen Erkennens. Das Mathematische beschreibt er so: „Dasjenige in dem wirklichen Erkennen, was sich bezieht auf

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die absolute Mannigfaltigkeit als terminus a quo, und was also die bloße Quantität darin darstellt, ist das Mathematische.“ (PhE 1812/13, 295, §123) In der Gegenüberstellung bestimmt er das Transzendente wie folgt: „Dasjenige in dem wirklichen Erkennen, was sich bezieht auf die absolute Einheit, und also die höchste Form im Wissen ist, ist das Transcendentale darin.“ (PhE 1812/13, 295, §124)68 Daher geht es in dem Mathematischen um den Aspekt der absoluten Mannigfaltigkeit des wirklichen Erkennens und somit um eine quantitative Darstellung dessen. Das Transzendente betrifft den Aspekt der absoluten Einheit und gilt als höchstes Wissen.69 In seinen Bemerkungen zur Ethik (1832) präzisiert Schleiermacher jenes als „unendlich theilbare Mannigfaltigkeit“, dieses als „untheilbare Einheit“ und „Gesamtheit“.70 Außerdem wird noch herausgestellt, dass das Mathematische sowohl für die zeitliche Dimension als auch für die räumliche gilt.71 Schleiermacher zufolge sind diese basalen Aspekte des wirklichen Erkennens „umschließend und selbst unbegrenzbar“ (PhE 1812/13, 297, §132) und für die Sittlichkeit der erkennenden Vernunfttätigkeit sind beide unentbehrlich, denn „[a]lle symbolisirende Thätigkeit gehört als nur sofern in den sittlichen Verlauf, als sie Transcendentes in sich enthält und Mathematisches“ (Bemerkungen 1832, 645). Nun setzen wir unsere obige Darstellung fort und sehen uns genauer an, wie Schleiermacher unter Anlehnung an die Differenzierung von Mathematischem und Transzendentem in dem wirklichen Erkennen den Begriff des unmittelbaren Selbstbewusstseins präzisiert. Wir kommen zunächst zu der mathematischen Seite. „Daher ist das Mathematische hier nicht in den drei räumlichen Dimensionen, sondern nur in der zeitlichen des allgemeinen Bewußtseins von der Veränderlichkeit des Ich als viel oder wenig Leben und als Steigen und Fallen, gleichsam unter der Form einer Scala.“ (Bemerkungen 1832, 647) Zu dieser Aussage ist vorerst zu bemerken, dass der Autor das Mathematische in Bezug auf die Bestimmung des unmittelbaren Selbstbewusstseins nur auf die zeitliche Ebene beschränkt. Die Veränderlichkeit bezieht sich hier somit auf den zeitlichen Wechsel der inneren Zustände des Ichs. Somit betrifft das Mathematische hierbei die Mannigfaltigkeit dieses Selbstbewusstseins in einer wechselnden geschichtlichen Dimension bzw. seine Zuständlichkeit und Veränderlichkeit in der Zeit. Darauf folgt: „Diese allgemeine, aber immer nur begleitende Veränderlichkeit des Bewußtseins constituirt erst das bestimmte menschliche Selbstbewußtsein, weil es discrete Momente möglich macht und sie

68 Vgl. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 2)(1966), 564. 69 Zum höchsten Wissen siehe PhE 1816, Einleitung 491–493; PhE 1816/17, Einleitung der Güterlehre, 517–521. 70 Bemerkungen 1832, 645. 71 Hierzu: „Aber eben so muß er auch sich enthalten das sein, wie es sich erst durch sein Eintreten ins bestimmte Bewußtsein gestalten soll, also vor dieser Gestaltung d. h. als die unendlich theilbare Mannigfaltigkeit, in der sich das Wahrnehmbare und Behandelbare bewegt, d. h. Raum und Zeit, und dieses Element nennen wir das Mathmatische.“ (ebd.)

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auch verknüpft. Es ist aber auch nach Maaßgabe seiner Stärke der Grund des bestimmten Maaßes in allen einzelnen Momenten.“ (Bemerkungen 1832, 647–648) Daraus ergibt sich, dass die Veränderlichkeit des Bewusstseins das individuelle Selbstbewusstsein konstituiert, denn jene macht nicht nur die unterschiedlichen Zustandsmomente aus, sondern verbindet sie auch. Dazu stellt der Autor durch den Ausdruck „allgemeine“ heraus, dass die Zuständlichkeit des Bewusstseins für jedes individuelle Selbstbewusstsein gilt. Mit dem kantischen Begriff „begleitende“ zeigt er, dass diese Zuständlichkeit sich stetig im einzelnen Selbstbewusstsein findet, aber durch „immer nur“ wird zugleich darauf hingewiesen, dass diese Zuständlichkeit als begleitende nicht die überwiegende und führende (bedingende) Rolle einnimmt. Dieses einzelne Veränderlichkeitsbewusstsein kann als Zuständlichkeitsgefühl bezeichnet werden. Die transzendente Seite bringt Schleiermacher sodann folgendermaßen zum Ausdruck: „Das Transcendente kann nun nicht die absolute Einheit objectiv enthalten als Ding, sondern dadurch, daß das Ich sich als Gesondertes und Entgegengeseztes, mithin als solches als gehalten findet unter einem andern. Dies ist nun das auch begleitende und nicht für sich allein einen Moment erfüllende Abhängigkeitsbewußtsein.“ (Bemerkungen 1832, 648) Der Befund, dass das Transzendente die absolute Einheit objektiv nicht als Ding enthalten kann, geht aus von einer grundlegenden These Schleiermachers, dass das höchste Sein für uns weder als Ding noch als Tätigkeit vorhanden ist.72 Dem Zitat zufolge kann die transzendente Seite des unmittelbaren Selbstbewusstseins die absolute Einheit dadurch enthalten, dass das Ich als ein Individueller und als ein dem anderen Gegenüberstehender sich „als solches als gehalten findet“, d. h. dass das Ich sich von einem Anderen abhängig findet. Schleiermacher bezeichnet diese von einem anderen abhängige Seite in jedem einzelnen Selbstbewusstsein als „Abhängigkeitsbewusstsein“. An dieser Stelle ist bemerkenswert, dass die Abhängigkeit für Schleiermacher auch eine Bestimmtheit ist. Parallel zum Zuständlichkeitsgefühl kann dieses „Abhängigkeitsgefühl“ genannt werden. Aus der Formulierung „sich als gehalten findet“ erklärt sich, dass diese transzendente Seite die Passivitätsdimension im unmittelbaren Selbstbewusstsein betrifft. Das „begleitende“ bedeutet, dass diese Abhängigkeitsdimension in jedem einzelnen Selbstbewusstsein stets vorhanden ist. Durch die Beschreibung „nicht für sich allein einen Moment erfüllende“ leuchtet ein, dass das Abhängig-

72 Diese Einsicht erläutert Schleiermacher vor allem in der Einleitung der Güterlehre von 1816/17 und daher werden wir sie hier nicht thematisieren. Hierzu PhE 1816/17, 527–528, §32: „Daher ist auch das höchste Sein für uns nicht als Ding oder als Thätigkeit vorhanden. 1. Ding entspricht dem Begriff, Thätigkeit entspricht dem Saz; denn wie der Saz Begriffe voraussezt, und der Begriff nur aus einer Reihe von Säzen entsteht, so sezt auch Thätigkeit als Verhalten der Dinge die Dinge voraus, und jedes Ding ist nur als ein aus Thätigkeiten Entsprungenes gegeben. 2. Als Thätigkeit allein müßte es in einem andern sein und käme diesem zu, wäre also nicht das höchste. Als Ding wäre es dasselbe mit andern Dingen und müßte von ihnen leiden.“

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keitsbewusstsein nur eine Seite, aber eine konstituierte Seite des Selbstbewusstseins ist. Bisher hat Schleiermacher die beiden Elemente des unmittelbaren Selbstbewusstseins – das Mathematische und das Transzendente – jeweils aufgeklärt. Anschließend daran fasst er die beiden folgendermaßen zusammen: „Diese beiden also, das einzelne Veränderlichkeitsbewußtsein und das absolute Abhängigkeitsbewußtsein, sind die das einzelne Leben umfassenden Elemente des Selbstbewußtseins, jenes die bestimmte Wirklichkeit, dieses die bestimmte Intellektualität desselben bedingend. Die allgemeinen und die einzelnen Positionen sind die durch jene beiden bedingten realen Momente.“ (ebd.) In dieser Schlussthese stellt der Autor fest, dass jedes Gefühl als unmittelbares Selbstbewusstsein durch das einzelne Veränderlichkeitsbewusstsein und das absolute Abhängigkeitsbewusstsein strukturiert ist. Die Veränderlichkeit des Bewusstseins setzt die wechselnde Zuständlichkeit („die bestimmte Wirklichkeit“) in dem individuellen Selbstbewusstsein voraus und zeigt die empirische Seite des Gefühls; die absolute Abhängigkeit garantiert die bestimmte konstante Einheit in demselben und zeigt die intellektuelle Seite des Gefühls.73 Fragt man an dieser Stelle, wieso der Autor die beiden Elemente im Kontrast nebeneinander stehen lässt, so legen sich aus dem gerade Dargestellten drei Gesichtspunkte nahe. Zunächst ist zu erkennen, dass das Veränderlichkeitsbewusstsein als ein empirisch-psychologischer Realitätsbezug für das absolute Abhängigkeitsbewusstsein fungiert. Das Zuständlichkeitsbewusstsein ist das absolute Abhängigkeitsbewusstsein in geschichtlicher Sonderheit und Mannigfaltigkeit. Sodann wird mit Rückbezug auf die Bestimmung des Transzendenten offenbar, dass die Einheit des einzelnen Selbstbewusstseins sich in dem absoluten Abhängigkeitsbewusstsein befindet. Denn dieses Element fungiert als eine Konstanzbedingung auf der Ebene des Gefühls. So kann gesagt werden, dass das absolute Abhängigkeitsgefühl das empirische Zuständlichkeitsgefühl begleitet. Eng nun mit diesen beiden Punkten hängt ein dritter Gesichtspunkt zusammen: Beinhaltet das Gefühl jene beiden Elemente, so ist das Gefühl als individuelles unmittelbares Selbstbewusstsein nicht nur der Ort des Innewerdens der wechselnden Zustände des Subjekts, sondern hat zugleich eine den Zusammenhang stiftende Funktion in Bezug auf die wechselnden Zustände.74

73 An dieser Stelle ist an seinen bereits in einer Beilage zu seiner Theologischen Ethik (Die christliche Sitte [1809]) geäußerten Gedanken zu erinnern, dass das Gefühl auf zwei Stufen wie folgend verstanden werden soll: Das niedere Gefühl bezieht sich auf das sinnliche Dasein des Menschen; das höhere Gefühl auf das intellektuelle Dasein des Menschen. Vgl. oben: Kapitel 3. 2. Der ethische Religionsbegriff in einem erkenntnistheoretischen Kontext, 255–256. 74 Hierzu Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 2)(1966), 315: „Es sind die zwei Seiten unseres Selbstbewußtseins, daß wir uns veränderlich, bestimmt in einem konkreten, durch das Lebensgefühl ausgedrückten Zustande, und daß wir uns in demselben von einer absoluten Einheit abhängig finden.“

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Vor dem entwickelten Hintergrund seiner Beschäftigung mit der Dialektik und mit den beiden Auflagen der Glaubenslehre hat Schleiermacher seine Interpretation des Gefühls als Selbstbewusstsein in seiner Philosophischen Ethik von 1812–1817 mit den Bemerkungen zur Ethik von 1832 abschließend präzisiert. Aus dem gerade Dargestellten lässt sich seine letzte nähere Betrachtung durch drei Merkmale charakterisieren: Das erste Merkmal besteht darin, dass die Verwendung des Begriffs des unmittelbaren Selbstbewusstseins sich nicht nur gegen die Reduzierung des Gefühls auf das sinnliche Gefühl richtet, sondern auch gegen die Verwechslung des Gefühls als Selbstbewusstsein mit dem reflektieren Selbstbewusstsein, d. h. mit der Ich-Vorstellung. Bei dem zweiten Merkmal geht es darum, dass der Autor das unmittelbare Selbstbewusstsein durch zwei miteinander eng verbundene Faktoren plausibilisiert: das Mathematische und das Transzendente. Jenes bezieht sich auf die Wechselhaftigkeit, Zuständlichkeit und Mannigfaltigkeit des unmittelbaren Selbstbewusstseins, dieses betrifft dessen konstante Dimension und verweist auf die absolute Einheit. Damit ist das dritte Merkmal direkt verbunden: Das Gefühl als unmittelbares Selbstbewusstsein ist durch das einzelne Veränderlichkeitsbewusstsein und das absolute Abhängigkeitsbewusstsein gleichermaßen strukturiert. 1.3.3 Das Gefühl im Verhältnis der Offenbarung Wie in unserer Untersuchung zur bezeichnenden Tätigkeit in der Philosophischen Ethik seiner Reifezeit (vor allem von 1816/17) herausgearbeitet, ist Schleiermacher zufolge nicht nur die individuelle Bezeichnungstätigkeit, sondern ebenso das Produkt dieser Bezeichnungstätigkeit unübertragbar. Im Zuge seiner darauffolgenden Präzisierung des Gefühlsbegriffs spricht der Autor deshalb ausdrücklich von der Unübertragbarkeit des Gefühls – „auch an derselben Stelle und unter denselben Umständen kein anderer eben so fühlen würde“ (PhE 1816/17, 589). Aus dieser immer wieder hervorgehobenen Unübertragbarkeit des individuellen Bezeichnungsgebiets stellen sich nun die für unsere Studie zum Begriff des Gefühs in seiner Philosophischen Ethik entscheidenden Fragen: Wie kann der unübertragbare Ausdruck äußerlich bzw. mitteilbar werden? Wie sind die Einzelnen in dem individuellen Bezeichnungsgebiet bzw. in der Verschiedenheit ihres Gefühls untereinander verbunden? Oder anders gesagt: Wie kommunizieren die Menschen in dem unübertragbaren individuellen Bezeichnungsgebiet miteinander? Bereits im Brouillon zur Ethik, wo das Gefühl im Aufriss der Handlungstheorie dem individuellen Erkennen zugeordnet wird, hat Schleiermacher versucht, dieses Dilemma zu lösen, indem er, ausgehend von der doppelten Geistestätigkeit von Erkennen und Darstellen, die Mitteilung des unübertragbaren Gefühls durch das Verhältnis von individuellem Erkennen und dessen Darstellung beschreibt. Das Gefühl kann durch seine Darstellung – sein Äußerlichwerden – das Ähnliche in den anderen Menschen erregen. Dadurch gewinnt das Individuum im unübertragbaren Gefühl ein Verhältnis zu der Welt außerhalb der seinigen oder einen Zugang zu der

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äußeren Welt. Im Kontext dieser Beschreibung bringt Schleiermacher Kunst als einen wichtigen Begriff für die individuelle Bezeichnungstätigkeit ins Spiel. Kunst wird hierbei als „System solcher Darstellung der Individualität“ (Brouillon 182) bezeichnet. Insofern ist das Verhältnis von Gefühl und Darstellung als Korrelation zwischen Gefühl und Kunst zu beschreiben. Aber das Verhältnis von Gefühl und Darstellung sowie von Gefühl und Kunst wurde im Brouillon zur Ethik nicht ausgeführt. In der Philosophischen Ethik seiner Berliner Reifezeit vor allem in seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre von 1816/17 führt Schleiermacher einen philosophischen Begriff der Offenbarung, die als Verhältnis der Einzelnen untereinander in der Handlungssphäre des individuellen Symbolisierens betrachtet wird, in die Diskussion dieser Problematik ein und vertieft sein Verständnis des Gefühls in einer kommunikationstheoretischen Dimension. Erst unter Anlehnung an den Begriff der Offenbarung lässt sich seine schon im Brouillon zur Ethik zum Thema gemachte Verhältnisbestimmung von Gefühl und Darstellung und von Gefühl und Kunst vertiefen und ausführen. Im Anschluss daran werden seine religionstheoretischen Gedanken in der Philosophischen Ethik ausgeführt. Aus diesem Grund ist es erforderlich, den Begriff der Offenbarung im Rahmen einer näheren Bestimmung des Gefühls zu untersuchen. Der Begriff der Offenbarung wird in seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre als das Verhältnis der Einzelnen untereinander in die Handlungstheorie eingeführt. Der Hintergrund ist, dass die vier Elementarsphären menschlicher Handlung in dieser Ethikvorlesung auch mithilfe der Perspektive der gemäß der je unterschiedlichen Handlungsweisen zu unterscheidenden Beziehungen der einzelnen Menschen untereinander näher geklärt werden.75 In der Handlungssphäre des identischen Organisierens, zu der Staat, Politik und Wirtschaft gehören, ist das Verhältnis der Einzelnen durch das Verhältnis des Rechts zu charakterisieren, weil die Einzelnen auf diesem Gebiet durch den Austausch von Gütern und durch den „Verkehr“ miteinander verbunden sind.76 Dementsprechend ist das Verhältnis der Einzelnen untereinander in der Handlungssphäre des identischen Symbolisierens, in der sich Sprache und Wissen befinden, durch das Verhältnis des Glaubens zu bestimmen.77 Das Ver-

75 Vgl. PhE 1816/17, 591–599, §§55–62. Dazu vgl. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 2) (1966), 301–303. 76 PhE 1816/17, 591, §55: „Das sittliche Zusammensein der Einzelwesen im Verkehr ist das Verhältnis des Rechtes oder das gegenseitige Bedingtsein von Erwerbung und Gemeinschaft durch einander“. Mehr dazu vgl. PhE 1816/17, 591–592. 77 PhE 1816/17, 592, §57: „Das Verhältniß der Einzelnen untereinander in der Gemeinschaft des ausgesprochenen Denkens ist das des Glaubens oder die gegenseitige Abhängigkeit des Lehrens und Lernens von dem Gemeinbesiz der Sprache und umgekehrt des Gemeinbesizes der Sprache vom Lehren und Lernen“. Mehr dazu vgl. PhE 1816/17, 592–594.

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hältnis des „Glaubens“ beruht auf der durch Aussprechen und Nachbilden oder durch Lehren und Lernen der Sprache strukturierten gegenseitigen Verständigung. In der Handlungssphäre des individuellen Organisierens, die sich als Haus- oder Gastfreundschaft in der Privatsphäre der Menschen darstellt, ist das Verhältnis der Einzelnen durch das Verhältnis der Geselligkeit gekennzeichnet.78 Der Geselligkeit liegt die durch Unübertragbarkeit der Individuen bedingte Zusammengehörigkeit zugrunde. Damit direkt verbunden bezeichnet Schleiermacher das Verhältnis der Einzelnen untereinander in der Handlungssphäre des individuellen Symbolisierens bzw. des Gefühls, wozu Religion und Kunst gehören, als das Verhältnis der Offenbarung.79 Aus dieser kurzen Darstellung ergibt sich, dass das Verhältnis der Menschen untereinander Schleiermacher zufolge in unterschiedlichen Handlungsgebieten gleichsam als unterschiedlich erscheint: im öffentlichen Bereich als Verhältnis des Rechts und als Verhältnis des Glaubens, im privaten Bereich als Verhältnis der Geselligkeit und als Verhältnis der Offenbarung. Den Begriff des Gefühls in Schleiermachers Philosophischer Ethik haben wir bereits in einer erkenntnistheoretischen Dimension als individuelles Erkennen, in einer ausdruckstheoretischen Dimension als Expression der inneren Zustände und in einer subjektivitätstheoretischen Dimension als unmittelbares Selbstbewusstsein näher bestimmt. Nun wollen wir diesen Begriff aus einer weiteren Perspektive, nämlich in einer kommunikationstheoretischen Dimension, näher betrachten. Dazu ziehen wir den Kontext der unterschiedlichen menschlichen Beziehungen, den er in der Handlungstheorie beschrieben hat, heran. Insbesondere ist dabei auf die Ausführung des Offenbarungsverhältnisses in dessen notwendigem Zusammenhang mit dem Verhältnis der Geselligkeit einzugehen, um das Gefühl im Offenbarungsverhältnis genauer zu erklären. Damit verbunden ist nicht nur die grundlegende Frage, in welchem Sinne der Autor hier den Begriff der Offenbarung verwendet, sondern zugleich auch die für die Verhältnisbestimmung von Gefühl und Religion entscheidende Frage, wieso und inwiefern das Gefühl nur im Offenbarungsverhältnis vernommen werden kann. Schleiermacher bestimmt das Verhältnis der Einzelnen in der Handlungssphäre individuellen Symbolisierens als Offenbarungsverhältnis mit dem folgenden Leitsatz: „Das Verhältniß der Einzelnen unter einander in der Geschiedenheit ihres Gefühls ist das der Offenbarung oder das gegenseitige Bedingtsein der Unübertragbarkeit und der Zusammengehörigkeit des Gefühls.“ (PhE 1816/17, 596, §61) Dieser Leitsatz impliziert vorerst zwei Grundgedanken Schleiermachers zu der Beziehung

78 PhE 1816/17, 594, §59: „Das sittliche Verhältnis der Einzelnen unter einander in der Abgeschlossenheit ihres Eigenthums ist das der Geselligkeit, oder das gegenseitige Bedingtsein der Unübertragbarkeit und der Zusammengehörigkeit durch einander“. Mehr dazu vgl. PhE 1816/17, 594–596. 79 PhE 1816/17, 596, §61: „Das Verhältniß der Einzelnen unter einander in der Geschiedenheit ihres Gefühls ist das der Offenbarung oder das gegenseitige Bedingtsein der Unübertragbarkeit und der Zusammengehörigkeit des Gefühls“. Mehr dazu vgl. PhE 1816/17, 596–599.

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der einzelnen Menschen in der Handlungssphäre individuellen Symbolisierens bzw. des Gefühls: 1. Das Verhältnis der Einzelnen im Gebiet des Gefühls ist das Offenbarungsverhältnis; 2. Dieses Offenbarungsverhältnis ist durch zwei dem Gefühl wesentlich zugehörige Eigenschaften, nämlich durch die Unübertragbarkeit und die Zusammengehörigkeit des Gefühls, charakterisiert. Schleiermacher beginnt seine Explikation des Offenbarungsverhältnisses, indem er dessen engen Zusammenhang mit dem Geselligkeitsbegriff folgendermaßen zum Ausdruck bringt: „Der lezten Erklärung nach80 ist auch dieses Verhältnisses Wesen Geselligkeit, und es könnte unter demselben Namen mit dem vorigen zusammengefaßt werden, wie auch die gemeine Sprache es in vielen Fällen nur eben so bezeichnet.“ (PhE 1816/17, 597) Hierbei betrachtet der Autor die Geselligkeit, die das Verhältnis der Einzelnen in der Handlungssphäre des individuellen Organisierens charakterisiert, als Rahmen für das Offenbarungsverhältnis. Diese enge Verbundenheit zwischen dem Offenbarungsbegriff und dem Geselligkeitsbegriff gründet sich auf den in seiner Handlungstheorie schon mehrmals unterstrichenen Sachverhalt, dass die bezeichnende Tätigkeit und die organisierende Tätigkeit im sittlichen Sein überall ineinander vereint sind. Dieser Sachverhalt geht, wie schon zuvor herausgearbeitet, davon aus, dass die beiden grundlegenden Handlungsweisen jeweils als Vereinigung von Vernunft und Natur eigentlich dasselbe und nur innerhalb der Struktur der Vernunfttätigkeit unterschiedlich zu verstehen sind. Insofern steht Schleiermachers Interpretation des Offenbarungsverhältnisses als Beziehung der Einzelnen in dem privaten Bereich der bezeichnenden Tätigkeit unter der Voraussetzung seines Geselligkeitsbegriffs. Aus diesem Grund ist eine genauere Betrachtung seines Verständnisses der Geselligkeit in seinen Berliner Ethikvorlesungen angebracht (1.3.3.1), bevor wir auf das Verhältnis der Offenbarung näher eingehen (1.3.3.2). 1.3.3.1 Die Geselligkeit Bereits in seiner frühromantischen Werkphase gehört der Begriff „Geselligkeit“ zu den Zentralbegriffen Schleiermachers. Seine kurze Abhandlung Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799) ist diesem Begriff gewidmet. Unter dem Begriff der freien Geselligkeit versteht Schleiermacher eine ideale Form des Zusammenlebens von Menschen – eine Gemeinschaft der Individualitäten. Als freier Umgang der Menschen in der geistigen Innenwelt ist die Geselligkeit durch die Selbstzweck-

80 „Die lezte Erklärung“ bezieht sich hier auf seine nähere Bestimmung der Geselligkeit in §§59– 60, vgl. PhE 1816/17, 594–596. Diese nähere Bestimmung ist durch diesen Leitsatz eingeführt: „Das sittliche Verhältniß der Einzelnen unter einander in der Abgeschlossenheit ihres Eigenthums ist das der Geselligkeit, oder das gegenseitige Bedingtsein der Unübertragbarkeit und der Zusammengehörigkeit durch einander.“ (PhE 1816/17, 594, §59)

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lichkeit und durch die interpersonale Wechselwirkung charakterisiert.81 Dank dieses Begriffs ist die sozialphilosophische Dimension sowohl in seinem Individualitätskonzept der Monologen als auch in seiner Religionstheorie der Reden miteinbezogen. Im Brouillon zur Ethik ordnet Schleiermacher seinen frühromantischen Begriff der Geselligkeit dem System seiner durch das Quadruplizitätsschema strukturierten Handlungstheorie zu. So gehört die Geselligkeit in diesem System zu der Handlungssphäre der organisierenden Tätigkeit im Modus der Individualität und wird schließlich als Vollzug des individuellen Organisierens bezeichnet. Hierbei stellt der Autor fest: In der Sphäre der Geselligkeit spielt zwar das „Eigenthum“, d. h. die Individualität, eine wichtige Rolle als allgemeines Medium, aber das Dasein der Anderen ist für die Entstehung der Geselligkeit unentbehrlich, denn die Geselligkeit beruht auf dem „gegenseitige[n] Anschauen und Erkennen“ (Brouillon 125). In dieser skizzenhaften Darstellung wird demnach noch darauf hingewiesen, dass die Gestaltung der freien Geselligkeit sich mit dem Hervorbringen der Individualität des Einzelnen auf eine ursprüngliche Weise verschränkt. Diese Verschränkung hängt direkt mit der Unübertragbarkeit der Individualität und des Gefühls zusammen.82 Vor dem Hintergrund seiner Beschäftigung mit dem Geselligkeitsbegriff in der früheren Lebensphase hat Schleiermacher diese Kategorie immer wieder in verschiedenen Zusammenhängen zum Thema gemacht, vor allem in seiner Philosophischen Ethik der Berliner Reifezeit, wo er sein frühromantisches Verständnis der Geselligkeit ergänzt und präzisiert. Dem liegt zugrunde, dass die Geselligkeit eine immer größere Rolle in seinem handlungstheoretischen System spielt. Zur Präzisierung des Begriffs der Geselligkeit gehen wir im Folgenden seinen Darstellungen in zwei Vorlesungsvorlagen nach: in den Grundzügen der Güterlehre von 1814/16 und in der letzten Bearbeitung der Güterlehre von 1816/17. Denn in diesen beiden Texten werden wichtige neue Gesichtspunkte für das Verständnis des Geselligkeitsbegriffs auf der Basis seiner frühen Entdeckung eingeführt. In den Grundzügen von 1814/16 lässt sich die neue Einsicht in den Begriff der Geselligkeit in der folgenden Passage finden: Das Anbilden ist also in jedem nur sittlich, inwiefern er von seinem Prozeß andere ausschließt, aber sich auch als von ihnen ausgeschlossen sezt. Und das sich Ausschließen-Lassen ist nur sittlich in allen, inwiefern sie den Ausschließenden als mit ihnen zusammen und sein Bilden zu dem ihrigen gehörig, den Organismus der Vernunft vollendend sezen. Dieses Sezen eines Zusammengehörens aber ist der Begriff der Geselligkeit. (PhE 1814/16, 443, §38)

81 Vgl. oben: Kapitel 1. 3. Der Begriff der Geselligkeit in dem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799). 82 Vgl. oben: Kapitel 3. 1.2.2.3 Individuelles Organisieren.

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In dieser Aussage zeigen sich zuerst zwei Bedingungen für die Sittlichkeit der Tätigkeit individuellen Organisierens bei jedem Individuum: Zum einen ist es so, dass jedes Individuum andere Menschen von seinem eigenen Handlungsvorgang individuellen Organisierens ausschließt, d. h. dass er es sich selbst zuschreibt; zugleich ist es aber auch notwendig, dass er sich selbst als von den anderen ausgeschlossen bestimmt, oder anders gesagt, dass sich seine anbildende Tätigkeit zugleich nur dadurch realisiert, dass alle Anderen sich von ihm ausschließen, d. h. dass diese sich ebenso ihre Tätigkeiten selbst zuschreiben. Dann wird in dieser Passage erklärt, inwiefern in Bezug auf diese organisierende Tätigkeit das individuelle Dasein in allen Menschen der Gemeinschaft ethischen Wert erhält. Dazu sind drei mit einander verbundene Bedingungen genannt: 1. Alle Mitglieder der Gemeinschaft müssen ihr eigenes Ausschließen als mit anderen zusammen bestimmen. Das heißt, das isolierte Dasein jedes Individuums ist nicht absolut isoliert, sondern nur im Zusammensein mit anderen. 2. Die individuelle organisierende Tätigkeit jedes Individuums muss zu denselben Tätigkeiten von anderen gehören. Das bedeutet, jede individuelle organisierende Tätigkeit des Individuums gilt als ein Teil der individuellen organisierenden Tätigkeit aller seiner Mitmenschen in der Gemeinschaft. 3. Die Identität und die Ganzheit der Vernunft werden im Vollzug der individuellen organisierenden Tätigkeit konstatiert. Durch die Organismus-Metapher – „Organismus der Vernunft“ – wird hier ein Ideal der Verbundenheit und der Ganzheit der als Verwirklichung der Vernunft in der Realität vorkommenden Individualitäten der Menschen vorgelegt. Ausgehend von diesen drei Bedingungen stellt Schleiermacher eindeutig fest: „Dieses Sezen eines Zusammengehörens aber ist der Begriff der Geselligkeit.“ (PhE 1814/ 16, 443) Im Kontext des gerade Dargestellten kann diese Definition folgendermaßen interpretiert werden: In der Handlungssphäre des individuellen Organisierens verbinden sich alle sich-ausschließenden Individuen als ein untrennbares Ganzes, indem jede solche Tätigkeit jedes Individuums zu derselben Tätigkeit seiner Mitmenschen gehört. Das gegenseitige Verbundensein aller individuellen Vernunft in dieser Handlungssphäre ist daher das, was der Begriff der Geselligkeit impliziert oder bestimmt. Bis hierher ist zu erkennen, dass der Autor in dieser Passage zum ersten Mal den wichtigen Ausdruck „zusammengehören“ in die Diskussion einführt, um die grundlegende Gestaltungsweise der Geselligkeit zu beschreiben. In diesem Zusammenhang stellt Schleiermacher fest, dass das Zusammengehören der Individuen in der Geselligkeit nicht das durch vollständige Gemeinschaftlichkeit bestimmte Zusammenleben ist.83 Anders als solches Zusammensein ist die Geselligkeit „das Nebeneinandergestellt- und Miteinanderverbundensein des Unübertragbaren“ (ebd.). Das heißt, die Geselligkeit beruht auf der durch die Unübertragbarkeit gekennzeichneten Individualität. Demnach betrachtet Schleiermacher Gemeinschaft und Indivi-

83 PhE 1814/16, 443: „Wenn irgend etwas zwischen mehreren Menschen absolut gemeinschaftlich wäre, so fände in Bezug darauf das nicht mehr statt, was wir Geselligkeit nennen“.

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dualität – „Geselligkeit“ und „Eigentum“ – als vollständige Korrelate.84 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Begriff der Geselligkeit in den Grundzügen der Güterlehre von 1814/16 durch das Zusammengehören der Individuen in ihrem individuellen Organisieren gekennzeichnet wird. In der Interpretation des Geselligkeitsbegriffs in der Ethik von 1814/16 sehen wir, dass der Autor eine Organismus-Metapher – „Organismus der Vernunft“ – verwendet, um die Gestaltungsweise der Geselligkeit zu veranschaulichen. Die Metapher – „Organismus der Vernunft“ – spielt dann in seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre von 1816/17 für die Erörterung der Geselligkeit ebenfalls eine wichtige Rolle. In dieser Hinsicht wird es sinnvoll sein, uns in einem Seitenblick die Bedeutung des Begriffs „Organismus der Vernunft“ bei Schleiermacher zu vergegenwärtigen, bevor wir auf die Diskussion über die Geselligkeit von 1816/17 näher eingehen. In seiner allgemeinen Einleitung in die Ethik (1816/17) bestimmt Schleiermacher den Begriff des Organismus der Vernunft folgendermaßen: „Jedes ethisch gewordene Für-sich, was zugleich erzeugend ist, ist ein Gut. Jedes Für-sich-seiende, das in Bezug auf seine ganze Sphäre zugleich erzeugend und erzeugt ist, ist ein Organ. Die Totalität des ethisch für-sich-Seienden also ist der Organismus der Vernunft oder das System der Güter, und die Ethik ist die Lehre vom höchsten Gut.“ (PhE 1816/17, 507, §104) Diese Aussage kann wie folgt interpretiert werden: Jedes Individuum ist ein Organ der Vernunft, insofern es in seiner Handlungssphäre sowohl selbst handelnd wirkt als auch seinerseits bewirkt ist. Hier fungiert der Ausdruck „Organ“ als eine Metapher für die Vermittlungsfunktion des Individuums für die Vernunft. Diese Vermittlungsfunktion ist in diesem Sinne gemeint, dass die Vernunft an sich nur durch jedes Individuum bzw. durch die individuelle Vernunft als Handelnde in der Realität vorkommt, oder anders gesagt, dass jedes Individuum eine individuelle Darstellung der Vernunft in der Realität ist. Über diese Vermittlungsfunktion bilden alle Organe bzw. alle einzelnen Individuen einen Organismus der Vernunft. Somit heißt es, die Totalität aller Individuen ist der Organismus der Vernunft. In diesem Kontext identifiziert der Autor den Organismus der Vernunft mit dem System der Güter. Damit ist auch Schleiermachers neue Definition des höchsten Guten in seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre verbunden: „Höchstes Gut ist nicht ein einzelnes den andern gleichartiges, aber in der Vergleichung über sie als bestes hervorragend; sondern der organische Zusammenhang aller Güter, also das ganze sittliche Sein unter dem Begriff des Gutes ausgedrückt.“ (PhE 1816/17, 552) Höchstes Gut ist „der organische Zusammenhang aller Güter“ – alle Güter verbinden sich in einem System auf eine organische Weise. Nimmt man die beiden Zitate zusammen, so ergibt

84 PhE 1814/16, 443: „ Daher sind auch Geselligkeit und Eigenthum vollständige Correlate. Nur da ist Geselligkeit, wo es Eigenthum giebt, nicht in der verworrenen Ungeschiedenheit oder in der zerstörten Zusammengehörigkeit. Und nur das ist Eigenthum, was Element der Geselligkeit ist, nichts im isolirten Zustande und nichts im feindseligen.“

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sich, dass der Begriff „Organismus der Vernunft“ als eine Metapher Schleiermacher dazu dient, nicht nur die Verbundenheit und Ganzheit der Individualitäten im sittlichen Leben zu plausibilisieren, sondern auch den organischen Zusammenhang aller Güter bzw. das höchste Gut strukturell zu kennzeichnen. An einer späteren Stelle wird der Organismus der Vernunft als „Einheit der Vernunft“ (PhE 1816/17, 595) bezeichnet.85 Mit dieser kurzen Klärung wenden wir uns nun Schleiermachers Diskussion über die Geselligkeit in seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre von 1816/17 zu. Wir haben bereits umrissen, dass Schleiermacher in dieser letzten Bearbeitung die Geselligkeit als eines der vier Verhältnisse der Einzelnen untereinander in der menschlichen Handlungssphäre bezeichnet. „Das sittliche Verhältniß der Einzelnen unter einander in der Abgeschlossenheit ihres Eigenthums ist das der Geselligkeit, oder das gegenseitige Bedingtsein der Unübertragbarkeit und der Zusammengehörigkeit durch einander.“ (PhE 1816/17, 594, §59) Das Verhältnis der Geselligkeit zeigt sich einmal als ein Verhältnis der Einzelnen in ihrer Abgeschlossenheit des individuellen Daseins, einmal als ein durch die Unübertragbarkeit und die Zusammengehörigkeit bedingtes Verhältnis. Hierbei ist zu erkennen, dass das Sich-ausschließenlassen jedes Individuums („Abgeschlossenheit ihres Eigentums“) und das auf der Individualität beruhende Zusammengehören mit anderen als zwei Bedingungen für das Verhältnis der Geselligkeit gelten. Diese Einsicht folgt eindeutig seiner Beobachtung in der Ethik von 1814/16, wo er den Ausdruck „Zusammengehören“ für die Gestaltung der Geselligkeit gefunden hat. Ihm zufolge macht das Zusammengehören der Individuen die Geselligkeit aus. Damit direkt verbunden bringt Schleiermacher hier in dieser letzten Bearbeitung der Güterlehre den entscheidenden Ausdruck „Zusammengehörigkeit“ ins Spiel, um die Geselligkeit präziser zu beschreiben. Die Zusammengehörigkeit steht in diesem Leitsatz neben der Abgeschlossenheit und der Unübertragbarkeit als ein drittes Merkmal für das Verhältnis der Geselligkeit. Sehen wir uns nun im Einzelnen an, wie der Autor sein Verständnis der Geselligkeit unter diesem Leitsatz in zwei Schritten ausführt. Zunächst erklärt er, inwiefern der scheinbare Widerspruch zwischen dem Sich-ausschließen-Lassen des Individuums und der Einheit der Vernunft in der sittlichen Vernunfttätigkeit des individuellen Organisierens überwunden werden kann. Die Bildung der Geselligkeit wird zugleich in diesem ersten Schritt aufgeklärt. Sodann versucht er zu begründen, inwiefern die Unübertragbarkeit des Individuums und dessen Zusammengehören mit anderen im Verhältnis der Geselligkeit gegenseitig bedingt sein müssen.

85 Michael Moxter betrachtet Organismus als Leitbegriff für Schleiermachers System der Philosophischen Ethik und untersucht die Geschichte dieses Begriffs (5. Kapitel) und dessen Bedeutung und Verwendung bei Schleiermacher (6. Kapitel) (vgl. ders.: Güterbegriff und Handlungstheorie [1992], 137–176 und 177–197).

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Der erste Schritt beginnt mit einer die Perspektive feststellenden Aussage: „Nemlich die ausschließende Beziehung des eigenthümlich Gebildeten auf den Bildenden widerspricht der Einheit der Vernunft in der sittlichen Thätigkeit, ist aber nothwendig ihres Gehaltes wegen.“ (PhE 1816/17, 595) Mit dieser Aussage erkennt Schleiermacher zwar einen Widerspruch zwischen dem die Anderen ausschließenden Handeln der organisierenden Vernunfttätigkeit des Individuums und der Einheit der Vernunft in der sittlichen Tätigkeit an, zugleich unterstreicht er, dass dieser Widerspruch nur ein inhaltlicher ist. Denn der Ausdruck „nothwendig ihres Gehaltes wegen“ lässt sich so auslegen, dass dieser Widerspruch nur aus der inhaltlichen Perspektive zu verstehen ist. Dem Zitat folgend hängt diese perspektivenmäßige Bestimmung des Widerspruchs eng mit seinem Verständnis der Einheit der Vernunft bzw. des Organismus der Vernunft in der sittlichen Tätigkeit zusammen. Zum Verstehen dieses Widerspruchs mag hier eine Aussage in der Diskussion über die Gemeinschaft der Individuen in den Grundzügen der Ethik von 1814/16 dienen: „Die Einheit der Vernunft wäre also im sittlichen Verlauf aufgehoben, wenn nicht in jedem für sich bestehenden und wirksamen Vernunftpunkt zugleich gesezt wäre ein Antheil an der Wirksamkeit aller andern Punkte, und in allen andern Punkten ein Antheil an der Wirksamkeit jenes Einen.“ (PhE 1814/16, 434) Diese frühere Aussage weist darauf hin, wie der Widerspruch zwischen dem Sich-ausschließen-Lassen des Individuums und der Einheit der Vernunft in der sittlichen Tätigkeit aufgehoben werden kann. Das ist nur möglich, wenn jede individuelle Vernunfttätigkeit als handelnde zugleich in der Handlung aller anderen individuellen Vernunfttätigkeit mitwirkt, und wenn umgekehrt die individuellen Vernunfttätigkeiten aller Anderen zugleich einen Anteil an der Handlung meiner individuellen Vernunfttätigkeit haben. Somit muss sich jede individuelle Vernunfttätigkeit mit den Vernunfttätigkeiten aller Anderen verbinden. Vor dem Hintergrund dieser frühen Darstellung präzisiert Schleiermacher das Aufheben des Widerspruchs in der Ethik von 1816/17 folgendermaßen: „Der Widerspruch wird nur gehoben, sofern die eigenthümlich bildende Thätigkeit eines jeden mit ihren Resultaten nicht als für sich bestehend, sondern als ein integrirender Theil der gesammten, durch die Verschiedenheit der Naturen vermittelten bildenden Vernunftthätigkeit gesezt ist.“ (PhE 1816/17, 595) Der Widerspruch kommt nicht vor, wenn das individuelle Organisieren – einschließlich seiner Produkte – nicht als ein Abgeschlossenes, sondern als ein Teil des Ganzen gesehen wird. Die Möglichkeit, ein integrierender Teil des Ganzen zu sein, besteht in der gesamten Vernunfttätigekeit selbst. Denn die gesamte bildende Vernunfttätigkeit ist nur durch die Individualität jedes Individuums eine bildende geworden. Anders gesagt: Die Totalität der Vernunft verwirklicht sich nur anhand der individuellen bildenden Tätigkeiten – so nennt Schleiermacher jedes Individuum „Organ der Vernunft“ (PhE 1816/17, 507 und 595). Nehmen wir beide Stellen zusammen, so lässt sich erkennen: Indem jedes Individuum durch seine individuelle bildende Tätigkeit ein Teil des Ganzen der bildenden Vernunfttätigkeit werden kann, gehören alle Individuen durch ihre je indi-

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viduelle bildende Tätigkeit um der Einheit der Vernunft in der sittlichen Tätigkeit willen zusammen. So wird der Widerspruch aufgehoben. Damit stellt Schleiermacher zusammenfassend fest: „Dieses mit der Thätigkeit zugleich gesezte Theilsein derselben, und also Zusammengehören mit allen Theilen, bildet die Geselligkeit.“ (PhE 1816/17, 595) Ein Teil des Ganzen der bildenden Vernunfttätigkeit zu sein bedeutet für jedes handelnde Individuum zugleich das Zusammengehören mit allen Anderen in der Einheit der Vernunft; dieses Zusammengehören hat die Gemeinschaft der Individuen bzw. die Geselligkeit zur Folge. Daraus folgt noch: „Jedem ist sein eigenthümliches Bilden kein sittlicher Act, als insofern das eigenthümliche Bilden anderer daneben gesezt ist.“ (ebd.) An dieser Äußerung lässt sich verstärken, dass das Zusammengehören aller individuell bildenden Tätigkeiten in dieser Gemeinschaft der Sittlichkeit jeder einzelnen Handlung zugrunde liegt. In einem zweiten Schritt versucht Schleiermacher herauszufinden, inwiefern die Unübertragbarkeit des Individuums und dessen Zusammengehören mit anderen im Verhältnis der Geselligkeit sich gegenseitig bedingen müssen. Hierbei ist zuerst zu fragen, wie jedes Individuum in dieser bildenden Tätigkeit trotz seines Zusammengehörens mit allen Anderen ein Sich-ausschließen-Lassendes bzw. ein Unübertragbares bleibt. Denn „[J]eder so Bildende schließt von seinem Verfahren und dessen Resultaten nothwendig alle anderen aus, und sezt sich selbst eben deshalb eben so von dem ihrigen ausgeschlossen“ (ebd.). Das erklärt er mit der folgenden Aussage: „Aber dieses Sich-ausschließen-Lassen kann nur mit der Einheit der Vernunft bestehen, sofern zugleich in einer und derselben Thätigkeit gesezt wird, daß Ausschließende und Ausgeschlossene mit ihrem Bilden nur zusammen den Organismus der Vernunft vollenden.“ (ebd.) An dieser Stelle ist es hilfreich, darauf zurückzublicken, dass Schleiermacher jedes Individuum als ein Organ der Vernunft betrachtet, weil es in seiner Handlungssphäre sowohl selbst handelnd wirkt als auch seinerseits bewirkt ist. Hier gilt der Ausdruck „Organ“ als eine Metapher für die Vermittlungsfunktion des Individuums für die Vernunft. Damit ist der Grundgedanke verbunden, dass der Organismus der Vernunft eine Metapher für die Verbundenheit und Ganzheit der als Verwirklichung der Vernunft an sich in der Realität vorkommenden Individualitäten der Menschen ist. Demnach kann jedes Individuum etwas zur Vollendung des Organismus der Vernunft beitragen. Ausgehend davon ist die obige Aussage folgendermaßen zu verstehen: Insofern die Organe der Vernunft, d. h. alle Individuen – sowohl die gewordenen als auch die werdenden – durch ihre individuelle bildende Tätigkeit den Organismus der Vernunft zusammen vollenden, kommt das Sich-ausschließen-Lassen nur mit der Einheit der Vernunft vor. Das heißt, das Individuum bzw. das Sich-ausschließen-Lassen muss als zusammengehörend mit anderen bestehen. Diese Erklärung bestätigt den Sachverhalt, dass das Sich-ausschließen-Lassen bzw. das durch Unübertragbarkeit gekennzeichnete Individuum durch sein Zusammengehören mit anderen bedingt ist. An dieser Stelle stellt Schleiermacher zugleich heraus, dass ohne die Individualität das Zusammen-

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gehören jedes Individuums unmöglich wäre. Das hängt mit der Bestimmung des Individuums selbst zusammen: „Jeder als Organ der Vernunft sezt sich mit seiner angeeinigten Natur als ein abgeschlossenes Ganze. Jeder als selbst Vernunft sezt sich als Theil mit allen anderen in Einem Ganzen.“ (ebd.) Diese Bestimmung des Individuums steht in direkter Verbindung mit seiner Darstellung, inwiefern die Individualität überhaupt möglich ist.86 In einer frühen Untersuchung haben wir herausgefunden, dass Schleiermacher zufolge die Individualität des Einzelwesens in der unterschiedlichen Verbindungsweise des Bewusstseins des Einzelnen mit dem Ganzen bzw. mit der ganzen Natur besteht. Insofern lässt sich feststellen, dass das Zusammengehören aller Individuen in der Handlungssphäre des individuellen Organisierens von dem abgeschlossenen Dasein des Individuums selbst bzw. von der Unübertragbarkeit bedingt ist. Nehmen wir beide Seiten zusammen, so erklärt sich die in dem Leitsatz angedeutete These, dass das Verhältnis der Geselligkeit „das gegenseitige Bedingtsein der Unübertragbarkeit und der Zusammengehörigkeit durch einander“ (PhE 1816/17, 594, §59) ist. Bisher haben wir gesehen, wie Schleiermacher in der Ethik von 1814/16 das Zusammengehören als die Gestaltungsweise der Geselligkeit entdeckt hat, aber was für eine Gestaltung der Einzelnen untereinander das Zusammengehören ist, oder was für ein Verhältnis der Einzelnen das Zusammengehören „durch einander“ ist, bleibt dort noch nicht ausreichend geklärt. In seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre von 1816/17 wird plausibilisiert, dass das Zusammengehören der Individuen in der Handlungssphäre des individuellen Organisierens durch das Aufheben des Widerspruchs zwischen dem Sich-ausschließen-Lassen des Individuums und der Einheit der Vernunft in der sittlichen Tätigkeit ermöglicht wird. Damit verbunden wird dieses Zusammengehören der Individuen als ihr Anteilhaben an der Einheit der Vernunft im sittlichen Leben – im Organismus der Vernunft – verstanden. Von daher kann das Verhältnis zwischen dem individuellen Dasein und der Einheit der Vernunft im Verhältnis der Geselligkeit durch das Verhältnis zwischen einzelnem Organ und als Totalität aufgefasstem Organismus beschrieben werden. Aber inwiefern jedes Individuum in der Handlungssphäre des individuellen Organisierens einen Anteil an der Tätigkeit der Anderen haben kann, damit er sich als einzelnes Organ mit dem Organismus der Vernunft verbindet, oder wie das Zusammengehören aller Individuen untereinander im Verhältnis der Geselligkeit in der Realität geschehen kann, bleibt hier in der Diskussion über den Begriff der Geselligkeit noch offen. Dies konkretisiert der Autor in seiner Ausführung des Begriffs der Offenbarung.

86 Vgl. PhE 1816/17, 587–588, §50.

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1.3.3.2 Die Offenbarung Dass der Begriff der Offenbarung in der letzten Bearbeitung der Güterlehre Schleiermachers von 1816/17 zwar als Verhältnis der Einzelnen im Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens bzw. im Gebiet des Gefühls bestimmt wird, aber dieser Begriff zuerst nur im Rahmen der Geselligkeit, die eigentlich als Verhältnis der Einzelnen in dem Handlungsgebiet des individuellen Organisierens gilt, zu verstehen ist, wurde oben schon bemerkt. Nachdem wir im Vorangehenden Schleiermachers Begriff der Geselligkeit in dieser Schrift in Einzelheit untersucht haben, können wir uns nun seiner Begründung nähern, inwiefern der Begriff der Offenbarung strukturelle Analogie zu dem der Geselligkeit hat. Anschließend daran wollen wir dann seiner Interpretation der Offenbarung als ein Verhältnis im Gebiet des Gefühls nachgehen. Dass das Wesen des Offenbarungsverhältnisses „auch“ Geselligkeit ist, erörtert Schleiermacher folgendermaßen: „Denn eben wie dort können wir sagen, die Verschiedenheit der Einzelnen auch in der Erfüllung ihres Bewußtseins und die Unübertragbarkeit ihrer Thätigkeit widerspricht der Einheit der Vernunft in dem ganzen Verfahren, wenn nicht eben so die Zusammengehörigkeit aller Verschiedenen schon in demselben Handeln ausgesprochen ist.“ (PhE 1816/17, 597) Diese Aussage lässt sich zuerst so verstehen: Es könnte einen Widerspruch zwischen der Individualität des Einzelnen sowie der Unübertragbarkeit seiner Vernunfttätigkeit des individuellen Symbolisierens und der Einheit der Vernunft in dem ganzen Handlungsvorgang entstehen, wenn es nicht ausgedrückt würde („ausgesprochen“), dass alle handelnden Individuen im Gebiet des Gefühls wie in der Geselligkeit miteinander zusammengehören. Hierbei wird darauf hingewiesen, dass es ebenfalls wie in dem Handlungsgebiet des individuellen Organisierens eine Zusammengehörigkeit in dem des individuellen Symbolisierens geben muss. Insofern die Zusammengehörigkeit – wie bereits dargestellt – ein wesentliches Kennzeichen für das Verhältnis Geselligkeit ist, kann die Geselligkeit auch als Wesen des Verhältnisses der Offenbarung bestimmt werden. Schleiermacher zeigt das Zusammengehören der Einzelnen mit den Anderen im individuellen Bezeichnungsgebiet bzw. im Gebiet des Gefühls von zwei Seiten auf („aussprechen“). Auf der einen Seite heißt es: „Also jeder kann sich seiner eigenthümlichen Erregtheit nur hingeben, sofern er zugleich andere auch in eigenthümlicher Erregtheit außer sich und neben sich voraussezt, also will, sucht und nach ihnen verlangt“ (ebd.). Dass die Erregung zu jedem Gefühl, genauer genommen zur Entstehung jedes Gefühls, notwendig gehört, haben wir in der Diskussion über die Bestimmung des Bezeichnungsgebiets des Gefühls bereits gesehen.87 Mit diesen Gedanken verbunden zeigt diese Aussage, dass die zu jedem Gefühl gehörige individuelle Erregung nur folgendermaßen geschehen kann: Jeder Einzelne kann in diesem

87 Vgl. oben: Kapitel 4. 1.3.1 Das Gefühl als Ausdruck der inneren Zustände.

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Gebiet auf seine eigentümliche Weise nur dadurch erregt werden, dass er nicht nur die Existenz von anderen Einzelnen, die ebenfalls wie er in ihrer individuellen Erregtheit bestehen, außer sich und neben sich voraussetzt, sondern zugleich nach diesen Anderen suchen und verlangen will. Andererseits stellt Schleiermacher heraus: „[S]o wie auf der andern Seite alles auch wirkliche Nebeneinandergeseztsein mehrerer von dieser Seite angesehen ganz gleichgültig ist und nichts zur Befriedigung dieses sittlichen Bedürfnisses beiträgt, als sofern nothwendig jeder auf eine eigenthümliche Weise erregt ist“ (ebd.). Das heißt, wenn jeder Einzelne nicht auf eine individuelle Weise erregt ist, dann hat das Zusammenleben vieler Menschen keine Bedeutung für die sittliche Vollendung jedes individuellen Symbolisierens. Nehmen wir die beiden Seiten zusammen, so lässt sich erkennen, dass dem Autor zufolge das Zusammengehören der Einzelnen im Gebiet des Gefühls zwei Elemente enthält: Einerseits setzt die zu jedem Gefühl gehörende Erregung jedes Einzelnen die ebenfalls individuell erregbaren Anderen sowie sein Suchen und Verlangen nach diesen voraus; andererseits muss jeder Einzelne um des Vollzugs der Sittlichkeit dieser Vernunfttätigkeit willen auf eine individuelle Weise erregt werden. Bis hierher ist zu beachten, dass Schleiermacher dem Gefühl in dieser letzten Bearbeitung der Güterlehre ein neues Merkmal – die Zusammengehörigkeit – zuschreibt, während er das Gefühl im Brouillon zur Ethik hauptsächlich durch die Unübertragbarkeit charakterisiert hatte. Wie die Geselligkeit ist das Gefühl auch durch die Zusammengehörigkeit der Einzelnen gekennzeichnet. Erst mit diesem neuen Merkmal für das Gefühl kann man verstehen, inwiefern das Verhältnis der Einzelnen in diesem Handlungsgebiet durch das Verhältnis der Offenbarung zu bestimmen ist, und inwiefern diese Beziehung als ein gegenseitiges „Bedingtsein der Unübertragbarkeit und der Zusammengehörigkeit des Gefühls“ (PhE 1816/17, 596, §61) erscheint. Im Folgenden wollen wir Schleiermachers Diskussion über diese Probleme rekonstruieren. Diese Diskussion findet ihren Ansatzpunkt in der Frage, wie die Erregung zwischen Einzelnen im Bezeichnungsgebiet des unübertragbaren Gefühls überhaupt möglich ist. Denn die Erregung des Einzelnen im Gebiet des Gefühls setzt das Bedürfnis nach der Kommunikation in diesem Gebiet – das Suchen und Verlangen nach den Anderen – voraus, so wie oben dargestellt. „Aber jenes Suchen und Verlangen würde immer leer bleiben, wenn das Gefühl nicht kund werden könnte zwischen einem und dem Anderen.“ (PhE 1816/17, 597) In diesem Zitat deutet sich seine entscheidende Ansicht über diese Problematik an, dass das Kundwerden des Gefühls zwischen einem und dem Anderen als notwendige Bedingung für die Erregung des Einzelnen und infolgedessen für das Verhältnis der Einzelnen untereinander im Handlungsbereich des individuellen Symbolisierens gilt. Diese Bedingung ist dieselbe „wie auf dem Gebiet des Gedankens“ (ebd.), nämlich wie im Verhältnis des Glaubens, das auf der durch Aussprechen und Nachbilden oder durch Lehren und Lernen der Sprache strukturierten gegenseitigen Verständigung beruht.

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Diesen Grundgedanken exponiert der Autor im Kontext seiner näheren Bestimmung des Gefühls folgendermaßen: Denn das Gefühl ist auch zunächst in dem Innern des Bewußtseins, und die Sittlichkeit desselben ist also bei seiner Eigenthümlichkeit dadurch bedingt, daß sein Entstehen zugleich auch sein Aeußerlichwerden ist, und daß es in dieser Aeußerung auch den Andern kund werde; und dieses Aeußerlichwerden des Gefühls ist ebenfalls anzusehen als Folge von dem Bestreben der Vernunft die Schranken der Einzelheit zu durchbrechen, um sich mit sich selbst zu einigen, und das Einzelwesen, indem es gesezt wird, auch wieder aufzuheben. (PhE 1816/17, 597) 88

In dieser Passage lassen sich drei Elemente als Gründe für das notwendige Kundwerden des Gefühls erkennen: Das erste gründet in Schleiermachers Bestimmung des Gefühls als Ausdruck der inneren mentalen Bewusstseinszustände des Individuums, daher ist das Gefühl unmittelbar und somit unübertragbar. Aus dieser Unübertragbarkeit ergibt sich die Notwendigkeit seines Äußerlichwerdens als Ausdrucksphänomen. Damit direkt verbunden bezieht sich das zweite Element auf die Sittlichkeit des Gefühls. Schleiermacher hat bereits im Brouillon zur Ethik herausgestellt, dass die Ethisierung des unübertragbaren Gefühls darin besteht, „dass jedes Gefühl in Darstellung übergehe“, „inwiefern es ein gemeinschaftliches werden soll“ (Brouillon 184). Demzufolge muss das Gefühl zum Zweck seiner Sittlichkeit äußerlich werden bzw. in die Darstellung gehen. Zudem hat er durch seine Erläuterung der „Oszillation“ zwischen Gefühl und Darstellen dort schon darauf verwiesen, dass der Ursprung des Gefühls unmittelbar mit dessen Darstellung zusammenhängt. In dieser späteren Ethikvorlesung stellt der Autor nun fest, dass das Entstehen des Gefühls zugleich sein Äußerlichwerden ist und das Gefühl durch dieses Äußerlichwerden den Anderen kund wird. Das dritte Element geht von der Grundstruktur des Geistes aus. Wir haben bereit herausgestellt, dass die in der ersten Rede der Reden über die Religion (1799) dargestellte Geisttheorie eine wichtige Rolle im Lauf seines ganzen wissenschaftlichen Lebens spielt. Dieser Gedanke fungiert hier als geisttheoretische Basis für den Grund des Äußerlichwerdens des Gefühls. Wie gesehen modifiziert der Autor im Brouillon zur Ethik diese Grundstruktur auf der Ebene des vernünftigen Lebens als Oszillation von Erkennen und Darstellen. Wird das Gefühl im Handlungsbereich des individuellen Symbolisierens als individuelles Erkennen konstatiert, so benötigt es ein als Darstellung bestehendes Sich-Ausdehnen. Vor diesem theoretischen Hintergrund bezeichnet Schleiermacher an dieser Stelle das Äußerlichwerden des Gefühls als eine unvermeidliche Folge der Geistestätigkeit selbst, genauer genommen als notwendiges Resultat der dem Gefühl gegenüberstehenden und sich ausdehnenden Geistestätigkeit. In Hinsicht auf dieses letzte Element hat

88 Dazu vgl. Brouillon, 179: „Denn das subjective Erkennen als Selbstthätigkeit, als Streben ist nichts anders als das Durchbrechen der persönlichen Beschränkung in der Gemeinschaft des Lebens mit dem Ganzen.“

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das Durchbrechen der Schranken der Einzelheit und das Aufheben des Einzelwesens im Gebiet des Gefühls eine entscheidende Bedeutung für Schleiermachers Religionsverständnis im Rahmen seiner Handlungstheorie. Denn dies verbindet sich eng mit der Problematik der Verhältnisbestimmung von Gefühl, Religion und Kunst, worauf wir später näher eingehen werden. Zusammenfassend kann man hier sagen, dass Schleiermacher zufolge das Gefühl aufgrund seiner Unübertragbarkeit, aufgrund seiner Sittlichkeit sowie aufgrund der menschlichen Geistesstruktur äußerlich werden bzw. den Anderen kund werden muss. Nach der Erörterung der Notwendigkeit des Äußerlichwerdens des Gefühls wendet Schleiermacher sich dann der Frage zu, wie das Gefühl äußerlich werden kann. Zuerst schließt Schleiermacher die Möglichkeit eindeutig aus, dass das Gefühl als individuelles Symbolisieren durch das Zusammenarbeiten von Reden und Hören wie im identischen Bezeichnungsgebiet bzw. im Gebiet des Gedankens äußerlich werden kann. „Doch ist dieses nicht wie das Reden und Hören, durch dessen Zusammensein der Gedanke selbst aus einem Bewußtsein in das andere übertragen wird; und wenn man von einer Sprache des Gefühls redet, so ist dies entweder ein unrichtiger Ausdruck, oder es bezeichnet etwas sehr Vermitteltes, und geht nur auf die Aeußerung der eigenen Gedanken über das Gefühl, nicht des Gefühls selbst.“ (PhE 1816/17, 597) Daraus ist zu erkennen: Insofern das Gefühl als individuelles Selbstbewusstsein („einem Bewusstsein“) nicht wie die Gedanken durch Sprache in die Anderen bzw. in das andere Selbstbewusstsein übertragen werden kann, ist die Sprache kein richtiger Ausdruck für das Gefühl. Wohl ist die Sprache kein richtiger Ausdruck für das Gefühl, aber Schleiermacher beschreibt das Äußerlichwerden des Gefühls zuerst anhand eines strukturellen Vergleichs mit dem des Gedankens. Ihm zufolge gibt es zwei strukturelle Ähnlichkeiten in Bezug auf das Äußerlichwerden zwischen dem Gebiet des Gedankens und dem des Gefühls. Zuerst wird eine Ähnlichkeit gezeigt: „Sondern wie die Sprache zum Gedanken, so verhält sich zum Gefühl unmittelbar und ursprünglich die Geberde auch im weitesten Sinne genommen“ (ebd.). Obwohl das Gefühl nicht wie der Gedanke durch Sprache übertragen werden kann, gibt es strukturell vergleichbare Korrelationen in beiden Gebieten: Die Gebärde für das Gefühl in der Handlungssphäre des individuellen Symbolisierens ist wie die Sprache für Gedanken in der des identischen Symbolisierens – insofern die Sprache das Äußerlichwerden des Gedankens ist, gilt die Gebärde als das Äußerlichwerden des Gefühls. An dieser Stelle stellt der Autor noch heraus, dass das Verhältnis zwischen dem Gefühl und der Gebärde „unmittelbar und ursprünglich“ ist: Das Gefühl ist seiner Entstehung nach mit der Gebärde verbunden und zwischen beiden gibt es kein anderes Mittel, die Gebärde ist der unmittelbare Ausdruck für das Gefühl.89 Die zweite Ähnlichkeit der

89 Diese Beobachtung zeigt sich bereits in der Ethikvorlesung von 1812/13: „Da die Gemeinschaft der Staaten und der Sprachgebiete mit einer Gemeinschaft Einzelner anfängt, so muß, wenn diese

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beiden Bezeichnungsgebiete bringt der Autor wie folgt zum Ausdruck: „[U]nd wie kein Gedanke reif und fertig ist, er sei denn zugleich Wort geworden, so ist kein Gefühl ein ganzer und in sich vollendeter Act, es sei denn Geberde geworden“ (ebd.).90 Daraus ergibt sich, dass das Reifen und die Vollendung der Bezeichnungstätigkeit – sowohl im Gebiet des Gedankens als auch im Gebiet des Gefühls – nur durch ihre jeweilige Veräußerlichung realisiert werden kann. Folglich kann das Gefühl als ein bezeichnender Akt nur durch sein Äußerlichwerden bzw. durch die Gebärde vollendet sein. Aber wie unterscheiden sich Gebärden als Ausdruck des Gefühls von der Sprache als Ausdruck des Gedankens trotz ihrer strukturellen Ähnlichkeiten? Schleiermacher zufolge besteht der Unterschied darin, auf welche Weise jeder den Ausdruck von einem Anderen bzw. das Äußerlichwerden der beiden Bezeichnungstätigkeiten empfangen kann. Er beschreibt diesen Unterschied folgendermaßen: „Aber das Wahrnehmen der Geberde wird nicht, wie das Nachtönen des Wortes zum Nachbilden des Gedankens, so auch seinerseits zur Entwickelung einer gleichmäßigen Erregung, sondern vielmehr fühlt keiner deswegen, weil ihm das Gefühl des Andern kund geworden, geschweige noch, daß er eben so fühlen sollte.“ (ebd.) Diese Aussage zeigt: Das Empfangen des Ausdrucks im individuellen Bezeichnungsgebiet, das durch „das Wahrnehmen der Geberde“ erfolgt, ist anders als das im identischen Bezeichnungsgebiet, worin das Empfangen des Ausdrucks des Gedankens durch das Nachtönen des Wortes möglich wird und in dem Empfangenden hervorgebracht werden kann. Im Gegensatz zu diesem Gebiet kann der Einzelne im individuellen Bezeichnungsgebiet nicht fühlen, bloß weil das Gefühl eines Anderen ihm kund geworden ist. Es ist auch ausgeschlossen, dass jener auf eine gleiche Art und Weise wie dieser Andere fühlen kann. Damit stellt sich eine weitere Frage, wie das Gefühl des Einen entstehen kann, wenn das Gefühl eines Anderen ihm kund geworden ist? Das bringt Schleiermacher in einer weiteren Passage zum Ausdruck: „Sondern nur weil und inwiefern jeder weiß, daß eine bestimmte Erregung in ihm auf ähnliche Weise äußerlich wird, schließt er, daß der Andere in der ähnlichen Erregung begriffen ist, die aber in ihrer Bestimmtheit ihm verborgen bleibt.“ (PhE 1816/17, 597–598) Das Fühlen des Einen geschieht zwar aus dem Anlass des Kundgewordenseins des Gefühls eines Anderen, aber der wesentliche Grund dafür liegt in dem Fühlenden selbst: Dass jeder weiß und bis zu welchem Grad jeder weiß, dass es eine individuelle Erregung in ihm gibt,

auch bloß durch Geschäfte des Tausches veranlaßt würde, bei der ursprünglichen Trennung der Sprache ein Verständigungsmittel vorausgesezt werden, welches nur in der Gebärde als dem unmittelbaren Ausdruck des Gefühls zu finden ist. Also wird ein gleicher Schematismus von diesem vorausgesezt als über die Nation hinausgehend.“ (PhE 1812/13, 357–358, §192) 90 Vgl. PhE 1814/16, 447: „Kein wirklich reifes und sittliches Gefühl ohne Geberde. Denn das nothwendige Zusammenerregtsein des Gemüthes und der Organisation ist schon immer das Differential der Geberde.“

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die auf ähnliche Weise äußerlich wird, lässt ihn vermuten, dass es eine ähnliche Erregung in einem Anderen, dessen Gefühl ihm bekannt geworden ist, gab. Aber die Erregung des Anderen ist wegen ihrer Individualität für jenen unerreichbar. Von daher ist ersichtlich, dass die Analogie meiner individuellen Erregbarkeit mit derselben der Anderen die entscheidende Rolle für die Kommunikation des Einen mit dem Anderen im Gebiet des Gefühls spielt, ja sogar auch für das Entstehen meines Gefühls. Anders gesagt: Schleiermacher baut seine Konklusion auf ein Verfahren des Analogieschlusses zwischen dem Fühlenden (dem Einen) und dem das Gefühl kund Gebenden (dem Anderen) in Bezug auf die individuelle Erregung. Hinter dieser Diskussion steht die bereits dargestellte Grundeinsicht Schleiermachers, dass die Erregung zu jedem Gefühl, genau genommen zur Entstehung jedes Gefühls, notwendig gehört. Zum Verstehen der Funktion der Erregung im Gebiet des Gefühls an dieser Stelle ist Schleiermachers Diskussion über die Korrelation von Andeuten und Ahnen im diesem Handlungsgebiet hilfreich. Insofern wollen wir hier vor der weiteren Untersuchung einen Seitenblick auf diese Diskussion geben, die sich in den Grundzügen der Ethik von 1814/16 befindet. Die Leitthese lautet: „Da aber der symbolisirende Prozeß unmittelbar nicht aus der Person herausgeht, so wird die Ergänzung nur wirklich beschafft unter der Bedingung einer Beweglichkeit der Person im Vernunftausdruck und eines Wahrnehmens dieser Beweglichkeit, welches ein Verhältniß bildet des Andeutens und Ahndens.“ (PhE 1814/16, 447, §46) Diese Aussage kann wie folgt interpretiert werden: Insofern die symbolisierende Tätigkeit eines Einzelnen im Gebiet des Gefühls nicht allein entstehen kann, so bedarf der Vollzug dieses Aktes einer Ergänzung, die die aktive Erregung („die Beweglichkeit“) eines Einzelnen im Ausdruck des Gefühls einerseits – das Andeuten durch die Person – und die passive Wahrnehmung dieser Erregung andererseits – das Ahnen durch die andere Person – voraussetzt. Dieses Verhältnis gilt als Grundlage für das Zusammenleben der Individuen im Gebiet des Gefühls, denn „[o]hne dieses wäre keine Zusammenstellung der verschiedenen Besonderheiten wirklich“ (ebd.). Sodann fährt der Autor fort: „Die natürliche Bedeutsamkeit der Person ist daher in dieser Beziehung die immer schon gegebene Sittlichkeit, vermöge deren es kein Erregtsein giebt, welches nicht durch sich selbst schon Andeutung wäre.“ (ebd.) Hieraus ist zu ersehen: Zwar kommt die natürliche Individualität des Einzelnen schon in dem Verhältnis von Andeuten und Ahnen als gegebene Sittlichkeit vor, aber mit diesen natürlichen Individualitäten allein kann keine Erregung entstehen und somit kann es keine Andeutung geben. Demzufolge heißt es: „Kein wirklich reifes und sittliches Gefühl ohne Geberde. Denn das nothwendige Zusammenerregtsein des Gemüthes und der Organisation ist schon immer das Differential der Geberde.“ (ebd.) Im Vergleich zur natürlichen Individualität ist das reife und sittliche Gefühl nur durch Gebärde zu verwirklichen. Der Grund besteht darin, dass weder das Gemüt des Einzelnen allein noch die Gemeinschaft allein, sondern das notwendige Zusammensein beider dem Zuwachs der Funktion in der individuellen Erregung der Gebärde zugrunde liegt.

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Damit verbunden ist der Sachverhalt, wie der Autor später herausfindet, dass das Gefühl nicht nur durch die Unübertragbarkeit, sondern zugleich durch die Zusammengehörigkeit gekennzeichnet ist. Aus dem gerade Ausgeführten legt Schleiermacher nun fest: „So wie Andeutung sittlich nur etwas ist unter der Voraussezung des Erregtseins, so ist auch die Ahndung sittlich nur etwas unter der Anerkennung des Besondern und durch das zurückgehende Bewußtsein der Verschiedenheit des Eigenthümlichen.“ (ebd.) Die Andeutung ist nur sittlich, wenn der Einzelne in der Gemeinschaft erregt geworden ist; die Ahnung ist nur sittlich, wenn der Einzelne die Individualität der Anderen anerkennt und ihm bewusst geworden ist, dass er sich als ein eigentümliches Dasein des Menschen von den Anderen unterscheidet. Die beiden Seiten verbinden sich durch die Gebärde im Ausdruck des Gefühls. Damit betrachtet der Autor den Zusammenhang von Gefühl und Verhältnis des Andeutens und des Ahnens als „Correlata“: „Das Gefühl und dieses Verhältniß des Andeutens und Ahnden sind wesentlich Correlata; wie es kein Andeuten und Ahnden giebt ohne Gefühl, so bildet sich auch das Gefühl in keinem Menschen anders als in diesem Verhältniß.“ (PhE 1814/16, 447–448) Die Wechselwirkung von Andeuten und Ahnen ist durch die Gebärde im Ausdruck des Gefühls bedingt, die Entstehung des Gefühls kann nur in dem Verhältnis von Andeuten und Ahnen realisiert werden. Dies ist der Punkt, an dem der Begriff der Offenbarung in der Ethik von 1816/17 eingeführt wird. Im Kontext der obigen Beobachtung und mit Rückblick auf seine Diskussion über Wechselwirkung von Andeuten und Ahnen in der Ethik von 1814/ 16 behauptet Schleiermacher nun: „Hier ist also kein Aussprechen und Nachbilden, sondern nur ein Andeuten und Ahnden, keine Verständigung, sondern Offenbarung.“ (PhE 1816/17, 598) Diese Aussage darf wie folgt konkretisiert werden: Das Verhältnis der Einzelnen im individuellen Bezeichnungsgebiet bzw. im Gebiet des Gefühls ist nicht die durch das Zusammenarbeiten von Aussprechen und Nachbilden strukturierte Verständigung im Gebiet des Gedankens, sondern die durch eine Wechselwirkung von Andeuten und Ahnen realisierte Offenbarung. Das ist die Grundthese Schleiermachers zum Verhältnis der Einzelnen im Gebiet des Gefühls. Damit ist der Sachverhalt verbunden, dass das Verhältnis der Einzelnen im Gebiet des Gefühls als Offenbarung zu charakterisieren ist.91 Erst hier bringt Schleiermacher eigentlich den Begriff der Offenbarung ins Spiel, den er im Leitsatz eingeführt hat.92 Jedoch taucht der Begriff der Offenbarung in der Philosophischen Ethik seiner Berliner Reifezeit nicht zum ersten Mal auf. Bereits in den Grundzügen der Ethik

91 Dazu ist Martina Kumlehn der Meinung: „Der Offenbarungsbegriff läßt darüber hinaus die allgemeine Korrelation des Gefühls mit den Äußerungsmodi Andeuten und Ahnden im Zusammenhang religiöser Kommunikation anschaulich werden.“ (dies.: Symbolisierendes Handeln [1999], 92) 92 Vgl. PhE 1816/17, 596, §61.

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von 1814/16 verwendet Schleiermacher den Begriff, aber in Bezug auf die identische Bezeichnungstätigkeit, um den identischen Handlungsprozess zu beschreiben: „Inwiefern also bei diesem [sc. gemeinschaftlichen] Prozeß überall von der Identität der Vernunft und von der Gleichheit des Naturvermögens ausgegangen wird, bildet er ein gemeinsames Gebiet der Mittheilung und Offenbarung.“ (PhE 1814/16, 439, §28) Sodann heißt es noch: „Das gemeinsame Gebiet dieser Mittheilung und Offenbarung ist das der Gedanken.“ (PhE 1814/16, 439, §29) Mitteilung und Offenbarung gehören beide zum Gebiet der Gedanken. Dadurch ist das Gebiet der Gedanken von dem Gebiet des Gefühls, das in derselben Schrift als „Gebiet des Geheimnisses und der Ahndung“ (PhE 1814/16, 440, §32) bezeichnet wird, zu unterscheiden. Weshalb der Autor den Begriff der Offenbarung hier verwendet und was die Offenbarung in diesem identischen Bezeichnungsgebiet bedeutet, bleibt in seiner Ausführung der beiden Leitsätze offen.93 Es ist bemerkenswert, dass in der letzten Bearbeitung der Güterlehre von 1816/17 der Begriff der Offenbarung in der präzisierten Darstellung der identischen Bezeichnungstätigkeit94 völlig verschwindet und nur auf das Bezeichnungsgebiet des individuellen Symbolisierens beschränkt wird. Das ist eine wesentliche Veränderung zwischen der Ethik von 1814/16 und der von 1816/17.95 Blicken wir auf die vorliegende kurze Darstellung über das Verhältnis von Andeuten und Ahnen im Gebiet des Gefühls in der Ethik von 1814/16 zurück, so ist hierbei zu ersehen: Während der Autor in der Ethik von 1814/16 noch nicht so weit geht, das Verhältnis von Andeuten und Ahnen als Offenbarung – ein wahrscheinlich strittiger Begriff – zu bezeichnen, traut er sich zwei Jahre später, den Begriff der Offenbarung in diesem Zusammenhang und lediglich in Bezug auf die individuelle Bezeichnungstätigkeit zu verwenden, um das Verhältnis der Einzelnen im Gebiet des Gefühls von dem im Gebiet des Gedankens deutlich zu unterscheiden. In Hinsicht auf die hohe Bedeutung des Begriffs der Offenbarung in seiner Diskussion über das Gefühl, werden wir in den nächsten Abschnitten untersuchen, wie der Autor diesen Begriff in dieser letzten Bearbeitung näher bestimmt.

93 Vgl. PhE 1814/16, 439–440. 94 Vgl. PhE 1816/17, 584–587 und 591–594. 95 Theodor Jørgensen sieht das nicht als eine Veränderung, sondern spricht von einer Uneindeutigkeit der Verwendung des Offenbarungsbegriff Schleiermachers in der Philosophischen Ethik. Er unterscheidet Schleiermachers Verwendung des Offenbarungsbegriffs hierbei in zweierlei Sinne: Zum einen in einem „allgemeinen und inklusiven“ Sinne, zum anderen in einem „besonderen und exklusiven“ Sinne. In jenem Sinne „verwendet Schleiermacher den Offenbarungsbegriff als Bezeichnung für die gesamte symbolisierende Tätigkeit der Vernunft, sowohl für die identische als auch für die individuelle“ (ders.: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis [1977], 78); in diesem Sinne verwendet er den Begriff, „um die Selbstdarstellung des eigentümlichen Daseins von der allgemeinen Mitteilung der allen gemeinsamen Wirklichkeit und der allgemeinen Verständigung über dieselbe abzugrenzen“ (a. a. O., 79). Trotz dieser Uneindeutigkeit verwendet Schleiermacher den Begriff der Offenbarung in dem besonderen und exklusiven Sinne bzw. „in begrifflich differenzierten Zusammenhängen“ (ebd.).

334  Kapitel 4 Der Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik

Schleiermachers Explikation des Offenbarungsbegriffs beginnt damit, „Offenbarung“ im Kontext seiner näheren Bestimmung des Gefühls im Rahmen seiner Handlungstheorie von dem Übernatürlichen abzugrenzen: „Unter diesem Worte soll daher hier nicht irgend etwas Uebernatürliches gedacht werden, so wenig wie oben unter Glaube, sondern nur das allgemein Menschliche, worauf auch die übernatürliche Bedeutung der Worte zurückgeht.“ (PhE 1816/17, 598) Anders als in der theologischen Tradition, wo der Begriff der Offenbarung überwiegend in dem Sinne verwendet wird, das Verhältnis zwischen Gott (dem Offenbarenden) und Menschen (dem etwas offenbart wird) zu beschreiben und zu bestimmen, spricht Schleiermacher hierbei von einer Offenbarung zwischen Menschen, von einem allgemeinen menschlichen Offenbarungsverhältnis. Durch einen Vergleich mit dem Verhältnis der Einzelnen im Bereich des „Glaubens“ als Grundannahme der Verständigungsfähigkeit versucht der Autor hier, seine Leser davon zu überzeugen, dass Offenbarung im Gebiet des Gefühls kein Unübernatürliches, sondern „ein allgemein Menschliches“ ist.96 Um diese Überzeugung zu verstärken, konkretisiert Schleiermacher das Zusammenarbeiten von Andeuten und Ahnen in diesem Bereich mit den Worten: „Durch den unmittelbaren Ausdrukk des Gefühls wird einer dem Andern in seinem Zustande, aber als in einem unübertragbaren und unnachbildlichen, kund, und nur sofern dieser sucht und aufmerkt.“ (ebd.) Diese Beschreibung zeigt, dass die Offenbarung als ein intersubjektiver Vorgang aus zwei Teilen besteht, die sich durch das Äußerlichwerden des Gefühls eines Subjekts notwendig miteinander verbinden. Der erste Teil ist die Kundgebung des Einen, als unmittelbarer Ausdruck des Gefühls. Das ist der Prozess des Andeutens. Dabei weist der Autor darauf hin, dass der Eine, trotz seiner Kundgebung, in diesem Gebiet in seinem unübertragbaren und unnachbildli-

96 Alexander Schweizer konkretisiert hier „so wenig wie oben“ folgendermaßen: „So wenig als auf identischer der bezeichnenden Thätigkeit den Ausdrukk Glauben etwas über das gegenseitige Verhältniß der Menschen unter sich hinausgehendes bezeichnete, eben so wenig hier das Wort Offenbarung, daher sich vielleicht ein anderes finden ließe für diesen Begriff.“ (SW III/5, 154, Fußnote) Mit diesem Unübernatürlichen des Offenbarungsbegriffs ist der junge Hans-Joachim Birkner nicht einverstanden: „Es ist aus den Ausführungen der Philosophischen Ethik nicht recht zu ersehen, wie er sich dort die ‚übernatürliche Bedeutung‘ des Offenbarungsbegriffs gedacht hat. In der Glaubenslehre ist er bei der Interpretation des ‚übernatürlichen‘ Begriffs andere Wege gegangen, als er sie in der Ethik angedeutet hatte. Geblieben ist aber auch in der Glaubenslehre das Programm: die übernatürliche Bedeutung des Offenbarungsbegriffs muß sich auf eine natürliche zurückführen lassen.“ (ders.: „Offenbarung“ in Schleiermachers [1956/1996], in: ders.: Schleiermacher-Studien [1996], 81– 98, hier 96–97) Theodor Jørgensen sieht hier das Unübernatürliche in der Offenbarung als etwas Verborgenes, Überraschendes und Unerwartetes: „Von Offenbaren und Offenbarung spricht man dort, wo Verborgenes, der Einsicht nicht unmittelbar Zugängliches mitgeteilt wird. Es können Sachverhalte sein, von denen man nichts wußte, oder die man nicht begreifen konnte, weshalb die Aufdeckung derselben den Charakter der Überraschung und des Unerwarteten an sich trägt.“ (ders.: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis [1977], 84)

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chen Zustand bleibt. Dies hängt damit zusammen, dass das Gefühl selbst der Ausdruck der inneren mentalen Zustände ist. Der zweite Teil dieses intersubjektiven Vorgangs ist das Suchen und das Aufmerken eines Anderen nach dem, was von dem Ersten kundgegeben wird, bzw. nach dem unmittelbaren Ausdruck des Gefühls des ersten. Das ist der Prozess des Ahnens. In derselben Zeitphase hat Schleiermacher am Rand der Grundzüge der Ethik von 1814/16 vermerkt: „Offenbarung = Identität oder Andeutung = Ahndung. Differenz von Reden und Hören.“97 Die Differenz von Andeutung und Ahnung ist wie die von Reden und Hören – beide bilden eine Kooperation von Geben und Empfangen und eine Kommunikation zwischen dem Gebenden und dem Empfangenden, aber das Verhältnis der Einzelnen im Gebiet des Gefühls kann nicht durch das Verhältnis von Reden und Hören beschrieben werden. Der Grund besteht in dem bereits Dargestellten, dass nicht nur das Gefühl als eine individuelle Bezeichnungstätigkeit selbst, sondern auch der Ausdruck dieses Gefühls ebenfalls unübertragbar und unnachbildlich ist. Wie der Eine sein Gefühl durch dessen Ausdruck einem Anderen andeuten kann, ist an dieser Stelle nicht aufgezeigt. Vor dem Hintergrund der obigen strukturellen Beschreibung fährt der Autor fort: „Und diese Kundmachung ist ihm dennoch die Ergänzung seiner eigenen Eigenthümlichkeit, weil nur in den analogen, aber eigenthümlich verschiedenen Regungen aller die Natur wirklich der Einen Vernunft angehörig worden ist.“ (PhE 1816/17, 598)98 Hier ist von der hohen Bedeutung der Kundgebung des Einen für die anderen Individuen die Rede. Die Kundmachung des Einen dient einem Anderen als Ergänzung seiner Individualität. Damit ist der Sachverhalt verbunden, dass die verschiedenen Erregungen auf der Analogie zwischen Subjekten beruhen. Der hierbei ausgesprochene Gedanke, dass die Darstellung anderer Individualitäten meine eigene Individualität ergänzt, ist in Schleiermachers System nicht neu. Darauf hat er bereits in seiner in den Monologen dargestellten Individualitätstheorie hingewiesen. Wir halten fest, dass Schleiermacher zufolge Offenbarung im Gebiet des Gefühls kein Übernatürliches, sondern das allgemeine Menschliche ist. Dieses Merkmal der Offenbarung wird an einer späteren Stelle als „ein über das ganze menschliche Geschlecht sich verbreitendes Verhältniß“ (ebd.) präzisiert. In der obigen Darstellung haben wir aufgezeigt, dass der unmittelbare Ausdruck des Gefühls den Kundgebenden und den Empfangenden im Gebiet des Gefühls bzw. den Andeutenden und den Ahnenden verbindet, wie die Sprache als Ausdruck des Gedankens den Redenden und den Hörenden verbindet. Für die Ent-

97 PhE 1814/16, 446 (Fußnote), Zusatz am Rande 1816. 98 Hierzu vgl. PhE 1816/17, 598: „Keiner hat Ursach einen anderen für überflüssig zu halten in Bezug auf die Differentiirung der Vernunft in der Natur, das heißt für eine Verdoppelung irgend eines dritten; jeder ist also jedem nothwendige Ergänzung, die geahndet sein will und der angedeutet, und jeder jedem Gegenstand des innern auf Offenbarung gerichteten Verlangens.“

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stehung des Gefühls des Ahnenden spielt die Analogie zwischen den Subjekten in ihrer individuellen Erregbarkeit eine entscheidende Rolle. Aufgrund dieser Überlegungen definiert Schleiermacher nun seinen Begriff der Offenbarung in dieser letzten Bearbeitung der Güterlehre wie folgt: „Wir bezeichnen daher das ganze Verhältniß durch diesen Ausdrukk Offenbarung, der einerseits ganz unmittelbar an die Aehnlichkeit desselben mit dem eben Beschriebenen errinnert, denn das Gesellige leuchtet darin hervor, [sc. der] andererseits aber auch hinweiset auf die Verschiedenheit desselben von dem der andern Seite der symbolisirenden Thätigkeit.“ (ebd.) In dieser Definition ist zuerst zu erkennen, dass die Offenbarung als ein Verhältnis der Einzelnen untereinander im Gebiet des Gefühls bestimmt wird, das – wie oben ausführlich beschrieben – durch ein intersubjektives Zusammenarbeiten von Andeuten und Ahnen strukturiert ist. Dazu unterstreicht der Autor durch den Zusatz „ganze“, dass dieses Verhältnis die zwei durch den Ausdruck des Gefühls verbundenen Teile dieses kommunikativen Vorgangs, nämlich die Kundgebung des Einen und das Suchen eines Anderen, enthält. Daraus ergibt sich der Befund, dass die Offenbarung im Gebiet des Gefühls als ein Zusammenspiel bzw. als eine Synthese von Andeuten und Ahnen gilt. Sodann ist in dieser Definition festzustellen, dass Offenbarung als ein Verhältnis der Einzelnen im Gebiet des Gefühls sowohl Ähnlichkeit als auch Differenz mit der Verständigung im Gebiet des Gedankens hat. Die Ähnlichkeit bezieht sich hier darauf, dass die beiden Verhältnisse auf dem durch Geben und Empfangen strukturierten kommunikativen Prozess beruhen. Das ist die basale Struktur für die beiden symbolisierenden Tätigkeiten. Und für beide ist ein gemeinschaftliches Leben („das Gesellige“) vorausgesetzt, obwohl es sich den beiden Handlungssphären entsprechend unterschiedlich zeigt. Die Differenz besteht in dem Unterschied der beiden Tätigkeiten selbst: Die Tätigkeit des identischen Symbolisierens ist übertragbar und somit nachbildlich, weshalb das Verhältnis dort durch Verständigung zu beschreiben ist; im Gegensatz dazu sind die Tätigkeit des individuellen Symbolisierens sowie ihre Produkte unübertragbar, weshalb dieses nur durch Offenbarung zu realisieren ist. Anschließend an diesen zweiten Aspekt spricht der Autor von einer geheimnisvollen Seite des Verhältnisses der Offenbarung: „Es giebt sich nemlich darin zu erkennen das geheimnißvolle dieses Verhältnisses, daß wir das Gefühl eines Anderen durch seinen Ausdrukk zwar inne werden, aber ohne es in uns aufnehmen und in das unsrige verwandeln zu können.“ (ebd.)99 Dem Zitat folgend bedeutet diese geheimnisvolle Seite der Offenbarung: Wegen der Unübertragbarkeit des Gefühls können wir zwar das Gefühl eines Anderen durch dessen Ausdruck im Offenbarungsverhältnis wahrnehmen, aber das Gefühl des Anderen selbst kann weder ein Teil

99 Hierzu vgl. PhE 1814/16, 440–441: „Inwiefern die Besonderheit der Vernunft in der Natur heraustritt, entsteht ein Gebiet des Geheimnisses und der Ahndung. Dies ist das Gebiet des Gefühls oder des bewegten Gemüthes.“

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von uns noch unser eigenes Gefühl werden. Kurz gesagt: Das Gefühl eines Anderen kann auf keinen Fall das Meinige werden.100 Was das heißt, dass man das Gefühl eines Anderen durch seinen Ausdruck inne wird, ist hier allerdings nicht aufgeklärt. Bisher ist zu ersehen, dass Schleiermacher den Begriff der Offenbarung plausibilisiert, indem er die Offenbarung einerseits von dem Übernatürlichen abgrenzt und sie als ein allgemein Menschliches bestimmt und andererseits ihre geheimnisvolle Seite herausstellt – so wie er selbst resümiert: „Offenbarung [sc. ist] nicht übernatürlich, aber das mysteriöse Verhältniß ausgedrückt.“101 Dass der Autor ca. zwei Jahre zuvor (1814/16) den Begriff der Offenbarung bereits in Bezug auf die identische Bezeichnungstätigkeit verwendet hat, um dieses Bezeichnungsgebiet von dem Gebiet des Gefühls zu unterscheiden, haben wir angemerkt. Unserer obigen Untersuchung nach ist nun eindeutig, dass der Autor im Jahr 1816/17 der klaren Meinung ist, dass der Begriff der Offenbarung überhaupt nicht angemessen für das durch Aussprechen und Nachbilden der Sprache gebildete Gebiet des Gedankens ist. Daraufhin gehört die Offenbarung als Begriff für das Zusammenarbeiten von Andeuten und Ahnen nun ausschließlich zu dem Bezeichnungsgebiet des individuellen Symbolisierens. In seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre traut Schleiermacher sich nicht nur das menschliche Verhältnis untereinander im Gebiet des Gefühls, das durch Zusammenarbeit von Andeuten und Ahnen strukturiert ist, als Offenbarung zu bezeichnen, sondern er ist auch davon überzeugt, dass das Offenbarungsverhältnis für die ganze Handlungssphäre des individuellen Symbolisierens wesensbestimmend und unentbehrlich ist. Diese Ansicht bringt er wie folgt zum Ausdruck: „Die ganze Thätigkeit ist aber eben so wesentlich dadurch bedingt, daß die Elemente der Offenbarung ein Ganzes der Gemeinschaft bilden, wie das Denken durch die Sprache bedingt ist und das Eigenthum durch die Geselligkeit.“ (PhE 1816/17, 598) Aus dieser Passage ist zu ersehen, dass das Bilden eines Ganzen der Gemeinschaft diese Handlungsweise des individuellen Symbolisierens wesentlich bestimmt. Wir haben bereits herausgefunden, dass die Offenbarung von dem Autor als eine Synthese von Andeuten und Ahnen bestimmt wird. Insofern beziehen sich hier „die Elemente der Offenbarung“ auf die beiden Seiten der Offenbarung – das Andeuten und das Ahnen. Damit verbunden begründet der Autor die obige Ansicht folgendermaßen: „Denn wie kein Act des Gefühls ein ganzer und sittlicher ist, wenn er nicht Andeutung wird für jeden, der ahnden will, und wenn er nicht zugleich Ahndung ist dessen, daß andere andeuten wollen, so kann auch keiner entstehen als nur im Zusam-

100 Wilhelm Dilthey hat darauf hingewiesen, dass das Geheimnisvolle dieses Verhältnisses „im Gegensatz zu der Übertragbarkeit des Wissens durch die Bezeichnung als Offenbarung ausgedrückt“ wird (vgl. ders.: Leben Schleiermachers [Bd. 2][1966], 303). 101 PhE 1814/16, 446 (Fußnote), Zusatz am Rande 1816.

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menhang mit der Gesamtheit des Andeutens und Ahndens, die für jeden einzelnen Act schon muß vorausgesezt werden.“ (ebd.) In dieser Erläuterung legen sich zwei wichtige Merkmale für das Zusammenarbeiten von Andeuten und Ahnen nahe. Zuerst stellt der Autor fest, dass die beiden Richtungen im Offenbarungsverhältnis, nämlich das Andeuten und das Ahnen, auf freie Weise zusammengehören. Anders gesagt: Das Andeuten eines Einzelnen entspricht dem Ahnenwollenden, jedes Ahnen dem Andeutenwollen der anderen. Diese Freiwilligkeit oder Spontaneität im Offenbarungsverhältnis ist im Einklang mit dem Gedanken der freien Geselligkeit Schleiermachers,102 den er bereits im Versuch einer Theorie des geselligen Betragens entwickelt hat. Sodann ist hier zu erkennen, dass die beiden Richtungen im Offenbarungsverhältnis der Einzelnen in diesem Bezeichnungsgebiet wechselseitig sein müssen. Aufgrund der Sittlichkeit in der Vernunfttätigkeit muss jeder Einzelne als Träger des Akts des Gefühls im Offenbarungsverhältnis gleichzeitig sowohl der Gebende als auch der Empfangende sein, genauer genommen gleichzeitig sowohl der Andeutende als auch der Ahnende. Diesbezüglich nennt der Autor dieses Verhältnis auch „gegenseitige Offenbarung“ (PhE 1816/17, 599). Diesem Sachverhalt liegt zugrunde, dass jeder Akt des Gefühls nur „im Zusammenhang mit der Gesamtheit des Andeutens und Ahndens“ hervorgebracht werden kann.103 Damit ist das Zusammenarbeiten von Andeuten und Ahnen im Offenbarungsverhältnis durch Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit gekennzeichnet. Vergegenwärtigt man sich an dieser Stelle, dass Schleiermacher das Wesen des Offenbarungsverhältnisses im Gebiet des Gefühls anfangs unter der Geselligkeit versteht und dem Gefühl sodann die Zusammengehörigkeit zuschreibt, so ist hier festzustellen, dass die Idee der „Gesamtheit des Andeutens und Ahndens“ eng mit dem Gedanken der Zusammengehörigkeit verbunden ist. Zusammenfassend lässt sich hier schließen: Die gegenseitige Offenbarung, die das Verhältnis der Einzelnen im Gebiet des Gefühls charakterisiert und die notwendig durch die intersubjektive Wechselbeziehung von Andeuten und Ahnen strukturiert ist, hat eine entscheidende Bedeutung für die ganze Vernunfttätigkeit des individuellen Symbolisierens, denn sie bildet nicht nur „ein Ganzes der Gemeinschaft“,104 sondern macht auch die

102 Theodor Jørgensen spricht hierzu nicht nur von einer Spontaneität der Gefühlsäußerung am Offenbarungsgeschehen bei Schleiermacher, sondern entdeckt hierbei auch eine bewusste Hemmung der Spontaneität. Seiner Beobachtung nach spielt diese bewusste Hemmung der Spontaneität „eine Rolle bei der Gestaltung der Gefühlsäußerung und hat mit ihrer Wahrhaftigkeit zu tun“ (ders.: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis [1977], 86). 103 Dem grundlegenden Gedanken Schleiermachers, dass das Entstehen des Gefühls wegen des Zusammengehörens der Einzelnen in diesem Gebiet direkt mit dem Äußerlichwerden des Gefühls im Verhältnis von Andeuten und Ahnen verbunden ist, sind wir in der obigen Untersuchung an verschiedenen Stellen begegnet. 104 An dieser Stelle weist Alexander Schweizer darauf hin, dass „ein Ganzes der Gemeinschaft“ sich bei Schleiermacher in verschiedenen Kontexten unterschiedlich darstellt: „Dies ist das Gebiet,

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Sittlichkeit des Akts des Gefühls aus. In der Verschränkung der Gestaltung eines Ganzen der Gemeinschaft und der Ethisierung des Gefühls realisiert sich die Vernunfttägtigkeit des individuellen Symbolisierens. Für Schleiermacher besteht kein Widerspruch zwischen Vernunft und Offenbarung. Er exponiert die Offenbarung in der Philosophischen Ethik seiner Berliner Reifezeit als das Verhältnis der Einzelnen im Gebiet des unübertragbaren Gefühls, im Rahmen seiner Handlungstheorie. Insofern gehört Offenbarung bei Schleiermacher wohl zu dem Bereich der Vernunft, genauer genommen zu dem individuellen Bereich der Vernunfttätigkeit. Mit seinem Offenbarungsbegriff erklärt er, wie die Individuen im Gebiet des unübertragbaren Gefühls durch die intersubjektive Wechselwirkung von Andeuten und Ahnen miteinander kommunizieren können. Dadurch wird sein Verständnis des Gefühls um eine kommunikationstheoretische Dimension bereichert. Diese sozialphilosophische Interpretation des Offenbarungsbegriffs durch Schleiermacher fasst das Offenbarungsverständnis „in der gesamten mittelalterlichen und altprotestantischen Tradition“ neu,105 wo die Offenbarung mit der übernatürlichen Gottesoffenbarung identifiziert und deshalb als übernatürliche Erkenntnisquelle oder übervernünftiges Wissen verstanden wurden. Hierbei beschränkte sich die Verwendung des Begriffs der Offenbarung darauf, das Verhältnis zwischen Gott (dem Offenbarenden) und den Menschen (denen offenbart wird) zu charakterisieren.106 Bereits im 19. Jahrhundert ist Schleiermachers Begriff der Offenbarung in seiner Beschreibung des Handlungsgebiets des Gefühls strittig. Zum Beispiel hat Alexander Schweizer (1835) die Abgrenzung der Offenbarung von dem Übernatürlichen wie folgt kommentiert: „[… …] daher sich vielleicht ein anderes [sc. Wort] finden ließe für diesen Begriff“.107 Wilhelm Dilthey ist der Meinung, dass Schleiermacher selbst nicht sehr zufrieden ist mit der Verwendung des Begriffs der Offenbarung im Gebiet des Gefühls: „Das Verhältnis der einzelnen untereinander in der Geschiedenheit des Gefühls bezeichnet Schleiermacher wenig glücklich als Offenbarung.“108 In

auf welches unten die Freundschaft und Liebe, auch die religiöse Gemeinschaft gestellt wird, das erst von S. in die Ethik auch als wirklicher Bestandtheil eingeführt wird.“ (SW III/5, 155, Fußnote) 105 Vgl. Ulrich Barth: Die Religionstheorie der ›Reden‹ (1998/2004), 275. Für Barth ist diese Neubestimmung des Offenbarungsbegriffs in der Philosophischen Ethik bereits in den Reden angelegt. Es ist darauf hinzuweisen, dass Schleiermacher sich in seiner Philosophischen Ethik der großen semantischen Weite der beiden Begriffe „offenbaren“ und „Offenbarung“ zu seiner Zeit bedient. Zum Begriff „offenbaren“ im 19. Jahrhundert vgl. Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. VII (1889), 1174–1176; zum Begriff „Offenbarung“ im 19. Jahrhundert vgl. a. a. O., 1177– 1178. 106 Zur neueren Diskussion über den Begriff „Offenbarung“ in der Theologie vgl. Gunter Scholtz: Art. Offenbarung (1984), in: HWPh, Bd. 6, 1105–1130; Johann Figl, Christoph Schwöbel u. a.: Art. Offenbarung (2003), RGG⁴, Bd. 6, 463–485. 107 SW V/3, 154, Fußnote. 108 Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 2)(1966), 302.

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der neusten Forschung sind nur wenige Beiträge zum Begriff der Offenbarung in Schleiermachers Philosophischer Ethik zu finden. Hans-Joachim Birkner hat den Offenbarungsbegriff Schleiermacher in der Philosophischen Ethik in einem frühen Aufsatz (1956) als „menschliche“ Offenbarung bezeichnet.109 Theodor Jørgensen (1977) hat den bisher wichtigsten Beitrag zum Offenbarungsverständnis des späten Schleiermacher geleistet. Den Offenbarungsbegriff in der Philosophischen Ethik der Reifezeit Schleiermachers betrachtet er als philosophisch, im Unterschied zu dem religionsphilosophischen und christologischen Offenbarungsbegriff in seiner Glaubenslehre. Jørgensen spricht zwar von einer Uneindeutigkeit des Offenbarungsbegriffs in der Philosophischen Ethik Schleiermachers, aber hat den Offenbarungsbegriff im besonderen und exklusiven Sinn bzw. in Bezug auf das Gebiet des Gefühls ausführlich untersucht und ist zu dem Befund gekommen, dass die Offenbarung die Selbstdarstellung der Individualität ist. Dieser Gedanke dient seiner Ansicht nach als Grundlage für den religionsphilosophischen und christologischen Offenbarungsbegriff Schleiermachers in seiner Glaubenslehre.110 1.3.4 Ertrag Auf der Basis einer mehrschichtigen Präzisierung des Verhältnisses von Vernunft und Natur entfaltet und vertieft Schleiermacher im Manuskript für seine Ethikvorlesung von 1816/17 zum letzten Mal seine durch ein Quadruplizitätsschema strukturierte Handlungstheorie. Wir haben uns im Vorangehenden zunächst auf die Funktion der bezeichnenden Tätigkeit, und vor allem im Modus ihres individuellen Vollzugs konzentriert. In diesem Kontext haben wir sodann Schleiermachers Verständnis des Gefühls in Bezug auf die Güterlehre seiner Berliner Reifezeit aus unterschiedlichen Perspektiven näher untersucht – in einer ausdruckstheoretischen Dimension, in einer subjektivitätstheoretischen Dimension und schließlich in einer kommunikationstheoretischen Dimension, während wir im dritten Kapitel den Begriff des Gefühls – gemäß seiner früheren Vorlesungsvorlage Brouillon zur Ethik (1805/06) – grundlegend nur in einer erkenntnistheoretischen Dimension herausgearbeitet haben. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, mit Blick auf den Fortgang der Arbeit den erzielten Ertrag dieser näheren Untersuchung in einigen Punkten zu benennen. 1. Das Gefühl als eine Lebenstätigkeit befindet sich im Bereich der bezeichnenden Vernunfttätigkeit der Handlungstheorie Schleiermachers und somit ist es in erster Linie ein Ausdrucksphänomen: Ebenso wie der Gedanke ist das Gefühl auch ein Ausdruck des Zusammenseins von Vernunft und Natur in der Natur. Das Gefühl

109 Hans-Joachim Birkner: „Offenbarung“ in Schleiermachers Glaubenslehre (1956), in: ders.: Schleiermacher-Studien (1996), 81–98, hier 94–97. 110 Mehr dazu vgl. Theodor Jørgensen: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis (1977).

1 Die nähere Bestimmung des Gefühls



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drückt die inneren mentalen Bewusstseinszustände des Einzelnen aus. In dieser ausdruckstheoretischen Dimension gilt das Gefühl nicht nur als sittlich oder religiös, sondern auch auf einer niedrigeren Ebene bzw. als leiblich und sinnlich. Das Gefühl als Ausdruck der inneren Zustände richtet sich auf die eigene Lebenseinheit des Einzelnen und hat somit eine Bedeutung für die Selbstbeziehung. Schleiermacher zufolge ist das Gefühl zudem ein unmittelbarer und vorreflexiver Ausdruck. 2. Im Brouillon zur Ethik wird das Gefühl erkenntnistheoretisch als individuelles Erkennen interpretiert. Diese erkenntnistheoretische Dimension ist zugleich auch eine subjektivitätstheoretische. Schleiermacher versteht das Gefühl in der Philosophischen Ethik seiner Reifezeit subjektivitätstheoretisch als Selbstbewusstsein. Durch die Einführung des Begriffs des Selbstbewusstseins wird die durch die Interpretation des individuellen Erkennens herausgehobene subjektivitätstheoretische Dimension zugespitzt. Der Bedeutungsumfang der Kategorie des Gefühls ist aber größer als der der Kategorie des Selbstbewusstseins. Das Gefühl als Selbstbewusstsein ist das individuellstes und unübertragbarste Bezeichnungsgebiet in der ausgeführten Handlungstheorie Schleiermachers. Das Gefühl als individuelles Selbstbewusstsein ist dem Gattungsbewusstsein des Menschen entgegengesetzt. Durch den Begriff des unmittelbaren Selbstbewusstseins grenzt Schleiermacher das Gefühl als individuelle Bezeichnungstätigkeit schließlich von dem leiblichen Gefühl einerseits und von dem reflektierten Selbstbewusstsein andererseits ab. Das Gefühl als unmittelbares Selbstbewusstsein ist eine Kohäsion des empirischen Veränderlichkeitsbewusstseins und des absoluten Abhängigkeitsbewusstseins am Ort des individuellen Subjekts. 3. Das Gefühl ist außerdem in einer kommunikationstheoretischen und sozialphilosophischen Dimension zu verstehen. In der Sphäre des Gefühls zeigt sich das Verhältnis der Menschen untereinander als Offenbarungsverhältnis, die Geselligkeit ist der Rahmen für den Offenbarungsbegriff. Denn nur in der freien Geselligkeit kann der Widerspruch zwischen dem Sich-ausschließen-Lassen des Individuums und der Einheit der Vernunft in der sittlichen Vernunfttätigkeit aufgehoben werden. Folgerichtig müssen alle Individuen um einer Sittlichkeit der Vernunfttätigkeit willen zusammengehören. Der Begriff der Offenbarung trifft die entscheidenden Probleme, wie das Gefühl des Individuums trotz seiner Unübertragbarkeit äußerlich werden und wie das Gefühl überhaupt entstehen kann. Anders als der Gedanke, der im Glaubensverhältnis durch Sprache äußerlich werden kann, wird das Gefühl nur im Offenbarungsverhältnis durch Gebärde äußerlich. Offenbarung ist eine Synthese von Andeuten und Ahnen in einem intersubjektiven Horizont. Somit ist Kommunikation trotz der Unübertragbarkeit des Gefühls in diesem bezeichnenden Gebiet möglich: Die Menschen kommunizieren miteinander vermittels des durch das gegenseitige Andeuten-Ahnen strukturierten Offenbarungsverhältnisses. In diesem intersubjektiven Vorgang erfolgt nicht nur die Gestaltung eines Ganzen der Gemeinschaft, sondern zugleich die Ethisierung des Gefühls. Offenbarung ist in der

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Philosophischen Ethik Schleiermachers nichts Übernatürliches, sondern sie gehört zu dem Bereich der menschlichen Vernunft. 4. Während der Autor das Gefühl im Brouillon zur Ethik grundlegend durch die Unübertragbarkeit kennzeichnet, charakterisiert er diese individuelle Bezeichnungstätigkeit in der Philosophischen Ethik seiner Reifezeit außerdem durch die Zusammengehörigkeit. Die Unübertragbarkeit des Gefühls bezieht sich auf das abgeschlossene Dasein jedes Individuums und richtet sich gegen die Möglichkeit der Nachbildung durch die Anderen, d. h. durch die Betrachtenden des Gefühls, daher wird die Individualität des Einzelnen durch das Gefühl legitimiert; die Zusammengehörigkeit des Gefühls betrifft den Aspekt des notwendigen Zusammenseins des Ichs bzw. des Fühlenden mit den Anderen und legt den Schwerpunkt nicht nur auf die Entstehung des Gefühls, sondern zugleich auf die Ethisierung des Gefühls. Als zwei wesensbestimmende Merkmale des Gefühls bedingen sich die Unübertragbarkeit und die Zusammengehörigkeit gegenseitig. Der Geselligkeit liegt die durch die Unübertragbarkeit der Individuen bedingte Zusammengehörigkeit zugrunde. 5. Der Begriff „Gefühl“ ist insofern bei Schleiermacher in einer doppelten Ausdrucksrelation zu verstehen: In der ersten Ausdrucksrelation ist Gefühl an sich eine bezeichnende Tätigkeit, d. h. Gefühl ist selbst ein Ausdrucksphänomen – ein Ausdruck der inneren mentalen Zustände. Der Ausdrucksbegriff hier ist begrifflich in einem weiten Sinne gemeint. In einer zweiten Ausdrucksrelation soll Gefühl als Ausdruck der inneren mentalen Zustände vermöge eines Mediums extra dargestellt oder ausgedrückt werden, denn es kann nicht wie das identische Erkennen bzw. der Gedanke durch die Sprache nachgebildet, sondern nur durch die vermittels der Gebärde erfolgte Darstellung von anderen erkannt oder geahnt werden. Aus den bisher genannten Punkten kann man nun den Ertrag dieses Abschnittes ziehen, dass das Gefühl als Grundbegriff in Schleiermachers Philosophischer Ethik unterschiedliche Bedeutungsaspekte enthält: Gefühl verbindet sich mit erkenntnistheoretischer Interpretation ebenso wie mit ausdruckstheoretischem Gedanken, mit subjektivitätstheoretischer Selbstbewusstseinsanalyse wie mit kommunikationstheoretischem Offenbarungsverständnis.111 Auf die Problematik, inwiefern Gefühl äußerlich und somit sittlich werden kann, gründen sich Schleiermacher zufolge die Verhältnisbestimmung von Gefühl und Religion sowie die Verhältnisbestimmung von Religion und Kunst. Diesen Themen wollen wir im Folgenden unter der Voraussetzung seines ethischen Religionsbegriffs im Brouillon zur Ethik nachgehen.

111 Dass Schleiermachers Begriffe darauf angelegt sind, in den verschiedenen Kontexten und Perspektiven unterschiedliche Bedeutungsaspekte aufzunehmen, hat Christof Ellsiepen treffend am Lebensbegriff aufgezeigt (vgl. ders.: Der Begriff des Lebens bei Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, in: Petra Bahr/Stephan Schaede [Hg.]: Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd. 1, Tübingen 2009, 487–507).

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2 Religion und Kunst „Wenn demnach das Bilden der Phantasie in und mit seinem Heraustreten Kunst ist, und der Vernunftgehalt in dem eigenthümlichen Erkennen Religion, so verhält sich Kunst zur Religion wie Sprache zum Wissen.“ (PhE 1812/13, 314–315, §228) – so lautet die berühmte Aussage zum Verhältnis von Religion und Kunst in Schleiermachers Handlungstheorie. Daraus ergibt sich der nicht weniger berühmte Befund, die Kunst diene als optimales Medium der Religion oder als „Sprache der Religion“. Diese These war seinerzeit im Umfeld der Romantiker in aller Munde, allerdings ist das entscheidende Problem, wieso gerade die Kunst als das angemessenere Darstellungsmedium für Religion anzusehen ist, bis heute trotz einiger beeindruckender Untersuchungen nicht gänzlich aufgeklärt.112 Diese Forschungslage ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Schleiermacher die diffizile Problematik trotz mehrmaliger Bearbeitung der Philosophischen Ethik nicht ausführlich erläutert hat. Nachdem wir im dritten Kapitel den ethischen Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik herausgearbeitet und dann im ersten Teil des vierten Kapitels den Begriff des Gefühls in der Philosophischen Ethik seiner Berliner Reifezeit in unterschiedlichen Theoriedimensionen untersucht haben, wollen wir uns nun diesem schwierigen Thema zuwenden.

2.1 Der Ausdruck des Gefühls In unserer bisherigen Untersuchung haben wir nicht nur gezeigt, aus welchen Gründen das Gefühl Schleiermacher zufolge äußerlich werden muss, sondern auch dargestellt, dass die Menschen sich in der Sphäre des Gefühls wegen dessen Unübertragbarkeit in einem Offenbarungsverhältnis befinden, das durch eine AndeutenAhnen-Korrelation strukturiert ist. Aus dem Sachverhalt, dass das Gefühl nicht wie Gedanken nachgebildet werden kann und dass seine Mitteilung nur in diesem geheimnisvollen Offenbarungsverhältnis denkbar ist, ergibt sich nun die Frage, wie

112 Zur Verhältnisbestimmung von Religion und Kunst bei Schleiermacher vgl. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 2)(1966), 314–319; Rainer Volp: Kunst als Sprache von Religion Ein Beitrag zur Semiotik Friedrich Schleiermachers, in: Kurt-Victor Selge (Hg.): Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, Bd. 1, Berlin/New York 1985, 423–438; Wilhelm Gräb: Predigt als kommunikativer Akt (1984); ders.: Predigt als Mitteilung des Glaubens (1988), 168–235; Thomas Lehnerer: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (1987), 338–384; Martina Kumlehn: Symbolisierendes Handeln (1999), 99–104; Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik (1995), 54–59; Michael Moxter: Religion und Kunst (2008); Jan Rohls: Kunst und Religion bei Schleiermacher und den Frühromantikern (2018); und neuerdings Holden Kelm: Kunst und Religion in Schleiermachers Vorlesungen über philosophische Ethik (2019). In Kelms Aufsatz finden sich zudem wichtige Belege aus noch ungedruckten Vorlesungsnachschriften Schleiermachers.

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sich das unübertragbare Gefühl dennoch auszudrücken und somit mitteilbar zu machen vermag. Diese Frage beantwortet Schleiermacher in seiner Güterlehre von 1812/13 mit einer Theorie über den Ausdruck des Gefühls. Erst auf dieser Basis kann im Anschluss die Grundthese zum Verhältnis von Religion und Kunst entwickelt werden, wonach die Kunst das optimale Ausdrucksmedium für das Gefühl ist und das Gefühl nur durch Kunstdarstellung sittlich werden kann. Im Rahmen der Untersuchung zum Thema Religion und Kunst in der Philosophischen Ethik Schleiermachers wollen wir deshalb im Folgenden zunächst die Ausdruckstheorie in seiner Güterlehre von 1812/13 systematisch rekonstruieren.113 Wie oben dargelegt wurde, muss der Begriff des Gefühls bei Schleiermacher in einer doppelten Ausdrucksrelation verstanden werden. Erstens ist das Gefühl an sich ein Ausdrucksphänomen: ein Ausdruck der inneren mentalen Zustände. Hier ist der Begriff des Ausdrucks in einem weiten Sinne gemeint: Das Ausdrucksverhältnis verbleibt in der Innerlichkeit des Subjekts und bedeutet ein inneres Gewahrsein des eigenen Zustands. In einer zweiten Ausdrucksrelation soll das Gefühl, an sich der Ausdruck der inneren mentalen Zustände, vermöge eines äußeren Mediums eigens dargestellt oder ausgedrückt werden. Hierbei geht es um die grundlegende Frage, wie das Gefühl überhaupt äußerlich werden kann. Im Folgenden ist dieses zweite Ausdrucksverhältnis zu thematisieren. Schleiermacher geht es in seiner Ausdruckstheorie, die das Gebiet des individuellen Erkennens bzw. das Gebiet des Gefühls betrifft, wesentlich darum, zwei grundsätzlich miteinander zusammenhängende Probleme zu lösen. Das erste Problem lautet, „inwiefern die Eigenthümlichkeiten des Erkennens ein System bilden (also nicht als einzeln und zufällig angesehen werden können), in welchem die Vernunft als Natur geworden erscheint“ (PhE 1812/13, 310, §204). In dieser Fragestellung verbirgt sich die wichtige Einsicht, dass das individuelle Erkennen nicht etwas Momentanes und Isoliertes ist, sondern sich mit der Bestimmtheit und Ganzheitlichkeit verbinden soll. Um die Einzelheit und Zufälligkeit zu überwinden, muss das individuelle Erkennen ein System bilden. Das zweite Problem besteht darin, „inwiefern, damit diese Totalität auch für die Vernunft unter der Form des Bewußtseins da sei, die Eigenthümlichkeit des Erkennens so weit als möglich sich mittheile, nemlich durch die Anschauung“ (PhE 1812/13, 310, §205). In dieser Frage deutet sich die

113 Rainer Volp (1982) ordnet die Ausdruckstheorie Schleiermachers in der Philosophischen Ethik der Semiotik zu, obwohl dieser „kein eigenes Fach der Semiotik – etwa neben Hermeneutik, Dialektik und Psychologie“ begründete (ders.: Die Semiotik Friedrich Schleiermachers, in: ders. [Hg., in Verbindung mit Rudi Fleischer]: Zeichen. Semiotik in Theologie und Gottesdienst, München 1982, 114–145, hier 114). Zudem weist er darauf hin: „Über die auch bei Saussure und der neuzeitlichen Sprachtheorie zu bemerkende linguistische Engführung hinaus scheint Schleiermacher eine universale Semiotik inauguriert zu haben, welche Anlaß ist, die unbedachte Rede von einer ‚romantischen Krise‘ umzukehren zur Fragen nach noch unausgewerteten Kriterien dieses ‚Sokrates des 19. Jahrhunderts‘ (Diesterweg).“ (ebd.) Vgl. ferner ders.: Kunst als Sprache von Religion (1985).

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zweite wichtige Einsicht an, dass das individuelle Erkennen im System (in der „Totalität“) unter der Form des Bewusstseins stehen muss. Um auf die Ebene des Bewusstseins zu gelangen, muss das individuelle Erkennen sich durch die Anschauung mitteilen. Durch die Mitteilung des individuellen Erkennens gestaltet sich in dieser Handlungssphäre eine Gemeinschaft, die Schleiermacher „Geselligkeit“ nennt, wie die Gemeinschaft in der Handlungssphäre des individuellen Organisierens. Der Verschränkung der Gemeinschaft des individuellen Organisierens mit derjenigen des individuellen Erkennens liegt der bereits aufgeklärte Sachverhalt zugrunde, dass die bildende und die erkennende Tätigkeit im sittlichen Sein ineinander verwoben sind. Im Vergleich zur Gemeinschaft des individuellen Bildens ist die Geselligkeit im Gebiet des individuellen Erkennens für Schleiermacher aber eine „mehr unmittelbare und innere“ (PhE 1812/13, 310, §206). Gemäß seiner Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Natur als Handeln der Vernunft auf die Natur betrachtet er die Realisierung der beiden Vorgänge – des Bildens des Systems und der Mitteilung der Individualität des Erkennens – als „von der Vernunft producirt“ (PhE 1812/13, 310, §204). Ausgehend von den beiden angesprochenen Einsichten zielt Schleiermachers Theorie über den Ausdruck des Gefühls nun wesentlich auf die beiden zentralen Fragen, auf welche Weise die Individualität des Erkennens sich mitteilen kann und auf welche Weise die Individualitäten des Erkennens ein System bilden können. Ausgangspunkt der Ausdruckstheorie in der Güterlehre von 1812/13 ist hierbei die Annahme, dass das Gefühl und die synthetische Kombination ursprünglich eins sind. Wir betrachten also zunächst, inwiefern dies gilt, bevor wir auf die beiden zentralen Fragen eingehen. In der Diskussion über das Gefühl als individuelles Erkennen im Brouillon zur Ethik (1805/06) ist bereits zutage getreten, dass die Kombinationsfunktion der Vernunft in der Idee eine entscheidende Rolle im Entstehungsvorgang des Erkennens spielt, insofern sie das sinnliche und fluktuierende Wahrnehmen zum Erkennen zu erheben und zu einer Einheit und Totalität zu bilden vermag.114 So sind das Gefühl und das Kombinationsvermögen der Vernunft bei der Entstehung des Gefühls nicht zu trennen. Die Einheit von Gefühl und Kombination wird in der Güterlehre von 1812/13 als allererste Bedingung für den Ausdruck des Gefühls expliziert. „In den Umfang derselben [sc. der Eigenthümlichkeit des Erkennens] gehört das bestimmte Selbstbewußtsein = Gefühl, und die echte synthetische Combination nach §‚163‘.“ (PhE 1812/13, 310, §207) Diesem Grundsatz ist zu entnehmen, dass das Gefühl und die wahre synthetische Kombination beide zum Handlungsgebiet des individuellen Erkennens gehören. Hierbei spricht der Autor ausdrücklich von einer synthetischen Kombination, um diesen Prozess von einer

114 Vgl. oben: Kapitel 3. 2. Der ethische Religionsbegriff in einem erkenntnistheoretischen Kontext, 233–237.

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analytischen Kombination abzugrenzen. Diese Differenz bedarf zunächst einer kurzen Erläuterung. Schleiermacher versteht die Weise, wie „das Erkennen überhaupt zu Stande kommt“ (PhE 1812/13, 301, §160), als Fortschreitung und unterscheidet, im Rückgriff auf das traditionelle Begriffspaar ‚synthetisch‘ und ‚analytisch‘, zwei „Fortschreitungsarten“, also zwei Modi, wie das Erkennen sich zu einem bestimmten Zustand entwickelt. Im ersten, „synthetischen“ Fall geht das Bewusstsein „von einer Einheit zur anderen“ (PhE 1812/13, 300, §154) fort, im zweiten Fall findet ein Progress „innerhalb einer Einheit zu den in ihr gesetzten Mannigfaltigkeiten“ statt, „d. h. analytisch“ (ebd.). Im analytischen Modus entwickelt sich das Erkennen zwar von der Einheit zu den unterschiedlichen Gestaltungen, aber daraus ergibt sich Schleiermacher zufolge keine Individualität, sondern nur eine bestimmte Form – „die Identität des Schematismus“.115 Im Gegensatz dazu entwickelt sich das Erkennen im synthetischen Modus von einer Einheit zu einer anderen Einheit, aus diesem Vorgang ergibt sich die Individualität. Den synthetischen Vorgang konkretisiert Schleiermacher wie folgt: „Alle synthetische Fortschreitung von einer Einheit zu einer anderen außer ihr liegenden drückt die Eigenthümlichkeit aus, d. h. sie ist in jedem eine andere, je nachdem sich die verschiedenen Richtungen in ihm überhaupt und im jedesmaligen Moment zu einander verhalten nach Maaßgabe seiner Talente und Neigungen“. (PhE 1812/13, 302, §163)116 Schleiermacher greift damit auf das Individuationsmodell zurück, das er in seinen Monologen (1800) erörtert hat. In dieser frühromantischen Schrift über die menschliche Individualität entwickelt er unter Anlehnung an das spinozistische Mischungsmodell und mit Hilfe von Kants Spontaneitätsgedanken ein Konstellationsmodell der Individuation.117 In Übereinstimmung mit den Monologen ist Schleiermacher in der oben zitierten Passage davon überzeugt, dass die synthetische Fortschreitung die Individualität ausdrückt, indem sich in diesem Vorgang die verschiedenen Elemente in jedem Einzelnen auf unterschiedliche Weise verbinden, gemäß einer freien Aktivität seines Geistes – „seiner Talente und Neigungen“. Anders als im analytischen Vorgang, der die Identität zur Folge hat, konstituiert sich die Indi-

115 Mehr dazu vgl. PhE 1812/13, 301, §161: „Alle analytische Fortschreitung, durch welche nemlich in einer Einheit die Totalität untergeordneter Einheiten gesezt wird, trägt in sich die Identität des Schematismus, d. h. man fordert, daß jeder, der Einen Schritt, auch alle nachthun müsse und dasselbe Facit gewinnen“. Und PhE 1812/13, 301, §162: „Hievon ist ausgenommen die rein mathematische Analysis, weil nehmlich diese keine wahre Analysis ist, indem das bloß unendlich Theilbare keine bestimmten Einheiten in sich darbietet. In der mathematischen Analysis ist daher die meiste Erfindung.“ 116 Dazu vgl. ferner PhE 1812/13, 302, §164: „Ausgenommen ist hievon die mathematische Synthesis, die keine wahre Synthesis ist, […], weil das unendlich Theilbare keine Sonderung darbietet; daher hier das synthetische Verfahren ganz mechanisch ist.“ 117 Vgl. oben: Kapitel 1. 2. Das neue Individualitätskonzept in den Monologen (1800).

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vidualität im synthetischen Vorgang. Diese These fasst Schleiermacher in einer Randbemerkung von 1827 zusammen: „Die Analysis ist überwiegend identisch, die Synthesis überwiegend different.“118 Mit diesem kurzen Blick auf die Unterscheidung von analytischem und synthetischem Modus der Erkenntnisgenese ist nun zu klären, inwiefern Gefühl und Kombination Schleiermachers Ansicht nach zu demselben Handlungsgebiet bzw. zum individuellen Erkennen gehören müssen. In unserer Studie zum Gefühlsbegriff in der Philosophischen Ethik haben wir mehrmals herausgestellt, dass das Gefühl als individuelles Erkennen wesentlich durch den Charakter der Individualität gekennzeichnet ist. Insofern die synthetische Methode des Erkennens die Individualität ausdrückt, müssen das Gefühl und die synthetische Kombination zusammengehören. Schleiermacher betrachtet die beiden somit als „nicht in der Realität getrennte Elemente“ (PhE 1812/13, 310, §208). Unter Bezugnahme auf die Geistesstruktur begründet er die Untrennbarkeit von beiden wie folgt: „Denn jedes Gefühl ist das Resultat aus den äußeren Einwirkungen auf die Einheit des innern Princips, und jede Verknüpfung das Resultat aus dem innern Princip in das unbestimmt mannigfaltig Objective. Also verhält sich beides wie Passion und Reaction, welche beide immer zusammen sind.“ (ebd.) Insofern das Gefühl als individuelles Erkennen die Aufnahme der äußeren Einwirkung in die Einheit des Lebens ist, und insofern die synthetische Kombination („jede Verknüpfung“) als Gegenaktion auf die äußere Einwirkung die Ausdehnung von der inneren Einheit nach draußen ist, kann das Verhältnis von Gefühl und synthetischer Kombination auf die Korrelation von Passion und Reaktion innerhalb der Geistesstruktur zurückgeführt werden. Aus dem untrennbaren Zusammensein von Passion und Reaktion ergibt sich die Behauptung: „Gefühl und combinatorisches Princip sind Eins.“119 Vor dem Hintergrund der obigen Verhältnisbestimmung von Gefühl und synthetischer Kombination verdeutlicht Schleiermacher sein Verständnis der synthetischen Kombination darüber hinaus durch zwei Anmerkungen. Zuerst gibt er den Hinweis: „Zum synthetischen Prozeß gehört nicht nur der Uebergang von einem Act des Erkennens zum anderen, sondern auch von und zu bildenden Acten, indem diesen immer ein Erkennen als Prototyp vorangeht, so daß hier beide Functionen in einander und die bildende unter der erkennenden begriffen ist.“ (PhE 1812/13, 311, §209) Der synthetische Prozess beschränkt sich demnach nicht allein auf den Bereich des Erkennens selbst, sondern vollzieht sich auch im Übergang vom Erkennen zum Bilden. Sodann unterstreicht Schleiermacher, dass die synthetische Kombination als ein die Individualität erzeugender Akt ein Ganzes ist. „In der Production der

118 PhE 1812/13, 301 (Fußnote zu §160), Zusatz am Rande 1827. Zu Schleiermachers Unterscheidung von analytischer und synthetischer Fortschreitung vgl. noch Thomas Lehnerer: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (1987), 216–217. 119 PhE 1812/13, 311 (Fußnote zu §214), Zusätze von 1816.

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Eigenthümlichkeit kann keine Geschäfstheilung stattfinden, denn jede soll ihre Person ganz durchdringen, und jede Person steht wieder in einer vollständigen Verbindung mit dem Universum; die Beschränkung ist hier zwar da, aber sie kann nicht gewollt sein.“ (PhE 1812/13, 311, §210) Zwei Gründe werden gegen die „Geschäftstheilung“ im Vorgang der synthetischen Kombination vorgebracht: Einerseits richtet sich jede synthetische Kombination auf die Einheit und Ganzheit ihres Subjekts. Diese Begründung stimmt überein mit dem bereits aufgeklärten Sachverhalt, dass das Gefühl sich nur auf die Einheit des Lebens bezieht. Der andere Grund ist darin zu erblicken, dass die Verbindung des Einzelnen mit dem Universum, die durch die synthetische Kombination erst möglich ist, vollständig sein muss. Das bedeutet, dass das Individuum im Hervorbringen seiner Individualität nicht in der einseitigen oder in einer beschränkten Verbindung mit dem Universum steht. Nimmt man jene Diskussion über die vorige synthetische Kombination und die Betonung der Ganzheit in dieser Kombination zusammen, so ist festzustellen, dass die Bestimmung der synthetischen Kombination von der Tätigkeit des Gefühls nicht zu trennen ist. Nachdem wir die Aufgaben der Ausdruckstheorie Schleiermachers deutlich gemacht und die Einheit von Gefühl und synthetischer Kombination als Ausgangspunkt geklärt haben, wollen wir jetzt seine Ausdruckstheorie an sich in den Blick nehmen. Eingeleitet wird das Thema zum Ausdruck des Gefühls mit der Behauptung: „Die Möglichkeit der Geselligkeit beruht auf der Möglichkeit die Eigenthümlichkeit zur Anschauung zu bringen, welche nur in einem vermittelnden Gliede sein kann, welches zugleich Ausdrukk und Zeichen ist.“ (PhE 1812/13, 311, §211) Diese Eingangsthese deutet an, dass die Mitteilung im Handlungsgebiet des individuellen Erkennens darin besteht, die Individualität in die Anschauung bringen zu können, das heißt, sie darzustellen. Sie besagt ferner, dass der Übergang von der Individualität in die Darstellung nur mittels des Ausdrucks und des Zeichens zu verwirklichen ist. Damit stellt sich die entscheidende Frage, was Ausdruck und Zeichen für das Gefühl überhaupt sind. Schleiermacher zufolge ist der Ausdruck des Gefühls trotz seiner wesenhaften Unübertragbarkeit auf zwei miteinander verbundenen Stufen zu realisieren: Auf der ersten Stufe wird das Gefühl vermittels Ton und Gebärde als natürlicher Ausdruck zur Anschauung gebracht; auf der Basis dieser ersten Stufe ist der Ausdruck des Gefühls auf einer zweiten Stufe durch Kunst in der Fantasie zu vollenden. Wir haben bereits gesehen, dass nach Schleiermacher das Gefühl ohne Gemütsbewegung nicht denkbar ist, weil das Gefühl als individuelles Erkennen durch die untrennbaren zwei Teile – Gemütsstimmung und Gemütsbewegung – zu strukturieren ist. Beide bilden die Sphäre des Gefühls. Die Gemütsbewegung als Heraustreten des Gefühls zeigt sich unterschiedlich: in niederer Stufe als natürlicher Ausdruck und in höherer Stufe als Bilden der Fantasie. Im Folgenden wollen wir auf die beiden Stufen näher eingehen.

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2.1.1 Ton und Gebärde Wir beginnen mit dem natürlichen Ausdruck. „Jede bestimmte Erregtheit des Gemüths ist begleitet von Ton oder Geberde als natürlichem Ausdrukk.“ (PhE 1812/13, 311, §212) Die Gemütsstimmung („Erregtheit des Gemüths“) findet zunächst eine „natürliche“, unwillkürliche Manifestation in einem sie begleitenden „Ton“ oder einer sie begleitenden „Gebärde“. Ton und Gebärde haben den Leib bzw. die Leiblichkeit als ursprüngliches Medium, unterscheiden sich aber von der Tonsprache und Gebärdensprache im Handlungsgebiet des identischen Erkennens, die ebenfalls den Leib als Medium haben. Der grundlegende Unterschied zwischen beiden Ausdrucksformen besteht darin, dass sie jeweils zu unterschiedlichen Handlungsbereichen gehören, jene zur Sphäre des individuellen Erkennens bzw. des Gefühls, diese zur Sphäre des identischen Erkennens bzw. des Wissens. Konkret ergibt sich daraus eine doppelte Differenz. Die erste betrifft die Ausdrucksform an sich: Während Ton und Gebärde das Gefühl unmittelbar zur Darstellung bringen, tun dies Tonsprache und Gebärdensprache nur mittelbar, in nachbildlicher Weise. So heißt es: „Der Ton ist aber hier nicht als Wort, sondern als Gesang, und die Geberde ist hier nicht als mittelbares Zeichen des Begriffs, sondern als unmittelbares“ (PhE 1812/13, 311, §213. Anmerkung). Diese besagte Differenz hat Schleiermacher später deutlicher gemacht, indem er in der Einleitung der Glaubenslehre (1830/31) den natürlichen Ausdruck des Gefühls durch unmittelbarste und ursprünglichste Mimik (Gesichtsausdruck und Gesichtszüge) und Gestik (Bewegung), wodurch die Unübertragbarkeit des natürlichen Ausdrucks herausgestellt wird, erweitert und präzisiert.120 So gelten Mimik und Gestik als basale Ausdrucksform des Gefühls. Die beiden Ausdrucksmodi sind zweitens durch ihren Gehalt zu unterscheiden. Während die Gebärdensprache

120 Hierzu CG², §6.2, 55: „So das Gefühl als ein in sich abgeschlossenes Bestimmtsein des Gemüthes will doch, so wie es auf der andern Seite in Gedanken oder That übergeht, wovon aber hier nicht die Rede ist, so auch als Gefühl und lediglich vermögen des Gattungsbewußtseins nicht ausschließlich für sich sein, sondern wird ursprünglich und auch ohne bestimmte Absicht und Beziehung ein Aeußeres durch Gesichtsausdrukk Gebehrde Ton und mittelbar durch das Wort, und so Andern eine Offenbarung des Inneren.“ Und CG², §15.1, 127: „Alle frommen Erregungen, welcher Art und Stufe der Frömmigkeit sie auch angehören, haben dieses mit allen andern Modificationen des bewegten Selbstbewußtseins gemein, daß sie sich, so wie sie einen gewissen Grad und eine gewissen Bestimmtheit erreicht haben, auch äußerlich kundgeben, am unmittelbarsten und ursprünglichsten mimisch durch Gesichtszüge und Bewegungen sowohl Töne als Gebehrden welche wir als den Ausdrukk derselben betrachten, und auch so schon den Ausdruck der Andacht von dem einer sinnlichen Fröhlichkeit oder Traurigkeit, nach der Analogie mit dem, was Jeder an sich selbst kennt, bestimmt unterscheiden.“

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Gedanken darstellt und im Notzustand als Ersatz für Sprache dient,121 sind der Ton und die Gebärde im Gebiet des individuellen Erkennens „ein natürliches und nothwendiges Aeußerlichwerden des rein Innern“ (ebd.) jedes Individuums. Anders als die ersetzbare Ton- und Gebärdensprache sind der Ton und die Gebärde im Gebiet des Gefühls trotz ihrer Natürlichkeit unentbehrlich für den Ausdruck des Innern.122 Dass der Ausdrucksgehalt von Ton und Gebärde etwas rein Inneres ist, hängt direkt mit der bereits herausgearbeiteten These zusammen, dass das Gefühl an sich der Ausdruck der inneren mentalen Zustände ist, obwohl der Begriff „Ausdruck“ hierbei in einem schwachen Sinne verwendet wird.123 Der natürliche Ausdruck des Gefühls ist noch durch einige Merkmale zu charakterisieren. Der Notwendigkeit der Ausdrucksformen Ton und Gebärde liegt der Sachverhalt zugrunde, dass das Gefühl unübertragbar ist – nicht wie der Gedanke, der durch die Sprache nachgebildet werden kann. Die Natürlichkeit von Ton und Gebärde als Ausdruck bezieht sich nicht nur auf ihre Einfachheit und Unmittelbarkeit, sondern nach Schleiermacher geht es auch um die Willkürlichkeit und Zufälligkeit, das heißt, um etwas Nichtbewusstes. Dies macht er in seinen Bemerkungen zur Ethik von 1832 noch deutlicher: „Das unmittelbare Heraustreten [sc. des Gefühls] ist das durch Ton und Geberde. Dies ist nur insofern willkürlich, als es zurükgehalten werden kann, an sich aber nichtbewußtes Product jener Tendenz.“ (Bemerkungen 1832, 648) Demzufolge sind für Schleiermacher Ton und Gebärde als natürlicher Ausdruck des Gefühls noch nicht mit Bewusstsein verbunden. In der Glaubenslehre wird dieser Charakter als „ohne bestimmte Absicht und Beziehung“124 akzentuiert.

121 Zu Ton- und Gebärdensprache vgl. PhE 1812/13, 305–306. Speziell zur Tonsprache schreibt Schleiermacher: „Die Sprache tritt überall, wo die Menschen sich in einer wahren Gemeinschaft des Ekennens finden, heraus als Tonsprache, welche beruht auf einem eigenen organischen System, welches außerdem keine bestimmte Bedeutung hat.“ (PhE 1812/13, 305–306, §180. Anmerkung 1) Schleiermacher findet drei Gründe für die Entstehung der Gebärdensprache: „Die Geberdensprache als Sprache, (d. h. die Identität des Schematismus darstellend,) findet sich nur im unvollkommenen Zustande als Surrogat, a) wo die Mittheilung durch die Tonsprache organisch gehemmt ist; b) in der frühsten Kindheit, wo wegen der Unvollkommenheit der Vorstellung Ausdruck und Zeichen auch noch unvollkommen sind und also einer ergänzenden Duplicität bedürfen; c) im Zusammensein von Menschen, welche differente Sprachen besizen.“ (PhE 1812/13, 306, §181. Anmerkung 2) 122 Dazu vgl. Rainer Volp: Die Semiotik Friedrich Schleiermachers (1982), 126–128. Zum Begriff „Gebärde“ vgl. ferner Theodor Jørgensen: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis des späteren Schleiermacher (1977), 90–112. Jørgensen diskutiert den Begriff der Gebärde bei Schleiermacher in einem sehr weiten Horizont, indem er die Problematik nicht nur nach den Schriften der Philosophischen Ethik und der Ästhetik entfaltet, sondern die entsprechenden Erörterungen in seiner Psychologie und Hermeneutik auch berücksichtigt. 123 Vgl. PhE 1814/16, 448: „Der Ausdruck Geberde ist hier im weitesten Sinn genommen für alle das innere Erregtsein unmittelbar darstellende Bewegung, so daß auch, was seinem Inhalt nach Gedanke ist, seiner Entstehung nach kann Geberde sein.“ Dazu vgl. Rainer Volp: Die Semiotik Friedrich Schleiermachers (1982), 126–128. 124 CG², §6.2, 55. Vgl. oben: 349, Fußnote 120.

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Insgesamt ist der unentbehrliche natürliche Ausdruck des Gefühls in Ton und Gebärde also durch Leiblichkeit, Unmittelbarkeit, Ursprünglichkeit, Einfachheit, Willkürlichkeit sowie Zufälligkeit gekennzeichnet. In Schleiermachers Schrift zur Ästhetik (1819), die aus seinen Vorlesungen in Berlin stammt, wird der natürliche Ausdruck als kunstlos – im Vergleich zum künstlerischen Ausdruck – bezeichnet.125 In seiner Eingangsthese hat Schleiermacher schon darauf hingewiesen, dass der Übergang von der Individualität zur Darstellung in Ausdruck und Zeichen als vermittelndem Glied zu verwirklichen ist. Dazu reichen jedoch Ton und Gebärde als natürliche Ausdrucksformen nicht aus, weil Ton und Gebärde nur einzeln sind und nicht im Zusammenhang stehen. Ausgehend von seiner Begründung der Einheit von Gefühl und Kombination bringt Schleiermacher nun das Zeichen ins Spiel: „Da aber das Gefühl allein nicht dies ganze Gebiet bezeichnet, so muß auch ein Zeichen dasein für die synthetische Combination.“ (PhE 1812/13, 311, §214) Das heißt, dass das Zeichen in der Sphäre des Gefühls die Funktion hat, den natürlichen Ausdruck – Ton und Gebärde – synthetisch zu verknüpfen. Der Grund dafür ist: „Das hier eigentlich Darzustellende ist aber nicht der einzelne wirkliche Act, denn wirklich ist nur das beides, was auf einander folgt; sondern das darin liegende Gesez bezogen auf einen bestimmten Fall.“ (PhE 1812/13, 312, §215) Was im Ausdruck und Zeichen in der Sphäre des Gefühls zu veräußerlichen ist, bezieht sich auf die Ganzheitlichkeit des Handelns („das Gesetz, bezogen auf einen bestimmten Fall“), nicht auf einen isolierten Akt – „wo noch Einseitigkeit dominirt“ (PhE 1812/13, 314, §227). Schleiermacher bezeichnet dieses Gesetz als „die allgemeine Formel für den relativen Werth alles Einzelnen für das Individuum“ (PhE 1812/13, 312, §216) – die Individualität jedes Einzelnen ist zwar relativ, aber bei der Darstellung der Individualität geht es nur um die Ganzheitlichkeit des Handelns. Damit ist an das Prinzip der Einheit des Lebens des Individuums zu erinnern, das wir im Rahmen der näheren Bestimmung des Gefühls bereits aufgeklärt haben.126 2.1.2 Kunst in der Phantasietätigkeit Wie bereits aufgezeigt hat der Ausdruck des Gefühls die wichtige Funktion, die inneren mentalen Zustände festzuhalten. Ton und Gebärde als natürliche Ausdrucksformen des Gefühls sind zwar ursprünglich und notwendig, aber sie dienen der Fi-

125 Friedrich Schleiermacher: Ästhetik (1819/25); Über den Begriff der Kunst (1831/32), hg. von Thomas Lehnerer, Hamburg 1984, 10–11: „Auf diesem Gebiet nun ist das Identische zwischen dem Kunstlosen und Künstlerischen die innere Erregung, und die Aeußerungen werden dieselben. Das Kunstlose aber ist ohne Maaß und Regel (Sprung in der Freude, Umherwühthen im Zorn, Schrei im Schreck usw.).“ Thomas Lehnerer fasst diesen Charakter als „kunstlos, formlos, regellos und angemessen“ zusammen (ders.: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers [1987], 201). Mehr dazu vgl. a. a. O., 200–201. 126 Vgl. oben, 282–287.

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xierung der inneren Zustände nur „auf eine sehr unvollkommene Art“ (PhE 1812/13, 313). Denn es fehlen die Spontaneität und die Freiheit des Menschen als eines individuellen handelnden Subjekts. Ton und Gebärde in ihrer Ursprünglichkeit sind nämlich nur der willkürliche und momentane Ausdruck des Gefühls. Vor diesem Hintergrund führt Schleiermacher die zweite Stufe im Ausdruck des Gefühls ein: „Jede bestimmte Erregtheit von ihrer spontanen Seite angesehen ist daher begleitet von einem Bilden der Fantasie als einem eigentlich darstellenden Act.“ (PhE 1812/ 13, 313, §218) Als Resultat der Spontaneität des Subjekts entspricht jeder Gemütsstimmung eine spontane Ausdruckstätigkeit, nämlich ein „Bilden der Fantasie“ (PhE 1812/13, 313, §221). Hierbei wird die Phantasie als Tätigkeit oder präziser als ein darstellender Akt gefasst und vom Autor für das Heraustreten des Gefühls zur Geltung gebracht. Der Ausdruck des Gefühls im Modus der Phantasietätigkeit ist nicht isoliert von dessen natürlichem Ausdruck, sondern er „schließt sich [sc. an diesen] an“ (PhE 1812/13, 313, §219. Anmerkung 1). Diesen engen inneren Zusammenhang der zwei Stufen begründet der Autor wie folgt: „Denn wenn Geberde und Ton als Reihe gesezt und, wenn auch dunkel, vorher gedacht und concipirt werden, so sind sie selbst ein solches darstellendes Bilden.“ (ebd.) Diese Aussage zeigt, dass der einfache und natürliche Ausdruck des Gefühls auf die höhere Stufe steigen und damit selbst das darstellende Bilden sein kann, indem die zufälligen und willkürlichen Töne und Gebärden als Reihe kombiniert werden, oder indem sie – wenn auch noch unklar – vorher schon zu einem Bild entworfen werden. Dass der natürliche Ausdruck sich zum darstellenden Bilden entwickeln kann, ist nach Schleiermacher nicht altersbedingt. Denn das Bilden der Phantasie findet schon in früher Kindheit statt.127 Der Zusammenhang zwischen dem natürlichen Ausdruck und der darstellenden Phantasie besteht folglich darin, dass Ton und Gebärde als Material für den spontanen Ausdruck des Gefühls gelten kann und die Phantasie als Kombinationskraft für die Formung desselben Materials fungiert. Daraus erschließt sich der innere Zusammenhang von natürlichem Ausdruck und Phantasie in der Sphäre des Gefühls: Einerseits ist der natürliche Modus unentbehrlich für den Ausdruck des Gefühls insgesamt, andererseits brauchen Ton und Gebärde die Phantasie, um selbst ein darstellendes Bilden zu werden.128 Im Folgenden wollen wir zunächst auf Schleiermachers Diskussion über den Begriff der Phantasie eingehen (2.1.2.1), bevor wir uns der Frage zuwenden, wie Kunst in der Phantasietätigkeit möglich ist (2.1.2.2).

127 PhE 1812/13, 313–314, §221: „Wie sich schon in der ersten Kindheit Geberde und Ton zeigen und vermittelst derselben sich erst der eigenthümliche Charakter der äußeren Person entwikkelt: so zeigt sich auch schon früh das Bilden der Fantasie, und es entwickelt sich daraus der eigenthümliche Charakter der inneren Person, durch welchen, wie durch jenen, hernach die einzelnen Aeußerungen bedingt sind.“ 128 Zum Verhältnis von natürlichem Ausdruck und Phantasie vgl. Thomas Lehnerer: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (1987), 223.

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2.1.2.1 Phantasie Was ist die Phantasie eigentlich, die die entscheidende Rolle für den Ausdruck des Gefühls spielt? Nach einer Klärung des inneren Zusammenhangs zwischen dem natürlichen Ausdruck und der Phantasie findet sich dazu folgende Bestimmung: „Fantasie ist synthetisches Vermögen, und zwar auf allen Stufen. Die persönliche Sinnlichkeit ist Fantasie und die Vernunft ist auch Fantasie. Auf jedem Gebiet aber gehören synthetische Combinationen nur insofern der darstellenden Fantasie an, als sie nicht analytisch werden wollen.“ (PhE 1812/13, 313, §220. Anmerkung 2) Laut dieser Aussage hat die Phantasie sowohl mit Persönlichkeit und Sinnlichkeit zu tun als auch mit der Vernunft – sie ist ein Vernunftvermögen der synthetischen Kombination. Der Begriff der Phantasie, der philosophiegeschichtlich bis auf Aristoteles (Vorstellungsbild) zurückweist, ist in der Aufklärung ein zentraler philosophischer Terminus geworden. In der nachkantischen Philosophie, besonders bei Fichte, wird die Phantasie mit der Einbildungskraft identifiziert.129 Dass der Phantasie eine entscheidende Funktion in der Handlungstheorie Schleiermachers zukommt, zeigt sich nicht erst im vorliegenden ausdruckstheoretischen Zusammenhang – in der Diskussion über die Erkenntnistheorie haben wir auf ihre Bedeutung bereits hingewiesen. Doch die Phantasie wird bei Schleiermacher nicht erst im Rahmen der Handlungstheorie in seiner Philosophischen Ethik behandelt. Schon in den Reden und in den Monologen kommt dem Begriff seine wichtige Bedeutung zu.130 Die obige Feststellung, dass der Ausdruck des Gefühls aufgrund des spontanen Charakters der Gemütsbewegung nur durch die vom natürlichen Ausdruck untrennbare Phantasietätigkeit vollkommen zu verwirklichen ist, bedarf nun eines Blicks auf die Verwendung des Phantasiebegriffs in der Handlungstheorie Schleiermachers, um daraufhin die Funktion der Phantasie für den Ausdruck des Gefühls nachzuzeichnen.131

129 Zum Begriff der Phantasie und der Einbildungskraft in der Aufklärung und im Deutschen Idealismus vgl. Johann Heinrich Trede und Karl Homann: Art. Einbildung, Einbildungskraft (1972), in: HWPh, Bd. 2, 346–358; Birgit Recki und Gesche Linde: Art. Phantasie (2003), in: RGG⁴, Bd. 6, 1259– 1262; Silvio Vietta: Der Phantasiebegriff der Frühromantik und seiner Voraussetzung in der Aufklärung, in: ders. (Hg.): Die literarische Frühromantik (1983), 208–220; ders.: Literarische Phantasie. Theorie und Geschichte (Barock und Aufklärung), Stuttgart 1986, 223–248; Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung, Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750, Tübingen 1998. 130 Zum Phantasiebegriff beim frühen Schleiermacher vgl. Eugen Huber: Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher (1901), 306; Albert L. Blackwell: Schleiermachers Early Philosophy of Life: Determinism, Freedom, und Phantasy, California 1982, 205–294; Thomas Lehnerer: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (1987), 214; Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva (2006), 376 und 396. 131 Zum Phantasiebegriff bei Schleiermacher in seiner Philosophischen Ethik vgl. Gunter Scholtz: Schleiermachers Musikphilosophie, Göttingen 1981, 60–62; Thomas Lehnerer: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (1987), 214–230. Lehnerers Diskussion über den Phantasiebegriff Schleiermachers geht mehr auf die Ästhetik ein. Vgl. ferner Christiane Braungart: Mitteilung durch Dar-

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Schleiermachers Bestimmung der Phantasie als einer individuellen Vernunfttätigkeit, genauer genommen als eines Vermögens der synthetischen Kombination, ist auf seine Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) zurückzuführen. Wir haben gesehen, dass Schleiermacher im Brouillon zur Ethik (1805/06), der ersten systematischen Darstellung seiner Handlungstheorie, allgemeine Vernunft („Vernunft an sich“) und individuelle Vernunft („Vernunft als Seele des Einzelnen“) unterscheidet, wobei dieser Unterschied als Grundlage der Handlungstheorie fungiert. In den Grundlinien ist die fragliche Unterscheidung zwar noch nicht ausgereift, aber im Zuge der Kritik der bisherigen ethischen Systeme hebt Schleiermacher bereits deutlich die Schwäche der bisherigen Vernunftidee hervor, lediglich die Gemeinsamkeit der menschlichen Geistesvermögen zu thematisieren.132 In diesem Zusammenhang bestimmt Schleiermacher die Phantasie als etwas von der allgemeinen Vernunft Verschiedenes: „Dieses nemlich scheint der Grund des Übels zu sein, daß Alle fast das geistige Vermögen des Menschen nur ansehen als Vernunft, die andere Ansicht dieser Grundkraft aber als freies Verknüpfungs- und Hervorbringungsvermögen, oder als Fantasie, ganz vernachlässigen, welches doch die eigentlich ethische Ansicht sein müßte, und sich eben deshalb auch in der Ausführung nicht ganz übersehen läßt.“ (Grundlinien 287) Der junge Autor weist darauf hin, dass es neben der gleichförmigen Vernunft noch eine zumeist unberücksichtigte Dimension des geistigen Vermögens des Menschen gibt – ein freies und produktives Kombinationsvermögen. Er identifiziert dieses Vermögen bereits hier mit der Phantasie – das ist Schleiermachers erste Bestimmung ihrer Funktion. Hierbei geht er zwar noch nicht so weit, die Phantasie der Vernunft zu subsumieren, aber er betrachtet sie als einen anderen, aber nicht zu übersehenden Aspekt des geistigen Vermögens des Menschen und spricht insofern von einer ethischen Bedeutung dieses Vermögens. Wie unterscheidet sich nun die Phantasie als ein freies Kombinationsvermögen von der gemeinschaftlichen und gleichförmigen Vernunft? Sie ist nach Schleiermacher durch die charakteristisch menschliche Eigenschaft der Individualität gekennzeichnet: „Die Fantasie aber ist das eigentlich Individuelle und Besondere eines Jeden“ (ebd.). Damit ist das Individualitätsprinzip der Phantasie benannt. Schleiermacher hebt aber zugleich hervor, dass die Phantasie nicht von der allgemeinen Vernunft zu trennen ist: „[U]nd zu ihr [sc. der Phantasie] offenbar gehört auch, was sich oben als das gemeinschaftliche Merkmal des unbestimmt Gelassenen gezeigt hat“ (Grundlinien 287–288). Rückblickend wird deutlich, dass Schleier-

stellung, Marburg 1998, 296–299; Anne Käfer: „Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös“ (2006) 195, 278–279. 132 Vgl. Grundlinien, 287: „Denn die Vernunft freilich ist in Allen dieselbe und das durchaus gemeinschaftliche und gleichförmige, so daß es eigentlich sinnlos ist, von einer individuellen Vernunft zu reden, wenn nemlich dieses mehr bedeutet soll, als die bloße numerische Verschiedenheit der Organisation und der äußeren Bedingungen von Raum und Zeit.“ Hier zitiert nach der Paginierung der KGA I/4.

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macher bereits in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre von 1803 die Phantasie als ein freies Kombinationsvermögen des menschlichen Geistes im Gegensatz zur allgemeinen Vernunft entdeckt und ihr Individualitätsprinzip konstatiert hat. Seiner Interpretation in den Grundlinien folgend versteht Schleiermacher die Phantasie in seiner Tugendlehre von 1804/05 als „Princip einer dem Einzelnen unabhängig einwohnenden Combination und Freithätigkeit“.133 Dem ist zu entnehmen, dass die Phantasie als ein Kombinationsvermögen und eine freie Tätigkeit ursprünglich mit dem Individuum verbunden ist. Aber bisher ist der Zusammenhang der Phantasie mit der Vernunft nicht aufgeklärt. Im Brouillon zur Ethik (1805/06) unterscheidet Schleiermacher die allgemeine Vernunft und die individuelle Vernunft, erst auf dieser Basis baut er das Quadruplizitätsschema menschlicher Handlung auf. In Anlehnung an diese Unterscheidung reichert er sein Verständnis der Phantasie an, indem er sie als Tätigkeit der individuellen Vernunft fasst. Die Leitthese zum Begriff der Phantasie im Brouillon zur Ethik steht bereits in der allgemeinen Übersicht: „Was das Kunstwerk macht, ist die freie Combination durch Fantasie, die aber die Vernunft ist unter dem Charakter der Eigenthümlichkeit in der Function des Darstellens, und die Fantasie denken wir uns immer in der genauesten Verbindung mit dem Gefühl.“ (Brouillon 99) Hier wollen wir zunächst von dem Begriff des Kunstwerks absehen und in Verbindung mit anderen Stellen dieser Schrift diese Leitthese auslegen, um uns ein klares Bild von Schleiermachers Phantasiebegriff in seiner Philosophischen Ethik zu verschaffen. Wir haben bei der Thematisierung der Erkenntnistheorie Schleiermachers im Brouillon zur Ethik sowie bei der Interpretation des Gefühls als individuelles Erkennen bereits herausgearbeitet, dass das höhere Vermögen der Idee bzw. das Kombinationsvermögen eine entscheidende Rolle im Vorgang der Erhebung des Wahrnehmens und Empfindens zum Erkennen spielt, weil das höhere Vermögen die mannigfaltig fluktuierenden Elemente des sinnlichen Wahrnehmens und Empfindens verknüpft. In diesem Kontext wird festgestellt: „Dies Vermögen im Individuo ist Fantasie.“ (Brouillon 156) Schleiermacher identifiziert also Phantasie mit dem Kombinationsvermögen der Vernunft im Modus der Individualität. Somit ist Phantasie nichts anderes als Vernunft „unter dem Charakter der Eigenthümlichkeit“.134 In der Erkenntnistheorie im Brouillon zur Ethik hat die Phantasie als individuelle Vernunft die Funktion, das Fluktuierende im Empfinden durch ihr Kombinationsvermögen zum individuellen Erkennen bzw. zum Gefühl zu erheben. Daraus ergibt sich der

133 Friedrich Schleiermacher: Tugendlehre (1804/05), in: WA II, 47. 134 Die Identifizierung der Phantasie mit der Vernunft unter dem Charakter der Individualität ist in seiner Dialektik eindeutiger: „Die individuelle Vernunft ist die Fantasie“ (Friedrich Schleiermacher: Dialektik [1814/15], in: KGA II/10.1, 91).

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Sachverhalt, dass Gefühl ohne Phantasie überhaupt nicht möglich ist. So spricht der Autor von der „Identität der Fantasie und des Gefühls“ (Brouillon 157). Um größere Klarheit über den unmittelbaren Zusammenhang von Phantasie und Gefühl zu gewinnen, können noch zwei weitere Stellen herangezogen werden. In seiner Beschreibung der künstlerischen Produktion lautet die erste Stelle: „Für die Composition [sc. des Kunstwerks] ist also die Sittlichkeit nichts anders als die Genialität, die das Gefühl darstellende productive Kraft der Fantasie.“ (Brouillon 189) Die produktive Kraft der Phantasie für die künstlerische Produktion besteht demnach darin, das Gefühl darzustellen. Dadurch wird die Phantasie als individuelle Vernunft in der „Function des Darstellens“ konkretisiert. Auf der Basis dieser Interpretation stellt der Autor mit einer zweiten Aussage fest: „Gefühl mit hervortretender Receptivität = Empfindung. […] Gefühl mit hervortretender Spontaneität Fantasie“ (Brouillon 210). Während die Empfindung als Gefühl im Modus dominierender Rezeptivität gilt, ist die Phantasie für Schleiermacher das Gefühl im Modus dominierender Spontaneität. Berücksichtigt man an dieser Stelle, dass das Gefühl gemäß der Grundstruktur des Geistes durch die Rezeptivität und Spontaneität zu strukturieren ist, so ist festzustellen, dass Phantasie und Gefühl ursprünglich und notwendig miteinander vereinigt sind.135 Daraus ist erkennbar, dass die menschliche Geistesstruktur an sich dem unmittelbaren Zusammenhang von Phantasie und Gefühl zugrunde liegt. Deshalb steht die Phantasie „in der genauesten Verbindung mit dem Gefühl“. Vor dem Hintergrund der Entdeckung der Phantasie als ein nicht zu vernachlässigendes Geistesvermögen in den Grundlinien haben wir Schleiermachers Phantasiebegriff in seinen frühen Ethikvorlesungen untersucht. Als Ergebnis dieser Untersuchung lassen sich drei Gesichtspunkte festhalten: Erstens ist Phantasie eine durch Individualität gekennzeichnete Vernunfttätigkeit und gehört zum Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens. Zweitens ist Phantasie ein Kombinationsvermögen, das sich in dem Darstellen des Gefühls realisiert. Sie hat also eine darstellende Funktion. Damit ist drittens der Sachverhalt verbunden, dass Phantasie ursprünglich und notwendig mit Gefühl vereinigt ist. Wohl hat Schleiermacher im Brouillon zur Ethik schon darauf hingewiesen, dass die Phantasie das Gefühl darstellt. Inwiefern Phantasie als Kombinationsvermögen der Vernunft das Gefühl darstellt und was für ein Resultat diese darstellende Phantasie hat, wird aber im Brouillon zur Ethik nicht gänzlich geklärt. Das wird erst in der Philosophischen Ethik aus seiner Berliner Zeit im Rahmen einer Ausdruckstheorie geleistet. Die Untersuchung zum

135 Dazu vgl. ferner Brouillon, 182: „Wie sich die Darstellung in der Kunst zu dem verhalte, was wir Gefühl genannt haben, und was nichts andres ist als die Fantasie in ihrer individuellen Receptivität betrachtet: dies ist nur zu verstehen aus der innigen Vereinigung der Receptivität und Spontaneität, der Action von außen und der Reaction nach außen.“

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Phantasiebegriff in dieser frühen Ethikvorlesung ist aber unverzichtbar, um die Bedeutung der Phantasie in der späteren Ausdruckstheorie zu begreifen. Damit kehren wir zur Diskussion über die Ausdruckstheorie in der Ethik von 1812/13 zurück. Hier bringt Schleiermacher die Phantasie für den Ausdruck des Gefühls zur Geltung, indem er entdeckt, dass die Gemütsbewegung in ihrer Spontaneität durch das Bilden der Phantasie zu realisieren ist. Er interpretiert das Bilden der Phantasie in diesem Zusammenhang als einen darstellenden Akt und verdeutlicht den Phantasiebegriff in einer Anmerkung mit der zusammenfassenden Aussage: „Fantasie ist synthetisches Vermögen, und zwar auf allen Stufen. Die persönliche Sinnlichkeit ist Fantasie und die Vernunft ist auch Fantasie. Auf jedem Gebiet aber gehören synthetische Combinationen nur insofern der darstellenden Fantasie an, als sie nicht analytisch werden wollen.“ (PhE 1812/13, 313, §220. Anmerkung 2) Vor dem Hintergrund seiner bisherigen Interpretation des Phantasiebegriffs verweist der Autor hier auf zwei wichtige Punkte für die Phantasietätigkeit als Kombinationsvermögen. Zum einen wird unterstrichen, dass Phantasie als ein darstellender Akt nur mit dem synthetischen Kombinationsvermögen zu tun hat. Vergegenwärtigt man sich Schleiermachers Differenzierung zwischen analytischer und synthetischer Kombination, liegt es auf der Hand, weshalb Phantasie ein synthetisches Kombinationsvermögen sein muss. Denn anders als die analytische Kombination beim Gedanken, die die Sprache als Medium und „die Identität des Schematismus“ zur Folge hat, bringt die synthetische Kombination in der Sphäre des Gefühls die Individualität mit sich. Dies entspricht dem Individualitätsprinzip der Phantasie. Insofern grenzt Schleiermacher die darstellende Phantasie an dieser Stelle vom Darstellen der Sprache ab. Zugleich aber stellt er in jener Anmerkung betreffs des Umfangs der Phantasietätigkeit heraus, dass Phantasie als synthetisches Vermögen „auf allen Stufen“ gilt, sowohl im organischen Bereich als auch in der Sphäre der Vernunft. Hierbei ist offensichtlich, dass der Begriff „Phantasie“ – abgesehen von der Kontinuität bei dessen Identifizierung mit einem Kombinationsvermögen in den frühen Schriften – in der Diskussion über den Ausdruck des Gefühls um neue Gesichtspunkte angereichert wird. Mit der Phantasie verbindet Schleiermacher einen anderen wichtigen Begriff: das Talent. Damit ist ein weiterer Schlüsselbegriff in der Handlungstheorie Schleiermachers angesprochen. An dieser Stelle wollen wir nicht auf den Begriffsgebrauch innerhalb seines ganzen Systems eingehen, sondern nur in gebotener Kürze dessen Zusammenhang mit dem Phantasiebegriff aufzeigen, um die Darstellungsfunktion der Phantasie innerhalb der Ausdruckstheorie besser zu verstehen. Für Schleiermacher bedingen sich Talent und Individualität wechselseitig.136 Bereits im Brouillon

136 Hierzu Brouillon, 104: „Die Vernunft bildet sich für jede bestimmte Art des Erkennens und Darstellens ein eignes Organsystem = Talent. Und so ist der Inhalt des Ganzen die vollkommene Ausbildung aller Talente. Im Einzelnen und für ihn selbst sind seine Talente durch die Individua-

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zur Ethik ist von der Identität von Talent und Phantasie die Rede. Es gibt ihm zufolge keine „Differenz im Individuo […] zwischen der Fantasie und dem Talent“ (Brouillon 157), denn „[d]as Talent bildet sich […] identisch mit der Tätigkeit der Fantasie und durch dieselbe“ (ebd.). Die Entstehung und Ausformung des Talents ist mit der Phantasie verbunden. Im Zusammenhang mit der Bestimmung der Phantasie als darstellender Akt in der Gütelehre von 1812/13 präzisiert Schleiermacher die Identität von Phantasie und Talent wie folgt: „Das Bilden [sc. der Phantasie] hängt ab in seiner specifischen Beschaffenheit von dem dominirenden Sinn, mit dem es selbst als Talent identisch ist.“ (PhE 1812/13, 314, §222) Das heißt, jeder Einzelne hat eine individuelle vorherrschende Fähigkeit – das Talent – und die Phantasie in ihrer besonderen Weise ist von dieser Fähigkeit abhängig. Dadurch setzt Schleiermacher die Phantasietätigkeit mit dem Talent des Individuums gleich. Hat jeder ein individuelles Talent, so wirkt die Phantasie in ihrer synthetischen Kombination auf unterschiedliche Art. 2.1.2.2 Kunst Wir haben anfangs bereits darauf hingewiesen, dass die Ausdruckstheorie Schleiermachers in Bezug auf die Gefühlssphäre zwei eng verbundene Probleme zu lösen hat: Sie hat erstens zu klären, inwiefern die Individualitäten des Erkennens ein System bilden, und zweitens die Frage zu beantworten, inwiefern überhaupt die Mitteilung der Individualität des Erkennens möglich ist. Das Bilden der Phantasie als Gemütsbewegung in höherer Stufe stellt das Gefühl dar, aber diese durch die Phantasie erfolgte Darstellung des Gefühls allein vollendet den Ausdruck des Gefühls noch nicht. Blickt man auf jene zwei Aufgaben zurück, so muss in diesem Zusammenhang zunächst ein System gebildet werden, in dem die durch die Phantasietätigkeit realisierten quantitativen Darstellungen des vorübergehenden Gefühls sich sammeln und niederschlagen können. Dieses System bezeichnet Schleiermacher als Kunst. Gerade in diesem Kontext wird der Begriff der Kunst in die Diskussion über den Ausdruck des Gefühls eingeführt, wodurch ihr ein Platz im Ganzen der Handlungstheorie Schleiermachers zugewiesen wird: Kunst gehört zum Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens. Natürlich hat Schleiermacher die Kunst nicht nur im System seiner Philosophischen Ethik im Zusammenhang mit der Diskussion über den Ausdruck des Gefühls und mit dem ethischen Religionsverständnis zum Thema gemacht. Die Kunst ist vielmehr auch das zentrale Thema seiner Ästhetik, die neben anderen Wissenschaf-

lität bestimmt und sie bestimmend. Im Ganzen erscheinen die in jenem Einzelnen zusammenkommenden mehreren Talente nur als Fragmente, und auch dies führt von jedem Punkt aus auf die Nothwendigkeit der Gemeinschaft.“

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ten eine wichtige Stellung in Schleiermachers philosophischem System hat.137 Außerdem bestehen Bezüge in seiner Psychologie oder Seelenlehre. Mit Blick auf das Ziel des zweiten Hauptteils dieser Abhandlung, die Weiterentwicklung des Wechselverhältnisses von Religion und Individualität in seiner Philosophischen Ethik zu untersuchen, wollen wir uns auf das Verständnis der Kunst in der Philosophischen Ethik und sodann auf die Rolle der Kunst im Verhältnis von Religion und Kunst konzentrieren, statt der Kunsttheorie in seiner Ästhetik nachzugehen.138 Das Verständnis der Kunst in Schleiermachers Philosophischer Ethik ist direkt mit dem Phantasiebegriff verbunden. Die Phantasietätigkeit als Kombinationsvermögen der Vernunft stellt das Gefühl dar; diese Darstellung als Einzelnes identifiziert Schleiermacher als Kunstwerk: „Was das Kunstwerk macht, ist die freie Combination durch Fantasie.“ (Brouillon 99) Das einzelne Kunstwerk ist aber noch nicht die Kunst an sich. Für den Autor ist Kunst vielmehr ein System, das aus den Darstellungen des Gefühls entsteht. Bereits im Brouillon zur Ethik stellt er fest: „Sie [sc. die Darstellung] ist also ein Einzelnes, in welchem zugleich eine bestimmte Beziehung des Universums auf die Organisation (in ihrer Einheit mit der Vernunft) gegeben ist und zwar nach einer individuellen Combination d. h. ein Kunstwerk und das System solcher Darstellung der Individualität ist die Kunst.“ (Brouillon 181–182) Mit dieser

137 In der Philosophischen Ethik Schleiermachers wird die Ästhetik folgendermaßen bestimmt: „Es ist die Sache der kritischen Disciplin, welche wir jetzt Aesthetik nennen, den Cyclus der Künst zu deduciren und das Wesen der verschiedenen Kunstformen darzustellen; so wie die Technik einer jeden Kunst die Handhabung sowol des idealen als des organischen Theils für die einzelne Production lehrt.“ (PhE 1812/13, 366, §232) Zur Stellung und Bedeutung der Ästhetik im ganzen System Schleiermachers vgl. Thomas Lehnerer: Einleitung, in: Friedrich Schleiermacher: Ästhetik (1819/ 25); Über den Begriff der Kunst (1831/32)(1984), VII–XVII. Vgl. ferner Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers (1984), 140–144. 138 Friedrich Schleiermacher: Ästhetik (1819/25); Über den Begriff der Kunst (1831/32)(1984); ders.: Ästhetik (1832/33); Über den Begriff der Kunst (1831–33). Mit einer Einleitung, Bibliographie und Registern, hg. von Holden Kelm, Hamburg 2018. Zu Schleiermachers Ästhetik und Kunsttheorie vgl. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers (Bd. 2)(1966), 419–448; Rudolf Odebrecht: Schleiermachers System der Ästhetik (1932); Theodor Jørgensen: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis (1977), 112–121; Gunter Scholtz: Schleiermachers Musikphilosophie (1981), 57–69; ders.: Die Philosophie Schleiermachers (1984), 140–144; Hermann Patsch: ‚Alle Menschen sind Künstler‘. Friedrich Schleiermachers poetische Versuche, Berlin/New York 1986; Thomas Lehnerer: Selbstmanifestation ist Kunst, in: Kurt-Victor Selge (Hg.): Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, Bd. 1, Berlin/New York 1985, 409–422; ders.: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (1987); Wolfgang H. Pleger: Schleiermachers Philosophie (1988), 38–47; Andrew Bowie: Aethetics and subjektivity: From Kant to Nietzsche (1990), Manchester 1990, 146–175; Reinold Schmücker: Schleiermachers Grundlegung der Kunstphilosophie, in: Dieter Burdorf/Reinold Schmücker (Hg.): Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, Paderborn 1998, 241–269; Michael Moxter: Arbeit am Unübertragbaren: Schleiermachers Bestimmung der Ästhetik, in: Akten des Schleiermacher-Kierkegaard-Kongresses 2003 (2006), 53–72; Anne Käfer: „Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös“ (2006); Holden Kelm: Einleitung, in: Friedrich Schleiermacher: Ästhetik (1832/33); Über den Begriff der Kunst (1831–33)(2018), VII–LXIX.

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Behauptung wird auf zwei wichtige Gesichtspunkte hingewiesen: Erstens enthält das Kunstwerk als einzelne Darstellung die Beziehung des endlichen Individuums auf das unendliche Universum. Darin ist das ethische Religionsverständnis im Brouillon zur Ethik zu erkennen – „Religion sei unmittelbare Beziehung des Endlichen auf das Unendliche“ (Brouillon 177). Zugleich zeigt sich in dieser Aussage, dass Kunst als System der einzelnen Kunstwerke das System der Darstellungen der Individualität ist.139 Der Zusammenhang von Kunst und Individualität wird später noch deutlicher demonstriert: „In allen Kulturgebieten ist soviel Schönheit und Kunst, als die Eigenthümlichkeit sich darin manifestirt.“ (PhE 1812/13, 288, §81) Die „Eigenthümlichkeit“ hat ihre Manifestation in der Kunst bzw. Kunst ist die Manifestation der „Eigenthümlichkeit“. Nehmen wir die beiden Formulierungen Schleiermachers – „Darstellung der Individualität“ und „Manifestation der Eigenthümlichkeit“ – zusammen, so ergibt sich, dass Kunst als ein System der Darstellungen des unübertragbaren Gefühls für Schleiermacher zugleich der Ort der Selbstdarstellung, d. h. der Ort für die Selbstmanifestation der Individualität, ist.140 Was ist der Unterschied zwischen den durch die Kombination der Phantasie hervorgebrachten einzelnen Darstellungen und dem System der Darstellungen? Anders gefragt: Was ist der Unterschied zwischen den Kunstwerken und der Kunst? Für Schleiermacher kommen zwei Aspekte in Betracht. Erstens stehen sich momentaner und durchgängiger Charakter der Darstellung gegenüber. Schleiermacher differenziert zwei Arten von Darstellungen: solche, die sich auf die bestimmte Erregtheit, und solche, die sich auf das permanente Bewusstsein beziehen. Während die einzelnen Darstellungen sich nur „auf eine bestimmte Erregtheit“ (PhE 1812/13, 314, §223) richten, bezieht sich Kunst als System der Darstellungen „auf das permanente Bewußtsein der dominirenden organischen Seite“ (ebd.) bzw. auf das „Bewusstsein des dominirenden Talents“ (PhE 1812/13, 315, §234). Daher sind die einzelnen Darstellungen nur vergänglich, wohingegen das System der Darstellungen konstant ist. Um die Bedeutung des Begriffs „das permanente Bewusstsein“ anschaulich zu machen, führt Schleiermacher als Beispiel den Vorgang des Dichtens an: „In der poetischen Fiction in ihrer ersten Entwicklung wird jede Stimmung Geschichte, und das

139 Gunter Scholtz sieht die Kunst bei Schleiermacher als der Wissenschaft im Handlungsgebiet des identischen Symbolisierens gegenüberstehend: „Während sich in der Wissenschaft die allgemeine Vernunft symbolisch artikuliert (nämlich in der Begriffssprache), ist Kunst das Symbolsystem der individuellen Vernunft.“ (ders.: Die Philosophie Schleiermachers [1984], 141) 140 Selbstmanifestation ist ein wichtiger Begriff in Schleiermachers Psychologie (ders.: Psychologie, SW III/6). Im Kontext seiner Unterscheidung von der aufnehmenden Tätigkeit und der ausströmenden Tätigkeit in der Psychologie spricht er von der „Selbstmanifestation des Geistes“ (a. a. O., 243), die als Resultat der ausströmenden oder spontanen Tätigkeit des Geistes gilt. Damit verbunden wird Kunst als „die wahre geistige Selbstmanifestation“ bezeichnet (a. a. O., 250). Mehr zum Begriff der Selbstmanifestation vgl. a. a. O., 243–253. Zu Schleiermachers Interpretation der Kunst als Darstellung der Individualität vgl. Theodor Jørgensen: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis (1977), 78–138; Thomas Lehnerer: Selbstmanifestation ist Kunst (1984).

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ist auch der wesentlich durchgehende Charakter.“ (PhE 1812/13, 314, §224) Bereits in der Entstehungsphase einer Poesie zeigt sich das dominierende Talent des Dichters, – „der wesentliche durchgehende Charakter“. Insofern ist die auf eine bestimmte Erregtheit bezogene einzelne Darstellung nur momentan; im Gegensatz dazu hat Kunst als System der Darstellungen mit dem dominierenden und so auch konstanten Talent des Dichters zu tun und ist daher „permanent“. Damit ist der Sachverhalt verbunden, dass das Bewusstsein des herrschenden Talents des Individuums entscheidend für die Kunst ist. Der zweite Aspekt in der Differenzierung zwischen einzelnen Darstellungen und der Kunst überhaupt ist der Gegensatz von Einseitigkeit und Ganzheitlichkeit. Während in den einzelnen Darstellungen Einseitigkeit herrscht und der relative Gegensatz vorkommt, ist die Kunst durch Ganzheitlichkeit gekennzeichnet. „Das Ausgehen des Gefühls in ein bildendes Handeln und in ein wirksames sind auf den niederen Stufen, wo noch Einseitigkeit dominirt, im relativen Gegensaz; wer in dem einen lebt, verachtet das andere.“ (PhE 1812/13, 314, §227. Anmerkung 2) Die einzelnen Darstellungen können nur eine bestimmte Seite des mentalen Zustands im Gefühl ausdrücken und stehen im relativen Gegensatz zueinander. Im Vergleich zur Kunst sind sie immer noch Ausdruck des Gefühls auf der niederen Stufe. Kunst als System der Darstellungen richtet sich hingegen auf die mentale Ganzheitlichkeit. So heißt es bereits in seinem Broullion zur Ethik: „Kunst ist auch nichts Einzelnes, sondern eben die ethische Vollendung von allem andern.“ (Brouillon 80) Aber die Kunst als die Ganzheitlichkeit enthaltend präsentiert sich für den Künstler zeitlich nicht unbedingt durch die einzelnen Darstellungen. Dieses demonstriert der Autor am Beispiel konkreter Kunstarten: „Es ist sehr uneigentlich und versteckt die Natur der übrigen Künste, wenn man alle gleichsam als Ausflüsse der Poesie ansieht. Der Maler sieht gar nicht erst die Geschichte oder den Gegenstand, sondern gleich das Bild, so wie der Dichter nicht äußere Gestalten zu sehen braucht.“ (PhE 1812/13, 314, §226. Anmerkung 1) Aus dieser Beschreibung ist zu ersehen, dass die Kunst sich als ein Ganzes im Innern des Künstlers vor den einzelnen Darstellungen gestaltet. Im Fortgang von der Hallenser zur Berliner Ethikvorlesung zeigt sich auch die Entwicklung in Schleiermachers Verständnis für die Kunst. Während der Autor die Kunst in der frühen Schrift als System der Darstellungen der Individualität bzw. als System der Kunstwerke interpretiert, präzisiert er diese Kategorie später – im Kontext seiner Ausführung über die Gestaltung der Kunst – als System der verschiedenen Arten der Darstellung. Seine These in der Ethik von 1812/13 lautet: „Die verschiedenen Arten der Darstellung bilden also ein System (anstatt des Einen der Sprache für die objective Seite), in welchem alles, was Element einer Kunst sein kann, befaßt ist.“ (PhE 1812/13, 314, §225) Dieser Aussage nach ist Kunst als Inbegriff für die verschiedenen Kunstarten – Musik, Malerei, Skulptur usw. – zu verstehen. Die jeweiligen Kunstarten setzen beim einzelnen Künstler ein je unterschiedliches individuelles Talent, nämlich eine je unterschiedliche Phantasiebegabung, voraus.

362  Kapitel 4 Der Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik

Die Differenzierung des Kunstgebiets in verschiedene Kunstarten wird in der Philosophischen Ethik Schleiermachers zwar berührt, aber nicht entfaltet;141 dies geschieht erst in seinem einige Jahre später niedergeschriebenen Manuskript zu Ästhetik.142 Fassen wir das Bisherige zusammen. Vor dem Hintergrund einer Diskussion über den Ausdruck des Gefühls in niederer Stufe, d. h. durch Ton und Gebärde, haben wir rekonstruiert, inwiefern der Ausdruck des Gefühls in höherer Stufe in der Identität von Phantasie und Kunst zu verwirklichen ist. Zusammenfassend lässt sich der künstlerische Gestaltungsvorgang hinsichtlich der Gefühlssphäre nach Schleiermachers Philosophischer Ethik in drei Schritten konkretisieren: 1) Der Ausgangspunkt besteht in der Erregtheit des Gefühls jedes Individuums. Dabei übernimmt die Phantasietätigkeit die Funktion des darstellenden Bildens. 2) In der Phantasietätigkeit wird die Darstellung des Gefühls hervorgebracht. Das heißt, dass die Ausdrucksgestalt nur vermöge der Phantasietätigkeit realisiert werden kann. Das Talent jedes Individuums als Phantasie mit einem überwiegenden Charakter ist entscheidend für die individuelle Darstellung. 3) Die verschiedenen Arten der Darstellungen bilden ein System, das Schleiermacher „Kunst“ nennt. „Kunst“ fungiert dabei als ästhetischer Inbegriff für die verschiedenen Kunstarten. Im Vergleich zu den einzelnen Darstellungen ist Kunst als System durch Beständigkeit und Ganzheitlichkeit charakterisiert. In der Kunst vollendet sich der Ausdruck des Gefühls, daher ist die Kunst der ideale Ort für die Veräußerlichung des Gefühls.143 Berücksichtigt man an dieser Stelle noch einmal, dass Schleiermacher Kunst auch als System der Darstellungen der Individualität bezeichnet, so erklärt sich der wichtige Gedanke seiner Individualitätstheorie, dass Kunst als System der Darstellungen des unübertragbaren Gefühls zugleich der Ort für die Selbstdarstellung oder Selbstmanifestation des Individuums in seiner Individualität ist. Diese sich speziell auf die Gefühlssphäre beziehende Ausdruckstheorie Schleiermachers lässt sich durch zwei Merkmale charakterisieren. Erstens ist festzustel-

141 Zur Konstruktion der Kunstgebiete in der Philosophischen Ethik vgl. Brouillon, 108–110 und 187–188. Diese fasst Schleiermacher mit den Zusätzen von 1816 zur Ethikvorlesung von 1812/13 folgendermaßen zusammen: „II. Construktion der Kunstgebiete. 1. Die unmittelbaren Aeussserungen durch Fantasie bearbeitet. Mystik und Wunder. 2. Das eigenthümliche Bilden der Fantasie, a) als Nachahmung der Natur, Malerei, Skulptur; b) als Nachahmung der Geschichte, Plastik; c) zweite Reihe, Kunst als … [?] der Mechanik u. s. w., mit Architectur anknüpfend.“ (PhE 1812/13, 312 [Fußnote zu § 214], Zusätze von 1816) 142 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Ästhetik (1819/25) (1984). 143 Zum inneren Zusammenhang von Gefühl, Phantasie und Kunst fasst Gunter Scholtz wie folgt zusammen: „Sie [sc. Kunst] gründet im Gefühl als individuelle Erkenntnis und in der Phantasie, die das Gefühl in die Sphäre der Anschauung übersetzt: im Innewerden des individuellen Selbst, in dem sich zugleich die Welt spiegelt; Kunst wurzelt andererseits in der Tätigkeit de Phantasie, die dann für eine leiblich vollzogene Ausdruckshandlung leitend ist. So ist Kunst sowohl Erkenntnis wie Selbstdarstellung.“ (ders.: Die Philosophie Schleiermachers [1984], 141)

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len: Die Darstellungsfunktion wird hier zwar auf zwei Stufen des Ausdrucks – den natürlichen Ausdruck und die Kunst in der Phantasietätigkeit – aufgeteilt, beide sind aber nicht voneinander getrennt, sondern auf die folgende Art miteinander verbunden: Das Bilden der Phantasie beruht auf dem natürlichen Ausdruck des Gefühls in Ton und Gebärde und kombiniert diese als Reihe, damit Ton und Gebärde sich zu einem darstellenden Bilden entwickeln können. Demnach gilt der natürliche Ausdruck als Material für die darstellende Fantasie. Zweitens ist hervorzuheben: Sowohl auf der natürlichen Stufe als auch auf der Stufe der Kunst bezieht sich der Ausdruck des Gefühls statt auf den einzelnen Akt oder einzelnen Gegenstand auf das Ganze. Daraus erklärt sich die These, dass sich der Ausdruck des Gefühls insgesamt in der Philosophischen Ethik Schleiermachers, so wie das Gefühl an sich, nur auf die mentale Ganzheitlichkeit des Einzelnen richtet.

2.2 Die Funktion der Kunst Im dritten Kapitel unserer Studie haben wir herausgearbeitet, dass Schleiermacher in der ersten systematischen Darstellung seiner Philosophischen Ethik bzw. im Brouillon zur Ethik von 1806 einen ethischen Religionsbegriff entwickelt: Die Ethisierung des Gefühls ist Religion. Insofern ist Religion ein ethischer Prozess. Dieser ethische Religionsbegriff fungiert als Ausgangspunkt für seine weitere Thematisierung der Religion sowie für seine Diskussion über das Verhältnis von Religion und Kunst in den Vorlesungen zur Philosophischen Ethik seiner Berliner Reifezeit. Auch in der Hallenser Vorlesung ist uns der Grundgedanke Schleiermachers begegnet, dass die Sittlichkeit des Gefühls nur darin besteht, dass das Gefühl in die Darstellung übergeht. Nehmen wir Schleiermachers Interpretation der Religion als Ethisierung des Gefühls und seine Diskussion über den Ausdruck des Gefühls zusammen in den Blick, so erkennen wir die Erklärung dafür, welche Funktion die Kunst als System der Darstellungen des Gefühls hat und inwiefern sie deshalb wesentlich mit der Ethisierung des Gefühls und mit der Religion zu tun hat, als entscheidend für die Verhältnisbestimmung von Religion und Kunst. Um die maßgeblichen Aspekte dieser Verhältnisbestimmung aufzuspüren, wollen wir deshalb in erster Linie die Funktion der Kunst als System der Darstellungen des Gefühls untersuchen. Wie gesehen hat Schleiermacher die Kunst in seiner Handlungstheorie nicht nur als System der Darstellungen des Gefühls bestimmt, sondern zugleich als Vollzug des Ausdrucks des Gefühls und als Ort der Selbstmanifestation der Individualität ausgelegt. Diese Beschreibungen machen das Bild der Kunst in der Kulturtheorie Schleiermachers aus. Bei der Funktionsbestimmung der Kunst lassen sich vor dem Hintergrund des bisher Ausgeführten zwei Leistungen voneinander unterscheiden: die Objektivierungsleistung und die Mitteilungsleistung. Die Objektivierungsleistung der Kunst besteht darin, dass die persönliche Beschränkung und Grenze durch das Äußerlichwerden des Gefühls überwunden wird und die vergänglichen Inhalte

364  Kapitel 4 Der Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik

des Gefühls und die momentanen Ausdrücke des Gefühls durch Kunstdarstellung fixiert und schließlich im identischen Selbstbewusstsein objektiviert werden, damit das Gefühl seine durchgängige Sittlichkeit gewinnen kann. Bei der Mitteilungsleistung handelt es sich um die intersubjektive Kommunikation im Gebiet des Gefühls, so dass sich religiöse Gemeinschaft bzw. Geselligkeit gestalten kann. Diese beiden Leistungen stützen einander und liegen dem entscheidenden Argument bei Schleiermacher zugrunde, wieso und inwiefern sich Religion und Kunst eng verbinden müssen. Vor dem Hintergrund unserer bisherigen Untersuchung soll die Funktion der Kunst im Folgenden in den beiden angesprochenen Hinsichten nachgezeichnet werden. 2.2.1 Die Objektivierungsleistung der Kunst Bei der Objektivierungsleistung der Kunst sind zwei Bedeutungsaspekte zu unterscheiden: Zum einen geht es darum, die persönliche Beschränkung des Einzelnen zu überwinden; zum anderen zielt es darauf ab, das Individuelle und das Momentane des Gefühls sowie des natürlichen Ausdrucks in der Kunst zu fixieren und dadurch in einem identischen Selbstbewusstsein festzuhalten. Diese beiden Bedeutungsaspekte sind miteinander verbunden und können als zwei Schritte im Vorgang der Objektivierung des Gefühls durch Kunst gesehen werden. Die theoretischen Ausgangspunkte für unsere Explikation der Objektivierungsleistung von Kunst sind Schleiermachers bereits in den Reden entwickelte Geisttheorie und die damit verbundenen Gedanken über die Bestimmung des Lebens in der Philosophischen Ethik.144 Wir haben dargestellt, dass die Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen Schleiermacher zufolge auf die durch Rezeptivität und Spontaneität gekennzeichnete Grundstruktur des humanen Geistes zurückgeführt werden kann. Im Handlungsgebiet des identischen Symbolisierens zeigt sich diese Wechselwirkung als Identität von Wissen und Sprache und im Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens als Identität von Gefühl und Darstellung. Dabei steht Schleiermachers Diskussion über das Äußerlichwerden des Gefühls in enger Verbindung mit seinen geisttheoretischen Gedanken. Wird Gefühl als individuelles Erkennen und Kunst als System der Darstellungen des Gefühls angesehen, so kann das Verhältnis von Gefühl und Kunst ebenfalls unter Anlehnung an die RezeptivitätSpontaneität-Struktur des Geistes ausgelegt werden. Gerade mit dieser geistphilosophischen Interpretation verbindet sich der erste Bedeutungsaspekt der Objektivierungsleistung der Kunst: Die Kunst kann durch die Darstellung des Gefühls die persönliche Beschränkung des Einzelnen überwinden. Um den ersten Bedeutungsaspekt zu veranschaulichen, nehmen wir zwei wichtige Aussagen in den Blick. Bereits im Brouillon zur Ethik wird festgestellt: „[D]as

144 Vgl. oben: Kapitel 3. 1.1 Die Bestimmung des Lebens.

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subjektive Erkennen als Selbstthätigkeit, als Streben ist nichts anders als das Durchbrechen der persönlichen Beschränkung in der Gemeinschaft des Lebens mit dem Ganzen.“ (Brouillon 179) Vor dem Hintergrund der Interpretation des Gefühls als individuelles Erkennen in dieser frühen Ethikvorlesung ist zunächst klarzustellen, dass sich „das subjektive Erkennen als Selbstthätigkeit“ hier auf die Darstellung des Gefühls bezieht und es, geisttheoretisch näher besehen, von der Spontaneität des Geistes handelt. Betrachtet man die Darstellung des Gefühls als Spontaneität des Geistes („Selbsttätigkeit“) und die Spontaneität des Geistes als Ausdehnung des Inneren nach außen („das Durchbrechen der persönlichen Beschränkung“), so ist zu ersehen, dass die Darstellung des unübertragbaren Gefühls zugleich die Überwindung der persönlichen Beschränkung bedeutet. Wie wir wissen, liegt das abgeschlossene Dasein des Individuums Schleiermacher zufolge der Unübertragbarkeit des Gefühls zugrunde und hat damit eine persönliche Beschränkung zur Folge. Gerade an diesem Punkt bringt der Autor die Darstellung des unübertragbaren Gefühls zur Geltung: Durch sie gewinnt das abgeschlossene Dasein die Möglichkeit, die eigene Grenze zu durchbrechen, eigene Individualität zur Anschauung zu bringen und infolgedessen mit seiner Umgebung zu kommunizieren. Führt die Überwindung der persönlichen Beschränkung zum Gewinn eines Überindividuellen, so ist der erste Schritt zur Objektivierung erfolgt. Denn die Objektivierung bedeutet in erster Linie den Übergang vom abgeschlossenen Dasein zu einem überindividuellen Horizont. Daraus ergibt sich unser erster Befund, dass die Darstellung des Gefühls als Spontaneität des Geistes die Bedeutung der Objektivierung der Individualität in sich einschließt. In der zitierten Aussage weist Schleiermacher noch darauf hin, dass die Überwindung der persönlichen Beschränkung des Einzelnen in der Darstellung zugleich die Vereinigung des Einzelnen mit dem Ganzen („in der Gemeinschaft des Lebens mit dem Ganzen“) ermöglicht. Daraus folgt eine weitere wichtige Konsequenz hinsichtlich der Darstellung des unübertragbaren Gefühls: Sie hat nicht nur die Aufhebung der Grenze des Individuums zur Folge, sondern auch die Vereinigung des endlichen Einzelnen mit dem unendlichen Ganzen. Damit ist Schleiermachers ethischer Religionsbegriff verbunden. Wir werden später darauf zurückkommen, weshalb es einen Zusammenhang zwischen diesem ethischen Religionsbegriff und der Objektivierung der Individualität gibt. Auf jenen Bedeutungsaspekt der Objektivierungsleistung der Kunst wird an anderer Stelle der Philosophischen Ethik noch deutlicher verwiesen. Es wurde in unserer Darstellung über das Offenbarungsverhältnis in der Gefühlssphäre deutlich, dass das Gefühl für Schleiermacher sittlich ist, sofern das Entstehen des unübertragbaren Gefühls zugleich sein Äußerlichwerden ist. Schleiermacher konkretisiert in diesem Zusammenhang das Äußerlichwerden des Gefühls wie folgt: „[D]ieses Aeußerlichwerden des Gefühls ist ebenfalls anzusehen als Folge von dem Bestreben der Vernunft die Schranken der Einzelheit zu durchbrechen, um sich mit sich selbst zu einigen, und das Einzelwesen, indem es gesezt wird, auch wieder aufzuheben“ (PhE 1816/17, 597). Mit dieser geisttheoretischen Interpretation wird das Äußerlich-

366  Kapitel 4 Der Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik

werden des Gefühls als ein Resultat der Spontaneität des Geistes eingestuft. In dem Moment, wo die Vernunft sich im Gefühl am Ort des Einzelnen manifestiert, wird die damit gegebene Setzung von Einzelheit durch das Äußerlichwerden sogleich wieder relativiert („wieder aufgehoben“). In dieser Dynamik verschmelzen somit drei Vorgänge – das Entstehen des Gefühls, das Äußerlichwerden des Gefühls und das Durchbrechen der Beschränkung des Einzelnen. Bisher lässt sich festhalten, dass das Äußerlichwerden des Gefühls als Resultat der Spontaneität des Geistes die Überwindung der persönlichen Beschränkung des Individuums bedeutet. Die Überschreitung der Grenzen der Einzelperson gilt als erster Schritt zur Objektivierung der Individualität. Denkt man an dieser Stelle noch einmal zurück, dass das Äußerlichwerden des Gefühls für Schleiermacher zugleich das Entstehen des Gefühls ist, so ist diese durch das Äußerlichwerden des Gefühls erfolgte Objektivierung als ein kontinuierlicher Vorgang zu verstehen. Hierbei ist zwar noch nicht von der Kunst die Rede, sondern nur von der Darstellung oder dem Äußerlichwerden des Gefühls. Aber bereits in diesen beiden Aussagen verbirgt sich die Andeutung, dass Kunst als Resultat der Spontaneität des Geistes dazu dient, die persönliche Beschränkung des Individuums zu überwinden, sofern sie als Vollzug der Veräußerlichung des Gefühls zu gelten hat. In dieser Überwindung der persönlichen Beschränkung ist deshalb der erste Bedeutungsaspekt der Objektivierungsleistung der künstlerischen Darstellung des Gefühls enthalten. Auf dieser Basis wenden wir uns nun dem zweiten Bedeutungsaspekt der Objektivierungsleistung der Kunst zu. Er besteht darin, dass das Individuelle und das Momentane des Gefühls sowie des natürlichen Ausdrucks in der Kunst fixiert und dadurch in einem identischen Selbstbewusstsein festgehalten werden kann. Wie gesehen hat Schleiermacher in seiner Bestimmung des Gefühls als individuelles Erkennen im Brouillon zur Ethik festgestellt, dass die Erhebung von sinnlichem Empfinden zu individuellem Erkennen nur verwirklicht werden kann, wenn das höhere Vermögen der Idee bzw. das Kombinationsvermögen der Phantasie das Flüchtige des sinnlichen Empfindens in der Reihenfolge fixiert. Im Zuge der Fixierung des Fluktuierenden entsteht die Einheit des Bewusstseins, die zum Selbstbewusstsein des Individuums gebildet wird. So heißt es: „Kein Ich ohne das höhere Vermögen, sondern nur durch das dasselbe.“ (Brouillon 176) An dieser Stelle rückt die entscheidende Bedeutung des Kombinationsvermögens der Phantasie ins Licht, welche darin besteht, das Momentane des Gefühls oder genauer genommen das Momentane der Empfindung, in einer Einheit des Bewusstseins festzuhalten. Daraus ergibt sich der wichtige Befund, dass das Hervorbringen des individuellen Erkennens zugleich die Gestaltung des Selbstbewusstseins beinhaltet. Die freie Kombination der Phantasie erhebt nicht nur das sinnliche Empfinden zum individuellen Erkennen, sondern sie bringt auch das unübertragbare Gefühl zur Darstellung: Sie macht die einzelne Darstellung des Gefühls aus, die von Schleiermacher als Kunstwerk bezeichnet wird. Das System solcher Kunstwerke ist die Kunst. Unter Anlehnung an seine Geisttheorie interpretiert Schleiermacher das Ver-

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hältnis zwischen der künstlerischen Darstellung und dem Gefühl in einem weiteren Schritt als „innere[] Vereinigung der Receptivität und der Spontaneität der Action von außen und der Reaction nach außen“ (Brouillon 182). Vor diesem Hintergrund stellt Schleiermacher die Darstellung des Gefühls unter zwei Voraussetzungen: „1.) Organische Bewegungen stellen als Reaction das Gefühl dar als Action. Dies ist das Prinzip der beweglichen Künste, Mimik und Musik. 2.) Bilder oder vielmehr symbolische Gestalten enthalten das Individuelle eines Gefühls objectivirt in sich und sind eben dadurch im Stande als Bilder des Universums das Gefühl des Betrachters zu afficiren.“ (Brouillon 183) In dieser Passage ist von zwei Arten der Kunst die Rede. Während die bewegliche Kunst (Mimik und Musik) nur als sinnliche Reaktion auf das Gefühl – als „organische Producte“ (ebd.) – bestimmt wird, schreibt der Autor der bildenden Kunst (Bildern und symbolischen Gestalten) eine Deutung der Objektivierung zu – zum ersten Mal fällt der Begriff der Objektivierung innerhalb der Thematisierung der Gefühlsdarstellung bei Schleiermacher.145 Bei der bildenden Kunst ist der enge Zusammenhang zwischen Kunst und Individualität zu verstehen: Indem die bildende Kunst das Individuelle meines Gefühls objektiviert, bringt sie meine Individualität zur Darstellung. Durch diese Objektivierung gewinnt die bildende Kunst („als Bilder des Universums“) zugleich die Kraft, das Gefühl des Anderen („des Betrachters“) zu erregen. Aber was bedeutet die Objektivierung genau? Wieso kann das Individuelle (nur) in der Kunst objektiviert werden? Was für einen Zusammenhang gibt es zwischen dem Individuum und den „Bilder[n] des Universums“? Diese Fragen bleiben im Brouillon zur Ethik offen; ihre Beantwortung lässt sich in seinen späteren Ethikvorlesungen durch mehrere Spuren finden. Deshalb soll im Folgenden gezeigt werden, dass Schleiermacher in Berlin deutlich von einer Objektivierungsleistung der Kunst spricht und diese Leistung in unmittelbarem Zusammenhang mit seinem ethischen Religionsbegriff steht. Dass Schleiermacher in seiner Ethikvorlesung von 1812/13 eine Ausdruckstheorie entwickelt, haben wir bereits aufgezeigt.146 Nach dieser Ausdruckstheorie kommt das Gefühl auf zwei verschiedenen Ebenen zum Ausdruck: Ton und Gebärde gelten als natürlicher Ausdruck, und auf einer höheren Ebene ist der Ausdruck des Gefühls durch die Kunst in der Phantasietätigkeit zu vollenden. Beide Ausdrucksebenen sind das unmittelbare Heraustreten des Gefühls: Jene ist das Resultat der Gemütsbewegung des Gefühls in ihrer einfachen Rezeptivität, diese (ebenso wie die einzelnen Darstellungen) ist das Produkt der Gemütsbewegung in ihrer freien Spontaneität. Auf der höheren Ebene werden außerdem die einzelne Darstellung und die Kunst – das System der einzelnen Darstellungen – unterschieden. Der Ausdruck des Gefühls

145 Mehr zum Unterschied zwischen beweglicher und bildender Kunst im Brouillon zur Ethik vgl. unten: 373. 146 Vgl. oben: Kapitel 4. 2.1 Der Ausdruck des Gefühls.

368  Kapitel 4 Der Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik

wird in Ton und Gebärde als natürlicher Ausdruck und in den einzelnen Darstellungen noch nicht vollendet, aber in diesen unvollkommenen Ausdrucksweisen ist der erste Schritt der Objektivierung in der Kunst, die persönliche Beschränkung des Einzelnen im Gefühl zu durchbrechen, enthalten. Daraufhin stellt sich die Frage: Welchen Unterschied und welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem natürlichen Ausdruck, der einzelnen Darstellung und der Kunst als System der Darstellungen? Diese Frage ist entscheidend für unsere weitere Analyse der Objektivierungsleistung der Kunst. Denn gerade in jener Verhältnisbestimmung ist der zweite Bedeutungsaspekt der Objektivierungsleistung der Kunst zu erkennen, der bereits im Brouillon zur Ethik angedeutet wurde. Insofern soll zunächst auf der Basis unserer Rekonstruktion von Schleiermachers Ausdruckstheorie eine Klärung des Unterschiedes und des Zusammenhangs zwischen dem natürlichen Ausdruck, der einzelnen Darstellung und der Kunst gegeben werden, bevor wir die Objektivierungsleistung der Kunst weiter analysieren. Zum Vergleich des natürlichen Ausdrucks des Gefühls in Ton und Gebärde mit dem Ausdruck des Gedankens in Ton- und Gebärdensprache weist Schleiermacher darauf hin, dass Ersterer durch Unmittelbarkeit, Ursprünglichkeit, Einfachheit und Zufälligkeit bzw. Willkürlichkeit gekennzeichnet ist. „Zufällig“ ist der fragliche Ausdruck des Gefühls insofern, als er ohne Absicht und Bewusstsein geschieht. Um die Funktion der Kunst deutlich zu zu klären, stellt Schleiermacher ihr später den natürlichen Ausdruck des Gefühls gegenüber. Von dieser unmittelbaren Ausdruckstendenz, die sich in Ton und Gebärde manifestiert, wird nun die Kunst abgehoben: „[W]enn die Art, wie die Interessen in dem einzelnen quantitativ verknüpft sind, den Charakter des Individuums bildet, so muß sich dieser ausdrükken in der Gesamtheit seiner Thätigkeiten; allein diese sind ebenfalls nicht Resultate jener Tendenz. Diese also müssen sein Aeußerungen, welche keinen anderen Zweck haben als die Mittheilung, und dies [sc. Heraustreten] ist das Gebiet der Kunst“ (Bermkungen 1832, 648). Wie Ton und Gebärde handelt es sich in der Kunst um das Heraustreten des Gefühls. Mehr noch, es geht um die Darstellung von Individualität („Charakter des Individuums“). In diesem Heraustreten des Gefühls entsteht demnach etwas Konstantes. Dabei ist vorausgesetzt, dass der Charakter des Individuums in einer bestimmten Gewichtung jeweils miteinander verbundener Interessen besteht. Ohne Bezug auf dieses „System“ von Interessen lässt sich die Individualität nicht darstellen. So lässt sich festhalten: Während im natürlichen, zufälligen und nichtbewussten Ausdruck nur etwas Flüchtiges zur Darstellung kommt, bringt die Kunst etwas Systematisches und Konstantes hervor. Im Äußerlichwerden des Gefühls durch die Kunst gestaltet sich die Individualität. Trotz dieser markanten Unterschiede ist Kunst nicht vom natürlichen Ausdruck des Gefühls isoliert. Wie wir bei der Erläuterung der Rolle der Phantasie für den Ausdruck des Gefühls gezeigt haben, baut die Phantasie als darstellender Akt eine Brücke zwischen natürlichem Ausdruck und Kunst. Indem sie an den natürlichen Ausdruck anschließt und die zufälligen und einzelnen Töne und Gebärden als Reihe

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kombiniert, gewinnt der natürliche Ausdruck die Möglichkeit, selbst darstellender Akt zu sein. Der natürliche Ausdruck kann deshalb durch die Phantasietätigkeit eine einzelne Darstellung des Gefühls werden. Blickt man in diesem Zusammenhang auf den bereits herausgearbeiteten Befund zurück, dass die einzelnen Darstellungen bzw. die Kunstwerke nach Schleiermacher – im Gegensatz zur Kunst überhaupt – durch ihre Vergänglichkeit und Einseitigkeit zu charakterisieren sind, so lässt sich bis hierhin feststellen, dass für Schleiermacher sowohl Ton und Gebärde als auch die in der Phantasietätigkeit hervorgebrachten einzelnen Darstellungen nur vergängliche Ausdrucksweisen des Gefühls sind. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtung wollen wir nun dazu kommen, wie Schleiermacher die Objektivierungsfunktion der Kunst als System der Darstellungen des Gefühls abschließend klärt und wie er ihre Bedeutung für die Sittlichkeit des Gefühls in seiner späteren Darstellung der Philosophischen Ethik interpretiert. Er eröffnet die Erörterung mit der Eingangsthese: §233. Anmerkung 5. Wenn sich in der Kunst das Gefühl sammeln und der momentane Ausdrukk fixiren und objectiviren soll, so daß alles Gefühl in der Kunst niedergelegt ist und jeder sein mittheilendes und mitgetheiltes Dasein aus derselben empfängt, so wird in jeder Darstellung auch etwas auf die Tradition und die Verbesserung des Darstellungsmittels sich beziehen, und das ist es, was für sich besonders als Virtuosität heraustritt. §234. Anmerkung 6. Dies wird in demselben Maaß vorhanden sein, als in dem darstellenden Act der Moment zurück- und das permanente Selbstbewußtsein als Bewußtsein des dominirenden Talents hervortritt. (PhE 1812/13, 315)

Schleiermacher spricht hier nicht nur ausdrücklich von der Objektivierungsleistung der Kunst, sondern er stellt sich auch die Frage, wie diese Objektivierungsleistung der Kunst überhaupt möglich ist: Sie steht unter der Voraussetzung, dass jede gelungene Darstellung eine Weiterentwicklung der überkommenen Darstellungsmittel beinhaltet. In dieser Weiterentwicklung tritt die Virtuosität des Künstlers hervor. Dies erfolgt in dem Maß, „als in dem darstellenden Act der Moment zurück- und das permanente Selbstbewußtsein als Bewußtsein des dominirenden Talents hervortritt“. Gerade in dem Aspekt der Verbesserung der traditionellen Darstellungsmittel tritt der momentane Ausdruck des Gefühls zugunsten der Darstellung eines permanenten Selbstbewusstseins – des identischen Selbstbewusstseins – zurück, weshalb gerade dieser Aspekt die Darstellung der Individualität des Künstlers impliziert. Durch den Gedankengang baut Schleiermacher vorsichtig eine Brücke zwischen der Objektivierungsleistung der Kunst und dem Hervortreten des identischen Selbstbewusstseins auf: Das Zurücktreten des momentanen Gefühls und das Hervortreten des identischen Selbstbewusstseins gelten als Maßstab dafür, ob das Gefühl und der momentane Ausdruck in der Kunst objektiviert sind. Anders gesagt: Erst dann, wenn in der Darstellung der Moment zurück- und das identische Selbstbewusstsein hervortritt, objektiviert sich Gefühl und der momentane Ausdruck des Gefühls in der Kunst.

370  Kapitel 4 Der Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik

Schleiermacher erläutert die Überlegung in zwei Schritten. Im ersten Schritt klärt er die Bedeutung der Verbesserung des Darstellungsmittels auf; im zweiten erörtert er, inwiefern das Zurücktreten des Moments und das Hervortreten des identischen Selbstbewusstseins in der Darstellung geschehen kann. Wir kommen zunächst zu seinen Ausführungen zur „Verbesserung des Darstellungsmittels“. Dass Gefühl und Darstellung aus unterschiedlichen Gründen miteinander eng verbunden sind, haben wir in verschiedenen Zusammenhängen herausgearbeitet. Wie gesehen besteht ein Grund darin, dass die Darstellung als Mittel dazu dient, das Gefühl des Betrachters in seiner Erregtheit zu affizieren. Gerade damit ist Schleiermachers Auffassung der Darstellungsmittel verbunden. Er unterscheidet dabei drei Stufen. Erstens: „Da Gefühl und Darstellung zwar wesentlich verbunden, aber doch nicht im reinen Gleichgewicht zu sezen sind, so kann es ein solches Hervorherrschen des Darstellungstriebes geben, daß die Erregtheit nur noch als leichte Veranlassung erscheint.“ (PhE 1812/13, 315–316, §235. Anmerkung 7) Auf dieser Stufe zeigt sich die Darstellung nur als ein leichtes Übergewicht des Ausdehnungstriebs des Geistes, so dass sie das Gefühl des Betrachters nur auf eine sehr beschränkte Weise affizieren kann. Die meisten Darstellungsmittel gehören zu einer zweiten Stufe: „Das Darstellungsmittel in seiner Objectivität stellt den Durchschnitt der Moralität des eigenthümlichen Erkennens einer gewissen Masse dar.“ (PhE 1812/13, 316, §236. Anmerkung 8) Auf dieser Stufe repräsentiert das Darstellungsmittel die gemeinschaftliche Individualität einer Gruppe (zum Beispiel eines Volkes, einer Nation etc.). Durch die Formulierung „in seiner Objectivität“ verweist der Autor darauf, dass dieses Darstellungsmittel als ein gemeinsames Mittel für das individuelle Erkennen einer bestimmten Gruppe dient. Aber dieses Darstellungsmittel als gemeinsames kann nicht alle Erregungen darstellen. „Daher können oft die stärksten Erregungen derer, die besonders als Künstler hervortreten, nicht darstellbar sein. Das Alphabeth dazu ist entweder verloren oder noch nicht gefunden.“ (ebd.) Hiermit deutet der Autor an, dass die Künstler die stärksten Erregungen hervorbringen können. So wird die Kunst als die höchste Stufe des Darstellungsmittels in seine Diskussion eingeführt. Die stärkste Erregung zeichnet sich offenbar durch ein solches Maß an Individualität aus, dass alle vorhandenen Darstellungsmittel („das Alphabeth“) zu ihrem Ausdruck nicht hinreichen. Wo die stärksten Erregungen darzustellen sind, ist daher der Künstler in seiner ganzen Virtuosität gefragt. Aus dem Analysierten ist festzuhalten, dass Schleiermacher die Entwicklung des Darstellungsmittels durch drei Stufen nachzeichnet: das Übergewicht des Darstellungstriebs, das Darstellungsmittel als gemeinsames Mittel für die individuelle Identität einer Gruppe, und Kunst – die Verkörperung der Virtuosität, als höchstes Darstellungsmittel für die stärkste Erregung. Durch diese Interpretation wird die These gerechtfertigt, dass Schleiermacher die „Verbesserung des Darstellungsmittels“ mit dem Vorgang des Heraustretens der Virtuosität identifiziert. Damit wendet sich Schleiermacher dem zweiten Problem zu, inwiefern in der Darstellung der Moment zurück- und das identische Selbstbewusstsein hervortritt,

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und was das Zurücktreten des Moments und das Hervortreten des identischen Selbstbewusstseins in der Darstellung bedeutet. Für ihn ist dieses Problem mit der Diskussion über die Sittlichkeit des Gefühls und die Sittlichkeit der Darstellung eng verbunden. „Ein gänzliches Getrenntsein beider Momente, Gefühl ohne Darstellung oder Darstellung ohne Gefühl, könnte nur als Unsittlichkeit gesezt werden.“ (PhE 1812/13, 316, §237) – diese Behauptung gehört zu den wichtigen Thesen Schleiermachers zum Verhältnis von Gefühl und Darstellung. Um diese Aussage verständlicher zu machen, fügt Schleiermacher später noch einige Randbemerkungen hinzu. Zuerst wird herausgestellt: „Unsittlichkeit, beides ganz zu trennen; aber nur wo die Darstellung sich vom Moment der Erregung losreißt, ist Kunst.“147 Gefühl und Darstellung ganz zu trennen ist zwar Unsittlichkeit, aber Kunst als System der Darstellungen des Gefühls hat nicht mehr mit momentaner Erregung im Gefühl zu tun. Die Trennung der Darstellung von der momentanen Erregung gilt als Bedingung für Kunst. Kunst zu haben bedeutet somit die Überwindung der vergänglichen Zuständlichkeit im Gefühl durch die Darstellung. Darauf folgt eine zweite Randbemerkung: „Trennung ist, wo Gefühl ist ohne Ausdrukk, als auch wo individuelle Combination ohne Kunstproduction.“148 Wie schon herausgearbeitet hat die individuelle Kombination in der Phantasietätigkeit nur die einzelne Darstellung zur Folge, die durch Vergänglichkeit und Einseitigkeit zu charakterisieren ist. Im Hinblick auf die Eingangsthese ist in dieser Bemerkung die verborgene Überzeugung Schleiermachers zu erkennen: Nicht nur das Gefühl ohne Ausdruck ist unsittlich, sondern auch die einzelne Darstellung ohne Kunstproduktion bzw. ohne Aufbau eines Systems. Über die Darstellung heißt es: „Darstellung ohne Gefühl ist leeres Spiel oder epideiktische Virtuosität.“149 Eine Darstellung, die ohne Bezug auf ein Gefühl erfolgt, gilt Schleiermacher als ein inhaltsloses Spiel, das nur der Demonstration künstlerischen Könnens dient. Insgesamt stellen diese beiden Randbemerkungen heraus: Eine gänzliche Trennung von Gefühl und Darstellung ist unsittlich, aber auch nicht jede Art des Zusammenseins von beiden erfüllt schon das Kriterium von Sittlichkeit. Sittlich ist nur die Vereinigung von Gefühl und Darstellung in der Kunst. Nun stellt sich die entscheidende Frage: Was heißt in diesem Zusammenhang eigentlich Sittlichkeit? Für Schleiermacher handelt es sich bei der Problematik der Sittlichkeit in Bezug auf die Sphäre des Gefühls einerseits um die Sittlichkeit des Gefühls selbst, andererseits um die Sittlichkeit von dessen Darstellung. Wir kommen zunächst zur Sittlichkeit des Gefühls: §238. Anmerkung 1. In dem Maaß als die Beziehung auf die Persönlichkeit oder den Raum aufhört, hört auch die Beziehung auf die Zeit auf. Die Sittlichkeit des Gefühls liegt also nicht in

147 PhE 1812/13, 316, Fußnote, Randbemerkung zum §237 von 1827. 148 Ebd. 149 Ebd.

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der momentanen Identität des Gefühls und der Darstellung, welche nur auf einer niedern Stufe gefordert wird, sondern nur in dem Bewußtsein, welches jede Erregtheit auf die Sphäre der Mittheilung bezieht und für dieselbe verwahrt. Jeder Moment wird als ein lebendig Fortwirkendes gesezt. (PhE 1812/13, 316)

Diese Passage lässt erkennen, dass es zwischen der Beziehung auf die Persönlichkeit und der Sittlichkeit einen Zusammenhang gibt. Schleiermachers Auffassung dieses Zusammenhangs sind wir in seiner Erkenntnistheorie sowie in seiner Bestimmung des Gefühls als individuelles Erkennen im Brouillon zur Ethik bereits begegnet. Ein kurzer Rückblick erscheint daher angebracht. In seiner Erkenntnistheorie thematisiert Schleiermacher den Vorgang des Aufhebens des Sinnlichen im Wahrnehmen und Empfinden durch das Vermögen der Ideen als „Ethisieren“. Das Wahrnehmen und Empfinden zum Erkennen zu erheben ist die Funktion des sittlichen Lebens. Das sinnliche Wahrnehmen und Empfinden allein ist unsittlich, denn es enthält nur die Beziehung auf die Persönlichkeit – „Beziehung des Einzelnen auf das Einzelne“ (Brouillon 151). Dabei herrscht der Gegensatz von Lust und Unlust. Diesen Zustand begreift Schleiermacher als das Böse. Im Gegensatz dazu gewinnt das individuelle Erkennen durch das Vermögen der Ideen eine Beziehung auf die Identität der Vernunft und Organisation sowie eine Beziehung des abgeschlossenen Daseins auf das Ganze. Diesen Zustand bezeichnet Schleiermacher als das Gute: „Hiedurch nun wird das Gefühl auf die Potenz der Sittlichkeit erhoben“ (Brouillon 177). Daraus lässt sich ersehen, dass die Aufhebung der persönlichen Beschränkung mit dem Verfahren der Ethisierung des Gefühls verschränkt ist. Folglich ist festzustellen: Die Beziehung auf die Persönlichkeit an sich ist unsittlich, die Überwindung dieser Beziehung sittlich. Nach dieser kurzen Erinnerung kehren wir zur zitierten Passage über die Sittlichkeit des Gefühls zurück: „In dem Maaß als die Beziehung auf die Persönlichkeit oder den Raum aufhört, hört auch die Beziehung auf die Zeit auf.“ (PhE 1812/13, 316, § 238. Anmerkung 1) Wo es noch ein Element momentanen Gefühls gibt, wird die Beziehung auf das Persönliche noch nicht überwunden. Blickt man an dieser Stelle auf den im Brouillon zur Ethik konstatierten Befund zurück, dass die Beziehung auf die Persönlichkeit im Wahrnehmen und Empfinden an sich unsittlich ist, so folgt: Wo es noch ein Element momentanen Gefühls gibt, kann die Sittlichkeit nicht entstehen. Vor diesem Hintergrund stellt Schleiermacher nun fest, dass die Sittlichkeit des Gefühls demzufolge nicht „in der momentanen Identität des Gefühls und der Darstellung“ liegt. Aber wieso besteht die Sittlichkeit des Gefühls nur im Bewusstsein? Nach der zitierten Passage (PhE 1812/13, 316, § 238. Anmerkung 1) liegt der Grund darin, dass nur im Bewusstsein jede momentane Erregtheit eine Bezogenheit auf die überindividuelle Sphäre – „die Sphäre der Mittheilung“ – hat und für diese als „ein lebendig Fortwirkendes“ bleibt. Diese Beziehung auf die Sphäre der Mitteilung überwindet die Beziehung auf die Persönlichkeit. Zu größerer Klarheit über das Gemeinte ver-

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hilft eine Aussage über die Sittlichkeit des Gefühls im Brouillon zur Ethik: „Die Ethisirung des Gefühls aber [sc. besteht darin], inwiefern es ein gemeinschaftliches werden soll, darin, daß jedes Gefühl in Darstellung übergehe“ (Brouillon 184). Für Schleiermacher ist die Erhebung des Gefühls auf die Ebene des Gemeinschaftlichen dessen Versittlichung, womit auch seine intersubjektive Kommunikation ermöglicht wird. Kurz gesagt: Weil die momentane Erregung im Gefühl nur vermittels des Bewusstseins einen Bezug auf die gemeinschaftliche Sphäre hat, liegt die Sittlichkeit des Gefühls nur im Bewusstsein. Hierbei ist bemerkenswert, dass für Schleiermacher das momentane Element im Zuge der Ethisierung des Gefühls nicht annuliert wird, sondern nur zurücktritt oder, genauer gesagt, „als ein lebendig Fortwirkendes gesezt“ wird. Ebenso wie die Sittlichkeit des Gefühls nicht in der momentanen Identität des Gefühls und der Darstellung liegt, so liegt die Sittlichkeit der Darstellung nach Schleiermacher auch nicht in dem unmittelbaren Heraustreten eines gefühlshaft erregten Moments. „Aus demselben Grunde liegt die Sittlichkeit der Darstellung nicht in dem unmittelbaren Hervorgehen aus einem erregten Moment, was man gewöhnlich unter Begeisterung zu verstehen pflegt, sondern in der inneren Wahrheit, vermöge deren sie in der Production auf etwas in dem eigenthümlichen Wesen Reales bezogen wird.“ (PhE 1812/13, 316, §239. Anmerkung 2) Damit weist Schleiermacher darauf deutlich hin, dass das Zurücktreten des momentanen Elements in der Darstellung als Bedingung für die Sittlichkeit der Darstellung gilt. Entscheidend ist, dass hier zwei Darstellungsstufen unterschieden werden: Die eine ist nur die unmittelbare Bewegung eines Gefühlsmoments, die andere hat mit innerer Wahrheit zu tun. Den Hintergrund dieser Gegenüberstellung bildet eine Diskussion über den Unterschied zwischen Darstellung als Begeisterung und Darstellung als Besonnenheit im Brouillon zur Ethik. Diese Unterscheidung ist daher in den Blick zu nehmen. In den vorherigen Abschnitten ist uns bereits die Feststellung aus dem Brouillon zur Ethik begegnet, dass die Darstellung von zwei unterschiedlichen Voraussetzungen ausgeht: „Organische Bewegungen“ als Prinzip der beweglichen Kunst werden von „symbolische[n] Gestalten“ als Prinzip der bildenden Kunst abgehoben. Der Unterschied der beiden Kunstformen liegt darin, dass als Mittel der beweglichen Kunst „rein organische Producte“ (Brouillon 183) dienen, während die Mittel der bildenden Kunst „individualisirte Producte allgemeiner Naturkräfte, der Masse und des Lichts, plastische und pittoreske Gestalten“ (ebd.) sind. Für Schleiermacher gleicht der Unterschied zwischen beweglicher und bildender Kunst dem Unterschied zwischen Ton- und Zeichensprache. Daher kann gesagt werden, dass in dieser früheren Schrift die bildende im Vergleich zur beweglichen Kunst ein Resultat der vernünftigen Produktion ist. Direkt im Anschluss an diese Diskussion stellt Schleiermacher die Frage, „ob die Darstellung ein Act der Besonnenheit oder der Begeisterung sei“ (ebd.). Er sieht diese Frage als maßgeblich für eine „ethische Ansicht der Kunst“ an. Die Darstellung als ein Akt der Begeisterung wird sodann folgendermaßen bestimmt: „Nemlich

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die Conception ist Begeisterung, denn in ihr ist unmittelbar die Identität des Gefühls und der Reaction gegeben [sc. zugefügt am Rand: und es darf keine Reflexion dazwischentreten]; sie schließt aber in sich die Besonnenheit als Vergangenheit. Denn auch die Conception ist um so vollkommener, je mehr Gewalt über die Technik der Kunst dabei vorgewaltet hat.“ (Brouillon 183–184) An dieser Äußerung lässt sich erkennen, dass die Darstellung der Begeisterung nur ein spontaner vorreflexiver Entwurf („die Conception“) ist. Diese Darstellung hat die unmittelbare Identität des Gefühls und der Reaktion zur Folge, bei deren Zustandekommen die Reflexion keine Rolle spielt. Im Rückblick auf die obigen Ausführungen über die zwei Voraussetzungen für die Darstellung ist somit festzustellen, dass jene unmittelbare Identität nur ein Produkt der organischen Bewegung ist, weil in der Darstellung die Gewalt der Begeisterung die vernünftige Produktion der Kunst – „Technik der Kunst“ – überwiegt. Demgegenüber ist die Darstellung als ein Akt der Besonnenheit das, was der Ausführung entspricht: „Die Ausführung dagegen, welche jenen Moment in einer Reihe darstellt, hat die Besonnenheit in der Gegenwart, muß aber die Begeisterung auch in sich enthalten als Vergangenheit.“ (Brouillon 184) Jene Momente, die aus der Darstellung der Begeisterung entstehen, werden in der künstlerischen Ausführung neu kombiniert. Diese Ausführung ist nicht das Produkt der spontanen und organischen Bewegung, sondern das Resultat der Besonnenheit – ein Produkt der Gelassenheit und Umsicht der Reflexion. Während die Darstellung im Modus der Begeisterung die Besonnenheit als Moment der Vergangenheit enthält, wird die Begeisterung in der besonnenen Darstellung als Element der Vergangenheit festhalten. Das heißt: Die Vergänglichkeit der organischen Bewegung als Darstellung der Begeisterung wird durch die Reflexion überwunden. Mit anderen Worten: Die persönliche Besonnenheit hat die Vergänglichkeit aufgehoben. Statt der Begeisterung ist die Besonnenheit im Akt der Darstellung präsent. Vor dem Hintergrund dieser Gegenüberstellung unterscheidet der Autor die beiden Darstellungen schließlich durch ihre entsprechende Eigenschaft: „Jene wahre Beschaffenheit der Conception ist die Genialität, diese wahre Beschaffenheit der Ausführung ist die Correctheit. Die Conception durch Reflexion ist nur die Sache des Talentes.“ (ebd.) Die Darstellung der Begeisterung ist durch die Genialität zu charakterisieren und die Darstellung der Besonnenheit durch Korrektheit. Aber hierbei ist die Darstellung der Begeisterung nicht von dem Charakter der Besonnenheit isoliert, denn die spontane und geniale Darstellung der Begeisterung kann durch die konzeptionelle Reflexion eine Darstellung der Besonnenheit werden. Dabei spielt das Talent eine entscheidende Rolle, obwohl es nur als Vorstufe der Genialität gilt. Hier ist der Grundgedanke des Autors enthalten: Ob die Darstellung ein Akt der Besonnenheit oder der Begeisterung ist, hängt davon ab, ob in der Darstellung die momentane Leidenschaft oder die Reflexion das größere Gewicht hat. Hinsichtlich dieser Konzeption Schleiermachers ist der Unterschied von natürlichem Ausdruck und Kunst als System der Darstellungen aus der Ausdruckstheorie

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der späteren Philosophischen Ethik zu berücksichtigen. Wie bereits herausgearbeitet sind Ton und Gebärde als natürlicher Ausdruck des Gefühls durch Unmittelbarkeit, Ursprünglichkeit, Einfachheit sowie Zufälligkeit oder Willkürlichkeit gekennzeichnet. Zufälligkeit oder Willkürlichkeit bedeutet, dass Ton und Gebärde das Gefühl ohne Absicht zum Ausdruck bringen, dass es sich folglich bei dem natürlichen Ausdruck um etwas Nichtbewusstes handelt. Im Gegensatz dazu ist Kunst als System der Darstellungen durch Absichtlichkeit, Zweckmäßigkeit, Beständigkeit sowie Ganzheitlichkeit zu charakterisieren. In diesem Kontext unterscheidet Schleiermacher zwischen der sich auf eine bestimmte Erregtheit beziehenden Darstellung (natürlicher Ausdruck) und der sich auf das permanente Bewusstsein beziehenden Darstellung (Kunst). Daraus wird ersichtlich, dass sich die Gegenüberstellung von „Darstellung der Begeisterung“ und „Darstellung der Besonnenheit“ mit dem Unterschied von natürlichem Ausdruck und Kunst als System der Darstellungen in seiner späteren Philosophischen Ethik deckt. Ton und Gebärde als natürlicher Ausdruck gehören also offenbar zur „Darstellung der Begeisterung“, während die Kunst der „Darstellung der Besonnenheit“ entspricht. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die organische Bewegung als Reaktion des Gefühls, die dessen natürlichen Ausdruck zur Folge hat, ist nur der Akt der Begeisterung ohne Absicht; dagegen ist Kunst der Akt der Besonnenheit, die reflektierte Darstellung vom Veränderlichkeitsbewusstsein im Gefühl. Sie ist durch die Reflexion ermöglicht und daher durch Absichtlichkeit und Zweckmäßigkeit gekennzeichnet.150 Mit diesem Blick auf Schleiermachers Unterscheidung zwischen der Darstellung der Begeisterung und der Darstellung der Besonnenheit im Brouillon zur Ethik können wir nun unsere Diskussion über die Sittlichkeit der Darstellung fortsetzen. „Aus demselben Grunde liegt die Sittlichkeit der Darstellung nicht in dem unmittelbaren Hervorgehen aus einem erregten Moment, was man gewöhnlich unter Begeisterung zu verstehen pflegt, sondern in der inneren Wahrheit, vermöge deren sie in der Production auf etwas in dem eigenthümlichen Wesen Reales bezogen wird.“ (PhE 1812/ 13, 316, §239. Anmerkung 2) Im Lichte des soeben Dargestellten ist zu erkennen, dass hier von besagter Gegenüberstellung von Darstellung als Akt der Begeisterung und Darstellung als Akt der Besonnenheit die Rede ist. Die Sittlichkeit besteht offenbar nicht in der Darstellung der Begeisterung, sondern in der Darstellung der Besonnenheit oder in der reflektierten Darstellung des Gefühls, wie sie in der Kunst stattfindet. Die angeführte Aussage ist zugleich als Vertiefung der fraglichen Unterscheidung aus dem Brouillon zur Ethik zu lesen. „Innere Wahrheit“ ist nur in der Darstellung der Besonnenheit zu finden. Durch diese innere Wahrheit gewinnt die

150 Neben dem Brouillon zur Ethik und der Philosophischen Ethik seiner Reifezeit hat Schleiermacher den Gedanken zur Unterscheidung von Begeisterung und Besonnenheit in der Darstellungsproblemaitk durch seine Ästhetik (1819) erweitert und vertieft. Dazu vgl. Friedrich Schleiermacher: Ästhetik (1819), in: ders.: Ästhetik (1819/25); Über den Begriff der Kunst (1831/32)(1984), 9–15 und 31.

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Darstellung in der Kunstproduktion einen Bezug auf die konstante Individualität oder das identische Selbstbewusstsein – „etwas in dem eigenthümlichen Wesen Reales“. Gilt die Überwindung der Vergänglichkeit ebenfalls („aus demselben Grunde“) als Kennzeichen für die Sittlichkeit der Darstellung, so liegt diese nur in der Darstellung der Besonnenheit – in der Kunst, wo die Darstellung von momentaner Erregung losgerissen ist, welche nur als etwas Vergangenes enthalten bleibt. Das Heraustreten des identischen Selbstbewusstseins ist also der Maßstab für die Sittlichkeit der Darstellung. Es wurden bisher Schleiermachers Bemerkungen zur Sittlichkeit des Gefühls und zur Sittlichkeit der Darstellung untersucht. In einem Zwischenfazit sind vier wesentliche Punkte zu benennen. Erstens: Eine gänzliche Trennung von Gefühl und Darstellung ist unsittlich, aber nicht jede Art der Identität von Gefühl und Darstellung hat schon als sittlich zu gelten. Das Zurücktreten des Momentanen ist das Kennzeichen sowohl für die Sittlichkeit des Gefühls als auch für die Sittlichkeit der Darstellung. Zweitens: Die Sittlichkeit des Gefühls liegt nicht in der unmittelbaren momentanen Identität von Gefühl und Darstellung, sondern nur in der konstanten Identität von beiden, die nur in der Kunst möglich ist. Das bedeutet, dass die Sittlichkeit des Gefühls in der Kunst besteht. Drittens: Die Sittlichkeit der Gefühlsdarstellung liegt nicht in der Darstellung der Begeisterung, sondern in der Darstellung der Besonnenheit, wo das identische Selbstbewusstsein heraustritt. Das Heraustreten des identischen Selbstbewusstseins gilt als Maßstab für die Sittlichkeit der Darstellung. Insofern liegt die Sittlichkeit der Darstellung wie die Sittlichkeit des Gefühls auch in der Kunst. Viertens: Aus den genannten drei Punkten lässt sich schließen, dass nach Schleiermachers Ansicht die Sittlichkeit – sowohl die des Gefühls als auch die der Gefühlsdarstellung – in der Kunst verwirklicht wird. Sowohl die Ethisierung des Gefühls als auch die Ethisierung der Darstellung erfolgt in der Kunst. Beides erfolgt im Zuge der Verbesserung der Darstellungsmittel. Bisher haben wir Schleiermachers Ausführungen über die Verbesserung der Darstellungsmittel, über die Sittlichkeit des Gefühls und der Darstellung sowie über das Heraustreten des identischen Selbstbewusstseins rekonstruiert. Nach dieser Interpretation kehren wir nun zu seiner eingangs gemachten Behauptung zurück: §233. Anmerkung 5. Wenn sich in der Kunst das Gefühl sammeln und der momentane Ausdrukk fixiren und objectiviren soll, so daß alles Gefühl in der Kunst niedergelegt ist und jeder sein mittheilendes und mitgetheiltes Dasein aus derselben empfängt, so wird in jeder Darstellung auch etwas auf die Tradition und die Verbesserung des Darstellungsmittels sich beziehen, und das ist es, was für sich besonders als Virtuosität heraustritt. §234. Anmerkung 6. Dies wird in demselben Maaß vorhanden sein, als in dem darstellenden Act der Moment zurück- und das permanente Selbstbewußtsein als Bewußtsein des dominirenden Talents hervortritt. (PhE 1812/13, 315)

Wir haben anfangs darauf hingewiesen, dass nach dieser Eingangsthese die Objektivierungsleistung der Kunst unter der Voraussetzung steht, dass in jeder Darstel-

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lung eine Beziehung auf die Tradition und die Verbesserung des Darstellungsmittels enthalten ist. Die Verbesserung des Darstellungsmittels verschränkt sich mit dem Vorgang des Zurücktretens des Moments und des Hervortretens des identischen Selbstbewusstseins. Denn beide Vorgänge sind „in dem selben Maaß vorhanden“. Wurde die Voraussetzung im Vorangehenden aufgeklärt, so wollen wir nun in einer zusammenfassenden Darstellung analysieren, was sich hinter der Objektivierungsfunktion der Kunst verbirgt. Dass der Grundgedanke der Objektivierungsleistung der Kunst bereits im Brouillon zur Ethik eingeführt wurde, haben wir gesehen. Im Fortgang vom Brouillon zur Ethik zur Philosophischen Ethik seiner Berliner Reifezeit ist dieser Grundgedanke entfaltet. Während Schleiermacher besagte Objektivierungsfunktion in dieser frühen Ethikvorlesung auf das Gebiet der bildenden Kunst beschränkt, rechnet die zuletzt zitierte Passage ausdrücklich mit einem weiteren Umfang. Während die Objektivierungsleistung der Kunst in der frühen Ethikvorlesung nur das Gefühl an sich betrifft, wird später im Kontext der Ausdruckstheorie deutlich, dass Kunst nicht nur die mentale Zuständlichkeit im Gefühl festhält, sondern auch den momentanen Ausdruck des Gefühls (den natürlichen Ausdruck in Ton und Gebärde und die einzelnen Darstellungen) fixiert. Blickt man von hier aus auf die beiden Bedeutungsaspekte der Objektivierungsleistung der Kunst in der Philosophischen Ethik Schleiermachers insgesamt zurück, so kann diese Leistung der Kunst einerseits in einer destruktiven Hinsicht, andererseits in einer konstruktiven Hinsicht verstanden werden. In destruktiver Hinsicht besteht die Objektivierungsleistung der Kunst in drei Aspekten. Zuerst geht es um die Überwindung der Vergänglichkeit. Durch die Überwindung der Vergänglichkeit wird die Beschränkung der Persönlichkeit und der Räumlichkeit aufgehoben. Mit diesem Aspekt ist Schleiermachers Grundgedanke über das sittliche Leben verbunden: Das sittliche Leben besteht in der Wechselwirkung von Setzen eines Persönlichen und Zeitlichen und Aufheben der persönlichen und zeitlichen Beschränkung.151 In unserer Diskussion über die Funktion der Kunst bedeutet das, dass durch Kunstdarstellung die persönliche Beschränkung im Gefühl aufgehoben wird. Der zweite destruktive Aspekt der Objektivierungsleistung der Kunst ist die Entsinnlichung. Dieser Aspekt steht im Kontext der Erkenntnistheorie im Brouillon zur Ethik.152 Wird das sinnliche Empfinden durch die Kombination der Kunst zum Erkennen erhoben, so kann die Objektivierung der Kunst zugleich als ein Prozess der Desensualisierung ausgelegt werden. Auch im Brouillon zur Ethik versteht Schleiermacher „die Beziehung des Einzelnen auf das Einzelne“ als „das Böse“, nämlich als Beschränkung des Gefühls auf Lust und Unlust.153 Wird die per-

151 Vgl. oben: Kapitel 3. 1.1 Die Bestimmung des Lebens. 152 Vgl. oben: Kapitel 3. 2.1 Die Erkenntnistheorie im Allgemeinen. 153 Vgl. oben: 248.

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sönliche Beschränkung durch die Darstellung der Kunst überwunden, so kann die Objektivierung der Kunst in einem dritten destruktiven Aspekt als Aufheben des Gegensatzes von Lust und Unlust interpretiert werden. In konstruktiver Hinsicht kann die Objektivierungsleistung der Kunst ebenfalls anhand von drei Gesichtspunkten aufgeschlüsselt werden. Erstens dient die Kunstdarstellung zur Formgebung der vergänglichen Inhalte, die dem Gefühl innewohnen. Wie bereits herausgearbeitet, ist das Gefühl an sich als ein Ausdrucksphänomen die Expression innerer mentaler Zustände. Mit der Kunstdarstellung bekommen diese vergänglichen Inhalte des Gefühls eine Form und werden dadurch fixiert. Der zweite Punkt betrifft die Bildung der Individualität. Gilt das Hervortreten des identischen Selbstbewusstseins, nämlich das Hervortreten der konstanten Individualität, als Maßstab für die Objektivierung des Gefühls und des momentanen Ausdrucks, so kann die Objektivierung in der Kunst subjektivitätstheoretisch als Bildung der Individualität verstanden werden. Der dritte Punkt ist mit der Sittlichkeit im Gebiet des Gefühls verbunden: Nicht nur die Ethisierung des Gefühls liegt in der Kunst, sondern auch die Ethisierung der Gefühlsdarstellung ist der Objektivierungsleistung der Kunst zu verdanken. Darüber hinaus hat die Objektivierung der Kunst einen Beitrag für Kommunikation im Gebiet des unübertragbaren Gefühls: Durch die Überwindung der persönlichen Beschränkung in der Kunst hat der abgeschlossene Einzelne einen Bezug auf die gemeinschaftliche Sphäre. Das ist die erste Bedingung für die Kommunikation im Gebiet des Gefühls. Auf diese Bedeutung wollen wir in der Diskussion über die Mitteilungsleistung der Kunst näher eingehen. Auf den ersten Blick scheint der beschriebene Vorgang der Objektivierung durch künstlerische Darstellung etwas mit dem „identischen Erkennen“ gemeinsam zu haben. Ergibt sich das reine Objektive oder das identische Wissen aus der Objektivierung des Gefühls in der Kunst, wie aus der Objektivierung der Sprache? Die Frage ist zu verneinen. Schleiermacher zufolge resultiert aus der Objektivierung durch Kunst nie etwas rein Objektives. Bereits im Brouillon zur Ethik, wo er die Kunst zum ersten Mal als System der Darstellungen bestimmt, ihre Objektivierungsfunktion aber noch nicht offen thematisiert wird, macht der Autor auf diesen wichtigen Punkt aufmerksam. „[A]llein das rein Objective darin ist nicht die eigentliche Tendenz der Kunst, sondern die eigenthümliche Combination der Fantasie. Sonst müßte, wo die Kunst sich in einem bestimmten Cyclus des Objectiven bewegt, die Tendenz sein in eine einzige Darstellung zusammenzufallen“ (Brouillon 182). Vor dem Hintergrund unserer Untersuchung zu Schleiermachers Ausdruckstheorie ist dieser Aussage zu entnehmen, dass die eigentliche Leistung der Kunst darin besteht, die einzelnen Darstellungen des Gefühls durch die Phantasietätigkeit auf individuelle Weise zu kombinieren.154 Daraus folgt: „Also ist in diesem Sinne nicht das rein Ob-

154 Um die Tendenz, „in eine einzige Darstellung zusammenzufallen“, als widersprüchlich in der Darstellung der Kunst aufzuzeigen, nimmt Schleiermacher einige Beispiele in den konkreten Berei-

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jective Gegenstand der Kunst, sondern das Abspiegeln der Individualität im Objectiven.“ (ebd.) Das Gefühl ist eine Handlungstätigkeit der individuellen Vernunft; Kunst als Ausdruck des Gefühls hat nur das Individuelle zum Gegenstand. An einer Stelle seiner späteren Vorlesung stellt Schleiermacher ebenfalls heraus, dass die Kunst das Gebiet ist – „wo alles Objective doch nur Darstellung des Subjectiven ist“ (PhE 1812/13, 270, §52).155 Ein weiteres Beispiel lautet: „Wenn in vielen Fällen die Darstellung zunächst eine Idee ausdrückt, so ist diese selbst als Synthesis Ausdruck des Gefühls, und kann auch nie in der Darstellung selbst in reiner Objectivität gefaßt sein.“ (PhE 1812/13, 316–317, §240. Anmerkung 3) Nimmt man diese Hinweise zusammen und blickt man auf das oben Dargelegte zurück, so ist festzustellen, dass die Objektivierungsleistung der Kunst kein rein Objektives hervorbringt. Sondern: Was als „objektiv“ oder „objektiviert“ in der Sphäre der Kunst bezeichnet wird, ist nur die Darstellung der Individualität des Einzelnen in der Gefühlssphäre, die durch die folgenden Merkmale zu kennzeichnen ist: konstant/zeitlos, fixiert/gesetzt, bewusst/besonnen, willkürlich/absichtlich. 2.2.2 Die Mitteilungsleistung der Kunst In der Philosophischen Ethik Schleiermachers hat die Kunst als System der Darstellungen des Gefühls nicht nur eine Objektivierungsfunktion, sondern zugleich auch eine Mitteilungsfunktion. Die Letztere ist uns bereits an einigen Stellen begegnet, weil beide Leistungen der Kunst nach Schleiermachers Ansicht einander stützen. Die Mitteilungsfunktion besteht darin, dass die Kunst durch ihre Veräußerlichung des Gefühls eine intersubjektive Kommunikation im Gebiet des unübertragbaren Gefühls ermöglicht, genauer gesagt: In der Kunst gestaltet sich eine durch das intersubjektive Offenbarungsverhältnis strukturierte Gemeinschaft. Die Kunst bildet die Geselligkeit. Diese Leistung ist von hoher Bedeutung für den Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik. Wir haben bereits herausgearbeitet, dass Schleiermachers Begriff des Gefühls – neben dem erkenntnistheoretischen, ausdruckstheoretischen und subjektivitätstheoretischen Aspekt – auch in einer kommunikationstheoretischen Dimension zu bestimmen ist, die darin besteht, dass sich die Menschen untereinander bezüglich des Gefühls in einem Offenbarungsverhältnis befinden. Für Schleiermacher ist die Mitteilungsleistung der Kunst mit der kommunikationstheoretischen Bestimmung des Gefühls unmittelbar verbunden. Es ist daher zunächst ein kurzer Rückblick auf diese Dimension des Gefühls vorzunehmen.

chen der Kunst: „Die Sculptur müßte auf Einen Jupiter ausgehn, die Tragödie auf Eine Behandlung eines Mythos. Nun sollen aber, so sagt man, nicht einmal zwei Jupiter eines und desselben Künstlers dieselben sein, sonst sagt man Armuth und Manier.“ (Brouillon 182) 155 Mehr dazu PhE 1812/13, 270, §52: „Dies Gebiet umfaßt nicht nur das Strenge der Kunst, wo alles Objective doch nur Darstellung des Subjectiven ist, sondern auch alle formlosere Mittheilung des erregten Lebens.“

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In seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre von 1816/17 vertieft Schleiermacher nicht nur seinen Begriff der Geselligkeit, indem er sie als Verhältnis in der Handlungssphäre des individuellen Organisierens fasst, sondern er führt auch einen philosophischen Offenbarungsbegriff in die Diskussion ein, um das Verhältnis der Menschen miteinander im Gebiet des Gefühls zu beschreiben. Ihm zufolge ist die Geselligkeit der Rahmen für seinen Offenbarungsbegriff. Denn das Offenbarungsverhältnis im Gebiet des Gefühls ist nur unter der Voraussetzung der Geselligkeit zu verstehen und umgekehrt ist die Gestaltung der Geselligkeit vom Offenbarungsverhältnis bedingt. Die Geselligkeit ist nach Schleiermacher auf folgende Weise strukturiert: Alle Individuen gehören durch ihre je individuelle bildende Tätigkeit um der Einheit der Vernunft in der sittlichen Tätigkeit willen zusammen, insofern jedes Individuum durch seine eigene Tätigkeit ein Teil des Ganzen der bildenden Vernunfttätigkeit werden kann. Das Individuum ist für die Einheit der Vernunft in der Geselligkeit wie das Organ für den Organismus. Dank der Unübertragbarkeit des Gefühls ist die Kommunikation der Menschen untereinander nicht wie auf dem Feld der Gedanken durch das Aussprechen und Nachbilden zu verwirklichen, sondern durch das Andeuten und Ahnen. Schleiermacher bezeichnet genau dieses durch die Wechselwirkung von Andeuten und Ahnen strukturierte Verhältnis als „Offenbarung“. Im Vergleich zum Glaubensverhältnis in der Sphäre des Wissens ist das Offenbarungsverhältnis nur unter der Bedingung von Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit denkbar. Mit diesem kurzen Rückblick auf die kommunikationstheoretische Bestimmung des Gefühls ist nun die Mitteilungsleistung der Kunst genauer in den Blick zu nehmen. Von der Mitteilungsleistung und ihrem Zusammenhang mit der Objektivierungsleistung der Kunst ist bereits in der Eingangsthese zur Objektivierungsleistung die Rede: „Wenn sich in der Kunst das Gefühl sammeln und der momentane Ausdrukk fixiren und objectiviren soll, so daß alles Gefühl in der Kunst niedergelegt ist und jeder sein mittheilendes und mitgetheiltes Dasein aus derselben empfängt“ (PhE 1812/13, 315, §233. Anmerkung 5). Werden die Voraussetzung und der Maßstab für die Objektivierung des Gefühls in der Kunst – das Zurücktreten des momentanen Gefühls und das Hervortreten des identischen Selbstbewusstseins – so bestimmt, wie oben dargelegt, können wir nun die Bedeutung dieser Eingangsthese an sich in Betracht ziehen. Die zitierte Aussage zeigt, dass mit ihrer objektivierenden Leistung eine weitere wichtige Funktion der Kunst verbunden ist: Indem alles Gefühl in der Kunst dokumentiert wird, ermöglicht sie das intersubjektive Kommunizieren im Gebiet des Gefühls. Kunst gilt als „Träger“ für alles Gefühl, ist aber nicht identisch mit dem Gefühl, denn sie ist das System seiner Darstellungen. Kunst dient insofern als Ort für die Mitteilung des Gefühls, wo jeder das Gefühl eines Anderen empfängt. Aus der Eingangsthese kann der Zusammenhang der beiden in Rede stehenden Leistungen der Kunst bei Schleiermacher deshalb wie folgt verstanden werden: Die durch die Kunstdarstellung realisierte Objektivierung ist die Voraussetzung für die

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Mitteilung des Gefühls in der Kunst und die Mitteilung ist der Zweck der Objektivierung des Gefühls.156 Die Mitteilung des Gefühls interpretiert Schleiermacher weiter als „das Wiedererkennen des Gefühls“ (PhE 1812/13, 317, §243). Die Bezeichnung der Mitteilung des Gefühls als „Wiedererkennen“ ist zweifach zu beachten. Zuerst ist hervorzuheben: Durch die Wendung „das Wiedererkennen des Gefühls“ weist Schleiermacher darauf hin, dass die Mitteilung des Gefühls nicht ein unmittelbares Aufnehmen bedeutet. Daher ist in der obigen Eingangsthese auch nur vom „Empfangen“ des mitteilenden und mitgeteilten Daseins die Rede. Dem entspricht Schleiermachers Hinweis auf die geheimnisvolle Seite des Offenbarungsverhältnisses: Wegen der Unübertragbarkeit des Gefühls können wir zwar das Gefühl eines Anderen durch seinen Ausdruck im Offenbarungsverhältnis verinnerlichen, aber dieses Gefühl eines Anderen selbst kann weder ein Teil von uns noch unser eigenes Gefühl werden.157 Sodann ist folgender Punkt bemerkenswert: Das „Wiedererkennen des Gefühls“ beschränkt sich bei Schleiermacher nicht auf das intersubjektive Anerkennen des Gefühls in der Kunst, sondern bezieht sich auch auf das Wiedererkennen meines eigenen Gefühls, das aus einem früheren Moment stammt und in der Kunst niedergelegt ist. Denn für Schleiermacher gilt die Unübertragbarkeit des Gefühls nicht nur zwischen Subjekten, sondern auch zwischen verschiedenen Zeitpunkten im Leben eines Subjektes. Das haben wir in der Diskussion der Unübertragbarkeit des individuellen Symbolisierens sowie des Gefühls bereits herausgearbeitet. Damit ist folgender Sachverhalt verbunden: Die Mitteilung in der Kunst wird bei Schleiermacher nicht nur als ein intersubjektiver Akt ausgezeichnet, der die Kommunikation der Menschen untereinander in der Gefühlssphäre ermöglicht, sondern sie dient auch dazu, die individuelle Identität eines Subjekts zu wahren. Gewiss legen Schleiermachers Ausführungen den Akzent auf die intersubjektive Dimension der Mitteilung. Dabei stellt sich die entscheidende Frage, auf welche Weise sich die intersubjektive Mitteilung des Gefühls in der Kunst verwirklicht. Eine Antwort darauf gibt die folgende Passage: §243. Alle Mittheilung, das Wiedererkennen des Gefühls, erfolgt hier nur vermittels eines analogischen Verfahrens; nemlich wie die darstellende Bewegung zu einer in mir [Hervorhebung

156 Dass die Mitteilung des Gefühls als Zweck der Veräußerlichung des Gefühls bzw. der Objektivierungsleistung der Kunst gilt, ist an einer anderen Stelle ausgeführt: „Auf der andern Seite, wenn die Art, wie die Interessen in dem einzelnen quantitativ verknüpft sind, den Charakter des Individuums bildet, so muß sich dieser ausdrükken in der Gesamtheit seiner Thätigkeiten; allein diese sind ebenfalls nicht Resultate jeder Tendenz. Diese also müssen seine Aeußerungen, welche keinen anderen Zweck haben als die Mittheilung, und dies [sc. Heraustreten] ist das Gebiet der Kunst.“ (Bemerkungen 1832, 648) Die Äußerung des Charakters eines Individuums in der Kunst, die wir als einen Vorgang der Objektivierung interpretieren, hat nur den Zweck der Mitteilung. 157 Vgl. oben: 336–337.

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d. Vf.] selbst vorkommenden ähnlichen [sc. Bewegung], so das hervorbringende Gefühl zu dem bei mir zum Grunde liegenden [sc. Gefühl]. §244. Dies Verfahren muß auf einer Identität beruhen, welche hier keine andere sein kann als die [sc. Identität] der Formation des menschlichen Organismus, so daß auch hier das Individuelle auf dem Fundament des Universellen ruht. (PhE 1812/13, 317)

Diese Behauptung setzt zwei Einsichten Schleiermachers zur Verfassung des Gefühls voraus, über die wir bereits in verschiedenen Zusammenhängen diskutiert haben. Die erste bezieht sich darauf, dass das Gefühl als Ganzes durch zwei untrennbare Elemente – die Gemütsstimmung und die Gemütsbewegung – strukturiert ist: Jene gilt als Aktion des Gefühls, diese als Reaktion, als Darstellung des Gefühls. Die zweite Einsicht besteht darin, dass die Darstellung des Gefühls eines Anderen zugleich das Entstehen meines Gefühls veranlasst, indem der Andere durch die besagte Darstellung meine Gefühlserregung evoziert. So ist das Gefühl eines Anderen hier für mich „hervorbringendes Gefühl“. Im Kontext der beiden Einsichten ist die zitierte Aussage nun wie folgt zu paraphrasieren: Die Mitteilung als Wiedererkennen des Gefühls ist nur durch ein analogisches Verfahren zwischen Subjekten möglich. Darin sind zwei Korrelationen enthalten: die Korrelation zwischen der darstellenden Bewegung eines Anderen und der ähnlichen Bewegung in mir; und diejenige zwischen dem affizierenden Gefühl eines Anderen und wiederum dem ähnlichen Gefühl in mir. Ich kann das Gefühl eines Anderen nur wiedererkennen, weil ein ähnliches bereits bei mir vorliegt. Die geschilderten Mitteilungsvollzüge sind nur möglich, wenn man die Identität des Humanum zugrunde legt, genauer genommen: den identischen Aufbau des „inneren Menschen“, der wiederum analog zum allen Menschen gemeinsamen Aufbau des physischen Organismus – „Formation des menschlichen Organismus“ – zu denken ist.158 Dies stimmt mit dem Ausgangspunkt der Individualitätstheorie in den Monologen überein, wonach – wie oben bereits erwähnt – die Bildung der Individualität nur unter der Voraussetzung der allgemeinen Elemente der Menschheit geschieht. Dank der strukturellen Identität des „inneren Organismus“ kann ich also das Gefühl eines Anderen durch Analogiebildung „wiedererkennen“. Blickt man an dieser Stelle auf das Verständnis der Offenbarung in seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre von 1816/17 zurück, wird deutlich, dass die Mitteilung als Wiedererkennen des Gefühls in der Kunst von dem durch Ahnen und Andeuten strukturierten Offenbarungsverhältnis der Menschen untereinander in der

158 Die Identität der Formation des menschlichen Organismus ergänzt Schleiermacher in den Bemerkungen von 1832 zu seiner Güterlehre von 1812/13 mit folgender Aussage: „Die Möglichkeit einer wenigstens gewissermaßen dem Calculus unterworfenen Mittheilung beruht auf der Identität der Abstammung im Familienkreise, wo sich ein specifisches Verständigungsgebiet durch den unwillkührlichen Ausdrukk bildet, und im Volksthum, wo sich ein gemeinsames höheres Kunstgebiet bildet, endlich im öffentlichen religiösen Leben, welches eine auf Wahlanziehung beruhende Gemeinschaft ist.“ (Bemerkungen 1832, 649)

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Gefühlssphäre nicht zu trennen ist. Das Offenbarungsverhältnis ist durch Kunst zu verwirklichen. Am deutlichsten drückt sich der Zusammenhang von Kunst und Offenbarung in einer Randbemerkung von 1827 aus: „[D]ie Kunstdarstellung vermittelt das Offenbarungsverhältnis.“159 Dieser Zusammenhang bei Schleiermacher wird von Wilhelm Dilthey mit einer Metapher noch anschaulicher gemacht: Demnach ist die Kunst das „Organ“ der Offenbarung.160 Im Zusammenhang der Identifizierung von Mitteilung und Wiedererkennen des Gefühls wird die Mitteilungsleistung der Kunst in einem weiteren Schritt konkretisiert: „Das System der Darstellung in seinen verschiedenen Zweigen bildet nur eine vermittelnde Masse, aus welcher jeder sein Erkennen der Individualität empfängt, und in welche er die seinige [sc. seine Individualität] zum Erkennen hineinlegt.“ (PhE 1812/13, 317, §245) Die Kunst als System der Darstellungen hat einen Zweck: Sie bildet einen Ort für die intersubjektive Kommunikation der Individuen („eine vermittelnde Masse“). Wie jeder aus diesem Ort Kenntnis der Individualität anderer erlangt, bringt er den anderen zugleich seine Individualität zur Kenntnis, so dass jeder zum gesamten System der Darstellungen beiträgt. Vergegenwärtigt man sich Schleiermachers Grundgedanken betreffs der Geselligkeit, dass sich alle Individuen zusammenfinden, indem jeder Einzelne durch seine eigene individuelle Tätigkeit ein Teil des Ganzen wird, so ist ersichtlich, dass die in der Kunst entstandene vermittelnde Masse genau das ist, was der Autor unter „Geselligkeit“ versteht. Um den Zusammenhang zwischen Kunst und Geselligkeit besser zu begreifen, ist es an dieser Stelle sinnvoll, an eine frühere Aussage zu erinnern. Wir haben gesehen, dass Schleiermachers Ausdruckstheorie in der Ethikvorlesung von 1812/13 mit dem folgenden Satz beginnt: „Die Möglichkeit der Geselligkeit beruht auf der Möglichkeit die Eigenthümlichkeit zur Anschauung zu bringen, welche nur in einem vermittelnden Gliede sein kann, welches zugleich Ausdrukk und Zeichen ist.“ (PhE 1812/13, 311, § 211) Hierbei ist der Grundgedanke deutlicher, dass die Geselligkeit unter der Voraussetzung der Darstellung des Gefühls steht. In gewisser Weise identifiziert Schleiermacher mit dieser Aussage den Begriff der Geselligkeit mit dem der Mitteilung. Seine Einsicht in den Zusammenhang von Kunst und Geselligkeit lässt sich demnach so zusammenfassen: Die Kunst ermöglicht die Geselligkeit, oder anders gesagt: In der Kunst gestaltet sich die Geselligkeit, insofern jene als System der Darstellungen die intersubjektive Mitteilung in der Sphäre des Gefühls ermöglicht. Berücksichtigt man hier, dass für Schleiermacher – wie gesehen – die Kunst das Offenbarungsverhältnis im Gebiet des Gefühls vermittelt, erklärt sich eine der wichtigsten Grundthesen Schleiermachers: Ohne Kunst ist weder Offenbarung noch Geselligkeit denkbar.

159 PhE 1812/13, 318 (Fußnote zu § 249), Zusatz am Rand 1827. 160 Hierzu Wilhelm Dilthey: „Wir erinnern uns, was unter dem Verhältnis der Offenbarung verstanden wurde. Ihr Organ ist die Kunst.“ (ders.: Leben Schleiermachers [Bd. 2][1966], 317)

384  Kapitel 4 Der Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik

Mit der oben erwähnten Mitteilungsleistung der Kunst verbindet sich die weitere Frage, wie der Zusammenhang zwischen der Kunst und dem einzelnen Menschen zu interpretieren ist. „[A]lle Menschen sind Künstler“ (Brouillon 184) – so heißt die berühmte Aussage im Brouillon zur Ethik.161 Diese These geht von Schleiermachers Grundgedanken der Sittlichkeit des Gefühls aus: Die Ethisierung des Gefühls liegt darin, dass es in Darstellung übergehen muss. Diese Behauptung verkörpert offenbar das frühromantisch-poetische Ideal des jungen Autors, gleichwohl scheint sie unter realistischen Gesichtspunkten zu stark zu sein, auch wenn die Kunst hier nur in einem weiten Sinne gemeint ist.162 Gegenüber der früheren Vorlesung beschreibt Schleiermacher das Verhältnis der Menschen zur Kunst in seiner Reifezeit neu: „An der Kunst im weiteren Sinn hat jeder Mensch eben so gut Antheil als am Wissen im weiteren Sinn, und alles Darstellende gehört eben so der eigentlichen Kunst an wie alle Empirie dem eigentlichen Wissen.“ (PhE 1812/13, 317, §246. Anmerkung 1) Wie jeder Mensch in irgendeiner Weise Erfahrungswissen rezipiert und produziert, so nimmt er auch an der Kunst teil, nämlich im weiten Sinne eines Systems der Darstellungen von Individualität.163 Jede einzelne Darstellung ist so wichtig für die Kunst wie die einzelne Welterfahrung für das Wissen. Dass der Anteil an der Kunst jeweils beschränkt ist, ergibt sich aus der Beschränktheit des Individuums: „Vermöge seiner fragmentarischen Beschaffenheit ist jeder Einzelne nur an einzelne Zweige der Kunst gewiesen“ (PhE 1812/13, 315, §231. Anmerkung 4). Da jeder Einzelne endlich, einseitig und unvollkommen ist, wird sich seine Selbstdarstellung immer nur eines Ausschnitts der möglichen künstlerischen Darstellungsmittel bedienen. Schleiermacher nennt die Struktur des Anteilhabens an der Kunst „eine Theilung der Arbeit“ (PhE 1812/13, 315, §231. Anmerkung 3) auf dem Feld der Darstellung. Indem alle Einzelnen Anteil an der Kunst haben, sind sie in der Kunst nicht isoliert, sondern gehören zusammen. Dies verstärkt die im Vorangehenden herausgearbeitete These Schleiermachers: Kunst und Geselligkeit sind nicht voneinander zu tren-

161 Ähnlich schreibt der Autor in der allgemeinen Übersicht: „Jeder sittliche Mensch [sc. ist] also solcher mimischer Künstler“ (Brouillon 99). 162 Hierzu Brouillon, 184: „Trennt man nun beide Seiten, so besteht die Ethisirung der Darstellung darin, daß jede Darstellung ein reines Product des Gefühls sei: alle Künstler sollen Genien sein. Die Ethisirung des Gefühls aber, inwiefern es ein gemeinschaftliches werden soll, darin, dass jedes Gefühl in Darstellung übergehe: alle Menschen sind Künstler. Dies wäre nun in der gewöhnlichen Bedeutung abgeschmackt, aber Kunst hat auch hier eine weitere“. Zur Aussage „alle Menschen sind Künstler“ in Bezug auf Schleiermachers eigene poetische Versuche vgl. Hermann Patsch: ‚Alle Menschen sind Künstler‘ (1986). 163 In seinen Bemerkungen zu Güterlehre von 1812/13 (1832) interpretiert Schleiermacher die Kunst im weiten Sinne folgendermaßen: „Die aus dem unwillkührlichen Ausdrukk hervorgegangenen Künste, Musik und Mimik, sind am weitesten verbreitet in der unmittelbaren Theilnahme; Poesie ist am meisten populär; Plastik und Malerei als die eigentlichen Naturkünste sind am meisten beschränkt.“ (Bemerkungen 1832, 649)

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nen, denn Kunst ermöglicht Geselligkeit und Geselligkeit wiederum garantiert das Hervorbringen der Kunst als System der Darstellungen von Individualität. Aber in der Realität ist nicht jeder in der Lage, Anteil an der Kunst zu haben, und zwar aus zwei Gründen. Der erste Grund ist die Verborgenheit des Talents. Wir haben im Zuge der Rekonstruktion der Ausdruckstheorie gesehen, dass für Schleiermacher die einzelne Darstellung auf dem Talent des Individuums beruht. Es gibt solche, bei denen die Talente eines Menschen nicht hervortreten. Die Anteilnahme an der Kunst kann auch bei demjenigen beeinträchtigt werden, der „nicht in besonderer Verwandtschaft zu dem Darstellungsmittel selbst sich befindet“ (PhE 1812/13, 315, §231. Anmerkung 4). Diesem Einzelnen fehlt das angemessene Mittel, seine Individualität in die Darstellung zu bringen. Diejenigen, die nicht in der Lage sind, durch die Darstellung ihrer Individualität aktiv und produktiv an Kunst zu partizipieren, können sich fremde Darstellungen aneignen.164 Denn „die Receptivität muß in gewissem Sinn allgemein sein“ (PhE 1812/13, 318, §247).165 In seinen Bemerkungen zur Ethik hierzu aus dem Jahr 1832 berücksichtigt Schleiermacher seine frühere Äußerung und fasst seine Gedanken zu diesem Thema schließlich wie folgt zusammen: „Hier entsteht die Forderung, nicht zwar daß jeder ein Künstler sein soll, aber wol daß jeder Antheil habe an der Kunst; und dies ist auch der Fall.“166 Schleiermacher sieht es als eine Aufforderung an jeden Menschen an, wenigstens als Rezipient an der Kunst teilzunehmen. Das heißt: Den Anderen die eigene Individualität durch Darstellung zum Erkennen zu geben, ist zugleich ein Anspruch, der an jedes Individuum um der Gemeinschaft willen ergeht. Und dies ist nicht nur ein Ideal, sondern auch tatsächlich gegeben. Bisher haben wir die Mitteilungsleistung der Kunst näher betrachtet. Als Ergebnis lässt sich feststellen: Die Kunst ermöglicht die intersubjektive Kommunikation im Gebiet des unübertragbaren Gefühls. Diese intersubjektive Mitteilung erfolgt durch „das Wiedererkennen des Gefühls“ auf der Basis eines analogischen Verfahrens zwischen Individuen. In der Mitteilung der Kunst gestaltet sich das durch Ahnen und Andeuten strukturierte Offenbarungsverhältnis. Aus solch intersubjektiver Kommunikation ergibt sich somit eine vermittelnde Gemeinschaft der Individualitäten – die Geselligkeit. Die einzelnen Menschen verbinden sich in der Kunst eng miteinander, indem jeder von der Darstellung der Individualität eines Anderen profitiert, und indem jeder seine Individualität zur Darstellung bringt und mithin zum Erkennen gibt – und insofern hat er in zweifacher Weise Anteil an der Kunst. Für den Kirchenbegriff der Philosophischen Ethik Schleiermachers ist diese Funktion

164 Dazu vgl. PhE 1812/13, 318, §248. Anmerkung 3. 165 Mehr dazu PhE 1812/13, 317–318, §§247–248: „Inwiefern die Darstellung auf Talenten ruht, ist jeder mit seiner äußeren Productivität nur auf einzelne Zweige beschränkt, aber die Receptivität muß in gewissem Sinn allgemein sein. Inwiefern Talente in manchem nicht heraustreten, eignet er sich fremde Darstellung an.“ 166 Bemerkungen 1832, 648–649.

386  Kapitel 4 Der Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik

der Kunst von grundlegender Bedeutung, insofern Kunst als Kommunikationsort für die Kirche als religiöse Gemeinschaft dient. Auf diesen Gedanken ist in der nachfolgenden Untersuchung des Kirchenbegriffs in der Philosophischen Ethik Schleiermachers noch näher einzugehen.167 Im Gegensatz zur Sprache gehört die Kunst zum Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens. Für Schleiermacher ist die Kunst nicht nur das System der Darstellungen des unübertragbaren Gefühls, sondern zugleich der Ort für die Selbstmanifestation der Individualität. An dieser Stelle ist noch einmal auf die Objektivierungsleistung der Kunst zurückzukommen. Wie wir sahen, kann sie in destruktiver und konstruktiver Hinsicht verstanden werden. Die Kunst bewirkt einerseits die Überwindung der persönlichen Beschränkung, die Desensualisierung und die Aufhebung des Gegensatzes von Lust und Unlust; andererseits leistet sie die Formgebung der Inhalte des Gefühls, die Bildung der Individualität und die Ethisierung des Gefühls und der Darstellung. Da die Objektivierungsfunktion der Kunst theoretisch auf der durch Rezeptivität und Spontaneität gekennzeichneten Grundstruktur des humanen Geistes beruht, kann unsere Interpretation dieser Funktion als eine geistphilosophische verstanden werden. Demgegenüber liegt die Explikation der Mitteilungsleistung der Kunst auf kommunikationstheoretischem Feld. Wir haben in unserer Untersuchung zum Begriff des Gefühls herausgearbeitet, dass das Gefühl als individuelles Symbolisieren durch Unübertragbarkeit und Zusammengehörigkeit zu charakterisieren ist. Die Unübertragbarkeit des Gefühls bezieht sich auf das abgeschlossene Dasein eines jeden Individuums und spricht gegen die Nachbildung des Gefühls durch Sprache. Die Zusammengehörigkeit des Gefühls betrifft den Aspekt des notwendigen Zusammenseins des Ichs mit den Anderen in der Gefühlssphäre. Diese zwei konstitutiven Charaktere des Gefühls bedingen einander gegenseitig. Im Lichte dieser Bestimmungen könnten die beiden in Rede stehenden Leistungen der Kunst wie folgt erklärt werden: Die Objektivierungsleistung der Kunst gründet in dem Charakter der Unübertragbarkeit des Gefühls, die Mitteilungsleistung in dem der Zusammengehörigkeit des Gefühls. Aus dem soeben Dargestellten ergibt sich, dass die beiden Leistungen der Kunst im Gebiet des Gefühls in je gleichem Maße zum Zuge kommen und nicht voneinander getrennt verstanden werden dürfen. Denn einerseits setzt die Mitteilung des Gefühls dessen durch Kunstdarstellung realisierte Objektivierung voraus. Auf der anderen Seite ist die Mitteilung in der Kunst nicht nur Zweck der Objektivierung des Gefühls, sondern ohne jene ist diese überhaupt nicht denkbar, weil das Entstehen des Gefühls an sich nach Schleiermacher mit der im intersubjektiven Offenbarungsverhältnis hervorgehenden Erregung unmittelbar verbunden ist. Die Wechselwirkung der beiden Leistungen der Kunst kann mit der folgenden Aussage Schleiermachers pointiert zusammengefasst werden: Die Kunst „ist mittheilende Darstellung

167 Vgl. unten: Kapitel 4. 3. Der Kirchenbegriff der Philosophischen Ethik.

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und darstellende Mittheilung“.168 Die beiden betreffenden Leistungen der Kunst zusammengenommen ermöglichen die Ethisierung des Gefühls, weshalb die Kunst als angemesseneres Medium der Religion verstanden werden kann.169 Dieser mediale Zusammenhang ist nun in einer Schlussbetrachtung zu Schleiermachers Verhältnisbestimmung von Religion und Kunst zu resümieren.

2.3 Schlussbetrachtung Dass Schleiermacher im Brouillon zur Ethik (1805/06) einen ethischen Religionsbegriff entwickelt, haben wir im dritten Kapitel rekonstruiert. In seiner durch das Quadruplizitätsschema strukturierten Handlungstheorie wird das Gefühl als individuelles Erkennen interpretiert. In engem Zusammenhang mit dieser Zuordnung wird der Vorgang, in dem das Gefühl auf die Ebene der Sittlichkeit erhoben wird, als Religion bestimmt. Es ergibt sich als grundlegende Auffassung Schleiermachers: Das Sittlichwerden des Gefühls ist Religion, und somit ist Religion ein ethischer Prozess. Schleiermacher zufolge besteht die konstante Sittlichkeit des Gefühls darin, dass die empirische Einheit des Bewusstseins sich durch das höhere Vermögen der Vernunft auf die Vereinigung der Vernunft mit der Sinnlichkeit bezieht. Von daher kann Religion in dieser ethischen Hinsicht als Überwindung des bloß Sinnlichen und als Überwindung des Gegensatzes von Lust und Unlust ausgelegt werden. In dieser Interpretation ist der Sachverhalt bemerkenswert, dass Religion als Ethisierung des Gefühls zwar ein Resultat des höheren Vermögens der Vernunft ist, zugleich aber auf dem Boden des Empirischen steht. Das Sinnlich-Empirische ist unentbehrlich für die Religion. Aus diesem ethischen Religionsbegriff erklärt sich das Verhältnis von Religion und Gefühl folgendermaßen: Religion gründet ursprünglich im Gefühl, und die Sittlichkeit des Gefühls muss religiös sein – Religion und Gefühl gehören zusammen.

168 Friedrich Schleiermacher: Die praktische Theologie (1850), in: SW I/13, 75. 169 In den bisherigen Studien zum Verhältnis von Religion und Kunst bei Schleiermacher wird viel von der Mitteilungsleistung der Kunst gesprochen. Sucht man nach Ausführungen zur Objektivierungsleistung der Kunst, die die Ethisierung des Gefühls ermöglicht und die Mitteilung der Kunst in der Religion voraussetzt, wird man kaum fündig. Wilhelm Gräb beschränkt seine Studie zu diesem Thema nicht nur auf die Philosophische Ethik, sondern er berücksichtigt auch Ästhetik, praktische Theologie sowie andere Schriften von Schleiermacher. Damit liefert er eine ausführliche Diskussion über die Mitteilung der Religion (vgl. ders.: Predigt als kommunikativer Akt [1988], 168–235). Gräb stellt in dieser Studie fest, „dass die Kunst das genuine Kommunikationsmedium der Religion ist, weil sie das Subjektiv-Individuelle zur Darstellung bringt, während die Sprache genuin die Übereinstimmung im Objektiv-Allgemeinen kommuniziert“ (a. a. O., 200). Mehr zur Mitteilung der Religion in der Kunst bei Schleiermacher vgl. auch Martina Kumlehn: Symbolisierendes Handeln (1999), 99–104; Michael Moxter: Religion und Kunst (2008).

388  Kapitel 4 Der Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik

Zur Verdeutlichung dieses ethischen Religionsbegriffs dienen Schleiermacher drei Schlüsselkategorien: Als ein ethischer Prozess in der Sphäre des Gefühls ist Religion die unmittelbare Vereinigung des Einzelnen mit dem Unendlichen, mit dem absoluten All, und schließlich die unmittelbare Vereinigung mit Gott. Für Schleiermacher sind diese drei Kategorien – das Unendliche, das absolute All und Gott – im Grunde identisch. Sie bezeichnen die Vernunftidee der absoluten Einheit und Totalität. Somit kann auch gesagt werden, dass Religion im Brouillon zur Ethik als Selbstbeziehung aufgefasst wird – die Beziehung des endlichen Individuums auf die eigene Vernunftidee absoluter Einheit und Totalität. Die betreffenden drei Schlüsselkategorien lassen die Kontinuität zwischen dem ethischen Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik und dem Religionsverständnis der Reden von 1799 erkennen: Beide leben von einer Metaphysik des Absoluten.170 Wohl hat der Autor bereits im Brouillon zur Ethik darauf hingewiesen, dass die Ethisierung des Gefühls in dessen Darstellung besteht. Inwiefern sich das Gefühl zur Darstellung bringen lässt, um dadurch äußerlich zu werden, und inwiefern also die fragliche Ethisierung des Gefühls überhaupt möglich ist, bleibt in der Hallenser Ethikvorlesung freilich unzureichend aufgeklärt. Der dort vorgelegte ethische Religionsbegriff kann aber immerhin als Ausgangspunkt für die weitere Thematisierung der Religion und des Verhältnisses von Religion und Kunst in der Philosophischen Ethik Schleiermachers in seiner Berliner Reifezeit gelten. In Berlin erweitert und präzisiert Schleiermacher seine Handlungstheorie. Diese Ausarbeitung beruht auf der Vertiefung der Verhältnisbestimmung von Vernunft und Natur. Während das Gefühl im Brouillon zur Ethik hauptsächlich erkenntnistheoretisch – als individuelles Erkennen – interpretiert wird, bereichern seine Berliner Ethikvorlesungen diesen Begriff um weitere Perspektiven. Das Gefühl wird ausdruckstheoretisch als Expression innerer mentaler Zustände, subjektivitätstheoretisch als unmittelbares Selbstbewusstsein und kommunikationstheoretisch in einem Offenbarungsverhältnis präzisiert. Im Horizont dieser näheren Bestimmung ist das Gefühl als individuelles Symbolisieren nicht nur durch Unübertragbarkeit zu charakterisieren, sondern zugleich durch Zusammengehörigkeit des Individuums mit den Anderen. Vor dem Hintergrund dieser vielschichtigen Explikation des Gefühlsbegriffs haben wir die Ausdruckstheorie Schleiermachers in den Blick genommen und untersucht, inwiefern das Gefühl äußerlich werden kann. Aufgrund seiner Unübertragbarkeit kann das Gefühl ja nicht wie der Gedanke durch Sprache ausgedrückt und nachgebildet werden. Für Schleiermacher verwirklicht sich der Ausdruck des Gefühls in zwei Stufen. Dem ursprünglichen, einfachen, unwillkürlich-unmittelbaren Ausdruck durch Ton und Gebärde steht der absichtliche und zweckorientierte Ausdruck des Gefühls durch die Kunst in der Phantasietätigkeit gegenüber. In solcher

170 Hierzu vgl. Ulrich Barth: Was heißt „Anschauung des Universums“? (2012/2014), 244.

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Phantasietätigkeit entsteht die einzelne Darstellung bzw. das Kunstwerk, deren verschiedene Arten das System der Kunst bilden. Während die einzelnen Darstellungen aufgrund ihrer Einseitigkeit von vergänglicher Bedeutung sind, ist die Kunst als System der Darstellungen eine vollständige Ganzheit und als solche konstant. Der Unterschied von natürlichem Ausdruck und Kunst wird durch die Gegenüberstellung der zwei Darstellungsarten noch unterstrichen: Der natürliche Ausdruck gewinnt die jeweilige Darstellung primär aus Begeisterung, die Kunst aus Besonnenheit. Für Schleiermacher ist die Kunst der überlegene Ausdrucksmodus des Gefühls und daher für den individuellen und intersubjektiven Gefühlsumgang unverzichtbar. Fassen wir den ethischen Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik und die Ausdruckstheorie in der späteren Ethikvorlesung zusammen, so lässt sich der innere Zusammenhang von Gefühl, Religion und Kunst in folgende drei Grundthesen fassen: Erstens ist Religion ein ethischer Prozess – die Ethisierung des Gefühls; die Sittlichkeit des Gefühls besteht in seiner Darstellung. Zweitens kann das Gefühl in bestmöglicher Weise durch die Kunst in die Darstellung übergehen. Zwar gibt es keinen bruchlosen Ausdruck für das unübertragbare Gefühl, jedoch ist die Kunst der Sprache in dieser Hinsicht überlegen. Drittens haben Religion und Kunst eine gemeinsame Wurzel im Gefühl, genauer genommen: in der Darstellung des Gefühls. Sie sind insofern elementar miteinander verbunden, als durch die Darstellung der Kunst auf bestmögliche Weise die Ethisierung des Gefühls verwirklicht wird, welche Schleiermacher als Grundvollzug der Religion begreift. Die Kunst wird auf diese Weise zum optimalen Realisierungsort für die Religion. Mit dieser Erklärung des inneren Zusammenhangs von Gefühl, Religion und Kunst können wir nun zur zitierten Behauptung Schleiermachers zurückkehren: „Wenn demnach das Bilden der Fantasie in und mit seinem Heraustreten [sc. dem Heraustreten des Gefühls] Kunst ist, und der Vernunftgehalt in dem eigenthümlichen Erkennen Religion, so verhält sich Kunst zur Religion wie Sprache zum Wissen.“ (PhE 1812/13, 314–315, §228) Um das Verhältnis von Religion und Kunst zu veranschaulichen, parallelisiert es Schleiermacher strukturell mit dem Verhältnis von Wissen und Sprache. Dieser strukturelle Vergleich ist aus einer doppelten Perspektive zu verstehen. Erstens spricht sich darin der bereits in der Einleitung des Brouillon zur Ethik herausgestellte Grundgedanke aus, wonach das sittliche Leben durch zwei miteinander verbundene Wechselwirkungen zu bestimmen ist, unter anderem jene von Erkennen und Darstellen. Dieser Wechselwirkung, die auf die durch Rezeptivität und Spontaneität gekennzeichnete Grundstruktur des humanen Geistes zurückzuführen ist, wird nun wiederum eine doppelte Modifikation zuteil. Der Differenzierung des Erkennens in identisches (Wissen) und individuelles Erkennen (Gefühl) entspricht die Unterscheidung zweier Darstellungsmodi: von Sprache als Darstellungsmedium des Wissens und Kunst als Darstellungsmedium des Gefühls. So stehen sich eine identische und eine individuelle Modifikation des Wechselverhältnisses von Erkennen und Darstellen gegenüber. Ist das Gefühl im engen Sinne

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Religion und die Kunst das System der Darstellungen des Gefühls, wie oben herausgearbeitet wurde, so kann resümiert werden, dass die innere Verbindung von Religion und Kunst bei Schleiermacher in der Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen im sittlichen Leben des Gefühls gründet.171 Dementsprechend stellt Schleiermacher an anderer Stelle fest: „Wie alles Wissen auf die Sprache, so lassen sich alle Actionen des subjectiven Erkennens auf die Kunst reduciren.“ (PhE 1812/13, 1812/13, 362, §213) Die Parallelisierung des Verhältnisses von Religion und Kunst auf der einen und des Verhältnisses von Wissen und Sprache auf der anderen Seite lässt sich indessen noch aus einer zweiten Perspektive betrachten. Demnach lehnt sich Schleiermacher dabei an den ästhetischen Gehaltsbegriff im Kontext von Frühromantik und idealistischer Philosophie172 an und versteht die betreffenden Relationen im Sinne der Korrelation von Vernunftgehalt und Vernunftgestalt. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass im vorletzten Zitat Religion als „Vernunftgehalt in dem eigenthümlichen Erkennen“ bezeichnet wird. Zieht man in Betracht, dass die Wendung „eigentümliches Erkennen“ offenbar identisch ist mit der Formel „individuelles Erkennen“, die für das Gefühl steht, ergibt sich, dass Schleiermacher Religion als den „Vernunftgehalt“ im Gefühl fasst – was bei der in Frage stehende Parallelisierung vorausgesetzt wird. Zur Verdeutlichung kann an dieser Stelle eine weitere Aussage in der allgemeinen Übersicht im Brouillon zur Ethik dienen. Dort heißt es: „Das Darstellen [sc. mit dem Charakter der Eigenthümlichkeit] auf den Vernunftgehalt bezogen und im Großen angesehen ist Kunst.“ (Brouillon 98) Kunst wird in diesem Satz als Gesamtheit („im Großen angesehen“) des individuellen Darstellens des Vernunftgehalts bestimmt – und rangiert damit als individuelle Vernunftgestalt des Vernunftgehaltes. Nehmen wir beide Aussagen zusammen, so ist ersichtlich: Im identischen Erkennen ist Wissen der Vernunftgehalt der Sprache, Sprache die Vernunftgestalt des Wissens; im individuellen Erkennen hingegen ist Religion der Vernunftgehalt der Kunst, Kunst wiederum die Vernunftgestalt der Religion. Blicken wir an dieser Stelle auf das Quadruplizitätsschema menschlicher Handlung und seine Unterscheidung von identischer und individueller Vernunft zurück, so kann gesagt werden, dass Schleiermacher nicht nur mit einer individuellen Vernunft rechnet, sondern auch mit einer individuellen Gestalt der Vernunft: Religion und Kunst gehören zur Handlung der individuellen Vernunft, Religion ist der individuelle Gehalt, Kunst die individuelle Gestalt der Vernunft. In diesem Sinne ist das Verhältnis von Kunst zur Religion für Schleiermacher analog zum Verhältnis von Sprache zum Wissen: Kunst ist das angemessene Medium der Religion, wie Sprache das angemes-

171 Hierzu ist Michael Moxter der ähnlichen Meinung: „Die Affinität zwischen Kunst und Religion resultiert aus der internen Relation von Gefühl und Darstellung.“ (ders.: Religion und Kunst [2008], 606) Mehr dazu vgl. a. a. O., 606–607. 172 Zum Gehaltsbegriff vgl. Hugo Dittberner: Art. Gehalt (1974), in: HWPh, Bd. 3, 140–145.

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sene Medium des Wissens ist. Um diese Gehalt-Gestalt-Korrelation zwischen Religion und Kunst im Gebiet des Gefühls zu veranschaulichen, beschreibt Schleiermacher später in seiner praktischen Theologie diesen Zusammenhang als Korrelation von Stoff und Form: „Kunst [ist] die Form, Religion [ist] der Stoff.“173 Jenseits der angeführten Stellen bringt Schleiermacher in der Philosophischen Ethik seiner Berliner Reifezeit das Verhältnis von Religion und Kunst nirgendwo direkt zur Sprache. Zwar ist sowohl die Analogie mit der Gehalt-Gestalt-Korrelation als auch die Analogie mit der Stoff-Form-Korrelation für den Vergleich mit dem Verhältnis von Wissen und Sprache aufschlussreich, aber das Verhältnis von Religion und Kunst, wie es in seiner Philosophischen Ethik gezeichnet wird, ist mit alledem schwerlich in seiner ganzen Komplexität zu verstehen, weil die Gedanken über das fragliche Verhältnis nicht ausgeführt werden. Anders gesagt: Die Parallelisierung mit der Relation von Wissen und Sprache allein kann den Kern des Verhältnisses von Religion und Kunst nicht gänzlich treffen. Denn als entscheidender Punkt hat zu gelten, dass die Verhältnisbestimmung von Religion und Kunst in der Philosophischen Ethik in dem bereits im Brouillon zur Ethik herausgearbeiteten ethischen Religionsbegriff wurzelt. Für Schleiermacher ist das Sittlich-Werden des Gefühls Religion. Religion ist insofern ein dynamischer ethischer Prozess in der Gefühlssphäre, so wie der Autor es nennt: „werdende Religion“ (PhE 1812/13, 315, § 230). Dieser ethische Prozess ist nur in der vollkommenen Veräußerlichung des Gefühls verwirklicht. Denn bei Schleiermacher verschränken sich die Ethisierung und die vollkommene Darstellung des Gefühls. Dieser Verschränkung liegt die Funktion der Kunst als System der Darstellungen des Gefühls, die geistphilosophisch als Objektivierungsleistung und kommunikationstheoretisch als Mitteilungsleistung konkretisiert werden kann, wesentlich zugrunde. Auf der Basis unserer bisherigen Untersuchung können wir nun in einer Gesamtbetrachtung näher klären, inwiefern Kunst unmittelbar mit der Ethisierung des Gefühls und folglich mit Religion verbunden ist. Damit hängt die Frage zusammen, inwiefern die Kunst das angemessenere Medium der Religion ist, die Sprache hingegen nicht. Schleiermachers These der Interdependenz von Religion und Kunst gründet einerseits in seinem ethischen Religionsbegriff, andererseits in seiner Interpretation der Kunst als System der Darstellungen des Gefühls. Aus diesem Grund wollen wir im Folgenden den ethischen Religionsbegriff im Brouillon zur Ethik mit besonderer Berücksichtigung der beiden Leistungen der Kunst – der Objektivierungs- und der Mitteilungsleistung – näher betrachten, um den inneren Zusammenhang von Religion und Kunst abschließend aufzuklären. Als ein dynamischer ethischer Prozess ist Religion mit der Objektivierungsleistung der Kunst unmittelbar verbunden. Denn für Schleiermacher wird das Gefühl durch die Objektivierung der Kunstdarstellung auf eine bestmögliche Weise ethi-

173 Friedrich Schleiermacher: Die praktische Theologie, in: SW I/13, 789.

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siert und das Individuum wird auf die Vernunftidee der Totalität und Einheit bezogen. Wie in der Untersuchung über die Funktion der Kunst aufgezeigt, lässt sich die Objektivierungsleistung der Kunst in einer destruktiven Hinsicht und in einer konstruktiven Hinsicht konkretisieren. An beiden Seiten zeigt sich, dass Religion sich als dynamischer Prozess in der Objektivierung der Kunst als System der Darstellungen des Gefühls verwirklicht. Im Folgenden wollen wir das jeweils erläutern. Wir kommen zuerst zur Objektivierungsleistung der Kunst in destruktiver Hinsicht. Wie oben herausgearbeitet bewirkt Kunst in diesem Sinne die Überwindung der persönlichen Beschränkung, die Desensualisierung und die Aufhebung des Gegensatzes von Lust und Unlust. Das Veränderlichkeitsbewusstsein oder die empirische Einheit des Bewusstseins im Gefühl, die durch die Vergänglichkeit, die Persönlichkeit und die Sinnlichkeit sowie durch den Gegensatz von Lust und Unlust gekennzeichnet sind, sind Grundgehalt des Gefühls und bilden die Grundstimmung in der Religion. Kunst ist die reflektierte Darstellung des Veränderlichkeitsbewusstseins im Gefühl. Wird die persönliche Beschränkung durch Kunst überwunden, das Sinnlich-Empirische desensualisiert, der Gegensatz von Lust und Unlust aufgehoben, so wird der Einzelne auf die Identität der Vernunft und Organisation – auf die Vereinigung der Vernunft mit der Sinnlichkeit – bezogen. Dadurch fühlt sich der Einzelne mit der Vernunftidee des Ganzen und Allgemeinen sowie Gottes vereinigt. Daraus erklärt sich, dass Religion als unmittelbare Beziehung des individuellen Einzelnen auf die Vernunftidee der Totalität und Einheit durch die Objektivierungsleistung der Kunst erfolgt. In konstruktiver Hinsicht besteht die Objektivierungsleistung der Kunst vor allem in der Formgebung der Inhalte des Gefühls, in der Bildung der Individualität und in der Ethisierung des Gefühls und der Darstellung. Wie das Gefühl ist die Religion auch ein Ausdrucksphänomen, die Religion drückt die inneren mentalen Zustände des Einzelnen in seiner Vereinigung mit dem Unendlichen aus. Kunst dient hier als Formgebung religiöser Inhalte. Auch die Bildung der Individualität in der Kunst hängt mit Religion eng zusammen. Bereits in seiner frühromantischen Werkphase entdeckt Schleiermacher, dass die Individualität eine religiöse Bedeutung hat. Dies bleibt im Brouillon zur Ethik sein Grundgedanke und wird in einer ethischen Dimension erweitert. Religion als Ethisierung des Gefühls ist im Brouillon zur Ethik zugleich ein Prozess des Menschwerdens. Bildet sich die Individualität in der Kunst, so ist die Kunst nicht nur der Ort dafür, Mensch zu sein, sondern zugleich religiös zu sein. Der wichtigste Beitrag der Objektivierungsleistung der Kunst für Religion in diesem konstruktiven Sinne besteht in der Ethisierung des Gefühls. Durch die objektivierende Funktion der Kunst geht das Gefühl in die Darstellung über und wird konstant sittlich. So verwirklicht sich Religion als Ethisierung des Gefühls auf bestmögliche Weise in der Kunst. In unserer Erörterung der Kunst als System der Darstellungen des Gefühls wurde hervorgehoben, dass Objektivierungs- und Mitteilungsleistung der Kunst nicht als getrennte Funktionen verstanden werden dürfen. Das trifft auch hinsichtlicher

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ihrer Bedeutung für die Religion als ethischen Prozess zu. Der Interdependenz von Religion und Kunst liegt nicht nur die Objektivierungsleistung, sondern auch die Mitteilungsleistung der Kunst zugrunde. Denn für Schleiermacher ist Religion kein isolierter Akt des Einzelnen, sondern nur in der Sozialität möglich – Religion als Ethisierung des Gefühls erfolgt nur in einer sich durch das Offenbarungsverhältnis gestaltenden Intersubjektivität. Die Bedeutung der Mitteilungsleistung der Kunst für die Sozialität der Religion besteht darin, dass die Kunst das Offenbarungsverhältnis im Gebiet des Gefühls zu vermitteln vermag. In dieser intersubjektiven Mitteilung des religiösen Gefühls in der Kunst gestaltet sich die Kirche als die religiöse Gemeinschaft. Ohne die Mitteilungsleistung der Kunst ist Religion als Ethisierung folglich undenkbar. Nun lässt sich die Bedeutung der beiden Leistungen der Kunst für die Religion resümieren. Die Funktion der Kunst in der Religion schließt für Schleiermacher zwei miteinander verbundene Dimensionen ein: die Objektivierung des Gefühls trotz seiner Innerlichkeit sowie Flüchtigkeit und dessen Mitteilung trotz seiner wesenhaften Unübertragbarkeit. Schleiermacher versucht, das Verhältnis von Religion und Kunst in der Parallelstellung mit der Relation von Wissen und Sprache aufzuklären. Diese Parallelstellung kann den Kern jenes Verhältnisses nicht gänzlich treffen, aber sie ist dennoch hilfreich. Nachdem wir im Vorangehenden die Komplexität der Problematik Religion und Kunst durch beide Funktionen der Kunst aufgezeigt haben, gilt eine Aussage zum Verhältnis von Gedanken und Sprache als besonders aufschlussreich. In seiner letzten Bearbeitung der Güterlehre von 1816/17, wo das Thema Religion und Kunst nicht mehr erneut auftaucht, interpretiert Schleiermacher den engen Zusammenhang von Gedanken und Sprache wie folgt: „Das Sprechen aber in diesem allgemeinen Sinne hängt dem Denken so wesentlich an, daß kein Gedanke fertig ist, ehe er Wort geworden ist.“ (PhE 1816/17, 586) Wenn sich „Kunst zur Religion wie Sprache zum Wissen“ verhält, so kann der innere Zusammenhang von Religion und Kunst aus dem bisher Dargestellten abschließend wie folgt paraphrasiert werden: Die Kunst hängt mit der Religion so wesentlich zusammen, dass keine Religion möglich ist, ehe Kunst sich im Gefühl gestaltet. Von daher darf nun gesagt werden, dass Kunst die Sprache der Religion ist. Schleiermachers Idee von der Mitteilung der Religion durch Kunst in der Philosophischen Ethik ist auf seine Reden von 1799, genauer genommen auf die vierte Rede, zurückzuführen. Ausgehend von seiner Kritik an der Schriftlichkeit der Sprache weist er bereits in diesem Frühwerk deutlich darauf hin, dass die schriftliche Sprache aufgrund ihrer durch die Reflexion hervorgebrachten Bestimmtheit kein geeignetes Medium für die Religion sei. Im Gegensatz dazu betrachtet er die lebendige Rede – die Sprache „in einem größern Styl“ – als angemesseneres religiöses Medium. Die Formulierung „in einem größern Stil“ zielt hierbei auf rhetorisch kunstvolle und erhabene Rede („Kunst der Sprache“). Im Verhältnis zu solcher religiösen Rhe-

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torik gelten alle anderen Künste nur als Hilfsmittel zur Verstärkung der religiösen Mitteilung.174 Schleiermacher sieht in den Reden, so wurde festgestellt, die schriftliche Sprache zwar als ungeeignetes Medium für die religiösen Dinge, aber er lehnt die Sprache für die religiöse Mitteilung nicht grundsätzlich ab. Zieht man wiederum die Gegenüberstellung von Sprache als Medium des Gedankens und Kunst als Medium der Religion aus seiner Philosophischen Ethik in Betracht, so darf gesagt werden, dass die vormals gerühmte Rede „in einem größeren Stil“ nach Maßgabe der dortigen Handlungstheorie eigentlich zum individuellen Bezeichnungsgebiet und somit zum Umfang der Kunst gehört. Insofern ist deutlich eine gedankliche Kontinuität, aber auch eine Entwicklung zwischen den verschiedenen Phasen in seinen Gedanken zu erkennen.175 In der vierten Rede wird nur dargelegt, dass die gegenseitige Mitteilung der Religion statt durch schriftliche durch rhetorische Sprache möglich ist. Hier wird dieser Gedanke aber nicht weiterverfolgt. Erst im Brouillon zur Ethik und in der Philosophischen Ethik seiner Berliner Reifezeit liefert Schleiermacher im Rahmen seiner Handlungstheorie die Begründung dafür, wieso religiöse Mitteilung auf bestmögliche Weise durch Kunst zu erreichen ist. Religion und Kunst haben in der Philosophischen Ethik Schleiermachers eine gemeinsame Wurzel im Gefühl und gehören notwendig zusammen, aber für ihn sind die beiden auch voneinander unterschieden. Für die Differenz von Religion und Kunst ist der Stil entscheidend. Schleiermacher unterscheidet den religiösen Stil und den profanen Stil im Kontext seiner Diskussion über den Kirchenbegriff seiner Philosophischen Ethik. Auf diesen Punkt werden wir deshalb noch zurückkommen. Vor dem Hintergrund unserer bisherigen Untersuchung haben wir in dieser Schlussbetrachtung zusammenfassend geklärt, inwiefern Kunst bei Schleiermacher wesentlich mit Religion verbunden und das angemessenere Medium der Religion ist. Als kurzer Ertrag lässt sich feststellen: Religion als Ethisierung des Gefühls und Kunst als System der Darstellungen des Gefühls gehören zusammen, weil Religion sich als ein ethischer Prozess nur in der funktional durch die Objektivierungs- und die Mitteilungsleistung gekennzeichneten Kunst verwirklicht. Für Schleiermacher hängen Religion und Kunst so eng zusammen, dass er später in einem akademi-

174 Vgl. oben: Kapitel 2. 2. Der neue Kirchenbegriff, 145–146. 175 In Bezug auf diese Kontinuität stellt Martina Kumlehn fest, dass „sich die Reden tatsächlich als eine die Theorie des individuellen Symbolisierens vorbereitende Programmschrift lesen lassen“ (dies. Symbolisierendes Handeln [1999], 121). Thomas Lehnerer hat ebenfalls auf diese Kontinuität hingewiesen: „Vielschichtigkeit des inhaltlichen Zugangs zum Problemzusammenhang Religion – Kunst, durch die sich die späteren Schriften Schleiermachers auszeichnen, ist schon in den Reden angelegt.“ (Thomas Lehnerer: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers [1987], 340)

3 Der Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik  395

schen Vortrag sogar davon spricht, dass die Religion sich „nur [Hervorhebung d. Vf.] durch die Kunst ausdrückt und mittheilt“.176

3 Der Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik In unserer Darstellung der Handlungstheorie Schleiermachers haben wir aufgezeigt, dass der Autor ein aus zwei Gegensätzen entstandenes Quadruplizitätsschema entwirft, um die menschlichen Kulturphänomene zu beschreiben. Dieses Viererschema wird durch vier Grundhandlungsweisen strukturiert: identisches Organisieren, individuelles Organisieren, identisches Symbolisieren und individuelles Symbolisieren. Schleiermacher gestaltet daraus ein Panorama der menschlichen Gesellschaft: Den vier Kultursphären „Recht–freie Geselligkeit–Wissen–Religion“ entsprechen Institutionen wie „Staat–Haus/Familie–Akademie–Kirche“. In diesen Gesamtrahmen wird die Religion bzw. die Kirche in das individuelle Bezeichnungsgebiet und damit in das Gebiet des Gefühls eingezeichnet. Durch diese Einzeichnung gewinnen Religion und Kirche einen eigenständigen Platz im gesamten System der menschlichen Kultur. So wie sich die Akademie für Schleiermacher als Institution für das Wissen und als Vollzug der identischen Bezeichnungstätigkeit erweist, gilt ihm die Kirche als Institution für die Religion und als Vollzug der individuellen Bezeichnungstätigkeit. Im Kontext dieses Aufrisses haben wir uns auf den Begriff des individuellen Symbolisierens fokussiert und dadurch rekonstruiert, inwiefern sich die Religion im Gefühl gründet und weshalb sie als ein ethischer Prozess in der Kunst verwirklicht wird. Im Rahmen der Studie zum Begriff des individuellen Symbolisierens wollen wir nun dem Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik nachgehen. Vor der Untersuchung zum Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik ist eine terminologische Erläuterung zur Verwendung dieses Begriffs bei Schleiermacher erforderlich. Als einer der bedeutendsten Theologen in der protestantischen Kirchengeschichte war Schleiermacher nicht nur ein engagierter Kirchenpraktiker, der fast sein ganzes Leben ein Pfarramt ausgeübt hat und in der Kirchenpolitik tätig gewesen ist, sondern auch ein fleißiger Kirchentheoretiker.177 Der Kirchenbegriff gilt als eines der wichtigsten Themen Schleiermachers. Sein großes Interesse daran durchzieht sein ganzes wissenschaftliches Leben – sowohl seine frühromantische Religionstheorie als auch die Philosophische Ethik und die christliche Theologie. Nun ist

176 Friedrich Schleiermacher: Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung (Vorgetragen am 24. Juni 1830), in: KGA I/11, 675. 177 Dazu vgl. Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre (1964), 114–127; Trutz Rendtorff: Kirche und Theologie (1966), 143–154; Christoph Dinkel: Kirche gestalten (1996), 9–15; Martin Ohst: Schleiermacher und die Kirche (2000); Martin Kumlehn: Kirche im Zeitalter der Pluralisierung von Religion (2000), 50–110; Eilert Herms: Schleiermacher als Kirchenpolitiker, in: Gunter Meckenstock (Hg.): Schleiermacher-Tag 2005. Eine Vortragsreihe, Göttingen 2006, 75–86.

396  Kapitel 4 Der Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik

die Verwendung des Kirchenbegriffs bei Schleiermacher nicht eindimensional. Man muss bei ihm in einem ersten Zugang einen doppelten Kirchenbegriff unterscheiden: einmal den Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik und zum anderen den Kirchenbegriff in der christlichen Dogmatik. Der erste Begriff von Kirche beruht auf der allgemeinen Religionsgeschichte und enthält eine Theorie der religiösen Gemeinschaft im Horizont seiner Kulturphilosophie. Diesen Kirchenbegriff findet man bei Schleiermacher nicht erst in den Schriften seiner Philosophischen Ethik, sondern bereits in der vierten Rede seiner Reden über die Religion (1799) ist dieser Begriff aufzuspüren. Auch in der Kurze Darstellung des theologischen Studiums (1811, 1830), in der Christlichen Sittenlehre (1822/23) sowie in den Prolegomena seiner Glaubenslehre (1821/22, §28; 1831/32, §6) ist dieser Gedanke ebenfalls zu erkennen. Im Unterschied dazu bezieht sich der zweite Kirchenbegriff Schleiermachers auf die Kirche im Horizont der christlichen Theologiegeschichte. Diesen Begriff der christlichen Kirche thematisiert Schleiermacher in der Ekklesiologie der materialen Dogmatik seiner Glaubenslehre. Auf diesen doppelten Zuschnitt des Kirchenbegriffs bei Schleiermacher hat bereits Hans-Joachim Birkner in seiner Studie Schleiermachers Christliche Sittenlehre (1964) hingewiesen. Birkner unterscheidet darin einen Begriff der Kirche „in einem allgemeinen Sinne“ als einen „ethisch-kulturphilosophisch-soziologische[n]“ Begriff, den er als Oberbegriff für den zweiten Begriff der genuin christlichen Kirche interpretiert.178 Im Rahmen seiner Abhandlung zum Kirchenbegriff Schleiermachers orientierte sich Birkner an den Manuskripten zu Die Christliche Sitte.179 Unsere Untersuchung hingegen soll sich auf den Kirchenbegriff der Philosophischen Ethik Schleiermachers – sowohl im Brouillon zur Ethik als auch in den Vorlesungen seiner Berliner Reifezeit – konzentrieren. Wie bereits aufgezeigt beginnen Schleiermachers Überlegungen zu einem neuen Kirchenbegriff in der den Reden von 1799. In der vierten Rede, im Kontext seiner Neubestimmung der Religion als Anschauung und Gefühl des Universums, legt er

178 Vgl. Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre (1964), 43 und 115. Zum Verhältnis zwischen beiden Kirchenbegriffen weist Birkner darauf hin: „Die christliche Kirche ordnet sich diesem Oberbegriff ein als die religiöse Gemeinschaft, die ihren Ursprung und ihren bleibenden Mittelpunkt in der als Tat Jesu erfahrenen Erlösung hat.“ (a. a. O., 115) Darüber hinaus unterscheidet Birkner den Begriff der christlichen Kirche noch im weitesten Sinn und im engeren Sinn (vgl. a. a. O., 115). In Übereinstimmung mit Birkner stellt Holger Werries in der neusten Forschung wieder heraus, dass bei Schleiermacher ein allgemeiner, philosophischer Begriff „Kirche“ seinem christlich-theologischen Kirchenbegriff zugrunde liegt (Holger Werries: Alles Handeln ein Handeln der Kirche. Schleiermachers Ekklesiologie als Christologie, Leipzig 2012). In seiner Rekonstruktion der theologischen Entfaltung des Kirchenbegriffs Schleiermachers unterscheidet Werries zwischen einem philosophisch-theologischen, einem historisch-theologischen und einem praktisch-theologischen Kirchenbegriff: Der erste bezieht sich auf den theologischen Kirchenbegriff im Kontext seiner philosophischen Theologie, der zweite auf denjenigen im Kontext seiner historischen Theologie und der dritte auf denjenigen im Kontext seiner praktischen Theologie. 179 Vgl. Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre (1964), 114–127.

3 Der Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik 

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ein Konzept der wahren Kirche vor. Vor dem Hintergrund der Kirchenkritik der Aufklärung und unter Anlehnung an zwei Grundbegriffe der Aufklärung – Geselligkeit und Mitteilung – versteht Schleiermacher die Kirche sozialphilosophisch als freie religiöse Geselligkeit und als Ort für die Mitteilung der Religion.180 In den Reden fehlt zwar noch die handlungstheoretische Begründung für die Bestimmung der Kirche als eine religiöse Gemeinschaft, aber die Grundidee seines Kirchenbegriffs ist bereits in diesem frühromantischen Konzept deutlich zu erkennen. Der Kirchenbegriff in seiner Philosophischen Ethik gilt als Fortführung und Vertiefung seiner frühen Überlegungen in einem weiteren kulturtheoretischen Horizont. Auch wenn der Kirchenbegriff ein wichtiges Thema in Schleiermachers Philosophischer Ethik ist, wird er nicht in allen seinen Vorlesungen zur Philosophischen Ethik explizit zum Thema gemacht. Schleiermacher greift den Kirchenbegriff im Brouillon zur Ethik und in der Ethikvorlesung von 1812/13 auf. Trotz der Vertiefung seiner Handlungstheorie ist eine Interpretation des Kirchenbegriffs in den Vorlesungsvorlagen zur Ethik von 1814/16 und von 1816/17 nicht zu sehen.181 Im Brouillon zur Ethik geht Schleiermachers Interpretation des Kirchenbegriffs von der Identitätsphilosophie aus und versteht die Kirche als eine religiöse Gemeinschaft mit höchster Individualität, die selbst wiederum eine individuelle Einheit darstellt. Mit dieser Grundidee verbunden lassen sich in der Ethik von 1812/13 drei Elemente seines Kirchenbegriffs aufweisen: die genetische Entstehung der Kirche, das Wesen der Kirche sowie das Verhältnis von Kirche und Kunst. Im Folgenden wollen wir uns daher auf das Brouillon zur Ethik (3.1) und auf die Ethikvorlesung von 1812/13 (3.2) beschränken.

3.1 Der Kirchenbegriff im Brouillon zur Ethik (1805/06) Dass die schellingsche Identitätstheorie eine philosophische Grundlage für Schleiermachers Aufbau des Quadruplizitätsschemas seiner Handlungstheorie bietet, hat Hermann Süskind bereits aufgezeigt.182 In Bezug auf das Handlungssubjekt stellt sich der Identitätsgedanke nach Süskind als Identität des Allgemeinen und des Besonderen dar oder auch als Vereinigung der Allgemeinheit und der Individualität. Daraus ergibt sich bei Schleiermacher das Prinzip, dass Allgemeinheit und Individualität nicht absolut, sondern nur relativ sind. Damit verbunden ist der Sachverhalt, dass es im individuellen Subjekt den Charakter der Gemeinschaftlichkeit gibt,

180 Vgl. oben: Kapitel 2. 2. Der neue Kirchenbegriff. 181 Zum Kirchenbegriff in Schleiermachers Philosophischer Ethik vgl. Trutz Rendtorff: Kirche und Theologie (1966), 139–168, bes. 148–153; Dorothee Schlenke: „Geist und Gemeinschaft“ (1999), 130– 135; Martin Kumlehn: Kirche im Zeitalter der Pluralisierung von Religion (2000), 71–81; Holger Werries: Alles Handeln ein Handeln der Kirche (2012), 75–80. 182 Vgl. Hermann Süskind: Der Einfluß Schellings (1909).

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ebenso wie im identischen Subjekt das individuelle Element enthalten ist. Das identische Element tritt als Individualität einer Gemeinschaft hervor, die auf diejenigen außerhalb dieser Gemeinschaft unübertragbar ist. In diesem Zusammenhang spricht Schleiermacher von einer größeren Individualität und einer kleineren Individualität. Mit dieser Gedankenvoraussetzung entfaltet er sein Verständnis der Kirche in der ersten systematischen Skizze seiner Philosophischen Ethik. Die Idee der Kirche im Brouillon zur Ethik wird in der allgemeinen Übersicht durch einen strukturellen Vergleich mit der Idee der Akademie eingeführt. Für Schleiermacher ist die Akademie eine Gemeinschaft, die in der Handlungssphäre des identischen Erkennens „eine eigenthümliche Philosophie und Sprache“ (Brouillon 101) ausbildet. Nur wenn beides zusammenkommt, ist eine Akademie überhaupt möglich. Diesem liegt die Identität des Erkennens und des Darstellens zugrunde. „Dasselbe gilt in der entgegengesezten Sphäre des Gefühls“ (ebd.) – so führt Schleiermacher fort: Ebenso wie das Individualisieren der Sprache und des Denkens eine individuelle Gemeinschaftlichkeit in der erkennenden Funktion unter dem Charakter der Identität zur Folge hat,183 bildet das Individualisieren des Gefühls und der Darstellung eine individuelle Gemeinschaftlichkeit in derselben Funktion unter dem Charakter der Individualität. Diese individuelle Gemeinschaftlichkeit in der individuellen Sphäre der erkennenden Funktion bezeichnet Schleiermacher als Idee der Kirche: „Das Mittheilen desselben [sc. des Gefühls] individualisirt sich, je nachdem die Identität großer organischer Bedingungen einen bestimmten Kreis der Verständlichkeit bildet; diese individuelle Einheit des Gefühls selbst und der Darstellung ist die Idee einer Kirche.“ (Brouillon 101–102)184 Wie bereits gesehen, besteht nach Schleiermacher die Einheit des Gefühls und der Darstellung – die Vereinigung des Gefühls und der Darstellung – in der Darstellung des Gefühls. In dieser Aussage zeigte sich, dass die Individualisierung dieser Darstellung des gemeinsamen religiösen Gefühls davon abhängig ist, ob die Gemeinschaftlichkeit größerer sinnlicher Bedingungen einen bestimmten Kreis der Verständlichkeit bilden kann. In diesem bestimmten Kreis befindet sich die individuelle Einheit des Gefühls und der Darstellung – die Idee der Kirche. Vor diesem Hintergrund ist zunächst festzustellen, dass sich für Schleiermacher die Idee der Kirche in der Individualisierung der Darstellung des gemeinsamen Gefühls gründet. Nun stellt sich die Frage, inwiefern sich die Darstellung des gemeinsamen religiösen Gefühls in unterschiedliche Einheiten individualisiert. Oder anders gefragt:

183 Hierzu vgl. Brouillon, 101: „Die unablösbare und unübertragbare Individualität des Denkens und Sprechens würde nun wieder isoliren und ein Abgeschlossenes bilden; sie muß sich also wieder zum Allgemeinen und Identischen zu organisiren streben, indem sie Keim und Trieb zur Gemeinschaft in sich trägt. So wird die Gemeinschaft der Akademieen die höchste Vereinigung der beiden entgegengesezten Charaktere, des Allgemeinen und Besonderen in dieser Function.“ 184 Dazu vgl. PhE 1812/13, 273, §69: „Die Kirche ist die Eigenthümlichkeit der Erregtheit und der Darstellung, […].“

3 Der Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik  399

Ist die Entstehung der Idee der Kirche eine notwendige Folge der Handlungssphäre der erkennenden Funktion unter dem Charakter der Individualität? Bei der Entfaltung dieser Funktion begründet Schleiermacher in den späteren Vorlesungsstunden die Notwendigkeit der Individualisierung der Darstellung des gemeinsamen Gefühls. Seine Begründung geht von der Voraussetzung aus, dass das größere Gebiet in der individuellen Handlungssphäre der erkennenden Funktion weder „ein bloß Vergrößertes der eigenen Individualität“ (Brouillon 189) noch „ein absolut Allgemeines“ (ebd.) ist, sondern „ein größeres Individuum“ (ebd.). Die Gemeinschaft stellt sich hier als ein größeres Gebiet in dieser individuellen Handlungssphäre dar, so wie ein Individuum in seiner Individualität. Für diese Gemeinschaft ist jeder Einzelne ein „Organ“. Ebenso wie die Darstellung des Gefühls eines Individuums individuell und damit nicht übertragbar ist, ist die Darstellung des gemeinsamen religiösen Gefühls dieses größeren Individuums auch „nicht absolut verständlich“. Für Schleiermacher besteht der Grund für diese „Unübertragbarkeit“ darin, dass die Darstellung „von den reagirenden organischen Bewegungen ausgeht und diese doch an die großen Bedingungen der Organisation geknüpft sind“ (ebd.). Dass die Darstellung an sich für Schleiermacher die reagierende Bewegung des Geistes ist, ist in unserer näheren Bestimmung des Gefühls bekannt. Ist die Darstellung des gemeinsamen Gefühls dieses größeren Individuums mit der Sinnlichkeit verbunden, so muss sie individuell und damit unübertragbar – „nicht absolut verständlich“ – sein. Damit ist die Individualisierung der Darstellung dieses gemeinsamen Gefühls in individuelle Einheiten unvermeidlich: „Dadurch zerfällt die Darstellung nothwendig in mehrere individuelle Einheiten.“ (ebd.) Innerhalb jeder Einheit ist die Darstellung aber für ihre Mitglieder verständlich. An dieser Stelle stellt der Autor heraus, dass die Individualisierung der Darstellung in mehrere Einheiten nicht nur darin besteht, dass die Darstellung des gemeinsamen Gefühls eines größeren Individuums „eigenthümlich und beschränkt“ ist. Sie ist zugleich dadurch bedingt, dass das gemeinsame religiöse Gefühl an sich ebenfalls individuell und beschränkt ist. Denn das Gefühl ist mit „den bestimmten Typen der Organisation“ verbunden, weil es – wie bereits gesehen – „die subjective Seite der Gemeinschaft des Organismus mit der Welt“ (ebd.) ist. Es kann resümiert werden: Die Individualisierung der Darstellung des Gefühls in mehrere Einheiten ist ein notwendiges Resultat der Unverständlichkeit der Darstellung an sich. Im Vorgang der notwendigen Individualisierung der Darstellung des gemeinsamen religiösen Gefühls gestalten sich die verschiedenen bestimmten Kreise mit je individueller Identität. Hier liegt der Ursprung der Idee der Kirche. Die Entstehung der Kirche als ein bestimmter Kreis mit individueller Einheit ist insofern eine logische Folge und resultiert aus der Handlungssphäre der erkennenden Funktion unter dem Charakter der Individualität. Die Idee der Kirche beruht nun nicht nur darauf, dass die Individualisierung der Darstellung einen untereinander verständlichen Kreis der Gemeinschaftlichkeit bildet, nämlich eine Einheit in der Handlungssphäre des individuellen Erkennens. Für die Idee der Kirche bei Schleiermacher ist zugleich basal, dass diese Verständ-

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lichkeit innerhalb des Kreises zu einer Individualität führt, wodurch die Kirche sich von den Anderen nicht nur unterscheidet, sondern auch die Individualität anderer Kirchen anerkennen kann. So heißt es bei Schleiermacher: „Diese dürfen sich auch wieder nicht isoliren, sondern der ganze Prozeß wird erst vollendet durch die auf gegenseitiger Anerkennung beruhende freie Gemeinschaft aller Kirchen.“ (Brouillon 102)185 Diese freie Verbindung mit anderen Kirchen ist notwendig für die Idee der Kirche. Das Hervorbringen der eigenen Individualität bedeutet für eine Kirche zugleich die Anerkennung der Individualität anderer Kirchen in freier Gemeinschaft aller Kirchen. Für Schleiermacher handelt sich es bei der Kirche um die „höchste[]“ Individualität, im Vergleich dazu vertritt die Individualität des Einzelnen die „kleinste[]“.186 Da jede Kirche eine Vereinigung der Identität und der Individualität ist, verbirgt sich im Brouillon zur Ethik bereits der Gedanke der Pluralität der Religion und der Kirche.

3.2 Der Kirchenbegriff in der Ethik von 1812/13 Nach dem Brouillon zur Ethik thematisiert Schleiermacher den Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik nur noch in der Vorlesung von 1812/13. In dieser Berliner Vorlesung lässt sich sein Kirchenbegriff in drei miteinander verbundene Elemente erweitern: in die genetische Entstehung der Kirche, in das Wesen der Kirche sowie in das Verhältnis von Kirche und Kunst. Bevor wir seinen Kirchenbegriff in den genannten Elementen weiter vertiefen, wollen wir einen kurzen Überblick darüber geben, was Schleiermacher unter „Gemeinschaft“ versteht. Ausgangspunkt sind die den vier Handlungsweisen der Vernunft entsprechenden Gemeinschaften: Staat, Akademie, freie Geselligkeit und Kirche, die er als die vier vollkommenen ethischen Formen ansieht.187 Den Unterschied von Identität und Individualität konkretisiert er durch den Unterschied von Nation und Rasse: „Beide Functionen unter dem identischen Charakter beziehen sich mehr auf den engeren Typus der Nationalität, beide unter dem eigenthümlichen mehr auf den weiteren der Race.“ (PhE 1812/13, 321, §6) Der Staat und die Akademie sind mehr durch die Nationalität bedingt, während die freie Geselligkeit und die Kirche mehr in den vielfältigen Formen des Volkes gegeben sind. Beide Gemeinschaftsformen können aber „über die Nationaleinheit hinausstreben“ (PhE 1812/13, 358,

185 Hierzu vgl. Brouillon, 102: „Bloßer Trieb auf Gemeinschaft der Organe, der sich noch nicht organisirt zur Individualität, ist böse. Staat, der nicht in Gemeinschaft treten will, Kirche, die nicht andere anerkennen will, ist alles böse, aber alles das ist auch eigentlich nicht.“ 186 Hierzu vgl. Brouillon, 190: „Zwischen der höchsten Individualität, der Kirche, und der kleinsten, der persönlichen Einheit, muss offenbar ein Zwischenglied liegen, wie Schule und Familie. Hier kommen aber beide Bestimmungen zusammen.“ 187 Vgl. PhE 1812/13, 320–321.

3 Der Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik 

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§194). Näherhin sind die vier Gemeinschaftsformen durch ein jeweils unterschiedliches Gegensatzpaar charakterisiert: Der Staat durch den Gegensatz zwischen Obrigkeit und Untertan (PhE 1812/13, 334, §85); die Akademie durch den Gegensatz zwischen Publikum und Gelehrten (PhE 1812/13, 350, §157); die freie Geselligkeit durch den Gegensatz von Wirt und Gästen (PhE 1812/13, 368, §245); die Kirche durch den Gegensatz von Klerus und Laien (PhE 1812/13, 361, §209). Vor dem Hintergrund dieses kurzen Überblicks wollen wir uns auf seine Diskussion des Kirchenbegriffs in dieser Vorlesung konzentrieren. Während der Autor in der Hallenser Ethikvorlesung die notwendige Entstehung der Idee der Kirche in der Individualisierung der Darstellung des gemeinsamen religiösen Gefühls begründet, sucht er in der Berliner Ethikvorlesung von 1812/13 grundlegend nach dem Wesen der Kirche. Die Suche nach dem Wesen der Kirche wird durch die folgende Aussage eingeführt: „Wenn auch einzelne Kirchen einen ins Unbestimmte gehenden Ausbreitungstrieb haben, so sieht man doch, daß sie auf vielen Punkten ihren eigenthümlichen Charakter verlieren, und nur in einer gewissen Masse ein productives und reproductives Leben haben, welche Masse aber durch Raceneinheit doch nicht kann bestimmt werden.“ (PhE 1812/13, 359, §196) In dieser Passage wird deutlich darauf hingewiesen, dass die Kirche sich nicht ins Unbestimmte und Unbegrenzte ausbreiten kann, auch wenn sie einen solchen Trieb hat. Eine Kirche kann ihren individuellen Charakter nur in ausgewählten Menschen lebendig bewahren. Wenn der individuelle Charakter und ganz bestimmte Menschen als zwei miteinander verbundene Elemente für die Ausbreitung einer Kirche entscheidend sind, so sind sie ebenso entscheidend für die Wesensbestimmung einer Kirche. Dabei handelt es sich um die genetische Entstehung der Kirche. Schleiermachers Wesensbestimmung der Kirche in dieser Berliner Vorlesung setzt eine Erklärung der genetischen Entstehung der Kirche voraus. Insofern wollen wir zunächst seiner Darstellung des genetischen Hervorbringens der Kirche nachgehen. Für Schleiermacher entsteht die Kirche in zwei Phasen: in einer vorkirchlichen und in einer kirchlichen Zeit.188 Bereits im Brouillon zur Ethik weist er darauf hin, dass Religion ihre genetische Wurzel in der Familie hat: „Die Religion wird in der Familie eingewurzelt und individualisiert“ (Brouillon 190). Auch spielt der relative Gegensatz des männlichen und des weiblichen Charakters in dieser Urform der religiösen Gemeinschaft eine wichtige Rolle.189 In den „vorkirchlichen Zeiten“ (ebd.) ist die religiöse Gemeinschaft deshalb patriarchalisch geprägt. Diese patriarchalische Phase bezeichnet Schleiermacher in der Ethik von 1812/13 als „Hordenzustand der Religi-

188 Zu Schleiermachers Diskussion über die genetische Entstehung der Kirche vgl. Dorothee Schlenke: „Geist und Gemeinschaft“ (1999), 131. 189 Hierzu Brouillon, 190: „In den Männern überhaupt das Erkennen überwiegend, in den Weibern das Gefühl. Und wiederum im Gefühl die äußere Seite der Darstellung in den Männern, die eigentlich innere in den Weibern. […] Daher muß man überall dieser Anschauung nachgehn, den Familiencharakter von seiner religiösen Seite betrachten in Gefühl und in Darstellung.“

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on“ (PhE 1812/13, 359, §198). Für die Entstehung der Kirche ist die Freundschaft – die basale Form der freien Geselligkeit bei Schleiermacher – ebenfalls unabdingbar.190 So heißt es im Brouillon zur Ethik: „Aus der Vereinigung von beiden [sc. Familie und Freundschaft] entsteht die Kirche.“ (Brouillon 190) Von daher stellt sich die Frage, was für den Übergang vom patriarchalischen vorkirchlichen Zustand in den kirchlichen Zustand entscheidend ist. Dies erklärt der Autor in der Ethik von 1812/13 mit der folgenden Passage: „Der Hordenzustand der Religion, gewöhnlich der patriarchalische genannt, geht in den organisirten Zustand, den der Kirche, auch nur über durch Erwachung eines Gegensazes, nämlich des zwischen Klerus und Laien, die sich verhalten theils wie Gelehrte und Publicum, theils wie Obrigkeit und Unterthanen.“ (PhE 1812/13, 359, §198) Kirche ist also als eine organisierte Gemeinschaft durch den Gegensatz zwischen Priester und Laien gekennzeichnet. Anders gesagt: Für die Entstehung der Kirche ist das Erwachen dieses Gegensatzes entscheidend. Der Hordenzustand der Religion und der organisierte Zustand der Religion unterscheiden sich also durch das Erwachen des Gegensatzes zwischen Priester und Laien. Denn „[d]er bestimmte religiöse Gegensaz von Priester und Laien entsteht im patriarchalischen Zustand eigentlich noch nicht“.191 Den Gegensatz von Priester und Laien bezeichnet Schleiermacher später auch als „hierarchische[n] Zustand“.192 An dieser Stelle verweist der Autor darauf, dass das Entstehen des hierarchischen Zustands der Religion durch die Offenbarung verwirklicht wird und ganz dem Entstehen der zwei identischen Gemeinschaftsformen bzw. des Staates und des Wissens entspricht. In diesem Zusammenhang besteht Offenbarung darin, dass ein Priester das religiöse Bewusstsein der Masse über sich mitteilt und dieses in die Bewusstheit hebt.193 Anders als das hierarchische Verhältnis im Staat und in der Gemeinschaft des Wissens zeigt sich das hierarchische Verhältnis im kirchlichen Zustand als Anerkennung der Priester durch die Laien. Der Gegensatz von Priester und Laien im hierarchischen Zustand der Religion lässt sich insgesamt durch die Gegenüberstellung von dem Offenbarenden und den die Offenbarung Empfangenden konkretisieren.194 Mit dieser Beschreibung der genetischen Entstehung der Kirche folgt Schleiermacher seinen Überlegungen in der vierten Rede der Reden über die Religion von 1799. Auch hier hatte er sich schon von Luthers Tilgung der Differenz zwischen Kle-

190 Zum Begriff der Freundschaft sowie ihrer Nähe zur freien Geselligkeit vgl. oben: 221–222. 191 Anmerkungen (1832), 657. 192 PhE 1812/13, 359 (Fußnote zu §198), Zusatz am Rande 1816. 193 PhE 1812/13, 359 (Fußnote zu §198), Zusatz am Rande 1816: „Der hierarchische Zustand entwickelt sich durch Offenbarung (Analogie mit Staat und Wissen), in der das Bestimmte erst ein Bewußtes wird. […] Eine Offenbarung kann nicht angenommen werden, wenn sie nicht das religiöse Bewußtsein einer Masse wirklich ausdrückt.“ Zur Analogie des Entstehens der Kirche mit dem Entstehen des Staates vgl. ferner PhE 1812/13, 361, §§ 206–207. 194 Vgl. oben: Kapitel 4. 1.3.3.3 Gefühl in einem Offenbarungsverhältnis.

3 Der Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik 

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rus und Laien distanziert und durch seine Einführung des Mittlergedankens Hörer und Redner in der religiösen Gemeinschaft gegenüberstellt und diese Gegenüberstellung als notwendig für die gegenseitige Mitteilung in jeder religiösen Gemeinschaft betrachtet. Doch während im frühromantischen Konzept der Kirche in der vierten Rede eine Institutionstheorie noch fehlt, führt Schleiermacher in der Ethik von 1812/13 das institutionelle Element in den Kirchenbegriff ein. Für ihn ist die Kirche in ihrem organisierten Zustand der Religion ein religiöses Institut. Der Gegensatz von Priestern und Laien liegt dem institutionellen Charakter der Kirche zugrunde. Damit bezeichnet er die Kirchen als „die aus diesem Gegensaze erwachenden religiösen Institute“ (PhE 1812/13, 359, §199). Dieser Gedanke, dass die institutionelle Einrichtung unentbehrlich für das Konzept der Kirche seiner Philosophischen Ethik ist, wird später in den Prolegomena seiner Glaubenslehre weiter vertieft.195 Zusammenzufassend lässt sich die genetische Entstehung der Kirche bei Schleiermacher in eine vorkirchlich-patriarchalische und in eine kirchlich-hierarchische Phase unterscheiden. Von Kirche als organisiertem Zustand der Religion lässt sich erst sprechen, wenn der Gegensatz zwischen Priestern und Laien auftritt. Ursprung dieses Gegensatzes von Priester und Laien ist die intersubjektive Offenbarung. Auf der Grundlage dieses Gegensatzes gestaltet sich die Kirche als eine institutionelle religiöse Einrichtung auf ähnliche Weise wie die anderen Institutionen der Kultur entstehen: der Staat aus dem Gegensatz zwischen Obrigkeit und Untertan, die Akademie aus dem Gegensatz zwischen Publikum und Gelehrten. Nach diesem Aufweis der genetischen Entstehung der Kirche bei Schleiermacher kommen wir nun zur entscheidenen Frage zurück: Worin besteht das Wesen der Kirche? In der Darstellung von Schleiermachers Verständnis der Idee der Kirche im Brouillon zur Ethik hatten wir aufgezeigt, dass er die individuelle Einheit des religiösen Gefühls und seiner Darstellung als Idee der Kirche interpretiert. In der Ethik von 1812/13 nennt der Autor diese individuelle Einheit „Religionseinheit“ (PhE 1812/ 13, 360, §200). Wie gesehen wurde in dieser Vorlesung auch das Verhältnis von Religion und Kunst näher erklärt: Religion und Kunst gehören zusammen, so wie Wissen und Sprache zusammengehören. Religion als ein ethisches Verfahren – nämlich als Ethisierung des Gefühls – kann auf eine optimale Weise nur durch die Kunst verwirklicht werden. Vor dem Hintergrund dieser Verhältnisbestimmung von Religion und Kunst stellt der Autor nun fest: „In dem Maaß als eine Religionseinheit sich als Kirche ausbildet, bildet sie sich auch ein Kunstsystem an.“ (ebd.) Das heißt: In dem Vorgang, in dem sich die Kirche als Religionseinheit gestaltet, entsteht zugleich im-

195 Hierzu CG², §6.4, 57–58: „Und so schließt sich denn auch die religiöse Gemeinschaft ab unter ihnen theils unter der Form der vorherrschenden Gleichheit der einzelnen Familie selbst, theils so, daß eine vorzüglich für fromme Erregungen gewekte als die überwiegend selbstthätige vorherrscht, und die übrigen ihr als gleichsam fast Unmündige nur ihre Empfänglichkeit darbieten, wie dies im Gebiet eines jeden erblichen Priesterthums der Fall ist.“

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mer auch ein Kunstsystem. Der innere Zusammenhang von Religion und Kunst liegt der Entstehung der Kirche als Religionseinheit und der Entstehung eines religiösen Kunstsystems zugrunde. Der Sachverhalt, dass die Kirche als Religionseinheit und das religiöse Kunstsystem als Medium der Religion zusammengehören, verstärkt die bereits im Brouillon zur Ethik aufgezeigte These Schleiermachers, dass die Individualisierung der Darstellung des gemeinsamen religiösen Gefühls in mehrere Einheiten notwendig ist. Denn es ist „immer unmöglich den Charakter eines Kunstsystems in das Gebiet einer anderen Religion überzutragen; alle mühsamsten Versuche geben doch nur tote Resultate“ (PhE 1812/13, 360, §201). Aus dieser Unübertragbarkeit des individuellen Charakters eines religiösen Kunstsystems ergeben sich nun notwendig mehrere Religionsvölker: „Es sind also von Natur gegeben zu sezen mehrere großen Massen eigenthümliche[r] Schematismen des Gefühls.“ (PhE 1812/13, 360, §202) In einem bestimmten Volk ist der individuelle Charakter des Kunstsystems verständlich. Nun stellt sich die Frage: Was ist der einzigartige Charakter eines Religionsvolkes? Oder wodurch unterscheidet sich ein bestimmtes religiöses Volk von einem anderen? In dieser Ethik von 1812/13 legt Schleiermacher zwei Unterschiedsrichtungen vor: Die eine ist mit dem Erkennen des Menschen verbunden, die andere mit dem klimatischen Zustand der Natur. Wir kommen zur ersten Unterschiedsrichtung: „Die Differenz derselben [sc. der eigenthümlichen Schematismen] beruht auf dem Verhalten der vier verschiedenen Beziehungen des Erkennens“ (PhE 1812/13, 360, §203). Wir hatten bereits gesehen, dass das wirkliche Erkennen des Menschen nach Schleiermacher durch vier verschiedene Aspekte, genau genommen durch zwei einander entgegengesetzte Aspektpaare, zu charakterisieren ist: das Mathematische und das Transzendentale sowie das Physische und das Ethische.196 Jeder Aspekt des Erkennens ist eine Mischung der entgegengesetzten Aspekte und kann durch seine Dominanz über den jeweils anderen Aspekt bestimmt werden. Für Schleiermacher ist der Unterschied in Bezug auf diese vier Gesichtspunkte entscheidend für die Differenz zwischen individuellen religiösen Charakteren. Die Seite des Mathematischen und des Transzendentalen sowie die Seite des Physischen und des Ethischen beeinflussen den religiösen Charakter auf sehr unterschiedliche Weise. Auf der mathematischen und der transzendentalen Seite kann das Gewicht eines Aspekts über den Anderen „nur den Grad“ bezeichnen, „in welchem das Gefühl ethisirt oder ethisirbar ist, und in welchem es durch Ablösung vom Realen corrumpirt werden kann“ (ebd.). Hier lässt sich erkennen, dass die Dominanz des transzendentalen Aspekts über den mathematischen bestimmt, in welchem Grad das Gefühl sich auf die absolute Einheit beziehen und damit religiös sein kann. Die Dominanz des Mathematischen umgekehrt zeigt an, in welchem Grad das Gefühl in die absolute Mannigfaltigkeit in dem Rea-

196 Zum Unterschied vom Mathematischen und Transzendenten vgl. oben: Kapitel 4. 1.3.2.3 Das Gefühl als unmittelbares Selbstbewusstsein, 312–314.

3 Der Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik  405

len abgeschwächt werden kann – „von dem Realen corrumpirt werden kann“ (ebd.). Für Schleiermacher ist die Seite des Physischen und des Ethischen wichtiger für den religiösen Charakter, denn „ob aber das Physische unter die Potenz des Ethischen gestellt ist, oder umgekehrt“ (ebd.), unterscheidet „die beiden Hauptklassen von religiösen Charakteren“ (ebd.). Das heißt: die Dominanz des Physischen und die Dominanz des Ethischen machen die physische Religion und die ethische Religion aus, die bei Schleiermacher als zwei Hauptklassen der religiösen Charaktere gelten. Bereits im Brouillon zur Ethik hatte Schleiermacher auf die Bedeutung des Gegensatzes von beiden für den religiösen Charakter in der Sphäre der Kirche hingewiesen. „Was die innere Seite betrifft, so ist der größte relative Gegensaz in der Beziehung des Alls auf den einzelnen Organismus die physische und die ethische. Nicht als materieller Gegensaz, daß eines irgendwie ausgeschlossen wäre […] sondern daß Eines Hauptpunkt ist und das andere hierauf bezogen wird.“ (Brouillon 191–192) Durch ihre Hauptrolle im Erkennen des Menschen beschreiben die physische oder die ethische Seite verschiedene Weisen, wie sich das Individuum (der einzelne Organismus) auf das unendliche All bezieht. Später wird diese Unterscheidung noch wie folgt beschrieben: „Ethische und physische Religion verhalten sich wie Schicksal und Vorsehung. In jeder ist mangelhaft das mindere Erhobensein des andern auf die religiöse Potenz.“197 Nehmen wir die beiden Stellen zusammen, so ist zu sehen: In der ethischen Religion gilt das Ethische als Hauptpunkt und für die mindere Stimmung des Physischen ist die Potenz, religiös zu sein, mangelhaft. In der physischen Religion ist es genau umgekehrt. Für Schleiermacher ist der Gegensatz vom physischen und ethischen Aspekt „der allgemeine Gegensaz des Antiken und Modernen“ (Brouillon 192): Antik ist physisch, denn „selbst sittliche Eigenschaften, Pallas, Eros, werden als Naturkräfte behandelt“ (ebd.); Modern ist ethisch: „das Physische überall auf das Sittliche bezogen; die Natur ethisch allegorisirt“ (ebd.). Dieser Gegensatz verkörpert sich auch in der Kunst durch den Gegensatz von der antiken und der modernen Kunst.198 An einer späteren Stelle in der Vorlesungsvorlage zur Ethik von 1812/13 werden die beiden Hauptklassen der religiösen Charaktere als Naturreligion und als Vernunftreligion bezeichnet.199 In seinen Bemerkungen zur Ethik von 1832 präzisiert Schleierma-

197 PhE 1812/13, 360 (Fußnote zu §203), Zusatz am Rande 1816. 198 Hierzu Brouillon, 192: „Derselbe Gegensaz in der Kunst. Antik vorherrschende Plastik; modern vorherrschende Poesie; Uebergang durch Malerei und Musik. Uebergangspunkte in Philosophie, Religion und Kunst homogen, verwandt und gleichzeitig. Bei den Alten sogar die Behandlung der Musik und Poesie plastisch. Bei den Neuern sogar die Behandlung der Malerei und Plastik poetisch.“ 199 Vgl. PhE 1812/13, 364–365.

406  Kapitel 4 Der Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik

cher die beiden Formen der Religion in einem weiteren Schritt als Naturreligion und ethische Religion oder Geistesreligion.200 Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Die Differenz der individuellen Schematisierung des Gefühls religiöser Charaktere ist bei Schleiermacher mit vier Beziehungen des Erkennens verbunden. Aus dem Verhältnis dieser vier Aspekte des Erkennens entstehen die unterschiedlichen religiösen Charaktere. Der Unterschied von Naturreligion und Vernunftreligion (Geistesreligion) ergibt sich aus dem Gegensatz von physischen und ethischen Aspekten des Erkennens. Neben diesem mit dem Aspekt des Erkennens verbundenen Unterschied kann es nach der Ansicht Schleiermachers einen Unterschied der religiösen Charaktere auch noch „nach einer anderen Richtung“ (PhE 1812/13, 360, §204) geben, und zwar im Zusammenhang mit dem klimatischen Zustand der Gegend, die ein bestimmtes Volk bewohnt. Dieser Unterschied beruht „auf dem Gegensaz der Temperamente […], welche Formel freilich, da die Religionseinheit sogar über die Nationaleinheit weit hinausgeht, erst sehr gesteigert werden muß“ (ebd.). Nur der „sehr gesteigert [e]“ Zustand der Temperamente – zum Beispiel die extreme Wärme oder die extreme Kälte – kann einen Einfluss auf den religiösen Charakter eines bestimmten Volkes ausüben.201 Im Vergleich zu der Unterschiedsrichtung des religiösen Charakters, die auf dem Verhalten der vier Aspekte des wirklichen Erkennens beruht, kann diese mit dem Klimazustand verbundene Richtung als eine äußere interpretiert werden. Aus der Erklärung der beiden Unterschiedsrichtungen kann festgehalten werden: Nach Schleiermacher ist der religiöse Charakter eines bestimmten Volkes nicht nur innerlich von dem Aspekt des Erkennens des Menschen selbst bedingt, sondern er kann auch von den äußeren natürlichen Bedingungen beeinflusst werden. Welche Differenzierung von größerem Gewicht für den religiösen Charakter ist, wird in der Ethik von 1812/13 nicht näher aufgezeigt. Das Folgende ist aber eindeutig: Jeder individuelle religiöse Charakter, nach welcher Richtung er sich auch ausprägt, macht einen bestimmten Typus der Religionseinheit aus – einen bestimmten Typus des religiösen Bewusstseins. Jedes bestimmte Volk als eine Religionseinheit muss den gleichen Typus voraussetzen. Allerdings reicht Schleiermacher zufolge das bestimmte Volk mit einem individuelle religiösen Charakter allein noch nicht aus, um eine Kirche zu haben. Denn „[d]er gleiche Typus ist ursprünglich in der homogenen Masse, wenngleich ganz unentwickelt, gesezt. Diejenigen, welche in räumlicher Berührung stehn, sind als homogene angezogen, und ihre Gemeinschaft fällt ganz unter den Charakter und Umfang der Horde“ (PhE 1812/13, 360, §205). Wir hatten in der Untersuchung der genetischen Entstehung der Kirche bei Schleiermacher gesehen, dass der Zustand

200 Vgl. Bemerkungen 1832, 657–658. 201 Dazu nimmt Schleiermacher einige Beispiele: „Indisch = phlegmatisch; Griechisch = sanguinisch; Jüdisch = cholerisch; Christlich = melancholisch?“ (PhE 1812/13, 360, §204. Anmerkung)

3 Der Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik 

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der Kirche durch den Gegensatz zwischen Priestern und Laien gekennzeichnet ist und im Hordenzustand noch kein religiöses Institut der Religion entsteht. Vor diesem Hintergrund ist aus der zitierten Passage zu ersehen, dass beim homogenen Volk noch keine Kirche ausprägt ist, weil die Menschen zwar unter dem gleichen Typus stehen, aber sich noch im Hordenzustand befinden. Darauf folgend steht das Entstehen der Kirche für Schleiermacher unter zwei Voraussetzungen: Die erste ist, „daß der Typus bereits in der Masse vorhanden sei, weil sonst die Offenbarung keinen Glauben finden würde“ (PhE 1812/13, 361, §207). Das bedeutet: Der religiöse Charakter („der Typus“) muss bereits in dem Volk vorhanden sein, anderenfalls kann die Offenbarung als Mitteilung des religiösen Bewusstseins bzw. des religiösen Charakters nicht stattfinden. Die zweite Voraussetzung ist, „daß auch der kirchliche Gegensaz schon angelegt und präformirt ist“ (ebd.). Der Gegensatz von Priester und Laien muss für das Entstehen der Kirche im Voraus festgelegt werden. Kurz: Keine von beiden Voraussetzungen – der religiöse Charakter und der kirchliche Gegensatz – darf bei dem Entstehen der Kirche fehlen. Seine Überlegungen zur Wesensbestimmung der Kirche in dieser Berliner Vorlesung fasst Schleiermacher schließlich mit folgender These zusammen: „Das Wesen der Kirche besteht in der organischen Vereinigung der unter demselben Typus stehenden Masse zur subjectiven Thätigkeit der erkennenden Function unter dem Gegensaz von Klerus und Laien.“ (PhE 1812/13, 361, §209) Im Kontext des gerade Dargestellten ist zunächst festzustellen, dass vier wesentliche Punkte in dieser Zusammenfassung impliziert sind.202 Erstens: Die Kirche gehört zur Handlungssphäre der erkennenden Funktion unter dem Charakter der Individualität bzw. des individuellen Symbolisierens und ist deshalb ein kulturelles Phänomen. Zweitens: Die Kirche ist eine Gemeinschaft des bestimmten Volkes, das durch denselben religiösen Charakter vereinigt ist. Drittens: Die Kirche ist eine Gemeinschaft des bestimmten Volkes, das durch den Gegensatz von Priester und Laien gekennzeichnet ist. Mit diesem Kennzeichen verbunden ist der vierte Punkt, dass die Kirche eine institutionelle Einrichtung ist, so wie der Staat oder die Akademie die institutionellen Einrichtungen in anderen Handlungssphären sind. In diesem Befund verbirgt sich außerdem noch eine bemerkenswerte Einsicht Schleiermachers, die durch den Ausdruck „in der organischen Vereinigung“ angedeutet wird. Bei dieser Einsicht geht es um den Zusammenhang zwischen Kirche und Geselligkeit. Das Verhältnis beider ist schwer zu bestimmen und zeigt eine umstrittene Frage in der Deutung der Religionstheorie bei Schleiermacher an. Es geht dabei nicht nur um die Aufgabe, den Zusammenhang zwischen der Kirche und ihren Mitgliedern zu beschreiben, sondern auch um die wichtige Frage, inwiefern die Mitglieder einer Kirche in dieser religiösen Gemeinschaft miteinander verbunden

202 Hierzu vgl. auch Dorothee Schlenke: „Geist und Gemeinschaft“ (1999), 132.

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sind. Deshalb lohnt es sich an dieser Stelle, auf diese Fragestellung näher einzugehen. Wir kommen zunächst zum Zusammenhang zwischen der Kirche und ihren Mitgliedern. Wie schon dargelegt verweist Schleiermacher bereits in der vierten Rede der Reden über die Religion (1799) auf einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Kirche und Geselligkeit, indem er die wahre Kirche im Kontext der Frühromantik als religiöse Geselligkeit interpretiert, in der die religiöse Mitteilung stattfindet. Auch wenn Schleiermacher in seiner Philosophischen Ethik keine direkte Verhältnisbestimmung zwischen Kirche und Geselligkeit vornimmt, auch nicht hier im Zusammenhang seiner Wesensbestimmung der Kirche in der Ethikvorlesung von 1812/13, so kann man das Verhältnis doch indirekt im Rahmen seiner Handlungstheorie vor allem mit seiner Präzisierung und Vertiefung der beiden individuellen Tätigkeiten bzw. des individuellen Organisierens und des individuellen Symbolisierens in seiner späteren Zeit (1814/16; 1816/17) näher betrachten. Da die Geselligkeit zur Handlungssphäre des individuellen Organisierens und die Kirche zur Handlungssphäre des individuellen Symbolisierens gehören, wollen wir auf die Grundthese Schleiermachers zum Verhältnis zwischen der organisierenden Tätigkeit und der symbolisierenden Tätigkeit im Brouillon zur Ethik zurückkommen: „Weil Organbildung nur durch Organgebrauch erfolgt, so hängt der Staat zusammen mit dem individuellen Wissen, die freie Geselligkeit mit der Kunst und Religion.“ (Brouillon 103) Der innere Zusammenhang zwischen der (freien) Geselligkeit und der Kunst und Religion gründet sich auf die Vernunfttätigkeit an sich. Daher soll die Nähe zwischen der (freien) Geselligkeit und der Kirche als religiöse Gemeinschaft auf die Vereinigung der organisierenden Tätigkeit mit der symbolisierenden Tätigkeit zurückgeführt werden. In unserer näheren Bestimmung des Gefühls haben wir aufgezeigt, dass das Gefühl bei Schleiermacher auch in einer kommunikationstheoretischen Dimension zu verstehen ist. Im Gebiet des Gefühls verbinden sich die Menschen durch das Verhältnis der Offenbarung miteinander, die Geselligkeit ist der Rahmen für den Offenbarungsbegriff. Der Organismusgedanke dient Schleiermacher zur Explikation des Begriffs der Geselligkeit: das Organ der Vernunft für die Vermittlungsfunktion des Individuums für die Vernunft; der Organismus der Vernunft für die Einheit der Vernunft bzw. für die Ganzheit und die Verbundenheit der Individualitäten der Einzelwesen. So kann das Verhältnis zwischen dem abgeschlossenen Dasein und der Einheit der Vernunft im Verhältnis der Geselligkeit durch das Verhältnis zwischen Organ und Organismus beschrieben werden. Insofern gehören alle Individuen der Geselligkeit notwendig zusammen wie alle Organe sich in einem Organismus miteinander verbinden.203

203 Vgl. oben: Kapitel 4. 1.3.3.1 Die Geselligkeit, 319–325.

3 Der Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik

 409

Mit diesem Rückblick kehren wir zur oben zitierten Aussage zur Wesensbestimmung der Kirche in der Ethik von 1812/13 zurück. Der Ausdruck „in der organischen Vereinigung“ deutet an, dass Schleiermacher den Organismusgedanken aufgreift, um die Strukturierung der Kirche als religiöse Gemeinschaft zu beschreiben.204 Ebenso wie sich die Individuen in der Geselligkeit wie Organe zu einem Organismus verbinden, vereinigen sie sich in religiöser Hinsicht auch zu einer Kirche. Die Mitglieder der Kirche verhalten sich zur Kirche wie die Organe zum Organismus. Zur Verhältnisbestimmung zwischen freier Geselligkeit und Kirche bei Schleiermacher kann mithin gesagt werden: Die freie Geselligkeit ist die strukturelle Basis der Kirche, die Kirche als religiöse Gemeinschaft setzt die freie Geselligkeit voraus. Die Kirche ist die konkrete religiöse Gestaltung der freien Geselligkeit, die freie religiöse Geselligkeit zeigt sich nur in der Kirche.205 Folgt man dieser Interpretation, so kann Schleiermachers Beschreibung des Wesens der Kirche „in der organischen Vereinigung“ als „in der geselligen Vereinigung“ übersetzt werden. Bei dieser Auslegung denkt man an den Kirchenbegriff in der vierten Rede der Reden über die Religion (1799) zurück, wo der junge Schleiermacher die wahre Kirche als religiöse Geselligkeit interpretiert. Das Kirchenverständnis seiner Philosophischen Ethik steht somit in einer deutlichen Kontinuität zum Kirchenbegriff in der vierten Rede. In beiden Interpretationen gilt die Kirche in einem sozialphilosophischen Sinne als eine religiöse Gemeinschaft, die ursprünglich mit der Geselligkeit verbunden ist.206 Aber während Schleiermacher die wahre Kirche im Kontext der Frühromantik noch als religiöse Geselligkeit interpretiert, die einem utopischen Ideal gleichkommt, begründet er in seiner Philosophischen Ethik den inneren Zusammenhang zwischen Kirche und Geselligkeit aus der Perspektive der Handlungstheorie.207

204 Reiner Anselm hat darauf hingewiesen, dass der „durch Romantik und Idealismus im 19. Jahrhundert eine Renaissance“ erfahrene Organismusgedanke eine breite Rezeption in der Theologie zum Beginn des 19. Jahrhunderts erfährt, so dass auch Schleiermacher den Organismusbegriff mehrfach – sowohl in der Glaubenslehre als auch in der Philosophischen Ethik – für seinen Kirchengedanken verwendet (vgl. Reiner Anselm: Ekklesiologie als kontextuelle Dogmatik. Das Lutherische Kirchenverständnis im Zeitalter des Konfessionalismus und seine Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, 34–35). 205 Auf diesen Gesichtspunkt hat Dorothee Schlenke bereits hingewiesen. Dazu stellt sie fest, „dass freie Geselligkeit als religiös gebildete nur innerhalb der Kirche sich vollziehen kann“ (dies: „Geist und Gemeinschaft“ [1999], 132). 206 Hans-Joachim Birkner interpretiert die Nähe der Kirche zur freien Geselligkeit als „die nächste Nachbarschaft zur freien Geselligkeit“ (ders.: Schleiermachers Christliche Sittenlehre [1964], 110). 207 Das Verhältnis zwischen der Geselligkeit und der Kirche bei Schleiermacher beschreibt Dorothee Schlenke folgendermaßen: „Bei aller an den romantischen Kirchenbegriff der Reden erinnernden, systematischen Nähe zwischen Kirche und Geselligkeit bzw. religiösem und geselligem Gefühl ist daher klar, dass freie Geselligkeit als religiös gebildete nur innerhalb der Kirche sich vollziehen kann, denn Individualität (und religiös gebildete Individualität im besonderen), ist nur vor dem Hintergrund realer Identität denkbar und nur über einen intersubjektiv etablierten Symbolbestand kommunizierbar.“ (dies.: „Geist und Gemeinschaft“ [1999], 133) Schlenke weist also auf die enge

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Vor diesem Hintergrund kommen wir sodann zur zweiten Frage zur Kirche als einer „organischen Vereinigung“, inwiefern jeder Einzelne sich in der Kirche mit anderen Individuen verbindet. Schleiermachers These lautet: „Indem in der Kirche jeder sein religiöses Gefühl nicht allein als ein persönliches, sondern zugleich als ein gemeinsames hat, strebt er also seine Affectionen in die anderen Personen fortzupflanzen und wiederum ihre Affectionen mit darzustellen.“ (PhE 1812/13, 362, §212) Wir hatten bereits gesehen, dass für Schleiermacher die Kirchen aus der Unübertragbarkeit des individuellen Charakters eines religiösen Kunstsystems notwendig entstehen – „als von Natur gegeben“. Das Entscheidende für eine Kirche ist das individuelle Schema des Gefühls – das gemeinsame religiöse Gefühl. Dieses religiöse Gefühl ist einerseits „ein persönliches“ – für jeden Einzelnen als ein abgeschlossenes Dasein, weil das Gefühl eines abgeschlossenen Daseins an sich ursprünglich persönlich sein muss; es ist zugleich auch „ein gemeinsames“ – für jeden Einzelnen als ein Mitglied der durch diesen einzigartigen Charakter vereinigten Masse, und deshalb allen Mitgliedern verständlich. In der zitierten Passage ist damit eigentlich von der gegenseitigen Mitteilung in der Kirche die Rede, wodurch der Übergang vom persönlichen Gefühl zum gemeinsamen Gefühl erfolgt: Ich teile den Anderen meine Erregungen („Affektionen“) mit („fortzupflanzen“),208 um das religiöse Gefühl der Anderen zu affizieren, während die Anderen mir ihre religiösen Erregungen darstellen. Mitteilung und Darstellung der Erregungen sind Ausdruck der Gemütsbewegung (Reaktion). Das gemeinsame religiöse Gefühl gestaltet sich in der gegenseitigen Mitteilung der religiösen Erregungen in der Kirche. Der Verwirklichungsort dieses Vorgangs ist die Kunst. Jeder kann also in der religiösen Gemeinschaft zugleich der Mitteilende und der Empfangende sein. Für Schleiermacher besteht die Bedeutung der gegenseitigen Mitteilung nicht nur darin, dass jeder sich in der Kirche dadurch mit den Anderen verbinden kann und muss, sondern auch darin, dass diese gegenseitige Mitteilung die basale Form für den kirchlichen Gegensatz zwischen Priester und Laien bildet, denn „[a]lle Abstufungen des kirchlichen Gegensazes sind nur verschiedene Sphären und Formen, in denen dieses geschieht“ (ebd.). Die Tatsache, dass das gemeinsame religiöse Gefühl einer Kirche nur in einem intersubjektiven Kommunikationsvorgang möglich ist, untermauert die im Vorangehenden ausgeführte These, dass die Kirche eine gesellige Vereinigung des unter demselben religiösen Charakter stehenden Volkes ist. Aus dem bisher Dargestellten ist zu erkennen, dass zu Schleiermachers Kirchenverständnis in seiner Philosophischen Ethik auch das Thema Kirche und Kunst ge-

Kontinuität zwischen der vierten Rede und der Philosophischen Ethik hin. Gleichzeitig erklärt sie den Zusammenhang zwischen der Geselligkeit und der Kirche, den Schleiermacher im Rahmen seiner Handlungstheorie begründet, für unzureichend (mehr dazu vgl. a. a. O, 131–133). 208 Diese Fortpflanzung der Affektionen in der Kirche lässt sich auch in Schleiermachers Glaubenslehre nachweisen, wo sie als eine „geordnete und gegliederte Fortpflanzung der frommen Erregungen“ präzisiert wird (vgl. CG², §6. Zusaz, 58).

3 Der Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik 

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hört. Die Schlüsselthese zum Zusammenhang von Kirche und Kunst in seiner Philosophischen Ethik war uns bereits begegnet: „In dem Maaß als eine Religionseinheit sich als Kirche ausbildet, bildet sie sich auch ein Kunstsystem an.“ (PhE 1812/13, 360, §200) In dem Vorgang, in dem sich die Kirche als Religionseinheit gestaltet, entwickelt sich immer auch ein Kunstsystem. Gegen Ende unserer Untersuchung des Kirchenbegriffs wollen wir noch einen Blick auf den Zusammenhang zwischen Kirche und Kunst werfen. Schleiermachers Verhältnisbeschreibung von Kirche und Kunst verhilft zugleich dazu, die Beziehung zwischen Religion und Kunst aus einem weiteren Blickwinkel zu verstehen. Schleiermacher präzisiert den engen Zusammenhang von Kirche und Kunstsystem mit der folgenden Aussage: „Die höchste Tendenz der Kirche ist die Bildung eines Kunstschazes, an welchem sich das Gefühl eines jeden bildet, und in welchem jeder seine ausgezeichneten Gefühle niederlegt und die freien Darstellungen seiner Gefühlsweise, so wie sich auch jeder, dessen darstellende Production mit seinem Gefühl nicht Schritt hält, Darstellungen aneignen kann.“ (PhE 1812/13, 362, §213) Vor dem Hintergrund unserer Diskussionen über den Begriff des Gefühls und über die Funktionen der Kunst bei Schleiermacher ist in dieser Passage zu erkennen, dass die Bildung eines Kunstsystems mit Tradition („eines Kunstschazes“) für die Kirche unabdingbar ist, und zwar aus zwei Gründen: Der erste Grund besteht darin, dass das religiöse Gefühl sich an dem Kunstschatz bildet. Dass das Entstehen des Gefühls nur durch die Darstellung des Gefühls der Anderen erfolgt, hat Schleiermacher in verschiedenen Zusammenhängen mehrmals herausgestellt. Der Kunstschatz einer Kirche hat deshalb die Funktion, das Gefühl eines jeden in der Kirche zu affizieren. Das Entstehen des religiösen Gefühls benötigt die Bildung des Kunstschatzes. Der zweite Grund ist mit der Objektivierungsleistung der Kunst verbunden. Durch diese Objektivierungsleistung der Kunst können in dem Kunstschatz einer Kirche nicht nur die momentanen ausgezeichneten Gefühle eines jeden, sondern auch die einzelnen willkürlichen Darstellungen seiner Wahrnehmungsweise festgelegt werden. Diejenigen, die nicht in der Lage sind, das eigene Gefühl durch Kunst darzustellen, können sich die Darstellungen der Anderen in diesem Kunstschatz aneignen. Wir hatten oben bei der Diskussion zur Objektivierungsleistung herausgefunden, dass die momentanen Gefühle und Ausdrücke in der Kunstdarstellung eine Beziehung auf die Verbesserung des Darstellungsmittels und deshalb eine Beziehung auf die Tradition gewinnen, indem die Zeitlichkeit durch die Kunst überwunden wird. Daraus ergibt sich folgender Sachverhalt: In der Bildung eines Kunstschatzes gestaltet sich die Tradition einer Kirche. So ist „[d]ie höchste Tendenz der Kirche“ für Schleiermacher „die Bildung eines Kunstschazes“. Für Schleiermacher hat der Kunstschatz eine weitere wichtige Bedeutung: Dank des Kunstschatzes entsteht ein Kultus. Der Kunstschatz einer Kirche als „Totalität“ der Kunst einer Kirche enthält zwei Kunstformen: die „bleibende“ Kunstwerke er-

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zeugende und die „vergehende“ Kunstwerke erzeugende.209 Zur bleibenden Kunstdarstellung hat jeder Einzelne in der Kirche einen Zugang, weil „der Kunstschaz eine reale Masse bildet“; bei der Erzeugung der vergehenden Kunstwerke ist es anders: „Für die Darstellung unter den vergänglichen Formen aber muß ein Zusammentreten, um das gemeinsame Leben auszusprechen und zu nähren, da sein; weshalb sich an jede Kirche ein Cultus anbildet.“ (PhE 1812/13, 362, §215) Das heißt, die Mitteilung („auszusprechen“) und die Verstärkung („nähren“) des gemeinsamen religiösen Bewusstseins unter den vergehenden Kunstformen benötigt das Zusammentreten der Mitglieder der Kirche. Aus dieser gemeinsamen Teilnahme gestaltet sich ein Kultus, der das gemeinsame religiöse Leben in der Kirche durch Bildung und Ritus pflegt. Kirche und Kultus sind bei Schleiermacher also zwei eng miteinander verbundene Konzepte.210 Aber die Verschränkung von Kirche und Kultus bedeutet nicht, dass Kirche identisch mit dem Kultus ist. Damit verbunden rückt Schleiermachers Gedanke ins Licht, dass Religion nicht identisch mit Kunst ist, obwohl Religion und Kunst sehr eng zusammengehören. „Nach derselben Analogie, wie manches in der Kirche ist und nicht im Cultus, ist es auch zu beurtheilen, daß manches zum Kunstgebiet gehört, was nicht im religiösen Styl ist.“ (PhE 1812/13, 362, §216) Vor dem Hintergrund unserer Rekonstruktion des vorliegenden Textes, dass für Schleiermacher Kunst ein angemesseneres Medium der Religion ist als Sprache, ist in dieser Aussage zu erkennen, dass es nicht nur eine Nähe zwischen den beiden gibt, sondern auch eine Distanz. Im Brouillon zur Ethik – und dort bereits in der allgemeinen Übersicht – beschreibt Schleiermacher das Verhältnis von Religion und Kunst als ein notwendiges Zusammenfallen: „Also muß auch Religion und Kunst zusammenfallen, und die sittliche Ansicht der Kunst besteht eben in ihrer Identität mit der Religion. Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös.“ (Brouillon 100) Aus dieser Aussage erhellt nicht nur der enge Zusammenhang von Religion und Kunst, sondern es zeigt sich zugleich, dass die Sittlichkeit der Kunst in ihrer Vereinigung mit der Religion besteht. Wohl aber verbirgt sich in der berühmten Behauptung – „[d]ie wahre Ausübung der Kunst ist religiös“ – die große Gefahr, dass Kunst durch die Verschmelzung mit Religion und Religion durch die Ästhetisierung ihre jeweilige Eigenständigkeit verlieren können. Während auf dieses Problem im Brouillon zur Ethik noch nicht näher eingegangen wird, verweist Schleiermacher in der Ethik von 1812/13 deutlich auf die Distanz zwischen Religion und Kunst. Ihm zufolge ist der Stil der Kunst für die Klärung der Unterschiede zwischen Religion und Kunst entscheidend. Der Stil ist ein wichtiger

209 Vgl. PhE 1812/13, 362, §214. 210 Zum Begriff des Kultus sowie zum Zusammenhang von Religion und Kultus vgl. Friedrich Schleiermacher: Die praktische Theologie (1850), in: SW I/13, 75–82.

3 Der Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik 

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Begriff in der Romantik, vor allem in der Kunsttheorie.211 Bereits in einer Jugendschrift hatte Schleiermacher diesen Begriff aufgenommen und ihn als „Kunst des Ausdrucks der Vorstellung“ definiert.212 Wir wollen hier skizzieren, wie der Autor anhand des Stilbegriffs die Distanz zwischen Religion und Kunst interpretiert. Nach Schleiermacher gibt es in der Kulturgeschichte zwei erst sehr spät auseinandergegangene Darstellungsarten: den profanen Stil und den religiösen Stil.213 Der profane Stil kennzeichnet die Kunstdarstellung, die sich mehr auf die Richtigkeit des Gefühls richtet; der religiöse Stil hingegen charakterisiert die Kunstdarstellung, die sich mehr auf die Sittlichkeit des Gefühls richtet. Der Richtigkeit des Gefühls geht es darum, „inwiefern nemlich die Affection einer einzelnen sinnlichen Richtung auf die Totalität der sinnlichen Person richtig aufgefaßt wird“ (PhE 1812/13, 363, §218). Das heißt, inwiefern die Erregung einer einzelnen sinnlichen Richtung durch die Kunstdarstellung auf die Ganzheit der sinnlichen Person festgelegt wird. Für Schleiermacher ist diese Darstellung eine profane oder weltliche. Bei der Sittlichkeit des Gefühls handelt es sich hingegen darum, „daß nemlich die Affection der sinnlichen Person selbst nur auf die sittliche Person bezogen wird“ (ebd.). Das heißt: Hier wird die Erregung der sinnlichen Person im Gefühl durch die Darstellung auf die Sittlichkeit erhoben. Berücksichtigt man an dieser Stelle das Religionsverständnis im Brouillon zur Ethik, wonach das Verfahren der Erhebung des Gefühls auf die Potenz der Sittlichkeit Religion ist, so ist nicht verwunderlich, dass Schleiermacher die sich mehr auf die Sittlichkeit des Gefühls gerichtete Darstellung als eine religiöse be-

211 Zum Begriff des „Stil“ in der Romantik vgl. Wolfgang G. Müller: Art. Stil (1998), in: HWPh, Bd. 10, 151–159, bes. 152–153. 212 Schleiermachers frühes Interesse am Begriff des Stils lässt sich schon an seinen Stil-Vorträgen von 1790/91 erkennen, die er während seiner Zeit als Hauslehrer in Schlobitten verfasste (vgl. Friedrich Schleiermacher: Entwurf zur Abhandlung über den Stil [1790/91], in: KGA I/1, 357–361; Über den Stil [1790/91], in: KGA I.1, 363–390). Der Stil wird in diesen Schriften als „Kunst des Ausdruks der Vorstellungen“ (ders.: Entwurf zur Abhandlung über den Stil [1790/91], 359) definiert. Zur Entstehung und Überlieferung dieser frühen Schriften „über den Stil“ vgl. Günter Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers (1984), in: KGA I/1, LIX–LXII. Vgl. ferner Wolfgang Virmond: Schleiermachers Schlobittener Vorträge ‚Über den Stil‘ von 1791 in unbekannten Nachschriften, in: PhJ (106) 1999, 159–185; ders.: Bemerkungen zu Schleiermachers Schlobittener Stil-Vorträgen von 1791. Mit einem Exkurs über die ‚Reden‘ (1799) und Spaldings ‚Religion‘ (1797), in: Akten des 1. internationalen Kongresses 1999 (2000), 247–261. Der Begriff des Stils findet sich bei Schleiermacher nicht allein in seiner Kunsttheorie der Philosophischen Ethik und in seiner Ästhetik, sondern auch in seiner Hermeneutik. Zu seinem Begriff des Stils insgesamt vgl. Inken Mädler, Kirche und bildende Kunst der Moderne. Ein an F. D. E. Schleiermacher orientierter Beitrag zur theologischen Urteilsbildung, Tübingen 1997, 185–191; Manuel Bauer: Schlegel und Schleiermacher. Frühromantische Kunstkritik und Hermeneutik, Paderborn 2011, 212–221. 213 Die Unterscheidung vom profanen Stil und religiösen Stil im Altertum war nicht ausgeprägt: „Im Alterthum gab es weniger einen religiösen und profanen Styl, als nur einen öffentlichen und Privatstyl, und alle öffentlichen Exhibitionen hatten mehr oder minder einen religiösen Charakter.“ (PhE 1812/13, 362–363, §217)

414  Kapitel 4 Der Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik

zeichnet. Indem hier der Unterschied von Richtigkeit und Sittlichkeit des Gefühls der Gegenüberstellung der profanen Darstellung und der religiösen Darstellung zugrunde liegt, lässt sich der Bereich der Kunst in ein religiöses und ein weltliches Kunstgebiet einteilen. Gleichwohl hebt Schleiermacher dann hervor, dass diese beiden Darstellungsarten der Kunst „in der Wirklichkeit“ „aber nicht getrennt sein“ (ebd.) können. Vielmehr liegt diese Teilung nur „im Gedanken“ (ebd.). Diese Untrennbarkeit besteht nicht nur darin, dass „eines [sc. ein Gebiet des Gefühls ] das Maaß des andern“ (ebd.) ist, indem in der Wirklichkeit jedes Kunstgebiet eine Mischung von beiden Darstellungsarten ist und jeweils durch die Dominanz eines Stiles gekennzeichnet wird. Die beiden Darstellungsarten sind für Schleiermacher auch in der „Wechselwirkung“ (ebd.) dadurch verbunden, „daß alles einzelne Profane als Material im Religiösen vorkommen kann, und daß alles Profane, inwiefern es eigentlich irreligiös wäre, auch nicht in das Kunstgebiet gehören könnte“ (PhE 1812/13, 363, §219). Im religiösen Kunstgebiet können alle einzelnen profanen Darstellungen als Material dienen; auch im profanen Kunstgebiet muss das religiöse Element irgendwie enthalten sein, sonst gehörten die profanen Darstellungen nicht mehr zum Kunstgebiet. Daraus ergibt sich, dass nach Schleiermacher alle Kunst mehr oder weniger religiös sein muss. Das bedeutet gleichwohl nicht, dass alle Kunstgebiete durch den religiösen Stil gekennzeichnet sein müssen. Denn das religiöse Element im profanen Stil reicht nicht, um ein religiöses Kunstgebiet zu bilden. So heißt es bei Schleiermacher, dass „manches zum Kunstgebiet gehört, was nicht im religiösen Styl ist“ (PhE 1812/13, 362, §216). Für unseren Autor besteht die Relation zwischen profanem und religiösem Kunstgebiet schließlich darin, dass „die höchste Stufe des Gefühls das religiöse ist und auch der Gipfel aller Kunst auch die religiöse“ (PhE 1812/13, 273, §69) ist. Indem die religiöse Kunst also als Gipfel aller Kunst bezeichnet wird, gilt das profane bzw. weltliche Kunstgebiet für Schleiermacher nur als eine zweite Klasse der Kunst.214 Aus dem gerade Skizzierten erklärt sich, dass Religion nicht identisch mit Kunst ist. Für den Unterschied zwischen Religion und Kunst ist der Stil entscheidend. Die Teilung des Kunstgebiets, die durch den Stil entsteht, hat eine hohe Bedeutung für Schleiermachers Verhältnisbestimmung von Religion und Kunst. Die Bedeutung des Stils lässt sich nicht allein in seiner Vorlesungsvorlage zur Ethik von 1812/13 und in

214 Zum Unterschied von religiösem und geselligem Stil bei Schleiermacher hat Thomas Lehnerer in seiner hervorragenden Monographie eine ausführliche Studie gemacht. In unserer Untersuchung wollen wir auf dieses Thema deshalb nicht mehr näher eingehen. Thomas Lehnerer: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (1987), 348–368. Zu diesem Thema vgl. ferner Theodor Jørgensen: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis (1977), 275, 279–280; Inken Mädler: Kirche und bildende Kunst der Moderne (1997), 191–198, 296–349; Christiane Braungart: Mitteilung durch Darstellung (1998), 321–324; Dorothee Schlenke: „Geist und Gemeinschaft“ (1999), 129; Anne Käfer: „Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös“ (2006), 246–248.

3 Der Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik  415

den Bemerkungen zur Ethik von 1832 nachweisen.215 Schleiermacher hat diesen Begriff beispielsweise auch in der Ästhetikvorlesung von 1819216 und in der praktischen Theologie in verschiedenen Zusammenhängen bearbeitet.217 Bis hierher haben wir Schleiermachers Kirchenverständnis in seiner Philosophischen Ethik in Bezug auf die Hallenser Ethikvorlesung bzw. auf das Brouillon zur Ethik (1805/06) und auf die Berliner Ethikvorlesung von 1812/13 untersucht. Der Grundgedanke dieses Kirchenbegriffs lässt sich bereits in seinen Grundzügen auf die vierte Rede seiner Reden über die Religion (1799) zurückzuführen. Nun dürfen wir ein gesamtes Bild für den Kirchenbegriff seiner Philosophischen Ethik in einer kurzen Zusammenfassung geben. Schleiermachers Kirchenbegriff der Philosophischen Ethik ist eine Theorie der religiösen Gemeinschaft, genauer genommen, eine Theorie der Vergemeinschaftung religiöser Ausdruckstätigkeit. Im Kontext der Frühromantik versteht der junge Autor die Kirche bereits in der vierten Rede sozialphilosophisch als Ort für die gegenseitige Mitteilung der Religion und als Ort der religiösen Geselligkeit. Im Rahmen seiner als Handlungstheorie entworfenen Philosophischen Ethik gehört Kirche ebenso wie Religion zum Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens und gilt als Vollzug dieser Handlungstätigkeit. Die Idee der Kirche gründet in der Individualisierung der Darstellung des gemeinsamen Gefühls. Der individuelle religiöse Charakter macht die Religionseinheit aus, die die Kirche als eine religiöse Gemeinschaft voraussetzt. Insofern ist Schleiermachers Kirchenbegriff in der Philosophischen Ethik zugleich ein Begriff der Vergemeinschaftung religiöser Ausdruckstätigkeit. Während eine Institutionstheorie im frühromantischen Konzept der Kirche in der vierten Rede noch fehlt, erweitert Schleiermacher sein Kirchenverständnis mit der Philosophischen Ethik: Kirche ist hier eine institutionelle Einrichtung, die genetisch durch den Gegensatz von Priestern und Laien gestaltet werden soll. Insofern ist Kirche für Schleiermacher die gesellige und institutionelle Vereinigung derjenigen Menschen, die unter dem Gegensatz von Priester und Laien stehen. Die Individualität der Kirche als Religionseinheit ist die höchste Individualität. Wie bereits herausgearbeitet besteht die Interdependenz von Religion und Kunst darin, dass sich die Religion als Ethisierung des Gefühls auf besonders angemessene Weise durch die Kunst verwirklicht. Auf die Interdependenz von Religion und Kunst gründet sich der enge Zusammenhang von Kirche und Kunst: In dem Vorgang, in dem sich die Kirche als Religionseinheit gestaltet, entsteht zugleich immer auch ein Kunstsystem. Die Tradition einer jeden Kirche bringt stets einen

215 Vgl. Bemerkungen 1832, 648–649. 216 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Ästhetik (1819), in: ders.: Ästhetik (1819/25); Über den Begriff der Kunst (1831/32)(1984), 74–77. 217 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Die praktische Theologie (1850), in: SW I/13, 86–92, 738–740 und 791–794.

416  Kapitel 4 Der Begriff des individuellen Symbolisierens in der Philosophischen Ethik

Kunstschatz hervor. Gleichwohl benennt Schleiermacher auch die bleibende Distanz zwischen Religion und Kunst: Religion ist nicht identisch mit der Kunst, obwohl beide ja eng zusammengehören. Denn es gibt eine Kunst, die nicht zum religiösen Kunstgebiet gehört. Für den Unterschied zwischen religiösem und profanem Kunstgebiet ist der jeweilige Stil entscheidend. Der Kirchenbegriff der Philosophischen Ethik Schleiermachers steht im Kontext der allgemeinen Religionsgeschichte. So war das schon in der ersten Fassung dieses Kirchenbegriffs in der vierten Rede. Ein anderer Kirchenbegriff findet sich hingegen in seiner christlichen Dogmatik, die im Horizont der genuin christlichen Theologiegeschichte steht. Aus diesem Grund kann sich die Kirche als religiöse Gemeinschaft mit ihrem individuellen Charakter in ganz unterschiedlichen Glaubensformen ganz unterschiedlich zeigen. In dieser Hinsicht kann der Kirchenbegriff in seiner Philosophischen Ethik dazu dienen, die Pluralität der Religionen und der religiösen Gemeinschaften zu verstehen.

Schluss Religion und Individualität stehen für Schleiermacher in einem inneren Verweisungszusammenhang. So kann ein wesentlicher Ertrag seiner frühromantischen Werkphase bilanziert werden. Weder ist Religion ohne ein anspruchsvolles Individualitätskonzept zu verstehen, noch lässt sich die vollständige Entwicklung von Individualität ohne Inanspruchnahme religiöser Auslegungsvollzüge denken – das hat der erste Hauptteil der vorliegenden Studie rekonstruiert.1 Darauf aufbauend hatte der zweite Hauptteil der vorliegenden Studie die Weiterentwicklung dieses Zusammenhangs in der werkgeschichtlich anschließenden Phase zum Gegenstand. Ziel dieser Weiterführung sollte es sein, die werkgenetische Umformung des Wechselverhältnisses von Religion und Individualität in Schleiermachers Vorlesungen zur Philosophischen Ethik zu untersuchen. Im Folgenden soll nun der Ertrag der gesamten Studie zusammengefasst werden. Dabei werden wir aber auf eine Wiederholung der werkgenetischen Einzelergebnisse verzichten und vielmehr die Grundlinien der gedanklichen Entwicklung in drei aufeinander aufbauenden Schritten systematisch entfalten.

a. Zum Individualitätsverständnis In seiner frühromantischen Werkphase schließt sich das Thema Individualität an die anthropologische Fragestellung der Aufklärung an. Mit dem Anschluss an die Frage nach dem Wesen des Menschen, vor dem Hintergrund der Subjektivitätsproblematik seit der Neuzeit einerseits und im Kontext der Weiterentwicklung des in der abendländischen Metaphysik verwurzelten Individuationsproblems andererseits, entwickelt Schleiermacher in engem Zusammenhang mit seinen frühen Spinoza-Studien ein frühromantisches Individualitätskonzept. In der Philosophischen Ethik hat Schleiermacher zwar kein neues Individualitätskonzept entwickelt. Allerdings wurde die Individualitätstheorie seiner frühromantischen Werke im Rahmen seiner handlungstheoretischen Kulturphilosophie erweitert und vertieft. Dieses Zugleich von unveränderter Grundposition einerseits und akzentverschiebender Transformation andererseits resultiert vor allem aus der Einbettung des frühromantischen Individualitätsverständnisses in ein rationales Systemdenken. Die neuen Akzente und Perspektiven lassen sich in vier Punkten zusammenfassen. 1. Der Gedanke, dass die Suche nach der eigenen Individualität zugleich eine ethische Aufgabe ist, klang bereits in Schleiermachers frühromantischer Individualitätstheorie an. In der Philosophischen Ethik wird dieser Aspekt der Individualität jedoch genauer akzentuiert und systematisch begründet. Bildung zur Individuali-

1 Vgl. dazu oben: Zwischenertrag, 167–171. https://doi.org/10.1515/9783110664393-009

418  Schluss

tät – gleichsam eine nicht zuletzt auch religionsreformerische Programmformel der frühromantischen Phase – muss als ein ethischer Prozess gedacht werden, der als solcher einen spezifischen Ort im Geflecht von Pflichten, Tugenden und Gütern hat. 2. Wird die Philosophische Ethik als Kulturphilosophie gelesen, so gewinnt Schleiermachers Individualitätskonzept ebenfalls eine kulturtheoretische Bedeutung. Durch das eigene Handeln leistet jedes Individuum einen eigenen Beitrag zur Kultur. Überindividuelle Kultur ist somit das Resultat individueller Bildungsprozesse. Umgekehrt ist die Bildung zur Individualität ein kulturrelativer Vorgang. Ohne Kultur ist die Bildung zur Individualität unmöglich. In der kulturphilosophischen Vertiefung seines Individualitätskonzepts hat Schleiermacher somit bereits die Einsicht in die Interdependenz von individuellem und kollektivem Gedächtnis präfiguriert, die seit Maurice Halbwachs (1877–1945) für die modernen Kulturwissenschaften grundlegend geworden ist.2 3. Im Rahmen seiner als Vernunfttheorie entfalteten Ethik versteht Schleiermacher Individualität als spezifische Erscheinungsform von Vernunft. Individuelle Vernunft bildet mit ihrem relativen Gegensatz zur identischen Vernunft ein Grundprinzip der Kulturtheorie und ist als solches ein wesentliches Aufbaumoment im Quadruplizitätsschema menschlicher Handlung. Individuelle Vernunft fungiert als Handlungsträger der Handlungstheorie. Damit bereichert Schleiermacher sein bereits in den Monologen (1800) vorgelegtes Individualitätskonzept um eine vernunfttheoretische Dimension. 4. Die wichtigste Entwicklung seiner Individualitätstheorie im Kontext der Philosophischen Ethik besteht darin, dass Schleiermacher Individualität durch den Charakter der Unübertragbarkeit näher bestimmt. Diese Näherbestimmung von Individualität wird für den ethischen Religionsbegriff entscheidend und damit zugleich für die Weiterbestimmung des Verhältnisses von Religion und Individualität in dieser Werkphase. Die Sequenz dieser neuen Aspekte – also der ethische Akzent, die kulturtheoretische Bedeutung, die vernunfttheoretische Perspektive und der Charakter der Unübertragbarkeit – lässt, ohne die kulturtheoretische Bedeutung der Individualität zu schmälern, deren Eingebundenheit in intersubjektive Kommunikationsprozesse und überindividuelle Vermittlungsmedien stärker hervortreten. Schon bei Schleiermacher in seiner frühromantischen Werkphase sind Individualität und Sozialität kein Gegensatz – Individualität lässt sich nur in einem intersubjektiven Kommunikationsvorgang (unten den Begriffen der Mitteilung und der Geselligkeit) aufbauen. Trotz der Zuschreibung der Unübertragbarkeit als Kennzeichen für Individualität

2 Vgl. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (1925). Aus dem Französischen von Lutz Geldsetzer, Frankfurt a. M. 1985; ders.: Das kollektive Gedächtnis (1950). Mit einem Geleitwort zur deutschen Ausgabe von Heinz Maus. Aus dem Französischen von Holde Lhoest-Offermann, Stuttgart 1967.

b. Zum Religionsverständnis

 419

verstärkt seine Philosophische Ethik diese Interdependenz. Die Kommunikation der Individuen in individuellen Handlungssphären wird durch die intersubjektive Offenbarung ermöglicht. In gleichem Maße wie durch die Unübertragbarkeit von Individualität ist das Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens bzw. des Gefühls auch durch die Zusammengehörigkeit jedes Individuums mit den Anderen charakterisiert.

b. Zum Religionsverständnis Im Vergleich zu seinem Individualitätskonzept erlebt Schleiermachers Religionsverständnis in der Philosophischen Ethik eine weiterreichende Umformung. Diese religionstheoretische Weiterentwicklung lässt sich durch drei methodische Ansatzpunkte bestimmen: Eine kulturanthropologische Ausweitung der Religionstheorie (1), eine subjektivitätstheoretische Neubestimmung der vermögenspsychologischen Grundlagen (2) sowie eine kulturtheoretische Einordnung der Religion in ein Gesamtsystem und die Verhältnisbestimmung zu benachbarten Elementen desselben (3). Aus dieser Neuentwicklung ergibt sich ein ethischer Religionsbegriff. 1. Im Anschluss an die Aufklärungstraditionen und zugleich auch in Abgrenzung sucht Schleiermacher in seiner religionstheoretischen Schrift Reden über die Religion (1799) nach einer anthropologischen Fundierung der Religion, die nicht zuletzt auch die Selbstständigkeit der Religion sicherstellt. Mit der Philosophischen Ethik wird diese Begründungsstrategie kulturtheoretisch ausgeweitet. Religion wird aus ihrer Verortung im System der Handlungsweisen der Vernunft verständlich gemacht. Anders formuliert: Religion wird im Kontext einer umfassenden Kulturtheorie als ein spezifisches Kulturphänomen interpretiert. Mit dieser kulturtheoretischen Rekonstruktion des Religionsbegriffs wird nicht nur der unverwechselbare und unersetzbare Platz der Religion in der menschlichen Kultur plausibilisiert, sondern es werden auch ihre Zusammenhänge mit den anderen Kulturbereichen geklärt. Im kulturtheoretischen Explikationsrahmen gelingen Schleiermacher gegenüber den Reden sowohl differenziertere Abgrenzungen als auch Verhältnisbestimmungen. Allerdings darf man die kulturtheoretische Begründung der Religion in der Philosophischen Ethik nicht als einen Gegenentwurf zur anthropologischen Begründung der Religion in den Reden betrachten. Vielmehr muss die kulturtheoretische Begründung von Religion in der Ethik als eine echte Weiterentwicklung jener Position bezeichnet werden. Denn Schleiermachers handlungs- und vernunfttheoretische Kulturphilosophie kann zugleich als Anthropologie – genauer genommen als Kulturanthropologie – verstanden werden. Dieser kulturanthropologische Zugang zur Religion darf als eine der wichtigsten Leistungen Schleiermachers betrachtet werden – gerade auch angesichts der massiven Vorbehalte innerhalb der Theologie im 20. Jahrhundert.

420  Schluss

2. Die kulturtheoretische Verortung der Religion in der Philosophischen Ethik bringt auch eine grundlegende Umstellung in den subjektivitätstheoretischen Grundbegriffen mit sich. In Abgrenzung zu Metaphysik und Moral verortet Schleiermacher in den Reden von 1799 Religion vermögenspsychologisch in Anschauung und Gefühl, wobei erstere der klare Leitbegriff ist. Anschauen des Universums gilt als wesens- und grenzbestimmender Maßstab für das Phänomen Religion. Im Vergleich dazu tritt die Bedeutung des Gefühls in den Hintergrund, obwohl das Gefühl als Innewerden der eigenen Zustände der Anschauung des Universums im Bewusstsein ebenfalls eine unentbehrliche Rolle für die Vollendung der Religion spielt. In der Philosophischen Ethik kommt es nun aber zu einer systematischen Aufwertung des Gefühls zum religions- und individualitätstheoretischen Grundbegriff. Während Anschauung jetzt zum Handlungsgebiet des identischen Symbolisierens bzw. zum Wissen gehört, wird Religion im Handlungsgebiet des individuellen Symbolisierens bzw. im Gefühl verortet. Anschauung und Gefühl gehören in der Philosophischen Ethik somit zu unterschiedlichen Kulturbereichen und das Gefühl ersetzt die Anschauung als Leitbegriff für sein Religionsverständnis. Unter dem Einfluss der schellingschen Naturphilosophie und im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Aufbau des eigenen handlungstheoretischen Systems kann Schleiermacher so im Brouillon zur Ethik (1805/06) einen ethischen Religionsbegriff entwickeln: Religion wird diesem kulturanthropologischen Ansatz zufolge als Ethisierung des Gefühls verstehbar. Religion als ein ethischer Prozess bedeutet gemäß dieser Hallenser Ethikvorlesung, dass das sinnliche Gefühl in der Religion auf die Ebene der Sittlichkeit erhoben wird. Diese konzeptionelle Neubestimmung der Religion ist die wichtigste Wende in der religionstheoretischen Entwicklung Schleiermachers. Der weitreichende Einfluss dieser Umbildung zeigt sich vor allem in seiner Glaubenslehre. 3. Neben der kulturanthropologischen Rekonstruktion des Religionsbegriffs und der subjektivitätstheoretischen Verortung desselben zeigt sich eine Weiterentwicklung auch in der Diskussion über das Verhältnis von Religion und Kunst. Für dieses zentrale Thema seines in der Philosophischen Ethik entfalteten Religionskonzepts gilt die kategoriale Umstellung im Brouillon zur Ethik als Denkvoraussetzung. Das Gewicht in den Ethikvorlesungen seiner Berliner Reifezeit (1812–1817) liegt im Anschluss an den dort entwickelten ethischen und im Gefühl gründenden Religionsbegriff darauf, den ethischen Prozess näherzubestimmen. Diese Fragestellung wird vor allem durch die Verhältnisbestimmung von Religion und Kunst erörtert. Religion und Kunst haben bei Schleiermacher eine gemeinsame Wurzel im Gefühl. Religion gründet in der Ethisierung des Gefühls, Kunst ist der im Vergleich zur Sprache angemessenere Ausdruck für das unübertragbare Gefühl. Religion und Kunst sind insofern elementar miteinander verbunden, als die Ethisierung des Gefühls nur durch die Darstellung der Kunst verwirklicht wird. In diesem Zusammenhang schließt die Funktion der Kunst zwei eng verbundene Dimensionen ein: zum einen die Objektivierung des Gefühls und zum anderen die Mitteilung des Gefühls. Die

c. Zum Verhältnis von Religion und Individualität 

421

beiden Leistungen tragen gemeinsam dazu bei, dass Religion ihren Realisierungsort in der Kunst hat.

c. Zum Verhältnis von Religion und Individualität Die vermittels der kulturanthropologischen Ausweitung, der subjektivitätstheoretischen Umstellung und kulturtheoretischen Konkretion vollzogene Weiterentwicklung des Religionsverständnisses zu einem ethischen Religionsbegriff in der Philosophischen Ethik hat nun auch Konsequenzen für die Diskussion über den Zusammenhang von Religion und Individualität bei Schleiermacher. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass der ethische Religionsbegriff die Interdependenz von Religion und Individualität, die Schleiermacher bereits in seiner frühromantischen Werkphase entdeckt und bearbeitet hat, deutlich vertieft. Im Folgenden wird diese Modifikation am Leitfaden der im vorigen Abschnitt unterschiedenen drei methodischen Ansatzpunkte zusammengefasst. 1. Mit der kulturanthropologischen Entwicklung des Religionsbegriffs erweitert Schleiermacher zunächst seine frühromantische Position, der zufolge Individualität nur in religiösen Selbstauslegungsvollzügen vollständig zu sich selbst kommen kann. In den kulturtheoretischen Horizont übertragen bedeutet das zunächst, dass Religion einen Teilbereich der Kultur absteckt, der essentiell auf die Bildung zur Individualität ausgerichtet ist. Die von den älteren Säkularisierungsdebatten bis zur zeitgenössischen Modernitätskritik eines kirchlichen Christentums zu findende Unterstellung eines vermeintlichen Gegensatzes zwischen Religion und gesteigerter Individualitätskultur würde im Lichte von Schleiermachers Philosophischer Ethik bereits der kulturtheoretischen Spezifikation von Religion widersprechen. Ebenso wie in seinen frühromantischen Werken ist Religion für Schleiermacher auch im Kontext der Kulturtheorie eine Angelegenheit des Menschen, d. h. ein spezifischer Bereich humaner Realisierung von Vernunft in der Natur. Die Bildung zur Individualität ist ein eminenter Bestandteil humaner Kulturleistung: Religion ist der Ort in der Kultur für das individuelle Menschwerden. Umgekehrt gilt dabei zugleich: Religion kultiviert Individualität – das führt zum nächsten Punkt. 2. Die Verstärkung der Interdependenz von Religion und Individualität in Schleiermachers Philosophischer Ethik ist grundlegend durch die kategoriale Umstellung seines Religionsverständnisses bestimmt. Als Leitbegriff für sein Religionsverständnis in den Reden hat das Anschauen einen deutlichen Gegenstandsbezug. Religion ist Anschauung des Universums oder Anschauung des Unendlichen. Die tiefe Verquickung von Religion und Individualität in seinem frühromantischen Religionsverständnis erklärt sich daraus, dass Schleiermacher diese Gegenständlichkeit näherhin als Teil-Ganzes-Struktur versteht. Weil das Unendliche immer nur in seiner Darstellung im Endlichen angeschaut werden kann, ist Anschauung notwendig individuell. Durch die in der Philosophischen Ethik vorgenommene Umstellung auf

422  Schluss

das Gefühl als neuem Leitbegriff für sein Religionsverständnis fällt gegenüber der Intentionalitätslastigkeit der Reden ein deutlicher Akzent auf die Dimension des Selbstverhältnisses in der Religion. Mit der Akzentuierung dieser Dimension wird der individuelle Charakter der Religion stärker betont. An dieser Akzentuierung des Selbstverhältnisses durch den vielschichtigen Begriff des Gefühls und der damit verbundenen Betonung des Individualitätscharakters lassen sich näherin drei Theorieperspektiven differenzieren. Zunächst resultiert die Dimension des Selbstverhältnisses der Religion bereits im Brouillon zur Ethik grundsätzlich aus der Näherbestimmung des Gefühls als individuelles Erkennen. Im Kontext dieser erkenntnistheoretischen Interpretation des Gefühls entwickelt Schleiermacher seinen ethischen Religionsbegriff. Dabei bleibt das seit den Reden für die Religion charakteristische Strukturmerkmal einer Beziehung des Endlichen zum Unendlichen auch in der Ethik bestehen bzw. kehrt nun als die Vereinigung des abgeschlossenen Individuums mit dem Unendlichen wieder. Näher gesehen wird im Religionsverständnis der Philosophischen Ethik der dynamische Vorgang fundamental, in dem das Sinnlich-Empirische im Erkennen durch die Beseelung der Vernunft auf die Ebene der Sittlichkeit erhoben wird. Religion ist eine Selbsttätigkeit der Vernunft des individuellen Subjekts und somit rückgebunden an dessen empirische Ausgangsbedingungen. Aus dieser ethischen Rekonstruktion des Religionsbegriffs erklärt sich, dass es sich bei Religion um die Selbstbildung zur Sittlichkeit, d. h. um die Selbstversittlichung im Gefühl, handelt. Sodann erfährt das religiöse Selbstverhältnis in den Berliner Ethikvorlesungen eine Interpretation des Gefühls als Ausdrucksphänomen. Das Gefühl drückt die eigenen inneren mentalen Bewusstseinszustände des Einzelwesens unmittelbar aus. Anders als der Gedanke ist das Gefühl als Ausdruck noch innerhalb des Selbstverhältnisses konzipiert. Mit diesem rein in sich zurückgehenden Charakter ist die Unübertragbarkeit des Gefühls unmittelbar verbunden. Weil Religion subjektivitätstheoretisch im Gefühl verortet wird, ist sie also für Schleiermacher ebenfalls ein Ausdrucksphänomen. Religion ist ein Ausdruck der inneren mentalen Zustände. Mit der oben bereits genannten und für die Religion nach wie vor wesentlichen Unendlichkeitsdimension verschränkt bedeutet das, dass sie die eigenen inneren mentalen Zustände des Einzelwesens in seiner Vereinigung mit dem Unendlichen ausdrückt. Von diesem inneren Zusammenhang her wird dann auch verständlich, was genauer unter der Versittlichung des individuellen Gefühls in der religiösen Kultursphäre zu verstehen ist. Der Betonung des Selbstverhältnisses in der Religion liegt schließlich die Bestimmung des Gefühls in den Berliner Ethikvorlesungen als unmittelbares Selbstbewusstsein zugrunde. Mit dem Begriff des Selbstbewusstseins baut Schleiermacher sein Verständnis des Gefühls in einer subjektivitätstheoretischen Dimension weiter aus. Das Gefühl als unmittelbares Selbstbewusstsein enthält zwei miteinander verbundene Elemente: Das empirisch bestimmte und vereinzelnde Veränderlichkeitsbewusstsein und das absolute Abhängigkeitsbewusstsein. Das Gefühl ist somit nicht

c. Zum Verhältnis von Religion und Individualität  423

nur der Ort des Innewerdens der wechselnden Zustände des Subjekts, sondern stiftet zugleich auch unter diesen einen Zusammenhang. Im unmittelbaren Selbstbewusstsein zeigt sich die Individualität im höchsten Maß, woraus die Unübertragbarkeit des Gefühls resultiert. Das Merkmal der Individualität und Unübertragbarkeit des Gefühls ist jedoch verschränkt mit der Auffassung der Religion als Ethisierung des Gefühls. Als Maßstab für die Sittlichkeit des Gefühls gilt das Hervortreten des identischen Selbstbewusstseins, das durch die Wechselwirkung von Objektivierung und Mitteilung der Kunst möglich wird. Die subjektivitätstheoretische Bestimmung des Gefühls hebt deshalb in der Religion nicht nur die Dimension der Selbstbeziehung heraus, sondern sie markiert zugleich auch die Schnittstelle, an der Religion als eine Selbstbildung zur Sittlichkeit ansetzt. In den oben genannten Theoriedimensionen des Gefühls in der Philosophischen Ethik– der erkenntnistheoretischen, ausdruckstheoretischen und subjektivitätstheoretischen – zeigt sich, dass Schleiermachers Kulturphilosophie die im Gefühl fundierte Religion in einer vieldimensionalen Vertiefung des Selbstverhältnisses in den Blick nimmt. Durch diese Vertiefung des Selbstverhältnisses wird der individuelle Charakter von Religion in der Philosophischen Ethik begründet. Gleichwohl hat die Interdependenz von Religion und Individualität gerade auch in der Kulturphilosophie nicht den Gegensatz von Religion und Sozialität zur Folge. Das resultiert aus einem weiteren theoretischen Aspekt des Gefühls in der Ethik – dem kommunikationstheoretischen und sozialphilosophischen. Bereits in seiner frühromantischen Werkphase sind Individualität und Sozialität für Schleiermacher kein Gegensatz, sondern die durch die Geselligkeit und die Mitteilung charakterisierte Kommunikation ist unentbehrlich für den Vollzug religiöser Individualität. Damit eng verbunden interpretiert er die Kirche sozialphilosophisch als eine freie religiöse Gemeinschaft, die als Ort für die gegenseitige Mitteilung der Religion dient. In der Philosophischen Ethik macht Schleiermacher diese Position noch deutlicher. Er begründet nicht nur seinen frühromantischen Begriff der Geselligkeit mit einem handlungstheoretischen Schema, sondern er führt auch den wichtigen Begriff der Offenbarung in die Problematik ein, um zu klären, wie die intersubjektive Kommunikation im Gebiet des Gefühls trotz seiner wesenhaften Unübertragbarkeit möglich ist. Demzufolge kommunizieren die Menschen in diesem Handlungsgebiet vermittels des durch das gegenseitige Ahnen-Andeuten strukturierten Offenbarungsverhältnisses. Die Mitteilung der Kunst ermöglicht dieses Offenbarungsverhältnis, was zum letzten Punkt überleitet. In diesem Kontext ist jedoch entscheidend, dass damit der Kirchenbegriff der Philosophischen Ethik unmittelbar verbunden ist: Aus der notwendigen intersubjektiven Mitteilung des religiösen Gefühls ergibt sich eine religiöse Gemeinschaft – die Kirche. Damit baut Schleiermacher seine frühromantische Fassung des Kirchenbegriffs in den Reden aus. Hierbei zeigt sich zugleich die Entwicklung seines sozialphilosophischen Kirchenbegriffs: Während er in den Reden auf eine Institutionstheorie verzichtet, gilt die Kirche in seiner Philosophischen Ethik als eine institutionelle Einrichtung.

424  Schluss

Aus dem kommunikationstheoretischen Aspekt des Gefühls wird also in der Philosophischen Ethik begründet, dass Religion, obwohl ihr Individualitätscharakter durch die subjektivitätstheoretische Näherbestimmung des Gefühls als unmittelbares Selbstverhältnis verstärkt wird, wesentlich auf eine Sozialform bezogen ist. Die in der Gefühlskonzeption wurzelnde Privatheit der Religion steht somit nicht in einem notwendigen Widerspruch zur Sozialität derselben – nach Schleiermacher fordern sich vielmehr beide wechselseitig. Für die zeitgenössischen Debatten um Institutionalisierungsformen von Religion kann hierin ein wichtiger Orientierungspunkt gesehen werden. 3. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Näherbestimmung von Religion und Kunst, wie sie in der Philosophischen Ethik erfolgt, für das Verhältnis von Religion und Individualität einschlägig ist. Mit der kulturphilosophischen Entwicklung des Religionsbegriffs in der Philosophischen Ethik zeigt Schleiermacher, dass Religion als ein ethischer Prozess zugleich die Selbstbildung zur Sittlichkeit bedeutet. Dieser ethische Vollzug verwirklicht sich auf besonders angemessene Weise durch die Kunst. In der Untersuchung des Gefühls als Ausdrucksgeschehen hat sich gezeigt, dass Kunst kulturtheoretisch als Ort für die Selbstmanifestation von Individualität näher bestimmt wird. Nicht nur Religion, sondern auch Kunst ist unentbehrlich für die Bildung der Individualität. Da jedoch auch die Religion von Schleiermacher in dieser Kultursphäre zu begreifen ist, findet auch sie in der Kunst eine adäquate Darstellungsebene. In der Kunst manifestiert sich das Humanum nicht nur in seiner Individualität, sondern auch religiös. Vor diesem Hintergrund erklärt sich der Zusammenhang von Religion, Individualität und Kunst wie folgt: Das Verhältnis von Religion und Individualität gestaltet sich im Kunsterlebnis. Von der Verhältnisbestimmung von Religion und Kunst in der Philosophischen Ethik aus eröffnet sich auch eine neue Perspektive für den Aspekt der Religion und Individualität, den wir im ersten Hauptteil der vorliegenden Untersuchung als einen religionsgeschichtlichen Aspekt bezeichnet haben, d. h. für das Thema der Pluralität historischer Religionen. Seiner Wesensbestimmung der Religion entsprechend sieht Schleiermacher in der frühromantischen Schrift die Grundanschauung oder – in seinen Worten – Zentralanschauung als entscheidend für die Individualität einer positiven Religion. In der Philosophischen Ethik ist die religiöse Pluralität durch das Verhältnis von Religion und Kunst bestimmt. Verwirklicht sich Religion als ein ethisch-individueller Prozess auf besonders angemessene Weise in den Ausdrucksvollzügen der Kunst, so zeigt sich auch die Individualität der Religion durch die verschiedenen Ausdrucksgestalten der Kunst. Das heißt, das gemeinsame religiöse Gefühl gestaltet sich individuell auf der Ebene der Darstellung. Kunst ist also nicht nur die Manifestation der Individualität des Menschen, sondern auch die Manifestation der Individualität der geschichtlichen Religionen. Blickt man auf das Thema Religion und Individualität in beiden werkgeschichtlichen Prägephasen Schleiermachers – in seiner frühromantischen Werkphase und in seiner Philosophischen Ethik – insgesamt zurück, so kann der religionsphiloso-

c. Zum Verhältnis von Religion und Individualität 

425

phische Hauptertrag der vorliegenden Untersuchung in folgender These zusammengefasst werden: Zwischen beiden Werkphasen besteht eine innere Kontinuität der Gedanken über das vieldimensionale Wechselverhältnis von Religion und Individualität. In engster Verbindung mit seinem frühromantischen Individualitätskonzept entwickelt Schleiermacher in den Reden über die Religion einen individualitätstheoretischen Religionsbegriff. Damit erbringt er bereits in seiner ersten werkgeschichtlichen Prägephase eine Pionierleistung für das Thema Religion und Individualität. Mit seinen Vorlesungen zur Philosophischen Ethik baut er diesen individualitätstheoretischen Religionsbegriff systematisch aus, indem er Religion in einem handlungstheoretisch und ethisch entfalteten System verordnet. Ebenso wie in seiner frühromantischen Werkphase ist die Interdependenz von Religion und Individualität für Schleiermacher in seiner als Kulturtheorie rezipierten Philosophischen Ethik essentiell – sie gründet im Wesen der Religion. Vor dem Hintergrund der Interpretation in seiner frühromantischen Werkphase hat Schleiermacher die Interdependenz von Religion und Individualität in der Philosophischen Ethik vielfach vertieft, aber auch neu akzentuiert. Die Grundlage dieser Umformung ist ein neu erarbeitetes Religionsverständnis. Die Weiterentwicklung des Themas ist von beiden Seiten der Problematik zu erkennen: Der individuelle Charakter der Religion wird durch das Selbstverhältnis im wesenhaft unübertragbaren Gefühl hervorgehoben; die religiöse Bedeutung der Individualität wird durch die Versittlichung der Individualität im Horizont des Unbedingten und allgemein Humanen gewonnen – Religion ist also der Ort in der Kultur für die ethische Bildung der Individualität. Gerade in der kulturphilosophischen Rekonstruktion dieser Interdependenz bleibt die Sozialität des Religiösen elementar. Die Interdependenz von Religion und Individualität schließt nicht nur die Kirchlichkeit nicht aus, sondern sie entsteht förmlich aus dem Ausdrucksbedürfnis des religiösen Gefühls. Mit der kulturtheoretischen Rekonstruktion des Religionsbegriffs in seiner Philosophischen Ethik leistet Schleiermacher deshalb nicht allein einen weiteren wichtigen Beitrag für die Geschichte der Religionstheorie, indem er Religion zum Gegenstand der Kulturwissenschaft im modernen Sinne macht, sondern er eröffnet damit zugleich einen vielschichtigen und fruchtbaren Raum für den gegenwärtigen Diskurs über die Zusammenhänge von Religion und Individualität. Die werkgenetische Rekonstruktion zeigt die innere Kontinuität der Gedanken über das vieldimensionale Wechselverhältnis von Religion und Individualität in seiner frühromantischen Werkphase und in seiner Philosophischen Ethik. Dadurch erscheint auch der oft betonte Gegensatz zwischen dem Schleiermacher der Reden (1799) und der Glaubenslehre (1830/31) in einem anderen Licht. Diese Rekonstruktion kann deshalb dazu beitragen, seine gedankliche Entwicklung von den Reden bis zur Glaubenslehre zu entschlüsseln.

Quellen- und Literaturverzeichnis I Quellen 1 Schriften Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers 1.1 Werkausgaben a) Friedrich Schleiermacher’s Sämmtliche Werke, 30 Bände in 31, Berlin 1834–1864 [SW]. SW I/12: Die christliche Sitte nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt von Dr. Friedrich Schleiermacher. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg. von Ludwig Jonas, Berlin 1843 [Die christliche Sitte]. SW I/13: Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt von Dr. Friedrich Schleiermacher. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg. von Jacob Frerichs, Berlin 1850 [Die praktische Theologie]. SW III/3: Reden und Abhandlungen, der Königl. Akademie der Wissenschaften vorgetragen. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse, hg. von Ludwig Jonas, Berlin 1835. SW III/5: Entwurf eines Systems der Sittenlehre. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse, hg. von Alexander Schweizer, Berlin 1835. SW III/6: Psychologie. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg. von Leopold George, Berlin 1862.

b) Schleiermachers Werke. Auswahl in vier Bänden. Mit Geleitwort von August Dorner, herausgegeben und eingeleitet von Otto Braun und Johannes Bauer (Leipzig ¹1910–13), 2. Neudruck der 2. Auflage, Leipzig 1927–28 (Nachdruck Aalen 1981) [WA]. WA I: Kritik der Sittenlehre. Akademieabhandlungen / nach den Handschriften Schleiermachers herausgegeben und eingeleitet von Otto Braun (Leipzig ¹1910), 2. Neudruck der 2. Auflage, Leipzig 1927 (Nachdruck Aalen 1981). WA II: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre / nach den Handschriften Schleiermachers neu herausgegeben und eingeleitet von Otto Braun (Leipzig ¹1913), 2. Neudruck der 2. Auflage, Leipzig 1927 (Nachdruck Aalen 1981).

c) Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe, Berlin/New York 1980–2011; Berlin/Boston 2012–2019 [KGA]. KGA I/1: Schriften und Entwürfe. Jugendschriften 1787–1796, hg. von Günter Meckenstock, Berlin/ New York 1984 [Enthält: Anmerkungen zu Aristoteles: Nikomachischen Ethik (8–9) (1789), 1– 43; Über das höchste Gut (1789), 81–125; Über die Freiheit (Zwischen 1790 und 1792), 219– 356; Entwurf zur Abhandlung über den Stil (1790/91), 357–361; Über den Stil (1790/91), 363– 390; Über den Wert des Lebens (1792/93), 391–471; Spinozismus (Vermutlich 1793/94), 511– 558; Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems (Vermutlich 1793/94), 559–582]. KGA I/2: Schriften und Entwürfe. Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799, hg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984 [Enthält: Gedanken III (1798–1801), 117–139; Versuch einer

https://doi.org/10.1515/9783110664393-010

428  Quellen- und Literaturverzeichnis

Theorie des geselligen Betragens. (Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks 5, Teilband 1, Berlin 1799), 165–184; Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), 185–326]. KGA I/3: Schriften aus der Berliner Zeit 1800–1802, hg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 1988 [Enthält: Monologen. Eine Neujahrsgabe (1800), 1–61]. KGA I/4: Schriften aus der Stolper Zeit (1802–1804), hg. von Eilert Herms, Günter Meckenstock und Michael Pietsch, Berlin/New York 2002 [Enthält: Grundlinien einer Kritik aller bisherigen Sittenlehre (1803), 27–357]. KGA I/6: Universitätsschriften. Herakleitos. Kurzdarstellung des theologischen Studiums, hg. von Dirk Schmid, Berlin/New York 1998 [Enthält: Gelegentliche Gedanken über die Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende (1808), 15–100]. KGA I/7.1–2: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), hg. von Hermann Peiter, Berlin/New York 1980. KGA I/11: Akademievorträge, hg. von Martin Rössler unter Mitwirkung von Lars Emersleben, Berlin/ New York 2002 [Enthält: Über die Begriffe der verschiedenen Staatsformen (1814), 95–124; Über die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs (Vorgetragen am 4. März 1819), 313–336; Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs (Vorgetragen am 12. August 1824), 415–428; Über den Begriff des höchsten Gutes. Erste Abhandlung (Vorgetragen am 17. Mai 1827), 535–554; Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung (Vorgetragen am 27. März 1830), 657–677]. KGA I/12: Über die Religion (2.–)4. Auflage, Monologen (2.–)4. Auflage, hg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York, 1995. KGA I/13.1–2: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), hg. von Rolf Schäfer, Berlin/New York 2003. KGA II/8: Vorlesung über die Lehre vom Staat, hg. von Walter Jaeschke, Berlin/New York 1998. KGA II/10.1–2: Vorlesung über die Dialektik, hg. von Andreas Arndt, Berlin/New York 2002. KGA II/12: Vorlesungen über die Pädagogik und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht, hg. von Jens Beljan, Christiane Ehrhardt, Dorothea Meier, Wolfgang Virmond und Michael Winkler, Berlin/Boston 2017. KGA III/3: Predigten 1790–1808, hg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 2013. KGA V/1: Briefwechsel 1774–1796, hg. von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, Berlin/New York 1985. KGA V/2: Briefwechsel 1796–1798, hg. von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, Berlin/New York 1988.

1.2 Einzelausgaben Friedrich Schleiermachers Grundriß der philosophischen Ethik, mit einleitender Vorrede von Dr. August Twesten, Berlin 1841. Friedrich Schleiermachers Dialektik (Im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf Grund bisher unveröffentlichten Materials), hg. von Rudolf Odebrecht, Leipzig 1942. Der christliche Glaube (1830/31). Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Auf Grund der zweiten Auflage und kritischer Prüfung des Textes neu hg. und mit Einleitung, Erläuterungen und Register versehen von Martin Redeker, 2 Bände, Berlin 1960. Monologen nebst den Vorarbeiten. Kritische Ausgabe. hg. von Friedrich Michael Schiele (1902). Erweitert und durchgesehen von Hermann Mulert (1914). Im Anhang Neujahrspredigt von 1792. Über den Wert des Lebens (Auszug). Dritte Auflage als unveränderter Nachdruck der Auflage von 1914 mit ergänzter Bibliographie, Hamburg 1978 [Monologen nebst den Vorarbeiten (1902/1914)].

I Quellen



429

Brouillon zur Ethik (1805/06), auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun, herausgegeben und eingeleitet von Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981. Ethik (1812/13), mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre. Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun, herausgegeben und eingeleitet von Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981. Ästhetik (1819/25); Über den Begriff der Kunst (1831/32), hg. von Thomas Lehnerer, Hamburg 1984. Dialektik (1811), hg. von Andreas Arndt, Hamburg 1986. Dialektik (1814/15), Einleitung zur Dialektik (1833), hg. von Andreas Arndt, Hamburg 1988. Friedrich Schleiermacher Schriften, Bibliothek der Philosophie, hg. von Andreas Arndt, Frankfurt a. M. 1996. On Religion: Speeches to its Cultured Despisers, translated and edited by Richard Crouter, Cambridge 1996. Christliche Sittenlehre (Vorlesung im Wintersemester 1826/27). Nach größtenteils unveröffentlichten Hörernachschriften und nach teilweise unveröffentlichten Manuskripten Schleiermachers herausgegeben und eingeleitet von Hermann Peiter, Münster 2011. Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799 | 1806 | 1821), Studienausgabe, hg. von Niklaus Peter, Frank Bestebreurje und Anna Büsching, Zürich 2012. Ästhetik (1832/33); Über den Begriff der Kunst (1831–33). Mit einer Einleitung, Bibliographie und Registern, hg. von Holden Kelm, Hamburg 2018.

2 Weitere historische Schriften Aquin, Thomas von: De ente et essentia. Über das Seiende und das Wesen. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt und eingeleitet von Wolfgang Kluxen, Freiburg 2007. Eberhard, Johann August: Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens. Eine Abhandlung, welche den von der Königl. Akademie der Wissenschaften in Berlin auf das Jahr 1776 ausgesetzten Preis erhalten hat, Berlin 1776 (Nachdruck Hildesheim 1984). Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer (1794), in: ders.: Werke 1793–1795, J. G. Fichte-Gesamtausgabe, Bd. I.2, hg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob unter Mitwirkung von Manfred Zahn, Stuttgart-Bad Cannstatt 1965, 249–451. –: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796), in: ders.: Werke 1794–1796, J. G. Fichte-Gesamtausgabe, Bd. I.3, hg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob unter Mitwirkung von Richard Schottky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, 291–460. –: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797), in: ders.: Werke 1797–1798, J. G. Fichte-Gesamtausgabe, Bd. I.4, hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky unter Mitwirkung von Richard Schottky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1970, 169–281 [Enthält: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797), 209–269]. –: Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie. In einer Reihe von Briefen (1800), in: ders.: Werke 1799–1800, J. G. Fichte-Gesamtausgabe, Bd. I.6, hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky unter Mitwirkung von Erich Fuchs, Walter Schieche und Peter K. Schneider, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, 313–361 [Enthält: Zweiter Brief, 338–352]. –: Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus den Jahren 1801/02, in: ders.: Nachgelassene Schriften 1800–1803, J. G. Fichte-Gesamtausgabe, Bd. II.6, hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky unter Mitwirkung von Erich Fuchs, Peter K. Schneider und Manfred Zahn, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, 105–324.

430  Quellen- und Literaturverzeichnis

Goethe, Johann Wolfgang: Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790), in: ders.: Schriften zur Morphologie, Johann Wolfgang Goethe Sämtliche Werke, I. Abteilung/Bd. 24, Frankfurt a. M. 1987, 109–151. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (1807), G. W. F. Hegel Werke 3, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986. –: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837), G. W. F. Hegel Werke 13, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986. Herder, Johann Gottfried: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1774/1775/1778), in: ders.: Herder und die Anthropologie der Aufklärung, Johann Gottfried Herder Werke, Bd. 2, hg. von Wolfgang Pross, München/Wien 1987, 543–723. –: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts (1774), in: ders.: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787, Johann Gottfried Herder Werke, Bd. 4, hg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher, Frankfurt a. M. 1994, 9–108. –: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784), Johann Gottfried Herder Werke, Bd. 6, hg. von Martin Bollacher, Frankfurt a. M. 1989. –: Von Religion, Lehrmeinung und Gebräuchen (1798), in: ders.: Theologische Schriften, Johann Gottfried Herder Werke, Bd. 9/1, hg. von Christoph Bultmann und Thomas Zippert, Frankfurt a. M. 1994, 725–857. Humboldt, Wilhelm von: Über Religion (1789), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, 1785–1795, hg. von Albert Leitzmann, Berlin 1903 (Nachdruck Berlin/Boston 2015), 45–76. –: Theorie der Bildung des Menschen (1794), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, 1785–1795, hg. von Albert Leitzmann, Berlin 1903 (Nachdruck Berlin/Boston 2015), 282–287. Jacobi, Friedrich Heinrich: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785), auf Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher und Irmgard Maria Piske bearbeitet von Marion Lauschke, Hamburg 2004. Lange, Samuel Gotthold/Meier, Georg Friedrich (Hg.): Der Gesellige. Eine moralische Wochenschrift, Halle 1748–1750 (Nachdruck Hildesheim 1987). Kant, Emmanuel: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755), in: ders.: Vorkritische Schriften I: 1747–1756, AA, Bd. I, Berlin 1902, 215–368. –: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), in: ders.: Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781), Prolegomena, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, AA, Bd. IV, Berlin 1911, 465–565. –: Kritik der praktischen Vernunft (1788), in: ders.: Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft, AA, Bd. V, Berlin 1908, 1–163. –: Kritik der Urteilskraft (1790), in: ders.: Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft, AA, Bd. V, Berlin 1908, 165–485. –: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), in: ders.: Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, Die Metaphysik der Sitten, AA, Bd. VI, Berlin 1907, 1–202. –: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), in: ders.: Der Streit der Fakultäten, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA, Bd. VII, Berlin 1907, 117–333. –: Logik (1800), in: ders.: Logik, Physische Geographie, Pädagogik, AA, Bd. IX, hg. von Gottlob Benjamin Jäsche, Berlin/Leipzig 1923, 1–150. –: Kritik der reinen Vernunft (1781/1787). Nach der ersten und zweiten Originalausgabe hg. von Jens Timmermann (Mit einer Bibliographie von Heiner Klemme), Hamburg 2003. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie (1714), Französisch-Deutsch, Hamburg 1982. Meier, Georg Friedrich: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. II, Halle 1755 (Nachdruck Hildesheim 1976).

II Bibliographien, Hilfsmittel und Lektionen 

431

Pestalozzi, Johann Heinrich: Abendstunde eines Einsiedlers (1780), in: Pestalozzi Sämtl. Werke, Bd. 1, hg. von Artur Buchenau, Eduard Spranger und Hans Stettbacher, Leipzig 1927, 263–282. Pufendorf, Samuel von: Eris Scandica und andere polemische Schriften über das Naturrecht (1686), hg. von Fiammetta Palladini, in: Samuel Pufendorf Gesammelte Werke, hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Bd. 5, Berlin 2002. Reid, Thomas: Inquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense, Glasgow/London, 1764 (dt.: Untersuchung des menschlichen Geistes entsprechend den Prinzipien des gesunden Menschenverstandes, aus dem Englischen, nach der 3. Auflage, Leipzig 1782). Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), SchlW, Bd. I.5, hg. von Manfred Durner, Stuttgart 1994. –: Von der Weltseele. Eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus (1798), SchlW, Bd. I.6, hg. von Kai Torsten Kanz und Walter Schieche, Stuttgart 2000. –: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), SchlW, Bd. I.7, hg. von Wilhelm G. Jacobs und Paul Ziche, Stuttgart 2001. Schlegel, Friedrich: Athenäums-Fragemente (1798–1800), in: ders.: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 1. Abt., Bd. II, hg. von Hans Eichner, Paderborn 1967, 165–255. Scotus, Johannes Duns: Über das Individuationsprinzip. Ordinatio II, distinctio 3, part 1, hg. mit einer ausführlichen Einleitung von Thamar Rossi Leidi, Hamburg 2015. Simmel, Georg: Die beiden Formen des Individualismus (1901), in: ders.: Aufsätze und Abhandlungen (1901–1908), Gesamtausgabe Bd. 7/Bd. I, hg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1995, 49–56. –: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), Gesamtausgabe, Bd. 11, hg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1992. Spalding, Johann Joachim: Betrachtung über die Bestimmung des Menschen (¹1748–¹¹1794), hg. von Albrecht Beutel, Daniela Kirschkowski und Dennis Prause, SpKA Bd. I/1, Tübingen 2006. –: Religion, eine Angelegenheit des Menschen (Erste Auflage, Leipzig 1797), mit einem editorischen Nachwort von Wolfgang Virmond, in: Ulrich Barth/Claus-Dieter Osthövener (Hg.): 200 Jahre „Reden über die Religion“. Akten des 1. internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft Halle 14.–17. März 1999, SchlA 19, Berlin/New York 2000, Anhang, 939–987. –: Religion, eine Angelegenheit des Menschen (¹1797; ²1798; ³1799; 41806), hg. von Tobias Jersak und Georg Friedrich Wagner, SpKA Bd. I/5, Tübingen 2001. Spinoza, Baruch de: Ethik in geometrischer Methode dargestellt (1677). Lateinisch-Deutsch. Neu übersetzt, herausgegeben mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat, Hamburg 2010. Troeltsch, Ernst: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Tübingen 1912. –: Grundprobleme der Ethik. Erörtert aus Anlaß von Hermanns Ethik (Aus: Zeitschrift für Theologie u. Kirche, 1902), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2. Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, 552–672. Wolff, Christian: Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (¹1720), Halle ¹¹1751 (Nachdruck Hildesheim 1983), hg. von Charles A. Corr, GW I/2 [Deutsche Metaphysik].

II Bibliographien, Hilfsmittel und Lektionen Arndt, Andreas: Auswahlbibliographie, in: Friedrich Schleiermacher: Schriften, hg. von Andreas Arndt, Frankfurt a. M. 1996, 1352–1388.

432  Quellen- und Literaturverzeichnis

Barth, Ulrich: Schleiermacher-Literatur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: ThR 66 (2001), 408–461. Birkner, Hans-Joachim: Auswahl-Bibliographie, in: Friedrich Schleiermacher: Brouillon zur Ethik (1805/06), auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun, herausgegeben und eingeleitet von Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981, XXIX–XXXIII. Meding, Wichmann von: Bibliographie der Schriften Schleiermachers nebst einer Zusammenstellung und Datierung seiner gedruckten Predigten, SchlA 9, Berlin/New York 1992. Moxter, Michael: Neuzeitliche Umformung der Theologie. Philosophische Aspekte in der neueren Schleiermacherliteratur, in: PhR 41 (1994), 133–158. Nowak, Kurt: Auswahlbibliographie, in: ders.: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 579–600. Tice, Terrence N.: Schleiermacher Bibliography with brief Introductions, Annotations, and Index, Princeton 1966/update 1994, in: Neues Athenaeum 4 (1995), 139–194. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854–1954. Betz, Hans Dieter/Browning, Don. S./Janowski, Bernd/Jüngel, Eberhard (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart (vierte Auflage), Tübingen 1998–2007. Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried/Gabriel, Gottfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel/Stuttgart (Schwabe) 1971–2007.

III Sekundärliteratur 1 Kongressbände der internationalen Schleiermacher-Gesellschaft Barth, Ulrich/Osthövener, Claus-Dieter (Hg.): 200 Jahre „Reden über die Religion“. Akten des 1. internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft Halle 14.–17. März 1999, SchlA 19, Berlin/New York 2000 [Akten des 1. internationalen Kongresses 1999 (2000)]. Cappelørn, Niels Jørgen/Crouter, Richard/Jørgensen, Theodor/Osthöverner, Claus-Dieter (Hg.): Schleiermacher und Kierkegaard. Subjektivität und Wahrheit/Subjectivity and Truth. Akten des Schleiermacher-Kierkegaard-Kongresses in Kopenhagen, Oktober 2003/Proceedings from the Schleiermacher-Kierkegaard-Congress in Copenhagen, October 2003, KSMA 11/SchlA 21, Berlin/New York 2006 [Akten des Schleiermacher-Kierkegaard-Kongresses 2003 (2006)]. Arndt, Andreas/Barth, Ulrich/Gräb, Wilhelm (Hg.): Christentum – Staat – Kultur: Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin (März 2006), SchlA 22, Berlin/ New York 2008 [Akten des internationalen Kongresses 2006 (2008)]. Barth, Roderich/Barth, Ulrich/Osthövener, Claus-Dieter (Hg.): Christentum und Judentum. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009, SchlA 24, Berlin/New York 2012 [Akten des internationalen Kongresses 2009 (2012)]. Scheliha, Arnulf von/Dierken, Jörg (Hg.): Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, SchlA 26, Berlin/Boston 2017 [Akten des internationalen Kongresses 2015 (2017)]. Dierken, Jörg/Scheliha, Arnulf von/Schmidt, Sarah (Hg.): Reformation und Moderne. Pluralität – Subjektivität – Kritik. Akten des internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle (Saale) März 2017, SchlA 27, Berlin/Boston 2018 [Akten des internationalen Kongresses 2017 (2018)].

III Sekundärliteratur

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Personenregister Albrecht, Christian 7, 13, 28, 34, 110, 266 Anselm, Reiner 409 Antes, Peter 103 Aquin, Thomas von 68–69 Arndt, Andreas 8–9, 24, 28, 31, 65, 92, 94–95, 98, 105–106, 110, 183, 185–187, 195, 214, 243, 262, 265–266, 308 Aristoteles 68–69, 94, 179, 184–186, 353 Bartel, Franziska 83 Barth, Roderich 34, 269 Barth, Ulrich 3–4, 7–13, 20, 26, 31, 46, 56, 64– 68, 75, 84, 88, 94, 102–105, 119, 139, 166, 169, 176, 183–184, 212, 266, 339, 388 Bauer, Manuel 413 Baumgarten, Alexander Gottlieb 113, 213, 244, 275 Benner, Dietrich 83 Bermges, Stephanie 83 Beutel, Albrecht 34, 119 Birkner, Hans-Joachim 7, 17–19, 28, 177, 182, 186–188, 195, 197–198, 209, 265–267, 334, 340, 395–396, 409 Blänkner, Reinhard 95 Blackwell, Albert L. 354 Bödeker, Hans Erich 78 Bowie, Andrew 359 Brandt, Wilfried 37 Braun, Otto 28, 177, 182, 186–187, 289 Braungart, Christiane 353, 414 Brito, Emilio 37 Brinckmann, Carl Gustav 92, 263 Bruyn, Wolfgang de 95 Charbonnier, Lars 4, 8 Christophersen, Alf 14 Cicero 175 Cramer, Konrad 105 Descartes, René 67–68 Diederich, Martin 36–37 Dierken, Jörg 4, 7, 9–13, 104, 127, 136, 214 Dilthey, Wilhelm 15–16, 31, 39–40, 46–49, 51– 52, 64, 95, 179–180, 185–186, 229, 251–

https://doi.org/10.1515/9783110664393-011

252, 259, 265–266, 312, 314, 316, 337, 339, 343, 359, 383 Dinkel, Christoph 138, 395 Dittberner, Hugo 390 Dittmer, Johannes Michael 31, 65 Dürbeck, Gabriele 353 Ebeling, Gerhard 66 Eberhard, Johann August 94, 185, 243–244 Ebers, Nicola 33 Eck, Samuel 9, 31–32, 52, 65, 94, 187 Ehrhardt, Christiane 8, 83 Ellsiepen, Christof 13–15, 44, 48–49, 75, 77–79, 113–115, 120, 127, 129–130, 135–136, 153, 162, 165, 342, 353 Feil, Ernst 103 Feil, Michael 266–267 Fichte, Johann Gottlieb 43, 46, 51–52, 66–68, 72–74, 82, 103–104, 106, 166, 169, 186, 260–261, 353 Figl, Johann 339 Finster, Reinhard 197 Frank, Manfred 46 Frohne, August 9 Frost, Ursula 83–84 Fuchs, Emil 16, 259–261 Gaus, Detlef 95, 98 Gerber, Simon 24 Gerhardt, Volker 4, 33 Goethe, Johann Wolfgang 44, 83, 106, 129, 236 Gräb, Wilhelm 4, 8, 18, 24, 61, 105, 119, 138, 154, 183–184, 195, 343, 387 Graeser, Andreas 68 Graf, Friedrich Wilhelm 261–262 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm 78, 339 Grove, Peter 5–7, 13–14, 23, 50–52, 74, 79, 115, 121, 229–232, 238, 240, 244, 266, 283, 288–289, 295–296, 299, 301, 309–310 Halbwachs, Maurice 418 Haym, Rudolf 31, 39, 185, 259 Heesch, Matthias 182

446  Personenregister

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18, 33, 66, 82, 154, 236 Heinze, Rudolf 209 Hemsterhuis, Franz 50 Herder, Johann Gottfried 34, 50, 53, 83, 118– 119, 166, 169, 175–176, 183, 269, 298 Herms, Eilert 18–19, 22, 31–32, 52, 83, 94, 185– 188, 231, 266, 395 Herz, Henriette 95 Hinrichs, Wolfgang 93 Hirsch, Emanuel 31, 52, 66, 104, 175–176, 182, 186–188, 260–261, 266 Hobbes, Thomas 254 Holstein, Günter 210 Hogrebe, Wolfram 93–95 Homann, Karl 353 Huber, Eugen 16, 229, 252–253, 260, 353 Hübner, Ingolf 266 Hügli, Anton 82 Humboldt, Wilhelm von 78, 83, 157 Jacobi, Friedrich Heinrich 75, 104–105 Jersak, Tobias 119 Jørgensen, Theodor 138, 151, 177, 195, 266, 269, 271, 333–334, 338, 340, 350, 359– 360, 414 Junga, Kristin 83 Käfer, Anne 24, 226, 354, 359, 414 Kant, Emmanuel 20, 24, 34, 43–45, 52, 67–68, 70, 72, 74–75, 79, 82–83, 91, 102–104, 113–116, 119, 152, 167, 169, 181, 184–186, 200–201, 205, 226, 238, 244, 261, 275– 276, 278, 298, 305, 346 Kelm, Holden 24, 343, 359 Kobusch, Theo 69 Kohli, Martin 33 Kopp, Bernhard 175–176, 182 Kubik, Andreas 14, 136, 275–276 Kumlehn, Martin 138, 395, 397 Kumlehn, Martina 22–24, 145, 332, 343, 387, 394 Lamm, Julia A. 75 Lange, Samuel Gotthold 94 Lee, Byung-Ok 11–13 Lehnerer, Thomas 24, 145, 298, 343, 347, 351– 353, 359–360, 394, 414

Leibniz, Gottfried Wilhelm 33, 43, 67–70, 75– 77, 152, 234 Lessing, Gotthold Ephraim 104–105 Lichtblau, Klaus 152 Lichtenstein, Ernst 83 Linde, Gesche 353 Locke, John 67, 254 Luckmann, Thomas 3 Lund, Hannah Lotte 95 Luther, Martin 66, 102, 150, 402 Mädler, Inken 413–414 Marquard, Odo 34 Mariña, Jacqueline 9 Meckenstock, Günter 26, 31, 39, 64, 75, 93–94, 185–187, 258, 395, 413 Meding, Wichmann von 8 Meier, Georg Friedrich 94, 213, 244, 275–276, 290 Mendelssohn, Moses 105 Mertens, Wolfgang 51 Moxter, Michael 8, 19–21, 24, 181, 186–187, 192, 195, 266, 298, 322, 343, 359, 387, 390 Mulert, Hermann 39 Müller, Claus 188 Müller, Wolfgang G. 413 Niedermann, Joseph 175–176 Neubauer, Ernst 9 Neumann, Karl 68 Nohl, Herman 93 Nowak, Kurt 8, 31, 39, 46, 50, 64–65, 75, 94– 95, 103, 106, 185–186, 244, 265, 307 Oberdorfer, Bernd 42, 93–95, 185, 244 Odebrecht, Rudolf 231, 244, 266, 359 Ohst, Martin 61, 138, 142–143, 182, 395 Ohsthövener, Claus-Dieter 153 Pannenberg, Wolfgang 34 Patsch, Hermann 18, 236, 262, 359, 384 Pecina, Björn 104 Peiter, Hermann 187 Perle, Johannes 9 Perpeet, Wilhelm 175 Pestalozzi, Johann Heinrich 83 Peter, Niklaus 26, 262–263

Personenregister 

Platon 68, 179, 184, 186 Pleger, Wolfgang H. 266–268, 359 Pufendorf, Samuel von 176 Raatz, Georg 34 Reble, Albert 18, 180–182, 187 Recki, Birgit 353 Reckwitz, Andreas 33 Redeker, Martin 15, 31, 179–180 Reid, Thomas 244 Reinhold, Karl Leonhard 52, 121 Rendtorff, Trutz 138, 395, 397 Resewitz, Friedrich Gabriel 114 Reuter, Hans-Richard 266 Richter, Cornelia 182–183 Riemer, Matthias 83 Rohls, Jan 24, 343 Rose, Miriam 210 Scheerer, Eckart 118 Scheliha, Arnulf von 136, 154 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 16, 43–44, 46–48, 50, 52, 71, 114, 129, 140, 154, 177, 182, 192, 196, 229, 236, 244, 252, 258– 260, 262–263, 265, 267–268, 397 Schlegel, Friedrich 24, 46–47, 94, 102, 106, 226, 236, 413 Schiele, Friedrich Michael 39, 65 Schlenke, Dorothee 21–22, 37, 397, 401, 407, 409, 414 Schmid, Susanne 95 Schmidt, Sarah 17, 24, 98, 180, 182, 194–196 Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 46 Schmücker, Reinold 359 Scholtz, Gunter 18, 38, 47, 56, 91, 182, 195, 339, 343, 353, 359–360, 362 Schröder, Markus 7, 61, 153, 158, 160, 162, 164, 166 Schweizer, Alexander 298, 307, 334, 338–339 Schwöbel, Christoph 102, 339 Scotus, Johannes Duns 68–69

447

Seifert, Paul 49–50 Shaftesbury, Anthony 244, 254 Simmel, Georg 33, 66 Sockness, Brent W. 9, 182 Spalding, Johann Joachim 34, 39, 91, 119, 167, 169, 243, 413 Spinoza, Baruch de 10, 14, 32, 48, 75–77, 103– 105, 110, 115, 117, 154, 165, 167, 169, 171, 186, 417 Steffens, Henrich 46, 195–196, 263, 265, 283 Stubenrauch, Samuel Ernst 185 Süskind, Hermann 16–17, 47–49, 177, 182, 196, 229, 252–253, 258–262, 265, 397 Taylor, Irmgard 176 Tice, Terrence N. 8 Troeltsch, Ernst 3, 16, 47, 180–182 Thouard, Denis 9, 94, 214 Trede, Johann Heinrich 353 Vietta, Silvio 353 Virmond, Wolfgang 95, 119, 413 Volp, Rainer 343–344, 350 Vorländer, Franz 187 Wagner, Falk 103 Wagner, Georg Friedrich 119 Wagner, Hans-Josef 83 Weiß, Peter 36–37 Welker, Michael 18 Wenz, Gunther 103, 120 Wetz, Franz Josef 298 Wicke, Erhard 83 Wieland, Leo 3 Wittekind, Folkart 104 Wolfes, Matthias 106, 210, 236 Wolff, Christian 113, 269 Zarnow, Christopher 33, 69 Ziche, Paul 192, 265

Sachregister Abbilden 80, 83 abgeschlossen 202, 279, 378 – rein in sich abgeschlossen 218–219, 286 Abgeschlossenheit 322 – des Eigentums 317–318, 322 – des Individuums 192, 322 abgesondert 121 Abhängigkeit 313 – Abhängigkeitsbewusstsein 313–315 – Abhängigkeitsgefühl 313 – absolute 314 – absolutes Abhängigkeitsbewusstsein 314– 315, 341, 422 – einzelnes Abhängigkeitsbewusstsein 314–315 – schlechthinniges (absolutes) Abhängigkeitsgefühl 7, 310 Abhängigkeitsbewusstsein 313–315 – absolutes 314–315, 341, 422 – einzelnes 314–315 Abhängigkeitsgefühl 313 – schlechthinniges (absolutes) 7, 310 Absolute, das 105, 257 – Modi des Absoluten 105, 117 Absolutheitstheorie 105 – absolutheitstheoretisch 114–115 Abstoßungskraft 44 Affekt 123 Affektion 116, 298, 309, 410, 413 siehe auch Erregung affizieren 116, 370, 410–411 – affizierendes Gefühl 382 Aggregat 77 Aggregationsmodell, spinozistisches 11 siehe auch Mischungsmodell Akademie 215–217, 222, 226, 228, 253, 395, 398, 400–401, 407 – als Gemeinschaft des objektiven Wissens 216 Aktion des Gefühls 382 Aktion und Reaktion 293–294, 382 All 250 – unendliches und absolutes 251, 405 Allgemeine, das 69, 76–77, 91, 160, 234, 238, 392 – Einheit 270 – und das Besondere siehe Allgemeines und Besonderes

https://doi.org/10.1515/9783110664393-012

Allgemeines und Besonderes – Identität 216, 234, 236–237, 397 – Wechselwirkung 237 Allgemeingültigkeit 206 – allgemeingültig 216 Allgemeinheit 11, 68, 397 – des Menschen 7 – des Subjekts 309 siehe auch allgemeines Subjekt – humane 169 Als-Struktur 14, 117 Anderen, die 203 Andeuten und Ahnen 331–338, 382, 385, 423 – intersubjektive Wechselwirkung 332, 339, 380 – Synthese 337, 341 Aneignen (Aneignung) 54, 80, 85, 87–90 – Aneignungskraft 44 – Aneignungsmöglichkeit 85 – der Natur 197–198, 206, 217, 222 – des Fremden 81–82 Aneignen und Abstoßen 44 Anlage – der Menschheit 117 – religiöse 118, 136, 141, 156, 166, 169–170 – zur Religion 120, 141 Anschauen 115, 421 – als identisches Erkennen 259 – des Universums siehe Anschauung des Universums – Sich-Selbst-Anschauen 73 Anschauung 22, 84, 112, 114, 169, 239–243, 245, 259–260, 420 – als gegenständliche und intentionale Einstellung 123 – als objektives Erkennen 242 – des Subjekts 74 – Anschauungsbegriff 14, 113–115, 124, 259, 260–263 – der Menschheit 72, 84–85, 131, 134 – der Menschheit in mir 73–74, 129, 131, 134, 136–137, 168 – der Menschheit in sich 89 – der Natur 129 – des Ganzen 117 – des Unendlichen 112, 114, 117, 155–156, 164

Sachregister 

– des Universums 32, 105, 112, 114–118, 120– 137, 154, 160–161, 169–170, 259, 420 – des Universums in der Menschheit 125, 127, 130–137 – des Universums in der Natur 129–130, 137 – Einzelheit 121–122, 155 – einzelne 155, 158, 160–161 – Grundanschauung 160–161, 164–165, 171, 424 – Individualität 121–122, 155 – individuelle 155, 158, 171, 421 – Innewerden der Anschauung des Universums 125 – intellektuelle 73–74, 114 – objektive Einheit 242, 246 – religiöse 122, 129–130, 135–136, 141–142, 155, 160, 162, 169–171 – Selbstanschauung 12, 72–73, 170 – selbstständige 155, 158, 160, 171 – sensueller Gegenstandsbezug 120, 122, 125, 155 – sinnliche 70, 121, 240 – sinnliche und religiöse 114–117, 120–125, 127, 155 – und Wahrnehmung 121 – Unermesslichkeit 121–122, 155 – Unmittelbarkeit 121–122, 155 – Verhältnis der Anschauungen zueinander 121–122 – Zentralanschauung 162–163, 165, 424 siehe auch Grundanschauung Anschauung und Gefühl 122–125, 140–142, 158, 169, 262–263, 271, 396 – Einheit 124–125 – Unterschied 123–124, 240–242 Anthropologie 34, 38, 53, 61, 64, 119, 142, 152, 169–170, 269–270, 419 – Kulturanthropologie 34, 176 anthropologisch 25, 32, 34–35, 38–39, 42, 55, 65, 88, 91, 107, 134, 137, 167, 170, 200– 201, 205, 417, 419–420 – Grundmodell 53, 167 – kulturanthropologisch 183, 419–421 Antike 4, 175–176 Anziehungskraft 57–59, 85, 90 a priori 70, 114, 200–201, 238, 242, 271, 278 Apriori, das 216 Aristoteles-Studie 94, 185

449

Ästhetik 6, 22, 28, 34, 92, 230, 307, 349, 351, 358–359, 362, 375, 415 Atheismusstreit, Fichtes 103–104, 169 atheistisch 251 Attraktion, wechselseitige 84–85, 135 Attraktion und Repulsion 43–44, 53, 130, 167 – als naturphilosophisches Gesetz 53, 191–192, 195, 210, 232 – Wechselwirkung 232 Aufklärung 3–5, 34, 63, 70, 72–73, 75, 82, 91– 93, 105–107, 138–139, 151, 176, 181, 244, 275, 353, 397, 417, 419 – Aufklärungstheologie 119 – englische 243 – Spätaufklärung 4, 9, 13, 70, 83, 102, 157, 183 aufklärungsphilosophisch 42, 183 Aufklärungstheologie 119 Aus-sich-Hervorbringen 192–193 Ausdehnungskraft 58–59 Ausdifferenzierung 33 – der Religion 108, 169 Ausdruck 288, 290–295, 348, 351, 383 – Ausdrucksform 22, 349–351 – Ausdrucksgehalt 350 – Ausdrucksphänomen 290, 293, 295, 297, 328, 340, 342, 344, 392, 422 – Ausdrucksrelation 344 – Ausdrucksverhältnis 344 – der Gemütsbewegung 410 – der Religion 148, 151 – des Gedankens 330, 368 – des Gefühls 329–330, 332, 336, 343–363, 367–368, 379, 381, 388–389 – des Gefühls, momentaner 352, 364, 369, 376–378, 380, 411 – des Gefühls, natürlicher 348–353, 363–364, 366–369, 374, 389 – des Gefühls, unmittelbarer 334–335 – des Innersten 145, 148 – und Inhalt 287 – unmittelbarer und vorreflexiver 291, 295, 341 Ausdruckstheorie 146, 264, 344, 348, 356–358, 362, 367, 374, 377–378, 383, 385, 388 – ausdruckstheoretisch 288–290, 295, 317, 340–341, 353, 379, 388, 423 Außenwelt 96, 98 Äußerlichwerden 211, 315, 329–330 – des Gedankens siehe Gedanke – des Gefühls siehe Gefühl

450  Sachregister

Äußerung – der Religion 143, 146 – des Eigenen 140, 145 – des Geistes 140 Aussprechen und Nachbilden 317, 327, 332, 337, 380 Austausch 35, 63 – der Individualität 93, 99–100 – der Menschheit 63 – gegenseitiger 81 – in der Religion 171 – intersubjektiver 54, 93, 99–100, 139, 168 Begehren als Vermögen der Seele 41–42 Begriff 68, 70, 114, 237 – angeborener 277–280, 286 – Einheit im Begriff 237 Begriff des großen Mannes 61 begriffsmäßig 284–285, 287, 292 Beschaffenheit 69 Beschränkung – der Persönlichkeit 219, 377 siehe auch persönliche Beschränkung – des Individuums 219, 366, 384 – persönliche 363–366, 377–378, 392 – persönliche und zeitliche 193–195, 204–205, 219, 223, 253, 372, 377 beseelend – beseelende Vernunft siehe Vernunft – beseelendes Prinzip 194, 197, 202 Beseelung 190, 196 – Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft 19, 21, 178, 190, 194, 196–197, 202, 234, 264–265, 422 – Vernunftbeseelung 193 Besondere, das 69, 76, 160, 234 – Mannigfaltigkeit 270 – und das Allgemeine siehe Allgemeines und Besonderes Bewegung – darstellende 382 – Gemütsbewegung siehe Gemüt – des Geistes 399 – organische 374–375 Bewusstsein 124, 296, 306, 344–345, 350 – Abhängigkeitsbewusstsein siehe Abhängigkeit – als Teil des Universums, des Ganzen, des Unendlichen 124

– – – – – – – – –

Bewusstseinszustände siehe Zustände das Innere des Bewusstseins 328 der allgemeinen Menschheit 75, 91 der Eigenheit 85 der Individualität 80, 86, 219 der Menschheit in mir 88 des Einzelwesens 284 des Individuums 124 Einheit des Bewusstseins, empirische 233, 246–250, 255, 257, 366, 387, 392 – Einheit des Bewusstseins, sittliche 255 – Einheit des Bewusstseins, subjektive 241, 245 – Funktionen des Bewusstseins 284–287, 289, 304 – Gesetze des Bewusstseins 277–280, 282, 285–286, 304 – Ich-Bewusstsein, allgemeines 296, 299, 304 – identisches 276 siehe auch Gattungsbewusstsein – religiöses Bewusstsein 142, 149, 406–407 – religiöses Bewusstsein, gemeinsames 412 – Veränderlichkeitsbewusstsein siehe Veränderlichkeit – Zuständlichkeitsbewusstsein siehe Zuständlichkeit bewusstseinstheoretisch 123 Bewusstseinszustände siehe Zustände Bezeichnen (Bezeichnung) – Begriff der Bezeichnung 213–214, 275–276, 287, 290 – Bezeichnen der Natur, identisches 277–278 – Bezeichnen der Natur, individuelles 281–285 – bezeichnende Tätigkeit siehe Symbolisieren und Bezeichnungstätigkeit – Bezeichnungsgebiet 276, 279, 289 – Bezeichnungstätigkeit 199, 271, 275–281 – Bezeichnungsvermögen 275–276 Bezeichnungsgebiet 276, 279, 289 – identisches 270–280, 289, 305 – individuelles 279, 289–290, 299–301 – individuellstes 299–306, 341 – kleinstes 300 – unübertragbarstes 300–306, 341 Bezeichnungstätigkeit 199, 271, 275–281, 276– 281 siehe auch Symbolisieren

Sachregister  451

– identische 276–281, 286, 289 – individuelle 276–278, 281–290, 341–342 Beziehung – auf das Endliche 121 – auf das Universum 121 – des abgeschlossenen Daseins auf das Ganze 249, 372 – des Einzelnen auf das Einzelne 248, 253, 372, 377 – des Einzelnen auf das Universum, individuelle 110, 127, 360 – des Einzelnen auf die Ideen 193, 225, 247 – des Einzelnen auf die Persönlichkeit 371–372 – des Einzelnen auf die Persönlichkeit und die Sinnlichkeit 193, 247–248 – des Einzelnen auf die Vernunftidee absoluter Einheit und Totalität 388, 392 – des Endlichen auf das Unendliche 250, 360, 422 – des Ich auf das Nicht-Ich 249 Bilden 80, 85 – Arten 80–81 – der Geselligkeit 99–100 – bildende Tätigkeit 197–198 siehe auch Organisieren – darstellendes 352, 362–363 – künstlerisches 80–81, 83 – Sich-Bilden 80, 82 siehe auch Selbstbildung bildende Tätigkeit 197–198 siehe auch Organisieren Bildung 80, 85, 91 – Bildungsbegriff 83, 157 – Bildungsprozess, individueller 418 – Bildungsprozess, kommunikativer 87 – der Individualität 11–12, 90, 92, 129, 134, 137, 157, 168, 170, 218, 378, 382, 386, 392, 417–418, 421, 424–425 – der Individualität, innere 75, 88 – der Menschheit 87–88, 132 – der Menschheit in mir, individuelle 91 – Geistesbildung, kommunikative 62, 82 – Organbildung 197, 218, 226, 408 – und Darstellung 85 – Weltbildung 87, 133, 168 – zur Religion 32, 133, 136, 144, 170 Böse, das 248, 253, 257, 372, 377

Chaos, unendliches 122, 125, 155 Charakter – der Gemeinschaftlichkeit siehe Gemeinschaftlichkeit – der Identität siehe Identität – der Individualität siehe Individualität – der Vernunft siehe Vernunft – übergeordneter 204 – untergeordneter 204 Christentum 3–4, 103 Christliche Sitte (Sittenlehre) 17, 19, 187–189, 396 cognitio intuitiva 113 Cohäsion 77 conceptus communes 69 Darstellen 114, 212 – als Manifestieren 212 – darstellendes Handeln 115 – der Sprache siehe Sprache – des Gefühls siehe Gefühl – und Erkennen siehe Erkennen und Darstellen – und Gefühl siehe Gefühl und Darstellen Darstellung 10–11, 80, 85–88, 114, 166, 170 – als Bewegung des Geistes 399 – Aus-sich-Hervorbringen als Darstellung 192– 193 – äußere 88 – Darstellungsmittel 369–370, 376–377, 384– 385 – der Begeisterung 373–376, 389 – der Besonnenheit 373–376, 389 – der Individualität siehe Individualität – der Menschheit siehe Menschheit – der Religion siehe Religion – des Gefühls 223–224, 227–228, 242, 315, 356, 359–367, 382–383, 411 – des Gefühls, einzelne 360–362, 366–369, 371, 377–378, 384–385, 389 – des gemeinsamen religiösen Gefühls 388– 389 – des Unendlichen 117, 120 – des Universums 105, 115, 125, 132, 135 – Kunst als System der Darstellungen des Gefühls siehe Kunst – Kunstdarstellung siehe Kunst – mitteilende 386 – profane 413–414 – reflektierte 375, 392

452  Sachregister

– religiöse 413–414 – Selbstdarstellung 384 Dasein – abgeschlossenes 191–192, 195, 225, 232, 239, 245, 325, 365, 386, 408, 410 – bestimmtes 43–45 – eigentümliches Dasein des Menschen 78–80, 90, 276, 332 – Elementarsphären 43, 45 – Erscheinungsform menschlichen Daseins 54 – geistiges 105 – gesamtes 43, 45, 71, 167 – Gesetz 44 – Grundfaktoren 43–45 – individuelles 43, 232, 320, 322, 325 – intellektuelles 255–256, 258 – isoliertes 320 siehe auch abgeschlossenes Dasein – konkretes 43 – körperliches 105 – menschliches 54, 78–79 – sinnliches 255–256, 258 – ungeteiltes, abgeschlossenes und kontinuierliches 283, 289, 291–292, 300, 302 – universales Gesetz 43–45, 72, 167 Deinstitutionalisierung der Religion 139 Denken 111, 211, 217, 225 – als identisches Erkennen 212 – als Wesen der Metaphysik 111 – Individualisierung siehe Individualisierung – und Sprechen siehe Denken und Sprechen – und Wollen 308–309 Denken und Sprechen 279–281, 289 – Identität 211, 222, 224 siehe auch Wechselwirkung von Denken und Sprechen – Wechselwirkung 211, 217 Desensualisierung 377, 386, 392 Deutung 90 – Deutungsprozess 90–92, 127 – Deutungsschemata 90, 91, 92 – eigene 90 – potenzielle Ich-Deutungen 90 – Selbstdeutung 13, 90 Deutungsschemata 90–92 – eigene 90 – Selbstzuschreibung 90 Dialektik 6, 12–13, 19, 22, 28, 92, 187, 230, 265–267, 295, 307–311

Dialektische Theologie 7 Ding an sich und Erscheinung 116 Dingliches und Geistiges 267–270, 277, 293 Dispositionalität – des Sinnes 123 – des Subjekts 116, 118, 120 Dualismus 47 eigen (Eigene, das) – Äußerung des Eigenen 140 – und das Fremde 56 Eigenheit 71 – Bewusstsein 85 – des Menschen 72 Eigenschaft 68, 76, 105 – allgemeine 67, 77 – exklusive 79 Eigentum 219–220, 319–320, 337 – als Kennzeichen des individuellen Organisierens 219, 222 – als Medium der Geselligkeit 220 – unübertragbares 283 eigentümlich siehe individuell Eigentümlichkeit siehe Individualität Einbildungskraft 114, 353 siehe auch Phantasie Einheit 132, 234, 243, 251, 256–257 – absolute 251, 312–315, 388, 404 – des Bewusstsein siehe Bewusstsein – des Subjekts 348 – differenzierte 127 – im Begriff 237 – in Vielheit 126 – individuelle 397, 399 siehe auch individuelle Identität – letzte 126–129 – sittliche 236–237, 248 – und Vielheit 65, 126 einseitig 97, 149, 151 Einseitigkeit 361, 369, 371, 389 Einzelheit 344 – der Anschauung 121–122, 155 – Durchbrechen der Schranken der Einzelheit 329 einzeln (Einzelne, das) 77, 116–117, 121–122, 125, 161 – als Darstellung des Unendlichen 120, 130

Sachregister 

– als mannigfaltige Darstellungen des Universums 117 – Selbstständigkeit des Einzelnen 122 Einzelne, der 124, 134–136, 140, 153, 165 – abgeschlossene 378 – als eigentümliches Individuum 168 – als Teil der Menschheit 135–136 – als Teil des Ganzen 120, 124–125 – als Teil des Unendlichen 124, 136 – als Teil des Universums 124, 136 – endliche 147, 384 – und das Ganze 21, 282–283 Einzelwesen – als Teil der ganzen Natur 282, 286 – Aufheben 329 – Bestimmtheit des Einzelwesens 293 – eigenständiges und eigentümliches 285 – menschliches 269–270, 272–274, 278, 282– 286, 289, 302 siehe auch Individuum Ekklesiologie 396 Element – allgemeines 77–78 – der Menschheit, allgemeines 79–80 – exklusives 78 Emanzipation 3 Empfinden 239, 242–245, 252, 355, 366, 377 – als subjektives Wahrnehmen 244 Empfindlichkeit für das Universum 118 Empfindsamkeit 243–244 Empfindung 243, 245, 298, 309, 356 – fluktuierende 246 empirisch (Empirische, das) 84, 116, 121, 200– 201, 387, 422 empirisch-psychologisch 104, 244, 314 – Ort der Religion 109 empirisch-sensuell 243 Empirismus, englischer 106, 243, 254–255 Empirist 254 endlich (Endliche, das) 105, 130, 136 – absolute 136 – als Darstellung des Unendlichen 14, 117, 120, 130, 135, 170 – als individuell 135, 169–170 – als individuelle Darstellung des Universums 169–170 – als mannigfaltige Darstellungen des Universums 105, 117, 135 – als Teil des Ganzen 117, 120, 125

453

Endlich-Unendlich-Korrelation 117, 124, 128, 135–136, 170 Entchristlichung 3 Entdogmatisierung der Religion 139 Entfremdung 90 Entgegensetzung mit den Anderen 84–85, 87 Entsinnlichung 377 Entwicklung 88 – biographische 88 – diskontinuierliche 89 – der Menschheit siehe Menschheit – intensive 89 Erdgeist 236 Erfahrung – empirische 242–243, 254, 257–258 – religiöse 11, 22, 94, 118–119, 243 – unmittelbare 121–122 Erhabene, das 251 Erkennen 23, 198–199, 211, 231–243, 296, 355, 366, 372, 377, 404–406, 422 – als Vermögen der Seele 41–42 – erkennende Tätigkeit 197–199, 230–231, 240, 265, 275 siehe auch symbolisierende Tätigkeit und Erkennen – identisches 231, 246, 265, 276, 342, 389– 390, 398 – im sittlichen Leben 231, 235, 238, 241, 243 siehe auch Sittlichkeit des Erkennens – individuelles 223, 231, 240, 242, 246, 263, 265, 276, 297–298, 344–345, 347, 370, 389–390, 399 – objektives 240, 242, 246, 263, 297–298 siehe auch identisches Erkennen – Sittlichkeit siehe Sittlichkeit – subjektives 245, 249, 252–253, 297–298 Erkennen und Darstellen 192–195, 210, 279, 315, 328, 389–390 – Oszillation 193–195, 204, 210, 223–224, 328 siehe auch Wechselwirkung von Erkennen und Darstellen – Wechselwirkung 193–194, 198, 204, 210–211, 213, 217, 222–224, 227, 364, 389–390 Erkenntnis – Erkenntnisvermögen 113–114, 290 – intuitive 14 – objektive 212–213

454  Sachregister

Erkenntnistheorie 23, 199, 230–244, 265, 311, 353, 355, 372, 377 – erkenntnistheoretisch 27, 115, 230–231, 279, 288, 296–297, 317, 340–341, 379, 388, 422–423 – Kants (kantische) 41–42, 67, 70, 75, 103, 114, 200–201, 238, 278 – spinozanische 14 Erleben, religiöses 141, 163 Erregbarkeit – für das Universum 118 – individuelle 331, 336 erregen 123, 367 Erregtheit 360–361, 375 – des Gefühls 362, 370, 372 – des Gemüts 439 – individuelle 326–327 – momentane 372 Erregtsein 331–332 – der Sinnlichkeit 249 Erregung 289–290, 292–293, 295, 300, 326– 327, 330–331, 335, 370–371, 386, 410, 413 – Darstellung 410 – Erregungsmittel 224 – Gefühlserregung 382 – individuelle 326, 330–331 – momentane 373, 376 – religiöse 141, 410 Ersatzreligion 106 Ethik 18–19, 177–179, 185–186 – als geschichtliche Handlungstheorie 179 – als historische Darstellung des menschlichen Handelns 177–179, 190 – antike 181, 186 – kantische 181, 184–186 – Nikomanchische (Aristoteles') 94, 185 – normative 177 – Pflichtethik 20 – Philosophische siehe Philosophische Ethik – Theologische 10, 17, 187 siehe auch Christliche Sitte – und Physik 177, 265–266 Ethikotheologie, Kants 104, 111 Ethisch 25, 57, 61, 65, 258, 418 – Religion 405 Ethische, das 404–405 – und das Physische 404–405 ethisieren 233, 372

Ethisierung 235 – der Darstellung 224, 376, 378, 386, 392 – des Gefühls 225, 227, 230, 244, 249–250, 252, 255, 263–264, 303, 328, 339, 341– 342, 372–373, 376, 378, 384, 386–389, 391–392, 420 exklusiv 76, 78–79, 157 extensiv und intensiv 89, 131 Exklusivitätsmodell der Individuation 70, 76–78 siehe auch Individuationsmodell Familie 221–222, 228, 253, 395, 402 Fichte-Rezeption 51–52 Flüchtige, das 366, 368 Flüchtigkeit 243 – des Gefühls 393 Fluktuierende, das 233–237, 241–243, 245–247 Formung – des Menschen 88 – qualitative 89 Freiheit 12, 71, 106, 150, 192, 237, 352 – transzendentale 11 Freiheitskonzeption, Kants 79 Freiheitsverständnis, fichtesches 10 Fremde, der 63, 81 Fremdverstehen 54, 57 Freundschaft 85, 221–222, 402 – Freundschaftsideal, Nikomanchisches 94 Frömmigkeit – als Bestimmtheit des Gefühls 308, 310 – Frömmigkeitsgefühl siehe Gefühl – Frömmigkeitstheorie 22 – Konventikelfrömmigkeit (des Herrnhuter Pietismus) 94 Frühromantik 13, 34, 38, 49, 64, 66, 70, 73, 75, 83, 94, 102–103, 107, 111, 129, 157, 167, 220, 408–409, 415 – frühromantisch 5–6, 8–9, 23–26, 33, 35, 92– 93, 101, 107, 112, 417–418, 421, 424–425 – Kreis in Berlin 31, 94, 106–107, 134 – Salonkultur in Berlin 94–95 Füreinandersein und Durcheinandersein 273 Ganze, das 126, 130, 191, 282, 392 – absolute 136 – Anschauung siehe Anschauung – individuelle 99–100 – organische 212–213 – unendliche 117

Sachregister 

Ganzheit 132 – absolute 126–129 – des Subjekts 348 Ganzheitlichkeit 344, 361–362, 375 siehe auch Einheit – des Handelns 351 – des Menschen siehe Mensch – mentale 361, 363 Gastfreiheit, gegenseitige 221–222 Gattung 201, 209, 270–271, 304 – alle Menschen als Gattung 201, 207, 270, 282, 285, 304 – Gatttungsbestimmtheit 270 – gattungsallgemein 205 – Gattungsallgemeinheit 205, 214 – Gattungsbewusstsein 205, 276, 280–282, 300, 341 – Gattungsvernunft siehe Vernunft – menschliche Natur als Gattung 270–271 – und Individuum 201, 205 siehe auch Identität und Individualität Gattungsbewusstsein 205, 276, 280–282, 300, 341 – und Selbstbewusstsein 303–307, 341 Gebärde 329–331, 341–342, 350 siehe auch Ton und Gebärde – als Äußerlichwerden des Gefühls 329, 341 – als unmittelbarer Ausdruck des Gefühls 329– 330, 332 – Wahrnehmen 330 Gebärdensprache 349–350, 368, 373 Geben und Empfangen 81, 85, 87–88, 335–336 Gedächtnis – Aufbauvermögen 67 – individuelles 418 – kollektives 418 Gedanke 79, 211, 286–288, 290–291, 294, 300–307, 332–333, 337, 341–342, 350, 357, 388, 391, 422 – als Ausdruck der Vernunft in der Natur 290, 295 – Äußerlichwerden 329, 341 – Gegenständlichkeit 301 – und Sprache 329–330, 393 Gedankenspiel, freies 99 Gefühl 23, 41, 112, 123, 137, 141, 221, 223, 227, 239–243, 245–246, 254–259, 264–266, 276, 281, 285–286, 328, 340–342, 344,

– – –

– –

– – – – – – – – –



– – – – – – – – – – –

455

348–349, 369, 378–382, 386–388, 394– 395, 404, 408, 411, 420, 422 Abhängigkeitsgefühl siehe Abhängigkeit Aktion 382 als Ausdruck der inneren mentalen Zustände 264, 289–295, 299, 301, 310, 317, 328, 335, 341–342, 344, 350, 378, 388, 422 als Ausdruck der Vernunft in der Natur 290, 295, 297 als individuelles Erkennen 223–224, 227, 230, 242, 255, 265–266, 276, 281, 288, 290, 298–299, 303, 315, 317, 328, 341, 344–345, 347, 349, 355, 364–366, 372, 387–390, 422 als individuelles Selbstbewusstsein 341 als individuelles Symbolisieren 221, 386, 388 als Innewerden der eigenen Zustände 112, 123, 169, 259, 314, 420, 423 als Lebenstätigkeit 290–291, 295, 340 als unmittelbarer und vorreflexiver Ausdruck 291 als unmittelbares Selbstbewusstsein 307– 315, 317, 329, 341, 388, 422 als Zuständlichkeitsbewusstsein 123–125, 153, 169 Ausdruck siehe Ausdruck Äußerlichwerden 224, 315, 328–329, 334, 338, 341–342, 344, 362–363, 366, 368, 379, 388, 391 Begriff des Gefühls 22–23, 27, 277, 281, 288–289, 294–295, 310, 315, 317, 340– 342, 344, 379, 422 Darstellen (Darstellung) siehe Darstellen Entstehung 326, 328–332, 335–336, 338, 342, 345, 365–366, 382, 386, 411 Ethisierung siehe Ethisierung Frömmigkeitsgefühl 7, 103 des Individuums 224 höheres 255–256, 258 siehe auch sittliches Gefühl im sittlichen Sein 225, 227–228, 254 siehe auch sittliches Gefühl im Verhältnis der Offenbarung siehe Offenbarung Individualisierung siehe Individualisierung individuelle Einheit 226 individuelles 303, 422

456  Sachregister

– Kundgeben 327, 334–335 siehe auch Äußerlichwerden des Gefühls – leibliches 255, 290, 306, 310–311, 341 siehe auch sinnliches Gefühl – Medium 223 – Mitteilung siehe Mitteilung – momentanes 364, 369, 372, 380, 411 – niederes 255–256, 258 siehe auch sinnliches Gefühl – persönliches 410 – Reaktion 374–375, 382, 410 siehe auch Gemütsbewegung – religiöses 124–125, 141–142, 171, 225, 256– 257, 260–261, 290, 295, 341, 393, 410, 425 – religiöses, gemeinsames 398–399, 410, 424 – Richtigkeit 413 – sinnliches 253–258, 265, 290, 295, 301, 311, 315, 330, 341, 420 – sittliches 253–257, 290, 292, 295, 301, 303, 306, 310, 331, 341, 365 – Sittlichkeit siehe Sittlichkeit – Stärke 124 – und Darstellen siehe Gefühl und Darstellen – und Darstellung siehe Gefühl und Darstellung – und Gedanke 303–306 – und Gemütsbewegung 293–294, 348, 382 – und Kombination 346–347, 351 – und Kunst siehe Gefühl und Kunst – und Phantasie 356 – und Religion siehe Religion und Gefühl – und Selbstbewusstsein siehe Gefühl und Selbstbewusstsein – unmittelbares 328 – unmittelbare Gefühlsmomente 301–303, 373 – unübertragbares 223, 303, 315, 327–328, 339, 344, 365–366, 378–379, 385–386, 389, 420, 425 siehe auch Unübertragbarkeit – Wiedererkennen 381–383, 385 – Zuständlichkeitsgefühl siehe Zuständlichkeit Gefühl und Darstellen 223–224 – Identität 223, 227, 364 siehe auch Wechselwirkung von Gefühl und Darstellen – Oszillation 223, 328 – Wechselwirkung 223–224 Gefühl und Darstellung 316, 370–373 – Identität 364, 376

– individuelle Einheit 398, 403 siehe auch Religionseinheit – momentane Identität 372–373, 376 Gefühl und Kunst 242, 316, 329, 364, 380–381 – Identität 227–228 – Wechselwirkung 224 Gefühl und Selbstbewusstsein 298–301, 306, 309–311 Gefühlsmomente, unmittelbare 301–303, 373 Gegenseitigkeit siehe auch Reziprozität – der Geselligkeit 221–222 – der Offenbarung 380 gegenständlich 122 Gegenständlichkeit 113, 301, 421 Gegenstandsbezug 113–116, 125, 421 – sensueller 120, 122, 125, 155 Gehalt und Gestalt 391 Geist 38, 43, 45, 71–72, 130, 167, 191 – Begriff des Geistes 36–37, 73 – freie Tat 79–80, 90 – Geistesbildung, kommunikative 62, 82 – göttlicher 256–257 – Grundfunktionen 53–54, 191 – Grundstruktur 53, 72, 88, 279, 328–329, 347, 356, 364, 386, 389 – humaner 71, 87, 140 – individueller 86 – Kommunikationsfähigkeit 84 – Kräfte 54 – Manifestation, individuelle 86 – metaphysisches Schema 45, 49, 50–52 – Mitteilung 140–141 – Selbstbildung 64 – Selbstmanifestation 368 – Selbsttätigkeit 123, 365 – Sphäre 43–45, 51, 53, 71, 77, 167, 191, 234 siehe auch geistige Welt – Sprache 84 – Tätigkeit 73, 95–96, 192, 328 – und Religion 37 – Vermögen siehe Vermögen – Wahrnehmungsfähigkeit 84 Geistesbildung, kommunikative 62, 82 Geistessphäre siehe Sphäre des Geistes Geistmetaphysik 10 – geistmetaphysisch 34, 64, 167 geistphilosophisch 32, 364, 386, 391

Sachregister

Geisttheorie siehe Geistverständnis – geisttheoretisch 10, 71, 142, 329, 364–365 Geistverständnis 32, 35–37, 49, 55, 72, 87, 191, 328 – anthropologisches 25, 35, 40, 52, 64, 92, 100, 140, 167, 366 Geld 209 Gemeinschaft 7, 12, 81, 85–86, 95–96, 100, 168, 202–204, 320, 331, 337–339, 341, 345, 379, 385, 398–400 siehe auch Geselligkeit – als gebundene Geselligkeit 95–96 – des abgeschlossenen Daseins mit dem Ganzen siehe Vereinigung des abgeschlossenen Daseins mit dem Ganzen – des Individuums mit dem Ganzen siehe Vereinigung des abgeschlossenen Daseins mit dem Ganzen – Einheit 209 – gebundene 146, 168 siehe auch gebundene Geselligkeit – der Individualität siehe individuelle Gemeinschaft – der Individualitäten siehe Geselligkeit – Individualität siehe gemeinschaftliche Individualität – individuelle 220 – individuelle Identität 203, 399 – religiöse 141–142, 148–152, 162, 364, 401, 403, 410, 415 siehe auch religiöse Geselligkeit – sittliche 272–275 – weltliche 148 gemeinschaftlich (Gemeinschaftliche, das) 7, 202, 204, 219, 223, 240, 302–303, 328 – Individualität siehe Individualität – Leben 336 Gemeinschaftlichkeit 11, 206–207, 219, 223, 226, 237, 274, 280, 305, 320, 398–399 – absolute 207, 218–219 – Charakter 206–207, 210, 219 – Individualisierung siehe Individualisierung – individuelle 209, 398 siehe auch individuelle Identität Gemüt 123, 330–331 – Gemütsaffekt 102 – Gemütsbewegung 293–294, 348, 352, 357– 358, 367, 382, 410 – Gemütsstimmung 298, 348–349, 352, 382

 457

Genie 114 – Genieästhetik 114 geoffenbart 166 geschichtsphilosophisch 58–61, 166 geschichtstheoretisch 179 Geschmack für das Unendliche 112, 120 gesellig 139, 142, 409 – Einrichtung 139, 141 – Stil 414 – Verhalten 95, 97, 99–100 – Zusammenleben 285 Geselligkeit 35, 63, 92, 131, 139–140, 143, 151, 171, 217, 220, 222, 317–326, 337, 341–342, 345, 379–380, 408–409, 418, 423 – als Ganzes 97, 99 – als Gemeinschaft der Individualitäten 93, 99– 101, 139, 152, 168, 220, 222, 385 – als Gemeinschaft der Sittlichkeit 324 – als individuelles Ganzes 99, 101 – als Kommunikationsort der Individualitäten 220, 222 – Begriff der Geselligkeit 92–92, 101, 146–148, 168, 222, 318–319 – Bilden 99 – Erhalten 99 – formelles Gesetz 95, 98–100 – freie 95–101, 146–147, 152, 171, 220, 222, 226, 253, 318–319, 341, 395, 400–402, 409 – freie, als ein Individuum 99 – freie, als ein lebendiger Prozess 99–100 – freie religiöse 151, 171, 397, 409 siehe auch Kirche – Freiwilligkeit 221–222 – gebundene 95–98, 101 – Gegenseitigkeit 221–222 – Gestaltung 100, 220 – Individualität 99 – materielles Gesetz 95, 98–99, 101 – quantitatives Gesetz 95, 98–99, 101 – religiöse 140–141, 146, 148, 151, 171, 364 – Selbstzwecklichkeit 97, 99, 146, 168, 318– 319 – und Kirche 407–409 – unmittelbare und innere 345 – Wechselwirkung als Form der freien Geselligkeit 97–98

458  Sachregister

– Wechselwirkung als Zweck der freien Geselligkeit 97–98 – Zweck 97 Gesellschaft 95–100 siehe auch Geselligkeit – als freie Geselligkeit 95–96 – mit Individualität 99 Gesellschaftstheorie 33 Gewissen 102 Gewissheitsproblematik 67 Glaube 102 Glaubenslehre 6–7, 10–11, 13, 37, 53, 185, 187, 228–230, 258, 260, 281, 283, 288, 295, 307–310, 315, 340, 350, 396, 403, 420, 425 Gott 102, 104, 126–127, 251, 256–257, 388 – als das Absolute 105 – als Inbegriff der Totalität und Einheit der Welt 256 – als Vernunftidee 104 – Existenz 103–104 – Gottesbeziehung 103 – Gottesgedanken 126–127, 251 – Gottesidee 126–127 – Gottesverehrung 103 Gottesbeweis 102 – kosmologischer 103–104 – ontologischer 103–104 Göttliche, das 104–105 Götzenverehrung 159 Grundanschauung 160–161, 164–165, 171, 424 Gute, das 179, 193, 197, 249, 257, 372 – Begriff des Guten 184 – höchste 20, 187, 190, 321–322 Güterethik 20–21 Güterlehre 179, 184, 190–191, 198 – als Darstellung des höchsten Guten 184 – Aristoteles' 184, 186 haecceitas 69–70 Handeln 6, 111, 179, 190, 193, 195–197, 418 – als Wesen der Moral 111 – Begriff des Handelns 111 – Handeln der Vernunft auf die Natur siehe Vernunft und Natur – individuelles 203 Handlung – als Tätigkeit der Vernunft auf die Natur 265 – Handlungsgebiet 18–19, 196, 205–228, 317

– Handlungssphäre siehe Handlungsgebiet – Handlungstätigkeit der Vernunft 6, 101, 180, 195, 202 – Handlungsträger 195, 199–205 – Handlungstypen 195–199, 201–203, 271, 275, 395, 419 Handlungstätigkeit der Vernunft 6, 101, 180, 195, 202 – im Modus der Identität 210, 294, 300, 303 – im Modus der Individualität 265, 293–294, 298, 300, 302–304, 311, 319 – im sittlichen Sein 345 handlungstheoretisch 25, 27, 179, 183, 185, 214, 220, 263, 279, 397, 420, 425 – Schema 187–188, 221, 230, 423 siehe auch Quadruplizitätsschema – Schema von Organisieren-Symbolisieren 61, 85 Handlungstheorie 21, 115, 177, 179, 190, 193– 194, 262, 271, 275, 281, 395, 397, 409, 418 Handlungsträger 195, 199–205 – alle Menschen 195 – einzelner Mensch 195 – identische Vernunft 200, 202–205 – individuelle Vernunft 200, 202–205, 418 Handlungstypen 195–199, 201–203, 271, 275, 395, 419 – Organisieren siehe Organisieren – Symbolisieren siehe Symbolisieren Handlungsweise siehe Handlungstypen Heraustreten – aus der Beschränkung der Persönlichkeit 211, 213, 223 – des Gefühls 348, 350, 352, 367–368, 389 – des identischen Selbstbewusstseins 376 Hermeneutik 12, 28 – der Endlichkeit 170 – hermeneutische Fähigkeit des Subjekts 117– 118, 120, 125, 135, 170 – Tiefenhermeneutik der Individualität 135, 170 Herrnhuter – Brüdergemeine 94, 151 – Hintergrund 84, 94, 151 – Pietismus 84, 94 hierarchisch 402 – kirchlich-hierarchisch 403 Hordenzustand der Religion 401–402, 407 Humanismus 175–176

Sachregister 

Humanität 41–42, 78, 157 siehe auch Menschheit Humanum 304, 424 – Identität 382 – Religion als Wesenselement siehe Religion Ich 67, 72, 246, 296, 309, 313 – allgemeines 73 – eigenes 57, 88 – fremdes 57 – Ich-Bewusstsein, allgemeines 296, 299, 304 – Ich-Entgegengesetztes 56 – Ich-Gedanken 72, 304 – Ich-Vorstellung 311, 315 – individuelles 67, 73, 313 – potenzielle Ich-Deutungen 90 – potenzielle Ich-Möglichkeiten 80–82, 85, 87– 88, 89–90 – Vollendung 89 Ich und Nicht-Ich 191–192, 232, 249, 292 – Wechselwirkung 192, 195, 232 Ichheit 67, 73 – als allgemeine Eigenschaft 67 – als allgemeine Struktur 67 Idealismus 4, 49, 82, 212 Idealist 56, 58–59, 61 Idee 178–179, 193–194, 198, 231, 235, 237, 250–251 – als beseelendes Prinzip 194 – Bildung 68 – Nicht-Zeitlichkeit 194 – Potenz 176, 197, 199, 207, 231, 233, 235 – Totalität und Einheit 243 – Vermögen siehe Vermögen Ideenlehre, Platons 68 identisch (Identische, das) siehe auch gemeinschaftlich (Gemeinschaftliche, das) – allgemeingültige 213 – Bewusstsein 276 – Selbstbewusstsein siehe Selbstbewusstsein – Subjekt 398 – Vernunft siehe Vernunft Identität 168, 203, 212, 239, 346 – biologische 71–72, 75, 91 – Charakter (Vernunft) 202–203, 205–206, 208, 211, 216–217, 265 – der Idee mit der Sinnlichkeit 237, 248

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– der Vernunft mit der Organisation 247–251, 253, 257–258, 372, 392 siehe auch Vereinigung der Vernunft mit der Sinnlichkeit – des Allgemeinen und Besonderen 216, 234, 236–237, 397 – des Individuums mit dem Absoluten 225 siehe auch Vereinigung des Individuums mit dem Absoluten – des Subjekts 67 – eigene 11, 65 – einer epistemischen Instanz 67 – individuelle Identität 11 – individuelle Identität als Mensch 88 – individuelle Identität der Gemeinschaft 203, 399 – konkrete Identität des individuellen Selbst 72, 75, 90, 91 – personale 65 – Substanzidentiät 67 Identität und Individualität 10–11, 21, 202, 275, 284–285, 303, 305–306, 400 – Oszillation 219 – Vereinigung 400 Identitätsphilosophie, Schellings 247, 260, 397 identitätsphilosophisch 268–269 In-sich-Aufnehmen 192 Individualisierung 3, 33, 72–74, 79–80, 88–90 – als Formung des Menschen 88 – als Selbstbestimmung 89 – als Selbststeigerung 89 – als Selbstzuschreibung 89 – als Wachstum der Menschheit in mir 89 – der Darstellung des Gefühls 398 – der Darstellung des gemeinsamen religiösen Gefühls 398–399, 404 – der Gemeinschaftlichkeit 207–210, 220 – der Menschheit 79 – der menschlichen Natur 278–279 – der Religion 32, 108, 153–154, 157, 166, 171, 401 – der Sprache 214–217, 226, 398 – des Denkens 214–217, 226, 398 – des Gefühls 226, 398 – des Lebens 107 – des Subjekts 70–71 – unendliche 90 Individualität 3–7, 10–12, 33, 65, 67–68, 70–71, 73, 78–79, 82, 92, 121–122, 130, 135–136,

460  Sachregister

– – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

147–148, 153, 155, 168–170, 203, 205, 212, 217–218, 221, 239, 242, 287, 293–295, 304–305, 320–321, 323, 335, 346–348, 357, 365, 383, 385, 392, 397–400, 418, 423 als Anschauung der Menschheit in mir 136 als Darstellung der Menschheit im Einzelnen 170 als eigentümliche Darstellung der Menschheit 91, 135–136, 168 als verschiedene Verbindungsweise des Einzelnen mit der gesamten Natur 284– 285 als verschiedenes Verhältnis des Einzelnen zu dem Ganzen 282–283 Austausch 99–100 Charakter 199, 202, 205–207, 211, 217–218, 221, 223, 227, 265 Darstellung 335, 348, 351, 359–360, 367– 369, 379, 385 der Anschauung 121–122, 155 der Gemeinschaft siehe gemeinschaftliche Individualität der Geselligkeit 99 der Kirche 400, 415 der Religion 12, 124, 157–159, 163, 165, 171, 424 des Einzelnen 203, 282–285, 287, 289, 304, 326, 351, 400, 408 des Gefühls 422 siehe auch individuelles Gefühl des Staates 208–210 endliche 135 gemeinschaftliche 99, 203, 207–208, 219, 370, 398 Gemeinschaftlichwerden 219–220, 222 Genese 71–72, 74–75, 81, 88, 91–92, 135, 168 Gestaltung 92, 168 größere 398 Hervorbringen 44, 65, 79, 90–91, 319, 348 höchste 397, 400, 415 siehe auch Individualität der Kirche in der Idee 241 siehe auch wahre Individualität innere Bildung siehe Bildung kleinere 398 kleinste 400 siehe auch Individualität des Einzelnen konstante 376, 378

– menschliche 12, 48, 64–66, 76, 78, 91, 93, 159, 167, 201, 240, 346 – Mitteilung 99–100, 345, 358 – natürliche 241, 331 – Objektivierung 365–366 – Problem 23, 75 – Produktion 91–92 – Selbstbildung siehe Selbstbildung – Sozialität 418, 423 – und Identität siehe Identität und Individualität – und Religion siehe Religion und Individualität – unübertragbare 219–220 – Unübertragbarkeit siehe Unübertragbarkeit – wahre 241 – wesentliche und begriffsmäßige 284–285, 287 Individualitätskonzept – frühromantisches 9–13, 25, 31–32, 35, 64, 75, 90, 92, 100, 107, 130, 132, 135, 137, 167– 168, 201, 205, 319, 417–418, 425 – kantisches 70, 75, 284 Individualitätstheorie 5–6, 8, 14–15, 17, 23, 25– 26, 66, 71, 75, 82, 92–93, 95, 101, 222, 275, 335, 382, 417–419 – individualitätstheoretisch 14, 24–25, 32, 153– 154, 166, 425 Individualitätsverständnis siehe Individualitätstheorie Individuation 68, 79 – äußere 91, 167 – Bestimmtheit 70 – Binnenstruktur 74, 91, 131 – der Dinge 76–77 – der Einzelsubstanz 69–70 – der Religion 5, 26, 153–154, 157–160, 162, 165, 171 – des Menschen 5, 68, 71, 74–75, 77, 79, 91, 131, 153, 157, 160, 165, 167–168 – des Subjekts 10, 32, 66, 71, 74, 91, 134, 157, 167 – Exklusivitätsmodell 70, 76–78 – innere 66, 75, 91, 134, 157 – Konstellationsmodell 77, 79, 160, 346 – Mischungsmodell, spinozistisches 77, 79, 91, 136, 157, 167, 346 – personale 157 siehe auch Individuation des Menschen

Sachregister

– Subtraktionsmodell 78, 156–160, 162 Individuationsmodell 79, 346 – Exklusivitätsmodell 70, 76, 77–78 – Konstellationsmodell 77, 79, 160, 346 – Mischungsmodell, spinozistisches 77, 79, 91, 136, 157, 167, 346 – Subtraktionsmodell 78, 156–160, 162 Individuationsprinzip 32, 69–70, 91, 157, 159, 167, 171 Individuationsproblem 10, 14, 65–66, 68–70, 75, 91, 163, 167, 417 Individuationstheorie 75 – individuationstheoretisch 10 – der Materie 48 individuell 87, 169–170, 201, 389, 399 Individuelle, das 69, 202–204, 234, 240, 286, 379, 382 – als endlich 135–136 siehe auch Endliche, das – als gemeinschaftlich 202 – des Gefühls 364, 366–367 Individuum 54, 65, 73, 77, 85, 87, 90, 96, 131– 132, 134, 147, 203, 273–274, 321–325, 348, 399, 405 – Abgeschlossenheit siehe Abgeschlossenheit – absolutes 77 – als Darstellung der Menschheit 132, 165 – als eigentümliche Gestaltung der Menschheit 131, 136 – als individuelle Darstellung der Menschheit 131–132 – als individueller Träger der Menschheit 73 – als Modifikation der Menschheit 133 – als Organ der Vernunft 321, 323–325, 380 – als Subjekt 70 – als Teil der Menschheit 132, 135–136 – als Teil des Ganzen 380, 383 – eigentümliches 168 – freie Geselligkeit als ein Individuum 99 – konkretes 53, 191 – Persönlichkeit und Zeitlichkeit 194 – Selbststrukturierung 54, 56–57 – und Menschheit 131–133, 135, 166 – Vermittlungsfunktion 321, 324, 408 Innenwelt 87 – geistige 96, 98, 168, 220, 319 Innere, das 350 – Ausdruck 145, 148 – Sprache 86

 461

Innerer und äußerer Kreis der religiösen Gemeinschaft 148–149, 151 Innerlichkeit – des Gefühls 393 – des Subjekts 344 Institution 21, 227, 395 – institutionell 7, 151–152, 216, 226, 253, 255, 403, 407 – Institutionstheorie 21, 151–152, 403, 423 Institutionalisierungsform der Religion 3–4 Intentionalität 124–125, 421 – intentional 122, 124 intersubjektiv 54–55, 57, 140, 146, 168, 381, 389 Intersubjektivität 82, 393 Intersubjektivitätstheorie 92, 104, 131, 168 – intersubjektivitätstheoretisch 115 irdisch 55 Jugend, ewige 89 Kirche 7, 226–228, 395–417, 423 – als freie religiöse Geselligkeit 397, 408, 415 – als freie Vereinigung religiöser Menschen 149–150 – als gesellige Einrichtung 138–139, 141 – als gesellige Vereinigung 409–410, 415 – als institutionelle Einrichtung 403, 407, 415, 423 – als institutionelle Gestaltung 226–227 – als Ort der intersubjektiven Kommunikation 142, 171 – als Ort der religiösen Kommunikation 152 – als Ort für die Mitteilung der Religion 397, 415, 423 – als Religionseinheit 403–404, 411, 415 – als religiöse Gemeinschaft 26, 138, 141–142, 150–151, 153, 171, 227, 386, 393, 397, 407, 409, 416, 423 – als religiöse Versammlung 150–152 – als religiöser Verein 151 – als Vereinigung von Identität und Individualität 400 – Begriff der Kirche 27, 107–108, 138–142, 146, 151–153, 171, 222, 227–228, 254, 264, 379, 386, 394–398, 400, 415, 423 – christliche 396 – Entstehung 397, 399–404, 406–407 – Gestalt 142

462  Sachregister

– Idee 139, 226, 398–401, 403, 415 – Individualität siehe Individualität – Krise 107, 138 – Pluralität siehe Pluralität – und Geselligkeit 407–409 – und Kunst 397, 400, 410–411, 415 – wahre 142, 148–150, 152, 171, 397, 409 – Wesen 397, 400–401, 403, 407, 409 – Zweck 142–143, 148 kirchlich 401–402 Kirchlichkeit 425 Klassifikation – der Religion 157, 159–160, 162 – des Universums 109 – Methode 160 Klerus und Laien siehe Priester und Laien Kombination 159–160, 242–243, 286, 371, 377 – analytische 346, 357 – Kombinationsvermögen 198, 218, 241, 245, 345, 353–357 – synthetische 345–348, 351–354, 357–358 Kommunikation 54, 60, 81, 84, 140, 280, 304, 418 – des Religiösen 22, 152 – gemeinschaftliche 81 – im Gebiet des Gefühl 327, 331, 335, 339, 341, 364, 373, 378–381 – in der Religion 139, 141–142, 145 – intersubjektive 11, 35, 92–93, 135, 147, 157, 168, 171, 364, 373, 379–380, 383, 385, 410, 419, 423 – Kommunikationskompetenz der Religion 107 – soziale 11 kommunikationstheoretisch 10, 13, 58–61, 93, 288–289, 317, 339–341, 379–380, 386, 388, 391, 408, 423–424 kommunikativ 62, 82 Kommunizieren 22, 85, 315, 365 Konkrete, das 116 Konstellation 79–80 siehe auch Mischung – der allgemeinen Element der Menschheit 118, 168 – der einzelnen Elemente der Religion 160, 162, 171 – Konstellationsmodell der Individuation siehe Individuationsmodell kontinuierlich und diskontinuierlich 89, 131 Körperwelt siehe Welt, körperliche

Kraft 53 – Abstoßungskraft 44 – Aneignen und Abstoßen 44 – Aneignungskraft 44 – Anziehungskraft 57–59, 85, 90 – Attraktion und Repulsion 43–44, 53, 130, 167, 191–192 – Ausdehnungskraft 58, 59 – biologische 44 – physische 43 – Rezeptivität und Spontaneität 48 – Vereinigung der entgegengesetzten Kräfte 44 Krisendiagnose – der Religion 103–107 – gesellschaftlich-kulturelle 103, 105–107, 169 – religionsphilosophische 103–105, 107, 168 Kultur 18, 34, 106, 107, 110, 112, 175, 190, 195– 196, 205–206, 208–209, 222, 227–228, 395, 403, 418–419, 421 – als Ersatzreligion 106 – Begriff der Kultur 17, 175–177, 183 – Bereich/Gebiet 18, 108, 169, 185, 205–206, 211, 222, 228, 253, 395, 419–420, 424 – Idee einer vollkommenen Kultur 183 – individuelle Idee 208–210, 217 – Kulturphänomen 6, 27, 195, 214, 222, 395, 407, 419 – moderne 3 – überindividuelle 418 Kulturanthropologie 34, 176 – kulturanthropologisch 183, 419–421 Kulturphilosophie 16, 18, 175, 180–182, 184, 186, 262, 396, 419, 423 – handlungstheoretische 184, 186, 195, 418– 419 – kulturphilosophisch 152–153, 181–182, 418, 424–425 Kulturtheorie 5–6, 17, 101, 110, 152, 175–177, 179–180, 184, 189, 227, 230, 363, 419, 425 – kulturtheoretisch 19, 21–22, 25–27, 101, 110, 175, 185, 195, 397, 418–421, 424 Kulturwissenschaft 110, 228, 418, 425 Kultus 411–412 Kunst 224, 348, 351–352, 358–364, 367–371, 374–379, 384–387, 410–411 – Absichtlichkeit 375 – als Ausdrucksmedium des Gefühls 344, 379, 420

Sachregister 

– als Darstellungsmedium des Gefühls 224– 225, 227, 389 – als Inbegriff 361–362 – als Kommunikationsort für die Kirche 386 – als Medium der Religion 227, 343, 387, 390– 391, 394, 404, 412 – als Ort der Selbstdarstellung 360 – als Ort der Selbstmanifestation der Individualität 360, 362, 386, 424 – als System der Darstellungen der Individualität 316, 359–362 – als System der Darstellungen des Gefühls 264, 359–364, 367–368, 374– 380, 383–386, 389–392, 394 – Anteilhaben 384–385 – Beständigkeit 362, 375 – bewegliche 367, 373 – bildende 367, 373, 377 – Formgebung 378, 386, 392 – Funktion 27, 363–387, 411, 420 – Ganzheitlichkeit 361–362, 375 – in der Phantasietätigkeit 348, 351–352, 362– 363, 367, 388–389 – Kunstdarstellung 226, 254, 344, 364, 377– 378, 380, 383, 386, 389, 411–413, 420 – Mitteilungsleistung 363, 378–387, 391–394, 420–421, 423 – Objektivierungsleistung 363, 366–369, 376– 381, 386–387, 391–394, 411, 420–421, 423 – religiöse 414 – Sittlichkeit 412 – und Gefühl siehe Gefühl und Kunst – und Geselligkeit 383–385, 408 – und Individualität 360, 367–368, 424 – und Kirche 397, 400, 410–411, 415 – und Religion siehe Religion und Kunst – Zweckmäßigkeit 375 Kunstart 361–362, 366 Kunstgebiet 360, 362, 382, 414 – profanes 414, 416 – religiöses 414, 416 – weltliches 414 siehe auch profanes Kunstgebiet Künstler 361, 369–370, 384–385 – Virtuosität 369–371 Kunstschatz 411, 416 Kunstsystem 403–404, 410–411, 415 Kunsttheorie 359, 413

463

Kunstwerk 355, 359–360, 366, 369, 389, 411– 412 – als einzelne Darstellung 360 Leben 40, 42, 190–191, 194 – als abgeschlossenes und unübertragbares Eigentum – Anschauung 191, 232, 247, 255 siehe auch Bestimmung des Lebens – Begriff des Lebens 342 – Bestimmung 40, 190–191, 195, 204, 210, 225, 364 – bürgerliches 95 – Einheit 223, 282–287, 289, 291–293, 301– 302, 304–305, 341, 347, 351, 366 – geistiges 48, 128, 169 – Gestalt 33 – häusliches 95 – Individualisierung 107 – intellektuell-geistiges 95 – natürliches 255–256 – Pluralisierung 107 – religiöses 94, 412 – sinnliches tierisches 72 – sittliches 193–194, 196, 199, 204, 207, 210– 211, 219, 225, 231, 235–236, 322, 325, 372, 377, 389–390 – soziales 101, 168, 176 – vernünftiges 192–195, 255–256, 328 – Wert 40 Leib – als Medium des natürlichen Ausdrucks 349 – menschlicher 283, 300, 306 Leib und Seele 268–269, 293 – Seele-Leib-Einheit 293 Leiblichkeit 349, 351 Letztbegründung 109 – Gottes 111 Liberale Theologie 7 Liebe 84–85 – als anziehende Kraft 85, 90 – als wechselseitige Attraktion 84 Logik 69 Lust und Unlust 41, 248, 253, 255, 372, 377– 378, 386–387, 392 – Aufhebung des Gegensatzes 378, 386–387, 392 – Beschränkung des Gefühls 353, 377

464  Sachregister

Manifestation – der absoluten und unendlichen Totalität 135, 170 – des Geistes, individuelle 86 – Selbstmanifestation siehe Selbstmanifestation manifestieren 212 Mannigfaltigkeit 126 siehe auch Vielheit – absolute 404 – des Besonderen 270 – des unmittelbaren Selbstbewusstseins 314– 315 materia formata 69–70 Materie 69 Mathematische, das 311–315, 404 – und das Transzendente 404 Meister-Jünger-Verhältnis 149–150, 152 Mensch 40, 105, 193 – als durch die Vernunft beseelt 192–193, 225, 247–248, 256–258 – als ein abgeschlossenes Dasein 191–192, 239 – als ein Ganzes 89, 257–258 – als individuelles Einzelwesen 285 – als Natur 192–193, 246–247, 257–258 siehe auch Mensch als Naturwesen – als Naturwesen 191, 201, 205, 207, 230, 237, 242, 244, 265, 271–272 – als Vernunftwesen 271, 292 siehe auch Mensch als durch die Vernunft beseelt – Bestimmung 32, 34, 39, 41–42, 66, 91, 119, 167 – eigenes Wesen 80–81, 85–88, 90 – eingeschränkter 55, 57–58, 60–62 – einzelner 63, 72, 156, 195, 201, 384–385 – endlicher 163 – Entwicklung 62 – Formung 88 – Ganzheitlichkeit 143, 145, 283 siehe auch Einheit des Leben – gemeiner 56–58, 60, 62 – individueller 78, 86 – inneres Wesen 87–88 – Mensch sein 72 – Mensch werden 65, 72, 80, 88, 134 – Menschsein (Mensch-Sein) siehe Menschsein – Menschwerden (Mensch-Werden) siehe Menschwerden

– – – –

religiöser 141–142, 147–149, 151, 163, 171 Unfähigkeit 56, 136 unterschiedliche Darstellung 63 Verhältnis zwischen Menschen siehe Verhältnis – Wesen 34, 39–42, 119, 142, 169 – Wesen des einzelnen Menschen 79 Menschenwürde 67 Menschheit 12, 39, 54, 57, 65, 73, 78, 127–128, 130–137 – allgemeine Elemente 79, 157, 382 – allgemeine 6, 118, 140, 240 – als Ganzheit und Totalität 165 – als menschliche Natur 128 – als qualitativer Maßstab für humanes Dasein 78 – Anlage 117 – Anschauung siehe Anschauung – Austausch 63 – Begriff der Menschheit 78 – Darstellung 54, 72, 84–86, 88, 135, 170 – eigene Darstellung 87 – eingeschränkt 62 – Entwicklung 56, 62–63, 92 – Gebiet 84–86, 88, 126–129, 131, 137 – Gestalt, eigene 79 – Gestalt, individuelle 87 – Gestalten, verschiedene 78, 87 – höhere 62–63 – ideale 54–55, 57 – im Einzelnen 85 – in mir 73, 78, 80, 87– 89 – in sich 73, 78, 85, 89 – individuelle 83, 118 – individuelle Darstellung 54, 78, 91, 132 – individuelle Offenbarung 78 – Menschheitsideal 54, 57, 191 – Mitteilung 63 – und Universum 128, 131–133, 135, 137, 166 – unendliche 57–58, 89, 131–133, 168 – ungeteilte 131–133 – Verbesserung 57 – Vollendung in mir 89 – vollkommene 57–58, 61–63 Menschsein (Mensch-Sein) 200, 304–305 – allgemeines 39 – eigenes 65, 87–90, 92–93, 137, 168–170 – individuelles 39

Sachregister 

– sittliches 273 – Vollendung 88 Menschwerden (Mensch-Werden) 80, 82, 86– 88, 131, 201, 392 – eigenes 88, 92–93, 134, 137, 168 – individuelles 421 Metaphysik 66, 69, 103–104, 108–111, 167 – Geistmetaphysik 10 – neuzeitliche 33 – Wesen 111 Metaphysikkritik, Kants 103–104, 169 metaphysisch – geistmetaphysisch 34, 64, 167 – naturmetaphysisch 34, 64, 167 Mimik und Gestik 349 Mischung 77 siehe auch Konstellation – der allgemeinen Elemente der Menschheit 79, 90 – der Funktionen des Bewusstseins mit der gesamten Natur 287, 289, 304 – Mischungsmodell, spinozistisches 77, 79, 91, 136, 157, 167, 346 siehe auch Individuationsmodell Mitmensch 54, 57, 63, 192, 283, 320 mitteilbar 223, 280, 286–287, 300, 315 mitteilen 88, 140–141, 144, 214, 226 Mitteilung 11, 62–63, 81–82, 92–94, 99, 138, 140, 143, 151, 167, 212, 217, 280, 333, 344–345, 371, 381–383, 418, 423 – als Ort der Produktion der Individualität 92– 93 – darstellende 387 – der Individualität siehe Individualität – der Religion 26, 108, 140–146, 149–151, 171, 387, 393–394, 397, 415, 423 – des Eigenen 140, 142 – des Gefühls 315, 343, 380–381, 386, 393, 421, 423 – des Geistes 140–141 – des individuellen Erkennens 345, 348 siehe auch Mitteilung des Gefühls – des Innern 81 – des religiösen Bewusstseins 407 – gegenseitige 81, 140–142, 148, 394, 403, 410, 423 – heiliger Gedanken und Gefühle 62 – intersubjektive 64, 132, 381, 385, 393, 423 – Mitteilungsleistung der Kunst siehe Kunst

465

– religiöse 107, 146–148, 153, 393 – Reziprozität 143, 147–148 – wechselseitige 87, 153 Mittelalter 69, 102 – mittelalterlich 103 Mittler 57–62, 150–151, 403 – als Darsteller 61 – als Gesandter Gottes 58 – als Gestalter 61 – anthropologische Bedeutung 61, 64 – Darstellungsvermögen 60–61 – geschichtsphilosophische Funktion 58–59, 61 – kommunikationstheoretische Funktion 59–61, 150 – Religionsmittler 38 – religiöse Bedeutung 61 – Vermittlungsfunktion 57, 62 Modernisierung 3 Modus – im Modus der Identität 210, 294, 300, 303 siehe Handlungstätigkeit der Vernunft – im Modus der Individualität 265, 293–294, 298, 300 siehe Handlungstätigkeit der Vernunft – Modi des Absoluten 105 momentan (Momentane, das) 344, 360, 373– 374, 376 – Ausdruck des Gefühls siehe Ausdruck des Gefühls – Empfindung 366 – Erregtheit 372 – Erregung 373, 376 – Gefühl siehe Gefühl Monade 76–77, 234 Monadenphilosophie 67 Monadologie 69 Monotheismus 159 monotheistisch 126 Moral 104, 108–111, 178–179 – Wesen 111 Moralphilosophie 67 nachbilden 227, 286 – der Sprache 221, 224, 287, 317, 337, 386, 388 – des Gedankens 330, 343 Nation 400 Nationalität 400 Natur 44, 47, 105, 127, 129, 270, 277, 281–283

466  Sachregister

– äußere 128–129, 286 – der Religion 140 siehe auch Wesen der Religion – des Menschen 139–140, 142 siehe auch Wesen des Menschen – Gebiet 126–129, 131 – gesamte 282, 284–286, 325 – individuelles Bezeichnen der Natur siehe Bezeichnen – klimatischer Zustand – menschliche 128, 152, 178–179, 197, 273, 278–279, 286, 292 siehe auch Menschheit – menschliche Natur als Gattung 270–271 – organische und anorganische 283 – und Vernunft siehe Vernunft und Natur – unendliche 282 Naturphilosophie 44, 46, 167, 191, 196, 231, 244, 263, 265–266, 269 – Schellings 44, 46–47, 50–51, 56, 71, 129, 140, 420 naturphilosophisch 42, 52–53, 56, 191, 196, 201, 205, 216, 244 – Gesetz von Attraktion und Repulsion siehe Attraktion und Repulsion – Grundmodell 44, 48 Naturprinzip, allgemeines 48 Naturverehrung 129 Naturwissenschaft 44–45 Neigung 218, 346 Neuzeit 5, 66, 69, 72–73, 92, 103, 137, 167, 417 neuzeitlich 103 Nicht-Ich 203 siehe auch Ich und Nicht-Ich Objektiv 240–241, 379 – als gemeinschaftlich und identisch 241 Objektive, das 239–240 – rein 378–379 objektivieren 369, 376, 380 – objektiviert 379 Objektivierung 365, 367 – der Individualität 365–366 – des Gefühls 364, 378, 380, 393, 420 – des momentanen Ausdrucks 378 – Objektivierungsleistung der Kunst siehe Kunst Objektivität, reine 379

Offenbarung 166, 316, 325–340, 407, 423 – Begriff der Offenbarung 166, 339–340 – der Religion 166 – des Universums 116, 125 – durch Andeuten und Ahnen siehe Andeuten und Ahnen – Freiwilligkeit 338, 380 – Gegenseitigkeit 338, 380, 423 – intersubjektive 334–336, 341, 379, 403, 419 – Verhältnis 315, 317, 326–338, 341, 343, 365, 379–383, 385–386, 393, 408, 423 Ontologie 69 Organ 408–409 – der Vernunft siehe Vernunft – des Geistes 118 – inneres Organ für das Universum 118 – sinnliches 123, 192 Organbildung und Organgebrauch 197–198, 226, 408 Organisation 241, 330–331 – als Erfahrung 224 – Identität der Vernunft und der Organisation siehe Identität – menschliche 241, 246 – tierische 246 – Vereinigung der Vernunft mit der Organisation siehe Vereinigung organisch 178, 231 – Vermögen des Menschen siehe Vermögen – Welt siehe Welt Organisieren 195, 197–199, 270–271, 273–275 – identisches 195, 202, 206–210, 316, 395 – individuelles 101, 195, 202, 210–217, 317– 318, 323, 326, 345, 395, 408 Organisieren und Symbolisieren 21, 195–196, 198–199, 201 – Vereinigung 198–199 organisierende Tätigkeit siehe Organisieren Organismus 20, 270, 320, 322, 382, 399, 408– 409 – der Vernunft siehe Vernunft – Organismusgedanke 20, 408–409 Organon (ὄργανον) 197 Ort, kontingenter 69 Örtliche, das 240 Oszillation 21 siehe auch Wechselwirkung – des sittlichen Lebens 193–195, 204, 210

Sachregister

– von dem Allgemeinen und dem Besonderen 237 – von Erkennen und Darstellen siehe Erkennen und Darstellen – von Gefühl und Darstellen siehe Gefühl und Darstellen – von Identität und Individualität siehe Identität und Individualität – von Setzen und Aufheben des Persönlichen und Zeitlichen 193–194, 204 – von Sich-Verlieren und Sich-Wiederfinden 232 Pädagogik 34, 84 Pantheismusdebatte, Spinozas 103–105, 169 pantheistisch 105 Pantheistismus, spinozistischer 126 Passion und Reaktion 347 Passivität – des Sinnes 123 – des Subjekts 116, 123 – und Spontaneität 116 patriarchalisch 401–402 – vorkirchlich-patriarchalisch 403 Performanz 213 Person 104 persönlich (Persönliche, das) 193–195, 202, 240, 410 – Beschränkung siehe Beschränkung Persönlichkeit 12, 104, 193–194, 202–203, 206, 211–213, 218, 253, 353, 377, 392 – Beschränkung 377 Pflichtenlehre 184 – kantische 186 Pflichtethik 20 Phantasie 126–127, 242, 348, 352–359, 362, 368, 378 – als individuelle Vernunft 355–356 – als individuelle Vernunfttätigkeit 354–356 – als Kombinationsvermögen 352–357, 359– 360, 366 – Bilden 343, 348, 352, 357–358, 363, 389 – darstellende 352, 356–358, 363, 368 – Individualitätsprinzip 354–356 – Phantasietätigkeit 351–352, 357–358, 362– 363, 367, 369, 371, 378, 388–389 – und Talent 358

 467

Philosophie 110, 177, 215, 217, 225 – als allgemeines Wissen 110 – als nationales Wissen 215–216 – antike 68, 70, 185 – Schulphilosophie, Hallesche 34, 275–276, 287, 290 – subjektivitätstheoretische 102–103 Philosophische Ethik 4–6, 8, 13, 15–28, 46, 61, 85, 92, 101, 110–111, 115, 146, 152, 166, 175, 177–189, 196, 227, 229–230, 264– 267, 417–425 – als handlungstheoretische Kulturphilosophie 184, 186, 417 – Handlungstheorie 189 – als Kulturphilosophie 16, 18 – als Kulturtheorie 5, 25, 179–182, 184, 189, 262, 288 – kulturtheoretischer Aspekt 19, 21–22, 25 – und Christliche Sittenlehre 17, 187–189 Physik 265 – und Ethik 177, 265–266 Physische, das 404–405 Pluralisierung 33 – des Lebens 107 Pluralismus, religiöser 122, 154, 165 Pluralität – der Kirche 400, 416 – der Religion 5, 26, 156, 171, 400, 416, 424 siehe auch Vielheit der Religionen – geschichtliche 5 Pneumatologie 22, 37 Polarität 47, 50 – Polaritätstheorie 38, 50, 56, 58–59, 61 – Schema 47 Polytheismus 159 positiv 166 Positivität, geschichtliche 166 Priester und Laien 146, 149–152, 401–403, 407, 410, 415 principium individuationis 10, 48–49, 75 profan 413–414, 416 – Kunstgebiet siehe Kunstgebiet – Stil siehe Stil Protestantismus 102, 112 Psychologie (Seelenlehre) 6, 22, 28, 34, 53, 92, 307, 359–360

468  Sachregister

Quadruplizitätsschema 6, 27, 184–185, 190– 191, 195–196, 201, 205, 210, 214, 222, 226–228, 230, 241, 264–266, 271, 276, 280, 319, 340, 355, 390, 395, 397, 418 quantitativ und qualitativ 88–89, 131 Rasse 400 Rationalismus 67, 106–107 Räumliche, das 312 Räumlichkeit 377 Reales und Ideales 234 Recht 206, 210, 227, 395 Reden und Hören 141, 143, 146, 329, 335 Reflexion 72, 374–375 Reformation 5, 66, 102 Religion 3, 6, 14–16, 27, 102, 104, 108, 117, 119, 121, 123–125, 129, 137–138, 140, 147, 165, 169, 199, 225–229, 249–254, 256–259, 283, 360, 363, 387–395, 401–402, 419– 420, 423 – Abgrenzung von Denken und Handeln 111–112 – Abgrenzung von Metaphysik und Moral 104, 108–112, 121, 153, 168, 178, 420 – als Angelegenheit des Menschen 119, 421 – als Anlage 166 siehe auch Anlage – als Anschauung des Universums 14–15, 32, 105, 124, 128, 134, 136–137, 228, 251 – als Ausdrucksphänomen 392, 422 – als Beziehung auf das Universum 251 – als Darstellung des Unendlichen im Endlichen 170 – als ein unendliches Ganzes 147–148 – als eine ganze 147, 162, 166 – als eine Handlungsweise 111 – als eine unendliche Totalität 165 – als ethischer Prozess 27, 251–252, 254, 257– 258, 264, 288, 363, 387–389, 391, 393– 395, 403, 420, 424 – als Ethisierung des Gefühls 27, 249–250, 257–258, 288, 363, 387, 389, 393–394, 403, 415, 420, 423 – als Gefühl im sittlichen Sein 225, 227–228 – als individuelles Symbolisieren 61, 264 – als Intentionalität 125, 169 – als Kulturphänomen 6, 27, 195, 222, 419 – als Selbstbeziehung 388 – als Selbstverhältnis 125, 169, 422 – als Vereinigung des Einzelnen mit Gott 251

– als Vernunfttätigkeit 6, 222, 225, 228, 230, 252, 264, 422 – als Wesenselement des Humanum 118, 152, 169 – Anschauungen und Gefühle als Elemente der Religion 122, 155, 158, 160–162, 171 – Art 159–160 – Ausdifferenzierung 108, 169 – Ausdruck 148, 151 – Begründung, anthropologische 118–119, 169, 419 – Begründung, kulturtheoretische 419 – Bewusstsein als Ort der Religion 124 – Bildung zur Religion siehe Bildung – Darstellung 161, 165–166 – Definition 115, 120 – Deinstituionalisierung 139 – Deutung 104, 107 – eigene Provinz im Gemüthe 109–110, 152 – empirisch-psychologischer Ort 109 – Entdogmatisierung 139 – Ersatzreligion 106 – ethische 405 – Gegenstand 109 – Geist einer individuellen Religion 163–164 siehe auch Wesen einer individuellen Religion – Geistesreligion 406 siehe auch ethische Religion – Gestaltung 161–162, 165, 171 – Hordenzustand 401–402, 407 – Identifizierung 108 – Individualisierung siehe Individualisierung – Individualität siehe Individualität – Individuation siehe Individuation – individuelle 153, 163–164, 171 – individueller Charakter 161, 263, 421, 423– 425 – Klassifikation siehe Klassifikation – Krise 103, 106–107, 138 – Maßstab 113, 259, 420 – Medium 144–145 siehe auch Kunst als Medium der Religion – natürliche 156 – Naturreligion 405–406 siehe auch physische Religion – physische 405 – Pluralität siehe Pluralität

Sachregister 

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Position 107 positive 156, 162–163, 424 Privatheit 424 Religionsbegriff siehe Religionsbegriff Sozialität 393, 424–425 Stoff für Religion 131, 134, 137 Struktur 124 Umformung 4 und Philosophie 110 und Religionen 154, 165–166 und Sozialität 423–424 unendliche 147, 155–157, 162, 165–166 universales Schema 112, 125, 169, 259 Untergang 103, 105, 107, 168 Verlust 3, 107 Vernunftreligion 5, 7, 156, 405–406 Verwirklichung 153 Vollendung 123–125, 137, 162–163, 259, 420 Weg zur Religion 131, 134, 136–137 werdende Religion 391 Wesen der Religion 107–108, 110–111, 127, 142, 153, 157, 161, 165, 171, 262–263 – Wesen der Religion als Anschauung und Gefühl 5, 107–108, 111–137, 153, 155, 158, 396, 420 – Wesen einer individuellen Religion 153, 164, 171 – Wesensbestimmung 26, 120, 127, 134, 137, 153–154, 165, 259, 263, 424 Religion und Gefühl 225, 227, 230, 249–250, 281, 291, 317, 329, 342, 387–389, 422 Religion und Individualität – im religionsgeschichtlichen Aspekt 5, 153, 171, 424 – Interdependenz 263, 421–425 – Verhältnis 4–7, 10–11, 15, 27, 108, 170, 175, 185, 189, 196, 228–229, 359 – Verweisungszusammenhang 6, 24–25, 28, 32, 107, 134, 417 Religion und Kunst – Differenz 394, 412–414, 416 – Verhältnis 23–24, 27, 226, 229, 264, 281, 329, 342–344, 363–364, 366, 387–395, 403–404, 415, 420–421, 424 Religionen 153, 154, 157, 160 – als geschichtliche Erscheinungen der Religion 153–154, 159, 163, 165 – einzelne 153–154, 159–160 – geschichtliche 153–154, 161, 424

469

– Geschichtlichkeit der positiven Religionen 164 – individuelle 153, 157, 160–165, 171 siehe auch positive Religionen – Pluralität siehe Pluralität – positive 153–154, 156, 158, 161–162, 164– 166, 171 – Vielheit 154–157, 159, 165 Religionsbegriff 7–8, 13–16, 23, 102–103, 107, 112, 139, 152, 154, 167, 199, 419–420 – ethischer 6, 23–24, 27, 189, 228–230, 235, 244, 250–259, 264, 343, 358, 360, 363, 365, 367, 387–388, 391, 418–422 – individualitätstheoretischer 24–25, 32 – Umbildung 258–263, 420 – Wandel siehe Umbildung des Religionsbegriffs Religionseinheit 403, 406, 415 Religionsgeschichte, allgemeine 6, 396, 416 Religionsmittler 38 Religionsphilosophie 13–14, 119, 169, 281 – subjektivitätstheoretische 13 – religionsphilosophische 5, 8, 24, 64, 104– 105, 107, 160, 163, 168, 229, 281, 283, 288, 424–425 Religionssoziologie 3 Religionstheorie siehe Religionsverständnis Religionsverachtung 106 Religionsverständnis 5–7, 26, 31–32, 92–93, 101, 103, 105, 107–108, 138, 153, 185, 222, 228–229, 281, 306, 319, 329, 388, 395, 413, 419–420 – und Individualitätskonzept 24–25, 31, 134– 137 religiös 118, 225–227, 256–258, 387, 392, 412– 414, 416 – Charakter 404–407, 410 – Charakter, individueller 404, 406 – Erfahrung siehe Erfahrung – Gefühl siehe Gefühl – religiös sein 118, 137, 170, 225, 227, 250, 256, 258, 387, 392, 404–405 – Stil siehe Stil Religiosität 162 – Grad 124 Revolution, französische 106 Rezeptivität und Spontaneität 48, 53, 293, 356, 364, 366, 386, 389 siehe auch Grundstruktur des Geistes

470  Sachregister

Reziprozität 149 – der Mitteilung 143 – der religiösen Mitteilung 146–148, 151 Romantik 4, 212, 413 – Frühromantik siehe Frühromantik – Romantiker 343 – romantisch 263 Säkularisierung 3, 33 – des Alltagslebens 106 Salonkultur in Berlin, frühromantische 94–95 Schelling-Rezeption 46–50, 196, 260–261 Schicksal 405 Schulphilosophie, Hallesche 34, 275–276, 287, 290 Seele 45, 53 – aufnehmende und ausströmende Tätigkeit 53, 360 – Vermögen siehe Vermögen Selbst 72–73 – allgemeines 72–73 – eigenes 87, 90 – individuelles 72 Selbstanschauung 12, 72–73, 170 Selbstauslegung 90 Selbstbestimmung 89, 131 Selbstbewusstsein 23, 67, 72, 74–75, 295–315, 341 – als individuellstes Bezeichnungsgebiet 299– 306 – bestimmtes 298–299 – bewegtes 297, 299 – des Individuums 366 – identisches 364, 369–371, 376–378, 423 – individuelles 276, 303, 305, 341 – konkretes 299 – permanentes 369 siehe auch identisches Selbstbewusstsein – reflektiertes 309, 311, 315, 341 – und Gefühl siehe Gefühl und Selbstbewusstsein – unmittelbares 205, 280, 307–315, 341, 422– 423 – unübertragbares 299 – Unübertragbarkeit siehe Unübertragbarkeit – wahres 296, 299 Selbstbeziehung 291, 301, 388, 423 siehe auch Selbstverhältnis

Selbstbezogenheit 219, 291, 295 Selbstbezüglichkeit 67 Selbstbildung 11, 56, 62, 64, 79–81, 83, 85, 87–89, 96, 131, 135–137, 170 – der Individualität 32, 131, 135–137 – des Einzelnen 80 – intersubjektive 64, 168 – kommunikative 64, 90, 92–93, 168 – und Darstellung 88 – zur Sittlichkeit 422–424 Selbstdeutung siehe Deutung Selbstheit 73 siehe auch Ichheit Selbstmanifestation 360 – der Individualität 360, 386, 424 Selbststeigerung 89 Selbsttätigkeit 140 – des Geistes 123, 365 – individuelle 140 Selbstvergewisserung 140, 142 Selbstverhältnis 124–125, 421–423, 425 – freies 79 – unmittelbares 434 Selbstverständnis 13 Selbstverwirklichung 65, 168 Selbstzuschreibung 89–90, 131 sensation 243 sense 243 – common sense 244, 264 sensitiveness 243 Sensualist 56, 59, 61 sensuell 121 – Gegenstandsbezug 120, 122, 125, 155 Setzen und Aufheben des Persönlichen und Zeitlichen 193–195, 204–205, 377 Sich-ausschließen-Lassen des Individuums 322–325, 341 Sich-Bestimmen 232, 239 singulär 76 siehe auch einzeln Singularität 33 Sinn 85, 118–119, 121, 123 – allgemeiner 84–85, 90, 119 – Dispositionalität 123 – für das Unendliche 112, 118 – für das Universum 118, 120, 135, 170 – für Religion 108, 118, 120, 125, 135–136, 169– 170 – Geöffnet-Sein 84, 90

Sachregister 

– Geschäft 121 – Passivität 123 – religiöser 134 – Tätigkeit 84, 90 sinnlich 55, 122, 192, 254 – Wahrnehmen und Empfinden siehe Wahrnehmen und Empfinden Sinnlich-Empirische, das 387, 392, 422 Sinnliche, das 234, 242, 251–252, 372, 387 Sinnlichkeit 12, 55, 114, 247–248, 254, 256– 257, 293, 353, 392, 399 – Vereinigung der Vernunft mit der Sinnlichkeit siehe Vereinigung Sinnstiftung 106 sittlich 72, 226, 257, 273–274, 344, 372, 376 – Handlungsgebiet 284–285 – Leben siehe Leben – Sittlich-Werden des Gefühls 249, 264 siehe auch Ethisierung des Gefühls – Tätigkeit 380 Sittliche, das 235, 242, 251–252, 405 Sittlichkeit 279, 312, 320, 331, 371–372 – der Darstellung 371, 373, 375–376 – der Kunst 412 – der Vernunfttätigkeit 327, 338, 341 – des Begriffs 237 – des Erkennens 247–249, 422 – des Gefühls 16, 247–250, 328, 339, 363–364, 371–373, 376, 384, 387, 389, 413, 420, 423 – des Lebens 231 siehe auch Leben, sittliches – durchgängige 364 – Potenz der Sittlichkeit des Gefühls 249, 251– 253, 256, 258, 372, 413 sozial 55, 81, 95, 142, 147, 168 Sozialisationsform 95–96 Sozialität 393, 418, 423–425 sozialphilosophisch 13, 25, 35, 95, 100, 138, 151–153, 168, 171, 220, 319, 339, 341, 397, 409, 415, 423 Soziologie 33 Spinoza-Rezeption 48, 75 Spinoza-Studien 10, 14, 32, 115, 154, 167, 171, 417 Spinozismus 48 Spontaneität 338, 357 – des Geistes 365–366 siehe auch Selbsttätigkeit des Geistes

471

– des Subjekts 79, 116 – und Rezeptivität siehe Rezeptivität und Spontaneität Spontaneitätstheorie, Kants 79, 346 Sprache 12, 86, 211, 213–217, 221, 224, 227, 327, 341–342, 350, 357, 420 – allgemeine 86 – als Ausdruck des Gedankens 330, 335, 342 – als Äußerlichwerden des Gedankens 329 – als Element des Staates 209–210 – als Medium des Gedankens 394 – als Medium des Wissens 214, 389–391 – als System der Bezeichnung des Wissens 213, 216–217 – Darstellen 357 – des Geistes 86 – des Inneren 86 – eigene 86 – Gebärdensprache 349–350, 368, 373 – im größeren Stil 144–146, 393–394 – Individualisierung siehe Individualisierung – individuelle 86 – Muttersprache 214–215 – nationale 214, 216–217 – rednerische 144–145 – rhetorische 144–149, 151, 171, 393–394 – schriftliche 143–145, 283, 393–394 – Schriftlichkeit 143–144, 393 – Tonsprache 349–350, 368, 373 – und Wissen siehe Wissen und Sprache Sprachphilosophie 185 Sprechen 211–212 – als Darstellen 211 Staat 206–210, 215–217, 219, 222, 226, 228, 253, 316, 395, 400–402, 407–408 – Individualität siehe Individualität Staatslehre 185, 210 Stifter, religiöser 162–164 Stil 394, 412–414, 416 – geselliger 414 – profaner 394, 413 – religiöser 394, 412–414 Stimmung 298, 360 – Gemütsstimmung 298 Stoff und Form 69, 391 Subjekt 5, 72, 91, 120, 240 – absolutes 72, 75 – allgemeine Struktur 72–73 – allgemeines 35, 66, 68, 70, 75, 91, 167

472  Sachregister

– – – –

Anschauung siehe Anschauung Deutung 14 eigenes 103 hermeneutische Fähigkeit 117–118, 120, 125, 135, 170 – identisches 398 siehe auch allgemeines Subjekt – Identität 67 siehe auch Identität – Individualisierung siehe Individualisierung – Individuation siehe Individuation – individuelles 5, 35, 65–66, 70, 91–92, 103, 167–169, 191, 341, 397, 422 – Innerlichkeit 344 – Passivität und Spontaneität 116 – Spontaneität 79, 352 – Tätigkeit 79 – und Objekt 296 Subjektinstanz 67 subjektiv (Subjektive, das) 239–241 – als eigentümlich und individuell 241 Subjektivität 5, 10, 13, 66–67, 72, 82, 103, 137, 168, 240 – allgemeine 33 – gemeinschaftliche 240–241 siehe auch allgemeine Subjektivität – individuelle 35, 240–241, 298 – konkrete 35 Subjektivitätsproblem 65–67, 70, 72, 417 Subjektivitätstheorie 14, 23, 35, 66, 73–74, 91– 92, 167 – subjektivitätstheoretisch 11, 14, 22–23, 67, 74–75, 102, 137, 288–289, 295, 317, 340– 341, 378–379, 388, 419–424 Subjektphilosophie 102 – aufklärerische 70 – neuzeitliche 67–68, 137 – subjektphilosophisch 10, 34 Subjekttheorie 67 Substanz 67, 69 – Einzelsubstanz 68–69, 76 – individuelle 68 – Substanzidentiät 67 – wahre 105 Substanzlehre, Aristoteles' 68 Substanzontologie 67 – substanzontologisch 67, 105

Subtraktionsmodell der Individuation 78, 156– 160, 162 siehe auch Individuationsmodell Symbolisieren 195, 198–199, 271, 273–274 – identisches 195, 202, 217–222, 239, 317, 329, 336, 364, 395, 420 – individuelles 22–23, 27, 61, 189, 195–196, 202, 222–227, 230, 239, 258, 264, 316– 317, 326, 329, 336, 356, 358, 364, 386, 395, 407–408, 419–420 – und Organisieren siehe Organisieren und Symbolisieren symbolisierende Tätigkeit siehe Symbolisieren synthetisch und analytisch 346–347, 357 System 344–345 – als ein organisches Ganzes 212 Systemgedanken 212 Talent 198, 206–207, 217–218, 346, 357–358, 360–362, 369, 373, 376, 385 – als Kombinationsvermögen 218 – Ausbildung 198, 206, 217–218, 222 Tätigkeit – Bezeichnungstätigkeit siehe Bezeichnen – bildende 197 siehe auch Organisieren – der Seele, aufnehmende und ausströmende 53, 360 – der Vernunft auf die Natur siehe Vernunft und Natur – des Geistes siehe Geist – des Sinnes 84, 90 – des Subjekts 79, 240 – erkennende siehe Erkennen und Symbolisieren – Handlungstätigkeit der Vernunft siehe Handlung – organisierende siehe Organisieren – symbolisierende siehe Symbolisieren – Verstandestätigkeit 84 Teil-Ganzes-Struktur 117, 124, 128, 135–136, 170, 421 Theismus 105 Theologie 5, 34, 111 – Aufklärungstheologie 119 – Begriff der Theologie 102–103 – Dialektische 7 – Liberale 7

Sachregister 

– praktische 391, 415 – protestantische 103 Ton und Gebärde – als natürlicher Ausdruck des Gefühls 349– 352, 362–363, 367–369, 375, 377, 388 – Einfachheit 350–351, 368, 375 – Unmittelbarkeit 350–351, 368, 375 – Ursprünglichkeit 351–352, 368, 375 – Willkürlichkeit 350–351, 368, 375 – Zufälligkeit 344, 350–351, 368, 375 Totalität 132, 190, 234–235, 242–243, 250, 256–257 – absolute 126–129, 136, 251, 388 – als Kennzeichen für das höchste Gute 190 Transzendentalismus 243 Transzendentalphilosophie – Kants 216, 243 – transzendentalphilosophisch 114 Transzendente, das 311–315, 404 – und das Mathematische 404 Trieb 45, 51–53, 55, 87, 140 – Attraktion und Repulsion 45 – Extrempole 55–57, 62 – Polaritätstriebe 57 – Triebpolarität 55, 57 Tugendlehre 184, 186 – Platons 184, 186 überindividuell (Überindividuelle, das ) 365, 372 – Kultur 418 Unendliche, das 105, 116, 121, 125, 251, 421 – absolute 128, 132, 133–134, 136 – Anschauung siehe Anschauung – Darstellung siehe Darstellung – Modifikation des Unendlichen im Endlichen 165 Unendlichkeit 121–122, 130, 132 unermesslich 161 Unermesslichkeit der Anschauung 121–122, 155 Universum 105, 109, 251 – Anschauung siehe Anschauung – Begriff des Universums 125–129 – Darstellung siehe Darstellung – Einwirkungen 141, 143–144 – Existenz 105 – Handeln 116, 121 – Klassifikation 109 – Modifikation 132–133

473

– Offenbarung siehe Offenbarung – Teilhaben an dem Universum 132–133 – und Menschheit 128, 131–133, 135, 137, 166 – unendliches 123, 133–134, 136, 155, 360 – Universum an sich 116 – Verhältnis des Menschen zum Universum 109 unmittelbar 116, 121, 304, 345, 349 – Gefühl 328 – Gefühlsmomente 301–303, 373 – Selbstbewusstsein siehe Selbstbewusstsein Unmittelbarkeit – der Anschauung 121–122, 155 – des Gefühls 301, 307, 311 – von Ton und Gebärde 350–351, 368, 375 unsittlich 371–372, 376 Unsittlichkeit 371 Unterschied – gradueller 76 – wesentlicher 77 unübertragbar 203, 215, 286–287, 300, 334– 335, 398–399 Unübertragbare, das 206, 223, 303, 315, 324 Unübertragbarkeit 203, 207, 218–219, 223– 224, 244, 286–287, 294, 301, 305–307, 317, 322, 324–327, 349, 381, 399, 410 – als Kennzeichen für die Individualität 203, 205, 418 – als Prinzip für die Individualität 286 – der Individualität 319–320, 418–419 – des Gefühls 223–225, 227, 294, 315, 317– 319, 327–329, 332, 336, 341–343, 348, 365, 380–381, 386, 388, 393, 422–423 – des Selbstbewusstseins 301–302 Veränderlichkeit 312 – Veränderlichkeitsbewusstsein 123, 312–315, 341, 375, 392, 422 Veräußerlichung siehe Äußerlichwerden Vereinigung siehe auch Identität – der allgemeinen Elemente der Menschheit 79, 85, 157 – der Allgemeinheit und der Individualität 397 siehe auch Identität des Allgemeinen und des Besonderen – der Elementarfunktionen des Geistes 53–54, 167, 191

474  Sachregister

– der Idee mit der Organisation 193, 237, 247 siehe auch Identität der Vernunft mit der Organisation – der Identität und der Individualität 400 – der Vernunft mit der Sinnlichkeit 247–250, 253, 256–257, 387, 392 – der verschiedenen Vermögen der Seele 41– 42 – des abgeschlossenen Daseins mit dem Ganzen 191–195, 210, 224–225, 232, 245, 247–249, 365, 422 – des Einzelnen mit dem Unendlichen 392, 422 – des Einzelnen mit Gott 251 – des Ichs mit dem Nicht-Ich 191–192 – des Individuums mit dem Absoluten 225 Vereinigungsmodell, spinozistisches siehe Mischungsmodell, spinozistisches Vereinigungsphilosophie 50 Vereinigungsverhältnis 77 Vergänglichkeit 369, 371, 376–377, 392 Vergemeinschaftung 264, 274 – des Lebens 63 – religiöser Ausdrücke 265, 415 Vergesellschaftung 152 Verhältnis – äußeres 79 – der Geselligkeit 317–318 siehe auch Geselligkeit – der Offenbarung 315, 317–318, 326–338 siehe auch Offenbarung – des Einzelnen mit der gesamten Natur 282, 284–287, 292 – des Glaubens 316–317, 327, 333, 341, 380 siehe auch Glauben – des Menschen zum Universum 109 – des Rechts 316–317 siehe auch Recht – zwischen Menschen 316–317, 325–326, 341, 380 – zwischen Menschen, gegenseitiges 218, 222 Vermittlungsfunktion – des Individuums 321, 324, 408 – des Mittlers 57, 62 Vermögen 38 – der Idee 232–236, 242, 254, 355, 372 – der Seele 41–42 – des Geistes 108, 168, 354 – empirisches siehe organisches Vermögen – Erkenntnisvermögen 113, 275

– höheres 231–232, 234–235, 237–238, 241– 243, 245–246, 249, 355, 366, 387 siehe auch Vermögen der Idee – niederes siehe organisches Vermögen – organisches 178, 207, 209, 231–233, 236– 238, 241–247, 249 – sinnliches siehe organisches Vermögen – Vereinigung der verschiedenen Vermögen der Seele 41–42 vermögenspsychologisch 419–420 Vernunft 12, 114, 178, 194, 200–201, 204, 257, 276–277, 418 – allgemeine 354–355, 360 siehe auch identische Vernunft – als Seele des Einzelnen 201, 203, 241, 275– 276, 354 siehe auch individuelle Vernunft – Begriff der reinen Vernunft, Kants 200–201, 204–205, 207 – beseelende 190, 225, 258 – Charakter 201–205, 219, 241 – Einheit 322–326, 341, 380, 408 siehe auch Organismus der Vernunft – empirische 200, 207 – Gattungsvernunft 199–202, 204–205, 241, 276 siehe auch identische Vernunft – Geschäft 178, 197, 233 – Handlungstätigkeit siehe Handlungstätigkeit – identische 201–203, 205–206, 390, 418 – Identität 205, 223, 277–278, 282, 320, 333 siehe auch identische Vernunft – Individualität siehe individuelle Vernunft – individuelle 6, 199–201, 203–205, 222, 237, 241, 276, 321, 354–356, 390, 418 – Organ der Vernunft 321, 323–235, 380, 408 – Organismus der Vernunft 320–325, 380, 408 – und Offenbarung 339 – und Seele 178, 194 – Vernunft an sich 201, 203, 205, 210, 213, 238, 275–277, 321, 324, 354 siehe auch identische Vernunft – Vernunftbeseelung 193 – Vernunftgehalt 224, 343, 390 – Vernunftgestalt 390 Vernunft und Natur 21, 196, 263–275, 277, 281, 284, 290, 292–293, 295, 297, 299, 318, 340, 388 – Ausdruck der Vernunft in der Natur 290, 295

Sachregister

– Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft siehe Beseelung – Geistiggesetztsein der Natur in der Vernunft 278–279 – Handeln der Vernunft auf die Natur 21, 178, 196–199, 265, 269–274, 278, 345 – Tätigkeit der Vernunft auf die Natur 6, 111, 265 siehe auch Handeln der Vernunft auf die Natur Vernunftgehalt 224, 343, 390 Vernunftgestalt 390 Vernunftidee 104, 354, 392 siehe auch Idee – der absoluten Einheit und Totalität 388, 392 Vernunftreligion 5, 7, 156, 405–406 Vernunfttheorie 21, 200, 204, 418 – vernunfttheoretisch 6, 179, 205, 418–419 Versittlichung siehe Ethisierung – der Individualität 425 – des Gefühls 264, 422 siehe auch Ethisierung des Gefühls Verstand 114, 200 – Verstandestätigkeit 84 Verständigung – durch Aussprechen und Nachbilden 327, 332 – im Gebiet des Gedankens 336 Verständlichkeit 280, 399–400 Vertrag 209–210 Vielheit – der Religionen siehe Religionen – und Einheit 65, 126 Volk 400 – Religionsvolk 404, 406–407, 410 vorkirchlich 401 Vorsehung 405 Wahrnehmen 84, 121, 232, 240, 243 – als Geschäft des Sinnes 121 – objektives 245–246 – sinnliches 239, 241, 245, 254 – subjektives 245–246 – unter dem Charakter der Identität 239, 242 siehe auch objektives Wahrnehmen – unter dem Charakter der Individualität 239 siehe auch subjektives Wahrnehmen Wahrnehmen und Empfinden, sinnliches 199, 231–238, 241–244, 246, 355, 372

 475

Wahrnehmung 121 – das In-sich-Aufnehmen als Wahrnehmung 192 – passive 331 wahrnehmungspsychologisch 123 wechselseitig 97, 151 Wechselwirkung 20, 178 siehe auch Oszillation – als Form der freien Geselligkeit 97–98 – als Zweck der freien Geselligkeit 97–98 – Begriff der Wechselwirkung 98 – gegenseitige 99, 140, 146–149, 151, 171 – intellektuelle 140 – intersubjektive 82, 98, 100–101, 168, 319 – von Allgemeinem und Besonderem 237 – von Andeuten und Ahnen siehe Andeuten und Ahnen – von Attraktion und Repulsion 232 – von Denken und Sprechen siehe Denken und Sprechen – von Erkennen und Darstellen siehe Erkennen und Darstellen – von Gefühl und Kunst 224 – von Ich und Nicht-Ich mit dem Nicht-Ich 191– 192, 195 – von Objektivierung und Mitteilung der Kunst 386, 423 – von profaner und religiöser Darstellung 414 – von Setzen und Aufheben des Persönlichen und Zeitlichen 193–194, 204 – von Wissen und Sprache siehe Wissen und Sprache Welt 87, 126–127, 130, 212, 251, 256–257 – als Gemeinschaft der Geister 87 – als unendliches All der Geister 87, 89 – dingliche 77 – empirische 245 siehe auch organische Welt – geistige 45, 55–56, 62, 84, 87 – gesellschaftlich-historische Welt des menschlichen Handelns 177, 185 – innerliche 87 – intellektuelle 54–57, 96 – körperliche 43–45, 53, 71, 87 – organische 43–45, 71 – Weltbegriff 126–127, 251 Weltbildung 87, 132, 168 Weltgeist 130 – Darstellung 130 – Tätigkeit 130

476  Sachregister

Weltordnung, moralische 104 Wesen – der Religion siehe Religion – des Menschen siehe Mensch – eigenes Wesen (des Menschen) siehe Mensch – einer individuellen Religion siehe Religion – eines einzelnen Menschen 79 – individuelles 73, 81, 86 – individuiertes 89 – mein Wesen 88 – menschliches 74, 79 Wissen 18, 212–214, 227, 259, 297, 380, 396, 402, 420 – allgemeines 110 – als identisches Erkennen 276, 349 – als System der objektiven Erkenntnis 212– 213, 216–217 – individuelles 215–217, 226–227, 389, 408 – objektives 216, 246, 303 – und Sprache siehe Wissen und Sprache Wissen und Sprache 213–214, 227, 280, 316, 343, 389–391, 393, 403 – Identität 213, 217, 222, 364 – Wechselwirkung 211, 217 Wissenschaft 215, 217, 225 Wissenschaftslehre, Fichtes 46, 52, 26 Zeichen 348, 351, 383 Zeit-Raum-Koordinationssystem, Kants 70, 74– 75, 79, 91, 167, 274, 284 Zeitdiagnose 55–57, 107

Zeitliche, das 193–195, 240, 312 Zeitlichkeit 193–194, 411 Zentralanschauung 162–163, 165, 424 siehe auch Grundanschauung Zusammengehören 320–322 – der Individuen 320–321, 324–327, 341 Zusammengehörigkeit 317–318, 322, 325–327 – der Individuen 419 – des Gefühls 318, 327, 332, 338, 341, 386, 388 Zusammenleben 63, 93, 320 – geselliges 285 – Geselligkeit als ideale Form 318 – vergemeinschaftendes 63, 92 Zustände 123 – Bewusstseinszustände 291, 295, 299, 328, 341, 422 siehe auch innere mentale Zustände – individuelle 240 – innere mentale 245, 263–264, 291–292, 294–295, 299, 312, 328, 335, 341–342, 344, 350–352, 361, 392, 422 – momentane 239, 245 – Verinnerlichung 125 Zuständlichkeit 312 – mentale 377 – Zuständlichkeitsbewusstsein 123–125, 153, 169, 313–315 – Zuständlichkeitsgefühl 313 – Zuständlichkeitsgefühl, empirisches 314