Gedanken über die Religion: Der »stille Krieg« zwischen Schelling und Schleiermacher 3772829309, 9783772829307

Strangely enough, the discussion between Schelling and Schleiermacher till now has received hardly any attention. Throug

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Gedanken über die Religion: Der »stille Krieg« zwischen Schelling und Schleiermacher
 3772829309, 9783772829307

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Schellingiana Quellen und Abhandlungen zur Philosophie F. W. J. Schellings

Herausgegeben von Walter E. Ehrhardt und Jochem Hennigfeld im Auftrag der Internationalen Schelling-Gesellschaft

Band 31

Ryan Scheerlinck

Gedanken über die Religion Der >stille Krieg< zwischen Schelling und Schleiermacher (1799-1807)

frommann-holzboog

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Schlciermacherschen Stiftung in Berlin Das handschriftliche Original des Vierzeilers auf Seite 1 Ich bin der ich war. Ich bin der ich sein werde. Ich war der ich sein werde. Ich werde sein der ich bin

Trist. V, 10, 37 1 Kor. 14, 11

aus dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Archiv-Sign.: NL Schelling, 86, S. 20

Für Anny Bauwens

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothck

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografic; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-7728-2930-7 cISBN 978-3-7728-3380-9

© frommann-holzboog Verlag c.K. • Eckhart Holzboog Stuttgart-Bad Cannstatt 2020 www.frommann-holzboog.de Satz: Tanovski Publishing Services, Leipzig Druck und Einband: Laupp & Göbel, Gomaringen Gedruckt auf säurefreiem und altcrungsbcständigem Papier

Inhalt Dankwort.........................................................................................

IX

Einleitung.........................................................................................

XI

I.

Der Epikureer.........................................................................

1

1. 2. 3.

Die poetische Form und die konzeptuelle Figur............... Naturphilosophie und Religionskritik............................... Der Epikureismus des Glaubensbekentniss ......................

2 8 17

II.

Der Verkünder.......................................................................

25

1. 2. 3.

Philosophie und Religion.................................................... Religion und Theologie....................................................... Schleiermachers >Bedenklichkeiten< ..................................

28 34 44

III. Der gebildete Verächter.......................................................

55

Schleiermachers Christusglaube ........................................ Die Figur des gebildeten Verächters.................................. Schellings Bedenklichkeiten.................................................

57 65 77

IV. Der Lehrer .............................................................................

87

Form und Wesen.................................................................... Der Zwiespalt im Inneren.................................................... Die Klage der Clara............................................................. Ein Verlangen nach Ganzheit.............................................. Rückkehr zur Erde.................................................................

93 121 137 147 176

1. 2. 3.

1. 2. 3. 4. 5.

VIII

INHALT

Nachwort.........................................................................

1^7

Bibliographie ................................................................................

207

Namenregister..........................................................................

219

Dankwort Ein Stipendium des Descartes Centre for the History and Philosophy of the Sciences and the Humanities ermöglichte die Niederschrift der ersten drei Abhandlungen während eines Aufenthaltes in Utrecht im Herbst 2016. Die vierte Abhandlung wurde im Frühling 2018 geschrieben. Die hier entwickelten Gedanken reichen indes weiter zurück. Prof. Dr. Paul Ziehe sei besonders gedankt für sein Interesse an meinen Bemühungen um ein neues Schelling-Verständnis und für man­ ches Gespräch, Prof. Dr. Christian Danz für ein Gutachten und den Herausgebern für die Aufnahme in der Reihe Schellingiana, besonders Prof. Dr. Walter E. Ehrhardt, weil er ein rares Gut bis ins hohe Alter zu retten gewusst hat - die Leidenschaft. Ganz besonders möchte ich S. K. H. Franz Herzog von Bayern dan­ ken für die großzügige und unbürokratische Hilfe in einer schwierigen Lage. Besonderen Dank schulde ich MDOB Detlef Kuschel für die wie immer akribische sprachliche Korrektur. Ryan Scheerlinck München, 6. Juni 2020

Einleitung Die Auseinandersetzung zwischen Schelling und Schleiermacher ist bislang in ihrer Bedeutung unterschätzt worden.1 Nicht nur wegen der Bedeutsamkeit der Sache, um derentwegen er geführt wurde, verdient dieser »stille Krieg« Beachtung, sondern ebenso sehr, weil er sich als besonders geeignet erweist, Einsicht in die Grundverschiedenheit und Besonderheit beider Denker zu erlangen.2 Wenn man ihn dennoch bislang kaum zur Kenntnis genommen hat, so dürfte dies daraus zu erklären sein, dass er teils erst durch posthume Publikationen an die Öffentlichkeit gelangte und teils ohne ausdrückliche Namensnennung geführt wurde, sodass Adressat und Adressant erst durch den aufmerk­ samen Leser identifiziert werden mussten. So erschienen Rezensionen in der Regel anonym, während polemische Bemerkungen meist ohne Namensnennung geschahen. Umfang und Bedeutung der Auseinan­ dersetzung werden auch dann noch oft genug unterschätzt, wenn solche Anspielungen durchschaut worden sind. Es sei hier nur an die berühmte Stelle der Vorlesungen über die Methode des academischen Studium erinnert, in welcher Schelling Schleiermacher - ohne ihn beim Namen zu nennen - wegen der von ihm geleisteten Wiederherstellung der Religion überschwänglich lobt. Ein Lob, dessen Bedeutung sich jedoch erst ganz erschließt, sobald man beachtet, dass die in der achten Davon legt bereits die Tatsache, dass zum Thema bislang nur eine einzige Monogra­ phie vorliegt, die zudem von 1909 datiert, beredtes Zeugnis ab (H. Süskind (1909): Der Einfluss Schellings auf die Entwicklung von Schleiermachers System. Tübingen). 2 Vgl. F. D. E. Schleiermacher an G. A. Reimer, 11. November 1803: »Ich meinestheils bin weit mehr gespannt darauf was aus dem stillen Krieg werden wird in dem ich mit Schelling begriffen bin. Denn wie ich auf ihn ziemlich bedenklich hindeute in der Kritik [sc. Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre}, so er auf mich in der Methodologie« (KGA V,7, 94). Vgl. außerdem den letzten Absatz von Schellings WetZmacZtts/eter-Rezension (SW VII, 510).

1

XII

EINLEITUNG

Vorlesung umrissene »historische Konstruktion des Christentums< als ein Gegenentwurf zu Schleiermachers Religionsbegriff zu lesen sei Ähnliches gilt für Schleiermacher, dessen Rezension der Vorlesungen in einem derart wohlwollenden Ton verfasst ist, dass man die Entwürfe beider Denker nur allzu leicht für im Grunde miteinander verträglich halten könnte, ihrer Differenz somit keinen grundsätzlichen Charakter zuerkennt. In einem wegweisenden Aufsatz hat Wolfgang Ullmann durch Stellen aus den Vorlesungen zum System der Weltalter (1827) So_ wie aus der Paulus-Nachschrift der Philosophie der Offenbarung (1841/42) nachweisen können, dass »Zentrum und Höhepunkt« dieser Auseinandersetzung im Monotheismus-Kapitel der schellingschen Spätphilosophie zu finden sind.3 Allerdings hieße dies, dass die Aus­ einandersetzung nur eine einseitige gewesen wäre, da Schleiermacher Schellings späte Vorlesungen gar nicht mehr zur Kenntnis hat nehmen können. Eine genaue Lektüre früherer Schriften wird jedoch nicht nur zeigen, dass die Auseinandersetzung weitaus früher angefangen hat, sondern auch, dass der zentrale Kritikpunkt Schellings, wenn dieser in der Spätzeit auch mit ungemein größerem Raffinement und in einem viel umfassenderen Zusammenhang durchgeführt sein mag in den frühen Schriften bereits klar genug ausgesprochen ist, sodass Schleiermacher ihn nicht hätte übersehen können. Von Anfang an versucht Schelling nämlich, Schleiermacher darauf hinzuweisen, dass eine Theologie, die Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, sich der Aufgabe, »die geschichtliche Faktizität« des Christentums »wissen­ schaftlich verständlich zu machen«, nicht zu entschlagen vermag.4 Um diese Aufforderung zu vernehmen, bräuchte Schleiermacher somit die späten Vorlesungen gar nicht erst »zu Gehör oder zu Gesicht« zu bekommen.5 Vor diesem Hintergrund dürfte zweifelhaft werden 3

4 5

W. Ullmann (1985): »Die Monotheismusdiskussion zwischen Schelling und Schlei ermacher«. In: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984. Hrsg. von K.-V. Selge. Berlin / New York (Schleiermacher-Archiv 1), 382. Soweit ich weiß, hat dies jedoch bislang noch nicht dazu geführt, dass man das Monotheismus-Kapitel unter diesem Blickwinkel zu entschlüsseln versucht hat (vgl. SW XI, 3-133). Ebd.,383. Ebd.,385.

EINLEITUNG

XIII

ob es wirklich so »ausgemacht« ist, wie Ullmann glauben möchte, dass Schleiermacher »sehr viel auf Schellings Kritik zu antworten gehabt hätte«, da sich zeigen lässt, dass Schleiermacher sich gerade der Sachhaltigkeit dieser Kritik zu verschließen sucht.6 In der folgenden Untersuchung wird es denn auch nicht so sehr darum gehen, »Einflüsse« festzustellen oder »Abhängigkeiten« nach­ zuweisen, sondern vielmehr einem über mehrere Jahre hinweg mit Unterbrechungen geführten Dialog wieder Sichtbarkeit zu verleihen. Dieser dialogische Charakter zeigt sich bereits daran, dass Schelling stets in zweierlei Rücksicht argumentiert: Zum einen stellt er kritische Rückfragen, macht auf Unstimmigkeiten oder Lücken in der Argu­ mentation aufmerksam und fordert Schleiermacher dadurch heraus, seine Position schärfer zu formulieren. Zum anderen behält er dabei stets das eigene Interesse des Philosophen im Auge, indem er die von Schleiermacher befürwortete Erneuerung der Religion als eine Herausforderung für die Philosophie versteht. Dasselbe gilt mutatis mutandis für Schleiermachers Umgang mit Schelling. Die Einwände und Bedenken werden somit nicht ausschließlich unter der Vorausset­ zung der Richtigkeit der eigenen Position formuliert, sondern beide Denker geben sich Mühe, auf Schwierigkeiten aufmerksam zu ma­ chen, die sich aus der Position des Gegners selbst ergeben. In der Tat ist mit der Feststellung von Einflüssen und Entsprechungen für das Verständnis eines Denkers und der ihn leitenden Absicht nur das Wenigste geleistet: Auch wenn zweifelsfrei nachzuweisen wäre, dass dieser einen Begriff, eine These oder ein Argument übernommen hat, so kann die Übernahme erst angemessen gewürdigt werden, sobald man auch jene die Übernahme bestimmende Absicht und den Zu­ sammenhang, in welche sie hineingenommen wird, berücksichtigt. 6 Ebd. Das schlagendste Beispiel ist wohl Schleiermachers Erklärung im ersten Satz des die philosophische Theologie behandelnden Teils seiner Kurzen Darstellung des theologischen Studiums von 1811, wo es heißt: »So wenig das eigentümliche Wesen des Christentums bloß empirisch kann aufgefaßt werden [...], eben so wenig läßt es sich rein wissenschaftlich aus Ideen allein ableiten«. In der Zweitauflage von 1830 formuliert Schleiermacher dies noch schärfer und weist die Möglichkeit, »das ei­

gentümliche Wesen des Christentums [...] wissenschaftlich [zu] construircn«, entschieden zurück (KGA 1,6, 256, 338).

XIV

einleitun g

In der Übernahme erfährt das Übernommene nämlich nicht selten eine grundlegende Umwandlung. So werden wir auf den Begriff des >Erdgeistes< und des >Abfalls< eingehen müssen, als besonders frappie­ rende Beispiele einer solchen Übernahme. Kaum weniger bedeutsam als solche Übernahmen sind darüber hinaus diejenigen Thesen und Argumente, deren Sachhaltigkeit einer der Dialogpartner dadurch bestreitet, dass er gar nicht erst direkt auf sie eingeht. Als deutlichs­ tes Beispiel eines solchen Verfahrens kann die Unterscheidung von Mythologie und Offenbarung gelten, an welcher Schelling während seines ganzen Denkwegs unverrückbar festhält, während Schleier­ macher ihr hingegen jegliche grundsätzliche Bedeutung abspricht Dass Schleiermacher jene Unterscheidung, trotz Schellings nachdrück­ lichem Beharren auf derselben, schlichtweg übergehen zu können meint, ist genauso aufschlussreich für das Profil beider Denker, wie die Übernahme bestimmter Thesen oder die Erwiderung von Einwänden. Es bleibt dabei dem Urteil des Lesers überlassen, ob nicht ein Eingehen auf die Thesen oder Argumente des Gegenübers dennoch aus in der Sache liegenden Gründen geboten gewesen wäre. Der Dialog bleibt jedoch stets Mittel, um die Leistungsfähigkeit der eigenen Position zu erproben, und treibt beide Denker dazu an, ihre noch in Entwicklung begriffene jeweilige Position weiter auszubilden. Dabei fühlen sie sich gelegentlich dazu aufgefordert, bestimmte Konsequenzen oder Implikationen des eigenen Ansatzes mit einer größeren Deutlichkeit hervorzukehren, als es sonst vielleicht geschehen wäre.7 Deshalb bildet die Auseinandersetzung mit Schleiermacher nicht nur das Bindeglied der ausgewählten Texte, sondern sie steht zugleich für ein Problem ein, das Schelling in denselben behandelt. Wie es einem Philosophen 7 Weil er die gegenläufige Absicht der beiden Denker nicht beachtet, kommt es bei Süs_ kind zu einem unablässigen Schwanken, sodass der Feststellung von Abhängigkeiten Verwandtschaften und Übereinstimmungen einerseits sogleich die Behauptung von unaufhebbaren Gegensätzen andererseits folgt, ohne dass es ihm gelingt, Grund und Einheit beider Seiten einsichtig zu machen. Das Fazit seiner Untersuchung lautet denn auch fast zwangsläufig, dass eine »Differenz der Weltanschauung« zwischen Schelling und Schleiermacher festzustellen sei, die letztlich aus einer Verschiedenheit der Charaktere zu erklären wäre (vgl. Süskind (1909), 59 f., 108,114, 116f., 125,127 132 f., 274 f„ 286-288). ’ ’ ’

EINLEITUNG

XV

geziemt, treten nämlich auch für Schelling persönliche Rücksichten und Empfindlichkeiten gegen die Bemühung um eine möglichst klare Erfassung des Problems in den Hintergrund. Dieses Problem wird somit auch bei der Interpretation anderer Texte, in welchen es vielleicht nicht mit dieser Klarheit zur Sprache gelangt, zu berücksichtigen sein. Nur die Erfassung dieses Problems dürfte dazu beitragen, die Einheit in den disparaten Texten Schellings zu entdecken. Obwohl dieser immer auf der Bedeutung des Systems insistiert hat, so hat er doch kaum je ein solches aufgestellt, sondern, wie er im Vorbericht zu seinen Philosophischen Schriften hervorhebt, dieses fast immer »nur in einer einzelnen, z. B. polemischen, Beziehung« zur Darstellung gebracht (AA 1,17, 27). Dabei verzichtet er absichtlich darauf, das System in einer Form darzustellen, welche die Aufnahme oder Zurückweisung durch Anhänger bzw. Gegner erleichtert. Die Untersuchung möchte mittels einer eingehenden Auslegung vier schellingscher Texte zu einer Rekonstruktion des besagten »stillen Krieges« beitragen. Dabei handelt es sich meist um Texte, die bislang nur am Rande Beachtung gefunden haben. Die Auslegung soll zeigen, wie gerade solche peripheren Texte Aufschluss über die Intention eines philosophischen Autors zu gewähren vermögen. Nichts verhindert nämlich, dass ein Philosoph sich an entlegenem Ort oder in einer beiläufigen Bemerkung mit größerer Klarheit über seine Intention ausdrückt, als dies in manchem auf den ersten Blick unmittelbareren philosophischen Text vielleicht der Fall ist. Bei den ausgewählten Texten handelt es sich um das in direkter Reaktion auf Schleiermachers Reden über die Religion verfasste Gedicht Epikurisch Glaubensbekentniss Heinz Wiederporsts, um mehrere Stellen aus den Vorlesungen über die Methode des academischen Studium, über welche Schleiermacher eine Rezension verfasste, und um die von Schelling verfasste Rezension von Schleiermachers Weihnachtsfeier. Eine besondere Stellung kommt dem vierten Teil dieser Untersuchung zu, der sich intensiv mit der als Clara bekannt gewordenen Erzählung befasst, die bislang noch der philosophischen Auslegung harrt und deren Bedeutung sich erst vor dem Hintergrund von Schellings Auseinandersetzung mit Schleierma­ cher erschließen dürfte. Die Erzählung lässt sich als ein Dokument der Natürlichen, nicht durch Offenbarung instruierten Religion lesen, in

EINLEITUN G

XVI

welchem der Pfarrer oder der Erzähler, den historischen Umständen Rechnung tragend, Clara oder das Volk von einer Lehre zu überzeugen versucht, die sich als Basis deren Glücks eignen würde.8 Leser, die die Rede von Schellings Politischer Philosophie irritiert haben mag, seien deshalb besonders auf diesen Teil verwiesen. Auch dieser Schrift hätte Schelling das Motto beigeben können: »Rühre nicht, Bock! denn es

I. Der Epikureer

brennt« (SWVI,15).9

»Hinauf zu des Gedankens Jugendkraft«

Das erste Dokument des stillen Krieges zwischen Schelling und Schlei­ ermacher ist das unter dem unmittelbaren Eindruck der Reden über die Religion verfasste Gedicht Epikurisch Glaubensbekentniss Heinz Wiederporsts. Eine Analyse dieses bislang selten beachteten Gedichts wird zeigen, dass es bereits den Keim der späteren Differenz enthält, wie sie nach und nach in den Vorlesungen, in Schleiermachers Rezensi­ on derselben, in dessen Weihnachtsfeier und in Schellings Rezension derselben zur Entfaltung gelangt.1 Allerdings ist die religionskritische Absicht dieses Gedichts in den bisherigen Auslegungen desselben nicht hinreichend zur Geltung gebracht worden.2 In einem ersten Abschnitt wird auf die poetische Form der Auseinandersetzung und auf die Figur des Heinz Wiederporst eingegangen. In einem zweiten Abschnitt wird das Verhältnis von Naturphilosophie und Religionskritik analysiert. Schließlich wird in einem dritten Abschnitt auf die Frage eingegangen,

für meine Auslegung leitenden Begriff der Natürlichen Religion orientiere ' h mich an’ H Meier (2011): Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseau! »Reveries« in zwei Büchern. München, bes. 295 f., 300, 327-335,

339-343,371,406-410,438. 9 Zu diesem Motto vgl. R. Scheerlinck (2017): »Philosophie und Religion« - Schellings Politische Philosophie. Freiburg im Breisgau / München, 76 f.

1

Als Dokument romantischer Religiosität wird es analysiert in: R. Ayrault (1969): La genese du romantisme allemand. Tome III: 1797-1804 (I). Paris, 525-5+5; und P. Lacoue-Labarthe / J.-L. Nancy (1978): L’ahsolu litteraire. Theorie de la litterature du romantisme allemand. Paris, 248-250. Nach langer Zeit fast völliger Nichtbeachtung sind kürzlich gleich mehrere Studien zum Gedicht erschienen: D. Whistler (2014): »Schelling’s Poetry«. In: Clio. A Journal ojLiterature, History, and the Philosophy of History 43. O. Koch (2015): »»Enthusiasmus für die Irreligion.< Schellings Epi­ kurisch Glaubensbekenntniss Heinz ’Widerporstens«. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 23. C. Klein (2017): Das Jenaer Romantikertreffen im November 1799: Dokumentation und Analyse. Heidelberg, 141—203.

2

Darüber hinaus ist das Gedicht auch besonders aufschlussreich für die für Schelling charakteristische Verfahrensweise, wie Whistler in kritischer Auseinandersetzung mit der von Lacoue-Labarthe und Nancy vorgelegten Lesart gezeigt hat (vgl. Whist­ ler (2014)).

2

I. DER EPIKUREER

in welchem präzisen Sinn dieses Glaubensbekentniss ein epikureisches ist.

1. Die poetische Form und die konzeptuelle Figur Die ursprüngliche Reaktion Schellings auf Schleiermachers Reden über die Religion war eine der Abneigung und der Verwerfung. Diese Reaktion war indes maßgeblich durch Novalis’ Verständnis der Reden bestimmt, wie dieser es in seinem »Fragment« Die Christenheit oder Europa artikuliert hatte? Novalis sieht in Schleiermacher den Prophe­ ten einer Erneuerung der Religion, der durch eine Neubestimmung des Begriffs der Religion die Hoffnung weckt, die Spaltung des Chris­ tentums in Katholizismus und Protestantismus wieder rückgängig zu machen. Damit verbindet er ein weitreichendes geschichtstheo­ logisches und politisches Programm, wonach die Religion »Europa wieder aufwecken und die Völker sichern, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedenstiftendes Amt installiren« würde, sodass »jener alte, liebe, alleinseligmachende Glaube an die Regierung Gottes auf Erden« wiederhergestellt werden kann? Noch unter dem unmittelbaren Eindruck dieses Fragments schreibt Schelling ein langes Gedicht mit dem Titel Epikurisch Glaubensbekentniss Heinz Wiederporsts, in welchem er Schleiermacher und Novalis gleichermaßen attackiert? Da Schelling »so Reden als Die Christenheit oder Europa. Ein Fragment wurde erst 1826 vollständig veröf­ fentlicht. Obwohl Richard Samuel es für »höchst unwahrscheinlich« hält, dass der Untertitel der Handschrift entnommen wurde, bezeichnet jedenfalls Schelling den Aufsatz als »Fragment« (Novalis (1983): Schriften III. Das philosophische Werk II. Hrsg, von R. Samuel. Darmstadt, 3. Aufl., 503). 4 Novalis (1983), 523. Vgl. H. Kunz (1955): Schellings Gedichte und dichterische Pläne. Zürich, 40, 43. Zu den Bezügen zur aktuellen politischen Lage vgl. Klein (2017),

3

5

106-108. Das Gedicht wurde vollständig erst posthum veröffentlicht, zum ersten Mal in: Plitt I, 282-289. Zu den verschiedenen Fassungen und Editionen sowie zur Entstehung, vgl. AA 11,6, 487-496 u. AA 1,8, 395 f. Ich zitiere die von Arndt und Virmond edierte Fassung, nicht nur weil diese im Vergleich zur Weimarer wie zur PlittFassung mehr Verse aufweist, sondern insbesondere, weil Friedrich Schlegel sie einem Brief an Schleiermacher von Mitte November 1799 beifügte und es sich somit

1. DIE POETISCHE FORM UND DIE KONZEPTUELLE FIGUR

3

Fragment« stets in einem Atemzug nennt, kann man sagen, dass das Gedicht unter der Annahme geschrieben wurde, Novalis’ »Fragment« fuße auf einem Verständnis der Reden, das Schleiermachers eigener Intention durchaus entspricht (V. 28/27)? Wenn sich wenig später in Schellings Einschätzung der Reden eine Wandlung vollzieht, dann dürfte dies auch daraus zu erklären sein, dass ihm zweifelhaft geworden ist, ob die Bedeutung der Reden sich in jenen geschichtstheologischen Folgerungen erschöpft, die Novalis mit ihnen verbinden zu können meint.345*678 Um seine Reaktion auf Schleiermacher und Novalis zu artikulieren, wählt Schelling die Form des Gedichts. Zudem eignet er sich mit Heinz Wiederporst eine fiktive Figur zu, der er nicht nur die in dem Gedicht dargelegten Ansichten, sondern sogar auch die Verfasserschaft zuschreibt (vgl. V. 46,67,347/45,66,326)? Man kann somit sagen, dass

um diejenige Fassung handelt, die Schleiermacher selbst gelesen hat (vgl. W. Jaeschke (1994): Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die Göttlichen Dinge (1799-1812) (Quellenband). Hamburg, 21-31 u. KGA V,3,240,244-247,318). Nach einem Schrägstrich folgen die Angaben zur Weimarer Fassung (vgl. AA 11,6, 497-509). 6 Übrigens scheint Schleiermacher diese Annahme dadurch zu bestätigen, dass er in der zweiten Auflage der Reden dem Lob Spinozas eine lobende Erwähnung Novalis’ hinzufügt (vgl. KGA 1,12, 58). In der dritten Auflage geht er jedoch wieder auf Distanz (vgl. KGA 1,12, 39,131 f.). 7 Im Unterschied zu seiner Wertschätzung Schleiermachers bleibt Schellings negatives Urteil über Novalis unverändert, vgl. F. W. J. Schelling an A. W. Schlegel, 29. No­ vember 1802 (AA 111,2,1, 510) u. F. W. J. Schelling an G.H. Schubert, 28. April 1809 (Plitt II, 152f.). 8 Erst im letzten Vers wird der Name des Sprechers des Gedichts enthüllt. Diese beiden letzten Verse bilden zugleich die Unterschrift des Ganzen: »Solches hab’ in der Frau Venus Forst / Geschrieben ich Heinz Wiederporst« (V. 346 f. / 325 f.). Den Reim »Forst - Wiederporst« hat Schelling von Sachs übernommen, ersetzt jedoch »des Waldes Forst« durch »in der Frau Venus Forst« (vgl. H. Sachs (1964): »Haintz Widerporst«. In: Hans Sachs. Hrsg, von A. v. Keller, G. Olms, Hildesheim [repr. Nachdr. d. Ausg. Stuttgart 1870], Bd. 5,321-324, hier: 323, V. 96 f.). Vgl. Lukrez, De rerum natura, I 1-49 (bes. 24-27), 225-237; II 167-183; IV 1052-1287; dazu AA 11,6, 348 f. Bei Sachs wird der Sprecher übrigens gleich im ersten Vers kenntlich

gemacht, während der Dichter sich im »Beschluss« von dessen »wiederpörstig art« klar distanziert: »Was ander leut in lassen gfalln, / Das thu er auch nit wieder-

4

I. DER EPIKUREER

Schelling in diesem Gedicht »nicht selbst erscheint« und hinter der Figur des Wiederporst verschwindet, sodass man nicht »weiß, welche Gedanken er selbst hegt« und er für die von dieser Figur vorgetragenen Meinungen nicht einzustehen braucht (SW VII, 510). Dies ist bereits insofern angemessen, als auch bei den Reden über die Religion offen bleibt, ob deren Redner ohne weiteres mit dem Verfasser zu identifizie­ ren ist.*9 Die Figur des Wiederporst eignet sich zu dieser Umschaffung in eine konzeptuelle Figur, der die Kritik der Erneuerung der Religion aufgetragen wird, besonders dadurch, dass Hans Sachs ihn bereits durch >Eigensinn< charakterisiert hatte, durch eine in seiner Natur wurzelnde Neigung, alles Überkommene und von alters her Verehrte auf eine schroffe und anstößige Weise in Frage zu stellen, durch einen Hang, dasjenige, >was jedermann für gut erkenntUniverselle Individualität. Zur romantischen Fiktion Europas nach Novalis«. In: Europa-Philosophie. Hrsg, von W. Stegmaier. Berlin / New York, bes. 50 f., 53, 58, 64 f. 12 Sie werden von Schleiermacher bereits im Titel kenntlich gemacht. Otto Ritschi scheint mir die richtige Folgerung aus dieser formalen Anlage gezogen zu haben, wenn er behauptet, dass »die Reden über die Religion absichtlich einen fremden Standpunkt einnehmen, nämlich den der gebildeten Verächter der Religion, an die sie Schleiermacher gerichtet hat« und dass nur durch Missachtung derselben die

Meinung sich hat festsetzen können, als wäre Schleiermacher »ein Vertreter der von Schelling begründeten Identitätsphilosophie« und »dazu im Grunde Pantheist« (O. Ritschi (1895): »Studien zur Geschichte der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert«. In: Zeitschriftfür Theologie und Kirche 5, 490 f.). Für eine Begrün­ dung dieser These, siehe: Ders. (1888): Schleiermacher’s Stellung zum Christenthum in seinen Reden über die Religion. Gotha. - Für Novalis beachte Novalis (1983), 517, 518,520, 521, 522, 524. Erst nach der Hälfte der Rede werden die Adressaten angesprochen, zunächst als »ihr«, nach und nach auch als »wir«, bis sie im letzten Absatz als die »Genossen meines Glaubens« kenntlich gemacht werden. Letztere werden durch die Rede selbst, falls sie gelingt, erst hervorgebracht.

6

I. DER EPIKUREER

Die konzeptuelle Figur zeichnet sich erstens durch einen dominieren­ den Affekt aus.13 Die Wahl für die Figur des Wiederporst mag auch dadurch motiviert sein, dass dieser klar konturierte Charakter sich aus­ gezeichnet dazu eignet, gleich anfangs die Grundstimmung des ganzen Gedichts anzuschlagen: So wird es mit einem Ausbruch des Zorns und der Entrüstung eröffnet, die die von Schleiermacher und Novalis befürwortete Erneuerung der Religion bei Wiederporst auslösen und die ihn unmittelbar zum Verfassen dieses Gedichts bewegen (vgl. V. 3-22, bes. 13 f., 27 f. / 2-21,12 f., 26 f.). Die Betonung der Affektivität, die die Naturphilosophie sowohl trägt als auch aus ihr hervorgeht vermag sichtbar zu machen, dass ihr eine bestimmte Lebensweise entspricht. Die Auseinandersetzung mit einer Lehre bleibt nämlich ungenügend, solange diese moralische oder existentielle Dimension keine Berücksichtigung findet, die sich besonders durch eine Dramati­ sierung oder figurale Darstellung adäquat sichtbar machen lässt. Eine konzeptuelle Figur ist demnach die Verkörperung der von einer Lehre implizierten bzw. verlangten Lebensweise. Dementsprechend richtet sich die Kritik Wiederporsts vorwiegend gegen den Typus Mensch den Novalis und Schleiermacher als Ideal aufstellen. Für die von Wie­ derporst verkörperte Lebensweise sind jedoch, wie sich zeigen wird der Zorn und die Entrüstung letztlich von untergeordneter Bedeutung; Sie dienen nur einer Abstoßbewegung, um den Eros, der, obwohl Grundmacht seines Daseins, nichtsdestoweniger durch die religiösen Reden leicht betört, vereinnahmt und irregeleitet werden kann, frei­ zusetzen und in sein Eigenes zu bringen. Der Eros, als Wiederporsts eigentlichster Instinkt, ist somit durchaus irrtumsanfällig, wie es ihm erst und gerade in der Begegnung mit der erneuerten Religion zu Bewusstsein kommt. Deshalb schildert Wiederporst auf polemische und übersteigerte Weise die Lebensweise, die sich seiner Ansicht nach aus der Denkungsart Novalis’ und Schleiermachers ergibt. Allerdings mag dadurch zunächst der Eindruck entstehen, als ob er nur von einem höchstpersönlichen Gefühl der Abneigung Bekenntnis ablegen wolle 13

Vgl. die Überlegungen von Deleuze und Guattari zu den in einer konzeptuellen Figur implizierten affektiven, relationalen, dynamischen und existentiellen Zügen (Deleuze / Guattari (1991), 68-71).

1. DIE POETISCHE FORM UND DIE KONZEPTUELLE FIGUR

7

und dem Glaubensbekenntnis insofern eine bloß subjektive Bedeutung anhafte. Dem von Schleiermacher und Novalis befürworteten Glauben stellt Wiederporst den Glauben an die eigene Lebensform entgegen, deren Besonderheit sich erst nach und nach abzeichnet.14 Entgegen gelegentlicher Annahmen ist zweitens zu betonen, dass weder dem Glaubensbekentniss als Ganzem noch dem zentralen »Na­ turhymnus* ein lehrhafter Charakter zukommt. Die poetische Form ist nichts weniger als ein bloßes Vehikel zur Mitteilung bestimmter Ansichten. Trotz einiger lehrhafter Stellen hebt das Glaubensbekentniss sich allein schon durch die Wahl des Knittelverses vom Lehrgedicht, als zur epischen Gattung gehörig, ab.15 Die konzeptuelle Figur dient nämlich nicht dazu, die zur Naturphilosophie gehörigen Begriffe und Lehrstücke vorzutragen, sondern die Aufmerksamkeit auf die ihr eigentümliche Erklärungs- und Verfahrensweise bzw. Denkungsart zu lenken. Für letztere steht der >RiesengeistGewalt< entgegenkam (V. 7 f. / 6 f.). Anders als er den Leser zunächst glauben machen wollte, vermag die neue Religion sehr wohl verlockend auf die Sinnlichkeit zu wirken. Durch dieses Eingeständnis entsteht in dem vorwärtstreibenden Affekt des Zorns eine Hemmung, die für die eigentümliche Bewegung des Gedichts konstitutiv ist: So scheint Wiederporst fortwährend zu schwanken zwischen der Ablehnung bestimmter Formen von (positiver) Religion und einer kategorischen Zurückweisung aller Religion. Zwar fängt er mit dem Bekenntnis einer bloß persönlichen Abneigung an, sieht sich jedoch nach und

von W. G. Jacobs / J. Stolzenberg / V. Waibel. Hamburg (Kant-Forschungen 79J 147-168. 17 Zur konzeptuellen Figur als vermittelnde Instanz zwischen Begriffen und Den­ kungsart oder als »Möglichkeitsbedingung der Ausübung des Denkens«, vgl. Deleuze / Guattari (1991), 8 f., 68, 73. 18 Dreimal gibt Wiederporst sich als den Gottlosen zu erkennen (vgl. V. 26, 177, 326/

25, 172, 305).

2. NATURPHILOSOPHIE UND R E LI G I O N S K R ITI K

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nach zu einer Religionskritik genötigt, die wissenschaftlichen An­ forderungen genügen soll. Wenn man zunächst auch meinen könnte, dass Wiederporst seiner Wissenschaft das Glück verdanke, ihn von der Religion zu befreien, sodass er keiner mehr bedürfe, so wird die Wissenschaft oder die Naturphilosophie sich in der Folge vielmehr als die Basis einer neuen Religion und damit zugleich als die Grundlage einer Religionskritik erweisen. Für die Denkbewegung des Gedichts ist jedoch kennzeichnend, dass die Religionskritik nicht als Konsequenz der Naturanschauung dargestellt wird, sondern dass die Sehnsucht nach einer neuen Religion letztlich in einer Naturanschauung ihre Erfüllung findet. Der besondere Charakter dieses Glaubensbekennt­ nisses ist somit nicht hinreichend getroffen, wenn man in ihm nicht mehr als eine >Polemik gegen alle Formen positiver Religion< sieht. Vielmehr zeichnet Wiederporst sich durch das Bestreben aus, eine Form der Religion wiederzugewinnen. Ohne diesen Hang zur Re­ ligion sind weder die eigentümliche Denkbewegung des Gedichts noch sein leidenschaftlicher Ton angemessen zu verstehen, davon abgesehen, dass Wiederporst sich damit hätte begnügen können, >so Reden als Fragment< gleichgültig beiseite zu legen und das Gedicht ungeschrieben zu lassen. Allerdings begünstigt das Gedicht selbst die Einschätzung, dass Schelling zufolge eine Religionskritik überhaupt nur in der Gestalt einer religiösen Kritik durchführbar sei und somit eine bestimmte Religion nur vom Standpunkt einer anderen Religion kritisiert werden könne. Das Gedicht als Ganzes wird durch die Suche nach einer Religion getragen, die nicht mehr zur Wissenschaft im Gegensatz stehen soll. Während er die von Schleiermacher und Novalis befürwortete Er­ neuerung der Religion entschieden ablehnt, sucht Wiederporst eine andersartige Erneuerung der Religion. Die gesuchte neue Religion hat dem Kriterium zu genügen, mit der Sinnlichkeit wie mit dem Verstand in Übereinstimmung zu stehen. Der Versuch, eine solche zu finden, erfolgt in mehreren Anläufen, die indes sämtlich scheitern, bis das Verlangen nach Religion in der hymnischen Naturanschauung, in wel­ cher man gemeinhin den Höhepunkt des Gedichts gesehen hat, seine Erfüllung findet. So mündet Wiederporsts Bekenntnis zur Sinnlichkeit und zur Materie als dem »Einzig wahre[n]« zunächst in der Erklä­

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I. DER EPIKUREER.

rung: »Mein einzig’ Religion ist die / Daß ich liebe ein schönes Knie«< (V. 72, 81 f. / 71, 80 f.). Nicht die Lust überhaupt, sondern die eindeutig erotische Lust steht in diesem epikureischen Glaubensbekenntnis im Zentrum. Die endgültig lautende Erklärung veranlasst jedoch so­ gleich einen Versuch, seine »einzig’ Religion« mit der insbesondere von Novalis befürworteten Religion zu versöhnen, der letztlich zu einer beißenden Satire auf dessen Vision einer Wiederbelebung des Katholizismus wird (V 87-128/84-125).19 Wir sehen somit, wie Wiederporsts Instinkt in der Berührung mit Novalis erneut von seiner eigentlichen Richtung abirrt. Nachdem die Religion, wie es in dem gegenwärtigen historischen Augenblick der Fall ist, sich mit der Moral verbündet hat, lässt der ursprüngliche Katholizismus, der Sinnlichkeit und Religion versöhnte, sich jedoch nicht mehr wiederbeleben (vgl. V 113-124/110-121). Dem wäre zu entnehmen, dass Wiederporst einer der wirkmächtigsten Thesen der Reden über die Religion, wonach Religion und Moral zu unterscheiden seien, jedenfalls in dieser all­ gemeinsten Formulierung zustimmen würde. Das Scheitern dieses ersten Versöhnungsversuchs, der in einer Absage an >alle Religion« mündet, veranlasst eine präzisere Bestimmung derjenigen Religion, die Wiederporsts Sehnsucht befriedigen könnte (vgl. V. 125-157/122-154); Der Erklärung, wonach er »alle[n] Glaubens rein erledigt« sei, folgt 19 Die Anspielungen auf Novalis werden entschlüsselt in: Kunz (1955), 43 f., 51-53 Siehe auch bereits A. Schubart (1887): Novalis’ Leben, Dichten und Denken. Gü­ tersloh, 243-248. Übrigens ist zu beachten, dass in diesem Abschnitt des Gedichts

die Religion vor allem als soziales Phänomen betrachtet wird, dies durchaus irt Übereinstimmung mit Novalis’ Ansatz (V. 92-108/89-105). Deshalb kann es heißen dass von allen Religionen Wiederporst »[n]ur die Katholische gefallen« könnte ob er selbst »gleich kann ohne solche leben« (V. 88-90/85-87). Beachte auch die Kritik der Priesterherrschaft (V. 96-102/93-99). Bei aller Bewunderung hatte auch Schleiermacher die Befürwortung des Papsttums an Novalis’ Fragment missfallen (vgl. KGA V,3,292). Noch in der dritten Auflage der Reden distanziert Schleierma­ cher sich von der von Novalis verherrlichten Theokratie (vgl. KGA 1,12, 39). Die einzige Chance, die Verfallsbewegung, in welcher Europa begriffen ist, rückgängig zu machen, scheint Novalis in der Tat in einer Wiedererrichtung der Theokratie oder in der Ersetzung der Souveränität des Volkes durch die Souveränität Gottes zu sehen. Für eine wohlwollendere Lektüre von Novalis’ Rede siehe Buchheim (2000), 52 f., 64.

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sogleich die Einschränkung, »Außer an die, die mich regiert / Mich zu Sinn und Dichtung führt« (V. 128-130/125-127). Damit scheint wenigstens so viel erreicht, als dass jetzt ein Kriterium gewonnen ist, das die erst noch zu suchende Religion zu erfüllen hat, um für Wiederporst akzeptabel zu sein. Darauf folgt erneut ein Versuch, zwi­ schen Christentum und einer Art Naturreligion zu vermitteln, der sich ebenfalls als unzulänglich erweist (vgl. V. 158-172/155-168). Bei­ de Versöhnungsversuche führen letztlich zu der Einsicht, dass eine Synthese der von Schleiermacher und Novalis befürworteten und der von Wiederporst angestrebten Erneuerung der Religion nicht durchführbar ist, sondern beide in einem unaufhebbaren Gegensatz zueinander stehen (vgl. SW V, 298; AA 11,6,159). Dieser Einsicht folgt die radikalste Absage an alle Religion des ganzen Gedichts und der Vorsatz, künftig »in Gottlosigkeit [zu] verharren« (V. 177/172). Den jetzt folgenden Abschnitt des Gedichts, den man als >Naturhymnus< bezeichnen könnte, hat Schelling selbst 1800 in der Zeitschrift für specidative Physik als eine Art Anmerkung zur Allgemeinen Deduction des dynamischen Processes veröffentlicht, allerdings ohne sich zur Verfasserschaft zu bekennen (vgl. V. 208-273/199-264).20 Dieser Aus­ zug des Glaubensbekentniss lässt weder von der Auseinandersetzung mit Schleiermacher und Novalis noch von dem religionskritischen Zusammenhang, welchem er entnommen wurde, etwas erkennen. Statt­ dessen dient er dazu, nicht nur »die Natur des Dynamischen« oder die der Naturphilosophie eigentümliche Denkungsart zu erläutern, sondern insbesondere »das Verhältniß der Naturphilosophie zum Idea­ lismus« zu beleuchten (AA 1,8, 364). Die Naturphilosophie deckt die für den Idealismus konstitutive »Täuschung« auf, wonach die Natur bloßes Objekt des Bewusstseins und somit wesenhaft tot wäre (AA 1,8, 365). Der (idealistische) Philosoph übersieht das Ideelle bzw. Geis­ tige in der Natur, weil er sie, insofern er sich selbst als Ich denkt, nur als Nicht-Ich zu denken vermag (vgl. AA 1,8, 364, vgl. V. 232 f. / 223 f.).21

20 Vgl. AA 1,8, 428-430 u. den Ed. Bericht (395 f., 397^100,404-406, 408). Als »Na­ turhymnus« bezeichnet diesen Abschnitt auch Kunz (1955), 50. 21 Diese These wiederholt Schelling nachdrücklich in der Freiheitsschrift, richtet sie dort vor allem gegen Jacobi, vgl. AA 1,17, 26,127 f., 166, 178 mit V. 135-137, 142 f.,

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I. DER EPIKUREER

Es ist unschwer zu sehen, wie dieser Auszug sich durchaus zur Erläute­ rung der Grundgedanken der Allgemeinen Deduction eignet. Weniger unmittelbar einsichtig ist indes, wie diese Überlegungen sich in eine Religionskritik einfügen sollen. Die Veröffentlichung des Auszugs wirft jedoch ein Licht auf die Auseinandersetzung mit Schleiermacher und Novalis, wenn man bedenkt, dass ihr Religionsbegriff Schelling zufolge auf den Begriff des Geistes und den korrelativen Begriff einer >toten Natur< aufbaut: Nur weil sie die Natur als ein Totes denken sind sie dazu genötigt, die Religion in solchem zu suchen, das von aller Natur losgelöst ist.22 Die Aufdeckung des Riesengeists in der Natur zeigt diese hingegen als selbst belebt und daher als möglichen Gegenstand einer Religion, die in der Gestalt der Mythologie auch historische Wirklichkeit erlangt hat. Dieser Begriff des Geistes wird Schelling zweierlei ermöglichen: Zum einen wird er darauf die Un­ terscheidung von Mythologie und Offenbarung bauen, der man auch dann nicht entraten kann, wenn man für die Offenbarungsreligion eintreten will. Zum anderen vermag er dadurch von dem realen Gehalt der Mythologie Rechenschaft abzulegen, statt in ihr nur eine subjektive Sichtweise des Universums zu sehen. Nach dem schleiermacherschen Begriff der >Anschauung des Universums< ist das Universum nämlich lediglich Objekt einer Anschauung. Einen wirklich objektiven Gehalt erhält die Anschauung jedoch erst, wenn sie als eine Selbstanschauung gedacht wird, in welcher das Universum sowohl Objekt als auch Subjekt der Anschauung ist. Außerdem führt Schelling erst an dieser Stelle mit einer Kritik der Religion der Furcht den charakteristischen Topos der epikureischen Religionskritik in das Gedicht ein: Der Hedonismus, zu dem Wie­ derporst sich bekennt, richtet sich insbesondere gegen die Furcht vor

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146-149/132-134,139 f., 143-146. Vgl. zur Natur als »erstarrtefrj Intelligenz« (AA 1,8, 366) auch V. 220 f./ 211 f.

strafenden Göttern (vgl. V. 182-203/175-193).23 Dieser Furcht wird jetzt jedoch die Erkenntnis entgegengesetzt: Die Furcht verschwindet nämlich, indem man die unveränderlichen Gesetze erkennt, denen die Natur unterworfen ist. Erst wenn man den Auszug in seinem ursprünglichen Zusammenhang liest, sieht man, wie die Furcht als zentrales Thema dieses Hymnus fungiert: Sie wird bereits im ersten Vers des Auszugs erwähnt, in welchem Wiederporst bekennt, dass er »auch nicht [weiß] wie mir vor der Welt könnt grausen« (V. 208/ 199; m. H.). Die Welt oder die Natur vermag insofern keine Furcht zu erregen, als man sie »von innen und außen« erkennt, und erkennbar ist sie, insofern sie sich »unter Gesetze schmiegen« muss (V. 209, 212/ 200, 203). Der Riesengeist, der in der Natur waltet, ist deshalb kein Gegenstand der Furcht, da er »nicht aus dem Panzer heraus« kann, in welchem die Naturgesetze ihn gefangen halten (V. 216/207). Allerdings geht Wiederporst jetzt in die Vergangenheit zurück, indem er auf eine Zeit deutet, in welcher der Riesengeist sehr wohl Gegenstand der Furcht war: Indem das »Menschenkind« sich von der Natur losreißt, findet es sich »[i]n der eignen großen Welt« allein und fühlt sich der Natur wie einem Fremden und Unheimlichen gegenüber (V. 240,248, 251/231,239, 242). Aus diesem Gefühl der Preisgegebenheit erwach­ sen »Träume« und »Gespenster«, die die Furcht nähren (V. 252, 258/ 243,249). Das Bewusstsein seiner Sonderstellung innerhalb des Ganzen ist für den Menschen mit dem Gefühl der Furcht gleichursprünglich. Diese veranlasst eine Vorstellung des Riesengeistes als dem Menschen übelwollend und feindlich gesinnt (vgl. V. 254 f. / 245 f.). Nicht so sehr die Erkenntnis der Naturgesetze, sondern erst die Einsicht, dass der Erkennende mit dem Riesengeist identisch ist, dass dieser sich also selbst erkennt, indem der Mensch die Naturgesetze durchschaut, vermag von der Furcht zu befreien. Diese Einsicht beinhaltet ein umgewandeltes Selbstverhältnis des Menschen: Jetzt erkennt er sich selbst als Natur, aber als Natur, die, indem sie sich selbst erkennt, über

So wird von Schleiermacher und Novalis z. B. behauptet, dass sie »Haben ewgen Haß geschworen / Der Materie und ihren Werken«, und ihnen wird »Ihre Übersinnund Überirdigkeit« vorgeworfen (V. 285 f., 325/274 f., 304). Das deutlichste Beispiel

23

ist Wiederporsts Vorwurf, sie wurden sich die Natur nur als eine Mühle oder eine Maschine denken können, ein Bild, das sich genauso in Novalis’ Europa findet (vgl. V. 280/270 u. Novalis (1983), 515).

Die Verse 190 bis 201, in welchen das Thema der Religion der Furcht am klarsten entwickelt wird, fehlen in späteren Fassungen. Dadurch klingt der epikureische Topos durch die bloße Erwähnung von Hölle und Sünde nur noch leise an (vgl. V. 188 f., 202/181 f., 193). Zu diesem Topos, vgl. Koch (2015), 76 f.

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sich hinausgeht. Seine Einsicht in die Verfassung der Natur ist selbst Teil der Natur, die sich dadurch als in letzter Instanz geistige Natur offenbart. Insofern kann in diesem Zusammenhang auch völlig Zu Recht von einer >Anschauung< gesprochen werden, in Analogie zu der Weise, wie Kant die »Raumanschauung« definiert, in welcher der Raum nur durch ein selbst räumliches Wesen erkannt werden kann In diese Einsicht gipfelt der Naturhymnus (vgl. V. 260-273/251-264)In der Erkenntnis der Identität von Teil und Ganzem verschwindet das Gefühl der Furcht, in welchem der Mensch ursprünglich auf­ grund des Losrisses vom Ganzen befangen blieb.24 Das Denken erhält hier somit eine eigentümliche Doppelheit: Schelling versteht seine Naturphilosophie als ein »Erinnern des Zustandes, in welchem wir Eins waren mit der Natur« und somit als eine Erinnerung an einen Zustand der Selbstentfremdung des Denkens. Sie ist als eine solche Erinnerung jedoch zugleich die Überwindung dieser Entfremdung und das Innewerden der eigentümlichen Macht des Denkens oder »des Gedankensjugendkraft« (AA 1,8, 365; V. 270/261). Der Riesengeist wird in der weiteren Auseinandersetzung zwischen Schelling und Schleiermacher noch eine bedeutsame Rolle spielen Deshalb ist an dieser Stelle vorgreifend auf die Wiederkehr des Riesen­ geistes in der Gestalt des Erdgeistes einzugehen.25 Obwohl der Begriff in den Vorlesungen über die Methode des academischen Studium nur ein einziges Mal, und zwar bloß in einem Nebensatz auftaucht, wird er von Schleiermacher in seiner Rezension der Vorlesungen ausdrücklich hervorgehoben, da Schleiermacher in ihm ein Potential erblickt, um die spekulative Konstruktion der Moral, die Schelling Schwierigkeiten zu bereiten scheint, erfolgreich durchzuführen (vgl. KGA 1,4, 479) 24

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Die von Wiederporst umrissene Anschauung der Natur bildet das genaue Ge­ genstück zu dem Bild der Natur, wonach man diese »nur könnt durch Schleyer schauen / Um nicht zu empfinden heimlich Brunst« (V. 289 f. / 276). Auch Hermann Patsch hat eine Beziehung zwischen Riesengeist und Erdgeist hergestellt, vgl. H. Patsch (1989): »Metamorphosen des Erdgeistes. Zu einer my­ thologischen Metapher in der Philosophie der Goethe-Zeit«. In: New Athenaeum~ Neues Athenaeum 1, 271 f. Übrigens kommt der Begriff auch einmal in den gleich­ zeitig entstandenen Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie vor vgl. AA 1,12,231; s.a. SW VI, 393.

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Wie Schleiermacher sich den Begriff in dieser Absicht zunutze zu machen gedenkt, werden wir an geeigneter Stelle näher betrachten. Hier braucht uns zunächst nur zu interessieren, wie sich für Schelling selbst der Riesengeist in den Erdgeist verwandelt. Obwohl Schelling den Begriff niemals definiert und ihn somit einführt, als verstehe er sich von selbst, lässt der Begriff sich durch genaue Beachtung des Zusammenhangs, in welchem Schelling ihn einführt, und des Ge­ brauchs, den er von ihm macht, ziemlich genau bestimmen. Schelling führt ihn nämlich im Zusammenhang einer Erörterung des Begriffs der Wissenschaft ein. Dabei geht er von der Beobachtung aus, dass Wissen unter Bedingungen der Endlichkeit nur durch Überlieferung garantiert ist. Die (menschliche) Wissenschaft ist deshalb in ihrem Wesen bedroht, da der Faden leicht abreißt, wenn nicht besondere Bemühungen unternommen werden, um die Kontinuität der Wis­ senschaft sicherzustellen, insbesondere mittels Errichtung von dieser Aufgabe gewidmeten Institutionen.26 Aufgrund jener Beobachtung stellt sich jedoch die Frage nach einem »ersten Anfang« oder wie denn die »ersten« Menschen zur Wissenschaft gekommen seien.27 Das Problem lässt sich nur dadurch lösen, dass »dem gegenwärtigen Men­ schengeschlecht ein anderes vorangegangen seyn [mußte]«.28 Dieses ältere Menschengeschlecht unterscheidet sich dadurch grundsätzlich von dem gegenwärtigen, dass es nicht auf Überlieferung angewiesen ist, sondern von Natur aus mit allen erforderlichen Mitteln zum Erwerb von Wissen ausgestattet ist. Diese Mittel sind dem gegenwärtigen Men­ schengeschlecht erst durch jenes ältere überliefert worden.29 Es wäre

26 Vgl. auch die spätere Bemerkung, dass es »keinen Zustand der Barbarey [giebt], der nicht aus einer untergegangenen Cultur herstammte« und »wie auch jene, in einem Zustand der Wildheit lebende, Völker nur von dem Zusammenhang mit der übrigen Welt durch Revolutionen losgerissene und zum Theil zersprengte Völkerschaften sind, die der Verbindung und der schon erworbenen Mittel der Cultur beraubt in den gegenwärtigen Zustand zurücksanken« (F. W. J. Schelling (1803): 'Vorlesungen über die Methode des academischen Studium. Tübingen, 168 f.). 27

Ebd.,32.

28 29

Ebd.,31. Dadurch sucht Schelling die Schwierigkeiten zu vermeiden, die sich aus der Annah­ me ergeben, dass »der Mensch, wie er jetzt erscheint, durch sich selbst sich vom

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I. DER EPIKUREER

jedoch unzulänglich, dieses ältere Menschengeschlecht einem Urvolk gleichzusetzen, weil die Urvolkhypothese bestenfalls nur zweierlei 2u erklären vermag, nämlich, erstens, dass es überhaupt »Spuren einer hohen Kultur in der Vorwelt« gibt, »von der wir die schon entstellten Reste nach der ersten Trennung der Völker finden«, und, zweitens, »die Uebereinstimmung in den Sagen der ältesten Völker«.30 Überdies han­ delt es sich dabei um eine »empirische Hypothese«, die zur Erklärung empirischer Tatsachen (wie z. B. der »Uebereinstimmung in den Sagen der ältesten Völker«) ein Urvolk postuliert. Es handelt sich bei dieser Hypothese also um einen typischen Fall jener Denkungsart, die aus den Folgen auf die Ursache schließt.31 Dabei vermag sie doch nur so viel zu erklären, als dass es überhaupt solche Spuren und Übereinstimmungen gibt, nicht aber, weshalb die Sagen gerade diesen bestimmten Inhalt aufweisen, nämlich dass sie sich sämtlich auf Götter und »Wohlthäter des menschlichen Geschlechts« beziehen.32 Hieraus geht bereits so viel hervor, als dass der Begriff des Erdgeistes nicht als eine empirische Hy­ pothese zu verstehen ist, sondern als eine >Vernunftideeep{_ kurisch< bezeichnet. Dem Bekenntnis zum Hedonismus und zum Sensualismus kommt in dieser Hinsicht nur eine untergeordnete Bedeu­ tung zu.36 Parallel zur Bewegung auf eine neue Religion hin erfahren Hedonismus und Sensualismus nämlich eine tiefgreifende Umwand­ lung. Die sensualistische Epistemologie, der zufolge >Natur< nur als Inbegriff der Gegenstände einer möglichen Erfahrung oder auch als das, was man »mit den Händen betasten« kann und was sich »riechen schmecken und fühlen« lässt, zu verstehen ist, hat eine nur vorläufige Bedeutung, da sie zu einer höheren Ansicht der Natur im Sinne einer Anschauung des Universums als Natur erst hinführen soll (V. 19, 79/ 18, 78). Jedenfalls ist deutlich, dass die Natur, wenn sie als »ewiger Handlung / Beständiger Verwandlung / Ohne Ruh noch Säumniß / Ein offen Geheimniß« bestimmt wird, über das bloß Handgreifliche und sinnlich Wahrnehmbare hinausgeht (V. 132-135/129-132). Die Erklärung, wonach »nur das wahrhaftig und wirklich ist / Was man kann mit den Händen betasten«, wird bereits entscheidend modifiziert indem die »Materie« zwar als »das Einzig wahre«, jedoch als »Unser aller Schutz und Rather, / Aller Dinge einziger Vater / Alles Denkens Element / Alles Wissens Anfang und End« bestimmt wird (V. 18 f 73-76/17 f., 72-75). Wenn es von der Natur letztendlich heißt, sje

sei ein »unsterblich Gedicht / Das zu allen Sinnen spricht«, dann ist der Sensualismus dadurch endgültig überschritten (V. 136 f. /133 f.): Die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände sind zugleich »bleibende Chiffern« und »Hiroglyphen«, die dem Erkennenden eine besondere Interpretationstätigkeit abverlangen (V. 148, 157/145,154). In dieser interpretatorischen Tätigkeit sind sowohl die Sinne als auch das intel­ lektuelle Vermögen gleichzeitig tätig, indem sie einander gegenseitig beleben. Eine solche Tätigkeit vermag denn auch den ganzen Menschen zu erfassen, da in ihr der Gegensatz von Sinnlichkeit und Verstand auf­ gehoben ist.37 Wiederporst hält der erneuerten Religion vor, zwischen Sinnlichkeit und Verstand einen Gegensatz aufzureißen. Insofern muss

Kunz sieht in dem »Naturhymnus« nicht nur den Höhepunkt, sondern den cigerit liehen Kern des Gedichts, und vermag dementsprechend die religionskritische Absicht höchstens noch als Anlass und Umrahmung jener poetischen Fassung des naturphilosophischen Weltbildes Schellings zu würdigen (vgl. Kunz (1955), 4^ 47; ähnlich R. Haym (1961): Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschieht^

Forschung. Hrsg, von H. Hühn / J. Schiedermair. Berlin / Boston, 125-142. Ders. (2016): »»Gefühl der unbeschreiblichen Realität jener höheren Vorstellungen« Realismus und Religionsphilosophie um 1800«. In: Religion und Religionen im Deutschen Idealismus. Schleiermacher-Hegel-Schelling, Hrsg, von F. Hermanni / B. Nonnenmacher / F. Schick. Tübingen (Collegium metaphysicum 13), 275-282. Zur realistischen Konstellation siche: M. Frank (2007): »»Der schwere Schritt in die Wirklichkeit«. Über das Werden eines frühromantischen Realismus«. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 17, 13-31 und neuerdings: T. Giesbers (2017): The Wall or the Door: German Realism around 1800. Utrecht. Schelling bezieht insofern eine Sonderstellung, als er sowohl gegen den Idealismus als auch gegen den Realismus

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des deutschen Geistes. Hildesheim, 553). Der Naturhymnus kann nur insofern als Kern des Gedichts verstanden werden, als hier die Grundlage der Rechtfertigungo von Wiederporsts »Glaube« angezeigt wird.

36 Anders als z. B. Rohls meint (vgl. Rohls (2016), 294). Vgl. Kunz (1995), 43, 54. Ey,. einen Überblick dieser Tradition der Religionskritik siehe: L, Strauss (2008): ö;'e Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften. Hrsg, von H. Meier. Stuttgart / Weimar (Gesammelte Schriften 1), 3. Aufl., 65-82.

37 Schleiermacher wirft dem Idealismus vor, ihm fehle ein höherer Realismus (vgl. KGA 1,2, 213). Ein solcher Realismus wäre nur in der Religion zu finden, die als Anschauung und Gefühl das integrierende Element aller (besonders der kognitiven und praktischen) Vermögen bildet und insofern den ganzen Menschen erfasst, wie es die Erkenntnis und das Handeln an sich nicht vermögen. Durch das Glaubensbekentniss zeigt Schelling, dass er selbst mit seiner Naturphilosophie sehr wohl über einen höheren Realismus verfügt und dass sie, sofern sie zugleich Grund­ lage einer neuen Religion ist, der von Schleiermacher befürworteten Erneuerung der Religion nicht mehr bedarf. Das Gedicht fängt in der Tat mit einem Bekenntnis zum Sensualismus als der niedrigsten Form des Realismus an, um allmählich zu einem höheren Realismus hinzuführen. Zum höheren Realismus, siehe: D. Korsch (2000): »»Höherer Realismus«. Schleiermachers Erkenntnistheorie der Religion in der Zweiten Rede«. In: 200Jahre »Reden über die Religion. Hrsg, von U. Barth / C.-D. Osthövener. Berlin / New York (Schleiermacher-Archiv 19), 609-628. P. Zi­ ehe (2015): »Wirklichkeit als »Duft« und »Anklang«. Romantik, Realismus und Idealismus um 1800«. In: Europäische Romantik. Interdisziplinäre Perspektiven der

kämpft und beide in sein eigenes System zu integrieren sucht (vgl. u. a. AA 1,17, 26,

122-125, 128).

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I. DER EPIKUREER

man sagen, dass von ihr sehr wohl ein sinnlicher Reiz ausgeht. Wenn Wiederporst anfangs bekennt, dass er sich durch die Reden wie durch das Fragment dazu verlockt fühlte, »über Kopf und Hals / In der Beschauung des Weltenalls« aufzugehen, dann müssen sie auf ihn als sinnlichen Menschen auch einen sinnlichen Reiz ausgeübt haben (V. 29 f. / 28 f.). Was er jener erneuerten Religion also im Besonderen vorhält, ist, dass dieser Reiz nicht mit dem Verstand akkordiert und somit der Probe der Reflexion nicht standzuhalten vermag. Deshalb führt Wiederporst als den nächsten Grund seiner Empörung an, dass Schleiermacher und Novalis die von ihnen befürwortete Religion We­ der zu »demonstriren« noch zu »beweisen« und somit auch nicht zu begründen vermögen (V. 51 f., 54/50 f., 53). So muss er sich selbst den Trost und die Entzückungen, die jene von der Religion versprechen letztlich aus intellektueller Redlichkeit verbieten, ohne dass er dadurch jedoch den Hang zur Religion zum Verschwinden zu bringen vermag (vgl. V. 34, 176/33, 171). Dieser stellt weiterhin seinen Anspruch und kann durch die intellektuelle Redlichkeit nicht wirklich beseitigt oder zum Schweigen gebracht werden. Eine ähnliche Denkbewegung zeigt sich hinsichtlich der hedonisti­ schen Moral, die Wiederporst zunächst befürwortet. Auch in diesem Fall ist die polemische und vorläufige Funktion offenkundig: So dient der affichierte Hedonismus ihm zunächst als ein Antidot, um »die Gril­ len« zu »vertreiben« und als eine Radikalkur, die ihn dazu befähigen soll, »rück[zu]kehren ins alte Gleis« (V. 37, vgl. V. 35-46, 81-86; V. 33/ 36, 34—45, 80-83, 32).38 Besonders auffällig ist der bereits angedeutete prononciert erotische Charakter dieses Hedonismus. Als eigentlicher Gegenstand der erotischen Lust erweist sich jedoch in letzter Instanz; die Natur. An diesem Punkt des Gedichts fließen Sensualismus und Hedonismus, die theoretische Tätigkeit und die erotische Lust ineinaty-

3. DER EPIKUREISMUS DES GLAUBENSBEKENTNISS

der und vereinigen sich zu einer Leidenschaft der Erkenntnis, als dem eigentlichen Grundzug des Charakters des Wiederporst (vgl. V. 206 f., 330-336, 346/197 f., 309-315, 325).39 Insofern man die Erkenntnis als eine Tätigkeit betrachtet, sind in ihr alle Vermögen des Menschen integriert. Betrachtet man die Naturerkenntnis jedoch nach ihrer gegen­ standsbezogenen Seite, dann weist sie die Besonderheit auf, dass sie in der Einsicht in die Identität von Erkennendem und Erkanntem gipfelt. Dadurch erweist die Erkenntnis sich als Grundlage der Liebe.40 Es stellt sich zwischen dem Erkennenden und der Natur als Gegenstand der Erkenntnis ein erotisches Verhältnis ein: Der Erkennende verhält sich zur Natur als zum Anderen seiner selbst und umgekehrt. Durch die Liebe erkennt der Erkennende sich selbst als die sich erkennende Natur, während die Natur nur durch einen sie Liebenden, der sich ihr mit den Sinnen und dem Verstand hingibt, »von innen und äußern erkannt werden kann. Das Kennzeichnende des Glaubensbekentniss ist somit in Wieder­ porsts Versuch einer Aussöhnung von Religion und Wissenschaft bzw. Philosophie zu sehen (vgl. AA 1,12, 468). Die Schwachstelle der schleiermacherschen Bestimmung der Religion, die auf der Unterschei­ dung derselben von der Philosophie beruht, welche sich für ihn in Metaphysik und Moral aufteilt, ist dementsprechend in dem zugrunde gelegten Begriff von Wissenschaft zu suchen: Schleiermacher scheint die Philosophie als nicht grundsätzlich verschieden von den positiven Wissenschaften anzusehen, was sich daran zeigt, dass er sie vor allem durch ein ihnen zugeordnetes, eigenes Gebiet definiert.41 Allerdings scheint sich ein Bewusstsein der Unzulänglichkeit dieser Bestimmung,

39 Vgl. auch die Bemerkung von Kunz, wonach die Geliebte als Symbol für die Natur 40

38 Die »absichtliche Übertreibung« in dem Bekenntnis zum Sensualismus und Hedo_

nismus, die übrigens sehr gut zum Charakter des Wiederporsts passt, wurde bereite früher beobachtet. So z.B. Haym (1961), 553. F. Schultz (1909): Der Verfasser der Nachtwachen von Bonaventura. Untersuchungen zur deutschen Romantik

Berlin, 99.

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als Ganzes steht (Kunz (1955), 53). Im Naturhymnus sind die Kritik der Furcht und die Betonung der Liebe mitein­ ander verwoben. Die Behauptung, wonach Schelling hier eine »Gesamtschau des Naturprozesses« biete, ist jedoch nur bedingt zutreffend und scheint vor allem durch eine allzu lehrhafte Lektüre des Gedichts motiviert (vgl. Kunz (1955), 47-50). Dies dürfte sich auch daran zeigen, dass die Klasse der »gebildeten Verächter« die Philosophen mit umfasst bzw. dass Schleiermacher beide Klassen nicht klar genug

zu unterscheiden scheint.

12

I. DER EPIKUREER

d. h. ein Bewusstsein davon, dass beide > Wissenschaftern ihre Aufgabe darin finden, alle Meinungen über Gott einer Prüfung zu unterziehen und falsche Meinungen über Gott der Kritik preiszugeben, darin zu verraten, dass er in der Definition der Religion jegliche Bezugnahme auf Gott nach Möglichkeit zu vermeiden sucht. Dies geht so weit, dass das Wort >Gott< in der ersten Auflage der Reden über die ReligiOn kaum vorkommt.42 Sofern Schelling sich in diesem Gedicht damit begnügte, Glau­ ben gegen Glauben aufzubieten, bliebe es als Erwiderung auf die schleiermacherschen Reden in gewissem Sinne unzureichend, und dies umso mehr, da Schleiermachers Absicht darin besteht, die gebildeten Verächter über ihre unbewussten religiösen Sehnsüchte aufzuklären Ein Glaube kann der Philosophie nicht genügen, solange diese sich dazu verpflichtet weiß, ihre Behauptungen nachzuweisen und rational zu begründen. Das Glaubensbekentniss erhält jedoch dadurch auch eine argumentative Bedeutung, dass es zu zeigen sucht, wie eine neue Religion sich auf der Naturphilosophie zu gründen vermag. Dies ist insofern von Bedeutung, als Schleiermachers Absicht darin besteht die Eigenständigkeit der Religion dadurch zu erweisen, dass er sie grundsätzlich von der Metaphysik und der Physik abgrenzt. Die, ser Abgrenzungsversuch wird dadurch durchkreuzt, dass Schelling zeigt, wie die Naturphilosophie selbst Grundlage einer neuen Religion werden kann. Hinzu kommt, dass Schleiermacher diese Form der >Naturreligion< durch seine Definition der Religion nicht einzufan­ gen weiß. Dadurch wird sichtbar, dass die Bestimmung des Wesens der Religion von vornherein, wenn auch stillschweigend und ohne dass Schleiermacher dies eigens zu begründen sucht, auf die Offen­ barungsreligion zugeschnitten ist. Sie vermag somit die Mythologie

3. DER EPIKUREISMUS DES

Es ist in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich, dass Schleiermacher gleich itR ersten Absatz der zweiten Rede an die berühmte Frage >was ist ein Gott?< erinnert um sie jedoch sogleich durch die »weit größere und mehr umfaßende« Frage, >was’ ist Religion ?< zu ersetzen (KGA 1,2, 206; vgl. V. 194/184).

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nicht als eine eigenständige und grundsätzlich von jeglicher Form der Offenbarungsreligion verschiedene Form von Religion anzuerken­ nen.43 Wie sehr Schleiermacher ebendiese Absicht auch zu verschleiern sucht, so scheint sie Schelling doch bereits bei einer flüchtigen Lektüre aufgefallen zu sein; jedenfalls musste die Rezeption, die die Reden seitens Novalis’ erfahren haben, ihn darauf aufmerksam machen. Dass Schleiermacher die Mythologie nicht als eine eigene Form der Religion anzuerkennen vermag, da ihm die Offenbarungsreligion als Maßstab gilt, bedeutet Schelling zufolge eine entscheidende Schwäche dieser Position: Dadurch ist sie nicht in der Lage, von sich selbst Rechenschaft abzulegen, es sei denn durch den Verweis auf das Gefühl, ohne zu bedenken, dass dieses Gefühl, insofern es sich als religiös und fromm versteht, selbst auf eine historische Konstellation verweist, aus welcher es erwächst, oder, anders gesagt und im Einklang mit Schleiermachers eigenen Gedanken, dass das Gefühl selbst aus einer besonderen An­ schauung des Universums erwächst, im Falle der Mythologie nämlich aus einer Anschauung des Universums als Natur.44 Dieser Schwäche wird Schelling in den Vorlesungen über die Methode des academischen

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Die Unterscheidung zwischen Heidentum und Christentum als zwei Typen von Religion bildet eine der Grundthesen Schellings, von welcher er niemals abrückt. In ihr liegt auch der Grund dafür, dass »der Begriff der Religion einen notwendigen Bezug auf die Geschichte« hat, weil erst diese Unterscheidung zu einer historischen Konstruktion nötigt, d. h. eines Nachweises einer historisch notwendigen Aufein­ anderfolge beider Typen (C. Danz (2002): »Vernunft und Religion. Überlegungen zu Schellings Christentumsdeutung in seinen Journal- Aufsätzen«. In: Gegen das »unphilosophische Unwesen’. »Das Kritische Journal der Philosophie” von Schelling und Hegel, Hrsg, von K. Viewcg. Würzburg (Kritisches Jahrbuch der Philosophie 7),

44

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GLAUBENSBEKENTNISS

206). Die Anschauung der »äußeren Natur« wird von Schlcicrmacher zwar thematisiert, aus der Art der Behandlung geht jedoch hervor, dass ihr nur eine vorbereitende Funktion zukommt und dass sie keineswegs als eine der Anschauung des Univer­ sums als Menschheit ebenbürtige oder gleich ursprüngliche Anschauung gilt. Die Anschauung der äußeren Natur gilt nur insofern als religiös, als sie letztlich auf einen Urheber verweist (vgl. KGA 1,2, 223—228).

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I. DER EPIKUREER

Studium eine historische Konstruktion des Christentums entgegen­ stellen, die bezeichnenderweise eine Konstruktion der Mythologie mit umfasst.45

II. Der Verkünder

45 Im Zusammenhang von Schellings Auseinandersetzung mit Schleiermacher gehört auch seine über A. W. Schlegel vermittelte Einladung, zum Kritischen Journal eine Kritik an Jacobi beizutragen. Am 10. Dezember 1801 schreibt Schelling an A. W. Schlegel: »Wollten Sie es nicht übernehmen, Schleyermachern zu bereden daß er diesen Jacobischen Aufsatz für das 2te Heft unsres Journals kritisirt? [...] würde uns nicht nur unsres Journals, sondern der Sache selbst wegen sehr wichtig seyn; denn von Schleiermacher ließt sich über Jacobi etwas ganz Eigenes erwarten Die beiderseitigen Individualitäten mögen einen besondern Berührungspunct bil den« (AA 111,2,1, 388). Schleiermacher scheint das Angebot mit der Begründung abgelehnt zu haben, dass eine Kritik eines einzelnen Aufsatzes nur auf der Basis einer Kritik der gesamten Position Jacobis durchführbar wäre (vgl. F. W.J. Schelling an A. W. Schlegel, 4. Januar 1802, AA 111,2,1, 396 und beachte auch die Briefe von Caroline Schlegel an A. W. Schlegel vom 10. Dezember 1801 und 18. Januar 1802 in: C. Schelling (1913): Caroline. Briefe aus der Frühromantik. Hrsg, von G. Waitz /’ E. Schmidt. Leipzig (Bd. 2), 233,278; vgl. KGA V,5, XXVI f.). Nachdem Schelling einige Wochen später A. W. Schlegel selbst zu dieser Kritik zu überreden versucht hat, hat letztlich Hegel diese Aufgabe übernommen, allerdings nicht, ohne Schlei

ermacher in seine Kritik mit einzubeziehen (vgl. AA 111,2,1, 406 u. G. W. F. Hege) (1968): Jenaer kritische Schriften. Hrsg, von H. Buchner / O. Pöggeler. Hamburg (Gesammelte Werke 4), 385 f.; vgl. dazu AA 111,2,1, 443). Hieraus geht übrigens hervor, dass es Schelling zwar daran gelegen schien, eine Jacobi-Kritik im Kritischen Journal unterzubringen, er die Zeit jedoch noch nicht für gekommen achtete, selbst eine solche zu verfassen (vgl. indes AA 1,11, 138 f.). In diesem Zusammenhang ist es durchaus bezeichnend, dass nach einer Auskunft Friedrich Schlegels Schelling Schleiermacher »sehr weit über Jacobi gestellt« hat (F. Schlegel an Schleiermacher Mitte November 1799, KGA V,3, 244).

Erst im Juni 1801 kommt Schelling dazu, Schleiermachers Reden über die Religion erneut zu lesen. Diesmal scheint er das Werk nicht länger im Bann der novalisschen Auffassung zu lesen, sondern vermag es nach dem ihm immanenten Maßstab zu beurteilen. Jedenfalls bekennt er in einem Brief an August Wilhelm Schlegel vom 3. Juli 1801, dass er jetzt zu einem »sehr eifrige[n] Leser u. Verehrer der Reden über die Relig. geworden« ist und schreibt seine ursprüngliche Reaktion, die im Glaubensbekentmss ihren Niederschlag gefunden hat, jetzt einer »unverzeihlichen Nachlxßigkeit oder Trägheit« zu (AA 111,2,1,355).1* Nachdem er Schlegel so von seinem gewandelten Urteil in Kenntnis gesetzt hat, versucht er dieses, nach einem Gedankenstrich, auch zu begründen. So heißt es von Schleiermacher jetzt, dass man ihn »nur auf der ganz gleichen Linie mit den ersten Original-Philosophen betrach­ ten kann« (AA 111,2,1, 355). Vielleicht möchte Schelling sich daraus, dass bei einer ersten Lektüre durch die Virtuosität der Darstellung leicht die »tiefsten philosophischen] Studien« zu übersehen sind, welchen der Verfasser sich unterzogen habe, erklären, weshalb er die Reden zunächst nicht mit der Aufmerksamkeit gelesen hat, die sie verdienen (AA 111,2,1,355 f.). Die gedankliche Ursprünglichkeit und 1

Vgl. auch den Brief von Caroline Schlegel an A. W. Schlegel vom 12. Juni 1801 (C. Schelling (1913), (Bd. 2), 168). Bis dahin verfügte Schelling nicht über ein eigenes Exemplar, da Caroline Schlegel in demselben Brief A. W. Schlegel dazu auffordert, ein Exemplar aufzutreiben, das er Schelling dann zum Geschenk machte. Vgl. da­ zu A. W. Schlegel an F. D. E. Schleiermacher, 7. September 1801 (KGA V,5,194). Das Exemplar befindet sich jetzt in der Andover-Harvard Theological Library (vgl. W. Grossmann (1959): »Schelling’s Copy of Schleiermacher’s Über die Religi­ on«. In: Harvard Library Bulletin 13, 47-49). Nach Auskunft der Kuratorin der Andover-Harvard Library, Frau Nell Carlson, finden sich in dem Exemplar weder Anstreichungen noch Anmerkungen.

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II. DER VERKÜNDE^

formale Vollkommenheit der Reden, durch welche sie »selbst ein Bild des Universum« abgeben, ließen sich jedoch auf zweierlei Weise erklä­ ren, nämlich entweder durch gründliche philosophische Studien oder aber »durch blinde göttliche Inspiration«, wobei Schelling diesmal deutlich der ersten Erklärung zugeneigt ist (AA 111,2,1, 356). Aufrich­ tige Bewunderung und Verehrung brauchen jedoch nicht zwangsläufig Zustimmung zu implizieren. In der Tat scheint Schellings Bewun­ derung vor allem dadurch motiviert, dass Schleiermacher sich dazu befähigt zeigt, den ursprünglichen Sinn der Religion wiederzugewin­ nen, dies im Gegensatz zu jenen zeitgenössischen Theologen, denen gerade ein adäquater Begriff von ihrer eigenen Wissenschaft und deren Gegenstand fehlt und die dadurch die Theologie den Angriffen der Aufklärung ausgesetzt haben. Dazu bemerkt Schelling, dass den auf­ klärerischen Argumenten gegen einen solchen Begriff von Theologie allerdings uneingeschränkt zuzustimmen sei. Schleiermacher hingegen hat die Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Religion, die wegen einer durch aufklärerische Vorurteile genährten »Verachtung« der Religion festgefahren schien, wiederzubeleben und zugleich auf eine höhere Ebene zu heben gewusst.2 Da der von Schelling selbst veröffentlichte Auszug des Glaubensb^kentniss von der Auseinandersetzung mit Schleiermacher sowie von der religionskritischen Absicht nichts mehr erkennen ließ, konnte die erste Salve in diesem »stillen Krieg* von der Öffentlichkeit nicfit vernommen werden. Seiner gewandelten Wertschätzung verleiht Schel­ ling in einer berühmten Stelle seiner 1803 veröffentlichten Vorlesungen über die Methode des akademischen Studium Ausdruck.3 Da er jedoch auf jegliche Namensnennung verzichtet und Schleiermachcrs Rezen­ sion der Vorlesungen anonym erschien, konnte der Dialog von der 2 Vgl. Schelling (1803), 189—192, 198, 201—202. Alle Ziffern in Klammern in dieser^

II. DER VERKÜNDER

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Öffentlichkeit kaum als solcher wahrgenommen werden. Die lobende Bezugnahme auf Schleiermachers Versuch einer Erneuerung der Re­ ligion hat indes dazu beigetragen, dass man gemeinhin eine größere Nähe beider Denker annimmt, als sich durch eine genaue Analyse der Texte belegen lässt. Das Lob ist nämlich, wie sich in einem ersten Abschnitt zeigen wird, in eine kritische Erörterung eingebettet, die einen grundsätzlichen Vorbehalt zum Ausdruck bringt, der vorläufig als »Subjektivismus-Vorwurf* zu bezeichnen ist.4 Zudem hat man aufgrund jenes Lobes übersehen, dass der Dialog mit Schleiermacher sich keineswegs auf die besagte Stelle beschränkt, sondern dass diese lediglich den Auftakt zu einem in der achten Vorlesung umrissenen Ge­ genentwurf zu Schleiermachers Bestimmung der Religion bildet. Die in der achten Vorlesung umrissene historische Konstruktion, welche in die Grundlegung einer wissenschaftlichen Theologie in der neun­ ten Vorlesung mündet, wird in einem zweiten Abschnitt analysiert. Schelling scheint durch die erneute Lektüre der Reden zu der Einsicht gelangt zu sein, dass eine Verwerfung nicht genüge, sondern dass die von Schleiermacher in den Reden umrissene Position eine ernsthafte Entgegnung verdiene. Die Philosophie kann sich nicht damit begnügen, Glauben gegen Glauben zu stellen, wie Schelling dies im Glaubensbekentniss noch zu tun schien, falls sie sich der Herausforderung, die die schleiermacherschen Reden für die Philosophie bereithält, gewachsen zeigen will. Ein Glaube kann der Philosophie nicht genügen, solange diese sich dazu verpflichtet weiß, ihre Behauptungen zu beweisen und sich rational zu begründen. Insofern dürfte die erneute Lektüre mit zu Schellings Entscheidung beigetragen haben, seine eigenen An­ sichten zur Religion zum ersten Mal in einer veröffentlichten Schrift näher darzustellen. Bemerkenswert ist nämlich, dass Schelling mit der historischen Konstruktion des Christentums einen Vorstoß wagt: Er wartet nicht ab, bis sein Gegenüber sich zu einem durchaus wichtigen

Kapitel beziehen sich ausnahmslos auf diese Ausgabe.

3 In der Zwischenzeit hat Hegel im von ihm gemeinsam mit Schelling herausgegebenen Kritischen Journal seine Abhandlung über Glauben und Wissen veröffentlicht, in welcher sich drei Seiten kritisch auf Schleiermacher beziehen (vgl. Hegel (196g) 385 f.). Dazu bemerkt Schelling in einem Brief vom 16. Juli 1802 an A. W. Schlegef dass die hegelsche Kritik »freylich mehr einem allgemeinen darinn [in den Reden} ausgedrückten Bestreben, wie ihnen als besonderem Werk gilt« (AA 111,2,1,443)

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Diese kritische Absicht ist Schleicrmachcr nicht entgangen, wie aus seinem Brief an G. A. Reimer vom 11. November 1803 hervorgeht: »Ich meinestheils bin weit mehr gespannt darauf was aus dem stillen Krieg werden wird in dem ich mit Schelling begriffen bin. Denn wie ich auf ihn ziemlich bedenklich hindcute in der Kritik [sc. Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre}, so er auf mich in der Methodologie« (KGA V,7, 94).

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II. DER VERKÜNDER

Punkt, nämlich zu dessen Verständnis des Christus, äußert, sondern kommt ihm zuvor, indem er seine eigene Ansicht, wenn auch sehr verklausuliert, umreißt. Wie in einem dritten Abschnitt gezeigt wird hat Schleiermacher die Herausforderung klar genug erkannt und Schel­ lings Dialogangebot dadurch angenommen, dass er zu den Vorlesungen eine Rezension schreibt, in welcher er den besagten Punkt deutlich hervorhebt. Als besonders aufschlussreich werden sich dabei drei wie beiläufig formulierte »Bedenklichkeiten» erweisen, die Schleiermacher Schelling vorhält und die zugleich bereits den Kern der eigentlichen Entgegnung enthalten, die er erst 1806 mit der Weihnachtsfeier vorlegt

1. Philosophie und Religion Laut der Überschrift soll die siebte Vorlesung »einige äußre Gegensätze der Philosophie« behandeln (143). Als ein solcher >äußerer Gegen­ satz» wird die Religion thematisiert. Indem er diesen vorwiegend im Hinblick auf einen neueren Versuch, einen Widerstreit von Religion und Philosophie zu behaupten, erläutert, greift Schelling die Unter­ scheidung auf, deren Begründung das unverkennbare Anliegen von Schleiermachers Reden ist. Schelling gibt diese so wieder, dass die Religion »als reine Anschauung des Unendlichen« der Philosophie entgegensetzt wird, »welche als Wissenschaft nothwendig aus der Identität derselben herausgeht« (148). Während die Religion qua An­ schauung, als eine gänzliche Versenkung in den Gegenstand, der ein Gefühl der Ent- und Verzückung entspricht, in der Identität mit dem Unendlichen bliebe, wäre die Philosophie qua Reflexion notwendiger, weise in einem Differenzverhältnis zum Unendlichen.5 Aus Schellings Wiedergabe jener Unterscheidung geht klar hervor, dass er Schleierma­ chers Absicht erkannt hat, mit derselben nicht lediglich Religion und Philosophie in ihrer jeweiligen Eigenständigkeit zu charakterisieren sondern auf ihr den Primat der Religion im Verhältnis zur Philosophie

5

Damit greift Schelling sehr präzise das Unterscheidungskriterium auf, dessen sich Schleiermacher bedient hat, vgl. KGA 1,2,211,213, 221 f.

1. PHILOSOPHIE UND RELIGION

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zu gründen.6*Die Unterscheidung wird nämlich so vorgenommen, dass der Religion eine Anschauung zugesprochen wird, die der Philosophie fehlt und auf welche erstere demnach ihren höheren Rang zu gründen vermag. Deshalb verweist Schelling an dieser Stelle auf die intellektuelle Anschauung, wenn auch ohne sie zu nennen: »Daß die Philosophie ihrem Wesen nach ganz in der Absolutheit ist, und auf keine Weise aus ihr herausgeht, ist eine vielfach ausgesprochene Behauptung« (148, vgl. 98). Wenn Schleiermachers Argument gegen eine Philosophie, die ihre Basis in der Reflexion hat, schlagend sein mag, so muss es jedoch gegen eine Philosophie versagen, die eine intellektuelle Anschauung behauptet. Durch eine solche ist der Philosoph genauso in der Identität mit dem Unendlichen, wie Schleiermacher es vom religiösen Menschen behauptet. Wenn eine solche Identität zudem eine »Harmonie« des Menschen »mit sich selbst« begründet, die als der »höchste Zustand des Geistes« angesehen werden muss, dann kann die Religion nicht nur nicht mehr ihren Primat, sondern sogar auch nicht mehr ihre Ver­ schiedenheit von der Philosophie durch den Hinweis auf einen solchen

6 So bedient Schleiermacher sich einer Gebietskonzeption, um die Eigenständigkeit der Religion in Bezug auf Metaphysik und Moral zu behaupten (vgl. KGA 1,2, 202,203, 204, 208, 212,214, 215, 219 usw.). Aus anderen Stellen geht jedoch klar genug hervor, dass dieser These nur eine vorbereitende Funktion zukommt, um die höhere Rangordnung der Religion in Bezug auf Metaphysik und Moral behaupten zu können. Diese beruht darauf, dass die Religion in Bezug auf die verschiedenen Tätigkeitsfelder der menschlichen Existenz eine integrierende Funktion auszuüben vermag, wozu Metaphysik und Moral unfähig sind (vgl. KGA 1,2,190 f., 193 f., 197, 206,209, 212, 213). Diese Absicht geht noch unmissverständlicher aus einer in der zweiten Auflage hinzugefügten Stelle hervor: »nur dann kann ich hoffen, daß Ihr die Religion, die ich Euch zeigen will, wo nicht liebgewinnen, doch wenigstens Euch über ihre Bedeutung einigen und ihre höhere Natur anerkennen werdet« (KGA 1,12,42; m.H.). In der ersten Auflage hieß es in einer eher bildlichen Formulierung: »und sie für ein himmliches Wesen erkennen werdet« (KGA 1,2, 207). Auf diese Spannung hat auch Friedrich Wilhelm Graf hingewiesen, wenn er darin auch das Indiz einer sachlichen Unklarheit und einen immanenten Grund zur Revision der Reden hat sehen wollen (vgl. F.W. Graf (1978): »Ursprüngliches Gefühl unmit­ telbarer Koinzidenz des Differenten. Zur Modifikation des Religionsbegriffs in den verschiedenen Auflagen von Schleiermachers »Reden über die Religion««. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 75, bes. 173 f., 176, 179 f., 183).

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II. DER VERKÜNDER

Zustand gründen (149 f.; m. H.).7 Falls es somit eine Unterscheidung zwischen den beiden gibt, dann muss diese einen anderen, als den von Schleiermacher angegebenen Grund haben. Schelling braucht somit die Existenz jener Zustände, an denen Schleiermacher sich orientiert, gar nicht zu leugnen; er verneint nur, dass man von denselben jenen philosophiekritischen Gebrauch machen kann, den Schleiermacher von ihnen machen zu können glaubt.8*Damit ist auch gesagt, dass das Gefühl sich nicht gegen die Philosophie aufbieten lässt, da die Philosophie selbst mit >Gefühlen< oder »Seelenzuständen« einhergeht Dadurch vereitelt Schelling den Gebrauch, den Schleiermacher von jener Unterscheidung zu machen gedenkt, ohne die Unterscheidung selbst leugnen zu müssen.9 7 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen dürfte es nicht zweifelhaft sein, wie die Frage, »inwiefern die identitätsphilosophische Intuition« (womit wohl die intellektu eile Anschauung gemeint ist) »überhaupt zuerst angeregt ist durch Schleiermachers suggestive Beschreibung des »geheimnisvollen Augenblicks« in der zweiten Rede« zu beantworten ist (Ullmann (1985), 381). Ähnlich bereits W. Dilthey (1970): Leben Schleiermachers. Erster Band. Göttingen (Gesammelte Schriften XIII. /), 373 f. 8 Dasselbe Argument bietet Schelling ein Jahr später in Philosophie und ReligiOn gegen Eschenmayer auf (vgl. SW VI, 19 f.). Beachte zudem die Anmerkung in detl Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie von 1805, die dasselbe Argument allem Anschein nach erneut gegen den - nicht namentlich genannten - Eschenrnayer geltend macht, jedoch mit Hinweis auf eben die Stelle in den Vorlesungen, die sich auf Schleiermacher bezieht (vgl. AA 1,15,102.). Vgl. dazu: Schcerlinck (2017), 82 f 242 f., 408. Übrigens hatte Hegel in Glauben und Wissen ein gleich aufgebautes' Argument gegen Jacobi geltend gemacht (vgl. Hegel (1968), 379 f.). Durch seine Annahme, dass Schelling die schleiermachersche »Anschauung des Universums in eine »intellektuelle Anschauung des Universums« (ein Ausdruck, der sich bei Schelling nirgends findet) umwandelt, verwischt Rohls Schellings Argument und meint bei Schelling eine Identifizierung von Religion (im gewöhnlichen Sinne) und (absolutem) Wissen feststellen zu können (vgl. Rohls (2016), 298 f., 304 f., 314). 9 Beachte übrigens die Bemerkung, dass »die Wissenschaft zu verachten, weil dieSe allgemeingültig, der Formlosigkeit entgegengesetzt, und mit Einem Wort, weil sje Wissenschaft ist«, weil sie also auf Rechtfertigung und Begründung nach objektiven Prinzipien drängt, »als ein neues und gleichsam das letzte Mittel der Subjectivirun ergriffen worden« ist (149 f.; m. H.). Daraus geht hervor, dass Schelling sich hier sozusagen an die Gebildeten unter den Verächtern der Wissenschaft richtet. ße; Novalis war die Wissenschaftsfeindlichkeit jedenfalls offenkundig (vgl. Novalis (1983), 508, 521 f. u. AA 111,2,1, 510). Gleich im Anschluss an seine Auseinander

1. PHILOSOPHIE UND RELIGION

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Das Verständnis von Schellings Argument wird erheblich dadurch erschwert, dass er den Begriff »Religion« in zweierlei Bedeutung ver­ wendet, ohne den Leser ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen.10 So definiert er Religion zunächst als »reine Anschauung des Unendli­ chen« und als ein Gefühl der »Harmonie mit sich selbst«. Durch jene Anschauung und dieses Gefühl stellt Schelling eine Gemeinsamkeit zwischen Religion im gewöhnlichen Sinne und Philosophie her. Da­ durch können seine Überlegungen leicht den Eindruck erwecken, als ob er Philosophie und Religion schlechthin gleichsetzt. Wenn der Grund der Unterscheidung von Religion und Philosophie nicht im Gefühl zu finden ist, so wird er in einer unterschiedlichen Gestalt jener reinen Anschauung zu suchen sein.11 Hebt man auf die intel­ lektuelle Anschauung ab, als eine besondere Tätigkeit, die nicht in ihren Ergebnissen aufgeht, dann kann die Philosophie als eine Form der Religion im Sinne einer »reinen Anschauung des Unendlichen« gedacht werden. Die Religion im gewöhnlichen Sinne kann sich dann nur dadurch von der Philosophie unterscheiden, dass ihr eine nicht­ intellektuelle Anschauung des Unendlichen zugrunde liegt. Der zwei­ deutige Gebrauch von »Religion« erlaubt es Schelling, zwei auf den ersten Blick unverträgliche Thesen aufzustellen: Erstens vermag er die Eigenständigkeit der Religion (im gewöhnlichen Sinne) gegenüber der Philosophie durchaus anzuerkennen. Diese wird in der achten Vorlesung zum Gegenstand einer eigenen Erörterung gemacht. Es ist denn auch erst in diesem Zusammenhang, dass Schelling den schleiermacherschen Begriff einer »Anschauung des Universums« aufgreift

Setzung mit Schleiermacher in den Vorlesungen bekräftigt Schelling übrigens den bereits im Glauhensbekentniss formulierten Vorwurf, Novalis’ Dichtung sei »aller Poesie Vernichtung« (V. 58/57), indem er jene Künstler tadelt, die in der Natur nur »Allegorieen von Empfindungen und Gemüthzuständen« zu finden vermögen (152). 10 Schleiermacher scheint diese Zweideutigkeit zwar bemerkt zu haben, erklärt sie sich jedoch daraus, dass es Schelling nicht gelungen sei, zur Klarheit in der Sache 11

zu finden (vgl. KGA 1,4, 470). Hieraus dürfte auch ersichtlich werden, weshalb Schelling in der achten Vorlesung den Begriff einer Anschauung des Universums von Schleiermacher übernehmen kann, den Begriff des Gefühls jedoch ausklammern zu können meint (siehe jedoch weiter unten).

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II. DER VERKÜNDE^

(s. u.). Zweitens kann er jedoch zugleich die Identität oder »innigste Einheit« von Philosophie und Religion behaupten (103). Diese wird in der siebten Vorlesung thematisiert, in welcher die Überlegenheit der philosophischen Religion über die Religion im gewöhnlichen Sinne behauptet wird. Das Gefühl jener >Harmonie mit sich selbst< reicht somit für sich ge­ nommen nicht aus, um die Besonderheit von Religion und Philosophie zu bestimmen. Nun dient Schleiermachers Bestimmung der Religion als »Anschauung und Gefühl* der Absicht, sein Hauptargument zu stützen, wonach der Sinn der Religion nur aus der Perspektive des religiösen Menschen einsichtig ist und jede Reflexion, die den Sinn der Religion zu erheben sucht, immer schon die religiöse Erfahrung voraussetzt und diese aber niemals in die Reflexion mit einzubeziehen vermag.12 Diese Absicht steht jedoch in einer gewissen Spannung zur formalen Anlage der Reden, die ja versuchen, die Gebildeten, denen die 12 Damit macht Schleiermacher sich ein fichtesches Argument zunutze, vgL J. G. Fich te (1962-2012): Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Stuttgart-Bad Cannstatt, 1,2, 414 (s.a. AA 1,12, 99; SW VI, 19). Vgl. hierzu die Unterscheidung von >Internalismus< und »Externalismus» in: A. Burms (2012): »Ge_ loof, mirakels en het bovennatuurlijke«. In: Tijdschrift voor Filosoße 74, 299—303 Nach der internalistischen Ansicht ist »der Sinn von Religion ausschließlich von einem religiösen Standpunkt aus verständlich«, während der Extcrnalist meint dass der Sinn von Religion »nicht ganz mit dem Sinn von religiösen Erfahrungen zusammenfallen kann«. Allerdings scheint Burms mir den Externalismus zu eng zu fassen, indem er ihn mit der sehr hohen Forderung identifiziert, von der Re ligion als von einer »Hypothese, die im Prinzip von einem externen, neutralen wissenschaftlichen Standpunkt ausgeht«, Rechenschaft zu geben (so in: A. Burrns’ (2011): »Religie, geloof, letterlijkheid«. In: Ders., Waarheid Euocatie Symhool

Leuven, 2011, 147, m. H., vgl. 151, 156 f.). Schleiermacher kann man insofern dem Internalismus zurechnen, als er bestrebt ist, alles, was Gegenstand eines Glaubens im Sinne eines Fürwahrhaltens ist, von der Religion abzusondern. Dies würde nach Burms letztlich zu einer »Religion ohne Glaubern führen. Allerdings scheint er nicht hinreichend zu beachten, dass der christliche Glaube nicht so sehr ein Für wahrhalten ist, als vielmehr ein Glaube an Jemanden. Vgl. dazu: G. Ebeling (1967) »Jesus und Glaube«. In: Ders., Wort und Glaube. Tübingen, 3. Aufl., 203-254* bes. 211-218. Die Reinigung der Religion von allem Glauben (im Sinne eines” Fürwahrhaltens) deutet letztlich auf den Glauben an eine Person als Quelle und Grund des Glaubens hin.

1. PHILOSOPHIE UND RELIGION

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religiöse Erfahrung fremd ist, von der höheren Dignität der Religion zu überzeugen.13 Diese Spannung scheint Schelling im Auge zu haben, wenn er Schleiermacher oder seinen imaginierten Gesprächspartner vor ein Dilemma stellt: Nimmt man die Behauptung, dass der Sinn der Religion nur aus religiöser Perspektive verständlich ist, radikal ernst, so muss man auf jeden Versuch, sie zu rechtfertigen, verzich­ ten. Gesteht man jedoch die Notwendigkeit der Reflexion ein, so muss man sich auf den Vorgang einer Rechtfertigung einlassen. Diese beiden Forderungen sind miteinander unvereinbar. Denkt man die erste der beiden, die besagt, dass der Sinn der Religion nur aus der Innenperspektive verständlich sei, in ihrer radikalsten Konsequenz durch, dann folgt daraus, dass »der höchste Zustand des Geistes in Bezug auf das Absolute ein so viel möglich bewußtloses Brüten oder ein Stand der gänzlichen Unschuld seyn müssen« würde (149).14 Hier­ aus ergeben sich mindestens zwei Konsequenzen, die denjenigen, der dies behaupten möchte, in Verlegenheit bringen dürften. Erstens folgt daraus, dass die Bezeichnung eines Seelenzustands oder eines Gefühls als »Religion* selbst bereits eine Interpretation ist, die nicht zum Gefühl als solchem gehört, sondern erst aus der Reflexion über dieses Gefühl und einem Vergleich mit anderen Zuständen resultiert. Solange man im Zustand des reinen, reflexionsfreien Gefühls verharrt, vermag man dieses nicht als Religion zu erkennen. Zweitens folgt daraus, dass in jenem religiösen Zustand ebenso wenig ein Kriterium enthalten sein kann, das zwischen wahrer und falscher Religion zu unterscheiden erlaubt. Falls man diese Konsequenzen vermeiden möchte, wird man

Vielleicht hat Schlciermacher deshalb die Strategie gewählt, die Gebildeten davon zu überzeugen, dass ihre »Verachtung der Religion» selbst aus religiösen Gründen entspringe und dass sie die Religion nur deshalb verachten, weil sie sie mit etwas verwechseln, das nicht zum Wesen der Religion gehöre (vgl. KGA 1,2, 211). 14 Indem Schelling gegen Schleicrmacher den Subjektivismus-Vorwurf erhebt, scheint er erkannt zu haben, dass dieser Religion zwar als Anschauung und Gefühl definiert, aber dennoch den Schwerpunkt auf das Gefühl legt. Die Änderungen, die Schlei­ ermacher in der zweiten Auflage der Reden vornimmt, scheinen diesen Verdacht auch durchaus zu bestätigen. Die Bestimmung der Religion als Anschauung und Gefühl erlaubt nichtsdestoweniger eine objektivere Lesart, die Schelling in der 13

achten Vorlesung zu entwickeln sucht.

34

II. DER

VERKÜNDEr

der Reflexion wenigstens ein gewisses Recht einräumen müssen. Darm lässt sich jedoch, der zweiten Forderung zufolge, kaum noch vermei­ den, sich auf den Gang einer Rechtfertigung einzulassen. Auf dieser Grundlage wird sich entscheiden müssen, ob die Philosophie oder aber die Religion (im gewöhnlichen Sinne) auf das Vorrecht, ein höherer Zustand zu sein, rechtmäßigen Anspruch erheben kann. Erst nachdem Schelling auf diese Weise der schleiermacherschen Be­ stimmung der Religion die Spitze abgebrochen hat, folgt das berühmte Lob: »Preis denen, die das Wesen der Religion neu verkündet, mit Leben und Energie dargestellt und ihre Unabhängigkeit von Moral und Philosophie behauptet haben!« (150). Das Lob gilt somit vor allern denen, die den Sinn für die Religion im gewöhnlichen Sinne wieder geweckt haben. Dieser Lobpreisung fügt er noch folgende Bemerkung hinzu: »Wenn sie wollen, daß Religion nicht durch Philosophie erlangt werde, so müssen sie mit dem gleichen Grunde wollen, daß ReligiOn nicht die Philosophie geben, oder an ihre Stelle treten könne« (150) Dadurch durchkreuzt er erneut Schleiermachers Absicht, indem er" dessen Argument für die Eigenständigkeit der Religion gegen seine Intention wendet, mittels desselben die höhere Rangordnung der Religion zu behaupten.

2. Religion und Theologie Schelling beschränkt sich keineswegs auf eine kritische Würdigung der schleiermacherschen Reden. Die Bemerkungen in der siebten Vorlesung richten sich in erster Linie gegen den von Schleiermacher behaupteten Primat der Religion. Lob wie Kritik, wie sie in der siebten Vorlesung angedeutet werden, bilden jedoch lediglich den Auftakt zu einem in der achten Vorlesung umrissenen Gegenentwurf zu Schleier­ machers Bestimmung der Religion. Die Philosophie kann ihren Primat nämlich erst dann erfolgreich behaupten, wenn sie sich in der Lage zeigt, von der Besonderheit der Religion Rechenschaft abzulegen.15*so 15

Sonst würde die Philosophie sich zum Stillschweigen über die entscheidenden existentiellen Fragen zu bescheiden haben (vgl. SW VI, 17,19 f.). Der Konfrontati0n mit der Religion kann deshalb nicht ausgewichen werden, weil cs hier um den

2. RELIGION UND THEOLOGIE

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wie Schelling seine Bedenken in der siebten Vorlesung auf eine solche Weise formuliert, dass sie wenigstens teilweise auch von Schleierma­ chers eigener Position aus als zutreffend erscheinen müssen, versucht er mittels der in der achten Vorlesung unternommenen historischen Konstruktion des Christentums auf eine Aufgabe aufmerksam zu machen, der dieser nicht ausweichen darf, wenn seine Position in sich stimmig sein soll. Entsprechend dem gegen Ende der siebten Vorlesung skizzierten Plan sollen ab der achten Vorlesung die Einzelwissenschaften behandelt werden. Als erste wird die Theologie thematisiert. Schelling macht es sich hier zur Aufgabe, die Theologie als eine reale Wissenschaft zu begründen. Eine >reale Wissenschaft« kann die Theologie insofern heißen, als ihr ein besonderer Gegenstandsbereich zuzuweisen ist. Deshalb wird der neunten Vorlesung, die vom Studium der Theologie handelt, eine Vorlesung vorausgeschickt, in welcher der Gegenstand jener Wissenschaft näher bestimmt werden soll. Diese Bestimmung beinhaltet eine zweifache Kritik an den zeitgenössischen Theologen, da diesen zum einen ein angemessenes Wissen über den eigentlichen Gegenstand ihrer Wissenschaft fehle, zum anderen auch das Wissen über das diesem Gegenstand angemessene Verfahren. Für beides seien die Theologen auf die Philosophie angewiesen.16 Schelling trägt dem Unterschied von Theologie und Religion somit bereits durch den Aufbau der Vorlesungen Rechnung.17 Gegenstand ist die Religion in dem oben angegebenen gewöhnlichen Sinne, deren Eigenart die jetzt Wert des Philosophierens schlechthin geht (vgl. SW VI, 16 f., 53 f.; AA 1,15,137; 1,17, 112). Die Philosophie muss der Religion (im gewöhnlichen Sinne) gegen­ über auf ihren Primat beharren und alles daran setzen, diesen für sich selbst auch zu begründen. Hieraus dürfte auch ersichtlich werden, weshalb Schelling nach anfänglicher Ablehnung doch wieder Interesse an Schleiermacher haben musste. 16 So auch Jörg Dierken: »So wird die Theologie, die die Geschichte als göttliche Offenbarung und Vorsehung erkennt, erst durch die Philosophie zur Wissenschaft im strengen Sinn« (J. Dierken (1992): »Das Absolute und die Wissenschaften. Zur Architektonik des Wissens bei Schelling und Schlcicrmacher«. In: Philosophisches

Jahrbuch 99, 317). 17 Während die Theologie in der siebten Vorlesung als die »Wissenschaft des absoluten und göttlichen Wesens« bestimmt wird (160), wird sie in der achten Vorlesung dreimal als »Wissenschaft der Religion« definiert (177,179,186). Dem zweideutigen

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II. DER VERKÜNDER

durchzuführende Konstruktion gerecht werden soll. Deshalb greift Schelling erst jetzt den schleiermacherschen Begriff der >Anschauung des Universums< auf. Während die siebte Vorlesung sich gegen den Gebrauch richtet, den Schleiermacher von seinem Begriff der Religion machen möchte, richtet die achte Vorlesung sich direkt gegen diesen Begriff selbst und versucht, gegen denselben einen leistungsfähige­ ren Begriff aufzubieten, der zugleich eine gravierende Schwäche des schleiermacherschen Begriffs sichtbar machen soll. Die Argumentation bewegt sich in der achten Vorlesung somit auf einer anderen Ebene als noch in der siebten. An Schellings Aneignung des schleiermacherschen Begriffs der Religion fällt zweierlei auf: Während Schleiermacher die Religion als Anschauung und Gefühl bestimmt, scheint Schelling erstens das Gefühl in der Übernahme einfach fallenzulassen. Aufgrund des in der siebten Vorlesung entwickelten Arguments kann auf dem Gefühl jedenfalls nicht der Schwerpunkt der Definition liegen. Tatsächlich ist in Schel­ lings Begriff der Anschauung, wie wir noch sehen werden, sehr Wohl ein dieser entsprechendes Gefühl oder, wie man auch sagen könnte eine Grundbefindlichkeit impliziert. Zweitens bedient Schelling sich des Begriffs der Anschauung des Universums in der Absicht, darauf eine Typologie von Anschauungen zu gründen. Indem er zwischen einer Anschauung des Universums als Natur und einer solchen als Geschichte unterscheidet, vermag er damit zwei grundsätzlich ver­ schiedene und sich gegenseitig ausschließende Typen von ReligiOn zu verbinden. Damit stimmt er grundsätzlich mit Schleiermacher darin überein, dass Religion nicht in erster Linie aus einem Gefü­ ge von Dogmen besteht, also von theoretischen Behauptungen und praktischen Anweisungen. Anders als Schleiermacher es intendiert braucht die Auseinandersetzung der Philosophie mit der ReligiOn somit keineswegs an der gravierenden Schwäche zu leiden, dass sie die Religion behandle, als wäre sie eine mit einer wissenschaftlichen Ansicht gleichrangige und mit dieser konkurrierende Weltanschauung Während Schleiermacher mittels des Anschauungsbegriffs jedoch dje' Gebrauch von >Religion< (s. o.) scheint somit ein doppelter Begriff von »Theologie

zu entsprechen.

2. RELIGION UND THEOLOGIE

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Differenzen zwischen den Religionen verwischen zu wollen scheint, um in ihnen immer nur dasselbe Gefühl freizulegen, greift Schelling diesen hingegen auf, um solche grundlegenden Differenzen heraus­ zuarbeiten. Den von Schelling unterschiedenen Anschauungsweisen entsprechen nämlich zwei Typen von Religion: Polytheismus und Monotheismus. Die Anschauung des Universums als Natur schließt eine Vielheit von Göttern nämlich nicht nur nicht aus, sondern er­ möglicht sie sogar, weil das Absolute in ihr immer in einer Synthese mit einer Begrenzung angeschaut wird (vgl. 170-172). Dadurch wird die bloß numerische Vielheit auf die (qualitative) Mannigfaltigkeit zurückgeführt, in welcher das Absolute sich zu manifestieren vermag. Umgekehrt schließt die Anschauung des Universums als Geschichte eo ipso eine Vielheit von Göttern aus und vermag nur einen einzigen Gott als Herr der Geschichte anzuerkennen (vgl. 171-173). Dieser Unterscheidung zweier Typen von Religion folgt eine Kon­ struktion der Geschichte.18 Es gilt, beide Typen in einen historischen Zusammenhang einzuordnen, aus welchem einsichtig wird, weshalb dem Monotheismus notwendig der Polytheismus vorausgehen muss. Da das Christentum durch eine Anschauung des Universums als Ge­ schichte definiert wurde, scheint es naheliegend, diese Konstruktion der »drey Perioden der Geschichte« als eine dem Christentum eigen­ tümliche anzusehen und sie mit der christlichen Betrachtungsweise der Geschichte gleichzusetzen (175). Dadurch würde man jedoch Schellings Absicht gerade verfehlen. Die hier skizzierte Konstruktion ist nämlich eine genuin philosophische, die indes vom Christentum als historischem Phänomen Rechenschaft abzulegen versucht. Nur weil das Christentum das Universum als wesentlich geschichtlich anschaut, 18 Die zentrale These der achten Vorlesung hatte Schelling übrigens bereits in der Abhandlung lieber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt formuliert, die Juli 1802 im dritten Heft des ersten Bandes des Kritischen Journals der Philosophie erschien. Dort heißt cs nämlich, »daß cs uns unmöglich ist, Reli­ gion, als solche, ohne historische Beziehung zu denken«. Eine wissenschaftliche Theologie ist demnach nicht ohne eine historische Konstruktion durchführbar. Allerdings betont Schelling, dass »das Historische« dabei »aus dem Gcsichtspunct höherer Begriffe anzuschcn« ist (AA 1,12, 468). Es handelt sich somit um eine spekulative, nicht um eine empirische Betrachtung der Geschichte.

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II. DER VERKÜNDER

ist jedoch auch die Philosophie zu einer solchen Konstruktion der Geschichte genötigt, wenn sie der christlichen Anschauungsweise gewachsen sein will. Den Polytheismus bestimmt Schelling als eine Religion, die auf ein mythologisches Bewusstsein aufbaut (vgl. 182 u. AA 11,6, 184 f.) Das mythologische Bewusstsein zeichnet sich dadurch aus, dass in ihm das Unendliche dem Endlichen ganz untergeordnet ist und nur in diesem überhaupt erscheinen kann. Deshalb schließt dieses Bewusst­ sein eine Vielheit an Göttern keinesfalls aus, sodass es sie vielmehr sogar ermöglicht (vgl. 170,171 f. u. AA 11,6,132 f.). Der Widerstreit von Unendlichem und Endlichem kann hier deshalb nicht in sein^jeigentlichen Bedeutung zum Durchbruch kommen. Höchstens zeigt er sich in einem auf das mythologische Bewusstsein aufbauenden tragischen Bewusstsein, das sich dadurch kennzeichnet, dass alle Übel anonymen Mächten zugeschrieben werden, sodass der Mensch selbst keine Verantwortung für diese übernimmt. Ein Bewusstsein für die Sünde als Übel, als dessen Urheber man sich selbst anzusehen hat, jst hier somit noch nicht möglich (vgl. 175 f.). Vielmehr vermag man sieb selbst nur als Gegenstand von Übeln zu empfinden, die von anonymen Mächten ausgehen, die man nicht zu beeinflussen oder denen man sich nicht zu entziehen vermag. Im tragischen Bewusstsein bleibt somit das Gefühl der Unschuld durchaus bewahrt: Der Mensch vermag sich nicht als ein freier Akteur in einem Bereich von gewachsenen Mög­ lichkeiten zu verstehen, in welchen er selbst einzugreifen und den er selbst umzugestalten fähig ist. Insofern kann man durchaus sagen, dass der mythologischen Anschauung ein spezifisches Gefühl entspricht Jedenfalls beinhaltet das geschichtslose mythologische Bewusstsein eine eigene - und nicht nur bloß defiziente, sondern auch besonde­ re positive Konturen aufweisende - Möglichkeit, sich zur (eigenen) Geschichtlichkeit zu verhalten.19*Indem der Widerstreit von Unend­ 19 Übrigens entspricht die Naturphilosophie auch dadurch der Mythologie, dass d' Naturbetrachtungwesentlich geschichtslos ist: »Naturphilosophie ist gleichfal] Anschauung des Unendlichen im Endlichen, aber auf eine allgemeingültige und wissenschaftlich objektive Art«, also in der Gestalt der Wissenschaft (AA 11,6, ; m. H.). In der Betrachtung natürlicher (z.B. astronomischer) Phänomene wird da ’ Bewusstsein des Betrachters selbst der Geschichte entrückt. Dies besagt natürlic]

2. RELIGION UND THEOLOGIE

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lichem und Endlichem sich in ihm empfindbar macht, enthält das tragische Bewusstsein als solches jedoch zugleich den Keim eines Ver­ langens nach Freiheit vom mythologischen Bewusstsein: Der Mensch fühlt sich zwar in der Gewalt von anonymen Mächten, ohne sich jedoch von diesen befreien zu können (vgl. 176). Als geschichtliches Bewusstsein ist das Christentum die Befreiung vom mythologischen Bewusstsein. Das Bewusstsein der Freiheit ist also korrelativ zu ei­ nem Begriff davon, was unter einem >Gott< verstanden wird. Wenn das, »[w]as von Geschichte überhaupt gilt, [...] insbesondere von der Religion« gilt, dann muss auch die Ablösung des Polytheismus durch den Monotheismus »in einer ewigen Nothwendigkeit gegrün­ det« sein (179). Es muss somit nicht nur möglich sein, Polytheismus und Monotheismus als Typen zu konstruieren, indem man sie auf eine ihnen zugrunde liegende Anschauung zurückführt, sondern auch ihre geschichtliche Abfolge muss rational einsichtig gemacht werden können. Die Abfolge von Mythologie und Offenbarung muss als in der Verfassung des menschlichen Geistes angelegt gedacht werden. Dies leistet Schelling dadurch, dass er auf eine Aporie im tragischen Bewusstsein deutet, die nach einer Auflösung verlangt, welche nur im Christentum erlangt wird. Das Universum als Geschichte anschauen bedeutet, es als einen Bereich freien Handelns und freier Akteure zu betrachten.20 Durch seine Konstruktion der Geschichte hat Schelling gezeigt, wie das geschichtliche Bewusstsein sich aus einer Umkehrung des mythologischen Bewusstseins ergibt. Bei Schleiermacher ist es jedenfalls offenkundig, dass er das ge­ schichtliche Bewusstsein als selbstverständlich voraussetzt, ohne eine nicht, dass in der Natur nicht bestimmte Abläufe und Prozesse beobachtet werden, aber Prozessualität ist noch keine Geschichtlichkeit, die freie Akteure verlangt,

welche nach Einsicht und Absicht handeln. Wenn nicht der >Glaube< an »Götter«, so lässt sich doch die »symbolische Anschauung« oder die »Symbolik der Natur« »wiederbeleben« (SW V, 288 f.; AA 11,6, 179). 20 Deshalb bestimmt Schelling Geschichte auch als »moralische Welt«, d. h. als Reich der Freiheit (SW V, 287; AA 11,6, 154, 163, 180, 183). »Geschichte« oder »Geschicht­ lichkeit« wird hier definiert als »ursprünglich Entgegensetzung des Endlichen und Unendlichen mit der absoluten Forderung der Aufhebung des Gegensatzes« (AA

11,6,163).

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II. DER VERKÜNDER

Begründung desselben für erforderlich oder vielleicht auch nur für möglich zu erachten. Es erscheint ihm als eine natürliche Ausstattung des menschlichen Bewusstseins, das in seiner Genealogie nicht mehr einsichtig gemacht werden kann. Stattdessen versucht Schelling, hinter das geschichtliche Bewusstsein zurückzugehen und die Schicht eines wesentlich geschichtslosen Bewusstseins offenzulegen. Dies entspricht auch dem, was aufgrund des Verfahrens der Konstruktion zu erwarten ist: Wenn die Geschichte konstruiert werden soll, so muss sie selbst als »nothwendig nach zwey Seiten differenziirt« erscheinen und der Gegensatz von Natur und Geschichte wird sich in der Geschichte selbst wiederholen müssen (179). In der Geschichte muss somit eine Epoche nachweisbar sein, die sich gerade durch ein geschichtsloses Bewusstsein auszeichnet. Das mythologische Bewusstsein ist im an­ gegebenen Sinn »geschichtslos«. Jedenfalls vermag man erst aufgrund einer solchen Konstruktion der Geschichte, die das mythologische Bewusstsein miteinschließt, von der Besonderheit des Christentums Rechenschaft abzulegen. Insofern bedarf es einer Neugründung oder Wiedergewinnung der Mythologie und damit des Polytheismus, die jedoch nur im Denken und für die Erkenntnis zu leisten ist und somit nicht durch einen antichristlichen Affekt motiviert, sondern durch die Sache selbst gefordert wird.21 Mittels der Unterscheidung von mytho­ logischer und Offenbarungsreligion vermag Schelling das Argument weiterzuentwickeln, das sich im Glaubensbekentniss bereits herauskris­ tallisiert hat, dass nämlich das Christentum in der Lage sein müsse, von seiner historischen Faktizität Rechenschaft abzulegen, wenn es sich als die wahre Religion behaupten will, ohne ihre Wahrheit, weil diese sich im Lauf der Geschichte durchgesetzt habe, als selbstverständlich vorauszusetzen. Wir haben gesehen, wie die Naturphilosophie eine Art von Wiederbelebung der Mythologie erlaubt, indem sie wie diese das Absolute in der Natur, d. h. in endlicher Gestalt, anschaut. In dieser Funktion ist die Naturphilosophie nicht bloße Grundlage einer 21

Eine solche Wiederholung der Mythologie im Denken ist grundsätzlich von jeg lichem Versuch der Hervorbringung und Einführung eines neuen Mythos als Grundlage einer neuen Politik zu unterscheiden. Die Neue Mythologie ist al Wissenschaft eben kein neuer Mythos. Vgl. Scheerlinck (2017), 429 f.

2. RELIGION UND THEOLOGIE

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zukünftigen, noch zu schaffenden Neuen Mythologie, sondern diese selbst. Es darf denn auch kaum verwundern, dass Schelling sich gerade durch seine Naturphilosophie dazu befähigt sieht, ein neues Verständ­ nis der Mythologie zu entwickeln, das die Mängel der bisherigen Theorien zu vermeiden weiß.22 Die schellingsche Konstruktion des Christentums zielt letztlich darauf ab, sichtbar zu machen, wie der schlciermachersche Religions­ begriff aufgrund seines Mangels an historischer Reflektiertheit von vornherein auf die Offenbarungsreligion zugeschnitten ist und deren Wahrheit voraussetzt, ohne dass Schleiermacher sich auf eine Aus­ einandersetzung mit grundsätzlich verschiedenen Religionen einlässt, um jene Wahrheit zu behaupten.23 Obwohl der schleiermachersche Religionsbegriff eine sehr große Offenheit aufzuweisen und die unter­ schiedlichsten Anschauungen als >Religion< anerkennen zu vermögen scheint, so verschleiert dieser besondere Zug von Schleiermachers Reli­ gionsphilosophie, folgt man Schelling, doch nur eine uneingestandene Voreingenommenheit zugunsten der christlichen Religion.24 Schellings Begriff des Christentums weist darüber hinaus den Vorzug auf, dass 22

25

Wenn Schelling Schleiermacher später vorwirft, es gebe für ihn »nur Theisten und Atheisten in der Welt« und er setze dadurch den Polytheismus dem Atheismus schlechthin gleich, so ist dieser Vorwurf in den Vorlesungen bereits klar genug ent­ halten (F. W.J. Schelling (1990): System der Weltalter. Hrsg, von S. Peetz. Frankfurt am Main, 188). Vgl. Ullmann (1985), 384. Dieselbe Frage hält auch noch der späte Schelling dem Schleiermacher der Glau­ benslehre vor: »Was aber soll eine Glaubenslehre leisten, fragt Schelling, die nicht einmal in der Lage ist, die geschichtliche Faktizität der von ihr interpretierten Religion wissenschaftlich verständlich zu machen«. Nach Ullmann ist die Ausein­ andersetzung mit Schleicrmachcr in der schellingschen Spätphilosophie denn auch als eine Wiederholung »auf höherer Ebene« von der »Auseinandersetzung über die philosophische Konstruierbarkcit des Christentums von 1803 bzw. 1804« zu

verstehen (Ullmann (1985), 383,386). 24 Als ein Symptom dieser Voreingenommenheit wären Schleicrmachers Urteile über die Mythologie und das Judentum anzuführen (vgl. KGA 1,2, 214 f., 314-316). Auch die Anlehnung an eine pantheistisch klingende Rhetorik, die ihm von Seiten seiner Zeitgenossen des Öfteren tatsächlich die Beschuldigung des Pantheismus eingetragen hat, dürfte eher durch seine Bemühung, sich den Vormeinungen seiner Adressaten (der Gebildeten bzw. der Philosophen) anzupassen, motiviert sein, als dass sie seine eigene Meinung Wiedergabe.

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II. DER VERKÜNDER

die unendliche Vielfalt an Anschauungsweisen sich aus demselben geradezu ergibt, da »[j]eder besondere Moment der Zeit [...] Offen­ barung einer besondern Seite Gottes [ist], in deren jeder er absolut ist« (172). In der neunten Vorlesung über das Studium der Theologie führt Schelling die in sachlicher Hinsicht ungenügende aufklärerische Religionskritik auf das mangelhafte Selbstverständnis der Theolo­ gen zurück (vgl. 189-205). Schleiermacher ist trotz Schellings Kritik deshalb zu loben, weil es ihm gelungen ist, einen anspruchsvolleren Begriff von Religion und damit den ursprünglichen Sinn der Theologie wiederzugewinnen. Dadurch fordert er die Philosophie heraus, die Religionskritik selbst auf eine höhere Ebene zu heben, die der Sache gerecht wird. Schellings Argument gegen Schleiermacher lässt sich nach den bisherigen Überlegungen wie folgt zusammenfassen: Indem er den Begriff der »Anschauung des Universums« erst im Zusammenhang einer Typologie der Religionen aufgreift, markiert er erstens den grund­ sätzlichen Unterschied zwischen der intellektuellen Anschauung und dem Anschauungsbegriff Schleiermachers. Durch seine Übernahme jenes Begriffs bringt Schelling zweitens ein in demselben enthaltenes Potential zur Entfaltung, indem er ihn dazu verwendet, den Unter­ schied von Mythologie und Offenbarung zu artikulieren. In dieser Hinsicht erweist es sich als besonders aufschlussreich, dass Schleier­ macher Schelling gerade in diesem Punkt nicht zu folgen bereit ist sondern stattdessen in der zweiten Auflage der Reden den Begriff der Anschauung weitgehend tilgt, um die Betonung stärker auf das Gefühl zu legen. Dies führt zu der überraschenden Feststellung, dass Schleier­ macher auf den in der siebten Vorlesung formulierten SubjektivismusVorwurf mit Änderungen reagiert, durch welche er sich diesem jetzt erst recht aussetzt. Erlaubte die Erstauflage der Reden durchaus noch eine objektive Lesart, wie sie von Schelling vorgelegt wurde, so hat Schleiermacher sich mit der Zweitauflage eindeutig für eine subjek­ tive Lesart entschieden. Die Übernahme des Anschauungsbegriffs durch Schelling hat Schleiermacher in diesem Fall dazu veranlasst diese Änderungen vorzunehmen, die über seine ursprüngliche Absicht durchaus erhellende Aufschlüsse bieten. Dadurch beraubt er sich je­ doch des Mittels, zwischen unterschiedlichen Gefühlen unterscheiden

2. RELIGION UND THEOLOGIE

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zu können.25 Man kann die Differenz schematisch so wiedergeben, dass nach Schelling das Gefühl auf eine Anschauung gründet, während für Schleiermacher die Anschauung nur eine Artikulation des Gefühls ist, das sich von jener abhebt. Schelling sieht also einen intrinsischen Bezug zwischen Anschauung und Gefühl, was ihm zugleich erlaubt, mehrere Gefühle zu unterscheiden und deren historische Bedingtheit zu reflektieren. Legt man den Nachdruck jedoch ganz auf das Gefühl und deutet die Anschauung lediglich als einen prinzipiell mangelhaften Artikulationsversuch, in welchen das Wesentliche des Gefühls nicht eingeht, sodass die Anschauung diesem äußerlich bleibt und man sie ganz der Reflexion zuordnet, so können alle Religionen nur noch als Artikulationen eines und desselben Gefühls verstanden werden. Vielleicht kann man es der durch den Titel angedeuteten apologetischen Tendenz der Reden zuschreiben, dass Schleiermacher diese historische Bedingtheit nicht thematisieren möchte: Da der Appell an das Gefühl von Schleiermacher als Argument eingesetzt wird, um die Gebildeten von der Bedeutsamkeit der Religion zu überzeugen, so würde die Reflexion über dessen historische Bedingtheit ihn seiner Schlagkraft berauben. Man muss somit annehmen, dass Schleiermacher entweder seine Adressaten absichtlich über diese Bedingtheit im Unklaren lassen möchte oder aber, dass er selbst darüber nicht zur Klarheit gelangt ist. Jedenfalls scheint er die Strategie zu verfolgen, von allen historischen Dokumenten der Religion soweit wie möglich abzulenken und statt­ dessen auf das Gefühl als ein nicht-historisches, zu jedem Zeitpunkt wiederholbares Ereignis zu verweisen.

25

Auch Süskind hat die Änderungen in der zweiten Auflage der Reden auf den Einfluss Schellings zurückgeführt. Da er jedoch eine tatsächliche »Verwandtschaft des Standpunkts« der Erstauflage der Reden »mit der Grundanschauung von Schellings neuem, dem Identitätssystem« annimmt, ist schwer zu sehen, weshalb Schleiermacher sich dazu bewegt gesehen hat, in der Zweitauflage »die Religion vor der Verwechslung mit Schellings Philosophie sicher zu stellen«. Letztlich muss er behaupten, dass die Zweitauflage »die ganz entgegengesetzte Lehre« der Erstauflage

enthalte. Vgl. Süskind (1909), 108, 154.

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II. DER VERKÜNDER

3. Schleiermachers >Bedenklichkeiten< Schleiermacher hat sich bei der Lektüre der Vorlesungen sogleich als deren Adressat erkannt. Wie aus seiner im Ton gemäßigten, dafür der Sache nach nicht weniger entschiedenen Reaktion hervorgeht, hat er sich durch die vordergründig überschwängliche Lobpreisung nicht über die letztlich kritische Intention von Schellings Bemerkungen irreführen lassen. Dennoch scheint er sich eher widerwillig an die Arbeit einer Rezension der Vorlesungen gemacht zu haben, die im April 1804 mit dem Kürzel P—p—s unterzeichnet in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung erschien.26 Schleiermacher zeigt sich in der Rezension um größtmögliche Sachlichkeit bemüht: Seine kriti­ schen Bedenken sind stets in eine sachliche Wiedergabe von Schellings Gedanken eingebettet. Dadurch vermag er die Grundlage zu bereiten für die Erörterung desjenigen Problems, das ihn naturgemäß ganz besonders interessieren muss, nämlich die Stellung, die Schelling der Theologie zuweist. Daher auch der objektive Ton der Rezension, der leicht für Zustimmung gehalten werden kann.27 Allerdings dürfte dieser Ton auch durch die Absicht motiviert sein, nicht den Eindruck 26 So schreibt er z. B. in einem Brief an G. A. Reimer vom 11. November 1803: »Nun habe ich mich gar erboten diese Methodologie zu recensiren: ich hoffe aber es wird sich schon ein andrer in Besiz gesezt haben« (KGA V,7, 94). Und in einem Brief an C. G. von Brinckmann vom 14. Dezember 1803: »Du siehst ich habe Schellings Vorlesungen gelesen, wiewol erst flüchtig es steht mir aber noch besser bevor denn ich habe übernommen sie in der LZ zu recensiren. Ich that es zum Theil in der Hofnung, daß sie schon würden vergeben sein und nur um anzudeuten auf was für Art von Büchern ich ohngefähr Anspruch machte, sie sind mir aber geblieben, und ich werde wirklich nächster Tage dieses schwere Stük Arbeit unternehmen« (KGA V,7, 154 f.). Schellings Briefen, soweit sie bislang veröffentlicht sind, ist nicht zu entnehmen, ob er die Rezension auch gelesen hat. Das Kürzel »P—p—s« steht für »Peplopoios« (vgl. KGA 1,4, LXXXIV).

27 Dadurch entsteht leicht der Eindruck, als ob Schleiermacher meint, »daß sich die aufgezeigten Mängel durchaus im Rahmen der von Schelling zugrundegeleg­ ten Prinzipien beseitigen ließen, so daß im Ergebnis die Zustimmung überwiegt und die Rezension eine grundsätzliche Annäherung Schleiermachers an Schel­ ling, bei Wahrung der kritischen Distanz, erkennen läßt« (so Andreas Arndt in: F. D. E. Schleiermacher (1996): Schriften. Hrsg, von A. Arndt. Frankfurt am Main, 1177).

3. SCHLEIERMACHERS »BEDENKLICHKEITEN«

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eines Hangs zur Polemik zu erwecken, damit die Einwände dadurch desto überzeugender und zutreffender erscheinen. Auf die in der siebten Vorlesung formulierten Bedenken geht Schlei­ ermacher nicht direkt ein, sondern übergeht sie mit völligem Still­ schweigen. Allerdings darf er sich als (anonymer) Rezensent nicht anmerken lassen, dass er sich durch diese Kritik persönlich ange­ sprochen fühlt.28 Stattdessen zielt er vor allem auf Schellings histo­ rische Konstruktion des Christentums und damit auf den Status der Theologie als Wissenschaft. Dabei geht er überlegt und mit größter Behutsamkeit vor. So liest er die Vorlesungen in erster Linie als eine 28 Den Änderungen, die Schleiermacher in der zweiten Auflage der Reden über die Religion vornimmt, lässt sich besser entnehmen, inwiefern er sich durch Schellings Bedenken beeindruckt zeigte: Der Anschauungsbegriff wird weitgehend getilgt und dort, wo er erhalten bleibt, wird er eher der Wissenschaft als der Religion zugeordnet. Stattdessen wird die Bedeutung des Gefühls für die Religion unge­ mein betont. Die Übernahme des Anschauungsbegriffs durch Schelling scheint Schleiermacher bewusst gemacht zu haben, dass die Aufnahme der Anschauung in der Definition der Religion dieser noch einen allzu »objektiven« Charakter zu geben scheint, die sie einer wissenschaftlichen Weltanschauung annähert. Um diesem Missverständnis und dadurch der Aneignung des Begriffs durch Schel­ ling entgegenzutreten, streicht er die Anschauung weitgehend. Die Betonung des Gefühls hingegen lässt klar hervortreten, dass Schleiermacher in der Tat eine »internalistische« Position anvisiert. Diese Änderungen haben indes zur Folge, dass der von Schelling (und Hegel) formulierte Subjektivismus-Vorwurf auf die zweite Auflage noch weit mehr als auf die erste zutrifft. Allerdings scheint Schleiermacher die gewichtige Implikation dieses Vorwurfs übersehen zu haben, nämlich dass eine auf Gefühl reduzierte Religion nicht länger vermag, wahre Religion von Superstition zu unterscheiden. Dies wenigstens hätte Schleiermacher beunruhigen müssen, es sei denn, die Wahrheit des Gefühls sei für ihn aus anderen Gründen jeglichem Zweifel entzogen. Obwohl diese Änderungen nach Grafs Hauptthese durch immanente Schwierigkeiten zu erklären wären, sieht dieser sich letztlich doch dazu genötigt, zu erwägen, ob sie nicht doch auch als eine Antwort auf die zwischenzeitlich von Fichte und Schelling formulierten Bedenken zu verstehen sind (vgl. Graf (1978), 150 f„ 154 f. u. 174,178 f., 183 f.). Die Änderungen in der dritten Auflage dürften hingegen vor allem aus einem Bemühen zu erklären sein, die Reden mit dem Standpunkt der Glaubenslehre in Übereinstimmung zu bringen. Das eigentliche Motiv für Schleiermachers religiöse Kritik der Philosophie ist übrigens das durchaus klassische Argument der Unhintergehbarkeit des Einzelnen oder der Singularität (beachte insbes. KGA 1,2,216).

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II. DER VERKÜNDER

Methodologie oder auch Enzyklopädie der Wissenschaften, als den Versuch, ein »System aller Erkenntnisse« aufzustellen (KGA 1,4, 464 465, 468, 479).29 Er scheint sich auf die allerdings recht ausführliche Erörterung einiger immanenter Schwierigkeiten und Unklarheiten zu beschränken, ohne das Vorhaben und die Prinzipien seiner Durchfüh­ rung selbst grundsätzlich in Frage zu stellen. So findet er das Verhältnis der Realwissenschaften zur Philosophie nicht mit der wünschenswer­ ten Deutlichkeit dargestellt und unterstellt Schelling deshalb, über die Sache selbst nicht zur Klarheit gelangt zu sein. Solche Unstimmig­ keiten sind für Schleiermacher Einbruchstellen, die es ihm erlauben immanent vorgehend kritische Bedenken zu formulieren. Sie erlauben es ihm zudem, geschickt auf Schellings Bestimmung der Theologie hinzuführen, an welcher diese sich am auffälligsten zeigen. Schleierma­ chers Bedenken lassen Schellings Begründung der Theologie als einer realen Wissenschaft als misslungen erscheinen. Zugleich suggeriert er, dass die Realität der Theologie sich auf diesem Wege überhaupt nicht begründen lasse. Der von Schleiermacher erneut betonte Unterschied zwischen Philosophie und Religion besagt schließlich auch, dass von »Begründung« in der Theologie nicht auf dieselbe Weise die Rede sein kann, wie in der Philosophie. Danach wäre es verfehlt, eine in der Philosophie gültige Begründungsweise überhaupt in die Theologie einführen zu wollen.30 Obwohl Schleiermacher Schellings Vorgehens­ weise im Prinzip zu billigen scheint, hat er sie dadurch grundsätzlich in Frage gestellt. Zugleich leitet er den Leser unaufdringlich auf die Frage, worin die Realität der Theologie dann gegründet sein mag. In der Tat scheint Schleiermacher vor allem an Schellings Methode und deren Konsequenzen Anstoß genommen zu haben und den klas­ sischen Einwand gegen die Konstruktion vorzubringen, dem zufolge diese an der Geschichte als dem Bereich der Individualität und der Kon­

29

In dieser Hinsicht hat Dierken Schelling und Schleiermacher miteinander konfron­ tiert; die entscheidende Streitfrage bleibt dabei jedoch fast gänzlich ausgeblendet (Dierken (1992), 315 f.).

30 Vgl. hierzu W. Grab (2012): »Geschichtsphilosophie und Geschichtstheologie bei Schleiermacher«. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religions­ philosophie 54, 240-261.

3. SCHLEIERMACHERS »BEDENKLICHKEITEN«

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tingenz nur scheitern könne.31 Die Rede von einer »Konstruktion des Christentums« und der »Geschichte« legt einen solchen Einwand auch nahe. Der Einwand scheint mir jedoch aus zwei Gründen nicht zutref­ fend: Zum einen ist die Überschrift der achten Vorlesung mehrdeutig. Die Bezeichnung einer »historischen Konstruktion des Christentums« lässt sich nämlich in ihrer Allgemeinheit auf die unterschiedlichsten Ansätze anwenden. So ließen sich auch die Versuche zeitgenössischer Theologen, die Idee des Christentums durch einen Rückgang auf die historischen Quellen oder auf das Urchristentum zu gewinnen, durchaus als eine »historische Konstruktion des Christentums« cha­ rakterisieren.32 Solche Versuche werden von Schelling in der neunten Vorlesung jedoch wegen eines Mangels an methodischer Reflektiertheit einer scharfen Kritik unterzogen (vgl. 189-199). Die besagten Theolo­ gen vermögen nicht zu leisten, was sie zu leisten versprechen, weil die Auswertung und Deutung der gewählten Quellen nicht durchführbar ist, solange man sich nicht hinlängliche Klarheit über die Idee des Christentums verschafft hat. Diese Idee selbst kann somit nicht aus jenen Quellen gewonnen werden (vgl. 197).33 Allerdings wird man Schelling von einem historischen Standpunkt aus vorwerfen, dass er das Historische in die Idee auflöst und die Kontingenz zu eliminieren sucht. Im Vergleich zu solchen Versuchen hat Schleiermachers Position den Vorzug, dass er in den Reden den Begriff der Religion nicht auf historische, sondern auf dialektische Weise zu gewinnen sucht. Gerade deshalb hat Schelling ihn in der siebten Vorlesung auch gelobt. Dies

31

U. Barth (2013): »>Jesus-Bild und Geschichtsdeutung. Schleiermacher und die speku­ lative Christologie«. In: Schelling und die historische Theologie des 19. Jahrhunderts.

Hrsg, von C. Danz. Tübingen, 51. 32 Dieses Verständnis der »historischen Konstruktion des Christentums« wird von Albert Franz suggeriert (vgl. A. Franz (2002): »»Wozu Schelling? Aktuelle SchellingLiteratur aus theologischer Perspektive«. In: Theologische Revue 98, 280). 33 Zu dieser Traditionslinic, siehe: C. Danz (2013): »Schelling und die Historisierungsprozesse im 19. Jahrhundert«. In: Schelling und die historische Theologie des 19. Jahrhunderts, Hrsg, von C. Danz. Tübingen, 1-19. F. Wittekind (2010): »Chris­ tologie im 20. Jahrhundert«. In: Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert. Hrsg, von C. Danz / M. Murrmann-Kahl. Tübingen (Dogmatik in der Moderne 1), 13-45.

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II. DER VERKÜNDER

hindert indes nicht daran, dass auch auf Schleiermachers Ansatz die Bezeichnung einer »historischen Konstruktion* anwendbar ist, da er in seiner Rezension in der die Geschichte durchwaltenden »hohe[n] Willkühr« den »Schlüssel des Christenthumes« zu finden meint und der Sinn des Christentums sich auch in der Weihnachtsfeier erst aufgrund einer Geschichtstheologie erschließt (KGA 1,4, 474).34 Der Einwand ist zum anderen auch deshalb unzutreffend, weil er der präzisen Be­ deutung von Schellings Begriff einer historischen Konstruktion nicht gerecht wird. Diese Konstruktion heißt nicht nur deshalb »historische, weil sie die Geschichte zu ihrem Gegenstand hat, sondern auch allem voran, weil sie einen besonderen Modus der Konstruktion impliziert. Der schellingsche Begriff der Konstruktion ist nämlich durchaus plas­ tisch genug, um mehrere Modi des Konstruierens umfassen zu können. Die »apriorische* Konstruktion, wie sie insbesondere in der Naturphi­ losophie zur Anwendung kommt, ist denn auch von einer »negativen* wie von einer »historischen* Konstruktion zu unterscheiden.35 Al­ lerdings wird diese historische Konstruktion des Christentums in den Vorlesungen über die Methode des academischen Studium nicht selbst durchgeführt.36 Schelling weist lediglich die Notwendigkeit einer solchen Konstruktion nach, wenn die Theologie dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit genügen soll. Dieser Nachweis geschieht zudem auf zweierlei Weise: Zum einen negativ, indem Schelling die 34 Vgl. Ullmann (1985), 386. 35 In der bisherigen Literatur zu Schellings Konstruktionsbegriff ist bislang fast ausschließlich der apriorische Begriff analysiert worden. Siehe z. B. J. Weber (1998)Begriff und Konstruktion. Rezeptionsanalytische Untersuchungen zu Kant und Schelling. Göttingen. M. Rudolphi (2001); Produktion und Konstruktion. Zur Genese der Naturphilosophie in Schellings Frühwerk. Stuttgart-Bad Cannstatt (Schellingiana 7). Ziehe (2011). - Zur negativen Konstruktion, siehe: R. Scheerlinck (2019): »Schelling und die Herausforderung einer »durchaus praktischen Philosophie*«. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 72, bes. 36-40, 52-54. 36 Schelling selbst gibt den bloß programmatischen Charakter der beiden Vorlesungen klar zu erkennen (vgl. 185 f.). Die eigentliche Durchführung dieses Programms hat Schelling erst mit der späten Philosophie der Mythologie und der Offenbarung geleistet. So auch C. Danz (1996): Die philosophische ChristologieF.WJ. Schellings Stuttgart-Bad Cannstatt (Schellingiana 9), 13,15, 24,28, 32,37, 63, 73, 82 f., 115 124, 143 f., 151,158.

3. SCHLEIERMACHERS »BEDENKLICHKEITEN*

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Mängel der bisherigen Versuche aufzeigt, zum anderen auch positiv, indem er der Logik seines Systemprinzips Folge leistet. Wahrend die wichtigsten Gehalte der Mythologie sich durchaus durch ein der natur­ philosophischen Konstruktion analoges Verfahren gewinnen lassen, bedarf es zur Konstruktion des Christentums eines modifizierten Begriffs der Konstruktion. Schelling hatte behauptet, dass Religion entweder als Mythologie oder als Christentum und somit in zwei einander ausschließenden Formen existiere. Als Wissenschaft der Religion vermag die Theologie diese beiden Typen vom Indifferenzpunkt aus zu betrachten, und zwar insofern sie die Wahrheit keiner der beiden voraussetzt. Dadurch verhält die Theologie sich indifferent gegenüber der Wahrheit der Religion. Es ist also keineswegs erforderlich, wie Schleiermacher zu meinen scheint, dass die Theologie »jene beiden Religionen als Eins erblickte«, d. h., dass sie die grundsätzliche Differenz der beiden Re­ ligionstypen zu leugnen hätte, da die Konstruktion vielmehr darauf abzielt, diese in ihrem Grund einsichtig zu machen (KGA 1,4, 470). Wenn Schleiermacher es als einen Mangel der Durchführung ansieht, dass sich »nirgends [...] eine Construction [findet], um diese Entge­ gengesetzten [sc. Mythologie und Christentum] wieder gleichzusetzen und zu vereinigen«, und damit eine »Lücke* in der Konstruktion fest­ zustellen meint, dann hat er die Absicht der Konstruktion verfehlt, da es vielmehr durchaus konsequent ist, keine zwischen diesen beiden Typen vermittelnde Form von Religion zuzugestehen (KGA 1,4, 473). Mit dem Nachweis einer solchen »Lücke* verfolgt Schleiermacher die Absicht, Schellings Argument, die Theologie habe eine auf Mytho­ logie gegründete Religion als eine eigenständige Form von Religiosität anzuerkennen und ihr gegenüber die christliche Religion als die wahre Religion zu rechtfertigen, zu entkräften und sich dadurch der Not­ wendigkeit zu entziehen, dieser Herausforderung nachzukommen. Im Hintergrund scheint die Überzeugung zu stehen, dass die my­ thologische Religion sich durch die Entstehung des Christentums historisch erledigt habe und deshalb keine Berücksichtigung mehr erfordere. In Schellings historischer Konstruktion findet er demnach auch nichts weiter, als den Nachweis, dass »das Christenthum als historisch nothwendig begriffen werden kann«, ein Nachweis, den

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II. DER VERKÜNDER

er aufgrund eines scharf entwickelten geschichtlichen Bewusstseins sowie eines Gespürs für historische Kontingenzen und für die in der Geschichte waltende Willkür von vornherein als wenig plausibel erachtet (KGA 1,4, 469). Seine Absicht besteht denn auch weniger darin, sich der Herausforderung gewachsen zu zeigen, als ihr vielmehr auszuweichen.37 In welcher Richtung Schleiermacher selbst eine Begründung der Realität der Theologie suchen möchte, gibt er allerdings durch einige, wie beiläufig angedeutete »Bedenklichkeiten« zu erkennen, die er gegen Schellings historische Konstruktion des Christentums anmeldet (KGA 1,4,474). Abgesehen davon, dass eine Konstruktion fehlt, die die Gleichsetzung von Mythologie und Christentum ermöglicht, findet Schleiermacher sonst »die Darstellung des Christenthumes im Ganzen vortrefflich« und »mit großer Klarheit entwickelt« (KGA 1,4, 473). Drei Bedenklichkeiten scheinen ihm der Erwähnung jedoch nicht unwert. Wenn Schleiermacher durch seine Wortwahl den Eindruck er­ weckt, als handle es sich dabei um vereinzelte Beobachtungen von nur nachgeordneter Bedeutung, die es nicht lohnt, ausführlicher zu entwi­ ckeln, so wird der grundsätzliche Charakter derselben erst ersichtlich, sobald man den engen Zusammenhang beachtet, der zwischen ihnen besteht, und bedenkt, dass sie sämtlich auf das in Schellings histori­ scher Konstruktion teils entwickelte, teils implizierte Verständnis des Christus, als auf den entscheidenden Punkt der Differenz abzielen. Schleiermacher erwähnt zuerst »die Ideen der Versöhnung und des Opfers«, die er bei Schelling jedoch »unbegründet und ihrer Gat­ tung nach theils überschätzt, theils zu sehr beschränkt« findet (KGA 1,4, 474). Nun hatte Schelling die Idee der Versöhnung als die erste, d. h. grundlegende Idee des Christentums bestimmt. Das Bewusstsein der Sünde oder auch einer selbstverschuldeten Diskrepanz zwischen

37 Ullmann hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Schleiermachers Hinweis auf die »hohe Willkühr« der Geschichte ein »nur auf den ersten Blick schlagendes Argument« ist: »Denn Gegenstand der Schellingschen Konstruktion war ja gerade der Übergang, der im Bereich des Natürlich-Gesetzlichen so etwas wie Freiheit

erscheinen läßt und damit jene von Schleiermacher mit Recht betonte Willkür allererst ermöglicht« (Ullmann (1985), 386).

3. SCHLEIERMACHERS »BEDENKLICHKEITEN«

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Idee und Erscheinung ist mit der Sehnsucht nach Versöhnung gleich­ ursprünglich (vgl. 175 f.). Während das mythologische Bewusstsein die Basis bildet für die Erfahrung der Geschichte als Schicksal, »lei­ tet« das Christentum »in der Geschichte jene Periode der Vorsehung ein«, nämlich einer in der Geschichte waltenden und dem Menschen wohlwollenden Macht (176, vgl. SW VI, 53). Insofern bedeutet das Christentum die Befreiung vom mythologischen Bewusstsein, indem es erst ein des historischen Handelns fähiges Subjekt konstituiert. Dieses Subjekt sieht sich nicht länger einer blinden Macht, sondern nur äußeren Umständen gegenüber, die es zwar nicht gänzlich zu kon­ trollieren, in welche es aber dennoch tätig einzugreifen vermag. Ein solches geschichtliches Bewusstsein ist dem Menschen somit nicht von Natur aus eigen, sondern muss selbst geschichtlich begriffen werden. Die Konstruktion der Geschichte macht somit die Ausrichtung auf eine »bewußte Versöhnung, die an die Stelle der bewußtlosen Iden­ tität mit der Natur und an die der Entzweyung mit dem Schicksal« treten soll, als die »große historische Richtung des Christenthums« begreiflich (176 f.). Nach Schelling machen die Befreiung des Menschen vom mythologischen Bewusstsein und das durch diese erst ermög­ lichte geschichtliche Handeln somit den eigentlichen Inhalt der Idee der Versöhnung oder der Erlösung aus. Gerade diese Idee begründet den Unterschied zwischen der >alten< und der >neuen< Welt (vgl. 174, 179 f., 200). Wenn die >alte Welt« als die »Naturseite der Geschichte« verstanden werden muss, indem in ihr das Unendliche im Endlichen oder in der Natur zugegen ist, so kann der »Schluß der alten Zeit und die Gränze einer neuen [...] nur dadurch gemacht werden, daß das wahre Unendliche in das Endliche kam, [...] um es in seiner eigenen Person Gott zu opfern und dadurch zu versöhnen« (180). Erst nach diesen vorbereitenden Überlegungen kommt Schelling auf Christus zu sprechen. Sieht man von der theologischen Magis­ ter-Dissertation ab, so ist dies das erste Mal, dass Schelling sich in einer veröffentlichten Schrift überhaupt zu Christus äußert (vgl. AA I 2, 237-240, 249, 252, 254): »Die erste Idee des Christenthums ist daher nothwendig der Menschgewordene Gott, Christus als Gipfel und Ende der alten Götterwelt« (180). Es ist dies die grundlegende Idee des Christentums, weil sie eine Anschauung des Göttlichen in

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II. DER VERKÜNDER

der Natur und dadurch zugleich den für die alte Welt konstitutiven Polytheismus der Möglichkeit nach ausschließt. Es handelt sich dabei um »eine von Ewigkeit zwar beschlossene«, d. h. um eine in der Natur enthaltene Möglichkeit, die sich jedoch nicht von Anfang an, sondern erst ab einem gewissen Zeitpunkt aktualisiert (180). Diese Überlegun­ gen wurden indes bereits dadurch vorbereitet, dass Schelling in der polemischen Auseinandersetzung mit der empirischen Betrachtungs­ weise der Geschichte als deren Hauptargument die Berufung auf die »Zufälligkeit der Individuen« erwähnt, auf welcher die »Zufälligkeit der Begebenheiten« gründen würde (177f.). Dieser klassische Ein­ wand gegen jegliche Form der Geschichtskonstruktion lautet, dass eine solche notwendigerweise an der Konstruktion der Individuen scheitere: Die Geschichte widersetze sich, als Bereich der Kontingenz, prinzipiell jeglichem Konstruktionsversuch.38 Es wäre indes verfehlt, Schelling die Absicht zuzuschreiben, eine solche Konstruktion des Zufälligen auch nur versuchen zu wollen. Dies wäre nur der Versuch, eine angebliche höhere Notwendigkeit in eben jener Reihe der em­ pirischen Begebenheiten zu entdecken.39 Schelling versucht nicht, irgendein historisches Individuum als notwendig abzuleiten, sondern nur die Notwendigkeit der für dieses Individuum charakteristischen Handlung nachzuweisen. Diese Handlung besteht in der Befreiung oder dem Losriss vom mythologischen Bewusstsein und vom auf demselben aufbauenden Fatalismus. Zu dieser Idee von der Erlösung bemerkt Schleiermacher, wie erwähnt, dass sie »unbegründet und ihrer Gattung nach theils über­ schätzt, theils zu sehr beschränkt« ist (KGA 1,4,474). Die Begründung dieser Idee durch den Nachweis, wie auf sie die neue Welt sich grün­ det, muss Schleiermacher als ungenügend erscheinen. Vielmehr wäre die Idee der Erlösung erst dann wahrhaft begründet, wenn sie als Idee des Erlösers mit einem historischen Individuum zusammenträfe.

3. SCHLEIERMACHERS > B E D E N K L I C H K E IT EN
theils überschätzt*, weil Schelling dieser das Vermögen zuschreibt, den Übergang von der alten zur neuen Welt zu leisten und eine neue weltgeschichtliche Epoche zu begründen, ohne den Halt durch ein historisches Individuum. Die bloße Idee, ohne ihre Verkörperung durch ein historisches Individuum, vermag jedoch nicht die erlösende Wirkung zu entfalten, die Schelling ihr zuzuschreiben scheint. Ge­ nau aus diesem Grund ist die Idee von Schelling auch als >zu sehr beschränkt* aufgefasst worden. Eine weitere Bedenklichkeit besteht für Schleiermacher darin, dass »der Foderung, den Begriff des Wunders speculativ zu fassen [...] die Rüge gegen die Bemühungen der Ausleger in Erklärung einzelner Thatsachen, deren Natürlichkeit ja dem speculativen Gehalt des Begriffs gar nicht zuwider ist«, widerstreitet (KGA 1,4,474). Schelling zufolge gehört die Idee des Wunders notwendig zu den »Bestimmungen des Christenthums« und muss als die Umkehrung der »Symbolik der Na­ tur* verstanden werden (181). Dadurch will er den empirischen Begriff des Wunders beseitigen, demzufolge dieses in einer Durchbrechung der Naturgesetze bestehe. Selbst wenn somit von allen als Wunder geltenden »Thatsachen« eine natürliche Erklärung gegeben werden könnte, wäre damit noch nichts gegen die Idee des Wunders bewiesen, da solche Erklärungen nur gegen den empirischen Begriff vom Wunder schlagend sind (vgl. 203). Schelling hingegen definiert das Wunder als die Erscheinung in der Zeit von dem, was außerhalb aller Zeit ist (vgl. 181 f., 192 f.). Diese Bestimmung ist weit genug gefasst, als dass sie auch auf solche Ereignisse anwendbar ist, die gewöhnlich für Wunder gehalten werden, da Gott, obwohl selbst außerhalb der Zeit, sich doch stets an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit offen­ bart. Als paradigmatischen Fall führt Schelling jedoch das Erfassen von Ideen an oder die »bloß innerlich zu schauende Auflösung« der »Antinomie des Göttlichen und Natürlichen« (181).40 Nach dieser Bestimmung ist das Wunder keine einmalige, sondern eine prinzipiell

38 Vgl. W. Becker (1966): »Über Schellings Konstruktion des Christentums«. In:

39

Subjektivität und Metaphysik. Festschrift für Wolfgang Cramer. Frankfurt am Main, 19 f. U. Barth (2013), 52. Vgl. auch die Bemerkungen über den Versuch, in einer empirischen Begebenheit eine (empirische) Notwendigkeit zu entdecken (189-191).

40 Die Erfahrung einer Identität mit dem Riesengeist im Glaubensbekentniss nimmt dies im Grunde bereits vorweg. Allerdings handelt es sich dabei um eine »Weitsicht*, die von der Existenz des Philosophen Rechenschaft abzulegen vermag, ohne in

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II. DER VERKÜNDER

wiederholbare Begebenheit. Nach Schleiermacher braucht hingegen zwischen dem spekulativen Begriff und der natürlichen Erklärung des Wunders deshalb kein Widerspruch zu bestehen, weil keines von beiden dessen besonderen Charakter zu erfassen vermag, der vielmehr in »ein geschichtliches Ereignis von unendlicher, unbesitzbarer, un­ okkupierbarer Einmaligkeit« besteht, durch welches die menschliche Geschichte in zwei Stücke zerbricht. Dies führt von selbst auf die dritte und entscheidende Bedenklich­ keit, in welcher die vorhergehenden gipfeln. Nach derselben ist »die speculative Ansicht von Christo [...] mit der Behauptung, daß er als Grenze zweyer Zeiten dastehe, nicht wohl zu vereinigen«. Außerdem ist »überhaupt hier die hohe Willkühr etwas verwischt, die von dieser Seite doch der Schlüssel des Christenthumes seyn möchte« (KGA 1,4, 474). Die zwei vorhergehenden Punkte erlauben es, zu verstehen, worauf diese Bemerkung abzielt: Die >speculative Ansicht von Christo< vermag keine Rechenschaft von Christus als Wendepunkt der Weltge­ schichte zu geben. Vielmehr hat Schelling durch seine Konstruktion das Wesentliche der Geschichtlichkeit, das in der >hohen Willkühr« zu suchen ist, missachtet. Nur auf der Grundlage jener Urtatsache ver­ mag die Theologie zu einer realen oder einer »wahrhaft historischefn] Wissenschaft« zu werden (KGA 1,4, 469).41

III. Der gebildete Verächter Wenn Schleiermacher es in seiner Rezension der schellingschen Vorle­ sungen über die Methode des academischen Studium auch bei einer beiläufigen Erwähnung dreier Bedenklichkeiten belassen musste, so konnte er doch schwerlich der Meinung sein, dass die Auseinander­ setzung dadurch auf befriedigende Weise geführt sei. So wird er, wie bereits angedeutet, auf den Subjektivismus-Vorwurf durch eine Reihe eingreifender Änderungen in der 1806 erschienenen zweiten Auflage der Reden über die Religion antworten. Der entscheidende Punkt indes, seine eigene >Ansicht von Christo«, verlangte eine ausführlichere Behandlung, die er den Teilnehmern des ebenfalls 1806 erschiene­ nen Gesprächs Die Weihnachtsfeier anvertraut. Tatsächlich hat die Mehrzahl der Kommentatoren dieses Gespräch gelesen als wäre es ein Traktat über >Schleiermachers Christusglauben«.1 In dieser Schrift kommt die entscheidende Differenz, die von Anfang an im Hinter­ grund dieses »stillen Krieges« stand, endgültig zum Durchbruch. Die eigentliche Stoßrichtung der Weihnachtsfeier wird denn auch erst ersichtlich, sobald man sie als Schleiermachers Antwort auf die Heraus­ forderung liest, die Schelling einige Jahre zuvor mit seiner historischen Konstruktion des Christentums aufgestellt hatte. Zwar haben mehrere Kommentatoren diesen Bezug registriert, ohne dass sie diesen jedoch für die Auslegung der Schrift fruchtbar gemacht hätten.2 In der Tat ist 1

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solche Erfahrungen Übernatürliches hineininterpretieren zu müssen. Vgl. SW VI 19f. Deshalb muss Schleiermacher letztlich Schellings Behauptung, die Theologie als eine wahrhaft historische Wissenschaft begründet zu haben, zurückweisen und erklären, dass sie auch bei Schelling »reinphilosophisch« bleibt und die Religion in einer »reine[n] Vernunftreligion« aufgehen lässt (KGA 1,4, 470).

2

So der Titel eines Buches von Emanuel Hirsch, das drei Studien versammelt, dessen erste ganz der Weihnachtsfeier gewidmet ist (E. Hirsch (1968): Schleiermachers Christusglaube. Drei Studien. Gütersloh, 7-52). Zur Entstehung der Weihnachtsfeier

siehe KGA 1,5, XLIV-XLVII. Dilthey sieht in den Schlussreden der Weihnachtsfeier zwar einen Gegenentwurf zu Schellings Konstruktion des Christentums, diese Beobachtung bleibt für seine Aus­ legung jedoch folgenlos (vgl. Dilthey (1970), 146-174, bes. 168). Karl Barth begnügt sich mit der enigmatischcn Bemerkung, wonach in der Figur des Eduard »nicht

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III. DER GEBILDETE VERÄCHTER

Schelling, wie in einem ersten Abschnitt gezeigt wird, an mehreren Stellen der Weihnachtsfeier deutlich präsenter, als bislang bemerkt wur­ de. Vor diesem Hintergrund darf es denn auch kaum verwundern, dass er sich zu einer Reaktion aufgefordert fühlte und sich zur Rezension anbot. Obwohl es sich dabei um den einzigen Text Schellings handelt der sich ausschließlich mit Schleiermacher und zudem nur mit einem einzigen Werk desselben auseinandersetzt und der insofern als eins der bedeutendsten Dokumente ihres »stillen Kriegs* gelten darf, hat er erstaunlicherweise bislang kaum Aufmerksamkeit gefunden.3 Es mag sein, dass die für eine Rezension ungewöhnliche, höchst kunstvolle Form sowie der leicht ironische Ton den grundsätzlichen Charakter von Schellings Überlegungen hat übersehen lassen. Die Rezension gibt indes nicht nur weiteren Aufschluss über Schellings Gedanken über die Religion, sondern, indem sie den dialogischen Charakter der Weihnachtsfeier radikal ernst nimmt, eröffnet sie auch eine von bisherigen Interpretationen grundverschiedene Perspektive auf das Werk.4 Der zweite Abschnitt wird sich auf die Figur des Leonhardt konzentrieren, die nicht nur für die gebildeten Verächter der Reli­ gion einsteht, sondern der Schleiermacher zudem Aussagen in den Mund legt, die deutlich an einige schellingsche Thesen erinnern. Dabei wird sich zeigen, wie Schelling die von Schleiermacher durchgeführte Gleichsetzung des Philosophen mit dem Gebildeten rückgängig zu ma­ chen sucht, indem er beide auseinanderlegt. In einem dritten Abschnitt wird auf Schellings Kritik der Reden Ernsts und Eduards eingegangen, etwa Schelling« selbst redet, sondern »[g]ewiß der mit Schelling sich auseinanderset­ zende Schleiermacher, aber Schleiermacher!« (K. Barth (1928): »Schleiermachers »Weihnachtsfeier*«. In: Ders., Die Theologie und die Kirche. Gesammelte Vorträge. 2. Band. München, 127). Den Nachweis dieser Behauptung bleibt Barth jedoch schuldig. 3 Vgl. H. Patsch (1985): »Die zeitgenössische Rezeption der »Weihnachtsfeier*«. In; Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984. Hrsg, von K.-V. Selge. Berlin / New York (Schleiermacher-Archiv 1), Bd. 2,1226-1228. 4

Quapps Feststellung, dass »Schellings Interpretation der »Weihnachtsfeier* bisher ohne Wirkungsgeschichte blieb und einer elementaren Auswertung für die Belebung des Weihnachtsfestes, des Erlösungsgedankens und der Wesen-des-ChristentumsBestimmung noch harrt«, ist weiterhin gültig (E. H. U. Quapp (1978): Barth contra Schleiermacher? >Die Weihnachtsfeier* als Nagelprobe. Marburg, 69).

1. SCHLEIERMACHERS CHRISTUSGLAÜBE

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denen Schleiermacher die Entgegnung Leonhardts anvertraut hat. Da insbesondere Eduard sich dabei Begriffen schellingscher Provenienz wie »Abfall* und »Erdgeist* bedient, ist zu zeigen, wie diese Begriffe in der Übernahme einen Sinn annehmen, der der Absicht Schellings zuwiderläuft. Dabei ist die Auseinandersetzung zwischen Schelling und Schleiermacher keineswegs von nur historischem Interesse. Das Problem des Auseinanderklaffens von Erscheinung und Idee oder auch von historischem Jesus und dogmatischem Christus, an dem die Chris­ tologie sich weiterhin abarbeitet, ohne diese Kluft bislang überbrücken zu können, bricht nämlich im Sog jener Auseinandersetzung erst auf.5 Vielleicht mag man das Problem auch deshalb als unlösbar empfinden, weil in dessen Formulierung bereits ein unaufhebbarer Widerspruch enthalten ist. Eine genauere Kenntnis jener Auseinandersetzung dürfte somit eine erneute Reflexion über die Begriffe veranlassen, in welchen das Problem zu formulieren sei.

1. Schleiermachers Christusglaube Anders als im Fall der Schrift Über die Religion handelt es sich bei der Weihnachtsfeier nicht um eine Rede: Aus dem Text ist nicht ersichtlich, wer der unmittelbare oder vorzügliche Adressat sein mag. Vielmehr hat Schleiermacher sich für die Form der Erzählung entschieden: Die Schrift enthält den Bericht eines Weihnachtsabends, an dem ein kleiner Kreis von klar charakterisierten Verwandten und Bekannten sich im Haus des Ehepaars Ernestine und Eduard zusammengefunden hat, um den Abend mit Unterhaltungen, Erzählungen und Reden zu verbrin­ gen. Der Titel gibt indes nicht nur die Gelegenheit an, von welcher berichtet wird, sondern zugleich auch das Leitthema der Unterhaltung. Dadurch erhält die Schrift einen selbstreflexiven Charakter, indem die y

Dazu sei verwiesen auf: D. Lange (1975): HistorischerJesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß. Gütersloh. C. Danz (2006): »Die Geschichtlichkeit der Offenba­ rung. Die Bedeutung Schellings für die christologische Debatte der Gegenwart«. In: Vernunft und Glauben. Ein philosophischer Dialog der Moderne mit dem Christen­ tum. P'ere Xavier Tilliette SJ zum 81. Geburtstag. Hrsg, von S. Dietzsch / G. F. Frigo. Berlin, 107-126. Wittekind (2010). Danz (2013).

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III. DER GEBILDETE VERÄCHTER

Versammelten den Grund, der sie an diesem Abend zusammengeführt hat, selbst zum Thema der Reflexion machen. Ihre Zusammenkunft fin­ det ihre Ursache letztlich in einem weit zurückliegenden historischen Ereignis. Vor dem Hintergrund der von Schleiermacher gewählten Erzählform mag die Gattungsbezeichnung dieses Textes als eines >Gesprächs< zunächst befremden: Es werden nämlich nicht nur die Worte der Anwesenden mitgeteilt, sondern ihre Äußerungen sind in eine Erzählung eingebettet.6 Die Bezeichnung scheint auch insofern nicht ganz zutreffend, als vielmehr drei unterschiedliche Modalitäten der mündlichen Mitteilung angewendet werden: So berichtet der erste Teil des Werks davon, wie die Anwesenden sich ungezwungen miteinan­ der unterhalten. Bereits hier ist das Weihnachtsfest das durchgängige Thema. In einem zweiten Teil erzählen drei der anwesenden Frauen von einem für sie besonders denkwürdigen Weihnachtsabend, der sich zu einem prägnanten symbolischen Bild des Festes verdichtet. Anschließend machen die drei Männer in einem dritten Teil das Fest ausdrücklich zum Gegenstand der Reflexion und versuchen, dessen Bedeutung zur begrifflichen Klarheit zu bringen. Diese Reden werden durch die Ankunft Josefs abgebrochen, der die versammelte Gesell­ schaft dazu auffordert, sich des Gefühls der Freude und der Heiterkeit zu erinnern, welches das Wesen des Festes ausmacht, da sie dazu neigen, dies während der Reflexion zu vergessen. Die Weihnachtsfeier wird somit in viererlei Modalitäten thematisiert, die jedoch alle Gesprächs­ charakter haben: Zunächst im unmittelbar gegenwärtigen Erleben und in der ungezwungenen Unterhaltung, wovon in direkter Rede berichtet wird, dann in der Erinnerung und im Gefühl der Frauen die in nacherzählter Rede mitgeteilt werden, sodann in der Form des Vortrags als Medium der Reflexion, schließlich in einer paränetischen Rede. Die Erzählungen und Reden gehören jedoch insofern noch zur Gattung des Gesprächs, als auch sie klar definierte Adressaten 6 Mehrere Kommentatoren haben Schwierigkeiten in dieser Gattungsbezeichnung gesehen. Dementsprechend steht das Werk nach Dilthey in der »Mitte zwischen einem Dialog und einer Novelle« (Dilthey (1970), 146), während Barth es als eine »lehrhafte Novelle« (K. Barth (1928), 113) tituliert und Patsch es bald als eine »Gesprächsnovelle«, bald als eine »Rahmenerzählung« bezeichnet (KGA 1,5, XVIII,

XLIX).

1. SCHLEIERMACHERS C H R I S TU S G L A U B E

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haben: So richten die Erzählungen der Frauen sich vorzugsweise an die Männer, um ihnen das Grundgefühl der Freude, das für ihre Erfah­ rung der Weihnachtsfeier konstitutiv ist, näherzubringen. Die Reden der Männer hingegen passen sich explizit den Erwartungen und dem Fassungsvermögen der Frauen an (vgl. KGA 1,5, 83, 89). Dabei ver­ schwindet der Erzähler gänzlich, indem er sich auf die Mitteilung der Handlung und der äußeren Umstände des Geschehens beschränkt und darauf verzichtet, sein eigenes Urteil über die Gesprächsteilneh­ mer und ihre Aussagen durchblicken zu lassen, obwohl gerade die erzählerische Form dazu durchaus die Gelegenheit geboten hätte. Dadurch entsteht leicht der Eindruck, als ob der Erzähler mit der versammelten Gesellschaft in Einvernehmen ist und insbesondere die von den Männern vorgetragenen Ansichten teilt. Schelling geht in seiner Rezension, wie sämtliche Kommentato­ ren nach ihm, fast nur auf die das Werk abschließenden Reden der Männer ein. Dabei hat die erste, von Leonhardt gehaltene Rede die Kommentatoren bislang am meisten verwirrt. Für gewöhnlich sieht man in ihm einen Vertreter der rationalistischen Religionskritik. Dieses Urteil stützt sich darauf, dass er der Heiligen Schrift bzw. den histori­ schen Dokumenten zum Leben Jesu fast jegliche Bedeutung für das Christentum abspricht (vgl. KGA 1,5, 86 f.). Falls man eine religions­ kritische Absicht als für die rationalistische Bibelforschung konstitutiv erachtet, muss die Zuordnung Leonhardts zu dieser Richtung forciert erscheinen, da er durch die Trennung des Christentums von der Bi­ bel vielmehr jenes gegen jegliche Form rationalistischer Bibelkritik zu immunisieren sucht.7 Vielleicht kommt man Leonhardts Ansicht näher, wenn man beachtet, dass dieser damit eine These aus Schellings Vorlesungen über die Methode des academischen Studium aufgreift, wo es heißt, dass »die kritische und philologische Behandlung der ersten christlichen Bücher [...] von dem Studium der Wissenschaft [sc. der Theologie] an und für sich ganz abzusondern« sei und dass 7

Insofern ist seine Position durchaus mit der berühmten Erklärung Rudolf Bultmanns verträglich, wonach wir »vom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können« und ein solches Wissen für den christlichen Glauben auch nicht erforderlich ist (R. Bultmann (1951): Jesus. Tübingen, 11).

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III. DER GEBILDETE VERÄCHTER

die Frage, »ob diese Bücher ächt oder unächt, die darinn enthaltenen Erzählungen wirkliche unentstellte Facta sind, ob ihr Inhalt selbst der Idee des Christenthums angemessen ist oder nicht, [...] an der Realität derselben nichts ändern [kann], da sie nicht von dieser Einzelheit abhängig, sondern allgemein und absolut ist«.8 Nach Schelling ist die Idee des Christentums somit von der rationalistischen Bibelkritik gar nicht betroffen, da diese sich nur auf empirische Tatsachen bezieht, die für die Gültigkeit einer Idee unerheblich sind. Nur im Verhältnis zu einem >empirischen< Verständnis der Religion erhält das historische und philologische Studium der Bibel eine religionskritische Bedeutung. Die Irrelevanz historischer Tatsachen für die Idee des Christentums führt Leonhardt jedoch nicht so sehr zu einer >speculativen Ansicht von Christo«, als dass er diesen mythisch verstanden haben möchte. Er bezieht sich nämlich ausschließlich auf die historische Person, die sich jedoch aufgrund von fehlenden zuverlässigen historischen Berichten in eine mythische Gestalt auflöst. Als eine solche mythische Vorstellung habe Christus nichtsdestoweniger eine geschichtsbildende Wirkung entfalten können.9 Bereits in seiner Rezension der Vorlesungen hatte Schleiermacher in Schellings Darstellung des Christentums ein ange­ messenes Verständnis des Christus selbst und damit der Quelle, des Grundes und des einzigen Inhalts des christlichen Glaubens vermisst. Dadurch habe Schelling in seiner sonst für vortrefflich befundenen Darstellung gerade den Kern des Christentums »vergessen«, genauso wie, nach dem Urteil der Anwesenden, Leonhardt auch. Aus diesem Grund möchten weder Ernst noch Eduard ihn direkt widerlegen,

8

Schelling (1803), 205 f., vgl. 1991. Vgl. Leonhardts wiederholt ausgedrückten Vor­ behalt gegen die Bibel (KGA 1,5, 57 £, 84). - In den Vorlesungen findet sich noch folgender Satz: »Schon in dem Geiste des Heidenbekehrers Paulus ist das Christenthum etwas anderes geworden, als es in dem des ersten Stifters war« (198). Dies findet sich in einer Bemerkung Leonhardts wieder, wonach »Christus dem Johannes [dem Täufer] weit näher [stehe] als dem Paulus« (KGA 1,5, 86).

9 Wenn Leonhardt auch behauptet, dass dies seine »ehrliche Meinung« sei, so erklärt er doch, sich des »Beifalls« insbesondere der Frauen »gewiß« zu sein, selbst wenn diesen einiges in seiner Rede »frevelhaft erschienen« sein mag (KGA 1,5, 88). Man kann seine Rede somit auch so lesen, dass sie die mythische Vorstellungsweise aufdeckt, die dem Verständnis des Christentums der Frauen zugrunde liegt.

1. SCHLEIERMACHERS CHRISTÜSGLAÜBE

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sondern ihn nur auf eine »Lücke« in seiner Darstellung aufmerksam machen. Wenn es zutrifft, dass Schleiermacher Leonhardt jenen von Schel­ ling in den Vorlesungen entwickelten Begriff des Christentums in den Mund gelegt hat und wenn wir uns zudem den Mangel in Erinnerung rufen, den Schellings »speculative Ansicht von Christo« aufweist, dann kann es nicht überraschen, dass Ernst, der zweite Redner, Leonhardt an das erinnern wird, was dieser in seiner sonst gelungenen Darstellung des Christentums »vergessen« hat, nämlich an die Idee des Erlösers. Wenn die von Ernst gehaltene Rede in inhaltlicher Hinsicht auch we­ niger bedeutsam sein mag, so stellt sie doch innerhalb der Reden einen Wendepunkt dar. Nimmt man die Idee des Erlösers aus dem Begriff des Christentums heraus, verbleibt von ihm nur noch eine mythische Vorstellung, in welcher jene Idee »unbegründet« ist, oder auch »theils überschätzt, theils zu sehr beschränkt«. Bringt man Ernsts Rede mit der in der Rezension angedeuteten Bedenklichkeit in Verbindung, dann ergibt diese plötzlich einen präzisen Sinn. Zum einen muss die Idee des Erlösers innerhalb eines mythischen Verständnisses deshalb »unbegründet« bleiben, weil es sich um eine bloße Vorstellung handelt, der keine vom mythischen Bewusstsein unabhängige Realität zuge­ schrieben werden kann. Jede Vorstellung, die nicht an eine einmalige historische Begebenheit gebunden ist, ist danach als »mythisch« einzu­ stufen. Zum anderen wird die Idee insofern »zu sehr beschränkt«, als ihre historische Bedeutsamkeit ausgeklammert bleibt (KGA 1,4, 474). Ohne dieselbe könnte ihr aber gar nicht jene geschichtsbildende Kraft zukommen, die Leonhardt ihr zuschreibt. Insofern hat er die Idee zugleich »überschätzt«, indem er zu glauben scheint, dass eine sol­ che mythische Idee ihre historischen Folgen hinreichend zu erklären vermag (KGA 1,4, 474). Ernst beschränkt sich weitgehend darauf, kritische Bedenken gegen die Rede Leonhardts zu formulieren; die in seiner Rede enthaltenen Keime einer positiveren Ansicht werden erst von Eduard aufgegriffen und zur Entfaltung gebracht. Jedenfalls hat Ernst nachdrücklich genug auf das Erlösungsbedürfnis des Menschen hingedeutet und damit auf das Unvermögen, das mit der menschlichen Natur gleichursprüngliche Auseinanderklaffen von »Erscheinung« und »»Wesen«, von »Zeit«« und »Ewigkeit« aus eigener Kraft jemals

62

III. DER GEBILDETE VERÄCHTER

wieder rückgängig zu machen (KGA 1,5, 92).10 Damit hat Ernst den Begriff des >Abfalls< vorweggenommen, den erst Eduard zur Grundla­ ge einer geschichtstheologischen Weitsicht machen wird. Die mit der menschlichen Natur gegebene Erlösungsbedürftigkeit verweist selbst ihrerseits auf die Notwendigkeit eines Erlösers, dem jene Diskrepanz von >Erscheinung< und >Wesen< von Natur aus fremd ist. Nur derjenige vermag den Menschen zu erlösen, der selbst nicht erlösungsbedürftig ist. Da Schleiermacher Leonhardt Sätze in den Mund gelegt hat, die sich auf Schellings Vorlesungen zurückführen lassen, darf es kaum verwun­ dern, dass Eduard, dem er die Entgegnung Leonhardts anvertraut, mit einigen Begriffen schellingscher Signatur wie >Abfall< und >Erdgeist< operiert, die in der Aneignung jedoch eine tiefgreifende Umwandlung erfahren. Diese Begriffe führt Eduard in der Absicht ein, die sachliche Grundlage der von Ernst in Erinnerung gerufenen Idee des Erlösers zu schaffen. Sein geschichtstheologischer Entwurf, der sich als Antwort auf die Herausforderung durch Schellings historische Konstruktion des Christentums lesen lässt, kreist denn auch durchgängig um das Erlösungsbedürfnis des Menschen.11 So interpretiert er den »Abfalls als die mit der Vereinzelung des Menschen gleichursprüngliche Dis­ krepanz zwischen Idee und Erscheinung.12 Der Einzelne ist demnach insofern erlösungsbedürftig, als er aus eigener Kraft nicht in der Lage ist, seine individuelle Existenz in Beziehung zur Idee zu bringen. Er ist 10 Vorher hatte Leonhardt sich zweimal spöttisch über die »Erlösungsbedürftigkeit« geäußert (KGA 1,5, 70, 93). 11 Für die Unterscheidung von Geschichtsphilosophie und Geschichtstheologie, siehe: Grab (2012). Dabei erfüllt die Geschichtsphilosophie, so wie Schleiermacher sie versteht, sowohl eine propädeutische als auch eine apologetische Funktion: Sie soll auch für die gebildeten Verächter der Religion überzeugend sein, ist in sachlicher Hinsicht jedoch nur insofern konsistent, als sie durch eine Geschichtstheologie ergänzt wird. 12 Den Begriff des Abfalls hatte Schelling auf augenfällige Weise in der 1804 erschie­ nenen Schrift Philosophie und Religion eingeführt (vgl. SW VI, 38-45, 57). Eduard vermag den Begriff dadurch zu integrieren, dass er die zentrale These, die Schelling mit ihm verbindet, nämlich, dass der Abfall keine Realität habe, fallen lässt (vgl. z. B SW VI, 43 f., 49 f.). Der Begriff wird ausführlich analysiert in: Scheerlinck (2017), 165-171, 175-186,202-204, 251-256, 259-261, 320-327,420f.

1. SCHLEIERMACHERS CHRISTUSGLAUBE

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deshalb für sich genommen im »Verderben«, in der »Zwietracht« und in »Verwirrung«, aus welchen er nicht aus eigener Kraft hinauszufin­ den vermag (KGA 1,5, 95). An ihrer unterschiedlichen Auffassung des Begriffs des Abfalls zeigt sich, dass der eigentliche Kern der Differenz zwischen Schleiermacher und Schelling in der Behauptung oder Ver­ neinung der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen zu suchen ist.13 Die Erlösung als die Herstellung einer Beziehung zwischen Erscheinung und Idee ist demnach das eigentliche Wunder, da sie nur durch eine äußere Instanz zustande gebracht werden kann. Um die Erlösung ein­ sichtig zu machen, greift Eduard nun auf den Begriff des >Erdgeistes< zurück. Den Erdgeist setzt er dem »Menschen an sich« gleich, der »kein Bedürfniß einer Erlösung« kennt (KGA 1,5,95).14*Da die Erlösung nur von einer Instanz ausgehen kann, die selbst nicht erlösungsbedürftig ist, verlangt sie die Verkörperung der Idee des »Menschen an sich< durch ein besonderes Individuum. Während dieser »Einziges durch 13 Dietz Lange bemerkt denn auch völlig zu Recht: »In diesem Punkt [nl. in dem Verständnis des Jesus als Christus], und damit im Zentrum seines theologischen Denkens, ist Schleiermacher Schelling völlig entgegengesetzt« (Lange (1975), 50). Ähnlich Hirsch (1968), 30. Beachte auch X. Tilliette (1984): »Le Christ historique de Schleiermacher«. In: Archivio di Filosofia 52, 387. 14 Mit dem Begriff des Erdgeistes greift Schleiermacher auf den des Riesengeists aus dem Glaub ensbekentniss zurück. Das Gedicht war ihm durch eine Reinschrift Friedrich Schlegels bekannt (vgl. KGA V,3,244-247). Der Teil des Gedichts, in wel­ chem der Riesengeist auftritt, war zudem 1800 veröffentlicht worden (vgl. AA, 1,8, 428-430). In den Vorlesungen war er von Schelling nur einmal in einem Nebensatz erwähnt worden (vgl. Schelling (1803), 32). In seiner Rezension hebt Schleiermacher diese Stelle besonders hervor und empfiehlt den Begriff des »Allen eingebornen Erdgeist[s]« als ein Mittel, um die von Schelling versprochene, aber nicht durchge­ führte Konstruktion der Moral durchzuführen, insbesondere in Bezug auf Staat und Kirche (vgl. KGA 1,4, 479). Für Schleiermachers eigene Durchführung dieser Aufgabe, vgl. ED. E. Schleiermacher (1981): Brouillon zur Ethik (1805/06). Ham­ burg, 72-79,99. In der ersten Auflage der Weihnachtsfeiermrd der Erdgeist dreimal genannt; bemerkenswerterweise tilgt Schleiermacher in der zweiten Auflage zwei dieser Erwähnungen und ersetzt sie durch Umschreibungen (vgl. KGA 1,5,95, 96). Patsch hat das Vorkommen des Begriffs bei Goethe, Friedrich Schlegel, Schelling, Schleiermacher und Hegel untersucht, vgl. Patsch (1989). Franz Schultz weist zudem Parallelen zwischen dem Glaubensbekentniss und der Erdgeistszene im Faust nach (vgl. Schultz (1909), 103). Vgl. U. Barth (2013), 55 f.

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III. DER GEBILDETE VERÄCHTER

die Verbindung mit der Idee dem Abfall nicht anheimgefallen ist, ist die Erlösung für die Menschen nur durch die Zugehörigkeit zu der von jenem Einzigen gestifteten Gemeinschaft möglich. Nur die Kirche eröffnet den Zugang zur Erlösung. Durch den Begriff der Kirche ver­ mag Eduard Leonhardts Bemerkungen zur geschichtsbildenden Kraft des Christi aufzunehmen und zu integrieren, während er zugleich der von diesem »übersehenem Rolle des Stifters Rechnung trägt. Selbst wenn von der historischen Person so gut wie nichts mehr zu wissen ist, vermag doch die Kirche nur insofern die einzige Erlösungsinstanz zu sein, als sie durch Christus gestiftet wurde.15 Auf diese Weise gelingt es Eduard, anders als Schelling, zu vermeiden, die in der Geschichte waltende »hohe Willkühr« zu verwischen, die »doch der Schlüssel des Christenthumes seyn möchte« (KGA 1,4, 474). Das Werk schließt mit der kurzen Rede des gerade angekommenen Josefs. Dieser scheint zunächst nur die negative und zerstörende Wir­ kung der Reflexion zu betonen. Einer wohlwollenderen Interpretation nach kann man ihm die Meinung zuschreiben, dass ein Nachdenken über das Christentum nur aufgrund der christlichen Erfahrung möglich sei und dass die Rechtfertigung des Glaubens diese Erfahrung niemals hervorbringen oder gar ersetzen könne. Die Reflexion setzt dasjenige, worüber reflektiert wird, immer schon voraus und vermag es niemals einzuholen. Damit scheint Josef auch behaupten zu wollen, dass die dem christlichen Leben eigentümliche Erfahrung dem Ungläubigen notwendigerweise verschlossen ist und dieser nicht in der Lage ist eine solche Erfahrung nachzuvollziehen. Schleiermacher scheint somit einer Figur wie der des Leonhardts oder des gebildeten Verächters der Religion zu bedürfen, um seinen eigenen Glauben gegen diesen zu be­ haupten. Dadurch, dass er die Weihnachtsfeier durch Josef beschließen lässt, scheint er andeuten zu wollen, dass nur durch eine Figur wie Leonhardt die anderen überhaupt dazu bewegt werden konnten, ihren Glauben oder ihr Gefühl reflektieren und rechtfertigen zu wollen. Für sich genommen ist dem Gefühl eine solche Tendenz zur Reflexion 75

Schleiermachers Ansichten zur Geschichte der Kirche sind jetzt umfassend darge­ stellt in: S. Gerber (2015): Schleiermachers Kirchengeschichte. Tübingen (Beiträge zur Historischen Theologie 177).

2. DIE FIGUR DES GEBILDETEN VERÄCHTERS

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oder Rechtfertigung jedoch fremd. Falls die von Ernst und Eduard angeführten Gründe sich jedoch als ungenügend erweisen, müssen sie den Zweifel erst recht Wurzeln schlagen lassen. Die Rede Josefs richtet sich denn auch vor allem an Ernst und Eduard. Er wirft ihnen vor, sich, durch Leonhardt verführt, überhaupt erst auf den Versuch einer Widerlegung Leonhardts und einer Rechtfertigung ihres Gefühls eingelassen zu haben. Dadurch gibt er zu erkennen, dass ihre Reden sich zwecks einer Verteidigung der Religion durchgängig nach den Vorbehalten Leonhardts bzw. der gebildeten Verächter gerichtet haben. Der mit ihren Behauptungen verbundene Wahrheitsanspruch wird dadurch insofern zurückgenommen, als Ernst und Eduard in erster Linie eine nur apologetische Absicht verfolgten. Überhaupt lebt der Christ selig einzig im Glauben, der sich niemandem mitteilen lässt und von welchem er auch niemanden mittels rationaler Gründe überzeugen kann.

2. Die Figur des gebildeten Verächters Schelling scheint erst relativ spät vom Erscheinen der Weihnachtsfeier erfahren und sich auch dann noch Zeit damit gelassen zu haben, sie zu lesen.16 Er bot sich dann allerdings selbst als Rezensent an.17 Es war auch kaum möglich, dass er sich durch die vielfältigen Anspielungen nicht angesprochen gefühlt und die Schrift nicht als eine Einladung 16 Carolines Bemerkung über die Weihnachtsfeier in ihrem Brief an Schelling vom 30. April 1806 dürfte kaum sein sofortiges Interesse geweckt haben: »Schleyermacher macht sich mit großer Aktivität um das Vaterland verdient - größer ist auf diesem Felde der kleine Mann als in seinem kleinen christlichen Taschenbuch -

da ist wirklich innerlich und äußerlich alles nach gar miniaturen Dimensionen 17

ausgefallen« (C. Schelling (1913), Bd. 2, 438). F. W.J. Schelling an K. A. Eichstädt, 29. September 1806: »Haben Sie von Schleiermacher’s Weihnachtsfeyer eine genügende Recens zu erwarten? - Ich glaube, eine solche liefern zu können u. würde sie con amore ausarbeiten, jedoch unbekannter Weise« (BuD I, 372, s. a. den Brief an denselben vom 6. Dezember 1806, BuD I 376). Die Rezension erschien in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung, Nos. 58-59, 9.-10. März 1807,457-467. Sie wurde erst in den Sämmtlichen Werken wieder abgedruckt: SW VII, 498-510. Alle Ziffern in Klammern in diesem Kapitel beziehen sich ausnahmslos auf die Erstveröffentlichung.

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III. DER GEBILDETE VERÄCHTER

gesehen hätte, den bereits seit mehreren Jahren aus der Distanz und mit Unterbrechungen geführten Dialog fortzusetzen.18 Obwohl diesmal Schleiermacher als Adressat des Dialogs kenntlich gemacht ist, wenn er auch im Text der Rezension selbst kein einziges Mal namentlich erwähnt wird, so ist jetzt die Identität des Absenders verschleiert, da die Rezension nur mit dem Kürzel »II—v« unterzeichnet erschien, sodass es dem vorzüglichen Adressaten und dem Leser überlassen blieb, den Verfasser zu erraten.19 Die Rezension hat denn auch nicht so sehr die Absicht, das Publikum über den Inhalt des Buches zu informieren und ein Urteil über den Wert desselben mitzuteilen, sondern sie richtet sich in erster Linie an den Verfasser des rezensierten Werkes selbst. Schellings Rezension liefert einen beachtenswerten Beitrag zum bes­ seren Verständnis der Weihnachtsfeier. Wenn er auch die in der Folge vorherrschende Interpretationslinie insofern vorwegnimmt, als er den

2. DIE FIGUR DES GEBILDETEN VERÄCHTERS

Schwerpunkt dezidiert auf die abschließenden Reden der Männer legt, so legt er seiner Rezension doch eine hermeneutische Maxi­ me zugrunde, durch welche sie sich von späteren Befassungen mit dem schleiermacherschen Gespräch grundlegend unterscheidet. Die Mehrzahl der Kommentatoren liest das Gespräch nämlich als einen verhüllten theologischen Traktat,20 indem sie in den (männlichen) Gesprächsteilnehmern nur Repräsentanten Schleiermachers sehen.21 Aus dieser Annahme ergibt sich unmittelbar das hermeneutische Ziel, 20 So hat Patsch bemängelt, dass dieses Werk bislang »immer als theologischer Traktat behandelt« wurde. Allerdings muss er feststellen, dass die von ihm auf die Weih­ nachtsfeier angewandte rezeptionsästhetische Herangehensweise ebenso wenig den eigentlichen Gehalt der Schrift zu erfassen vermag, da die Mehrzahl der Zeitge­ nossen entweder nur auf die Form oder nur auf den biographischen Hintergrund achteten, »fast nie auf die theologische Aussage«. Schelling stellt diesbezüglich eine 21

Dass Schelling »sich zur Rezension selbst angeboten, ja aufgedrängt hat«, dürfte somit nicht so sehr daraus zu erklären sein, dass er »an Schleiermachers Folie seine eigene Annäherung an das Christentum aufscheinen lassen konnte und wollte«, sondern vielmehr, weil er in Schleiermachers Weihnachtsfeier dessen Antwort auf seine eigene historische Konstruktion des Christentums sehen musste (Patsch (1985), 1126). 19 Windischmann hatte Schelling jedenfalls sofort erkannt: »Lieber Schelling, wie haben Sie mich überrascht und wenn Sie selbst sagen sollten: Ich hins nicht; so hats Ihr Genius für Sie niedergeschrieben, da Sie nicht zu Hauß waren - Treiben Sie die Bescheidenheit nicht zu weit und nehmen ganz getrost die Versicherung daß ich die Rez. für ein schöneres Kunstwerk halte als jene ganze Schrift« (K. J. H. Windisch­ 18

mann an F. W. J. Schelling, wahrsch. Mitte April 1807, BuD III, 425). Jacobi hat möglicherweise von Schelling selbst erfahren, dass dieser die Rezension verfasst hat (vgl. F. H. Jacobi an F. W. J. Schelling, 30. Juni 1807, BuD I, 381; in demselben Brief

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Ausnahme dar (Patsch (1985), 1215,1218). So sieht z. B. David Friedrich Strauß in »diesen vier Persönlichkeiten« (Leon­ hardt, Ernst, Eduard und Josef) »die verschiedenen Momente von Schleiermacher’s theologischer Eigenthümlichkeit auf sinnige Weise auseinandergelegt und ver­ körpert« (D. F. Strauß (1844): Charakteristiken und Kritiken. Eine Sammlung zerstreuter Aufsätze aus den Gebieten der Theologie, Anthropologie und Aesthetik. Leipzig, 2. Aufl., 43). Dilthey meint, dass Schleiermacher in der Figur des Josef »mit deutlich kennbaren Zügen sich selbst gezeichnet hat« (Dilthey (1970), 153). So auch Barth, der in Josef »den Autor im Selbstporträt« sieht. Außerdem stellt er die hermeneutische Regel auf, dass man »auch von den Lippen der übrigen Personen nichts Un-Schleiermacherisches zu hören erwarten [darf], auch nicht von Leonhardt«. Er schließt sich denn auch der »Auffassung« an, die »sich heute mit Recht durchgesetzt« hat, nämlich »nicht der eine oder der andre, sondern in bestimmtem Sinn jeder der drei Redner >die wahre Meinung< Schlcicrmachers« vertreten zu lassen (K. Barth (1928), 114, 120, vgl. 123, 124, 127, 130). Hirsch

scheint er übrigens herausfinden zu wollen, ob Schelling nicht auch der Verfasser einer Rezension der zweiten Auflage der Reden über die Religion ist, die am 5. und 6. Juni 1807 ebenfalls in der Jentaschen Allgemeinen Literatur-Zeitung erschienen war, deren Autor jedoch Wilhelm Martin Leberecht de Wette war, vgl. KGA 1,12 XLI-XLV). Vgl. auch F. D. E. Schleiermacher an C. G. von Brinckmann am 1. März 1808: »Der [Rezensent] der Weihnachtsfeier hat so schön geschrieben als man in einer Recension nur schreiben kann. Ich möchte ihn kennen und glaube daß ich mich über das was ich für Mißverstand halte sehr leicht mit ihm einigen würde. Einige glauben es ist Schelling« (KGA V,10, 68). Schellings Kürzel wurde bislang

meint: »Alle drei Reden spiegeln vielmehr Momente in Schleiermachers eignem geistigen Dasein wider« (Hirsch (1968), 30). Quapp stellt fest, dass nach der »com­ munis opinio [...] Jeder der drei Redner die >wahre Meinung« Schleiermachers vertritt [...]selbst zu erscheinen< wie nach seiner Einschät­ zung der Verfasser des rezensierten Buches.25 Indem er die Schwächen und Unstimmigkeiten in den von den Figuren vertretenen Ansichten aufdeckt, dürfte er jedoch Schleiermacher dazu auffordern wollen, sich im eigenen Namen zu diesen Problemen zu äußern. Schelling scheint, anders gesagt, die von Schleiermacher gewählte Darstellungsform als eine Strategie zu durchschauen und sucht sie durch eine entsprechend gewählte Gegenstrategie zu unterlaufen. Die vom Rezensenten geschaffene Persona wird somit in mehrere fingierte Dialoge mit den männlichen Gesprächsteilnehmern der Weih­ nachtsfeier treten. Hier zeigt sich allerdings eine auffällige Asymmetrie. Der vorherrschenden Interpretationslinie, der zufolge Schleiermacher in den Reden der drei bzw. vier Männer seine eigenen Anschauungen zum Ausdruck bringt, hat die Figur des Leonhardt stets Schwierigkei­ ten bereitet. Seine Rede lässt sich nur schwer mit den übrigen Reden zu einer konsistenten Ansicht zusammenfügen. In der Bewertung dieser Figur gehen die Interpretationen denn auch am meisten ausein­ ander.26 Diese Schwierigkeit dürfte sich daraus ergeben haben, dass die So hat auch Hirsch beobachtet, dass die Reden der Männer »nicht so harmonisch ineinander [klingen]« und »von Spannungen durchsetzt« sind, und zwar derart, dass sie »wenn nicht die Verbundenheit des Kreises alles zur unmittelbar empfundenen, als Stimmung lebendigen Einheit der Liebe und Andacht zusammenschlösse, zu bitterem Widerstreit zwischen zweifelnder und gläubiger, energischer und sanfter Reflexion führen [müßten]« (Hirsch (1968), 29). 25 Schelling braucht demnach keine Verantwortung für die von seiner Persona geäu­ ßerten Ansichten zu übernehmen. Vgl. »Wollte nun diess Einer auf die angezeigte Weise versuchen, so möchte er seine Rede an die Männer der Gesellschaft ohngefähr in folgenden Worten richten« (458; m. H.). 26 Es besteht einen gewissen Konsens darüber, in Leonhardt den »Vertreter der zer­ setzenden Verstandeskritik« (Dilthey (1970), 160) oder den Vertreterder »Position rationaler Kritik«, der »sich zum Anwalt der Bedenken gegen die historischen Grundlagen des Christentums« macht (Fischer (2001), 70), zu sehen. Wahrend Dilthey in ihm einen »Vorgänger von Strauß« sieht (Dilthey (1970), 173), gilt er Barth als ein Vorläufer Feuerbachs (K. Barth (1928), 132). Strauß selbst sieht in dem »rationalistisch-kritische[n]« Leonhardt den »Mephistopheles der Gesell­ schaft und die gelungenste Figur des Buches« (Strauß (1844), 39). Nach Lange möchte Schleiermacher durch die Figur des Leonhardt folgende These vorbringen:

24

2. DIE FIGUR DES GEBILDETEN VERÄCHTERS

71

Kommentatoren sich vorbehaltlos die negative Haltung der übrigen Gesprächsteilnehmer gegenüber Leonhardt zu eigen machen. Nach der oben angeführten Maxime braucht die Meinung der Gesprächsteil­ nehmer über Leonhardt sich jedoch nicht zwangsläufig mit derjenigen des Verfassers zu decken. Schelling macht darauf aufmerksam, dass im Text selbst Elemente enthalten sind, die eine von der Einschätzung der anderen Figuren abweichende Bewertung Leonhardts erlauben. So wirft Friederike, die selbst das Thema der Reden vorgeschlagen hatte, Leonhardt vor, dass »er sich so wenig zur Wehre gesetzt hat gegen unsere Aufgabe« und verlangt sogar, dass er dafür bestraft werde, dass er sich der gemeinsam beschlossenen >Aufgabe« nicht entzogen oder widersetzt hat (KGA 1,5, 88).27 Josef, der gar nicht anwesend war, als dieser Entschluss gefasst wurde, und der somit über den Hergang der vorhergegangenen Ereignisse nicht Bescheid weiß, meint doch unter­ stellen zu dürfen, dass der Vorschlag von Leonhardt, »Euer schlechtes Princip«, ausgegangen sei (KGA 1,5,97). Zudem unterstellen die andere Mitglieder der Gesellschaft ihm spontan eine spöttische, respektlose Einstellung und scheinen seine oft zärtliche und fürsorgliche Haltung »Hinter die in der Aufklärung entwickelten Ansätze historischer Bibelkritik kann nach Schleiermacher eine neuzeitliche Theologie nicht zurück« (Lange (1975), 44). Nach Hirsch müssen die Reden als ein »Weg« verstanden werden »zu einer die Verstandesaufklärung überwindenden Bejahung der positiven und historischen Inhalte der christlichen Religion« (Hirsch (1968), 13). Aus den angeführten Urteilen geht klar genug hervor, dass man die Hauptschwierigkeit darin gesehen hat, die Position Leonhardts mit den Ansichten Ernsts und Eduards in Einklang zu bringen. Wittekind scheint die Position Leonhardts besser zu treffen, wenn er bemerkt,

»daß es im Glauben entscheidend auf die gegenwärtige Realität des Christentums ankomme [...], so daß demgegenüber die Frage nach dem historischen Ursprung des Glaubens ganz sekundär sei und hier eben auch das Nichtwissen von diesem Anfang die Existenz des Glaubens selbst nicht bedrohen könne« (Wittekind (2010), 14). Allerdings deutet der Glaube für Schleiermacher von sich aus auf eine Anschauung der Geschichte, wonach sich mit Christus eine einschneidende Wende vollzogen habe, sodass sich die Geschichte jetzt im Prinzip auf die Realisierung der Vernunft in der Geschichte hinbewege. 27 Außerdem »stimmten Alle« Ernsts Vorschlag, Reden zu halten, »bei«, wobei insbe­ sondere »die Frauen [sich] freuten«, während niemand sich Friederikes Vorschlag, das Weihnachtsfest selbst zum Thema dieser Reden zu machen, widersetzt (KGA

1,5, 83).

72

III. DER GEBILDETE VERÄCHTER

gar nicht erst zu bemerken.28 Solche Stellen machen es zu einer durch­ aus klugen hermeneutischen Regel, die Beurteilung Leonhardts durch die anderen Anwesenden nicht einfach zu übernehmen. Schelling macht das spannungsvolle Verhältnis zwischen Leonhardt und der versammelten Gesellschaft zum Ausgangspunkt seiner Rezen­ sion. In Leonhardt sieht er eine Figur, die das durch den Familienkreis verkörperte Ideal problematisiert und dekonstruiert. Allen Mitgliedern der Weihnachtsgesellschaft ist somit ein tief verwurzeltes Misstrauen Leonhardt gegenüber gemein, insbesondere wegen seiner Neigung zur Reflexion, durch welche die anderen Figuren ihr Gefühl und ihren Glauben an die eigene Güte bedroht sehen.29 Sie sehen in ihm einen Verführer, der sie gegen ihren Willen dazu verlockt, sich auf Rechtfer­ tigungsversuche einzulassen, die sie selbst für überflüssig erachten. Als einen weiteren bedeutsamen Zug des Leonhardt hebt Schelling dessen Ironie hervor (vgl. 457, 460, 461).30 Sowohl als Verführer als auch als Ironiker weist Leonhardt eine Verwandtschaft mit Sokrates auf.31 Allerdings tritt dieser Sokrates in einer durch die Meinungen und die Voreingenommenheit der Gesellschaft seltsam verzerrten Gestalt auf, da diese, wie Schelling mehrfach betont, nur zu sehen vermag, was ihm fehlt, ohne ihn in dem, was ihn wirklich (positiv) ausmacht, erfassen

28 So z. B. seine Besorgnis um Sofies Zukunft oder seine Bewegtheit bei den Erzäh­ lungen der Frauen, die noch dadurch unterstrichen wird, dass man von ihm eine spöttische Reaktion erwartet, die er jedoch gar nicht zu erkennen gibt (vgl. KGA 1,5,52 f., 56 u. 74 f., 78, 82).

29 So charakterisiert Josef ihn als einen »denkendefn] reflectircndefn], dialektischefn], überverständigefn] Menschfen]« (KGA 1,5, 97). 30

2.

36).

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zu können.32 Er vermag sich den Familienmitgliedern wegen ihrer starken Vorbehalte in seiner Positivität gar nicht erst verständlich zu machen. Diese sind unfähig, zu sehen, dass Leonhardts Abneigung nicht der Religion oder dem Christentum als solches gilt, sondern nur, was er als »eure Religiosität« bezeichnet, nämlich die Gestalt, die die Erneuerung der Religion in diesem Kreis annimmt (460). Leonhardt ist das schlechthin nicht-integrierbare Element der Weihnachtsgesell­ schaft. Jedenfalls interpretiert Schelling Leonhardt eindeutig als einen gebildeten Verächter der Religion.33 Während Schleiermacher die Aus­ einandersetzung mit Schelling so führt, dass er diesen in Leonhardt bzw. den gebildeten Religionsverächter verwandelt und die Position der Philosophie dadurch schwächer macht, als sie zu sein braucht, behandelt Schelling die Figur des Leonhardt als Stellvertreter des Phi­ losophen. Die Rezension nimmt denn auch stellenweise den Charakter einer Apologie Leonhardts oder des gebildeten Verächters der Religion an, die für die Philosophen einstehen.34 Schelling macht den Leser dadurch darauf aufmerksam, wie in der Anlage des Gesprächs und der Konstellation der Figuren das Prinzip einer immanenten Kritik enthalten ist, das es zu effektuieren gilt. Darin steht er unter den bisherigen Kommentatoren der Weihnachtsfeier einzig da.35 Auffälligerweise geht Schelling kaum auf den Inhalt von Leonhardts Rede ein; stattdessen reflektiert er vielmehr über dessen Stellung in­ 32 Vgl. »so lasset ihr ihn unter euch nur auftreten als das, was er nicht ist, nämlich als Unchristlichen, nicht aber als das, was er ausserdem noch seyn könnte« (460). Es ist teilweise ironisch, wenn Schelling diese negative Charakterisierung übernimmt und Leonhardt bald als »ungläubige bald als »unchristlich», bald als »gebildeten Verächter» der Religion bezeichnet (vgl. 457, 460, 462). Die übrigen Mitglieder des Familienkreises könnte man hingegen als Leser der

Schelling versteht Ironie hier als »Liebe des Allgemeinen« und Abneigung gegen

alles Partikulare, das für sich die Allgemeinheit beansprucht oder sich als Allge­ meines aufdrängen will (460). Für die Gemeinde reicht es nicht aus, dass man sie »liebt und verstehn, sondern man muss sich ihren Standpunkt zu eigen machen, um durch sie anerkannt werden zu können. 31 Vgl. auch die Szene, in welcher er sich in sokratischen Fragen versucht (vgl. KGA 1,5, 67 f.). Ich kann denn auch der These von Lange nicht zustimmen, »daß eine dem Sokrates entsprechende Gestalt in der Weihnachtsfeier fehlt« oder dass sich »allenfalls« die »Figur des Josef [...] für eine solche Parallele eignete« (Lange (1975),

DIE FIGUR DES GEBILDETEN VERÄCHTERS

Reden deuten, die sich durch diese haben überzeugen lassen. Unter dieser Voraus­ setzung erweist sich Schellings Kritik des durch diesen Kreis wiederhergestellten

24

Christentums indes als eine Kritik der Reden selbst. Bereits im Glaubensbekentniss hatte Schelling sich gegen Schleiermacher der ge­ bildeten Verächter angenommen und ihrer Position einen schärferen Ausdruck

35

verliehen, als es Schleiermacher vermochte. Dadurch hat Schelling die das Gespräch durchwaltcnde fundamentale Spannung aufgedeckt. Ein Großteil der bisherigen Interpretationen ließe sich als Versuch

lesen, diese Spannung zu neutralisieren.

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III. DER GEBILDETE VERÄCHTER

nerhalb des versammelten Weihnachtskreises und über das Verhältnis, das dieser zu ihm einnimmt.36 Bereits indem er die Gesellschaft als Ganzes oder vielmehr bloß die Männer anredet, nimmt er Leonhardts Standpunkt ein, um von dessen Position aus die versammelte Gesell­ schaft insgesamt als Paradigma eines wiederhergestellten Christentums der Kritik zu unterziehen (vgl. 45 8).37 Gerade am Verhältnis, das die Familie zu Leonhardt einnimmt, tritt ihre Beschränkung nämlich am deutlichsten zu Tage. Versteht man Leonhardt als Stellvertreter Sokrates’, dann ließen Schellings Bedenken sich dahingehend deu­ ten, dass das von der Familie repräsentierte Christentum sich nur unter der Voraussetzung eines Ausschlusses des Sokrates bzw. der Philosophie überhaupt zu konstituieren vermöge. Sie muss die Philoso­ phie ausschließen, während die Philosophie das Christentum insofern anzuerkennen vermag, als es für sie Gegenstand der Erkenntnis ist, wenn nicht sogar Mittel der Selbsterkenntnis. Allerdings dürfte eine solche »objektives oder »neutrales Haltung von der Familie selbst als ein Ausschluss empfunden werden. In diesem Widerstand gegen die Philosophie, die auf Rechenschaft drängt, findet Schelling ein erstes Zeichen eines Mangels an Universalität in der Weihnachtsgesellschaft (vgl. 459,460). Gerade in diesem Punkt dürften die kunstvolle Form und der ironische Ton, die er für seine Rezension gewählt hat, die grundsätzlichen Fragen verschleiern, die Schelling mehr andeutet als ausspricht. Aber noch auf eine andere Weise lässt die Gesellschaft die »Nichtuniversalität [ihres] Wesens« erkennen (460): Schellings Persona hält dem Familienkreis vor, dass das Christentum »nicht den Weisen und Gebildeten dieser Welt [...], sondern den Unmündigen und 36 Der Rede Leonhardts ist der zentrale und zugleich bei weitem längste Absatz der Rezension gewidmet.

37 So vergleicht Schelling z. B. recht maliziös das durch die Familie repräsentierte wiederhergestellte Christentum mit dem »alten Schnitzwerk und d[er] künstliche[n] Beleuchtung des Hauses zu Bethlehem, welche die kleine Sofie veranstaltete« (460). Auch hier greift Schelling einen Teil des Gesprächs auf, um es gegen das Gespräch als Ganzes zu wenden. Dies muss letztlich auf die Frage führen, ob Schleiermacher absichtlich solche Elemente eingebaut hat, die sich kritisch gegen das Ganze richten lassen, oder ob er sich hingegen über das, was er tat, nicht ganz im Klaren war und der Text sich somit seiner Kontrolle entzieht.

2. DIE FIGUR DES GEBILDETEN VERÄCHTERS

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Einfältigen« offenbart wurde und macht damit auf die gemeinschafts­ stiftende Funktion desselben aufmerksam (459).38 Dadurch erinnert Schelling an die grundlegende und unaufhebbare Differenz zwischen »Gebildetem und »Volks.39 Das Christentum ist »Liebe des Volkes« als eine Anschauung, die dem Volk ein Dasein in Übereinstimmung mit sich selbst ermöglicht (459). Auch diese Kritik richtet sich allem voran an die Männer der Gesellschaft, die die Aufgabe übernommen hatten, das von der Gesellschaft verkörperte Christentum auf argu­ mentativer Ebene gegen die Kritik Leonhardts zu verteidigen. Obwohl Schelling mit Leonhardt zwar betont, dass das Christentum dem Volk offenbart wurde, so tadelt er jedoch schärfstens die Vermischung von »Gebildetem und >Volkim Zwiespalt«, dann steht die Erlösung wei­ terhin aus, als ein in einer weiten Zukunft entrücktes Versprechen (vgl. 462 f.).45 In letzterem Fall kann Christus nicht im eigentlichen Sinne als Erlöser bezeichnet werden. Hierzu bemerkt Schelling, dass er zwar »eben diese Idee der Erlösung für die Geburt des Christenthums selbst«« hält, dass es Ernst jedoch nicht gelungen sei, den Zustand des Erlöstseins in seiner Positivität zu erfassen, da er ihn nur negativ in Bezug auf den erlösungsbedürftigen Zustand zu bestimmen vermag (462). Die Idee der Erlösung bringt damit nur den Gegenstand einer Sehnsucht, nicht eine selbst erfahrene Realität zum Ausdruck.46 Der ironische Ton lässt leicht übersehen, dass Schellings Persona Ernst hier eine Blasphemie anlastet, indem er dessen Behauptung, dass wir im Selbstgenügsamkeit nicht aus, im Gegensatz zu Eduards Fassung dieses Begriffs, wonach der Abfall gerade die Grundlage des Erlösungsbedürfnisses darstellt.

45

Vgl. die von Schelling zitierte Stelle: »Wir selbst fangen dagegen im Zwiespalt an, und gelangen erst zur Uebereinstimmung durch die Erlösung, die eben nichts anders ist, als die Aufhebung jener Gegensäze, und eben deshalb nur von dem ausgehen kann, für den sie nicht erst durften aufgehoben werden« (KGA 1,5, 92).

46

Vgl. Schelling (1803), 149,176,180f.: Die Idee der Erlösung ist, negativ gedacht, das Bewusstsein der Sünde, positiv gedacht jedoch die wirkliche Befreiung von

Schelling (1803), 149 (m. H.). Ebd.,149. Vgl.ebd., 148 f. Anders gesagt: Die intellektuelle Anschauung ist ein Zustand der Seele, in welchem diese selbstgenügsam und somit nicht erlösungsbedürftig ist. Der »Abfall« im schellingschen Sinn schließt somit die Möglichkeit eines solchen Zustands der

77

derselben.

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III. DER GEBILDETE VERÄCHTER

Zwiespalt anfangen und weiterhin im Zwiespalt sind, mit der Leug­ nung, dass Jesus der Christ sei, gleichsetzt. Damit hat er den Kern von Schieiermachers Position berührt, der aus diesem Glauben spricht und denkt. Schellings Kritik richtet sich jedoch hauptsächlich gegen die Aneignung des Begriffs des Abfalls durch Ernst und Eduard. Zwar wird der Begriff von Ernst nicht genannt, der Sache nach ist er mit der Rede von einem >Zwiespalt< und einem Gegensatz »zwischen der Erscheinung und dem Wesen, der Zeit und der Ewigkeit«, die die »ursprüngliche Natur< von der menschlichen Natur unterscheidet, eindeutig gemeint (KGA 1,5, 92).47 Gerade diesen Punkt greift Eduard in seiner Rede auf und nennt dabei den Abfall auch beim Namen. Das Verständnis der Idee des Erlösers hängt nämlich grundlegend von dem Verständnis des Begriffs des Abfalls ab: Jene mit der menschlichen Natur gleichursprüngliche Diskrepanz verweist den Menschen für deren Aufhebung auf eine äußere Instanz. Zudem führt er den Begriff des Erdgeistes ein, dem die Aufgabe zufällt, den Gegensatz von Idee und Erscheinung aufzuheben. Die Kritik an der Rede Eduards fällt am schärfsten aus. Obwohl Schelling die Rede zunächst lobend einführt, als durch die Einfüh­ rung des Begriffs des Erdgeistes »in die Freyheit einer allgemeineren Anschauung den Gegenstand des Festes hinausrückend«, so muss er doch feststellen, dass der Begriff im Laufe von Eduards Ausführungen »auf eine fast magische Weise umgestaltet und zusammengezogen« wird, sodass man »mit abgewendetem Gesicht« wie Goethes Faust »ausrufen« möchte: »Weh ich ertrag dich nicht!« (463, vgl. Faust I V. 485).48 Die Erörterung der Rede wird denn auch hauptsächlich auf 47 Schelling stellt denn auch fest, dass die Rede Eduards »nicht ohne Beziehung auf seinen Vorgänger« ist (465). Schleiermacher selbst bemängelt bei einer »flüchtigen Wiederlesung«, dass die Rede Ernsts »nicht eigenthümlich genug herausträte son­ dern sich zu sehr in die dritte [Rede] hinein verlöre, was meine Absicht gar nicht

war« (F. D. E. Schleiermacher an H. Herz, 17. Februar 1806, KGA V,8, 470). 48 Auch der Riesengeist erfüllt zunächst mit Grausen (vgl. Glaubensbekentniss, V. 208/ 199). Wenn Schelling im Anschluss an das Ar«si-Zitat bemerkt, dass in Eduards Darstellung »der Geist, dem zuvor die Erde der Tempel und Leib, alles was lebt Or­ gan war, in die engen Mauern und dumpfen Hallen der Kirche sich zusammenzieht« und dass »es gewiss ein Geist war, der hier erschien, wenn auch nicht der Erdgeist«

3. SCHELLINGS BEDENKLICHKEITEN

79

die Ungereimtheiten und Widersprüche aufmerksam machen, die Edu­ ard sich durch jene abwandelnde Übernahme einhandelt. Wenn diese Unstimmigkeiten von Zuhörern leicht unbemerkt bleiben, können sie einem, »der diese Folge schriftlich vor sich hat, und ihr, verweilend, nachgehen konnte«, schon eher auffallen (463). Wir haben weiter oben gesehen, wie der Unterschied von Philoso­ phie und Religion sich für Schleiermacher insbesondere daran zeigte, dass von Begründung in der Theologie nicht auf dieselbe Weise die Rede sein kann, wie in der Philosophie. Vielleicht wäre es präziser zu sagen, dass die Theologie nicht so sehr darauf abzielt, die Religion zu begründen, als vielmehr nur die religiöse Erfahrung zu artikulieren. Diese Artikulation vollzieht sich auf der Grundlage der religiösen Erfahrung, setzt diese durchgängig voraus und findet in ihr den Maß­ stab für die Triftigkeit ihrer Aussagen. Nach Schleiermachers zentraler These von der Trennung von Gefühl und Reflexion kommt letzterer eine nur nachgeordnete Bedeutung zu: Sie gehört nicht wesentlich zum Gefühl und droht dessen ursprüngliche Reinheit fortwährend zu zerstören oder zu kontaminieren. Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Vorgehensweise dürfte sich Schellings Kritik der Rede Eduards noch am ehesten erschließen: Diese zielt nämlich darauf ab, sichtbar zu machen, dass Eduard die Begriffe des Abfalls und des Erdgeistes in einem grundsätzlich anderen Sinn gebraucht, als Schel­ ling selbst sie eingeführt hatte. Anders als Schelling versteht Eduard sie nämlich nicht als Vernunftbegriffe oder Ideen, zu denen in der Erfahrung niemals etwas damit Kongruierendes angetroffen wird, die somit nur »in Gedanken« existieren oder sofern sie eine »Gesinnung« hervorzubringen vermögen (464). Eduard hingegen greift auf dieselben

(463), dann klingt darin die Kritik Wiederporsts an Schleiermacher und Novalis an, wonach diese sich den Geist nur im Gegensatz zur Natur, zur Körperlichkeit und zur Sinnlichkeit denken können, der Geist ihnen somit zum Gespenst wird (vgl. V. 87-102,152-171, 274-300, 337-341/84-99,149-168, 265-284, 316-320). Übrigens verfällt Faust nur deshalb der Verführung des Mephistopheles", weil er sich einer Anschauung weder des Weltalls noch der sublunarischen Welt fähig erweist, gerade den Geist in der Natur nicht zu erkennen vermag und diese deshalb

als tot ansehen muss.

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III. DER GEBILDETE VERÄCHTER

zurück, um die an sich unartikulierte religiöse Erfahrung mitteilbar zu machen, die er als gegeben voraussetzt.49 Diese Differenz lässt sich an sämtlichen Kritikpunkten nachweisen, am deutlichsten jedoch an Schellings Kritik an Eduards Begriff der Kirche. Dieser schickt er folgende Vorbemerkung voraus: »Denn einige üben das wohl sonst, dass sie sich erst ein Wort nur als poetisch, oder in anderer und höherer Bedeutung, als der gewöhnlichen zugeben lassen, hernachmals aber doch einen ganz unpoetischen Gebrauch davon machen, und alles, was sonst damit verknüpft wurde, wieder an dasselbe anknüpfen« (464). Mag es in der Tat zunächst auch scheinen, als ob Eduard die Kirche als Idee oder als bloß in Gedanken existierend einführt, so zeigt sich jedoch an den Folgerungen, die er mit jener »Idee« verbinden möchte, dass er darunter doch nur eine bestimmte »mensch­ liche Anstalt« versteht (464). Schelling konzentriert sich deshalb auf den Begriff der Kirche, weil Eduard diese als eine Anstalt versteht, durch welche der Erdgeist geschichtliche Realität erhält. Die Idee an sich ist ihm ungenügend, wenn nicht auch ihre Wirksamkeit in der Geschichte nachgewiesen werden kann. Das historische Gebilde »Kir­ che« kann indes nur unter der Voraussetzung als Erlösungsinstrument gelten, dass es auch wirklich vom Erlöser gestiftet wurde. Mit dieser Annahme steht oder fällt Eduards Ansicht, auch wenn er sie nicht mit vielen Worten aussprechen mag. Schelling hingegen interpretiert die Kirche als eine Idee, an welcher sich deren »erste Gründer« und »erste Erfinder« orientiert haben (SW V, 304; AA 11,6,170). Die von Eduard entwickelte Ansicht von der Kirche gründet somit erstem auf einer Verwechslung der Idee mit einem empirischen Begriff. Dies zeigt sich zweitens daran, dass für Eduard im Begriff der Kirche der Abfall impliziert ist, wie sich an seiner Interpretation derselben als eines »Mittel[s] der Wiedergeburt« zeigt (465). Die Kirche als Idee kann jedoch nicht als ein Mittel, sondern nur als Darstellung des Menschen an sich durch eine Gemeinschaft verstanden werden (vgl. 464). Einen weiteren Beleg findet Schelling, drittens, darin, dass die Kirche nach Eduard durch die »Gebildetejn] verleugne[t]« werden kann, während

49

Darauf hat auch Süskind hingewiesen (vgl. Süskind (1909), 279-283).

3. SCHELLINGS BEDENKLICHKEITEN

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die Frauen ihr durch »Empfindung« »um so inniger und ausschlies­ sender [...] anhangen« (464). Schließlich bemängelt er viertens, dass Eduard nicht hinlänglich den ursprünglichen Sinn des Begriffs »Kirche« beachtet habe, wie er beim Stifter des Christentums nachweisbar ist: Dieser orientiert sich an der ursprünglichen Bedeutung des Worts eKKÄrjaia im Sinne einer Versammlung des Volkes, wie noch Luther bewusst war, der es durch »Gemeine« übersetzt (vgl. 465). Die genannten vier Punkte treffen darin zusammen, dass Eduard einer besonderen Gemeinschaft eine universelle Bedeutung zuschrei­ ben möchte, die jedoch nur der Idee zukommt. Wenn nun Schellings Persona sich dazu auffordern lässt, seine eigene Ansicht zu äußern, und erklärt, dass er für eine »öffentliche, allgemeine, im Geist und Herzen eines Volkes lebende Religion« eintreten wolle, dann ist auch diese zivile Religion als eine Idee aufzufassen, die nur in Gedanken oder in der Gesinnung existiert (465). Das Christentum, wie es durch die Weihnachtsgesellschaft verkörpert wird, zeichnet sich jedoch durch einen Rückzug von der Öffentlichkeit und vom Politischen in die In­ nerlichkeit aus; das Politische wird fast gänzlich unsichtbar gemacht.50 Dies setzt eine Spaltung von Politik und Religion voraus, die selbst nur Folge des Christentums ist und als selbstverständlich gilt. Allerdings mag es befremden, dass der Redner hier einerseits Eduard den Mangel an Allgemeinheit seiner Kirche vorwirft, weil diese auf einer Spaltung von Religion und Politik und von Kirche und politischem Gemein­ wesen aufbaut, andererseits jedoch die von ihm selbst befürwortete Form der Religion als die Religion eines Volkes bestimmt, eines Volkes unter anderen Völkern. Insofern könnte auch diese Religion keinen Anspruch auf Allgemeinheit erheben. An Eduards Begriff der Kirche zeigt sich die Auswirkung seines Begriffs des Erdgeistes. Der Kern von Schellings Kritik ist denn auch in der Zurückweisung der umwandelnden Übernahme dieses Begriffs zu SO Auch dieser Einwand greift eine Bemerkung Leonhardts auf, vgl. KGA 1,5, 66. Beachte indes den >Zusaz< zur ebenfalls 1806 erschienenen Zweitauflage der Reden über die Religion (KGA 1,12, 313-318). Zu Schlciermachers politischen Ansich­ ten ist immer noch lesenswert: W. Dilthcy (1964): »Schleiermachcrs politische Gesinnung und Wirksamkeit«. In: Ders., Z«r Preussischen Geschichte. Stuttgart / Göttingen (Gesammelte Schriften XII), 3. Aufl., 1-36.

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III. DER GEBILDETE VERÄCHTER

suchen. Eduard operiert mit einem verkürzten Begriff des Erdgeistes, indem er ihn erstens dem >Menschen an sich< gleichsetzt und darüber die Natur vergisst. Seine Auffassung des Begriffs verrät bereits dadurch einen partikularen Gesichtspunkt, dass er die Natur, die jungfräuliche, ewig blühende Mutten, ausschließt (vgl. 464).51 Dadurch hat Eduard die Absicht der Naturphilosophie verkannt, den Gattungsdünkel zu untergraben, indem sie die mit dem Selbstbewusstsein gleichursprüng­ liche Täuschung aufdeckt, wonach das Ich Alles und alles Nicht-Ich wesenhaft tot ist (vgl. AA 1,8, 365).52 Die Streichung der Natur aus dem Begriff des Erdgeistes wirkt sich zweitens auf Eduards Begriff des Menschlichen und des Geistigen aus. Eduard versteht den Erd­ geist als den Geist, wie er sich unter der Bedingung der »endlichefn] beschränktefn] sinnlichefn] Natur« offenbart, während der Geist für sich genommen über die Natur erhaben ist und nur von außen in diese hineinkommt (KGA 1,5, 94). Der »Mensch an sich« ist demnach nichts »anders, als der Erdgeist selbst«, d. h. die völlig vergeistigte menschliche Natur oder die an sich ungeistige sinnliche Natur, wie sie in Bezug auf den Geist gesetzt ist (KGA 1,5, 94). An seinem Gebrauch des Erdgeistbegriffs lässt sich feststellen, dass Eduard der Identität von Natur und Geist als der zentralen These der Naturphilosophie keinerlei Beachtung geschenkt hat, eine These, die Schelling nicht nur bereits im Glaubensbekentniss, sondern in fast allen seinen Schriften, zuletzt Dadurch streicht Eduard gerade die in den Erzählungen der Frauen immer wieder betonte Bedeutung der Mutter für das Weihnachtsfest. Allerdings wäre gegen das Verständnis der Frauen von der Mutter Gottes einzuwenden, dass ihr keine wirkliche »symbolische Bedeutung« zukommt, sondern dass »nur die moralische Beziehung« geblieben ist (AA 11,6, 167). In der Tat wird dieses Symbol in der Weihnachtsfeier vorwiegend im moralischen Sinne aufgefasst, als Musterbild, das die weiblichen Tugenden auf eine vorbildliche und gesteigerte Weise vor Augen führt. Insofern ließe die Invektive Wiederporsts, dass die Religion unwiederbringlich mit Moral infiziert worden ist, sich auch gegen diese Auffassung von der Mutter Gottes wenden (vgl. V. 113-124/110-121). Dies wäre umso schlagender, als gerade Schleiermacher eine Trennung zwischen Religion und Moral befürwortet hatte. 52 Dies geht noch deutlicher aus dem Brouillon zur Ethik hervor, in welchem der Erdgeist im Zusammenhang der Stufenfolge Familie-Staat-Kirche Erwähnung findet und die Kirche als Mittel einer vollständigen »Ethisirung« des Individuums gedacht wird (Schleiermacher (1981), 77). 51

3. SCHELLINGS BEDENKLICHKEITEN

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noch in der Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zur verbesserten Fichte’schen Lehre von 1806, derart nachdrücklich herausgestellt hatte, dass sie schlechthin nicht zu übersehen war. Man kann nämlich nicht behaupten, dass Eduard an irgendeiner Stelle ein ernsthaftes Argument gegen diese These aufbietet; vielmehr operiert er mit dem Gegensatz von Geist und Natur, als ob dieser sich von selbst verstehe. Dadurch bringt er sich zugleich um die Möglichkeit, sich eine auf Mythologie gegründete Religion verständlich zu machen. Zu­ gleich interpretiert er drittens den Abfall als einen absoluten Gegensatz zwischen Idee und Erscheinung, sodass dessen mögliche Aufhebung schlechthin unbegreiflich erscheint. Die genannten drei Punkte laufen viertens in seiner Auffassung der Geschichte zusammen.53 Während der Erdgeist einzig »[i]n Christo [...] zum Selbstbewußtsein in dem Einzelnen sich ursprünglich gestalteft]«, kann er für die menschlichen Individuen nur dadurch zu einer reellen Macht werden, dass er sich in einer bestimmten Gemeinschaftsform wirksam zeigt, die Eduard als die Kirche bestimmt (KGA 1,5, 96). Nur mittels der Institution der Kirche vermag der Erdgeist als Prinzip einer ganz vergeistigten Gemeinschaft sich in der Geschichte allmählich durchzusetzen. Diese geschichtstheologische Ansicht ist jedoch zum einen nur schwer mit den Ansichten der anderen Mitglieder der Weihnachtsgesellschaft zu vereinigen, die sich vielmehr jeglicher institutionellen Einhegung der Religion widersetzen. Zum anderen unterläuft Eduard dadurch, wie wir gesehen haben, eine Verwechslung zwischen der Kirche als Idee und als tatsächlich existierender Institution. Schließlich fragt es sich, ob der Erdgeist als das »allgemeine Bewußstsein der Menschheit« sich nach Eduard ausschließlich in einer Institution oder im Kollektiv realisieren kann oder ob er auch im Einzelnen zur Selbsterkenntnis zu gelangen vermag. Eduard scheint sich hierüber nicht ganz im Klaren zu sein. Dieselbe Spannung zeigt sich in Eduards Begriff der Kirche selbst: Diese bestimmt er als Darstellung des »Menschen an sich«, wonach das Erlösungsbedürfnis durch die Kirche aufgehoben wäre oder als

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Vgl. auch die Bemerkung in Schleiermachers Rezension von Schellings Vorlesungen,

KGA 1,4,474.

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III. DER GEBILDETE VERÄCHTER

bereits »aufgehoben, weggewischt und getilgt, als wäre es nie gewe­ sen, angesehen werden« müsste (465). Dies verträgt sich jedoch nicht mit seiner Bestimmung der Kirche als bloßes Instrument der Erlö­ sung (vgl. 465). Wenn die Kirche wirklich die Erlösung leistet, dann muss sie den Einzelnen selbst zum Erdgeist zurückführen und ihn so zur Selbstgenügsamkeit bringen. Vielleicht sind die von Schelling aufgedeckten Unstimmigkeiten in der Rede Eduards dessen Stellung zwischen den Frauen und Leonhardt zuzuschreiben: Das Christentum der Frauen findet seinen Ausdruck in einer symbolischen Anschauung der Mutter und des Kindes, in welcher sie ihre eigene Existenz auf eine erhöhte Weise gespiegelt finden und die sie deshalb mit einem Gefühl der innigsten Freude erfüllt. Leonhardt beharrt hingegen auf einer Rechtfertigung, die die Probe der Reflexion zu bestehen vermag. Dadurch findet Eduard sich in der Zwitterstellung, den gegenläufigen Forderungen dieser beiden ungleichartigen Adressaten gerecht werden zu müssen (vgl. 459). Im Durchsprechen der drei Reden hat sich für Schelling eine ge­ meinsame Tendenz herausgeschält, die in dem Mangel an Universalität zu sehen ist (vgl. 466). Damit wiederholt Schelling den bereits in seinen Vorlesungen von 1803 formulierten Subjektivismus-Vorwurf. Schelling verzichtet jedoch darauf, diese Kritik an Schleiermacher persönlich zu richten, da gerade die Wahl der gesprächsweisen Darstellung es dem Leser nicht erlaubt, zu wissen, »welche Gedanken der hegt, welcher selbst nicht erscheint« (466). Der Leser bleibt im Ungewissen über die eigentliche Intention, die der Verfasser mit der Wahl dieser Form verfolgt. Deshalb schlägt Schelling an dieser Stelle die Hypothese vor, dass Schleiermacher nur »die bestimmten und wirklichen religiösen Ansichten von Individuen unserer Zeit mit ihren Gegensätzen und Ei­ genheiten darzustellen die Absicht hatte« und »eben durch den reinen Ausdruck subjectiver Denkweisen am meisten die Gewalt objectiver Darstellung erprobt« (466). In diesem Fall wäre es Schleiermachers Absicht, durch die Darstellung >subjectiver Denkweisem den Leser dazu zu veranlassen, selbst die Mängel derselben einzusehen und ihn auf diese Weise dazu zu zwingen, sich selbst eine Ansicht zu erarbeiten die die Probe einer objektiven Prüfung zu bestehen vermag. Indem er in dieser Rezension die einzelnen Reden durchgesprochen und

3. SCHELLINGS BEDENKLICHKEITEN

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auf ihre Unzulänglichkeiten hingewiesen hat, hat Schelling selbst ein Beispiel davon gegeben, wie man auf produktive Weise mit einem Text umgehen kann, der zunächst wegen der Unmöglichkeit, die Absicht des Verfassers aus ihm zu ermitteln, unlesbar schien. Dazu braucht er sich weder mit einem oder mehreren der Gesprächsteilnehmer und deren Ansichten zu identifizieren noch mit dem Verfasser dieses Gesprächs, indem er die von den drei männlichen Rednern geäußer­ ten Ansichten zu einer zusammenhängenden Ansicht zu integrieren versuchen würde. Wenn es zwar eine kluge hermeneutische Regel sein mag, die Ansichten der Figuren eines Dialogs nicht ohne eingehende Prüfung mit den Ansichten des Autors gleichzusetzen, so ist doch nicht schlechthin auszuschließen, dass ein Autor sich der Dialogform bedient, um seine eigenen Ansichten auf indirekte Weise mitzuteilen. Schellings Rezension ist jedoch unter der Voraussetzung geschrieben, dass Schleiermacher sich des Dialogs nicht in dieser Absicht bediene. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass die durchaus lobende Rezension sich in eine äußerst scharfe Kritik verwandeln würde, falls jene Vor­ aussetzung sich als falsch erwiese. Die Kritik, die bislang nur Ernst und Eduard traf, würde sich dann direkt gegen Schleiermacher richten: Dieser hätte sich aufgrund eines Mangels an historischer Reflektiertheit zum Befürworter einer subjektiven oder bloß zeitgemäßen Gestalt des Christentums gemacht. Dadurch weiß Schelling Schleiermacher unter Zugzwang zu setzen: Entweder bekennt dieser sich zu der von Ernst und Eduard vertretenen Ansicht, setzt sich dadurch jedoch der von Schelling an deren Adresse formulierten Kritik aus, oder aber er distanziert sich von ihnen, ist dann genötigt, sich jetzt in eigenem Namen zu den thematisierten Probleme zu äußern. Das von Schelling gewählte Verfahren zielt somit darauf ab, Schleiermacher zu einer klaren Aussage zu Fragen von einigem Gewicht einzuladen. Mit der Weihnachtsfeier-Rezension hat der >stille Krieg< zwischen Schelling und Schleiermacher keineswegs bereits sein Ende gefunden. So wird Schleiermacher sich fünfzehn Jahre später auch im eigenen Na­ men äußern, indem er für die Glaubenslehre die lehrmäßige Form des Traktats wählt und dadurch die Verantwortung für die darin entfalteten Behauptungen auf sich nimmt. Schelling hingegen führt seinerseits in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Mythologie und der Offenba­

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III. DER GEBILDETE VERÄCHTER

rung den Dialog mit Schleiermacher in der Auseinandersetzung mit der Glaubenslehre weiter. In der Tat dürften sowohl der Inhalt als auch die Intention der schellingschen Spätphilosophie, insofern sie die doppelte Gestalt einer Philosophie der Mythologie und einer Philosophie der Offenbarung annimmt, schärfere Konturen gewinnen, wenn man sie mit der schleiermacherschen Glaubenslehre als einer radikalen Alterna­ tive in Beziehung setzt. Die Differenz ließe sich vorläufig auch dadurch erläutern, dass wir uns jetzt einem umfangreichen, wenn auch unvoll­ endet gebliebenen und daher erst posthum veröffentlichten Gespräch zuwenden, das durch die Anlage, der zufolge die Gesprächsteilnehmer sich an allen wichtigen christlichen Festen unterhalten sollten, eine auffällige äußere Ähnlichkeit mit Schleiermachers Weihnachtsfeier aufweist,54 Diese Ähnlichkeit dürfte Schelling selbst frappiert und ihn mit dazu bewegt haben, die Weihnachtsfeier-Rezension zu verfassen. Der Gehalt des für das heutige Empfinden befremdlichen Gesprächs dürfte sich vielleicht am ehesten erschließen, sobald man es als einen solchen Gegenentwurf liest.

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Übrigens bedauerte Schleiermacher nachträglich, dass er Die Weihnachtsfeier nicht als Teil einer »Collection über alle Feste und über die Sacramente angelegt« hatte (E D. E. Schleiermacher an J. G. Gaß, 4. Februar 1806, KGA V,8, 456, vgl. auch den Brief an G. A. Reimer, 10. Februar 1806, KGA V,8, 466).

IV. Der Lehrer Für Tom Geboers

Sowohl am Ende, als auch zu Beginn, sowie unterschwellig durch die ganze Weihnachtsfeier-Rezension hindurch, hat Schelling nachdrück­ lich genug auf die Unklarheit über Schleiermachers eigene Position hingewiesen, die sich aus dessen Entscheidung für die indirekte Art der Mitteilung ergibt. Während die Reden über die Religion jedoch bereits in ihrem Untertitel die Adressaten benennen, an welche sie sich vorzugsweise richten, bietet die Weihnachtsfeier dem Leser dies­ bezüglich kaum einen Anhaltspunkt. So bleibt dieser im Ungewissen darüber, ob die von den Redenden befürwortete Wiederherstellung des Christentums in erster Linie den Gebildeten zugedacht ist oder ob auch die Nicht-Gebildeten sich diese zu eigen machen sollen. Die Unklarheit über die Adressaten spiegelt sich zudem in der von den Redenden vorgetragenen Ansicht selbst, die Schelling als eine seltsame »Mischung« bezeichnet, wenn nicht gar als eine unmögliche Synthese.1 An den in der Weihnachtsfeier auftretenden Figuren bemängelt er nämlich insbesondere die Mischung von Bildung und Natürlichkeit: Falls es Schleiermachers Absicht sei, das Christentum in seiner An­ gemessenheit für das Volk wiederherzustellen, dann würde sich die Bildung der Figuren in dieser Hinsicht als störend erweisen; ziele er jedoch auf gebildete Leser, dann würde in dem Gespräch, sehen wir von der verzerrenden Darstellung durch die Figur des Leonhardts ab, gerade die Philosophie als höchste Stufe der Bildung fehlen. Die Gesprächsteilnehmer sind zwar zum einen zu gebildet, um noch dem Volk zugerechnet werden zu können, lassen zum anderen jedoch kein außergewöhnliches Verständnis der Philosophie erkennen. Die von 1

Schelling (1807), Sp. 459.

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IV. DER LEHRER

den Redenden dargestellte Synthese muss »unmöglich« heißen, weil sie die Adressaten des Christentums selbst nicht beachtet zu haben scheinen: »Denn nicht den Weisen und Gebildeten dieser Welt hat es Gott offenbaret, sondern den Unmündigen und Einfältigen, d. h. dem allgemeinen Verstände und Sinne der Menschen«.23Deshalb ist »die erste Gesinnung des Christen [...] die Liebe des Volkes«? Das wiederhergestellte Christentum schließt sich in der Familie ein und dadurch von dem Volk ab, während es dennoch allgemeine Gültigkeit für sich in Anspruch nimmt, indem die Redenden »das Fest durch die allgemeinsten und höchsten Ideen zu verherrlichen such [en]«.45Es ließe sich denn auch kaum zu einer wahren Volksreligion ausweiten, weil ihm eine »von aller Eigenheit befreyte, völlig objective Grundlage« fehlt, »auf die man jederzeit zurückkommen kann«? Das Christentum, für welches die Weihnachtsgesellschaft eintritt, stellt somit eine unmög­ liche Synthese zwischen Partikularisierung und Universalisierung dar. Gerade um Schleiermacher vor dem Vorwurf zu bewahren, über seine eigene Position nicht zur Klarheit gelangt zu sein, erwägt Schelling am Ende der Rezension, ob jener nicht hauptsächlich »die bestimmten und wirklichen religiösen Ansichten von Individuen unserer Zeit mit ihren Gegensätzen und Eigenheiten darzustellen die Absicht hatte«, um so durch die »Gewalt objectiver Darstellung« die Unhaltbarkeit »subjectiver Denkweisen« vor Augen zu führen.6 Das Gespräch könn­ te somit höchstens insofern als gelungen angesehen werden, als man Schleiermacher die Absicht zuschreibt, er wolle seine Zeitgenossen, so wie sie seien, nämlich in ihrer sonderlichen Mischung aus Bildung und Mangel an Bildung darstellen, um dadurch den Lesern die Inkon­ sistenz dieser Charaktere vor Augen zu führen. Auch dann wäre zur philosophischen Klärung dieser Widersprüchlichkeit allerdings noch eine strikte Trennung von Volk und Philosophen erforderlich.

IV. DER LEHRER

Als Schellings Persona sich nun dazu herausfordern lässt, sich darüber zu äußern, »was [er] selbst dann statt der Kirche wollen könnte«, schlägt er die Idee einer »öffentlichefn], allgemeine[n], im Geist und Herzen eines Volkes lebende[n] Religion« vor.7 Es mag durchaus als erstaunlich gelten, dass gerade der notorisch unpolitische Schelling Schleiermacher in erster Linie einen Mangel an politischer Reflektiertheit vorwirft. Die Religion der Innerlichkeit, die hier als wiederhergestelltes Christentum präsentiert wird, abstrahiert gänzlich von ihren politischen Auswirkungen. Deren Unhaltbarkeit tritt denn auch besonders hervor, sobald man sie mit der Politik wieder in Be­ rührung bringt, welche sie nach Kräften auszublenden sucht. Als ein formales Kriterium einer solchen öffentlichen Religion führt Schelling an, dass diese als Ausdruck der »bewusste[n] Gemeinschaft« zu gel­ ten hat, die »die Menschen eben so frey vereinigen [muss], wie jene ursprüngliche [Gemeinschaft] des Universums die Dinge vereinigte, so dass keine Eigenheit durch die des anderen unterdrückt wird, kein innerstes Gefühl gegen das des anderen sich zu sträuben hat«, ohne dass dies hieße, dass die Unterscheidung von Gebildeten und Volk dazu aufgehoben werden müsste.89Die »ursprüngliche Gemeinschaft der Dinge« bezieht sich auf den Erdgeist als den »allgemeinefn], ih­ nen unbewusstefn] Geist der Dinge«, der diese zu einem allgemeinen Organismus verbindet, sodass sie nur als Glieder desselben wirklich frei sind, da sie durch ihre Zugehörigkeit zu demselben keinen Zwang erleiden? Der Erdgeist vermag »durch die Menschheit offenbar [zu] werden«, nur sofern die menschliche Gemeinschaft einen organischen Charakter aufweist.10 Diesem Kriterium genügt die von den Redenden als >Kirche< bezeichnete Gemeinschaft nicht. Da man sich von dieser trennen kann, ohne dadurch aufzuhören, im »öffentlichen Verein« 7

2

Schelling (1807), Sp. 459.

3 4

Ebd., Sp. 459. Ebd., Sp. 459. - Diese Tendenz spiegelt sich bereits in der Form, da nicht nur die ganze Erzählung sich in der Geschlossenheit einer bürgerlichen Wohnung abspielt, sondern sogar die Erinnerungen sich ausschließlich in geschlossenen Räumen bewegen.

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Ebd., Sp. 459.

6 Ebd., Sp. 466.

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9 10

Ebd., Sp. 465. - In Philosophie und Religion spielt die Unterscheidung von Volks­ religion und Mysterien eine entscheidende Rolle (vgl. SW VI, 39 und Scheerlinck (2017), 161,338, 371,389 f„ 394, 406). Ebd., Sp. 465. - Dieses Kriterium findet übrigens bereits in der ersten Formulierung der Neuen Mythologie Erwähnung: »Keine Kraft wird mehr unterdrükt werden, dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister!« (AA 11,6, 484).

Ebd., Sp. 465. Ebd., Sp. 465.

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IV. DER LEHRER

oder im Staat zu leben, so nehmen die Redenden einen Gegensatz zwischen beiden an, die nur durch ein hierarchisches Verhältnis beider stabilisiert werden könnte." Eine vereinigende Funktion kann die Religion der Innerlichkeit deshalb nicht beanspruchen, weil sie nicht sein kann, ohne auszuschließen oder zu unterdrücken.11 12 Der Grund der Unterdrückung ist darin zu suchen, dass die Redenden die Reli­ gion ganz in die Innerlichkeit führen, statt sie auf etwas Objektives zu stützen, das für mehrere Auslegungen offen und nicht auf eine einzig richtige Auslegung festgelegt ist. Sofern sie sich zugleich als eine streitende versteht, die auf Missionierung ausgeht, mag es als berechtigt gelten, dass sie selbst unterdrückt wird, da sie auf diese Weise die Einheit des Volkes untergräbt.13 Der Einwand gegen Schleiermacher wird durch das anders aus­ gerichtete Argument ergänzt, dass der Staat nicht diejenige Einheit hervorzubringen vermag, derer er zu seiner Existenz dennoch bedarf. Die Volksreligion unterscheidet sich nicht nur von einer Religion, die sich in die Innerlichkeit zurückzieht, sondern sie zeichnet sich zudem dadurch aus, dass sie jeglicher staatlicher Organisation vorausliegt. Politische Einrichtungen für sich genommen vermögen kein Volk hervorzubringen, sondern dieses findet seine Einheit erst in einer Religion. Die eigentliche Aufgabe des Gesetzgebers besteht denn auch nicht so sehr darin, ein System von positiven Gesetzen zu entwerfen als vielmehr durch die Einführung von Sitten, Gebräuchen und Mei­ nungen ein Volk hervorzubringen.14*Dabei weist die Volksreligion einen doppelten Bezug auf: Zum einen vermögen die Nicht-Gelehrten nur in der Zugehörigkeit zu einem Volk die Basis ihres Glücks zu finden, zum anderen bildet diese die Grundlage einer Hingabe an den Staat, der dieser zu seinem Erhalt und seiner Verteidigung bedarf. Auf diese Weise vermag die Volksreligion das Glück der Nicht-Gelehrten

11 Ebd., Sp. 465. 12 Ebd., Sp. 465. 13 Vgl. den Gebrauch, den Schelling hier von der Lehre der Ecclesia tnumphans, militans und oppressa macht (ebd., Sp. 466). 14 Vgl. J.-J. Rousseau (1959-1995): CEuvres completes. Hrsg, von B. Gagnebin / M. Raymond. Paris Bd. 3 {Du contrat social, II, 12), 394.

IV. DER LEHRER

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und das Gedeihen des Staates miteinander zu vereinigen. Die Volksre­ ligion ist jedoch zwangsläufig mythologisch. Gerade die eleusinischen Mysterien, die Schelling des Öfteren als paradigmatisches Beispiel heranzieht, belegen, dass die Mythologie selbst eine Deutung erlaubt, die sie zu einer Vorbereitung zur Philosophie geeignet macht, wie jene in den Mysterien gefunden werden kann (vgl. SW XIII, 495, 502, 506, 512 f., 522-524, 528 f.). Wenn Schelling somit auf die Notwendigkeit einer Neuen Mythologie hinweist, so handelt es sich dabei von vorn­ herein um eine solche, die im Hinblick auf jenes Ziel zu entwerfen ist. Der Neuen Mythologie ist somit ein zweifacher Zweck eingeschrie­ ben: Zum einen hat sie aus solchen Vorstellungen zu bestehen, die ein Volk zustande zu bringen vermögen, zum anderen muss sie sich zum »Vorhof« der Mysterien eignen (SW VI, 69). Dieser zweifache Zweck ist indes durchaus praktisch. Er wird durch eine theoretische Absicht ergänzt, nämlich, das historische Phänomen der Mythologie als eine »Symbolik der Ideen« sichtbar zu machen (SW VI, 67). Die Erklärung der Mythologie als eine >Symbolik der Ideen« erlaubt selbst eine zweifache Auslegung: Zum einen liefert sie im Hinblick auf die Vergangenheit den Leitfaden, demnach die mythologischen Vorstel­ lungen zu interpretieren sind, wenn in ihnen ein vernunftgemäßer Sinn freigelegt werden soll. Zum anderen ist sie im Hinblick auf die Zukunft zu lesen, indem der Nachweis von Ideen in den »Gestalten der Natur« eine mythologische Darstellung derselben erlaubt, die Naturphilosophie somit zur Grundlage einer Neuen Mythologie zu werden vermag (SW VI, 67; vgl. AA 11,6,178 f., SW VI, 571 f.). Nun scheint Schelling selbst sich nicht sonderlich um die Aufstel­ lung einer solchen »öffentlichen, allgemeinen Religion« bemüht zu haben, sondern sich auf den Nachweis zu beschränken, wie Schleier­ macher dieses Ziel verfehlt oder die Notwendigkeit dieser Aufgabe gar nicht erst gesehen hat. Höchstens die Formel einer »öffentlichen, allgemeinen Religion« kann an die Idee einer Neuen Mythologie er­ innern, die indes ebenso wenig zur Ausführung gelangte, sondern als bloßes Desiderat hingestellt wurde. Nun zeichnet die Neue My­ thologie sich dadurch aus, dass sie sich als »sinnliche Religion« in erster Linie an das Volk richtet (AA 11,6, 484). Sie kommt zunächst einem Bedürfnis des Volkes entgegen, das sich im Staat nicht frei zu

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IV. DER LEHRER

fühlen vermag.15 Dennoch erfüllt sie zugleich auch ein Bedürfnis der Gelehrten, die ihrer ebenso bedürfen. Die Neue Mythologie dient dazu, die Trennung von Gelehrten und Volk, von Aufgeklärten und NichtAufgeklärten, wenn nicht aufzuheben, so doch in eine vernunftgemäße Form zu bringen. Das Zusammentreffen von Volk und Gelehrten in der Neuen Mythologie braucht indes noch keineswegs zu besagen, dass beide diese auch auf dieselbe Art zu verstehen haben. Während die sinnliche Darstellung dem Volk die Ideen näherbringt, dürften die Gelehrten sich in der sinnlichen Darstellung vorzugsweise auf diese richten (vgl. SW VI, 69 f.). Damit drängt sich die Frage auf, weshalb auch und gerade die Gelehrten nicht weniger als das Volk einer Neuen Mythologie bedürfen. Ist es, dass die gelehrte Tätigkeit den Gelehrten nicht ganz zu erfüllen vermag und sie gerade in Be­ zug auf existentielle Fragen ratlos lässt? Vermag die Hingabe an die Wissenschaft somit nicht ihre ganze Existenz zu erfassen, sodass sie diesbezüglich nicht weniger und nicht anders als das Volk auf eine äußere Instanz verwiesen bleiben? Dies hieße, dass Schelling gerade in diesem Punkt mit der schleiermacherschen Kritik der Gebildeten zusammenträfe. Oder sei der Begriff des Gelehrten hier so weit gefasst, dass er neben den Gebildeten auch die Philosophen umfasst, wie dies gerade bei Schleiermacher der Fall ist, da dessen Betonung der Religion insbesondere auf einen blinden Fleck im Selbstverständnis der Philo­ sophen aufmerksam machen soll? Wie dem auch sei, Schleiermachers Kritik hätte wenigstens das Verdienst, auf ein mögliches Defizit der Wissenschaft oder der Philosophie aufmerksam zu machen, nämlich, dass diese keine besondere Lebensweise zu begründen vermögen. Von der Art, wie man diese Fragen beantwortet, hängt es ab, wie man Schleiermachers Reden und Gespräch interpretieren und wie man die Frage nach Schleiermachers Intention beantworten wird. Wenn das Unternehmen einer Neuen Mythologie in erster Linie durch das spannungsvolle Verhältnis von Volk und Gelehrten motiviert ist, so gehört das als Clara bekannt gewordene Gespräch in den Umkreis 75

Anders als Spinoza scheint Schelling dem Volk mehr als nur Gleichgültigkeit entgegenzubringen. Vgl. B. d. Spinoza an H. Oldenburg, Ep. 30 (B. d. Spinoza (1925): Opera. Hrsg, von C. Gebhardt. Heidelberg, Bd. 4,166).

1. FORM UND WESEN

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dieses Vorhabens, da jenes Verhältnis nicht nur in dessen Zentrum ausdrücklich zum Gegenstand der Erörterung erhoben wird, sondern für das Verständnis der Schrift als Ganzes grundlegend ist.16 Wenn Schelling Schleiermacher zudem wegen unzureichender Klarheit über die Tragweite jenes Verhältnisses kritisiert, lässt sich Clara als Gegen­ entwurf zu dessen Weihnachtsfeier lesen.

1. Form und Wesen Das gemeinhin als Clara bekannte Gespräch hat bislang kaum je philosophische Beachtung gefunden. Drei Gründe können für die­ se Nichtbeachtung angeführt werden. Sie mag erstens der Tatsache geschuldet sein, dass Schelling sich in dieser Schrift paranormalen Phänomenen wie dem Hellsehen (clairvoyance), der Hypnose (dem tierischen Magnetismus) und dem Glauben an Geister, Gespenster und Wunder zuwendet, was dem ohnehin bestehenden Verdacht des Irra­ tionalismus zusätzlichen Nährboden bietet.17 Möchte man Schelling diesem Verdacht gar nicht erst aussetzen, so dürfte es sich empfehlen, diese Schrift lieber gleich ganz zu ignorieren.18 Ein zweiter Grund, der der philosophischen Auseinandersetzung mit dieser Schrift ent­ gegensteht, ist in der fast allgemeinen Annahme zu suchen, sie sei 16 Das Verhältnis von Volk und Gelehrten wird übrigens auch in einer Abhand­ lung angesprochen, die der Herausgeber Clara als Einleitung vorangestellt hat (vgl. SW IX, 7). 17 Am schärfsten hat diesen Verdacht wohl Georg Lukäcs artikuliert: G. Lukacs (1962): Die Zerstörung der Vernunft. Neuwied am Rhein / Berlin (Werke Bd. 9), 114-172. 18 Vgl. P. L. Oesterreich (2002): »Die Freiheit, der Irrtum, der Tod und die Geister­ welt. Schellings anthropologischer Übergang in die Metaphysik«. In: Schellings philosophische Anthropologie. Hrsg, von J. Jantzen / P. L. Oesterreich. StuttgartBad Cannstatt (Schellingiana 14), 23-25, 41-43. A. Grau (1997): »Clara. Über Schellings gleichnamiges Fragment«. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 11 591, 609. Allerdings ändert sich daran nur wenig, wenn man Clara dadurch zu retten sucht, dass man zwar eine Interpretation »jenseits allen Obskurantismus’, als philosophisch-konzeptionelle Schrift«, vorschlägt, dazu jedoch alle jene Cha­ rakteristika der Schrift, die einem als >obskurantistisch< anmuten, gar nicht erst

thematisiert.

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IV. DER LEHRER

unter dem unmittelbaren Eindruck von Carolines Tod verfasst worden und wäre, des unbestrittenen literarischen Werts ungeachtet, als ein document humain zu lesen, das den Leser zum Zeugen der Trauer­ arbeit des Philosophen macht. Der noch nicht verwundene Schmerz über den unwiederbringlichen Verlust dürfte die Hinwendung zu den besagten Phänomenen wenigstens noch entschuldigen.19 Wenn man der Schrift ausnahmsweise philosophische Bedeutung zugebilligt hat, dann nur, insofern man in ihr die Darstellung von Schellings Unsterb­ lichkeitslehre gesucht hat.20 Obwohl für diese Lehre auf respektable Vorläufer zu verweisen wäre, so wird sie doch heute gemeinhin als obsolet angesehen, da »die Voraussetzungen dafür, einen solchen Ge­ danken für notwendig zu halten, in den letzten hundertfünfzig Jahren geschwunden« wären.21 Der ausschließlichen Ausrichtung an der Unsterblichkeitslehre steht indes entgegen, dass der Begriff der Un­ sterblichkeit in Clara nur höchst spärlich und nie ohne Vorbehalte verwendet wird (vgl. SW IX, 7, 17 f., 43, 48, 87).22 Wie sich in der Folge zeigen wird, erweist die Rubrizierung der Schrift unter dem 19 Die therapeutische Funktion des Werkes haben betont: X. Tilliette (1970): Schelling. Une philosophie en devenir. Paris, Bd. 1,556. Ders. (1999): Schelling. Biographie. Paris, 189. A. Gulyga (1989): Schelling. Leben und Werk. Stuttgart, 255. Grau (1997), 591 f. V. Müller-Lüneschloß (2012): Über das Verhältnis von Natur und Geisterwelt. Ihre Trennung, ihre Versöhnung, Gott und den Menschen. Eine Studie 2U F. W.J. Schellings >Stuttgarter Privatvorlesungen< (1810) nebst des Briefwechsels Wangenheim - Niederer - Schelling der Jahre 1809/1810. Stuttgart-Bad Cann­ statt (Spekulation und Erfahrung II,19), 277 f. Dem wäre indes entgegenzuhalten, dass Clara selbst eher eine Abneigung gegen solche Phänomene verspüren lässt (vgl. SW IX, 66, 78 f„ 80). 20 H. Beckers (1865): Die Unsterblichkeitslehre Schelling’s im ganzen Zusammen­ hänge ihrer Entwicklung dargestellt. München. F. Hoffmann (1879): »Schelling’s Unsterblichkeitslehre«. In: Ders., Philosophische Schriften. Erlangen, Bd. 6,457-472 K. Frantz (1879-1880): Schellings positive Philosophie. Nach ihrem Inhalt wie nach ihrer Bedeutung für den allgemeinen Umschwung der bis jetzt noch herrschenden Denkweise dargestellt. Cöthen, Bd. 3,123-137.

L. Siep (1999): »Ethik ohne Unsterblichkeit?«. In: Unsterblichkeit. Hrsg, von F. Niewöhner / R. Schaeffler. Wiesbaden (Wolfenbütteier Forschungen Bd. 86), 126. 22 Dies wurde auch von Jean-Fran^ois Marquet beobachtet, vgl. J.-F. Marquet (1984)»Avant-propos«. In: F. W. J. Schelling: Clara ou Du lien de la nature au monde des

1. FORM UND WESEN

Titel »Unsterblichkeit der Seele< sich vielmehr als besonders geeignet, die in ihr verhandelte Sache dem Blick zu entziehen. Das Thema der Clara wäre etwas präziser aufgefasst, wenn man es, wie es der Herausgeber richtig angegeben hat, als das Problem des Übergangs von der Natur zur Geisterwelt bestimmen würde. Allerdings ist diese Angabe selbst noch derart vage, dass sie mehr Fragen aufwirft, als beantwortet. Sofern die Rückbindung an eine achtenswerte Tradition sich jedoch als ein Versuch erweist, das Befremdliche der Schrift durch Rückführung auf Bekanntes zum Verschwinden zu bringen, mag man in ihr einen dritten Grund der Nichtbeachtung sehen. Die den drei genannten Gründen zugrundeliegende Haltung ist vielleicht noch am prägnantesten durch Wilhelm Dilthey zum Ausdruck gebracht, der von dem Gespräch Clara bemerkt, dass es »wie aus fernen Zeiten zu uns herüber spricht« oder dass es sogar vielmehr kaum noch zu uns spreche, da es durch die »praktische Richtung unserer Zeit« und »die resolute Lebensfreudigkeit derselben« so weit von uns abgerückt er­ scheine und einen »Inhalt« thematisiert, »der unserem Gedankenkreis so fernsteht«, dass es uns schwer falle, es überhaupt noch ernst zu nehmen.23 Um einen Zugang zu dieser Schrift zu finden, deren für den heuti­ gen Leser befremdlicher Charakter keineswegs geleugnet werden soll, empfiehlt es sich, zunächst mit äußerlichen Erwägungen zu beginnen. So erweist sich die fast nie angezweifelte Datierung auf das Jahr 1810 gerade deshalb als ein besonderes Hindernis für die philosophische Auseinandersetzung, weil ihr die Annahme zugrunde liegt, nur der schmerzhafte Verlust könne erklären, weshalb der Philosoph sich den Themen Tod und Unsterblichkeit zuwendet, die gemeinhin als die zentralen Themen der Schrift angesehen werden.24 Dadurch wird die 23

21

esprits. Paris, 12.

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24

W. Dilthey (1972): »Aus Schellings philosophischem Nachlaß«. In: Ders.: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Aufsätze und Rezensionen aus Zeitungen und Zeitschriften 1819—1874. Göttingen (Gesammelte Schriften XVI), 407—409. Vgl. dazu E. Zeller (1873): Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz,

München, 306-308. Zur Datierungsfrage, vgl. F. Steinkamp (2002a): »General Introduction«. In: F.W.J. Schelling: Clara, or, On Nature’s Connection to the Spirit World. New York, xiii-xvii. Für eine präzise und abwägende Diskussion der verwickelten

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IV. DER LEHRER

Schrift zu einem Fremdkörper im schellingschen CEuvre erklärt und ein intrinsischer Zusammenhang mit demselben und dessen tragender Absicht geleugnet.25 Außer der genannten Annahme hat man bislang, soweit ich weiß, keine weiteren Gründe angeführt, die eine Datierung auf 1810 stützen könnten.26*Die Beobachtung, dass das von Oetinger Publikationsgeschichte, vgl. F. Steinkamp (2002b): »Schelling’s Clara - Editors’ Obscurity«. In: The Journal of English and Germanic Philology 101, 478-496. Nachdem K.F.A. Schelling Clara wegen des angeblichen Zusammenhangs mit dem dritten Teil der Weltalter auf 1816—17 datiert hatte, schlug Hubert Beckers aufgrund von Parallelen mit den Stuttgarter Privatvorlesungen eine Datierung auf 1810 vor (vgl. Beckers (1865), 23 f.). Seitdem hat sich der Konsens etabliert, dass die Erzählung unter dem unmittelbaren Eindruck von Carolines Tod entstanden ist. Sämtliche Autoren des von Alexandra Roux herausgegebenen Sammelbandes nahmen die Datierung auf 1810 als gänzlich selbstverständlich an (vgl. A. Roux (2014a): Schelling. Philosophe de la mort et de l’immortalite. Dtudes sur »Clara* Rennes, 24,40f., 51, 66f., 98, 140 ...).- Walter E. Ehrhardt kommt das Verdienst zu, als erster die geläufige Datierung angezweifelt zu haben. Vgl. W. E. Ehrhardt (2004): »Schellings Lehre über Fortdauer und künftiges Leben. Einige Bemerkungen zum Schluß der Vorlesung Einleitung in die Philosophie«. In: System - Freiheit Geschichte. Schellings Einleitung in die Philosophie von 1830 im Kontext seines Werkes. Hrsg, von H. Zaborowski / A. Denker. Stuttgart-Bad Cannstatt (Schelhngiana 16), 185 f. Ders. (2009): »Schellings Lehre über Fortdauer und künftiges Leben. Neue Belege über die falsche Datierung des Clara-Gesprächs und deren fatalen Folgen«. In: Negativität und Positivität als System. Hrsg, von E. Hahn Berlin (Berliner Schelling Studien 9), 97. Ders. (2012): »Schellings Clara«. In: Die Wahrheit meiner Gewissheit suchen. Theologie vor dem Forum der Wirklichkeit. 25

Hrsg, von U. Irrgang / W. Baum. Würzburg). So z. B. Grau (1997), 591. A. Roux (2014b): »Presentation du volume«. In- Roux (2014a), 11.

26 Im Kalender von 1810 finden sich diesbezüglich keinerlei Angaben, obwohl die Arbeit sich über längere Zeit hingezogen haben muss, da sich noch im Nachlass »Mehrere Handschriften« befanden (H. Fuhrmans (1959-60): »Dokumente zur Schellingforschung IV. Schellings Verfügung über seinen literarischen Nachlaß«. In: Kant-Studien 57, 18 f.). Ein frappierender Fall einer ähnlichen Fehldatierung begegnet uns beim Gedicht Das himmlische Bild, das auf 1809 datiert wurde, weil die erste Strophe sich offenkundig auf den Tod Carolines bezöge, während die folgende Erwähnung des Begriffs des Bösen diese Datierung weiter zu unterstützen schien Eine briefliche Äußerung Friedrich Schlegels erlaubt jedoch eine zweifelsfreie

Datierung auf Dezember 1799 (vgl. dazu: Kunz (1955), 58 f„ 61 u. AA 11,6,528 f.) _ Wie Ehrhardt nachgewiesen hat, gab es schon 1800 biographische Gründe, sich

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entlehnte und seit 1810 von Schelling wiederholt zur Erläuterung herangezogene Gleichnis der >Essentifikation< der Melissenpflanze gerade in Clara fehlt, muss jedoch Zweifel an der Berechtigung jener Datierung aufkommen lassen.27 Als gänzlich grundlos muss die be­ sagte Annahme jedoch erscheinen, sobald man beachtet, dass die in Clara artikulierten Fragen Schelling in einer ganzen Reihe von Werken beschäftigt haben, die er sämtlich vor 1810 wenn nicht geschrieben, so doch wenigstens konzipiert und geplant hat. Der augenfälligste Beleg für eine frühe Beschäftigung mit den Themen Tod und Unsterblichket findet sich in der Schrift über Philosophie und Religion von 1804, deren vierter Abschnitt mit »Unsterblichkeit der Seele* überschrieben ist (vgl. SW VI, 60-64).28 Dort wird die Unsterblichkeitslehre zum eigentlichen Inhalt der Mysterien erklärt, die wenigstens eine Zeit lang erlaubte, dass Philosophie und Religion »Ein gemeinschaftliches Heiligthum« hatten, wenn sie auch durch das Christentum öffentlich gemacht und dadurch von den Bedingungen getrennt wurde, die für ein angemessenes Verständnis derselben unabdingbar sind (SW VI, 16, vgl. 66, 69). Aus der Behandlung des Themas im vierten Abschnitt geht hervor, dass Schelling ihm für die Besinnung des Philosophen auf seine eigene Aktivität eine herausragende Bedeutung zuschreibt, da es die Unterscheidung von Philosophen und Nicht-Philosophen am schärfsten hervortreten lässt.29 Liegt nun mit Philosophie und Religion in der Tat, wie Schelling im Vorbericht erklärt, lediglich die Umarbeitung eines symbolischen Gesprächs vor, das als »Folge« des Bruno einer »Reihe von Gesprächen« angehört, dann muss dieses

mit den genannten Themen zu beschäftigen, da in kurzer Zeit sowohl Schellings Bruder Gottlieb als auch die Tochter Carolines gestorben waren (vgl. Ehrhardt (2009), 96. Ders. (2012), 127 f.). 27 Diese Beobachtung hatte Ehrhardt zuerst dazu geführt, die übliche Datierung in Frage zu stellen (vgl. Ehrhardt (2004), 185 f. u. (2009), 97). Für ein weiteres Argument für eine Datierung vor 1809, siehe Scheerlinck (2017), 136 Antn. 28 Seltsamerweise wird diese Schrift in Beckers’ Darstellung der schellingschen Unsterblichkeitslehre kaum berücksichtigt (vgl. Beckers (1865), 97 f.). 29 Vgl. auch die gleichzeitigen Würzburger Vorlesungen, die die Unsterblichkeitsichre als unmittelbare Folge der Lehre von der Sittlichkeit präsentieren (SW VI, 565-568

(§315)).

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IV. DER LEHRER

Thema bereits in jenem Gespräch behandelt sein, dem »schon seit längerer Zeit, zur öffentlichen Erscheinung nur die letzte Vollendung [fehlte]« (SW VI, 13).30 Dieses zweite Gespräch lag somit im April 1804 weitgehend fertig vor, wurde von Schelling jedoch nie veröffent­ licht. Aber bereits im Bruno selbst wird erklärt, dass die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele zum Inhalt der neu zu entwerfenden 30

Die Annahme, dass die »Unsterblichkeit der Scclc< das zentrale Thema dieses zweiten Gesprächs bildet, findet eine zusätzliche Stütze in dem Titel, den Schelling ihm zu geben gedenkt, als er 1811 zeitweilig die Veröffentlichung erwägt: Der Traum des Kirsos (vgl. Schelling (1965), 50). Die Handschrift erlaubt jedoch auch die Lesart: Der Traum desKirsas. An diesem Titel ist zweierlei bemerkenswert: Zum einen erinnert er an das Somnium Scipionis, in welchem Scipio nicht nur eine Lehre von der Unsterblichkeit vorträgt, sondern diese mit einer Betrachtung der Planetenund Sternenwelt verbindet. Der Traum wird nicht nur von einem Staatsmann erzählt, sondern richtet sich auch an Staatsmänner, um zu zeigen, welches Glaubens diese bedürfen, um sich ganz ihrer Aufgabe hingeben zu können. Clara hingegen richtet sich an das Volk und zeigt, welches Glaubens dieses bedarf, um unbeschadet der politischen Wirren im Staat ein Leben ohne Zwang und Entfremdung zu führen. Zum anderen hat Schelling, wie von Ehrhardt bemerkt, den Namen des Kirsos von Hamann übernommen, der erzählt, wie Sokrates »[n]ach seinem Tode [...] noch einem Chier, Namens Kyrsas erschienen seyn [soll], der sich unweit seines Grabes niedergesetzt hatte und darüber eingeschlafen war«, und sich mit ihm im Traum unterhalten hatte (J. G. Hamann (1950): Sämtliche Werke. Hrsg, von J. Nadler. Wien, Bd. 2, 81, vgl. Ehrhardt (2004), 198). Hamann hat die Sage wohl in der Suda gefunden (Suidas (1853): Suidae Lexicon Graece et Latine. Hrsg, von G. Bernhardy. Halle / Braunschweig, Bd. 2, 845, s. v. Sokrates). Diese Variante wird auch nacherzählt von Francois Charpentier (vgl. F. Charpentier (1668): La Vie de Socrate. Paris, 226 f. Ders. (1693): Das Ebenbild Eines wahren und ohnpedantischen Philosophi, Oder: Das Leben Socratis. Halle, 153) und von Ernst von Lasaulx, einem Schüler Schellings (vgl. E. v. Lasaulx (1857): Des Sokrates Leben Lehre und Tod nach den Zeugnissen der Alten dargestellt. München, 118; zur Sonderstellung der Sokrates-Schrift in Lasaulx’ CEuvre, siehe: S. Peetz (1989): Die Wiederkehr im Unterschied. Emst von Lasaulx. Freiburg / München, 97-127). Nach Cicero hat Antisthenes sogar eine Schrift mit dem Titel Kyrsas verfasst (vgl. H. Dittmar (1912): Aischines von Sphettos. Studien zur Literaturgeschichte der Sokratiker. Berlin, 63, 71). Eine weitere Variante, ohne Traum und mit einem namenlosen Lakedaimonier statt eines Chiers, findet sich im 17. Sokratikerbrief (vgl. J. C. Orelli (1815): Collectio Epistolarum Graecarum. Leipzig, 25). Ich danke Bernhard Gajek, Johannes von Lüpke und Harald Steffes für Hinweise zu Hamann und Perihan Göcergi für die Hilfe beim Entziffern von Schellings Handschrift.

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Mysterien gehört, deren »Sinnbilder und Handlungen« Polyhymnio in der Folge zu beschreiben hatte (AA 1,11, 357). Diese Lehre lässt sich jedoch erst auf der Basis der im Bruno dargestellten Naturphilosophie errichten. Bereits die mit Bruno angefangene Gesprächsreihe kreiste somit um das Problem eines Übergangs von einer Philosophie der Natur zu einer Philosophie der Geisterwelt. Ein weiterer Beleg für die Beschäftigung mit diesem Problem findet sich nicht nur in der etwa gleichzeitig mit dem Bruno im Kritischen Journal der Philosophie veröffentlichten programmatischen Abhandlung Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt als Ganzes, sondern insbesondere in deren Schluss, wo Schelling nicht nur eine in Phi­ losophie und Religion ebenso erwähnte Passage des Phaidon zitiert, sondern zudem eine äußerst verkürzte Auslegung des den Kern der Mysterien ausmachenden Ceres-Mythos vorlegt, die ihre Entspre­ chung in der Darstellung der Lehre der Mysterien im Anhang der Schrift von 1804 findet (vgl. AA 1,12, 473 f.; SW VI, 60, 67-70). Dabei sind die Schlusszeilen der genannten Abhandlung das Einzige, das von einem »Entwurf zu einer Ceres« an die Öffentlichkeit gelangte, wor­ über Schelling A. W. Schlegel in einem Brief vom 29. November 1802 berichtet (AA III,2,510). Der Plan selbst ist jedoch wesentlich älter: Nicht nur erklärt Schelling im besagten Brief selbst, dass er diesen Plan bereits »seit ziemlicher Zeit« gefasst hat - der Plan kann sogar auch recht genau auf den Oktober 1798 datiert werden, als Schelling dem Dichter Johann Diederich Gries »auf der unvergeßlichen Reise zwi­ schen Dresden und Jena« diesen Plan »vorphantasirt oder vorgefaselt« hat (Pütt II, 364).31 In dem Brief an Gries von Ende 1815 bezeichnet Schelling zudem die gerade erschienene Abhandlung Ueber die Gott­ heiten von Samothrace als »erste[n] Schritt zur Ausführung [dieses] Plans« (Pütt II, 364). In der Tat hat das Thema Schelling auch nach 1809 noch umgetrieben, wie nicht nur aus der erwähnten Abhandlung hervorgeht, sondern zudem aus der »allegorischen Vision«, die das Zur Ceres-Dichtung, vgl. Kunz (1955), 67-71; Scheerlinck (2017), 307, 373 f. Nach Christoph Siegrist soll der Ceres-Mythos den Kern des von Schelling geplanten Naturgedichtes bilden (vgl. C. Siegrist (1962): Proserpina. Ein griechischer Mythos

in der Goethezeit. Zürich, 138-141).

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IV. DER LEHRER

Jacobi-Denkmal beschließt und vollendet und in welcher er Jacobi in der Geisterwelt umherirrend darstellt (vgl. AA 1,18,188-230). Dieser Vision liegt das Prinzip zugrunde, dass in der Geisterwelt Gleiches sich zu Gleichem gesellt und sie hat ihre Spitze darin, dass Schelling Jacobi so darstellt, dass er keine ihm Gleichenden findet.32 Darüber hinaus kommt Schelling auch in Vorlesungen wiederholt auf das Thema zu sprechen, während es zusammen mit der Lehre von den Mysterien eine zentrale Stelle in der Philosophie der Offenbarung einnimmt.33 Belege wie die angeführten mögen als Nachweis genügen, dass eine Datierung auf 1810 keineswegs zwingend ist, da es des Todes Carolines nicht bedürfte, um Schelling auf das Thema Tod und Unsterblichkeit zu führen. Dieses ergibt sich vielmehr unmittelbar aus dem Prinzip seines Denkens.34 Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen kann es somit als gesi­ chert gelten, dass Clara, wenigstens nicht aufgrund des Themas als ein Fremdkörper im schellingschen CEuvre gelten darf. Vielmehr liegt mit 32

Der Grund, den K.F. A. Schelling für seine Datierung der Clara auf 1816-1817 anführt, dürfte nur insofern zutreffend sein, als man in der Tat annehmen kann, dass dieses Thema im dritten Teil der Weltalter verhandelt worden wäre. Nimmt man an, dass die späte Datierung auch durch die Sorge, eine Verbindung mit dem Tod Carolines könne biographische und sentimentale Auslegungen veranlassen eingegeben wurde, dann hat diese Sorge sich, wie die spätere Rezeption zeigt, als durchaus berechtigt erwiesen.

33

Vgl. F. W. J. Schelling (1989): Einleitung in die Philosophie. Hrsg, von W. E. Ehrhardt. Stuttgart-Bad Cannstatt (Schellingiana 1), 141 f.; SW XIII, 411-530. - Beachtet man zudem die Erklärung im sog. Ältesten Systemprogramm, wonach die Physik oder Naturphilosophie als Grundlage einer »Ethik« gilt, sowie die zentrale Rolle

der Mysterien in der Philosophie der Offenbarung, so muss man sagen, dass das Problem Schelling von Anfang an bis zum Ende beschäftigt hat. Der emphatischen Erklärung, wonach die Naturphilosophie nur den einen Teil der Philosophie dar­ stelle, ist zudem als Schellings eigentliche Absicht zu entnehmen, auf dieser Basis einen ideellen Teil oder eine Philosophie des Geistes zu errichten (vgl. z. B. AA 1,12, 460; 1,17, 26 f., 123; 1,18, 142).

34

Freilich mag Carolines Tod Schelling dazu bewegt haben, sich das Gespräch wieder vorzunehmen (vgl. Ehrhardt (2012), 140 f.). Jedenfalls verspricht Schelling seinem Verleger Anfang 1811 erneut, Bruno und dessen Folge würden »zwar zu Ostern vielleicht nicht mehr, doch gleich nachher fertig« sein (F. W. J. Schelling an J. F. Cotta 30. Januar 1811 (Schelling (1965), 50).

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diesem Text nur das am weitesten gediehene, wenn auch unvollendet gebliebene Ergebnis eines Unternehmens vor, das Schelling über Jahre hinweg in Atem gehalten hat. Die Schrift gehört somit einem Komplex von Arbeiten an, die Schelling jedoch nicht zu vollenden vermochte und die deshalb der Öffentlichkeit weitgehend verborgen blieben.35 Die langjährige Bemühung mag zu der Annahme berechtigen, dass Schelling keineswegs durch einen äußeren Anlass auf das Thema der Clara gebracht zu werden brauchte. Vielmehr dürften wir durch eine genauere Beschäftigung mit dieser Schrift näheren Aufschluss über die eigentliche Intention Schellings erhalten. Dass diese Bemühung jedoch nicht zu solchen Ergebnissen führte, die Schelling der Publikation für würdig hielt, mag anzeigen, dass er sich vor Schwierigkeiten ganz besonderer Art gestellt sah. Dass insbesondere die Darstellungsweise und das Finden der geeigneten zeitgemäßen »Sinnbilder und Handlungen< ihm Schwierigkeiten bereitete, zeigt sich daran, dass er sich an den unterschiedlichsten Formen versuchte, um seine Überlegungen zur Darstellung zu bringen: das Gedicht (Ceres), die Abhandlung (lieber das Verhältnis der Naturphilosophie, Philosophie und Religion, Ueber die Gottheiten von Samothrace),36 der Dialog, die Erzählung (Clara). Die Schwierigkeit, die geeigneten Sinnbilder zu finden, mag auf den besonderen Charakter der Lehre zurückzuführen sein: Es handelt sich nämlich nicht um ein in Sätzen mitteilbares propositionales Wissen, sondern um eine eminent praktische Lehre, die so konzipiert sein 3y Vielleicht lässt sich daraus, dass Schelling keine dieser Ausarbeitungen vollenden und veröffentlichen konnte, der Öffentlichkeit dennoch signalisieren wollte, dass seine Philosophie auf eine Unsterblichkeitslehre hinauslaufe, erklären, weshalb er Beckers die einmalige Erlaubnis erteilte, sic zu »veröffentlichen«. Vgl. H. Beckers (1836a): Mittheilungen aus den merkwürdigsten Schriften der verflossenen Jahrhun­ derte über den Zustand der Seele nach dem Tode. Zweites Heft. Augsburg, 175 f. Ders. (1836b): Ueber Carl Friedrich Göschel’s Versuch eines Erweises der persönli­ chen Unsterblichkeit vom Standpunkte der Hegel’schen Lehre aus. Hamburg, 24.

Ferner: Plitt III, 103, 105-108; Beckers (1865), 62 f. 36 Außerdem teilt K. F. A. Schelling als Einleitung zu Clara seinem Publikum den Beginn einer »physikalischefn]« Abhandlung mit, die den Titel Darstellung des Uebergangs von der Philosophie der Natur zur Philosophie der Geisterwelt tragen sollte, einen Titel, der an den Titel der Abhandlung im Kritischen Journal anklingt (SW IX, 3-10, bes. 3,5).

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IV. DER LEHRER

muss, dass sie unterschiedliche Adressaten berücksichtigt, um in die­ sen eine ihrer jeweils besonderen Natur entsprechende und zuträgliche Veränderung zu veranlassen (vgl. SW VI, 39, 69f.). Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine genauere Datierung nicht möglich sei. Nun können erwägenswerte Gründe dafür angeführt werden, dass Clara die im Vorbericht von Philosophie und Religion namhaft gemachte »Folge« des Bruno sei.37 Den gewichtigsten Grund mag man wohl darin sehen, dass der Erzähler der Clara in der Tat die Aufgabe übernimmt und zur Ausführung bringt, die im Bruno dem Polyhymnio zugewiesen worden war. Das naheliegendste und auch schwerwiegendste Bedenken, das sich gegen die These einwenden ließe, mag wohl sein, dass die Rede von einer »Reihe von Gesprächen, deren Gegenstände« zudem im ersten Gespräch dieser Reihe »zum voraus bezeichnet sind«, die Erwartung weckt, dass auch im zwei­ ten Gespräch dasselbe Personal in einem ähnlichen Setting auftreten wird (SW VI, 13).38 Zudem erklärt Schelling im besagten Vorbericht 37

Ehrhardt hat durch eine Reihe sich gegenseitig verstärkender Gründe dafür ar­

gumentiert, dass die Schrift auf 1803/04 zu datieren sei und dass es sich dabei um die im Vorbericht von Philosophie und Religion erwähnte Folge des Bruno handele. Er führt drei Typen von Argumenten an: Erstens weist er nach, wie die in Clara beschriebenen Örtlichkeiten mit ziemlicher Genauigkeit der Stadt Murrhardt und Umgebung entsprechen, wo Schelling sich im September-Oktober 1803 und Ostern 1804 aufhielt. Zweitens hat Ehrhardt auf biographische Details und auf Bezugnahmen auf aktuelle Begebenheiten, allem voran der Reichsdeputationshaupt­ schluss von 1803, hingewiesen, die jene Datierung unterstützen. Schließlich hat er gezeigt, dass die im Bruno dem Polyhymnio für das Folgegespräch zugewiesene Aufgabe genau dem entspricht, was in Clara verhandelt wird.

38

Diese Diskrepanz mag Ehrhardt zu der Vermutung bewegt haben, dass »nur ein P. im Manuskript stand, das der Herausgeber ergänzte, denn als Pfarrer gibt sich der Erzähler im Clara-Gespräch nirgends zu erkennen« (Ehrhardt (2012), 131). Dieses

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ausdrücklich, dass der »Stoff« auch im »zweiten Gespräch in dieser Folge« in einer »symbolischen Form« dargestellt wurde (SW VI, 13). Diese Erwartung wird nun durch Clara nicht nur insofern enttäuscht, als keiner der Gesprächsteilnehmer des Bruno in ihr einen Auftritt hat, sondern auch dadurch, dass sich Clara zugleich durch die Form nicht unerheblich von Bruno unterscheidet. Dieses Bedenken ließe sich nur zerstreuen, wenn sich Gründe dafür auffinden ließen, weshalb das Personal des Bruno in Clara nicht präsent zu sein scheint und weshalb Schelling die erzählten Gespräche in eine Rahmenerzählung eingebettet hat. Nehmen wir die Identität von Pfarrer und Polyhymnio an, dann ließe sich unschwer erklären, weshalb Anselmo, Alexander, Bruno und Lucian in der Erzählung nicht auftreten: Diese wären dann als Zuhörer gegenwärtig zu denken.39 Befremdlich wäre dann höchstens, dass die Folge des Bruno, nicht wie dieses Gespräch, die Form eines Dialogs zwischen den genannten Gesprächsteilnehmern aufwiese, sondern dass Schelling ihr die Form einer langen Rede nur eines derselben gegeben hätte. Im Bruno selbst finden sich indes einige Hinweise, die eine solche Möglichkeit nicht von vornherein ausschließen: Als Anselmo Bruno damit beauftragt, »davon [zu] rede[n], von welcher Art der Philosophie er glaube, daß sie in den Mysterien gelehrt werden müsse«, scheint er von diesem eine Rede zu erwarten, in der er seine Ansicht zusammen­ hängend entfaltet (AA 1,11, 357). Auch in dem Gespräch am Vortag, das die Gesprächsteilnehmer auf Anselmos Veranlassung wieder auf­ nehmen, scheinen diese Ansichten in einer zusammenhängenden Rede dargestellt zu haben. Jedenfalls wird die Meinung Alexanders erst jetzt einer kritischen Prüfung, in Form eines sokratischcn Dialogs, unterzogen. Zudem geht es auf Brunos eigene Initiative zurück, dass äufden Brief an J. F. Cotta vom 19. August 1814 verwiesen (Schelling (1965), 88; s u. Anm. 64). Der eigentliche Grund für Ehrhardts Hypothese scheint deshalb m der auffälligen inhaltlichen Übereinstimmung zwischen dem »zweiten Gespräch« und Clara zu suchen zu sein (vgl. Ehrhardt (2012), 129-138). - Wenn >ch m der Folge weiterhin vom »Pfarrer« spreche, geschieht dies in erster Lime, um das in de.

>P.< wäre als Abkürzung von »Polyhymnio« zu lesen. Nach einem brieflichen Hinweis von Ehrhardt hat Schelling auch seinen »Epilogus zu dem Epilogus des Ths.< mit »-p-« unterzeichnet (Schelling (1977), 273, vgl. BuD 1,374 u. Plitt II, 104) Dafür, dass ein Philosoph durchaus Gründe haben kann, in der Persona eines

Geistlichen aufzutreten, mag der Hinweis auf Rousseaus Profession de foi du Vicaire Savoyard genügen. Dafür, dass Schelling selbst sich zeitweilig mit dem Gedanken trug, eine Lehre vorzutragen, die er »einem wirklichen Prediger in den Mund legefn]« wollte, um selbst »nur als Herausgeber [sjich an[zu]stelle[n]«, sei

103

39

Erzählung agierende »Ich« vom Erzähler zu unterscheiden. Im Bruno bleibt es offen, ob Polyhymnio abwesend oder nur als schwebender Zuhörer gegenwärtig ist (vgl. AA 1,11,290, 356).

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IV. DER LEHRER

dieser Teil des Gesprächs wenigstens teilweise nicht »in stetiger Rede, sondern, wie ihr wohl sonst pflegt, fragend oder auch antwortend«, also in der Form eines Dialogs stattfindet (AA 1,11, 358). Auch dann noch geschieht Brunos Darstellung der »Körperwerdung der Ideen« und der Verfassung des »sichtbaren Universumfs]« in der Form einer »stetigen RedeRahmen< und der in diesen gestellten inneren Entwicklung der Figur der Clara. Der symbolische Charakter der Erzählung besteht somit darin, dass die erwähnten »Umgebungen und Verhältnisse« zur Deutung der Reden der Hauptfiguren beitragen, während ihre Reden und ihr Verhalten umgekehrt auf die historische Konstellation Licht werfen sollen.42 Wahrend im dramatischen Dialog der Verfasser ganz hinter den Fi­ guren verschwindet und selbst nicht erscheint, erhält der Erzähler eines erzählten Dialogs eine besondere Präsenz, umso mehr, wenn er, wie in diesem Fall, selbst am Geschehen und an den Gesprächen teilnimmt. Die Erzählung ist somit weder Ausschmückung noch bloße Staffage, sondern muss vielmehr für die Interpretation berücksichtigt werden. So verbietet es die Form nicht nur, die Aussagen einer der Gesprächsteilnehmer ohne vorherige strenge Prüfung Schelling als 41 42

40 Im Fall des Reinhold-Gesprächs sind allerdings in einem »Gespräch im Gespräch» wie redaktionelle Kommentare eingefügt, während der Verfasser sowohl dem Bruno als auch dem Reinhold-Gespräch einige Anmerkungen hinzugefügt hat.

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Die formale Ähnlichkeit mit Schleiermachers Weihnachtsfeier ist jedenfalls bemer­ kenswert, vgl. Dilthey (1972), 408; Tilliette (1999), 195. Man kann also nicht sagen, dass der Pfarrer »die bestimmten und wirklichen religiösen Ansichten von Individuen unserer Zeit mit ihren Gegensätzen und Eigenheiten darzustellen die Absicht hatte«; vielmehr sollen Typen zur Darstellung

gelangen oder die Darstellung soll eine symbolische sein (Schelling (1807), Sp. 466).

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IV. DER LEHRER

dessen eigene Meinung zuzuschreiben. Sogar im Fall des Arztes und des Pfarrers können wir nicht darauf vertrauen, dass die von ihnen vertretenen Ansichten auch ihrer eigenen Meinung entsprechen, da sie ausdrücklich die Absicht verfolgen, eine solche Ansicht zu entfalten, die Clara in einen Zustand der geistigen Gesundheit zurückzuführen vermag, und sie bei der Mitteilung ihrer Ansichten somit durchgängig diese praktische Absicht im Auge behalten. Zudem lassen sie sich durch diese Absicht darin bestimmen, was sie sagen und was sie nicht sagen. Sie tragen ihre Ansichten nicht deshalb vor, weil sie von de­ ren Wahrheit überzeugt sind, sondern weil sie sie für heilsam oder erbaulich erachten. Für das Verständnis der symbolischen Form der Clara und die in sie eingesenkte Intention sind wir jedoch nicht bloß auf Beobach­ tungen der formalen Eigentümlichkeit angewiesen, sondern das mit der Form verbundene Problem wird in der Schrift selbst zu einem expliziten Thema der Reflexion erhoben.43 Dies geschieht in einer privaten Unterredung zwischen Clara und dem Pfarrer, die, wäre die Schrift zur Vollendung gelangt, im Zentrum des Werkes gestanden hätte.44 Obwohl der selbstreflexive Bezug dieser Unterredung zur Schrift als Ganzes seit längerem beobachtet worden ist, hat man in der Interpretation die Intention derselben jedoch dadurch verfehlt, dass man die Aussagen Claras und des Pfarrers gleicherweise direkt auf die Schrift Clara angewendet hat, während sie vielmehr nur e contrario Aufschluss über die Absicht der Erzählung bieten.45 Anlass zu dieser Unterredung ist Claras Klage über die Unverständlichkeit philosophischer Bücher im Allgemeinen und über die »erschrecklichen Kunstworte« im Besonderen, die sie bedauern lässt, dass »sich dasselbe 43

44

43

Für einen entsprechenden Hinweis bezüglich der formalen Differenz zwischen Bruno und dem Reinhold-Gespräch, vgl. AA 1,11,159 f. Die Unterredung wird zwischen dem langen Gespräch am Weihnachtsabend und einem Gespräch, das »auf der Grenze von Winter und Frühling« stattfand, einge­ schoben (SW IX, 92). Unverständlich ist, wie Alexander Grau diesen Teil als einen »seltsamen Einschub« bezeichnen konnte, »der inhaltlich nicht ganz in sein Umfeld passen will«, da er vielmehr von grundlegender Bedeutung für das richtige Verständnis der Erzählung als Ganzes ist (Grau (1997), 594).

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gar nicht auf allgemein menschliche Weise sagen [läßt]« (SW IX, 86).46 Auch dem Pfarrer ist es unangenehm, »den Philosophen [...] als ein wahrer abgemarterter Ecce homo dem Volke vor[ge]stellt« zu sehen und er kommt Clara entgegen, indem er erklärt, dass der Philosoph die »Sprache des Volks« zu sprechen habe (SW IX, 86 f.).47 Darüber, was es für den Philosophen heißt, die >Sprache des Volks< zu sprechen, sind beide jedoch, wie es sich im Folgenden zeigt, grundlegend ande­ rer Meinung. Eine Anregung des Pfarrers aufgreifend, wonach man »vor dem ganzen Volk« dieselbe Sprache sprechen soll, die man im vertraulichen Gespräch benutzt, schlägt Clara ihm vor, philosophische Gespräche zu verfassen (SW IX, 88). Überraschenderweise wird dieser Vorschlag vom Pfarrer nicht angenommen: Dieser häuft vielmehr Vorbehalt um Vorbehalt an, um der Anforderung auszuweichen. Dazu führt er zunächst eine folgenschwere Unterscheidung ein, der er eine Reihe von ad Äoc-Erwägungen folgen lässt, bei denen man sich kaum des Eindrucks verwehren kann, dass es sich um Ausreden handelt, die vor allem zu erkennen geben sollen, wie wenig er geneigt ist, Claras Auftrag anzunehmen. Auf Claras Vorschlag reagiert der Pfarrer zu­ nächst dadurch, dass er eine begriffliche Präzisierung vornimmt und zweierlei Arten von philosophischem Gespräch unterscheidet: Ein solches kann nämlich entweder vor Augen führen, wie ein Philosoph auf einen oder mehreren Sophisten trifft oder aber, wie Philosophen sich untereinander unterhalten.48 Nun gesteht der Pfarrer, dass es 46 Vor dem Hintergrund dieser Kritik muss es durchaus als ein wenig ungeschickt erscheinen, dass Schelling gerade Clara ein Kunstwort wie »Potenz« in den Mund legt (vgl. F. W.J. Schelling (1862): Clara oder Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt. Ein Gespräch. Separat-Ausgahe. Stuttgart, 177. Ders. (1946): Die Weltalter. Fragmente, in den Urfassungen von 1811 und 1813. Hrsg, von M. Schröter.

München, 273). 47 Vgl. Rousseau (1959-1995), Bd. 3, 383 (Du contrat social, II, 7). 48 Vgl. Schellings eigenen Wunsch, »daß, wie in alten Zeiten so in unsern, wenn nicht über Glaubensartikel, doch über philosophische Behauptungen und Syste­ me öffentliche Gespräche in Gegenwart gelehrter Zeugen stattfinden möchten« (SW VIII, 161). Der von Schelling für die Veröffentlichung seiner philosophischen Gespräche zeitweilig erwogene Titel Die neue Schule von Athen deutet in diesel­ be Richtung (vgl. F. Unger an F. W.J. Schelling, 8. Februar 1806, BuD III, 304). Vgl. auch: »oubliant les temps et les Lieux, pour ne songer qu’aux Hommes ä qui

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zwar »nicht an aufgeklärten, von ganz Deutschland hochgeachteten Männern [fehlt], die dasselbe edle Zutrauen auf sich setzen, das einst die Sophisten Griechenlands, auch nicht an trotzigen, ja oft sogar fast patzigen Rednern, die ein schlauer Sokrates wohl beschämen könnte«, sodass von dieser Seite nichts der Ausführung von Claras Vorschlag entgegensteht. Nur »fehlt uns leider nichts als eben der Sokrates, eine so anerkannte und doch so bestimmte Persönlichkeit«, sodass der Plan, philosophische Gespräche als in der Gegenwart stattfindend darzu­ stellen, sich als undurchführbar erweist (SW IX, 88).49 Hinzu kommt dass »die Nachahmung und Aufstellung bestimmter Persönlichkeiten bei uns so leicht selbst als eine Persönlichkeit aussähe«, was dem Vorhergehenden zufolge nur bedeuten kann, dass die nachahmende Darstellung eines Sophisten den Eindruck erwecken mag, als würde ein Philosoph dargestellt, sodass die nachahmende Darstellung also den grundlegenden Unterschied zwischen Philosophen und Sophisten verschwimmen lassen würde (SW IX, 88).50 Was die zweite Art von philosophischen Gesprächen betrifft, so gibt der Pfarrer zu bedenken, dass diese bereits mittels veröffentlichter Schriften stattfinden, die­ se Auseinandersetzungen jedoch derart >langwierig< und »weitläufige sind, dass sie sich kaum zu »dramatische[m] Leben« erwecken ließen (SW IX, 88).51 Keine der beiden Arten von philosophischem Gespräch je parle, je me supposerai dans le Licee d’Athenes, repetant mes Lenons de mes

1. FORM UND WESEN

kann den Anspruch erfüllen, populär zu sein oder sich an das Volk zu richten, wie Clara es möchte.52 Achten wir ausschließlich auf die in die Erzählung eingebetteten Gespräche, so ist unschwer zu erkennen, dass diese keiner der beiden Arten zugerechnet werden können, allein bereits aus dem Grund, dass Clara weder als Sophistin noch als Philo­ sophin betrachtet werden kann, wie sie selbst es übrigens ausdrücklich bekräftigt.53 Die vom Pfarrer herausgestellte Unterscheidung zeigt zu Genüge, dass er den Begriff des philosophischen Gesprächs in einem durchaus strengeren Sinne auffasst als Clara. Diese scheint die Differenz jedoch kaum zu bemerken, da sie des Pfarrers Vorbehalt lediglich auf das Fehlen »bestimmter Persönlichkeiten zurückführt, eine Schwierigkeit, von der sie meint, sie sei dadurch zu umgehen, dass man stattdessen Personen »aus der Vergangenheit« auftreten lasse (SW IX, 89). Dem hält der Pfarrer entgegen, dass dies dem philosophischen Schriftsteller ein eingehendes Studium »entferntefr] Eigenthümlichkeiten«, ein­ schließlich der »Sprach- und Kleidungsweise und anderer Formen einer früheren Zeit« abverlangen würde, das ihn nur von seinem ei­ gentlichen Interesse ablenken würde und dem er sich deshalb nicht unterziehen möchte (SW IX, 89). Hinzu kommt, dass ein philosophi­ sches Gespräch, wenn es »lebendig auf uns wirken soll«, »seinen Stoff mehr aus der Gegenwart als aus der Vergangenheit zu nehmen hat« und »darin mehr der Komödie als der Tragödie ähnlich ist« (SW IX, 89).

Maitres, ayant les Platons ct les Xenocrates pour Juges, et le Genre-humain pour Auditeur« (J.-J. Rousseau (2008): Diskurs über die Ungleichheit / Discours sur l’inegalite. Hrsg, von H. Meier. Paderborn, 6. Aufl., 72-74).

49

Es handelt sich um die zweite und dritte von insgesamt vier Erwähnungen des Sokrates im erhaltenen Fragment (vgl. SW IX, 84, 98).

50

Dass mit den »bestimmten Persönlichkeiten< an dieser Stelle in erster Linie die Sophisten gemeint sind (während Clara den Begriff etwas später in einem ganz anderen Sinn verwendet), ist von Alexandra Roux übersehen worden (vgl. A. Roux (2014c): »Clara ou le recit d’un retour ä la vie«. In: Schelling. Philosophe de la mort et de l’immortalite. Etudes sur »Clara«. Hrsg, von A. Roux. Rennes, 65, 70) Ähnlich: P. Grosos (2014): »Clara ou le recit comme totalite intotalisable«. In: Schelling. Philosophe de la mort et de l’immortalite. Etudes sur »Clara«. Hrsg, von

51

A. Roux. Rennes, 42 f. Die Charakterisierung lässt sich unschwer auf die beiden von Schelling veröffent­ lichten Gespräche anwenden. Anhand des Pfarrers Begriff des philosophischen

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Gesprächs lässt sich erkennen, weshalb Schelling Reinhold in dem ihn betreffenden

Gespräch nicht selbst als Gesprächsteilnehmer auftreten lässt, sondern ihn nur durch die Vermittlung des Freundes zum Sprechen bringt. Der gelegentliche Auf­ tritt eines Sophisten in einem »Gespräch im Gespräch» unterstreicht die Richtigkeit dieser Entscheidung (vgl. AA 1,11,127—130). Im Bruno hingegen führt Schelling vor, wie die bis dahin »mittelst des Drucks« mit Fichte geführte Auseinandersetzung sich doch zu »dramatischefm] Leben« erwecken lässt (SW IX, 88). An diesem Gespräch nehmen ausschließlich Philosophen Teil: Sowohl das Volk als auch die Sophisten sind abwesend, weshalb die Teilnehmer sich aus der Stadt zurückgezogen haben. Zu Bruno, vgl. Scheerlinck (2017), 36-55, bes. 44-46, 48 f., 54 f. Zum Unterschied 52

zwischen dem Reinhold-Gespräch und Bruno, vgl. AA 1,11,155,158-160, bes. 160. Man kann also gerade nicht sagen: »»Philosophie populär dargestellt, ist für Schelling

53

stets Gespräch« (Grau (1997), 595). Vgl. SW IX, 42 f.; Schelling (1862), 180; Schelling (1946), 275.

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IV. DER LEHRER

Auch dieses Bedenken hält Clara nicht für unüberwindlich, da es mög­ lich sei, »Gespräche der Eigenthümlichkeit unserer Zeit gemäß« zu »ers[i]nnen«, »gleichsam aus der Gegenwart herausgeschnitten, ohne doch bestimmte Personen nachahmend aufzustellen« (SW IX, 89). Erneut versucht der Pfarrer, sich dem Auftrag zu entziehen, indem er es zu einer unlösbaren Aufgabe erklärt, »eine solche Clara ganz so, wie wir sie jetzt vor uns sehen, mit aller Anmuth und Zartheit der Rede der ganzen Lieblichkeit überraschender Wendungen, dem beseelten redenden Spiel der sanftesten Mienen darzustellen« (SW IX, 90).54 Erst hier wird die Notwendigkeit erwähnt, nicht bloß die Reden der Ge­ sprächsteilnehmer wiederzugeben, sondern ebenso die »Umgebungen und Verhältnisse«, wenn man jene »als wirkliche Person[en] vorstellen« möchte (SW IX, 90). Damit scheint die Aufgabe für Clara nun so gut wie gelöst, da »ein Gespräch, dem unserigen ähnlich, auch historisch zu begründen, [...] eben keine außerordentliche Erfindungskraft erforder[n]« würde (SW IX, 90). Auch diese Erwägung vermag den Pfarrer nicht zu überzeugen. Dreierlei Gründe führt er dagegen an: Zum einen würde die Leserschaft dem Verfasser »den Mangel und die Geringfügig­ keit der Erfindung« vorwerfen (SW IX, 90). Zum anderen unterschätze Clara die Erfindungskraft, die für eine solche unscheinbare Darstellung dennoch erforderlich sei. Schließlich würde sich bei diesem Versuch eine »Zwittergeburt von Roman und philosophischem Gespräch« ergeben (SW IX, 90).55 Auch diese Ausflucht lässt Clara nicht gelten und zwingt den Pfarrer dadurch erneut dazu, ein Gegenargument her­ vorzubringen. Das philosophische Gespräch, so der Pfarrer, bedürfe

54

55

In welchem Umfang Schelling die hier als unlösbar vorgestellte Aufgabe gelungen sei, lässt sich nicht nur daran ablesen, dass die Mehrzahl der Kommentatoren in Clara ein Porträt der Caroline gesehen haben, sondern dass z. B. Bernard Mabille lobend hervorhebt, dass die Gesprächsteilnehmer nicht, wie üblich, bloße »porteurs de doctnnes« sind, sondern dass insbesondere Clara uns als eine »femme de chair et de sang« entgegentritt (B. Mabille (2014): »Avant-propos«. In: Schelling. Philosophe de la mort et de l’immortalite. Etu des sur »Clara«. Hrsg, von A. Roux. Rennes 9) Ähnlich Marquet (1984), 7. Zu beachten ist, dass er die von ihm gelobten Romane nicht als philosophische sondern als bloß »moralische Gespräche« und als in erster Linie auf Erbauune zielend bezeichnet (vgl. SW IX, 90).

1. FORM UND WESEN

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der »Einheit der Zeit und der Handlung«, was der Natur des Romans widerspricht (SW IX, 90). Schließlich soll von den »Umgebungen und Verhältnissen« nicht nur so viel mitgeteilt werden, dass man die zentrale Figur »sich als wirkliche Person vorstellen könnte«, sondern diese sollen ebenso als »das Aeußere« »hier ganz untergeordnet seyn und die Erfindung eigentlich auf das Innere gehen« (SW IX, 90). Die Erzählung soll somit eine völlige Entsprechung von Äußerem und Innerem, von Beschreibung der >Umgebungen und Verhältnissem und innerer Entwicklung zustande bringen.56 Damit ist auch gesagt, dass dies bei der Interpretation durchgängig zu berücksichtigen ist. Sowohl die Handlung der Erzählung als auch die Beschreibungen der Landschaft gehören nicht weniger zum Argument der Schrift als die Argumentation, die in den Gesprächen entfaltet wird. Wenn es sich tat­ sächlich um eine symbolische Erzählung handeln sollte, dann müssen Äußeres und Inneres in einer solchen Entsprechung zueinanderstehen, dass sie sich wechselseitig erhellen. Diese Entsprechung zustande zu bringen und das in ihr enthaltene Argument zu entfalten obliegt indes dem Leser. Aber auch für die Zuhörer, an die die Erzählung sich zunächst richtet, sind die Landschaftsbeschreibungen alles andere als bloße Ausschmückung, sondern diese lassen ihnen die Landschaft in ihrer Schönheit als Heimat erscheinen und sich in ihrer Zugehörigkeit zu ihr und ihrer Geborgenheit in ihr erkennen. Diese heimatliche Landschaft, die Geborgenheit gewährt, steht indes in einem auffälligen Kontrast zu Clara, der zu Anfang der Erzählung und, wie eine genaue­ re Betrachtung zeigt, auch noch am Ende des Fragments, von einem Abscheu gegenüber der Natur beherrscht wird. Gerade in diesem 56 Von den Figuren der schleiermacherschen Weihnachtsfeier kann man schwerlich behaupten, dass es sich um symbolische Figuren handele; vielmehr strebt Schleier­ macher eine »individualisierende Personenzeichnung« an, sodass die nachgeahmten Personen sich unmittelbar in denselben wiederzuerkennen vermögen (KGA 1,5, XLIX, L-LV, vgl. auch SW VII, 510). Dasselbe gilt übrigens auch von Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie. Vgl. H. Patsch (1991): »Die esoterische Kom­ munikationsstruktur der >WeihnachtsfeierEinleitung< geschilderte Grundtendenz der »neuerefn] Philosophie« (SW IX, 3). Vgl. auch Philosophie und Religion, wo Schelling Eschenmayer zum

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Moral errichten wollen. Die Konzeption läuft darauf hinaus, sämtliche religiöse Sitten und Gebräuche nur noch als Parerga der Natürlichen Religion gelten zu lassen. Jene sind somit nur zulässig, sofern sie diese unterstützen können, jedoch zu verwerfen, sofern sie sie untergraben oder von innen aushöhlen. Diese Ansicht wendet der Geistliche auf den Brauch des Allerseelenfests an. Bezeichnenderweise weist der Erzähler Clara die Hauptrolle in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Geistlichen zu. Während sie ihren Widerwillen gegen diese Version der Natürlichen Religion in immer neuen Anläufen artikuliert, beschränkt der Pfarrer sich auf nur drei, recht knappe Auslassungen (vgl. SW IX, 17, 18). Der Arzt ergreift sogar nur ein einziges Mal das Wort, und zwar um der Auseinandersetzung ein Ende zu setzen (vgl. SW IX, 20 f.). Um die Wichtigkeit der im Prolog und damit in der Erzählung als Ganzem enthaltenen Kritik der kantischen Natürlichen Religion richtig einzuschätzen, ist zu beachten, dass diese nicht nur hauptsächlich von Clara, sondern insbesondere durchgängig in Rück­ sicht auf Clara vorgetragen wird. Die kantische Natürliche Religion vermag Clara, deren Leben nicht an der Erkenntnis ausgerichtet ist und die in diesem Sinne als Repräsentantin des Volkes gelten darf, nicht zu befriedigen. Die exklusive Ausrichtung der Religion an der Moral würde für Clara in einen unaufhebbaren Zwiespalt münden. Es ist denn auch durchaus folgerichtig, dass Clara Widerstand gegen diese Überzeugung zum Ausdruck bringt: Während ihr Widerstand jedoch von ihrer Sorge um sich selbst bestimmt wird, lässt der Pfarrer sich bei seinen Vorbehalten vor allem durch die Rücksicht auf das Volk leiten. Wie sich im Folgenden zeigt, geht es ihm darum, für das Volk ein Analogon des philosophischen Lebens in dem Sinne zu entwerfen, dass dieses auch den Nicht-Philosophen dazu befähigen soll, als ein selbstzentriertes Ganzes zu existieren, was diesem nach des Pfarrers Dafürhalten nur mittels seiner Zugehörigkeit zu einem Volk möglich

75

Repräsentanten einer Epoche erklärt, die »im Allgemeinen durch Kant hinlänglich bezeichnet ist« (SW VI, 17). Ich sehe denn auch nicht, dass Schelling der kantischen Ansicht beipflichten wür­ de, weil er, wie Laurie Johnson meint, in der Folge keine dieser Behauptungen

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Die Zurückweisung der kantischen Natürlichen Religion im Zen­ trum des Prologs zeigt, dass der Erzähler nicht hinter die schleiermachersche Kritik derselben zurückfallen möchte. In den Reden über die Religion hat Schleiermacher Gefühl und Anschauung gegen die Reduktion der Religion auf Metaphysik und Moral aufgeboten. Letz­ tere hat gerade zu der den Gebildeten auszeichnenden Verachtung der Religion geführt, gegen welche die Reden sich richten. Anders als Gefühl und Anschauung vermag das (moralische) Handeln nicht den ganzen Menschen zu erfassen und dem jeweils individuellen Leben keine Ganzheit zu verleihen. Wenn Schelling auch an diese Kritik anknüpft, so stellt er sie doch in einen Zusammenhang, der deren Cha­ rakter und Tragweite von Grund auf verändert. Dies zeigt sich bereits daran, dass die Berücksichtigung des Gefühls in erster Linie durch den Adressaten motiviert ist. In der Tat sorgt die Rücksichtnahme auf den Adressaten in den schleiermacherschen Reden für eine grundlegende Zweideutigkeit: Wenn die Gebildeten für die Philosophen einstehen oder diese wenigstens mit umfassen, dann kann Schleiermachers Kritik entweder so gelesen werden, dass diese aufgrund ihrer Natur dazu neigen, die Differenz zum Volk zu übersehen und zu glauben, dass das, was gut für sie ist, auch für das Volk gut sei, oder aber so, dass die Philosophie unfähig wäre, eine besondere Lebensweise zu begründen und dadurch von der Religion unterschieden bliebe. Die Anspielungen auf die Glaubensspaltung, die virulent wird, sobald die Frage nach der Wahrheit der Offenbarung in den Vordergrund rückt, mögen erklären, weshalb der Pfarrer an keiner Stelle auf die Autorität der Offenbarung rekurriert, sondern immer nur aufgrund dessen argumen­ tiert, was der Erfahrung bzw. der Beobachtung zugänglich ist, oder indem er von mehr oder weniger allgemein akzeptierten Meinungen ausgeht.76 Sein Eintreten für die Volksreligion mag zudem erklären weshalb er eine Kritik der Offenbarungsreligion, wie sie sich aus seinen oder Einwände widerlegt hat (vgl. L. Johnson (2010): »Uncanny Love: Schelling’s Meditations on the Spirit World«. In: Image & Narrative 11, 74). 76 Arsenij Gulyga stellt zu Recht fest, dass die in Clara aufgestellte Lehre nicht auf »Autoritäten« rekurriert, sondern sich lediglich an das hält, was der Erfahrung zugänglich ist oder sich mithilfe von logischen Schlüssen daraus folgern lässt (Gulyga (1989), 257).

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Prinzipien ergäbe, dennoch fast gänzlich unterschlägt. Darüber darf indes nicht übersehen werden, dass er weder hier noch im Folgenden jemals auf die Autorität der Offenbarung rekurriert und über sie somit mit fast gänzlichem Stillschweigen hinweggeht.77 Der Kontrast des Weihnachtsabendgesprächs in Clara, zu Schleiermachers Weihnachts­ feier, deren sämtliche Erzählungen und Reden ausschließlich um die Erlösungstat Christi kreisen, könnte augenfälliger kaum sein. So wird Christus im Weihnachtsabendgespräch der Clara nur zu Anfang und am Ende kurz erwähnt. Gegen die praktische Folgerung, Gebräuche wie das Allerseelenfest zu pflegen, führt der Geistliche ein zweifaches Argument an. Dem ersten Argument zufolge untergrabe der Glaube, dass die Lebenden für die Toten im Fegefeuer zu beten haben, um ihnen dadurch den Übergang in den Himmel zu erleichtern oder zu beschleunigen, die Pflichtausübung. Der Geistliche befürchtet eine Einschränkung der unbedingten Geltung der Pflicht, wenn sie nicht auf den Kreis der Lebenden beschränkt bleibt.78 Damit bestreitet er zugleich, dass es Pflichten den Toten gegenüber gebe. Diesem moralischen Argument stellt der Geistliche ein theoretisches Argument zur Seite: Jener Brauch impliziere den Glauben an eine Wirkung der Lebenden auf die Toten

77 Vgl. dazu die Beobachtung von Miklos Veto, wonach Schelling »n’a jamais rejete formellement le Christianistne, n’a jamais soumis les dogmes ä une refutation systematique« (F. W. J. Schelling (1973): Stuttgarter Privatvorlesungen. Hrsg, von M. Veto. Torino, 71). Es darf denn auch nicht verwundern, dass man bereits früh Schelling als Stütze einer christlichen Apologetik herangezogen und bei ihm »eine wesentliche Annäherung des philosophischen Denkens an die kirchlichen Glaubens­ lehren« begrüßt hat (G. F. Daumer (1866): »Schelling über den Reinigungszustand nach dem Tode«. In: Der Katholik. Zeitschrift für katholische Wissenschaft und kirchliches Leben 46, 329). Dazu bemerkt die Redaktion in einer Nachschrift: »Vor Allem nämlich muß man sich hüten, auch nur den Schein zu erwecken, als ob die Philosophie im Stande sei, die Geheimnisse des Christenthums auf dem Wege der Speculation zu finden oder auch nur, nachdem sie ihr historisch gegeben sind, vollkommen zu begreifen« (ebd., 336). 78 Aus diesem Grund erklärt der katholische Geistliche sich mit der Politik »Ihrer Kirche« einverstanden, dass solche Gebräuche »wie so manche andere aufgehoben werden« (SW IX, 16).

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und damit den Glauben an Magie, den er als Aberglaube verwirft.79 Da wir von der anderen Welt nichts wissen können, können wir in ihr auch keine Wirkungen hervorbringen. Dadurch hat der Geistliche das Vorhaben des Pfarrers, Claras Leidenschaft dadurch zu mildern, dass er die Unterredung »zum Allgemeinen zu lenken suchte«, durchkreuzt und sie wieder zurück auf etwas Clara unmittelbar Betreffendes geführt (SW IX, 15). Es darf denn auch nicht überraschen, dass gerade Clara sofort darauf reagiert und auch in der Folge fast nur sie den Bedenken des Geistlichen entgegentritt. Allerdings mag fraglich sein, ob sie auch in der Lage ist, ihren Widerstand mit tragfähigen Argumenten zu untermauern. Vielmehr wird sie die Unterstützung von Pfarrer und Arzt brauchen, um das, was sie mehr ahnt als wirklich erkennt, zu einer kohärenten Weltanschauung zusammenzufügen. Wenn jedoch in diesem einleitenden Gespräch mit dem Geistlichen gelegentlich auch der Pfarrer und der Arzt eingreifen, dann geht aus ihren Beiträgen hervor, dass auch der Geistliche nicht umhinkann, sich auf bestimmte theoretische Annahmen festzulegen.80 Dieses zweifache Argument enthält die eigentliche Grundlage der Position des Geistlichen, die er durch sieben zusätzliche Argumente zu stützen sucht: 1. Auf des Geistlichen Zurückweisung einer Einwirkung der Lebenden auf die Toten reagiert Clara, indem sie erklärt, sie sei nur an einer Einwirkung der Toten auf die Lebenden interessiert. Dies nötigt den Geistlichen dazu, eine Wechselwirkung oder Kom­ munikation beider Bereiche schlechthin zu leugnen (vgl. SW IX, 16). 2. Diese Verneinung scheint Clara auf der Annahme einer strikten

79 Dieser Glaube an die Magie wird im dritten Gespräch mittels der Erzählung der Krämerfrau thematisiert (vgl. SW IX, 102-104). Die protestantische Frau, die zum Heiligenglauben zurückfindet, bildet das Gegenstück zum katholischen Geistlichen der eine protestantische Position vertritt (so auch Marquet (1984), 19 f.). Clara steht in einer besonderen Mittelstellung zwischen dem Geistlichen und der Krämerfrau indem sie mit den Einwänden des ersteren vertraut ist, sodass ihr der Glaube der Krämerfrau versagt ist, ihr jedoch zugleich die Fähigkeit fehlt, diese Einwände zu widerlegen, wie es der Arzt und der Pfarrer können. 80 Die Position des Geistlichen erinnert übrigens an die Tendenz, nach welcher die Moral »erst die Religion verdrängt hat, und nun auch die Philosophie zu verdrängen versucht« (AA 1,12, 472).

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Trennung von Sinnlichem und Geistlichem zu beruhen, weshalb sie darauf aufmerksam macht, dass dem Menschen in dieser Welt doch nicht der Geist abgesprochen werden könne (vgl. SW IX, 17). Mit seiner Reaktion verlässt der Geistliche den Bereich der Verneinung und bringt die positive These zum Ausdruck, aus welcher seine Ver­ neinungen folgen, nämlich dass eine Kommunikation von Wesen, die Sinnlichkeit und Geistigkeit vereinigen, mit rein geistigen Wesen ausgeschlossen sei. Diese These werden die Gesprächsteilnehmer in den nachfolgenden Gesprächen einer eingehenden Prüfung unterzie­ hen. 3. Der Geistliche verschärft seine Position noch, indem er nicht nur jegliche Wechselwirkung zwischen beiden Welten leugnet, son­ dern ein Interdikt gegen die Erkenntnis der »höheren Welt« verhängt (SW IX, 17). 4. Das Interdikt hat seinen Grund in dem Glauben, dass nur im »Gewissen« »ein Gesetz und eine Bestimmung« zu finden sei, »die nicht von dieser Welt seyn kann«, und dass nur die Stim­ me des Gewissens als »Unterpfand einer höheren Welt« gelten kann (SW IX, 17). Dementsprechend kann der Glaube an die Unsterblich­ keit der Seele nur als Postulat der praktischen Vernunft gelten. Wenn der Geistliche diesem Glauben auch einen »trostreichen« Charakter zubilligt, so darf unser Verlangen nach Trost uns nicht dazu verführen, Glaubensartikel zu unterschreiben, die einer strengen Prüfung nicht standhalten (SW IX, 17). Die Behauptung, dass »die fünf Akte in diesem Leben sind« und dass die Unsterblichkeit der Seele lediglich ein Postulat der praktischen Vernunft sei, d. h. eine Annahme, die im moralischen Leben impliziert ist, wobei offen bleiben mag, inwiefern der Glaube an dieses Postulat auch zur Triebfeder werden kann, kommt fast einer Verneinung der Unsterblichkeit nahe. Wichtiger ist indes die Überlegung, dass man sich diesen trostvollen Glauben verbieten soll, da gerade sein trostvoller Charakter den Verdacht aufkommen lässt, dass er seinen Ursprung in der Selbstsucht habe (vgl. SW IX, 18 f.). Dieses Verbot ist die unmittelbare Folge des oben erwähnten zweifachen Arguments. Das zweifache Argument zeigt zugleich die doppelte Beziehung der Position des Geistlichen an: Zum einen ist diese in ihrer Wirkung auf das Volk zu betrachten, zum anderen ist sie in Hinblick auf die Erkenntnis zu prüfen. 5. Auf Claras Hinweis, dass der Gedanke der Unsterblichkeit in dieser Fassung gerade die

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tröstliche Wirkung einbüßt, die der Geistliche ihm zuschreibt, macht dieser den Anfang damit, das Gefühl, insbesondere insofern es sich auf Andere bezieht, als selbstsüchtig zu entlarven (vgl. SW IX, 18). Dieser Verdacht ist zu berücksichtigen, wenn im ersten Gespräch die Erregung des Eigenwillens zum ausdrücklichen Thema der Erörterung erhoben wird. 6. Die Demaskierung der Selbstsucht impliziert Clara zufolge die Leugnung, dass »in Freundschaft und Liebe etwas seiner Natur nach Ewiges liegt« (SW IX, 19). Die Reduktion von Freundschaft und Liebe auf die Selbstsucht widerspräche der Erfahrung von derartigen Beziehungen, in denen weniger »Zufall oder ein vorübergehendes Geschick« zu sehen sind, als vielmehr ein unauflösliches Band, das in der Verwandtschaft der Naturen oder in der »Nothwendigkeit« die »Seele an Seele zieht«, seinen Grund hat (SW IX, 19 f.). Darauf reagiert der Geistliche mit einer völligen Subjektivierung solcher Be­ ziehungen: Im Gefühl komme nicht die Beschaffenheit der Beziehung zum Ausdruck, sondern diese gründe sich vielmehr auf das Gefühl. Den Verdacht auf die Selbstsucht des Gefühls münzt er jetzt in die Warnung um, sich zu »hüten [...], die Eingebungen unseres Gefühls, die Erfindungen unserer Sehnsucht in allgemeine Wahrheiten umprä­ gen zu wollen« (SW IX, 20). Das Interdikt höherer Erkenntnis wurde somit in Bezug auf das »finstere, wüste Gemüth« ausgesprochen: Der Geistliche fürchtet die Ungeheuer der Einbildungskraft und meint, sie mithilfe der Moral einhegen, wenn nicht sogar endgültig vertilgen zu können (SW IX, 20). 7. Zum Schluss bekräftigt er noch einmal seine Position, indem »alles Wissen über die zukünftigen Dinge« schlechthin zu »verwerfen« sei (SW IX, 21). - Als wolle er beiden das Schweigen auferlegen, macht der Arzt an dieser Stelle die wichtige Bemerkung, dass »nur die geordnetsten Gemüther [...] sich mit der Frage nach einem zukünftigen Leben beschäftigen, nur heitere Gemüther jenen Regionen der ewigen Heiterkeit und Stille sich annähern [sollen]«: »Keiner sollte sich dieser Untersuchung weihen, der nicht in der ge­ genwärtigen Natur einen festen und unverlierbaren Grund gewonnen darauf er seine Gedanken aufführt« (SW IX, 20). Die Untersuchung dieser Frage ist somit an charakterliche sowie an wissenschaftliche Bedingungen gebunden. Dadurch nimmt der Arzt sich für einen spezi­ fischen Typus eine Ausnahme von dem vom Geistlichen als unbedingt

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geltend präsentierten Interdikt höherer Erkenntnis heraus. Während Claras Auslassungen die Überzeugung zugrunde liegt, dass gerade das Volk der Lehre von einem künftigen Leben bedürfe, lässt die Bemerkung des Arztes es als fraglich erscheinen, ob ausgerechnet das Volk ausreichend gerüstet ist, um an eine solche Lehre herangeführt zu werden. Diese doppelte Perspektive wird im ersten und dritten Teil des Prologs auseinandergelegt: Die Evokation des Glücks des Volkes im ersten Teil des Prologs hat ihr Gegenstück in dem Traum des Pfarrers von der Wiederherstellung des beschaulichen Lebens im dritten Teil desselben. Der rührende und mit »süßer Wehmüth« erfüllende An­ blick des sich um die Gräber versammelnden und sich dadurch als ein die Generationen übergreifendes Gebilde erst konstituierenden Volkes, der die Erzählung eröffnet, erschließt seine Bedeutung erst, wenn er mit dem ersten Auftritt Claras in Verbindung gebracht wird (SW IX, 11). Im Lichte dieses Auftritts erscheint das Glück des sich vereinigenden Volkes als letzter Abglanz einer unwiederbringlichen Vergangenheit. In dem Kloster, in dem der Pfarrer und der Arzt sich mit Clara verabredet haben, wird deren Erscheinen nämlich durch die Betrachtung einer Bildergalerie vorbereitet, die dem Andenken der »Fürsten« und »Feldherren« des dreißigjährigen Kriegs gewidmet ist (SW IX, 14 f.). Damit ist das historische Ereignis genannt, das Schel­ ling 1807 in einem Fragment Ueber das Wesen deutscher Wissenschaft als >Ursprungsakt der deutschen Nation« bezeichnet.81 Erst durch 81

Das Fragment war als Beitrag oder vielleicht sogar als Einleitung zu dem von Schelling 1807 geplanten Band Vermischter Schriften gedacht. Nehmen wir an, dass in diesem Band in etwa dieselben Schriften aufgenommen werden sollten, wie 1809 in dem ersten (und einzigen) Band der Philosophischen Schriften, dann kann das Fragment als eine Besinnung Schellings auf die politischen Bedingungen seines gesamten philosophischen Unternehmens gelesen werden: Die nachfolgenden Abhandlungen - Vom Ich, die Philosophischen Briefe, die Abhandlungen zur Erläu­ terung des Idealismus der V/issenschaftslehre — sollen dann gerade illustrieren, was Schelling unter deutscher Wissenschaft« verstanden haben wollte. Die ausführliche Passage zum Naturrecht lässt zudem vermuten, dass Schelling erwogen haben mag, auch die Neue Deduction des Naturrechts in den Band der Vermischten Schriften aufzunehmen. Vgl. zum Fragment und dessen Übereinstimmung mit der Neuen

Deduction'. Scheerlinck (2017), 340-362.

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die »Lossagung von überliefertem Glauben« habe sich die deutsche Nation als eine besondere Nation konstituiert (SW VIII, 4). Dassel­ be Ereignis, dem die deutsche Nation ihren distinktiven Charakter verdankt, macht zugleich die für eine Nation erforderliche Einheit unmöglich. Es setzt die Einheit entweder als ein unwiederbringlich Vergangenes oder aber als Gegenstand der Sehnsucht, nie jedoch als Gegenwart. Das Ereignis selbst indes ist nichts weniger als selbst ein Vergangenes, da es die deutsche Nation nur solange konstituiert, als es sich bemerkbar macht, sich durch die Folgezeit hindurchzieht und insofern niemals zu einer wirklichen Vergangenheit wird. Seit jener Zeit ist die deutsche Geschichte eine »Periode der bis aufs Aeußerste fortschreitenden Entzweiung« (SW VIII, 5). Durch dieses Ereignis hat die deutsche Nation sich nicht nur von den anderen Nationen losgerissen, auch der »öffentliche Zwiespalt religiöser Bekenntnisse« und der »Widerspruch im Inneren der Nation« gehen darauf zurück (SW VIII, 4).82 Der These, wonach die Glaubensspaltung die Einheit der deutschen Nation unmöglich gemacht habe, liegt die Annahme zugrunde, dass die Einheit einer Nation Sache der Religion sei, da sie sich nicht durch politische oder Zwangsmittel zustande bringen lasse. Zwang mag vielleicht dazu beitragen, dass bestimmte Handlungen unterlassen werden, positive Tugenden, die die völlige Hingabe an eine Sache, die man höher schätzt als das eigene Gute, beinhalten, vermag er hingegen nicht hervorzubringen. Eine Neutralisierung der spaltenden Wirkung der Religion durch politische Mittel würde somit das eigentli­ che Problem nicht lösen, da sich das politische Leben dadurch zugleich

82

In einem nur wenig früheren Text hatte Schelling die (französische) Philosophie dafür verantwortlich gemacht: »Ebenda, wo weder philosophische Formen noch historische Aussprüche hervorzurufen vermögen, was im innersten Wesen eines Volkes ausgetilgt worden, Religion, Heroismus, Glauben, kann was Philosophie zerstörte, aber wahrlich nicht unsre eigene, nur durch unsre eigenste Philosophie wieder erschaffen werden« (Schelling (1977), 272, vgl. AA 1,17, 121). In Clara mag die Säkularisation als augenfälligstes, weil unmittelbar aktuelles Beispiel für die politischen Auswirkungen der Philosophie stehen, die Schelling bei seinem Entwurf einer Natürlichen Religion durchgängig im Blick hat.

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des antreibenden Potentials berauben würde, dessen es bedarf.83 Die Weise, in welcher Schelling das »deutsche Problem< artikuliert, zeigt an, dass er es für unlösbar erachtet. Da an der deutschen Nation gerade das spannungsvolle Verhältnis von Politik und Religion hervortritt, kann sie als exemplarisch für das politische Problem schlechthin ver­ standen werden. Jenes spannungsvolle Verhältnis kann indes auch aus einer anderen als der bloß politischen Perspektive betrachtet werden, insofern es zugleich auch die Bedingungen des deutschen Geistes und der deutschen Wissenschaft herbeigeführt hat.84 Was in politischer Hinsicht durchaus als verhängnisvoll angesehen werden mag, erweist sich in philosophischer Hinsicht als eine einmalige Chance.85 Die poli­ 83 Dabei lässt Schelling keinen Zweifel darüber bestehen, dass die positiven Tugenden auch und insbesondere die Kriegstugenden umfassen, also die Bereitschaft, sich für das Vaterland zu opfern und den Krieg für das Vaterland als einen heiligen Krieg anzusehen (vgl. SW VIII, 11). Auch sonst wird der Heroismus als Wesen der Tugend herausgestellt (vgl. SW V, 260; VI, 558 f., 572 f., 576; VII, 142; AA 1,17, 159 f.). Noch in der Weihnachtsfeier-Rezension hat er den Redenden vorgeworfen, dass das von ihnen befürwortete hergestellte Christentum nicht in der Lage sei, jene »männliche Gesinnung« und jenen »kriegerischefn] Heroismus« heranzuzüchten, der unabdingbar sei, um den Staat »heldenmüthig zu vertheidigen« (Schelling (1807), Sp. 460 f.). Auch in Clara werden die Fürsten und Feldherren, die im dreißigjährigen Krieg gekämpft haben, aufgrund des »Ausdruckfs] von hoher geistiger Empfindung mit Charakterstärke verbunden« gelobt (SW IX, 15). 84 Für ein angemessenes Verständnis des Fragments ist der ständige Wechsel zwischen »deutscher Nation* und »deutschem Geist* zu beachten, obwohl Schelling die politi­ sche und die philosophische Perspektive nach Kräften ineinander zu schieben und die Diskrepanz dadurch zu verschleiern sucht. Ähnlich äußert Schelling sich noch 1834: »Eher ließe sich vielleicht eine geschichtli­ che Erklärung [sc. der Differenz zwischen Deutschland und den anderen Nationen in Bezug auf Philosophie, R. S.] hören, die das fortdauernde und immer wieder erregte Interesse der Deutschen an Philosophie von dem Glaubenszwiespalt von der Coexistenz gleich berechtigter Religionsbekenntnisse in Deutschland herlei­ tete, und wer, der nur einen Blick auf den Gang der Philosophie in Deutschland werfen will, wird nicht in dem wirklich religiösen Ernst, in der enthusiastischen Art selbst, mit der die Philosophie zum Theil in Deutschland betrieben worden, ein Bedürfniß erblicken, jene That der Emancipation, an der bekanntlich alle deutschen Völker ohne Ausnahme, mehr oder weniger, theilgenommen, gleichsam zu versöhnen, und die äußerlich verlorene Einheit innerlich und auf dem Felde der Wissenschaft wiederherzustellen« (SW X, 194, vgl. Schelling (1990), 72). Auch zu

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tische Unlösbarkeit des Problems braucht nicht auszuschließen, dass es nicht durch den Geist bzw. die Wissenschaft zu bewältigen wäre. Nur ließe sich umgekehrt aus der denkerischen Bewältigung des Problems nicht die Umsetzbarkeit in ein politisches Programm schließen. Wenn von deutscher Wissenschaft die Rede sein kann, dann nur, insofern damit eine Aufgabe bezeichnet ist oder ein Widerstreit, dessen Auf­ lösung »wohl immer Gegenstand einer nothwendigen Aufgabe bleiben werde« (AA 1,17, 112). Das politische Problem birgt auch insofern eine Chance, als ein kluger Umgang mit demselben der Wissenschaft (welche die Philosophie nicht nur einschließt, sondern die in ihrer höchsten Gestalt mit der Philosophie zusammenfällt) nicht entraten kann und ihr somit im Staatsgefüge eine Sonderstellung erteilt werden muss. Vor diesem Hintergrund darf es kaum noch überraschen, dass das Erscheinen Claras die Anwesenden zutiefst erschreckt, da diese in ihrem Schicksal eine Wiederholung des Schicksals der deutschen Nation gewahren. So wird sie als die Heimatlose charakterisiert, der die Geborgenheit des Volkes versagt ist, und die als Vertriebene nirgends Ruhe finden kann (vgl. SW IX, 12,14,15). Zudem kann die Heirat der katholischen Clara mit dem protestantischen Albert als ein - allerdings vergeblicher - Versuch gelesen werden, den konfessionellen Zwie­ spalt aufzuheben (vgl. SW IX, 15). Die Rückkehr zum katholischen Glauben ist abgeschnitten, ohne dass es dem Protestantismus jedoch gelungen wäre, das Bedürfnis, das im Katholizismus eine Befriedigung gefunden hatte, selbst zu erfüllen - wie insbesondere das später er­ zählte Schicksal der protestantischen Krämerfrau auf unvergessliche Weise vor Augen führt, die in einem Augenblick tiefster Verzweiflung dem Verlangen nach dem katholischen Glauben nachgibt (vgl. SW IX 102-104). Die Rückkehr ist jedoch auch bereits deshalb unmöglich weil der Protestantismus den Katholizismus von innen heraus aushöhlt wie der katholische Geistliche vor Augen führt, der die katholischen Sitten und Gebräuche als Aberglaube zurückweist (vgl. SW VIII, 6). Die Entstehung des Protestantismus wirkt somit auf den Katholi­ zismus zurück, sodass dieser nicht mehr zu seiner ursprünglichen Beginn der Darstellung der reinrationalen Philosophie erinnert er an das Ereignis (vgl. SW XI, 264).

2. DER ZWIESPALT IM INNEREN

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Bedeutung zurückzufinden vermag. Wenn somit die Reformation das geschichtliche Ereignis ist, das die deutsche Nation konstituiert, so konstituiert sie diese doch so, dass sie ihr die Möglichkeit der Einheit dabei grundsätzlich versagt. Es verbleibt eine bloße Sehnsucht nach Einheit, während die Grundlage einer jeglichen möglichen Einheit ihr durch das Ereignis selbst entrissen ist. Der Aufenthalt in dem Kloster veranlasst die Anwesenden auf dem Rückweg nicht so sehr auf die Reden des Geistlichen, als vielmehr auf die von ihm verkörperte Lebensweise zu sprechen zu kommen. Die Reflexion über das Glück des Geistlichen bildet das Gegenstück zur Betrachtung des Glücks des Volkes. Diese Unterredung ist nicht nur insofern von Bedeutung, als sie eine erste nähere Charakterisierung der Gesprächsteilnehmer erlaubt, sondern auch insbesondere, weil die Differenz der Lebensweisen in dem erhaltenen Fragment nicht weiter zum ausdrücklichen Thema erhoben wird, obwohl die an dieser Stelle eingeführten Unterscheidungen und Bezüge auch in der Folge zu beachten sind. Während die Erzählung mehrere Anspielungen enthält, die sich auf die sich anbahnende Säkularisation beziehen lassen, von welcher der Geistliche sich selbst ironischerweise zum Fürsprecher macht, beziehen die Teilnehmer andere Rücksichten ein, die über solche Erwägungen hinausgehen.86 So vermag der Arzt zwar zu ver­ stehen, aus welchem Grund das Leben des Geistlichen als ein Ideal erscheinen kann, nämlich als Verkörperung eines »ruhigen, klaren, mit sich selbst ganz ins Gleichgewicht gekommenen Menschen«, lässt jedoch zugleich den Zweifel durchschimmern, ob gerade der Geistli­ che dieses Ideal eines selbstzentrierten Ganzen zu realisieren vermag (SW IX, 21). Sonst billigt er den Klöstern höchstens eine gewisse sozialhygienische Bedeutung zu.87 Damit ist bereits an dieser Stelle der Widerstreit zwischen Äußerem und Innerem angedeutet, der in den weiteren Unterredungen noch eine wichtige Rolle spielen wird. 86 Vgl. Ehrhardt (2004), 184. F. Steinkamp, in: F. W.J. Schelling (2002): Clara, or, On Nature’s Connection to the Spirit World. New York, 91. 87 Grau verfehlt den Sinn der Aussage des Arztes, da dieser den Kartäuser Orden nicht als Hort der devotio modema anführt, sondern ihn ausschließlich als »Asyl der eigentlichen Unglücklichen« und somit als Auffangbecken für solche, die sich nicht in die Gesellschaft integrieren lassen, preist (SW IX, 25; vgl. Grau (1997), 599).

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Als Verkörperung dieses Ideals vermag der Geistliche nur solchen zu erscheinen, die selbst an diesem Widerspruch leiden. Es ist denn auch wenig überraschend, dass jenes Ideal auf Clara eine gewisse Anziehung ausübt, sei es auch nur, weil der »Mensch, der eine Entschließung für sein ganzes Leben nimmt, und so nimmt, dass er Gott und Welt zu Zeu­ gen derselben ruft, und unter Bedingungen, welche ihr das Siegel der Unauflöslichkeit aufdrücken« ihr »Ehrfurcht« und »Achtung« gebietet (SW IX, 22).88 Der Pfarrer spielt hingegen mehrere Möglichkeiten durch, diese Institution so umzuschaffen, dass sie zu ihrem »ursprüng­ lichen Sinn auf eine unserer Zeit angemessene Weise zurück[ge]führ[t]« wird (SW IX, 23). Dabei denkt er insbesondere an eine Umschaffung derselben zu Stätten der »Künste und Wissenschaften«, wobei er be­ zeichnenderweise die Dichter, die einst »das nächste große Gedicht der Deutschen« zu dichten haben werden, auf einem Hügel, die Gelehrten und Philosophen hingegen im Tal ansiedelt (SW IX, 23 f.). Nur solche Anstalten würden die Bedingungen schaffen, um wieder »ein wahrhaft geistiges Leben« als ein Leben in der Einsamkeit und im Rückzug von der Welt zu führen (SW IX, 24).89 Dieser »angenehme Traum« erfährt jedoch sogleich eine Korrektur von Seiten des Arztes, der darauf hinweist, dass es einer solchen institutionellen Absicherung

88 Ähnlich hatte nach Schellings Wiedergabe in Schleiermachers Weihnachtsfeier der »ungläubige Leonhard« befürchtet, dass die »kleine Sofie« in »ein Kloster oder herrnhuthisches Schwesternhaus« komme (Schelling (1807), Sp. 457; vgl. KGA I 5 52-56).

89 Damit verbindet er folgenden Schluss: »Denn der deutsche Geist liebt die Einsam­ keit, wie er die Freiheit liebt; alles Conventionelle drückt ihn nieder. [...] Schade daß ich oft, wenn ich das Ganze mir völlig ausgebildet hatte, mir sagen mußte daß dieß alles nur ein angenehmer Traum bleiben wird, da der Deutsche einmal bestimmt scheint, nie nach seiner Eigenthütnlichkeit behandelt zu werden« (SW IX 24 f.). - Der Traum des Pfarrers mag Schellings Erklärung in Erinnerung rufen wonach er in seiner »Abgeschiedenheit zu Jena [...] weniger an das Leben und nur stets lebhaft an die Natur erinnert [wurde], auf die sich fast mein ganzes Sinnen einschränkte«: »Seitdem habe ich einsehen lernen, daß die Religion, der öffentliche Glaube, das Leben im Staat der Punct sind, um welchen sich Alles bewegt und an den der Hebel angesetzt werden muß, der diese todte Menschenmasse erschüttern soll« (F.W.J. Schelling an K.J. H. Windischmann, 16. Januar 1806, Plitt II, 78).

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nicht zwangsläufig bedürfe, um das beschauliche Leben zu führen, wie er selbst während seiner Reisen durch Deutschland, Italien und Frankreich erfahren hat, die ihm ein Leben »im steten Verkehr mit der Natur« ermöglichten (vgl. SW IX, 25,26, 80). Das beschauliche Leben ist nicht auf den einen Pol eines Lebens »in ewiger Stille« zu reduzieren, sondern es verlangt vielmehr auch das regelmäßige Hin und Her zwischen Ruhe und Bewegung, die beständige Rückkehr zur Natur, die eine Entfernung von dieser voraussetzt und einschließt, oder die »Abwechslung dieser Zustände« (SW IX, 25, 42). Nur eine solche Abwechslung ist der Natur gemäß, während das Leben in der Einsamkeit oder der ausschließliche Verkehr mit seinesgleichen, also mit »Männerfn] jeder Kunst und Wissenschaft«, die »einträchtig und von Sorgen befreit« Zusammenleben, einen »weit ab [...] von der Natur führt« (SW IX, 24 f.).90 Der Traum des Pfarrers ist der Neigung entsprungen, das beschauliche Leben ganz im Zeichen des höchsten Zustands zu verstehen, als ob dazu dessen Gegenteil zwangsläufig auszuschließen wäre. Gleich am nächsten Tag »nahmen« der Arzt und der Pfarrer »Abre­ de, [Claras] Gedanken wo möglich eine sanftere Richtung zu geben, ohne der gegenwärtigen Neigung gewaltsam in den Weg zu treten« (SW IX, 28). Es ist dies das einzige Mal, dass der Erzähler uns Zeu­ ge einer privaten Unterredung zwischen ihm selbst und dem Arzt werden lässt. Allerdings teilt er uns diese Unterredung nur in äußerst verkürzter Form mit: Auf beide Redner entfällt jeweils nur eine einzige Aussage, die indes für das Verständnis der Absicht der nachfolgenden Gespräche von weitreichender Bedeutung ist. Er selbst äußert, dass die Erkenntnis oder die Weltbetrachtung »Folgen auf unser Leben«

90 Dementsprechend ist der Schluss des Pfarrers zu korrigieren: Die Entzweiung gehört genauso zum Wesen des Deutschen wie die Einheit. Vgl. das Fragment von 1807, in welchem Schelling zunächst den Eindruck erweckt, als reiche es aus, allen »fremde[n] Zusatz« auszusondern, um »das reine deutsche Metall« ans Licht zu bringen, anschließend jedoch andeutet, dass »der Grund einer unendlich mannichfaltigen Spaltung« im »Wesen und der Bestimmung des deutschen Geistes« selbst zu suchen sei (SW VIII, 14).

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haben und es sich deshalb empfehle, Claras Begriffe so zu verändern zu suchen, dass ein Gleichgewicht sich wieder einstelle (SW IX, 28). Das eigentliche »Gift« liegt somit nicht, wie Clara glaubt, in der Natur sondern in ihren Begriffen von der Natur, nämlich in einer Betrachtung der Natur, der »ihr sittlicher Zustand widerspricht« (SW IX, 28). Die nachfolgenden Unterredungen werden denn auch in erster Linie eine praktische Absicht verfolgen: Da der Pfarrer »manchen andern [hat] dahinwelken sehen im Streben nach einer Erkenntniß, der er nicht gewachsen war«, werden beide Redner es unterlassen, Clara zur natur­ philosophischen Erkenntnis hinzuleiten, um sie stattdessen zu einer »eigens temperirte[n] Einsicht« hinzuführen, »bei der sie sich allein wohl befinden kann« (SW IX, 28). Die vom Arzt und vom Pfarrer vorgetragene Lehre wird somit ausdrücklich in Hinblick auf Clara entwickelt: In ihr wird durchgängig auf deren Fassungsvermögen so­ wie auf ihre Bedürfnisse Rücksicht genommen, während der Zustand in den ihre Adressatin versetzt werden soll, als Zielvorgabe dient. Die »Erkenntniß«, die Arzt und Pfarrer Clara beizubringen suchen folgt somit eher einer praktischen als einer theoretischen Absicht. Sie ist denn auch nicht so sehr nach ihrer Wahrheit zu beurteilen als vielmehr danach, inwiefern sie Claras gegenwärtiger Lage zuträg­ lich und mit ihrem »sittlichefn] Zustand« in Übereinstimmung ist (SW IX, 28). Ebenso wichtig ist die Beobachtung, dass das nächste Ziel dieser Unterredungen nicht darin besteht, Clara zur Geisterwelt hinzuführen, sondern vielmehr ihrem gewaltsamen »Hinausstreben über die Natur« entgegenzuwirken und eine Rückkehr zur Natur einzuleiten (SW IX, 27). Clara zeichnet sich nämlich bereits von sich aus durch eine - allerdings irregeleitete bzw. unkontrollierte - Neigung zur Geisterwelt aus, die nur das Gegenstück zu ihrer Abscheu vor der Natur ist. Diese hindert sie daran, einen sicheren Zugang zur Geisterwelt zu finden. Jene Abscheu geht darauf zurück, dass ihr anfängliches Vertrauen darauf, dass die »heiligste Nothwendigkeit [ihres] Inneren [...] Gesetz für die Natur« ist, durch den Verlust des Geliebten nachhaltig erschüttert wurde (SW IX, 37). Sie findet sich in dem Zustand derjenigen, die sich im »Vorhof« der Mysterien befin­ den, denen »schreckenvolle Bilder [...] der Seele die Nichtigkeit alles Zeitlichen vor die Augen stellen und sie erschütternd das einzig wahre

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Seyn ahnden lassen« (SW VI, 69).91 In diesem Zustand wurde sie nicht durch den Arzt und den Pfarrer, sondern durch ein Zusammenspiel von geschichtlichen Mächten und dem Zufall versetzt. Hieraus ergibt sich auch ein weiterer wichtiger Hinweis zum Status der vorgebrachten Lehre: Es sollen keine Beweise angeführt werden, da diese für Clara nicht überzeugend sind; sie verlangt vielmehr nach einer Überzeugung, auf welche sich ihr Leben gründen lässt und dies heißt: nach einer Lehre, die sie sich sinnlich vorzustellen vermag. Im Vergleich zur schleiermacherschen Weihnachtsfeier könnte die Ausgangslage somit verschiedener kaum sein: In dieser versammeln die Anwesenden sich um das glückliche Paar Ernestine und Eduard und die Versammelten, mit Ausnahme vielleicht von Leonhardt, haben sämtlich die Aussicht auf ein ähnliches Glück. Das Glück der Anwesenden wird unterstützt durch ihren Glauben an einen wohlwollenden Gott, der die Dinge gerade im Hinblick auf ihr Glück einrichtet. Im Gegensatz dazu ist in der Erzählung des Pfarrers die zentrale Figur nicht nur der Basis ihres Glücks beraubt worden, sondern sie ist sich zudem schmerzlich bewusst, wie Gott gerade nicht die Dinge zum Besten wendet und wie die Natur dem Glück des Menschen gegenüber gleichgültig ist und daher als grausam empfunden werden muss.92 Die Lehre des Arztes vermag Clara davon nicht zu heilen. Clara weiß diese vielmehr nur so zu deuten, dass der Mensch dieses Unglück als Strafe verdient habe.

3. Die Klage der Clara Nachdem der Arzt und der Pfarrer sich nach gemeinsamer Rückspra­ che auf das Ziel geeinigt haben, Clara zu einer Ansicht zu führen, die ihrem sittlichen Zustand zuträglich ist, führt in dem ersten Gespräch

91

Die strukturelle Entsprechung zwischen dem Schicksal Claras und dem der Ceres, die, »den Verlust des höchsten Gutes« empfindend, sehnsüchtig »die Erde zu durchforschen, alle Tiefen und Höhen zu durchspähn [eilt]«, dürfte kaum zufällig

sein (AA 1,12,474). 92 Das Unglück Claras wird noch durch die zerrissenen Familienverhältnisse unter­ strichen, so wie dadurch, dass auch der Pfarrer seine Frau verloren hat und der Fürst kürzlich gestorben ist (vgl. SW IX, 11 f., 13,41,66).

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auffälligerweise fast allein der Arzt das Wort, von einer einzigen Inter­ vention des Pfarrers abgesehen (vgl. SW IX, 30). Da dieses Gespräch jene »Erkenntniß« zum Thema hat, die Clara »zum Gift« wird, da sie »durch die peinliche Anregung der Masse des Unreinen, die in [ihr] liegt, sie zur Wuth und zu schrecklichen Explosionen bringt«, ist es durchaus angemessen, dass der Arzt die Führung dieses Gesprächs übernimmt, gehört doch die Pharmakologie, als die Erkenntnis von der Natur der Gifte sowie deren Verwendung, zu seinem eigentlichen Geschäft (SW IX, 28). Zum Geschäft des Pfarrers gehört hingegen die Erkenntnis und die Beschwörung der Geister und Gespenster.93 Wenn die Aufgabe verlangt, dass Clara zu einer Betrachtung der Na­ tur zurückgeführt wird, falls ein sicherer Übergang zur Geisterwelt geleistet werden soll, dann scheint sie alles andere als genügend für dieselbe gewappnet zu sein.94 Weder gehört sie zu den »geordnetsten« und »heiterefn] Gemüther[n]«, die einzig in der Lage sind, sich auf die Geisterwelt einzulassen, noch verfügt sie über eine sicher gegrün­ dete Erkenntnis der Natur, ohne welche man nicht »vom Tode und einem zukünftigen Leben reden [sollte]« (SW IX, 20). Bereits ihr erster Auftritt hat hinlänglich verdeutlicht, dass ihr Gemüt weder geordnet noch heiter ist, da sie ohne augenscheinlichen Anlass aus einer heiteren Stimmung in die tiefste Verzweiflung verfällt.95 Eine Erkenntnis der Natur kann ihr ebenso wenig zugesprochen werden, da sie vielmehr durch den Abscheu vor der Natur in Bann gehalten wird, der sie an

Die semantischen Ketten von >Gift< und >Gespenst< gehören somit zusammen während der >Geist< das Bindeglied zwischen beiden Ketten bildet. Schellings Pharmakologie und Spektrologie würden eine eigene Untersuchung verdienen. 94 Wilhelm Dilthey gibt diese Absicht durchaus korrekt so wieder, »daß eine edle Frauennatur [...] von Stufe zu Stufe aus schmerzlich dunklen Empfindungen zu einer heiteren und klaren Ansicht der ewigen Dinge fortgeführt wird«, übersieht jedoch die Diskrepanz zwischen erklärter Absicht und Durchführung (Dilthey (1972), 408). 95 Vgl. auch die Bemerkung, wonach der Schmerz Clara »aus der stillen Fassung gesetzt [hatte], die wir sonst an ihr kannten«, und die Rede von der sie früher auszeichnenden »noch ruhigen Fassung und ungetrübten Heiterkeit« (SW IX 27,28).

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einer für die Erkenntnis unabdingbare liebevolle und gleichmütige Hinwendung hindert.96 Sie vermag von der Natur nur sehr wenig zu erkennen, da diese ihr nur ein Spiegel ihrer eigenen Verfassung ist und sie in ihr nur die Darstellung dessen, was sie zur Verzweiflung bringt, wahrzunehmen vermag. Ihre Anschauung entspricht genau­ estens ihrem Gefühl: So wie sie durch den Schmerz über den Verlust verzehrt wird, so sieht sie außer sich nur Bilder, die dieses Gefühl bestätigen und artikulieren. Ihre innere Zerrissenheit spiegelt sich in ihrer Betrachtung der Natur als mit dem Menschen in Widerspruch stehend, oder umgekehrt. Äußeres und Inneres sind nur insofern in Übereinstimmung, als beide durch einen unaufhebbaren Widerspruch durchzogen empfunden werden. Dies zeigt sich gleich zu Beginn des ersten Gesprächs, als die Betrachtung der Herbstzeitlose sie nur an das in der Natur waltende »Gift« zu erinnern vermag (SW IX, 29). Die Erinnerung an das verlorene Glück verwandelt dieses in ein Gift, das ihr inneres Gleichgewicht angreift. Dies führt sie dazu, der Natur die Absicht zu unterstellen, aus allem Guten ein Toxikum zu machen, da alles Liebenswürdige der Vergänglichkeit preisgegeben sei. So wie der Arzt und der Pfarrer durch Claras erste Erscheinung in Schrecken versetzt wurden, verwandelt sich für Clara selbst die Natur in das Unheimliche und Gespenstische und nimmt also den Charakter eines »namenlosen Schrecklichen« an, dessen Bann sie sich dennoch nicht zu entziehen vermag (SW IX, 27).97 Gerade die gleichzeitige Faszina­ tion und Abstoßung durch das Unheimliche in der Natur macht das »Gefährliche [ihres] Zustandes« aus (SW IX, 28). Diese Vorstellung

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96 Der Ekel vor der Natur verbindet Clara mit dem Geistlichen, ohne dass sie jedoch in dessen Lehre Befriedigung zu finden vermag. Daraus ergibt sich als nächste Aufgabe, sie vom Ekel zu erlösen oder sie zur Natur zurückzuführen. 97 Nach Schellings Auffassung verwandelt sich auch für Fichte und Jacobi die Natur in ein Gespenst. Obwohl diese die Natur zu etwas Totem erklären, vermag diese Erklärung ihr das Leben doch nicht insoweit vollständig auszutreiben, als dass sie nicht immer als dasjenige, was nicht ganz sterben will, wiederkehrte. Diese Wiederkehr dürfte das >Wesen« des Gespenstischen ausmachen (vgl. SW VII, 11, 97; IX, 7,38; AA 1,18,159, 171).

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von der Natur ist mit einem Affekt, die Anschauung mit einem Gefühl verbunden. Jenes Gespenst der Natur wird der Arzt zu beschwören versuchen, unter der Annahme, dass eine Veränderung in der Anschau­ ung eo ipso das sie begleitende Gefühl zu korrigieren vermag. Er wird nämlich versuchen, den erregten Eigenwillen, der Clara zum Gift geworden ist, in eine heilsame Kraft, oder das namenlose Schreckliche in Schönheit umzuwandeln, da es nämlich kein >Gift an sich< gebe (vgl. SW IX, 29, 35). Der Arzt richtet sich unvermittelt gegen Claras »Klage«, die er als »ungerecht« bezeichnet (SW IX, 29). Er versucht gar nicht erst dadurch auf Clara zuzugehen, dass er zunächst vorgibt, ihr recht zu geben, um sie so allmählich zu einer zuträglicheren Ansicht zu führen sondern richtet sich direkt und frontal gegen eine seiner Meinung nach falsche Ansicht, die er durch eine angemessenere Lehre zu ersetzen sucht, ohne dabei auf das Gefühl Rücksicht zu nehmen, das sich in jener Ansicht ausdrückt und artikuliert. Es darf denn auch nicht sonderlich überraschen, dass er auf einen anhaltenden Widerstand bei Clara stößt den sie nie aufgibt und der dazu beiträgt, dass die vom Arzt entfaltete Lehre bei ihr keinen Anklang findet. Es scheint somit zunächst das Verfahren des Arztes zu sein, das dafür verantwortlich ist, dass dieser erste Versuch sich als ein Fehlschlag erweist. Dies ändert nichts daran dass der Arzt insofern den richtigen Punkt getroffen zu haben scheint als er von der Annahme ausgeht, dass Clara sich selbst in der Natur reflektiert sieht: So wie die Natur, so »leidet« auch Clara »an einem verborgenen Gift, das sie gern überwinden oder ausstoßen möchte, aber nicht kann« (SW IX, 29). Dem scheint Clara zuzustimmen, indem sie bekennt, dass sie in der Natur, bis hin zum »Geruch mancher Blumen«, nur »ein süßes Leiden« wahrnimmt, dasselbe Leiden, das ihr zu schaffen macht (SW IX, 29). Der giftige Charakter der Natur ihre Feindschaft den Menschen gegenüber, wurzelt somit in einem Leiden derselben. Nur an dieser Stelle greift der Pfarrer in die Unterredung ein, in­ dem er Clara zustimmt und bemerkt, dass »das ganze Wesen der Natur zu bezeugen [scheint], daß sie diesem Zustand nicht freiwil­ lig unterworfen ist und sich sehnt von der Vergänglichkeit erlöst zu

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werden« (SW IX, 30).9899 Er unterlässt es dabei nicht, auf die Differenz von Philosophen und Nicht-Philosophen hinzuweisen, wobei er sich selbst unter die Nicht-Philosophen einreiht, denen die »nie aufhörende Gewalt des Todes« nicht durch eine »willkürliche Erklärung von Tod und Vergehen« weggeschafft werden kann (SW IX, 30)." Er scheint somit gleich anfangs einen Vorbehalt gegen die Lehre des Arztes zu signalisieren. Als dessen Absicht scheint der Pfarrer den Versuch zu betrachten, die Wirklichkeit des Todes durch eine willkürliche Erklä­ rung« wegzuschaffen, ein Versuch, der gerade bei Nicht-Philosophen nicht fruchten kann. Die Besinnung auf die Aktivität des Philosophen am Leitfaden des Sterbens mag durchaus dazu geeignet sein, das Glück des Philosophen nach Kräften zu verschleiern. Niemand, dem diese Aktivität nicht aus eigener Erfahrung vertraut ist, käme nämlich leicht auf den Gedanken, dass gerade das Schreckliche schlechthin oder der ursprüngliche Terror sich als Quelle der Lust erweisen möge. Beson­ ders in diesem Punkt dürfte Schellings Intention auf diejenige Platons treffen. Wie dem auch sei, während der ganzen weiteren Unterredung des Arztes mit Clara wird der Pfarrer völliges Stillschweigen bewahren. Der Arzt schließt sich dem Pfarrer an und wird nicht versuchen, von einer willkürlichen Definition anzufangen; ihm geht es nur darum, den Grund von Claras Klage zu beseitigen. Dazu schlägt er vor, die Schuld des Todes und der Vergänglichkeit nicht der Natur, sondern dem Menschen zu geben. Dieser Gedanke kommt Clara geradezu fantastisch vor und es wird dem Arzt auch kaum gelingen, sie von ihm zu überzeugen. Vielmehr gibt er dadurch ihrer Klage nur weiteren

98 Vgl. »Auch mir, sagte ich, scheint das ganze Wesen der Natur zu bezeugen, daß sie diesem Zustand nicht freiwillig unterworfen ist und sich sehnt von der Ver­ gänglichkeit erlöst zu werden« (SW IX, 30) mit der gleichlautenden Stelle in der Freiheitsschrift-. »Der Anblick der ganzen Natur überzeugt uns von dieser geschehenen Erregung, durch welche alles Leben erst den letzten Grad der Schärfe und der Bestimmtheit erlangt hat« (AA 1,17,145). Vgl. ferner den Begriff eines »Aengstigendefn] in der Natur« mit dem der »Angst des Lebens« (SW IX, 30, 33; AA 1,17,149). Übrigens finden sich über diese Angst bereits im Reinhold-Gespräch einige scharfsichtige Bemerkungen (vgl. AA 1,11, 112,114 f., 145,154). 99 Dadurch bereitet er seine eigene »Erklärung von Tod und Vergehen« im zweiten Gespräch vor (vgl. SW IX, 50).

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Nährboden, wenn er auch deren Richtung verändert. Und nun scheint der Arzt in der Tat den Tod wegerklären zu wollen, indem er Clara von einem Begriff der Natur zu überzeugen sucht, demzufolge diese für sich nur »eine wesentlich hervorbringende Kraft« ist, die »von sich selbst nie aufs Zerstören gehen kann« (SW IX, 30). Der Unterschied zwischen einer von sich selbst bloß hervorbringenden Kraft, die jedoch ohne Bestehendes zu zerstören nichts Neues hervorzubringen vermag, und einer wesentlich zerstörerischen Kraft ist Clara zu subtil: Für sie ist »dieselbe Kraft, die hervorbringt, auch die zerstörende« (SW IX, 30). Hervorbringen und Zerstören sind also nur die beiden Seiten einer und derselben Kraft. Hier klaffen zwei Perspektiven auseinander: Wenn die Natur auch für sich genommen nur auf Hervorbringung gehen sollte so können wir diese hervorbringende Kraft nur als eine zerstörerische empfinden, sobald wir den Blick vom Ganzen auf die Perspektive des Einzeldings lenken, das im Ganzen einbegriffen ist. In seiner Lust am Hervorbringen nimmt das Ganze keine Rücksicht auf die Einzeldinge. Diese Gleichgültigkeit gegen das, was bloß Teil des Ganzen ist, wird von diesen Teilen als Grimm empfunden. Das Ganze, das nur die eigene »Lust des Hervorbringens immerfort [zu] befriedigen« sucht nimmt dabei keine Rücksicht auf die Lust oder das Glück des Teils (SW IX, 31).100 In einer mehr technischen Terminologie könnte man dies als das Auseinanderklaffen von allgemeiner und partikularer Vor­ sehung bezeichnen: »Das waltende Gesetz geht nur auf die Erhaltung dieser Unterlage« (SW IX, 37). Gerade das Höchste muss in der Natur als Zufall erscheinen, da ihr keine Tendenz innewohnt, die Hervor­ bringung desselben zu begünstigen. Wenn Clara den Aussagen des Arztes auch nichts entgegenzusetzen weiß und somit nicht vermeiden kann, ihnen zuzustimmen, so ist sie doch nicht überzeugt und hält ihm vor, dass »solche Ueberführungen [sie] nie beruhigen« können (SW IX, 31). Claras Bemerkung bringt dem Arzt zum Bewusstsein dass das dialogisch-diskursive Verfahren in diesem Fall nicht zum Ziele führen dürfte, weshalb er zu einer anderen Verfahrensweise wechselt

100 Die »Lust des Hervorbringens« bzw. die »Lust am Erschaffen« wird dreimal betont hervorgehoben (SW IX, 30, 31).

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indem er jetzt »erzählungsweise fortfahren« will (SW IX, 31).101 Dazu knüpft er an ein Thema an, das im Prolog bereits kurz vom Pfarrer berührt wurde, nämlich dass »dieses Leben, das wir jetzt leben, ein ganz einseitiges Leben ist, daß es erst vollendet wäre, wenn jenes höhere Geistige sich mit ihm verbinden könnte« (SW IX, 16).102 So bemerkt der Arzt jetzt, »daß weder dieses noch jenes Leben ein ganzes heißen kann, sondern jedes nur eine Seite des ganzen oder ungetheilten« sei (SW IX, 32). Das Thema der ersehnten Ganzheit des Lebens, insbesondere des eigenen je besonderen Lebens, das im nachfolgenden Gespräch des Pfarrers mit Clara noch eine bedeutsame Rolle spielen wird, betrifft Clara unmittelbar, hat doch das Liebesband mit Albert ihr eine Geborgenheit und Ganzheit gewährt, die ihr durch seinen Tod geraubt wurden (vgl. SW IX, 15). Die Erzählung des Arztes zielt darauf ab, in der Verfassung der Natur eine Absicht und einen Willen sichtbar zu machen. Zwar ist der Mensch für die Unterbrechung der Verbindung zwischen Natur und Geist verantwortlich, aber doch nur weil Gott »nicht ein todtes oder nothwendiges, sondern ein freies und lebendiges Band beider (der äußeren und der inneren Welt) [wollte]« (SW IX, 32). Aus dieser Ansicht ergibt sich die praktische Lehre, den Abfall rückgängig zu machen oder die Verbindung wiederherzustellen. Wie dies zu leisten sei, bleibt allerdings offen. Wenigstens erhält das menschliche Handeln dadurch eine geradezu kosmische Bedeutung. Die Aufnahme der Lehre des Arztes durch Clara führt vor Augen, wie ihr Gefühl sich nicht nur in einer Anschauung artikuliert, sondern wie in demselben auch ein Wille und ein Urteil enthalten sind, die sich als die Klage artikulieren, die Welt müsse anders sein, als sie ist, wenn man sie bejahen möchte. Zu bejahen wäre sie somit nur unter der Voraussetzung eines künftigen Lebens, in welchem der das gegenwärtige Leben durchziehende Widerspruch von Äußerem und Innerem aufgehoben sei und welches dadurch das Leben zur Ganzheit 101 In der Tat werden die Zusammenhänge hier in der Weise einer Erzählung vorgebracht, allerdings eine, die im Konjunktiv steht, also kontrafaktisch argumentiert (vgl. »Dann also wäre ...«, »Der Mensch hätte ...«, »die ganze Natur hätte ...«,

SW IX, 32). 102 Allerdings sagte der Pfarrer dies nur zu Clara und der Arzt schien dies damals nicht gehört zu haben.

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erheben würde. Die Erregung des Eigenwillens, die jegliche Ordnung durchkreuzt und dadurch das Regellose in die Natur eindringen lässt, dient Clara als Argument, um das Ganze zu verneinen. Deshalb liegt ihr in der Folge so viel daran, eine präzise Vorstellung von der Verfassung der künftigen Welt zu gewinnen, da dieses Wissen darüber entscheidet, wie ihr Urteil über das Ganze ausfallen wird. In diesem Punkt dürfte die entscheidende Differenz zum Arzt und zum Pfarrer zu suchen sein, da deren Begriff eines Geisteslebens sich als die Grundlage einer Bejahung des Lebens erweist. Erst vor diesem Hintergrund dürfte sich die Bedeutung der emphatischen Erklärung erschließen, dass das Geistesleben, wie es nachher vom Pfarrer konstruiert wird, »schon jetzt« und »schon hier« sei (SW IX, 32, 51, 53, 54, 60, 61, 67, 71, 73, 77, 81, 84, vgl. SW VI, 60, 61, 64).103 Während das Leben einer Clara eine Ergänzung in der Zukunft verlangt, um zur Ganzheit zu gelangen, so wird dem Philosophen diese Ergänzung bereits im jetzigen Leben zuteil. Für ihn ist das Geistesleben Gegenwart und damit Gegenstand der Erfahrung, während das Geisterleben für Clara wie für das Volk als zukünftig dargestellt wird und somit nur Gegenstand des Glaubens sein kann. Aber bereits im ersten Gespräch deutet der Arzt selbst an dass er in der Betrachtung der Natur nur Grund finde, diese zu bejahen insofern die Betrachtung selbst ihn »mit einer Art stiller Freude« zu erfüllen vermöge (SW IX, 37). Jedenfalls wird die Frage, welches Urteil über die Welt zu fällen und wie dieses zu begründen sei, auch in den folgenden Gesprächen, vor allem zwischen dem Pfarrer und dem Arzt weiterhin diskutiert. Obwohl mit dem Ende der Erzählung des Arztes erst der Punkt erreicht ist, von wo aus der eigentliche Aufstieg anfangen müsste erreicht die Gesellschaft jetzt den »Punkt [...], wo der Weg aufhör­ te« (SW IX, 34). Während des Verweilens am Ende des Tals tritt der Widerstand Claras gegen die Lehre des Arztes allmählich hervor. Des­ sen Erzählung hat sie somit keineswegs zu »beruhigen« vermocht

103 Die Vorstellung der Geisterwelt als zukünftig entspricht der >mythischen< Vorstel­ lung des Menschen in der Idee als »ein diesem Leben vorausgegangener Zustand« (AAI.17, 153, vgl. SW IX, 64).

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(SW IX, 31). Vielmehr hat seine Lehre ihr die bereits bestehende Un­ ruhe nur noch stärker zum Bewusstsein gebracht. Zwar scheint seine Erzählung zunächst Erfolg zu haben, bemerkt Clara doch, dass der Arzt ihr »ein erwünschtes Licht gegeben« habe und sie selbst einen »solchen magischen Zusammenhang des Menschen mit der Natur [...] schon lang geahndet« habe, doch zieht sie daraus ganz andere Fol­ gerungen, als vom Arzt beabsichtigt (SW IX, 34). Die anfängliche Klage über die Natur verwandelt sich jetzt in eine Klage über den Menschen, die noch erheblich schärfer ausfällt: Clara ergreift jetzt die Partei der Natur nur, um statt dieser nun den Menschen anzuklagen. Gleich fünf Mal bekräftigt sie, dass die Natur »mit Recht« sich gegen den Menschen richte, ihn mit Recht »als den allgemeinen Feind« be­ handele und deshalb auch mit Recht darauf abziele, ihn zu zerstören (SW IX, 34 f.). Sie leugnet also keineswegs die zerstörerische Kraft der Natur, sondern behauptet jetzt, dass diese sich mit Recht gegen den Menschen richte. Die Übel, die der Mensch von der Natur erleidet, interpretiert sie zu einer gerechten Strafe dafür um, dass der Mensch sie von ihrem Ziel abgelenkt habe, und schreibt der Natur dadurch eine Absicht und einen Willen zu. Clara neigt dazu, die Ansichten des Arztes ihrer eigenen Empfindung anzupassen und dementsprechend den schmerzhaften Charakter jener Ansicht hervorzuheben und zu verstärken. Dieser Neigung versucht der Arzt, wenn auch vergeblich, dadurch entgegenzuwirken, dass er sie wiederholt unterbricht. Die Erzählung, die dazu gedacht war, »ihren Gedanken wo möglich eine sanftere Richtung zu geben«, scheint die Krisis vielmehr noch zu verschärfen (SW IX, 28). Clara lässt sich durch die Beteuerung des Arztes, wonach »Freundschaft und oft Mitleiden« die »wesentliche Empfindung« der Natur »für den Menschen« sei, nicht davon ab­ bringen, dass diese doch »so fühllos an den Scenen des Jammers und der Verzweiflung vorüberfgeht]« (SW IX, 35). Wenn der Arzt jedoch bemerkt, dass »an Schicksal und Stimmung des Einzelnen« die Natur »in ihrem großen, aufs Allgemeine gerichtetem Gange vielleicht nur selten theilnehmen [kann]«, kann Clara dem nur zustimmen (SW IX, 35, m. H.; vgl. SW IX, 37). Allerdings beziehen sich die Beispiele, die er als Belege für seine Behauptung, es gäbe doch eine Entsprechung zwischen Natur und Mensch und somit ein Mitfühlen der Natur mit

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dem Menschen, anführt, ausschließlich auf das Schicksal der Völker und nicht auf den Einzelnen. Beim Antreten des Rückwegs bringt Clara mit dem Widerspruch von Äußerem und Innerem die eigentliche Ursache ihres Widerstands zur Sprache. Diesen Widerspruch hat der Arzt so wenig zu überwinden vermocht, als dass er ihn für Claras Empfinden vielmehr noch derart verstärkt und verschärft hat, dass er ihr jetzt als schlechthin unüber­ windlich erscheinen muss. Die Empfindung dieses Widerspruchs liegt ihrem ganzen Leben zugrunde und tritt in diesem immer wieder zum Vorschein. Indem sie darauf verweist, bekräftigt sie, dass die bisherige Unterredung sie nicht dazu befähigt hat, die vorher entstandene Kluft zwischen der Perspektive des Ganzen und der Perspektive des Ein­ zelnen zu überbrücken. Mag der Arzt selbst auch bekennen, dass die Betrachtung der Natur ihn mit »stiller Freude« erfülle, sofern jener Wi­ derspruch sich in ihr in der Identität von Realem und Idealem aufhebt so scheint gerade mit der Erregung des Eigenwillens ein Regelloses in die Natur einzufallen, das sich nicht in jene Identität aufheben lässt (vgl. AA 1,17,131,161). Vielmehr kann er nicht anders, als einzugeste­ hen, dass der Eigenwille als »ein Fremdes« in der Natur ist, »von dem sie bloß der Träger ist, ohne es in sich selbst aufnehmen zu können« (SW IX, 37). Nicht nur in der Natur, sondern auch für das Selbst er­ scheint der erregte Eigenwille als ein Fremdes, als eine Extimität, die es ausstoßen möchte, ohne dies zu vermögen. Es wird somit in der Folge zu zeigen sein, wie das Streben nach Erkenntnis gerade eines solchen unaufhebbaren Widerstands bedarf, wenn die Welt trotz des erregten Eigenwillens gerechtfertigt werden soll (vgl. SW IX, 38; AA 1,17,131) Damit wäre zugleich gezeigt, dass Freiheit im anspruchsvollem Sinne nicht von der Erkenntnis zu trennen ist (vgl. SW IX, 38 f.).104*Wie 104 »Ich habe mir oft gedacht, sagte hierauf Clara, daß der Anblick der Freiheit - nicht der, die man so nennt [gemeint ist die libertas arbitrii, R. S.J, sondern der wahren eigentlichen - den Menschen unerträglich seyn müßte, die sie doch beständig’ im Munde führen und sich viel darauf zu gut thun. Sie begnügen sich so gern alle ihre Handlungen nach Gründen oder gar Grundsätzen zu bestimmen, und malen sich dann diese Knechtschaft ihrers Herzens als Freiheit vor« (SW IX, 38 f) Anschließend zieht der Arzt einige Linien der Freiheitsschrift aus, die Schelling selbst dort nicht mit dieser Klarheit ausgezogen hat.

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dem auch sei, die Lehre, die der Arzt in der Absicht vorträgt, sie von ihrem Abscheu zu heilen, hat somit nur zur Folge, dass sie in diesem erst recht bestärkt wird: Deshalb schließt das Gespräch mit Claras Erklärung, dass ihr »jetzt jenes hohe, heilige Geisterreich näher [ist] als Natur, Welt und Leben« (SW IX, 40). Damit bekräftigt sie die Ansicht, die Anlass des Gesprächs war und die der Arzt allem Anschein nach nicht zu verändern vermocht hat.

4. Ein Verlangen nach Ganzheit Der Versuch des Arztes, Clara zur Natur zurückzuführen, hat sich als Fehlschlag erwiesen. Dies zeigt sich nicht nur an Claras emphatischer Erklärung, mit welcher sie das Gespräch abbricht, sondern auch an des Pfarrers Beobachtung, dass sie sich weiterhin »mit dem Einen Gegenstand beschäftigte«, von welchem die Lehre des Arztes sie somit nicht abzulenken vermocht hat (SW IX, 40). Deshalb wird im zweiten Gespräch diesmal der Pfarrer einen zweiten Versuch einer solchen Rückkehr unternehmen. Da er sich jedoch auch im dritten Gespräch noch um eine solche Rückkehr bemüht zeigt, können wir schon im Voraus vermuten, dass auch dem zweiten Versuch kein voller Erfolg beschieden sein wird. Lenken wir die Aufmerksamkeit für einen Au­ genblick auf die Erzählung als Ganzes, so lässt sich feststellen, dass der Erzähler aus den vergeblichen Versuchen mit Clara durchaus seine Lehren gezogen hat. Die Natur, wie sie in der Erzählung in Erschei­ nung tritt, ist nämlich nicht die Natur, wie sie, als Gegenstand einer Naturphilosophie, nur mit dem Geist und den Gedanken zu erfassen ist, sondern wie sie sich der sinnlichen Wahrnehmung als heimatliche Natur darbietet. Sogar das Weltall soll sich in der Betrachtung in einen heimatlichen Ort verwandeln. Was nun das zweite Gespräch betrifft, so hat der Pfarrer aus dem Fehlschlag des Arztes insofern gelernt, als er sich besonders bemüht zeigt, nicht so sehr eine geschlossene Lehre vorzutragen, als eher sokratisch vorzugehen. So sucht er an die Vormeinungen Claras anzuknüpfen, um sie dadurch allmählich zu einer neuen Ansicht zu führen, während die Lehre des Arztes ihr

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eine wahre periagoge zugemutet hatte.105 Dies geschieht in einem Gespräch, das der Pfarrer zunächst privatim mit Clara führt.106 Mag die Unterredung mit dem Arzt zunächst auch ohne merkliche Folgen geblieben sein, so scheint am Weihnachtsabend in Clara doch insofern eine Veränderung vorgegangen zu sein, als »in ihrem Wesen [...] etwas Verklärtes und eine Art unbeschreiblicher Heiterkeit [war], die wir lange nicht an ihr bemerkt hatten« (SW IX, 40 f.). Diese Heiterkeit, de­ ren Beständigkeit ohnehin fraglich ist (vgl. SW IX, 15), erhält dadurch einen unheimlichen Charakter, dass Clara sie aus der Identifikation mit der »verlorenefn] Mutter« der Kinder des Pfarrers bezieht; eine Iden­ tifikation, die Clara selbst einen gespenstischen Charakter annehmen lässt. Die Verklärung der Clara scheint tatsächlich darin zu bestehen dass sie sich den Abgeschiedenen nach und nach anverwandelt »als umfinge auch [sie] schon das Geisterleben, als wandelte [sie] noch auf der Erde, aber als ein ganz anderes Wesen« (SW IX, 41, vgl. 85). Statt von der Materie verzaubert, scheint Clara durch den Verlust des Geliebten in den Bann des Geisterlebens zu gelangen, von welchem sie sich nicht zu befreien vermag. Trotz ihres heiteren Zustands, den sie als »ohne Bedürfniß« und »ohne Schmerz« bezeichnet, genügt die Reflexion über denselben oder das bloße Selbstbewusstsein, um ihn zum Verschwinden zu bringen und in einen Zustand der Sehnsucht

und des Schmerzes über den Verlust umzuwandeln, wie in dem gleich anschließenden Seufzer zum Ausdruck kommt: »- warum können wir diese Augenblicke nicht festhalten?« (SW IX, 41, vgl. 105). Nicht nur wird die Heiterkeit solcher Augenblicke durch die Reflexion unweigerlich kontaminiert, sondern das anfängliche Glück verwandelt sich durch dieselbe sogar in ein Gift, das sich in das gegenwärtige Leben einfrisst und es unerträglich macht.107 Wir sehen, wie wenig Clara sich seit dem ersten Gespräch verändert hat, da sie sich innerhalb kürzester Zeit wieder in dem Zustand befindet, mit welchem das erste Gespräch angefangen und mit welchem es geendet hatte. Das Gefühl der Heiterkeit wäre nur von Dauer, wenn es, per impossibile, von der Reflexion freizuhalten wäre.108 Der Pfarrer beschränkt sich indes keineswegs auf eine bloß in der Darstellung implizierten Aufdeckung des grundlegenden Mangels der von Clara verkörperten Lebensweise, sondern er erhebt das Hellsehen, als den Zustand, den Clara als einen solchen des höchsten Glücks empfindet, zum ausdrücklichen Gegenstand der Erörterung. Er wird sich auf eine immer tiefere Schichten freilegende Auseinandersetzung mit Clara einlassen, um den Nachweis zu erbringen, dass die von ihm selbst verkörperte, auf Wissenschaft gegründete Lebensweise sich gerade im Hinblick auf das Gefühl als überlegen erweist. Da

705 Der Arzt hatte sein sokratisches Vorgehen alsbald aufgegeben (vgl. SW IX, 30 f) Obwohl Clara im Gespräch mit dem Pfarrer einige Bedenken äußert, so zeigt sie doch an keiner Stelle einen ähnlich hartnäckigen Widerstand, wie im Gespräch mit dem Arzt.

107 Gerade dies scheint der Pfarrer im Sinn zu haben, wenn er zu einem späteren Zeitpunkt bemerkt:» [W]o die reinere Freude selbst einen Stachel in uns zurückläßt und ein selten ruhendes Herz auch aus den Süßigkeiten des Lebens ein feines Gift zieht, das uns endlich untergräbt« (SW IX, 107). Übrigens bedauert auch Schleiermacher, den »geheimnißvollefn] Augenblik« nicht »festhalten« zu können, geschweige denn, dass er sich >künstlich< hervorbringen ließe (KGA 1,2, 221). Könnte man ihn festhalten und dauerhaft machen, so wäre die sich in Anschauung und Gefühl manifestierende Passivität aufgehoben. Während Clara den glücklichen Augenblick nicht festzuhalten vermag, scheint sie umgekehrt selbst durch die

706 Das zweite Gespräch besteht aus vier Teilen: 1. ein privates Gespräch zwischen dem Pfarrer und Clara (SW IX, 41-57); 2. eine Unterredung zwischen dem Pfarrer und dem Arzt, bei welcher Clara zwar anwesend ist, an welcher sie indes immer weniger Anteil nimmt, bis sie ihr Interesse gänzlich zu verlieren scheint, sodass sie »unserem Gespräch nur noch halb oder gar nicht zuzuhören schien« (SW IX, 57-63); 3. ejn Gespräch, an welchem alle drei Teilnehmer ungefähr gleichen Anteil haben (SW IX 63-76); 4. nachdem der Pfarrer bereits »entschlossen« war »aufzubrechen«, wird er vom Arzt in eine weitere Gesprächsrunde gezogen, da er im Vorhergehenden einen alles andere als nebensächlichen Aspekt des Themas absichtlich mit Schweigen übergangen hatte, über den der Arzt ihn jetzt zur Rechenschaft zieht (SW IX 76-86). Bereits die formale Komplexität ist im Vergleich zum ersten Gespräch erheblich gesteigert.

Anschauung der Natur als etwas Schreckliches wie festgehalten oder gebannt zu

sein. 108 Diese Beobachtung trifft die Position Schleiermachers, wie er sie in den Reden gegen die Philosophie zu errichten versucht hatte, ins Herz, da diese in der Tat auf die Fiktion aufbaut, das Gefühl könnte von der Reflexion ferngehalten und dauerhaft sein. Die Beobachtung stellt somit eine Kritik dar, die bekanntlich Hegel bereits gegen die Gefühlsphilosophie gerichtet hatte.

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ihm jedoch zugleich daran gelegen sein muss, Clara zu einer »eigens temperirtefn] Einsicht« zu führen, und er sich der Gefahr bewusst ist, jemanden zu einer »Erkenntniß« führen zu wollen, »der er nicht gewachsen« ist, wird er nach Kräften vermeiden, Clara die Differenz beider Lebensweisen allzu klar vor Augen zu stellen (SW IX, 28). Die nachfolgende Unterredung beruht denn auch auf der stillschweigen­ den Prämisse, es bestünde eine nur nachgeordnete Differenz zwischen dem Zustand, den der Pfarrer als den höchsten erkennt, und dem Zustand, den Clara als Heiterkeit empfindet; eine Differenz, die er gerade dadurch zu verschleiern vermag, dass er beide gleicherweise als »Hellsehen« bezeichnet und das Hellsehen, wie Clara es versteht, zum Leitfaden nimmt, um die intellektuelle Anschauung zu artikulieren und zu reflektieren. Clara scheint sich mit dem Pfarrer in der Tat in der gemeinsamen Erfahrung des Hellsehens zu treffen und sich von ihm nur dadurch zu unterscheiden, dass ihr das Vermögen fehlt diese Erfahrung zu artikulieren. Das Fehlen dieses Vermögens wird sich jedoch im Laufe des Gesprächs als von grundlegender Bedeu­ tung erweisen. - Da die Wahl des Namens der Hauptfigur vorzüglich dadurch motiviert scheint, das Hellsehen als Grundzug ihrer Natur hervorzuheben, mag dies der geeignete Ort sein, näher auf diesen Namen und damit auf die besondere Natur der Clara einzugehen. Man hat den Namen »Clara« mehrfach als symbolisch aufgefasst.109 Der Text selbst legt eine solche symbolische Auffassung des Namens nahe da Begriffe wie »Heiterkeit«, »Klarheit«, »Freiheit«, »Reinheit« und »Tiefe« vielfach in Verbindung mit ihr erwähnt werden; Begriffe, die sich unter dem Begriff der »Innigkeit des Gefühls« zusammenfassen lassen, die der Pfarrer als den Grundzug von Claras Natur hervorhebt.110 Der Name »Clara« scheint somit die Annahme zu begünstigen, dass die so 109 Nach einigen Kommentatoren war die Ähnlichkeit mit »Caroline« für die Wahl entscheidend (vgl. z. B. Gulyga (1989), 257). Grau hat darin eine Anspielung auf Clara von Assisi sehen wollen (vgl. Grau (1997), 596), Ehrhardt eine - auf Caroline zurückgehende - Anspielung auf Clärchen aus Goethes Egmont (vgl. Ehrhardt (2012), 140 u.C. Schlegel an F. W.J. Schelling, 20. Dezember 1800, C. Schelling (1913), Bd. 2, 21). Steinkamp bespricht mehrere Hypothesen und entscheidet sich schließlich für den Bezug zur clairvoyance (vgl. Steinkamp (2002a), xxxiii-xxxv) 110 Vgl. besonders SW IX, 22, 24, 40, 41,64-68,70, 75 f., 86 f., 98 f., 100 f., 107.

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bezeichnete Figur sich gerade durch diese Eigenschaften auszeichne. Dass es durchaus fraglich erscheinen muss, die Heiterkeit als Grundzug von Claras Natur zu bestimmen, wurde bereits angedeutet. Dass ihr darüber hinaus auch insbesondere die Klarheit im eigentlichen Sinne fehle, geht aus einer aufschlussreichen Beobachtung des Erzählers hervor, mit welcher er seine Wiedergabe des Gesprächs eröffnet: Zwar gesteht er Clara eine »wunderbare Innigkeit des Gefühls« zu, wie sie »sich in einzelnen Reden [verriet]«, hebt zugleich als das, »was ihr aber fehlte«, die Fähigkeit hervor, »sich ihre eignen Anschauungen durch Auswickelung klar zu machen«« und bescheinigt ihr sogar, eine Scheu »vor dieser Entwicklung, die [ihr] als ein Heraustreten aus sich selbst erscheint«, da sie »immer in ihre eigne Tiefe zurück und die Seligkeit des Mittelpunkts immerfort genießen [wolle]« (SW IX, 40). Die Klarheit, die Clara auszeichnete, ist demnach von einer derart blendenden Helle, dass diese sie daran hindert, das Angeschaute klar zu erfassen. Mit der begrifflichen Schärfe fehlt ihr indes die Klarheit selbst: Die ihr eignende Klarheit wäre eine solche, in welcher nichts klare und distinkte Konturen gewinne.111 Der Name »Clara« charakterisiert die Figur somit vor allem e contrario-. Er zeigt in erster Linie an, was ihr fehlt, und bezeichnet somit eher den Gegenstand ihrer Sehnsucht, als eine Eigenschaft, die ihr zukommt. Der Name ist dessen ungeachtet durchaus angemessen, da Clara sich in der Tat vorzüglich durch die Sehnsucht, ein selbstzentriertes Ganzes zu sein, charakterisiert. Diese Sehnsucht ließe sich nur durch eine dauerhafte Anschauung erfüllen, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eins zusammenfügt. Stattdessen gilt ihr die Vergangenheit als unwiederbringlich verloren, die Gegenwart als ein Zustand des zehrenden Schmerzes und die Zukunft als bloßes Versprechen einer Wiederherstellung des Glücks. Hieraus dürfte auch ersichtlich werden, weshalb der Arzt und der Pfarrer Clara gerade zu einer Anschauung der Natur zu führen suchen:

111 In diesem Zusammenhang gibt Ehrhardt den aufschlussreichen Hinweis, wonach >Hellsehen< von Aufklärern wie Garve und Gervinus als terminws technicus »für

Evidenz oder clara et distincta perceptio« benutzt wurde (Ehrhardt (2009), 98). Der clara perceptio der Clara fehlt aber gerade die Distinktheit, die sie erst zu einer im eigentlichen Sinne klaren Wahrnehmung machte.

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Diese würde es ihr erlauben, ihr Gefühl adäquat zu artikulieren, und zwar indem in der Natur Entsprechungen und Sinnbilder menschlicher Empfindungen nachweisbar seien. Eine solche Anschauung stellt eine Art Entrückung dar, eine »objektive« Wahrnehmung des Menschen, während das Unvermögen, das Gefühl zu artikulieren oder die eigenen inneren Vorgängen als natürliche Phänomene zu betrachten, dazu führt, dass diese zu Geistern oder Gespenstern auswachsen, die das Gemüt in ihren Bann ziehen und es unterwerfen.112 - Für den Leser gilt es denn auch, die Differenz fortwährend zu beachten und zu bedenken wenn er den philosophischen Ertrag, den dieses Gespräch bereit hält einfahren möchte. An diesem Gespräch hat der aufmerksame Leser somit die Gelegenheit, zu beobachten, in welchem Maße der Pfarrer die Kunst des Gesprächs beherrscht und ausübt, während diese Kunst dem Zuhörer oder dem Gesprächsteilnehmer vielleicht eher verborgen bleibt.113 Insbesondere hat dieser zu beachten, dass dieses umfang­ reichste und komplexeste der Gespräche des Fragments, auch wenn die Gesprächsteilnehmer sich vom anfänglichen Thema zu entfernen und es fast zu vergessen scheinen, sein argumentatives Gewicht doch erst dann erweist, wenn es mit dem zentralen Thema in Verbindung gebracht wird. Mag der Pfarrer Clara auch darin beistehen wollen, ihr Gefühl zur klaren und geordneten Artikulation zu bringen, so wird er darüber doch nicht die Grenzen übersehen, die diesem Vorhaben durch die besondere Natur Claras gesteckt sind. Die Argumentation, wie er sie im Zwiegespräch mit Clara entfaltet, erhebt denn auch keinen Anspruch auf Wahrheit. Dies wird am offensichtlichsten an solchen Stellen, wo er Thesen mittels Prämissen zu beweisen sucht die er im Nachhinein wieder zurücknimmt oder an solchen, wo er Clara bei der Formulierung von Syllogismen unterstützt, obwohl er 112 Den »Geschöpfe[n] einer ungeregelten Sehnsucht oder einer wilden Einbildungs­ kraft« setzt der Pfarrer somit nicht, wie noch der Geistliche, die Moral, sondern die Erkenntnis entgegen (SW IX, 20). 113 Vgl. Schellings Bemerkung aus Anlass von Schleiermachers Weihnachtsfeier. »Denn euch Andere zwar, die ihr die Rede sprechen hörtet, mag gedünkt ha­ ben, dass eure Gedanken der raschen Folge von Verknüpfungen [...] nur nicht haben nachkommen können; mir aber, der diese Folge schriftlich vor sich hat, und ihr, verweilend, nachgehen konnte ...« (Schelling (1807), Sp. 463; m. H.).

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die auf diese Weise bewiesenen Thesen für sowohl falsch als auch nutzlos hält (vgl. SW IX, 54—56). Seine Behauptungen wird er nicht durch Beweise unterstützen, sondern durch solche Argumente, die Clara zu überzeugen, ihr Gefühl zu befriedigen und ihre Sehnsucht zu beruhigen vermögen (vgl. SW IX, 42, 49). Diesem Verfahren liegt die Einsicht zugrunde, dass das Gefühl, das allen wissenschaftlichen Bemühungen vorausgeht und zugrunde liegt, durch philosophische Argumente nur an sich selbst irre werden würde und dass sogar auch auf jeden erbaulichen Versuch zu verzichten sei, wenn es nicht von sich aus einer natürlichen Dialektik aufsitzen würde. Aus letzterem Grund bedarf es allerdings einer philosophischen Dialektik, um das Gefühl zu seiner Reinheit zurückzubringen.114 Der Gehalt der Schrift 114 Dass die Kritik der Volksreligion auf der Basis der Moral, wie sie vom Geistlichen vorgetragen wurde, auf Clara nur verstörend und empörend wirkt, ließe sich daraus erklären, dass eine auf Moral aufbauende Natürliche Religion für das Volk Ansprüche erhebt, die es nicht zu erfüllen vermag. Gegen Schleiermacher ließe sich hingegen einwenden, dass er die mit dem Gefühl gleichursprüngliche natürliche Dialektik unterschätzt oder sogar übersehen hat. Vielmehr baut er auf die Annahme der Reinheit des Gefühls auf, das immer nur durch eine ihm äußerliche Reflexion kontaminiert werden konnte. - Dennoch weist das Verfahren des Pfarrers eine gewisse Ähnlichkeit mit dem von Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten befolgten Verfahren auf, wonach in der »gemeinen Menschenvernunft« selbst ein Prinzip entdeckt werden könne, das ihr »zum Richtmaß« und zum »Kompasse« dienen könne und das nur freigelegt zu werden brauche, »ohne sie im mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, wie Sokrates tat, auf ihr eigenes Prinzip aufmerksam macht, und es also keiner Wissenschaft und Philosophie bedürfe, um zu wissen, was man zu tun habe«. Andererseits bedarf es doch insofern der Wissenschaft und Philosophie, als die gemeine Menschenver­ nunft neben jenem Prinzip auch ein entgegengesetztes Prinzip in sich trägt, das sie zu Sophistereien veranlasst, d. h. das Prinzip einer »natürlichefn] Dialektik, d. i. ein Hang, wider jene strengen Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit, wenigstens ihre Reinigkeit und Strenge, in Zweifel zu ziehen und sie womöglich unseren Wünschen und Neigungen angemessener zu machen, d. i. sie im Grunde zu verderben und um ihre ganze Würde zu bringen« (I. Kant (1911): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Ders.: Kant's gesammelte Schriften. Hrsg, von der königl. Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin, Bd. 4,404 f.). - Diese Erklärung weist erstaunliche Parallelen zu einigen Sätzen eines Fragments auf, das in Carolines Handschrift überliefert ist. Schmidt zufolge »scheitert« der Versuch jedoch, dieses Fragment Caroline zuzuschreiben »an dem Stil, der mit C[aroline]s

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erschöpft sich denn auch keineswegs in der erbaulichen Lehre, die der Pfarrer Clara oder der Erzähler seinen Zuhörern mitzuteilen sucht, sondern die erbauliche Absicht überlagert vielmehr das eigentlich philosophische Interesse. Erbauliche Absicht und philosophischer Gehalt sind sich nämlich keineswegs bloß äußerlich. Die Hinwendung zum Volk geschieht selbst aus einem theoretischen Interesse, und zwar aus demselben Interesse, welches auch die Hinwendung zu jenen Phänomenen motiviert, die die Schrift am meisten in den Verdacht des Irrationalismus gebracht haben. Sie geschieht nämlich in der Absicht der Freilegung eines vorphilosophischen oder vorwissenschaftlichen Lebens, also eines Lebens, dem die Wissenschaft noch gänzlich fremd ist und das der Berührung mit der Wissenschaft vorausgeht. Die Le­ benswelt, die von den Auswirkungen der Wissenschaft noch völlig frei ist, ist indes eine solche, in welcher es Geister gibt. Die Rückwendung zur Geisterwelt ist somit durch die philosophische Absicht der Schrift bedingt. Es mag vor allem aus diesem Grund sein, dass Schelling sich Ausdrucksweise gar nichts gemein hat«, weshalb er für Schelling als Verfasser plädiert, auch wenn das Fragment aus der Perspektive einer Frau geschrieben ist (C. Schelling (1913), Bd. 2, 664). Falls das Fragment in der Tat Clara zuzuordnen ist, wie die Herausgeber meinen, wäre dies zudem ein Beleg für eine Datierung vor 1809. Die besagten Sätze lauten: »[E]in einfaches weibliches Herz will sich in diese heiligen Geheimnisse eindrängen — will sich selbst einmal aufzeichnen was das Resultat des Verstandes und des Herzens ist, wenn es den Tod ohne die Wiedersprüche erlernter Lehren betrachtet, und welchen Nutzen er dem Leben bringt. Einzige Gottheit die ich erkenne, einzige Gottheit deren Macht ich fühle gütige Mutter Natur, laß meine Sprache die Bilder Deiner Worte mahlen, und nie das Gefühl, das Du bildetest, durch erlerntes ungefühltes Wißen verirrt werden!« (C. Schelling (1871); Caroline. Briefe an ihre Geschwister, ihre Tochter Auguste, die Familie Gotter, F.L.W. Meyer, A.W. und Fr. Schlegel, J. Schelling u. a. Hrsg, von G. Waitz. Leipzig, Bd. 2,382). (Beachte auch das zu Anfang der Freiheitsschrift gesteckte Ziel, dem Gefühl der Freiheit zu einer klaren Artikulation verhelfen zu wollen; ein Ziel, das insofern der Natur gemäß ist, als diese selbst als Sehnsucht zu bestimmen ist, die erst im »Wort«, im »Verstand« oder in einer klaren Artikulation ihre Befriedigung findet (vgl. AA 1,17, 111,132).) Das Fragment wurde in der von Muriel Maia-Flickinger angefertigten portugiesischen Übersetzung an der »leerefn] Stelle im Manuscript« eingefügt (SW IX, 28, vgl. F. W. J. Schelling (2015)Clara, ou sobre a conexäo da natureza com o mundo dos espiritos. Um diälogo 2. Aufl. Porto Alegre, 71-76). Vgl. auch Ehrhardt (2004), 199 u. (2012), 133—136

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für den zweideutigen Begriff der >Geisterwelt< entschieden hat.115 Die Rückkehr zum vorphilosophischen oder vorwissenschaftlichen Leben ist denn auch als eine Rückkehr zum Wahnsinn zu interpre­ tieren, also zum Regellosen, wie es nicht nur in der Natur, sondern ebenso in der geistigen Welt durchzubrechen droht (vgl. AA 1,17, 131, 163 f.).116 Dieses allgemeine Verhältnis wird durch die Figur der Clara personifiziert: Der schmerzliche Verlust, den sie erlitten hat, droht, dem Regellosen in ihr wieder zum Durchbruch zu verhelfen, weshalb sie der Unterstützung des Arztes und des Pfarrers bedarf, um es wieder einzuhegen, da ihr selbst die Philosophie (einschließlich der Kunst und der Wissenschaft) als Mittel, um diesen Wahnsinn in eine Ordnung zu überführen, nicht offensteht. Die Ahnungen einer dunklen Zukunft, die der Erzähler mehrfach zum Ausdruck bringt, dürften sich daraus erklären, dass er voraussieht, wie die energisch vorangetriebene Zerstörung der Religion, statt eine Aufklärung her­ beizuführen, vielmehr jenem regellosen Wahnsinn zum Durchbruch verhelfen würde.117 Dieses Unternehmen steht durchaus im Dienst einer Klärung der eigentümlichen Natur des Philosophen und dies heißt in erster Linie der Natur des Denkens und des Geistes. Diese Klärung nimmt, wie wir sogleich sehen werden, die Gestalt einer Selbstkritik der Philosophie an, sofern sie Reflexionsphilosophie ist. Die Rückfragen des Pfarrers geben zu erkennen, dass der Zustand, aus welchem Clara ihre Heiterkeit bezieht, ihm aus eigener Erfahrung vertraut ist, es sich somit keineswegs um einen solchen handelt, zu 115 Ehrhardt gibt den hilfreichen Hinweis, dass Schelling den Begriff der >Geisterwelt< zum ersten Mal einführt, um Leibniz’ Begriff der mtembres de la eite de Dieu< wiederzugeben. Er unterschlägt jedoch die absichtliche Zweideutigkeit des Begriffs, indem er daraus schließt, dass also in Clara »[njichts von mystischer Dunkelheit, Spökenkiekerei und Luftgestalten [...] mit dem Wort Geisterwelt bezeichnet« wird (Ehrhardt (2009), 98; vgl. AA 1,5, 80). 116 Nachzuweisen, dass es auch in diesem Wahnsinn noch eine Ordnung oder ein System gibt, gehört zu den zentralen Anliegen der späteren Philosophie der Mythologie (vgl. indes bereits AA 1,17,132, 163 f., 166 f.). 117 Mehrfach beschwört der Erzähler den drohenden Charakter der Zukunft herauf, der ihn dazu bewegt haben mag, sich mit dieser Erzählung an das Volk zu richten: »in der wilden Zeit, der wir entgegengehen« (SW IX, 23), »Die Ereignisse der Zeit, die eine noch dunklere Zukunft ahnden ließen ...« (SW IX, 27, vgl. ferner 14,104).

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welchem er von sich aus keinen Zugang hätte.118 Anders als Clara, für welche dieses Glück und die Reflexion sich gegenseitig ausschließen, findet der Pfarrer gerade »in der Abwechslung dieser Zustände eine Nothwendigkeit«, eine Abwechslung, welche der »Mäßigkeit des gegenwärtigen Lebens [...] angemessen« ist (SW IX, 42). Der Pfarrer scheint sich die frühere Korrektur durch den Arzt inzwischen zu eigen gemacht zu haben, da sie zu einer klareren Artikulation seines eigenen Zustandes beiträgt, dem er jetzt nicht mehr, wie vorher, ein Leben der Tätigkeit entgegensetzt, sondern das »Gefühl des höchsten Wohlseyns« mit einer Bewegung von diesem >Wohlseyn< hinweg zusammendenkt und das höchste Glück jetzt in dem fortwährenden Hin und Her zwischen beiden Zuständen setzt (SW IX, 42).119 Wenn nämlich der Heiterkeit die »Beschäftigung« zur Seite treten soll, durch welche »wir uns auch für diesem Zustand die Güter jenes höheren versichern«, dann meint er damit nicht, oder jedenfalls nicht hauptsächlich, irgendwelche Beschäftigung, sondern ganz präzise die »Erkenntniß«, und zwar eine solche, aus welcher wir, obwohl sie selbst »in jedem einzelnen Theil Stückwerk ist, doch zuletzt ein Ganzes hervorbringen, das jenem zu­ mal Empfundenen ähnlich ist, und das wir auch dann genießen können wenn uns jene Seligkeit des Anschauens entzogen ist« (SW IX, 42).120 Dabei bekräftigt er, dass »eben diese Auseinanderfaltung der Erkennt­ niß, welche ihre Erhebung zur Wissenschaft ist« ihm »die eigentliche geistige Bestimmung des Menschen für dieses Leben zu seyn« scheint 118 Die Anschauung Claras beschreibt der Pfarrer auch als eine »Eingebung«, »eine Art göttlicher Anschauung«, als eine »außerordentliche Vergünstigung« (SW IX 40, 42). 119 Gerade die Betrachtung der Traurigkeit und der »tiefefn] unzerstörlichefn] Me­ lancholie alles Lebens« wird Anlass zur höchsten Freude, da »Freude [...] Leid haben, Leid in Freude verklärt werden [muß]« (AA 1,17,164). Die Basis dieses Hin und Her von Freude und Leid - von Leid, das sich in Freude verwandelt eine Verwandlung, durch welche das Leid selbst seine Rechtfertigung findet- ist die Erkenntnis der Notwendigkeit der gegenseitigen Bedingtheit beider. 120 Vgl. »Nur wer Freyheit gekostet hat, kann das Verlangen empfinden, ihr alles analog zu machen, sie über das ganze Universum zu verbreiten«, nämlich da­ durch, dass man eine vollständige Naturphilosophie zu entwickeln versucht (AA 1,17,124). Deshalb heißt es auch an späterer Stelle: »[I]n wem diese Erkenntniß ist, den läßt sie wahrlich nicht müßig seyn oder feyern« (AA 1,17, 158).

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Diese Bemerkung bewegt Clara zu dem Geständnis, dass sie zwar »vor der Wissenschaft immer die Achtung empfunden [hat], die jemand für etwas hat, das ihm selbst versagt ist«, sodass sie dem Pfarrer die Frage stellt, wie sie selbst zu verfahren habe, um jenen Zustand festzuhalten oder zum tragenden Grund ihres Lebens zu machen, obwohl es ihr versagt ist, ihn durch Wissenschaft zu erreichen (SW IX, 42).121 Soll es für sie bei diesen vereinzelten Glücksmomenten bleiben, die wie Inseln in ihrem Leben auftauchen, ohne Beziehung zu ihrem übrigen Leben, oder wäre es möglich, jene zum tragenden Grund ihres Lebens zu machen? Der Pfarrer knüpft an das bereits früher von Clara zum Ausdruck gebrachte »Verlangen« nach der »Unsterblichkeit des ganzen Men­ schen« an (SW IX, 43, m. H.). Das Verlangen nach Unsterblichkeit ist nichts anderes als ein Verlangen nach Ganzheit und entspricht somit dem Bewusstsein des gegenwärtigen Lebens als ein der Ganzheit ermangelndes. Das Thema der Ganzheit hatte der Pfarrer vorher in einer vertraulichen Bemerkung an Clara bereits kurz gestreift, und deren Wichtigkeit wurde von Clara bekräftigt, indem sie erklärte, dass die Unsterblichkeit lediglich der Seele ihr nicht den Trost zu spen­ den vermöge, den sie zu bedürfen bekennt, bevor die Thematik auch vom Arzt in seiner Unterredung aufgegriffen wurde, wonach gerade der Tod die Ganzheit unmöglich mache (vgl. SW IX, 16, 17 f., 32). Um dieses Verlangen angemessen zu artikulieren, ist zuerst näher zu bestimmen, »was wir bei dem Wort: der ganze Mensch, zu denken haben« (SW IX, 43). Dazu führt der Pfarrer die Triade von Leib, Seele und Geist ein und stellt sie an die Stelle der überlieferten Dyade von Leib und Seele.122 Die überlieferte Fragestellung verändert er somit bereits dadurch, dass er der gewöhnlichen Unterscheidung von Leib 121 Diese ganze Unterredung kann als die Entwicklung einiger Bemerkungen aus Philosophie und Religion gelesen werden (vgl. SW VI, 19 f. u. Scheerlinck (2017), 133-137). Wenn der Pfarrer bemerkt, dass die »Erkenntniß [...] in der geistigen Intuition vorübergehend, wenngleich in höchster Klarheit und unbeschreibli­ cher Realität, der Seele nur gezeigt wird«, dann darf man darin durchaus eine Anspielung auf die Mysterien sehen (SW IX, 43, m. H., vgl. SW VI, 69 f.). 722 Die Einführung des Begriffs des Geistes scheint mir im Vergleich zu Philosophie und Religion einen Gewinn an begrifflicher Klarheit zu bringen, obwohl auch

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und Seele den Geist hinzufügt.123 Das Argument gliedert sich in zwei Schritte: Zunächst muss nachgewiesen werden, dass der Mensch in der Tat nur eine Ganzheit bildet, sofern die genannten drei Faktoren an ihm unterschieden werden (vgl. SW IX, 43-45). Damit der Begriff der Ganzheit eine prägnante Bedeutung erhält, darf er sich jedoch nicht in der Unterscheidung dieser Faktoren erschöpfen, weil sonst jedem Ein­ zelnen bloß aufgrund seines Menschseins die Ganzheit zuzuschreiben wäre. Vielmehr müssen diese Faktoren in unterschiedliche Verhältnisse zueinander treten können, sodass das jeweils besondere Verhältnis der Faktoren es erlaubt, jemandem die Ganzheit zuzuschreiben oder abzusprechen. Die Triade von Leib, Seele und Geist ist denn auch als eine Mannigfaltigkeit zu denken, da die Faktoren erstens nicht so ge­ dacht werden dürfen, als wäre das Ganze aus diesen zusammengesetzt und da ihnen zweitens eine solche Beweglichkeit innewohnen muss die es erlaubt, mehrere Zustände oder Verfassungen des Ganzen zu denken. Das gegenwärtige Leben wird denn auch durch ein bestimm­ tes Verhältnis jener Faktoren zueinander bestimmt. Dieses Verhältnis schließt indes nicht aus, dass diese Faktoren ihr Verhältnis bereits im gegenwärtigen Leben verändern können. Die Triade erlaubt es somit einen natürlichen Übergang von dem gegenwärtigen oder anfänglichen in einen anderen, in Bezug auf jenen als zukünftig zu bezeichnenden Zustand zu denken. Das Vorherrschen des Leibes ist der ursprüngliche Zustand in dem Sinne des Initialzustands. Das Vorherrschen des Geis­ tes ist indes der ursprüngliche Zustand, insofern er mit der Natur in Übereinstimmung ist. Zur Erläuterung ist noch hervorzuheben, dass mit dem Leib nicht sosehr der sichtbare Körper gemeint ist, sondern vielmehr der gelebte Leib, als eine Vielheit von auseinanderstrebenden Kräften, die nur insofern eine Einheit bilden, als sie durch die Seele als Band derselben in eine bestimmte Rangordnung gebracht worden sind und dadurch zusammengehalten werden. Der menschliche Leib

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dort mehrere Verwendungsweisen des Begriffs »Seele« unterschieden werden und dadurch eine triadische Struktur durchaus angelegt ist (vgl. SW VI, 60). Wie zäh diese überlieferte Unterscheidung ist, mag sich daran zeigen, dass die Problematik weiterhin als das »Leib-Seele-Problem« verhandelt wird. Die Tatsache daß sie im englischsprachigen Raum als das »mind-body-problem« verhandelt wird, zeigt die Zweideutigkeit von »Seele« bzw. >mind< in diesen Diskussionen an.

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ist deshalb immer schon beseelter Leib, da die Kräfte immer schon in eine bestimmte Ordnung gebracht worden sind. Von dem Leib ist somit zu sagen, was Schelling andernorts von der Natur überhaupt sagt, nämlich dass es nirgends scheint, »als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden« und »immer [...] noch im Grunde das Regellose [liegt], als könnte es einmal wieder durchbrechen« (AA 1,17,131). Aus diesem Grund kann er hier die Seele als das Band der Kräfte oder als die Persönlichkeit bezeichnen. Der Geist hingegen ist das Unpersönliche, sofern er auf das Allgemeine gerichtet ist. Der Geist macht, dass das Band der Kräfte nicht nur durch die ihm innewohnende Instabilität veränderlich ist - so wie das seelische Gleichgewicht der Clara durch einen äußeren Vorfall gestört worden ist -, sondern dass es auch willentlich gesteuert und durch Einsicht geleitet verändert werden kann.124 - Nun führt der Pfarrer die Triade dadurch ein, dass er von dem Gegensatz von Leib und Geist ausgeht, die indes ein Band verlangen, wenn sie vereinigt sein sollen. Als dieses Band bestimmt er die Seele. Das Ergebnis dieses ersten Arguments wird in der Folge eingreifend korrigiert, indem der Pfarrer jetzt bemerkt, dass keiner der drei Faktoren »allein und ausschließlich das Verbindende der andern« sei, auch die Seele somit nicht an sich das Band von Leib und Geist sei, sondern dass jeder Faktor dieser Mannigfaltigkeit zum Band der übrigen zu werden vermöge (vgl. SW IX, 46). Diese berichtigte Bestimmung der Mannigfaltigkeit erlaubt nicht nur, drei Faktoren zu unterscheiden, sondern es ergeben sich daraus zugleich drei un­ terschiedliche mögliche Verhältnisse der Faktoren zueinander. Aus dieser Korrektur folgt, dass die Bestimmung des ganzen Menschen als Triade dreierlei Zustände erlaubt, entsprechend des gerade vor­ herrschenden Faktors. Das Verhältnis dieser Zustände kann als eine Sukzession vorgestellt werden, insofern sie in einer notwendigen Folge

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Der Geist wird nicht als »das eigentlich Menschliche im Menschen« bestimmt, und zwar weil, wie stillschweigend vorausgesetzt wird, der Geist das eigentlich Göttliche im Menschen ist (SW IX, 45). Durch den Geist steht das Individuum mit Gott in Verbindung, während er durch die Seele als das individuierende Prinzip von ihm geschieden ist. Deshalb wird die Seele als »das eigentlich Menschliche im Menschen« bestimmt.

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zueinanderstehen: Der zweite Zustand kann sich nur auf der Basis von und als Abwandlung des ersten Zustands einstellen. Damit ist auch gesagt, dass der zweite und der dritte Zustand sich mittels einer Transformationslogik aus dem ersten konstruieren lassen.125 - Die Triade richtet sich nicht nur gegen die übliche Unterscheidung von Leib und Seele, sondern soll ebenso eine kritische Pointe gegen die durch Fichte zur Vorherrschaft gebrachte Reflexionsphilosophie entfalten (vgl. SW IX, 3-10 u. 38). Die Natur zur Grundlage oder den Körper zum Modell zu nehmen erlaubt es, Dimensionen des Geistes und des Denkens freizulegen und rational zu durchdringen, die ein an dem Bewusstsein und der Reflexion über dasselbe orientiertes Denken nur als Schwärmerei auszustoßen vermag.126 Die Reflexionsphilosophie stellt sich von Anfang an auf den angeblich höchsten Standpunkt, ohne dessen Genese oder diesen selbst als Weltereignis einsichtig machen zu können. Insbesondere vermag sie keine Rechenschaft davon zu geben dass es insbesondere das Bewusstsein des Dunkeln ist, das das Denken

125 Dies wird Schelling auch später noch als die »Hauptsache« seiner Unsterblichkeits­ lehre herausstellen (vgl. F.W.J. Schelling an H. Beckers, 7. Juli 1835, Plitt III, 105). Allerdings übt Schelling in Clara wie auch in späteren Darstellungen größte Zurückhaltung in Bezug auf den dritten Zustand (vgl. AA 11,8, 183-185; Schelling (1989), 142; beachte indes SW VI, 69 f.). In Clara findet sich eine Andeutung über den dritten Zustand: Wahrend in dem zweiten Zustand, als eine Umkehrung des ersten, das Leibliche dem Geistigen untergeordnet ist, findet im dritten Zustand eine völlige Durchdringung oder Entsprechung beider statt: »[SJo wäre dieß ja wohl das allerseligste und vollkommenste Leben zu nennen« oder auch »ein ganz seliges, ja gottähnliches Leben« (SW IX, 58 f.; vgl. Schelling (1862), 178; Schelling (1946), 273). Die vollkommene Entsprechung von Äußerem und Innerem wird damit als Kriterium der Vollkommenheit kenntlich gemacht. 126 Übrigens hat Deleuze eine solche Absicht bereits bei Spinoza ausgemacht. Seine Arbeiten zu Spinoza können denn auch als eine immanente Spinoza-Interpretation gelesen werden, nach welcher dieser gerade von dem zentralen Einwand Schellings nicht mehr betroffen sei: Die dynamische Lesart, die Schelling Spinoza entgegen­ setzt, wäre somit in Spinoza bereits angelegt (vgl. AA 1,17,122 f.). Vgl. G. Deleuze (1968): Spinoza et leprobleme de l’expression. Paris, 197-213. Ders. (1981): Spinoza Philosophiepratique. Paris, 28-33. - Dies hatte Schelling übrigens bereits 1797 a]s die eigentliche Absicht Fichtes angesehen, und zwar an einer Stelle, die er 1809 unverändert abdrucken ließ (vgl. AA 1,4,169 f.; SW VII, 442 f.).

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in Bewegung hält (vgl. AA 1,17,131; SW IX, 38).127 Hieraus erklärt sich auch Schellings Interesse an geistigen Phänomenen, die ohne Intention oder nicht vom Willen gesteuert ablaufen und die anzeigen, dass der Mensch auch auf der Ebene des Bewusstseins noch in hohem Grade ein Naturwesen ist. So wie nicht alles, was sich im Körper abspielt, auch zum Bewusstsein gelangt, so überschreitet auch das Denken das Bewusstsein, das man von ihm hat. Die ausschließliche Ausrichtung auf die Erkenntnis wirkt sich auch auf die affektive Organisation des Erkennenden aus, wie umgekehrt jene auch eine bestimmte affektive Organisation zur Voraussetzung hat. Gerade deshalb besteht der »Vor­ hof« der Mysterien darin, dass auf die Affektivität gewirkt wird, um den Erkennenden zur Anschauung der »Schicksale des Universum« zu befähigen (SW VI, 69). Obwohl Clara der Argumentation des Pfarrers nichts entgegenzu­ setzen weiß, so hat sie doch »noch manches Bedenken« (SW IX, 48). Es sind deren zwei. Das erste Bedenken ergibt sich unmittelbar aus der Prämisse, wonach die Seele als das Band von Leib und Geist bestimmt ist, und lautet, dass, auch wenn die Seele für sich ewig und unauflöslich ist, sie dennoch an Leib und Geist so gebunden ist, dass sie mit der Trennung beider zugleich »aufgelöst« werde (SW IX, 48). Das zweite Bedenken ist von der Sprache des Volkes hergenommen. Die Behauptung, dass die Seele »das eigentlich Fortdauernde« sei, scheint nämlich schwer vereinbar mit der Bezeichnung der »Welt, in welche der Uebergang aus dieser nach dem Tode geschieht«, als die »Geisterwelt« (SW IX, 48). Nach »allgemeine^ Uebereinstimmung« wäre also nicht so sehr die Seele, als vielmehr der Geist >das eigentlich Fortdauernde* (SW IX, 48). Der Pfarrer gesteht denn auch sogleich zu, dass er »von der Seele als dem Band von Geist und Leib sehr undeutlich gesprochen« und die bisherige Beweisführung aufgrund einer unstatthaften Prämisse geführt habe, nämlich »als könnte es eben je und irgend wann einen Leib für sich und einen Geist für sich

127 Daraus folgt auch, dass sie der Herausforderung der Offenbarungsreligion nicht erfolgreich zu entgegnen, weil den Offenbarungsglauben nicht auf eine natürliche Weise zu erklären vermag.

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geben« (SW IX, 49).128 Die Prämisse, durch welche er den Vorzug der Seele bewiesen und die philosophische Rede von der Unsterblichkeit der Seele als berechtigt und in der Sache gegründet nachgewiesen hat, führt zugleich dazu, dass die Unsterblichkeit der Seele unbeweisbar ist oder wenigstens zweifelhaft wird (vgl. SW IX, 48). Um das Bedenken zu zerstreuen, hebt er deshalb jetzt einen anderen Aspekt hervor nämlich »daß jedes derselben des anderen bedürfe, keines das ande­ re entbehren könne, und daß also, wenn sie einmal zusammen sind sie durch ein ganz unauflösliches Band aneinander gekettet seyen« (SW IX, 49). Aus dieser Behauptung scheint jedoch unmittelbar zu folgen, dass, wenn nur einer der Faktoren weggenommen würde, das Ganze aufgehoben sei. Auch diese neue These scheint sich somit nicht dazu zu eignen, die Fortdauer der Person zu beweisen. Zudem folgt daraus, dass es eben nicht, wie noch vorher bewiesen, die Seele ist, die vorzüglich fortdauert, sondern dass eine Fortdauer nur behauptet werden kann, wenn das Ganze der drei Faktoren in dieser begriffen sei. Diese Annahme führt, wie der Pfarrer hervorhebt, zu folgender Alternative: »entweder [müssen] alle zugleich aufhören [...] zu seyn, oder wenn das eine fortdauert, [müssen] nothwendig alle fortdauern« (SW IX, 49). Die erste der Alternativen wird allerdings an keiner Stelle widerlegt. Da nun offenkundig der Leib irgendwann zu sein aufhört wäre daraus zu folgern, dass damit auch das Ganze aufhöre. Dies wird den Pfarrer in der Folge dazu nötigen, den äußeren vom inneren Leib zu unterscheiden. Diese zusätzliche Annahme wäre jedoch nur dann überzeugend, wenn er zugleich bewiese, dass der innere Leib auch ohne den äußeren Leib fortdauern könne, einen Beweis, den er an keiner Stelle liefert. Nachdem er diese Alternative aufgestellt hat, fängt der Pfarrer an, von der Erfahrung zu sprechen, die uns lehrt, dass die drei Faktoren »doch einmal wenigstens für den gegenwärtigen Umlauf des Lebens so miteinander verkettet« seien: »Könnte ich nun nicht [...] aus dieser Verkettung einen ganz andern Beweis für die Fortdauer führen, als die Philosophen aus der Einfachheit der Seele zu 128 Selbst wenn der Pfarrer nicht bereits vorher erklärt hätte, dass es ihm nicht um Beweise zu tun ist, so müsste spätestens an diesen Retraktionen klar werden, dass es ihm eher um das Überzeugen als um das Beweisen geht.

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führen pflegen, wenn es uns nämlich hier um einen Beweis zu thun wäre« (SW IX, 49). Auf einen solchen Beweis aus der Einfachheit der Seele, jedenfalls aus deren Superiorität, schien er im Vorhergehenden zuzusteuern, da der Vorzug der Seele eben darin bestand, anders als Leib und Geist nicht veränderlich zu sein. Clara formuliert denn auch den naheliegenden, ebenfalls auf die Erfahrung rekurrierenden Einwand, dass »der Tod nur allzu offenbar Ein Glied aus dem Umlauf hinweg[nimmt], womit dann, wenn alles nur zusammen bestehen kann, auch alles Zusammenstürzen muß« (SW IX, 49). Diesen Einwand hat der Pfarrer, wie er eingesteht, selbst herausgefordert (vgl. SW IX, 49 f.). Dazu muss er jetzt die geläufige Definition des Todes als »eine gänzliche Losreißung und Trennung des Geistes und der Seele von dem Leib und des Leibs von jenen« zurückweisen (SW IX, 50). Der Leib sei die Basis von Seele und Geist; er sei selbst in Seele und Geist enthalten. Um diesen Einwand zu entkräften, führt der Pfarrer eine Definition des Todes als eine »Versetzung [...] aus dem Leiblichen ins Geistige« ein, durch welche er die beiden vorher von Clara for­ mulierten Bedenken auf einmal zu beseitigen glaubt (SW IX, 52). Im Übergang zum Geisterleben ist nicht länger der Leib das Band von Seele und Geist, sondern der Geist wird zum Band, das Leib und Seele zu einer Einheit vereinigt. Durch diese Definition nähert der Pfarrer den Tod dem Zustand der Philosophen an, jenem »von Sokrates gepriesenen Tod [...], der der Eingang zu der ewigen Freyheit und dem wahren Leben ist« und der darin besteht, »sich in sich selbst von allen Seiten aus dem Leib zu sammeln und zurückzuziehen, und nach Vermögen in sich selbst zu wohnen« (AA 1,12, 473). Der geläufige Begriff vom Tode soll somit durch die Verbindung mit der vorher gewonnenen Bestimmung der Ganzheit transformiert werden. Die Trennung ist nicht buchstäblich zu verstehen, sondern so, dass das vorher Herrschende in dem folgenden Zustand eine untergeordnete Rolle erhält. Aus dieser Änderung des Verhältnisses der drei Faktoren folgt keine »gänzliche Losreißung« der Seele und des Geistes vom Leib, welche die Ganzheit aufheben würde. An dieser Stelle erinnert der Pfarrer an die These von der Verzauberung durch die Materie, wie der Arzt sie ihm »wenigstens sehr glaublich gemacht hat«, obwohl sie Clara damals nicht im Geringsten zu überzeugen vermochte und auch

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jetzt nicht ihre eindeutige Zustimmung findet (SW IX, 51, vgl. 33). Auf diese Prämisse wird der Pfarrer jetzt seine Lehre vom Übergang in einen Zustand der Geistigkeit stützen. Da diese Lehre nur von de­ nen nachvollzogen werden kann, die diesen Übergang sozusagen am eigenen Leibe erfahren haben, ist der Pfarrer genötigt, sich Analogien zu bedienen (vgl. SW IX, 52). Plausibel soll nur gemacht werden, wie »jener Umlauf« oder jene Mannigfaltigkeit in der Tat eine Veränderung des Verhältnisses der Faktoren und damit den Übergang von einem in einen anderen Zustand erlaubt.129 Clara bemerkt zu Recht, dass, wenn in jenem Zustand »die Seele [...] zur geistigen Seele erhoben« wird während sie »im gegenwärtigen Leben nur leibliche Seele gewesen« ist, dann auch der Leib in jenem Zustand zu einem geistigen Leib werden muss (SW IX, 52). Daraus zieht sie die Folgerung, dass alle drei Faktoren derselben »zweiseitig« sein müssen: Somit gebe es einen geistigen und einen äußerlichen Leib, eine leibliche und eine geistige Seele sowie einen leiblichen und einen inneren Geist (SW IX, 53). Ein zweites Mal knüpft der Pfarrer an die Lehre des Arztes an, dass nämlich »die Erde, und also auch der Leib, der von ihr genommen ist, nicht bestimmt war bloß äußerlich zu seyn, sondern Aeußeres und Inneres, in beiden eins seyn sollte« (SW IX, 53, vgl. 39 f.). Der zukünftige Zustand ist insofern im gegenwärtigen wenigstens als Keim bereits vorhanden, als eben die Mannigfaltigkeit die Beweglichkeit der drei Faktoren impliziert und weil zudem das gegenwärtige Verhältnis sich in der Sehnsucht als dem ursprünglichen oder natürlichen Zustand nicht entsprechend bemerkbar macht. Dennoch erweist auch der erste Teil des zweiten Gesprächs sich als Fehlschlag, als Clara sich durch die Lehre des Pfarrers nur zu gewagten naturphilosophischen Hypothesen hinreißen lässt, die für ihre gegenwärtige Verfassung ohne unmittelbare Relevanz sind (vgl. SW IX, 54-56). Diese Hypothesen verfolgen das Ziel, die Natur mit dem Menschen solidarisch zu machen, da Clara die Vergänglichkeit auf alle Naturdinge in dem Sinne ausweiten möchte

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dass sie alle sterblich sind. Der Pfarrer scheint durch diese plötzlich hervortretende Neigung Claras ein wenig aus der Fassung gebracht. Zwar sucht er sie in ihrer Beweisführung tatkräftig zu unterstützen, gibt doch zugleich wiederholt seine Unwissenheit in Bezug auf diese Thematik zu erkennen.130 Erst am Ende dieses Teils des Gesprächs, unmittelbar vor dem Eintritt des Arztes, erteilt er ihren Behauptungen eine eindeutige Absage, indem er erklärt, dass nur der Mensch zu sterben vermöge, die Naturwesen jedoch, weil sie nicht »eigne Ganze« sind, sondern »nur Glieder eines höheren Ganzen der Erde«, nur in einem Prozess der fortwährenden Verwandlung einbegriffen seien und ihnen »die Wohlthat des Sterbens oder der gänzlichen Befreiung der geistigen Lebensgestalt [,..] nicht eher [widerfährt], als bis der Planet sein gesetztes Ziel erreicht hat und stirbt« (SW IX, 56 f.).131 Mit dem Eintritt des Arztes nimmt das Gespräch eine andere Wen­ dung. Wir können nicht wissen, welche Richtung der Pfarrer dem Gespräch noch gegeben hätte, wenn der Arzt gar nicht erst erschienen wäre. Anzunehmen ist wenigstens, dass der Arzt den Pfarrer dazu nötigt, Themen zu erörtern und Schlussfolgerungen zu ziehen, die dieser nicht erörtert und gezogen hätte, wäre er mit Clara allein geblie­ ben. Dies wird am offensichtlichsten im vierten Teil des Gesprächs, in welchem eine Nachfrage des Arztes es für den Pfarrer unausweichlich macht, sich auf eine Frage mit weitreichenden Konsequenzen einzu­ lassen, die er bis dahin mit fast völligem Stillschweigen übergangen hat. Dabei muss es verwundern, dass Clara selbst diese nicht bereits aufgeworfen hat. Überhaupt trägt Clara im zweiten und vierten Teil kaum noch zum Gespräch bei, sondern scheint nach und nach fast ganz zu verstummen. Sosehr scheinen der Pfarrer und der Arzt ihre Anwesenheit zu vergessen, dass sie sogar auf für Clara unverständliche Kunstwörter zurückgreifen (vgl. SW IX, 58, 62). Nachdem der Arzt sich über das Thema des Gesprächs in Kenntnis gesetzt hat, greift er die 130 Fünf Mal reagiert er auf Äußerungen Claras mit einem »ich weiß nicht.«

129 Erneut erinnert der Pfarrer an den die Philosophen auszcichncnden Zustand: »So gibt es vieles, das den Menschen schon jetzt in jene höhere Welt fortreißt; einige auch, die bewußt und freiwillig schon jetzt dem sterben, das sie im Tode verlassen müssen, und so viel möglich ein geistiges Leben zu leben suchen« (SW IX, 53).

(vgl. SW IX, 54-56), 131 Dies erinnert auch an die These des Arztes, wonach die Natur eine wesentlich her­ vorbringende Kraft sei, die indes die Zerstörung in sich einschließt (vgl. SW IX, 31). Der Pfarrer korrigiert diese Lehre, indem er den Menschen von diesem Prozess

ausnimmt.

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vom Pfarrer vertretene These an und tritt stattdessen für die von die­ sem vorher zurückgewicscne These ein, wonach eine »Trennung doch im Tode vorfginge]«, nämlich »von dem Leibe« (SW IX, 57).132 Dadurch fordert er ihn heraus, seiner These mit Argumenten zur Seite zu stehen. Wenn er gegen Ende dieses Teils überraschenderweise erklärt, mit dem Pfarrer ganz einer Meinung zu sein, dann zeigt er dadurch an, dass er dessen Behauptung nicht deswegen angegriffen hat, weil er mit derselben nicht einverstanden wäre, sondern nur, weil er vor allem daran interessiert war, dessen Gründe zu erfahren. Wie dem auch sei, mit seiner eigenen These setzt der Arzt sich nicht nur in Gegensatz zur These des Pfarrers, sondern er präsentiert die negative These, wonach der Tod eine Trennung impliziere, als eine bloße Folge der positiven These, wonach der Tod ein Übergang in einen anderen Zustand sei. Die Hervorhebung dieses Moments der Trennung dient dem Nachweis, dass der zweite Zustand, trotz dieser Trennung oder Beraubung, dennoch dem ersten Zustand überlegen sei. Der Arzt zieht nämlich aus der negativen These die Folgerung, dass dann »das gegenwärtige Leben vor dem zukünftigen eine Vollkommenheit voraus habe«, eine Folgerung, die sich erheblich von derjenigen unterscheidet, die Clara vorher daraus gezogen hatte (SW IX, 57). Er scheint wohl zu befürchten, dass aus der These des Pfarrers ein Urteil über das Ganze folgen würde, die eine Abwertung der gegenwärtigen Welt beinhalten würde.133 Rufen wir uns die Idee der Ganzheit in Erinne­ rung, wonach der ganze Mensch aus Leib, Seele und Geist bestehe, so kann die Trennung wenigstens nicht bedeuten, dass der Leib in dem zukünftigen Zustand aus diesem Ganzen herausgenommen würde Mit einer solchen Trennung wäre mit der Ganzheit auch das jewei­ lige Individuum selbst aufgehoben. Auch im zukünftigen Zustand ist somit der Leib präsent, wenn auch in einem anderen Verhältnis

132 Vgl. Schellings spätere Erklärung, wonach die Bestimmung des zweiten Zustands als eines solchen der »relativen Beraubung (Privation)« die »Hauptsache« seiner Lehre darstellt (vgl. F. W.J. Schelling an H. Beckers, 7. Juli 1835, Pütt III, 105 u. Schelling (1989), 141). 133 Dies greift der Arzt später wieder auf, indem er aus der Lehre vom Weltbau des Pfarrers eine »Herabsetzung der Erde« schließt (SW IX, 107).

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zu den anderen Faktoren und damit in anderer Gestalt. Deshalb un­ terscheidet der Arzt das »innere« oder »geistig-sinnliche Wesen des Leibes« vom »äußeren Leib«, wonach der Tod als Trennung dieser beiden Dimensionen des Leibes zu bestimmen ist (SW IX, 57). Darauf sucht der Arzt die Überlegenheit des jetzigen Zustands zu gründen, da in diesem beide Zustände des Leibes gegeben sind. Der Begriff der triadischen Struktur wird somit an dieser Stelle durch die Einführung der Unterscheidung von Äußerem und Innerem (Realem und Idealem) oder von Sein und Seiendem (Grund von Existenz und Existierendem) ergänzt. Zugleich wird hier zum ersten Mal der Begriff der Potenz eingeführt. Damit ist die Frage nach dem Wert der jeweiligen Zustände zur Debatte gestellt. Dazu wird die Aufmerksamkeit zunächst auf die besondere Beschaffenheit der gegenwärtigen Existenz gelenkt: Wenn auch in der Erkenntnis Äußeres und Inneres sich vollkommen durch­ dringen, so ist sie dennoch »nichts Vorhandenes«, sondern es bedarf der »Erfahrung«, der »Erziehung« und des »Unterrichts«, durch wel­ che jene Durchdringung dem Zufall anheimgegeben scheint (SW IX, 59 f.).134 Der »Mäßigkeit des gegenwärtigen Lebens« scheint somit gerade ein bloßes »Streben nach Erkenntniß« durchaus angemessen, als ein »Streben, das Aeußerliche soviel möglich als innerlich in uns zu setzen« (SW IX, 42, 60). Dennoch, so der Arzt, »können wir doch schon hier, in gewissem Grade, zuwegebringen, was uns im andern Leben widerfahren wird, nämlich die Unterordnung des Aeußeren unter das Innere; sind nicht alle Reden der Philosophen voll solcher Aussprüche, dass der Weisheitliebende schon hier als ein Gestorbener wandle; den äußeren Leib haben wir aber hier noch obendrein: sehen Sie also selbst ein, ob nicht offenbar das jetzige Leben einen Vorzug vor dem künftigen hat« (SW IX, 60). Die besagte »Unterordnung des Aeußeren unter das Innere« weist indes einen zweifachen Bezug auf: Zum einen im Hinblick auf den Gegenstand der Erkenntnis, indem im Äußeren oder im Realen das Innere oder Ideale erkannt wird und die Natur selbst als ein Lebendiges und Geistiges erfasst wird, zum anderen im Hinblick auf das erkennende Subjekt, in welchem die 134 Aufgrund einer früheren Stelle darf man dem auch noch die dialektische Fertigkeit

hinzufügen (vgl. SW IX, 40, 41, 42).

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Leidenschaft der Erkenntnis sich alle leiblich-sinnlichen Bestrebungen unterordnet. Das Streben nach Erkenntnis wird jedoch durch den Widerspruch von Äußerem und Innerem unterhalten und befeuert. In dieser Umwandlung des Widerspruchs in eine Bedingung des Strebens nach Erkenntnis findet dieses seine Rechtfertigung. Der Widerspruch vermag nicht mehr, als Argument gegen die Güte des Ganzen angeführt zu werden. Clara hat »schon seit längerer Zeit« den Reden des Arztes und des Pfarrers »nur noch halb oder gar nicht« mehr zugehört, wohl weil die Frage nach den Vorzügen des gegenwärtigen Lebens sie nicht unmittel­ bar betrifft, stehen für sie doch die Vorzüge des künftigen Lebens ohne Zweifel fest, und weil es sie, anders als den Arzt, nicht so sehr nach Argumenten als nach Glauben verlangt (SW IX, 63). Jedenfalls hat sie bereits zur Genüge zu erkennen gegeben, dass dem gegenwärtigen Leben nach ihrem Empfinden kaum Vorzüge zukommen. Wenn die Vorzüge des künftigen Lebens für sie auch feststehen mögen, so hat sie doch keinen so klaren Begriff von demselben, als dass sie nicht genauer wissen möchte, »wie es dem Abgeschiedenen in ihm selbst zu Muth wäre« (SW IX, 63), um ihre Gewissheit durch eine klare Vorstellung zu festigen. Dabei knüpft sie »bei einer früheren Rede« an, sodass der zweite Teil ein Intermezzo bleibt (SW IX, 63). Erst im dritten und noch massiver im vierten Teil des Weihnachtsgesprächs kommen nun jene Phänomene zur Sprache, die Clara in den Verdacht des Okkultismus gebracht haben. Zudem nimmt die Unterredung ihren Ausgangspunkt von einigen Ausdrücken, die der Sprache des Volkes entstammen, wie >Entschlafen< als Bezeichnung für Sterben (SW IX, 63).133 *135 Um zu erläutern, wie sie sich den höchsten Zustand vorstellt, greift Clara auf den Bericht eines »berühmte[n], uns allen bekanntefn] Geistlichejn]« zurück.136*Weder der Arzt noch der Pfarrer erkennen diese Beschrei­ 133 Vgl. auch weiter unten: »[VJon den Seligen wenigstens wird das allgemein ge­ sagt, daß sie zu Gott gehen, daß sie vor Gott sind, auch daß sie in Gott ruhen« (SW IX, 70) und »zu Gott gehen, wie man spricht« (SW IX, 71). 136 Claras Wiedergabe setzt sich fast ganz aus größtenteils wörtlichen Zitaten aus Lavaters Aussichten in die Ewigkeit zusammen (vgl.J. C. Lavater Aussichten in die Ewigkeit. Hrsg, von U. Caflisch-Schnetzler. Zürich (Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe 2), 81 f., 607 f.). Während eine »convulsivische

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bung jedoch als ein geeignetes Gleichnis für den Zustand höchster Vollkommenheit an. Gerade dass dieser Zustand durch ein plötzliches Einschlafen abgebrochen wird, scheint, außer der Tatsache, dass er »nur eine Sekunde« dauert, ihnen dagegen zu sprechen (SW IX, 65).137 Stattdessen führen sie Beispiele des tierischen Magnetismus oder der Hypnose an, die den Vorzug haben, dass sie, anders als die Erfahrung des »berühmten Geistlichen«, künstlich herbeigeführt werden können. Schelling scheint hier dem Leitsatz folgen zu wollen, dass wir nur das verstehen, was wir selbst erzeugen können. Die Klarheit reicht somit als Kriterium des höchsten Zustands nicht aus. Die Ausrichtung am tierischen Magnetismus weist den weiteren Vorteil auf, dass der Pfarrer sich nicht auf die Erzählung eines Unbekannten zu berufen braucht. Derartige Quellen erlauben keine unparteiische Prüfung, da sie uns nur durch schriftliche Erklärungen des Urhebers zugänglich sind, die uns Glauben abverlangen und deren Autorität oder Wahrhaftigkeit angezweifelt werden können. Die mit dem tierischen Magnetismus zusammenhängenden Phänomene stehen hingegen der Beobachtung offen.138 Die durch das Magnetisieren hervorgebrachten Verände­ rungen, wie z. B. dass die Magnetisierten »sich gegen alles andere, den Einwirkenden ausgenommen, wie todt verhalten«, können von Außenstehenden beobachtet werden, während auch die Aussagen der Magnetisierten über ihren Zustand aufgezeichnet werden können (SW IX, 65). Dass jene zudem »zur höchsten Innern Klarheit und einem Bewußtseyn ihrer selbst übergehen, mit dem das im Wachen nicht von ferne zu vergleichen ist«, kann auch durch die Aussagen, die die Magnetisierten im Zustand des Magnetismus machen, bestätigt werden (SW IX, 65). Der Arzt, der wohl seine eigenen Erfahrungen mit dem Magnetismus gemacht hat, beleuchtet das Phänomen aus zwei Perspektiven: einmal im Hinblick darauf, was sich davon beobachten Erschütterung« Lavater jedoch »erwachen macht«, folgt in Claras Beschreibung auf den Zustand des bilderlosen Anschauens das Einschlafen. Schellings Quelle

wurde zuerst von Beckers aufgedeckt (vgl. Beckers (1865), 75). 137 Vgl. dazu auch die Heiterkeit Claras, die kaum länger dauern kann, da sie, sobald die Reflexion eintritt, ebenfalls erlischt (vgl. SW IX, 41 f.). 138 Wie vorsichtig Schelling hier dennoch vorgeht, ist dem Gebrauch des Konjunktivs zu entnehmen: »so hatten wir«, »ich würde darum« (SW IX, 65).

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lässt, dann in Rücksicht auf dasjenige, was die Magnetisierten selbst über ihren Zustand berichten (vgl. SW IX, 27, 63, 81). Ihr äußeres Aussehen lässt darauf schließen, dass sie sich in einem Zustand eines »unbeschreiblichen Wohlseynfs]« befinden (SW IX, 66). Dies wird auch durch die Magnetisierten selbst bestätigt. Es ist durchaus be­ zeichnend, dass der Pfarrer, der diesen Ausführungen bislang nur zugehört hat, obwohl er sie selbst veranlasst hatte, jetzt dadurch an das Gesagte anknüpft, dass er erneut die triadische Struktur zum Einsatz bringt und aus dem Gesagten schließt, dass »das geistige Wesen unserer Körperlichkeit, das im Tode uns folgt, schon vorher in uns gegenwärtig ist« (SW IX, 67). Durch das bisher Gesagte sieht Clara sich in ihrer Überzeugung bestärkt, wonach »das Bewußtseyn nach dem Tode« eine gesteigerte Form von Bewusstsein sei, und versteht nur nicht, weshalb viele daran zweifeln können, wobei sie vergessen zu haben scheint, dass sie selbst vorher ebendieses Bedenken geäußert hatte (SW IX, 67, vgl. 48). An dieser Stelle führt der Pfarrer wie beiläufig erneut eine bereits früher gemachte Unterscheidung an, während er zugleich eine eindeutige Erklärung gibt, die vor dem Hintergrund des Vorhergehenden überraschen mag: »Erklärbar, sagte ich, ist indeß jenes zweifelhafte Reden, denn den meisten war und ist noch jetzt der Tod eine gänzliche Trennung von allem Physischen, und dieses (das Physische) scheint mir wenigstens die Grundlage aller Bewußt­ heit zu seyn« (SW IX, 67; m. H.). Mit der Erklärung, wonach »das Physische« die »Grundlage aller Bewußtheit« sei, führt der Pfarrer auf den erregten Eigenwillen zurück. Erwartungsgemäß gibt Clara erneut ihren Widerstand zu erkennen: »Das Dunkle fühle ich wohl sagte Clara, aber eben dieses Dunkle wünsche ich hinweg, es stört die Reinheit des Wesens« (SW IX, 68). Man muss somit sagen, dass Claras Haltung nicht konsistent ist: Obwohl sie an eine persönliche Fortdauer glauben möchte, hebt sie doch die Basis der Persönlichkeit im zukünftigen Leben auf, indem sie dieses als eine Befreiung vom Dunklen oder vom Eigenwillen versteht. Zur Erläuterung mag hier noch Folgendes beigefügt werden: Dass Schelling sich hier des Phänomens der Hypnose als einer Art Modell bedient, dürfte vielleicht weniger befremdlich erscheinen, sobald man beachtet, dass dieses Phänomen aus zweierlei Perspektive betrachtet

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werden kann: Zum einen befindet sich das hypnotisierte Subjekt in einem Zustand, in welchem dessen Willen oder dasjenige, was auch als »das Seyende« oder als das Subjekt der Existenz bezeichnet wird, ausgeschaltet wird, sodass »das Seyn« oder der Grund von Existenz hervortritt (SW IX, 58). Zum anderen findet in dem Bezug des hypno­ tisierenden Subjekts auf das hypnotisierte eine unmittelbare Wirkung von Willen auf Willen statt. Dementsprechend kann man den Zustand der Hypnose in Bezug auf das hypnotisierte Subjekt als einen niederen Zustand bezeichnen, in Bezug auf das hypnotisierende Subjekt hinge­ gen als einen höheren. Die Frage, die uns interessieren muss, ist die nach dem Grund, den der Pfarrer für seine Behauptung anführt, dass das philosophische Hellsehen im Vergleich zum Hellsehen im üblichen Sinn der höhere Zustand sei. Es handelt sich in diesem Zusammenhang nämlich nicht nur um eine begriffliche Unterscheidung zweier Formen des Hellsehens, sondern um die Frage nach deren unterschiedlichem Wert. Beim philosophischen Hellsehen ist das philosophierende Sub­ jekt als das Seiende oder als das Subjekt des Seins wirklich präsent, während dies beim herkömmlichen Hellsehen nur der Hypnotiseur ist. Weil beim philosophischen Hellsehen eine völlige Übereinstimmung, also »zwischen Aeußerem und Innerem kein Unterschied mehr« ist, kann es dem Pfarrer als »das allerseligste und vollkommenste Leben« gelten (SW IX, 59). Damit hat der Pfarrer ein Kriterium der Vollkom­ menheit eingeführt, dem letztlich nur Gott ganz genügt, während der Philosoph sich höchstens durch ein Streben nach einem solchen gott­ ähnlichen Zustand auszeichnet. Vollkommen ist der höchste Zustand, weil das Seiende durch die Identität von Erkennendem und Erkanntem »eine gewisse Selbständigkeit erhält« und sich zu einem selbstzentrieren Ganzen konstituiert: In der Erkenntnis wird das Außere ganz vom Inneren durchdrungen, während umgekehrt aus dem Inneren keine Handlungen folgen, als welche der eigenen Natur gemäß und mit der Erkenntnis in Übereinstimmung sind (SW IX, 59). In diesen Behauptungen des Pfarrers sieht der Arzt nun die Bestätigung seiner anfänglichen These von der Überlegenheit des gegenwärtigen Lebens, indem er sie so interpretiert, dass der Mensch im gegenwärtigen Le­ ben nicht nur der Vollkommenheit fähig ist, sondern »den äußeren Leib [...] hier noch obendrein« habe« (SW IX, 60). Dies veranlasst

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den Pfarrer zu der Frage, ob nicht vielmehr »in diesem Lebenskreis, bei dieser Uebermacht, die das Aeußere erlangt hat, [...] das voll­ kommene Innere nie möglich seyn [wird]«, da die Vollkommenheit nur als Gegenstand des Strebens gilt, ohne jemals selbst erreicht zu werden (SW IX, 62, m. H.). Dem entnimmt er das Argument, dass die Realisierung der Vollkommenheit unter den Bedingungen des gegenwärtigen Lebens nur durch eine »Erhebung in eine höhere Po­ tenz« möglich sei und dass das Streben nach der Vollkommenheit, sofern es die Unterordnung unter die Leidenschaft der Erkenntnis impliziert, sich dadurch als den höheren Zustand erweist (SW IX, 62). Wenn auch nicht die Weisheit, so ist wenigstens das Streben nach der Weisheit der »Mäßigkeit des gegenwärtigen Lebens [...] angemessen« (SW IX, 42). Damit erklärt der Arzt sich überraschenderweise völlig einverstanden (vgl. SW IX, 62). Durch sein Argument hat der Pfarrer die Bedenken des Arztes, wonach die Bindung an den äußerlichen Körper ein Einwand gegen das gegenwärtige Leben wäre, ausgeräumt, da das Verhältnis von Leib, Seele und Geist in Übereinstimmung mit der ursprünglichen Natur umgewandelt werden kann. Zwar tragen alle den Keim zum höheren Leben in sich, aber die Präsenz dieses Keims reicht an sich nicht als Argument für den Vorzug dieses Lebens aus, sondern die Rangordnung der verschiedenen Lebensweisen wird dadurch festgelegt, ob man diesen Keim zur Entfaltung bringt oder nicht. Nachdem dieser höchste Punkt erreicht worden ist, kann die Un­ tersuchung für den Pfarrer als abgeschlossen gelten, sodass er sich »entschlossen aufzubrechen« zeigt (SW IX, 76). Eine Rückfrage des Arztes hält ihn jedoch zurück.139 Dieser macht ihn nämlich darauf aufmerksam, dass er eine Frage von der höchsten Wichtigkeit unter­ schlagen habe oder vielmehr eine Antwort darauf suggeriert habe mit welcher er sich nicht einverstanden erklären kann. Im zweiten und dritten Teil des Gesprächs hatte der Pfarrer nämlich, wohl in der Überzeugung, dass gerade eine solche Lehre Clara not tat, die 139 Claras Beitrag zu dem vierten Teil des Gesprächs beschränkt sich darauf, dass sie darauf besteht, die Untersuchung durchzuführen, und dass sie ihre Abneigung gegen Geistergeschichten zu erkennen gibt (vgl. SW IX, 76 f., 78 f., 80).

4. EIN VERLANGEN NACH GANZHEIT

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Aufmerksamkeit ganz auf die Seligkeit des Zustands nach dem Tode gelenkt und dadurch den Eindruck erweckt, als ob nach dem Tode alle in den Zustand der Seligkeit eingehen würden. Dadurch schien er auf eine Lehre von der Ewigkeit der Strafen zu verzichten, die seit längerem als Stein des Anstoßes in der Lehre von der Unsterblichkeit galt.140 Diesem Bedenken begegnet der Pfarrer, indem er darauf hinweist, dass er durch die beiläufige Einschränkung seiner Behauptungen auf die Wenigen und die Besten seine Meinung deutlich genug zu erkennen gegeben hat (vgl. SW IX, 76).141 Damit gesteht er, dass die vorheri­ ge Untersuchung sich ausschließlich auf den Zustand der »Besten« eingeschränkt und durchgängig von einer grundlegenden Unterschei­ dung oder Ungleichheit abstrahiert hat. Wenn der Pfarrer dabei die praktische Absicht verfolgt hat, eine Lehre aufzustellen, die Clara zu trösten vermochte, dann scheint des Arztes Rückfrage diese Absicht jetzt zu durchkreuzen. Da auch Clara darauf besteht, diese weitere Untersuchung anzustellen, ist der Pfarrer dazu genötigt, sich auf sie einzulassen. Diesmal wird er nicht durch beiläufige Einschränkungen seine eigene Meinung andeuten, sondern gibt stattdessen mehrmals zu erkennen, dass er der jetzt vorgetragenen Lehre nicht mehr als bloße Wahrscheinlichkeit zubilligt (vgl. SW IX, 79, 80, 81, 83, 84). 140 Vgl. auch die Notiz auf der Rückseite eines Konzeptblatts: »Ob der Zustand der Clfairvoyance] auch anwendbar auf die Verdammung und ob kein Zwischen­ zustand von Seligkeit und Unseligkeit?« (Schelling (1946), 275). Als wichtige Dokumente dieser Debatte sind Leibniz’ Essais de Theodicee und Lessings Ab­ handlung Leibniz von den ewigen Strafen anzuführen. Vgl. M. Mendelssohn {1974): Schriften zur Philosophie und Ästhetik 3.2. Stuttgart-Bad Cannstatt (Jubi­ läumsausgabe. III.2), XCVI-CX. 141 Weshalb es nur die Wenigsten sein können, mag daraus hervorgehen, dass jener Zustand wesentlich an das Streben nach Erkenntnis gebunden ist und dieses Streben zugleich die Basis der wahren Sittlichkeit ist, der unmöglich durch eine selbstgegebene Sittlichkeit ersetzt werden kann. Der Arzt und der Pfarrer verzich­ ten wohlweislich darauf, die Folgerung auszusprechen, die daraus mit Bezug auf Clara zu ziehen wäre, welche nach ihrem eigenen Geständnis keine ausgeprägte Begabung für die Wissenschaft aufweist. Dass auch die rein Sittlichen, die Guten und Gerechten zu jenem Zustand gelangen könnten, gehört somit zur edlen Rede. Die Rede von den »Besten« ist somit unterbestimmt oder zumindest zweideutig und verschleiert eine grundlegende Unterscheidung. Vgl. auch SW IX, 82.

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IV. DER LEHRER

Während der Zustand der Besten ihm aus eigener Erfahrung vertraut ist und er deshalb mit Gewissheit davon zu sprechen vermag, kann er über den Zustand der Unseligen nur Vermutungen anstellen. Um mit ähnlicher Gewissheit davon sprechen zu können, müsste er eine unmittelbare Erkenntnis davon beanspruchen können, wie diese vom »Armenier bei Plato«, der »aus dem jenseitigen Leben zurückgekehrt in das gegenwärtige«, oder vom »schwedischen Geisterseher« erhoben wurde (SW IX, 77).142 Der Pfarrer verzichtet somit darauf, seiner Lehre die Autorität einer Offenbarung zuzuschreiben, weder einer solchen, die einem zuteilwird, der aus dem Tod zurückgekehrt ist noch der eines Propheten, dem aufgrund göttlicher Gnade Einbli­ cke in das zukünftige Leben vergönnt wären, sondern er wird dem Glauben nur so viel geben, als die Vernunft ihm zu geben vermag. Als Ausgangspunkt wählt er erneut den Zustand des Hellsehens, in welchem das geistig-sinnliche Wesen des Körpers hervortritt. Er fängt damit an, die Definition des Todes als einer »Versetzung ins Geistige« auf welche die vorherigen Überlegungen aufbauten, als »zu schnell und unbedingt behauptet« zurückzunehmen (SW IX, 77). Stattdessen knüpft er an die geläufige Definition des Todes als einer Trennung von Leib und Geist an, aus welcher er jetzt jedoch folgert, dass diejenigen, die sich nicht in diesem Leben bereits im Hellsehen geübt haben und die insofern nur eine gespenstische Existenz führen, zwar vom Leib getrennt werden, ohne dafür jedoch »ins Geistige überzugehen« (SW IX, 77). Von diesen wird die Versetzung in jenen Zustand als höchst schmerzhaft empfunden: »Wenn überhaupt die Imagination das Werkzeug ist, mit welchem am allgemeinsten gesündigt wird, sollte es nicht eben diese auch seyn, durch welche am meisten gestraft wird und die Qualen, welche die Sündhaften in der andern Welt erwarten’

vorzüglich in Qualen der Phantasie bestehen, deren Gegenstand be­ sonders die ehemalige körperliche Welt wäre« (SW IX, 81, vgl. AA

142 Jedenfalls scheint Clara dem Pfarrer mehrfach die Rolle eines Propheten zu­ zuweisen. Absicht des Fragments ist allerdings, nicht so sehr die Geisterwelt »unmittelbar zur Erkenntniß« zu bringen, sondern lediglich die Möglichkeit eines »wissenschaftlichefn] Uebergangfs] aus dem Gebiet der Natur in das der geistigen Welt« zu zeigen (SW IX, 5).

4. EIN VERLANGEN NACH GANZHEIT

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11,8, 174—176, 182-184). Nachdem er sich des Rückhalts durch den Arzt vergewissert hat, hebt der Pfarrer mit einer langen Erzählung an, die er nur dreimal kurz unterbricht, um sich erneut der Zustimmung des Arztes zu vergewissern (vgl. SW IX, 80-86). Diese Erzählung beinhaltet die verlangte Lehre von den Zuständen nach dem Tode. In erster Linie richtet sich diese Lehre gegen die Lehre von Himmel und Hölle oder von nur »zwei entgegengesetzten Zuständen« (SW IX, 83). Der höchsten Weisheit entspräche es vielmehr, dass die vielerlei Stufen der Vollkommenheit in diesem Leben ihre Entsprechung in dem Le­ ben nach dem Tode finden. Es wäre jedoch weder weise noch gerecht, dass all diejenigen, denen nicht die höchste Seligkeit in diesem Leben zuteil wurde, dafür in jener Welt »alle zur Strafe oder in einem an sich peinlichen Zustand an den tieferen Orten zurückblieben« (IX, 84). Umgekehrt wäre es ebenso wenig weise oder gerecht, dass die, welche nicht in diesem Leben bereits die höchste Vollkommenheit erreicht haben, »unmittelbar in die rein geistige Welt übergehen« (SW IX, 84). Diese Lehre wird aufgestellt mit Rücksicht auf die »Menge, die ohne Erleuchtung und ohne Gedanken eines wirklich höheren Lebens lebt, und die darum nur dieses Leben, zwar in anderer Gestalt, als bloßes Schattenleben, wieder leben kann« (SW IX, 85). Im Hinblick auf das Volk stellt dieser Teil der Erzählung den bisherigen Höhepunkt dar, da er den Kern der Unsterblichkeitslehre enthält, sofern sie sich an das Volk richtet, und die vom Arzt »erzählungsweise« vorgetragene Lehre von einem Sündenfall ergänzt, an welche der Pfarrer zum Schluss ausdrücklich erinnert (vgl. SW IX, 85). Das eigentliche Motiv für diese Lehre scheint darin zu suchen zu sein, dass die moralisch Guten vor dem Hintergrund der in den vorherigen Teilen vorgetragenen Lehre eine Anomalie darstellen: Dass den »ganz und vollkommen Bösen« die Hölle »erwartet«, vermag dem Pfarrer keine sonderlichen Schwierigkeiten zu bereiten und wird von ihm willig eingestanden; als durchaus problematisch muss ihm hingegen die Frage erscheinen, wie es denen ergeht, die zwar moralisch gut gelebt haben, ohne dass ihnen jedoch die höchste Seligkeit zuteil wurde (SW IX, 77). Es wäre ebenso ungerecht, sie in den Himmel zu erheben als sie in die Hölle zu verstoßen, »wenn der Spruch wahr ist: daß einem jeden vergolten wird, je nachdem er gehandelt hat und gesinnt gewesen ist bei Leibesleben«

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IV. DER LEHRER

(SW IX, 77).143 In der Tat muss eine völlige Entsprechung zwischen diesem und dem künftigen Leben bestehen, wenn von Gerechtigkeit die Rede sein soll. Die Sanktionen in der künftigen Welt unterscheiden sich denn auch durch nichts von den Sanktionen, die sich bereits in dieser Welt auf natürliche Weise aus der gewählten Lebensweise ergeben. Demjenigen, dessen Leben nur nach sinnlichen Genüssen ausgerichtet ist, wird weder in dieser noch in der künftigen Welt das Glück der Erkenntnis zuteil. Dies scheint auf eine piWiitio-Lehre zu führen, wonach das Böse sich vom Guten nur durch den Mangel an Vollkommenheit unterscheidet. Allerdings verbindet Schelling dies mit der zusätzlichen These, dass erst die Ausrichtung auf die Erkenntnis in den Leidenschaften eine Ordnung herstelle oder das Band derselben bilde, das Fehlen dieser Ausrichtung hingegen zwangsläufig zu einer Unordnung führe, die sich auch in bösen Handlungen kundgibt. Dass der Zustand des Bösen vom höchsten Standpunkt aus als eine privatio erscheint, hindert somit nicht daran, dass dieser Mangel als eine reelle Unordnung, als »ein falsches Leben, ein Leben der Lüge, ein Gewächs der Unruhe, und der Verderbniß« empfunden wird (AA 1,17, 136).

5. Rückkehr zur Erde Das dritte Gespräch findet »auf der Grenze von Winter und Frühling« statt, während eines Spaziergangs, dessen Ziel eine alte Waldkapelle ist (SW IX, 92).144 Clara gibt zu erkennen, dass der Eine Gegenstand sie

143 Insofern ihnen die Erkenntnis fehlt und man ihnen »kein wahrhaft Inneres zu­ schreiben« kann, sind diese allerdings fast wie Tiere zu betrachten (SW IX, 59) 144 Das dritte Gespräch blieb unvollendet; was davon zur Ausführung gelang, gliedert sich in drei Teile: SW IX, 92-102,102-104, 104-110. Ein erhalten gebliebener Ent­ wurf lasst vermuten, dass das Frühlingsgespräch sich auf mehrere Tage erstrecken sollte, was die formale Komplexität im Vergleich zum Weihnachtsgespräch weiter gesteigert hätte. Da Clara in diesem Entwurf kurz auf die Lehre vom Weltbau anspielt, die in dem, was vom dritten Gespräch ausgeführt wurde, ausführlich behandelt wurde, ist es eher unwahrscheinlich, dass es sich bei diesem Entwurf um ein früheres Konzept handelt (vgl. Schelling (1862), 180; Schelling (1946), 275). Ebenso unwahrscheinlich ist, dass Schelling mit dem Konzept neu ansetzt und dass das neue Frühlingsgespräch das frühere ersetzen sollte.

5. RÜCKKEHR ZUR ERDE

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den ganzen Winter über weiterhin beschäftigt hat, da das eigentliche Ziel des Spaziergangs für sie vielmehr ein See ist, nach dessen Anblick sie sich »den ganzen Winter [...] gesehnt« habe (SW IX, 92). Dieser See, dessen ruhiges Spiegeln des Himmels und dessen regungslose Oberfläche, erscheinen ihr als das perfekte Sinnbild des Geisterlebens und des Gegenstands ihrer Sehnsucht. Der Erzähler weist es dem Arzt zu, dieses Bild zwar als »sehr natürlich« zu billigen, es durch den Kontrast zum Fluss als »ein Bild des wirklichen Lebens«, der »unsere Einbildungskraft mit sich in ungemessene Weiten wie in eine ferne Zukunft [zieht]«, so zu erläutern, dass der See dadurch vielmehr als »ein Bild der Vergangenheit, der ewigen Stille und Abgeschlossenheit« erscheint (SW IX, 92).145 Wenn der Erzähler selbst nur wenig später eine Beschreibung des Sees in seine Erzählung einfügt, verschiebt sich der Sinn des Bildes erneut: Die Ruhe des Sees ist jetzt nicht länger eine solche, die die Bewegung von sich ausschließt, sondern eine solche, die die gleichmäßige, rhythmische Bewegung als ihre Basis hat: »Keine Luft bewegte sich, der blaue Himmel hing mit den wenigen zarten Wölkchen unbeweglich über dem See und spiegelte sich in ihm; das Wasser schlug, nur durch seine eigne Kraft bewegt, in sanften Wellen an die Ufer; eine Menge Vögel schwebte hin und her über die Fläche und schien an ihrem eignen Bild Freude zu haben« (SW IX, 95). Auf halbem Wege des Aufstiegs zu dem Punkt, der dem Pfarrer am geeignetsten erscheint, seine Lehre vom Weltbau zu entfalten und seine Begleiter zur Betrachtung des Himmels über uns hinzuführen, findet sich die Betrachtung des Himmel-Abgrunds unter uns. Der Erzähler zeigt dadurch, dass er vom Arzt gelernt hat und die Bewegung nicht länger von der vita contemplativa ausschließt, sondern sie als deren Bedingung in dieselbe aufgenommen hat. Wie dem auch sei, Clara geht auf die Erläuterung des Sinnbilds durch den Arzt gar nicht erst ein, sondern wendet sich unvermittelt

145 Bereits vorher hatte der Arzt von dem »beschaulichen Leben«, wie es im Kloster­ leben realisiert ist, bemerkt, dass es »in ewiger Stille zu verfließen scheint«, und das Kloster als »ein Land der Stille und Verborgenheit« bestimmt, während er in

Bezug auf das zukünftige Leben von den »Regionen der ewigen [...] Stille« sprach (SW IX, 20, 25, vgl. 84).

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IV. DER LEHRER

dem Pfarrer zu, mit einem »unbefriedigten Wunsch«, den der vierte Teil des zweiten Gesprächs in ihr noch »zurückgelassen« oder vielleicht eher geweckt habe, nämlich dem Wunsch, sich eine genauere Vorstel­ lung von den »Oertern und Gegenden im Unsichtbaren« zu bilden (SW IX, 92). Damals hatte Clara kaum in das Gespräch eingegriffen da der Pfarrer sich weithin auf das Erzählen beschränkt hatte. Jetzt zeigt sich jedoch, dass diese Erzählung durchaus eine Wirkung erzielt hat, dass die heraufbeschworene Vorstellung an etwas in Clara appel­ liert und Wurzeln geschlagen hat, sodass sie es sich noch deutlicher vorstellen möchte. Clara folgt durchaus der Absicht des Pfarrers in dem letzten Teil des Weihnachtsgesprächs, indem sie die Unterschei­ dung mehrerer Gegenden übergeht und nur von dem »obersten Ort wohin die wenigsten gleich nach dem Tode gelangen« und den sie als den »wahren eigentlichen Himmel« bezeichnet, Näheres zu erfahren verlangt (SW IX, 92; m. H.). Es ist beachtenswert, dass der Pfarrer sich nicht von sich aus zu diesem Thema äußert: Bereits damals hatte er sich erst auf Veranlassung durch eine Frage des Arztes auf diese Frage eingelassen, während er sich jetzt nur dazu äußert, um den Wunsch Claras zu befriedigen. Aus der früher vorgetragenen Lehre des Pfarrers zieht Clara nun die Folgerung, »die Einbildung [...], womit manche sich unterhalten, die ihren künftigen Aufenthalt oder gar ihren Him­ mel auf einem der unzähligen Sterne über uns suchen«, »als eine fast kindische Vorstellung« zu verwerfen (SW IX, 93).146 Dadurch ist sie es, die die Betrachtung des Weltalls als das zentrale Thema des dritten Gesprächs einführt. Der Pfarrer schließt sich Claras verwerfendem Urteil indes nicht ohne Einschränkung an. Immerhin begrüßt er es dass sie gerade dieses Thema zur Sprache bringt. Bevor er sich jedoch 146 Die Erwähnung jener Lehre an dieser Stelle hat durchaus etwas Überraschendes Durch ihre Bemerkung bereitet Clara die spätere Bezugnahme des Pfarrers auf die Lehre Swedenborgs vor. Vielleicht hat auch Clara sich in ihrer Beschäftigung mit dem Einen Gegenstand zunächst durchaus zu solchen Ansichten hingezogen gefühlt; dann wäre ein Fortschritt darin zu sehen, dass sie solche Ansichten jetzt als »kindisch« verwirft. Dem wäre dann die Absicht des Pfarrers zu entnehmen die Lehre Swedenborgs durch die eigene Lehre zu ersetzen. Möglicherweise sind ähnliche Ansichten auch in den »philosophischen Gesprächen« mit Albert verhandelt worden (SW IX, 88).

5.

Rückkehr zur

ERDE

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azu äußern kann, greift der Arzt mit einem grundsätzlichen Bedenken ein, wonach ihm die »Folge [...] nicht ganz deutlich« sei, dass man »ü er die Geisterwelt« nichts »zu bestimmen« vermöge, »ehe [man] die Grenze der sichtbaren [Welt] erkannt« hat, da »die Grenze zu kennen [...] bei ganz entgegengesetzten [Dingen] [...] gleichgültig [scheint]« (SW IX, 93). Er scheint also zu meinen, dass eine Grenze zu bestimmen nur möglich und erforderlich sei in Bezug auf Dinge, die derselben Seinsart angehören. Dies erlaubt es dem Pfarrer, an eine wichtige Unterscheidung zu erinnern: Zwar sind Natur und Geister­ welt sich »dem Begriff nach« entgegengesetzt, sodass beide als ein jeweils geschlossenes Ganzes oder als ein relativ autonomes System zu betrachten sind, ohne dass beide dafür auch »in der Wirklichkeit« sich

so entgegengesetzt wären (SW IX, 93).147 Vielmehr sind beide sich darin gleich, dass »die Geisterwelt [...] eine ebenso reale Welt [ist] als diese sichtbare hier« (SW IX, 93). Aus der ideellen Unterscheidung lässt sich keine reelle Unterscheidung folgern. Die Unterscheidung dient somit in erster Linie der begrifflichen Klärung. Allerdings weisen die »dem Begriff nach< entgegengesetzten Welten analoge Strukturen oder Gesetzmäßigkeiten auf. Ohne diese Annahme wäre es nämlich nicht möglich, die Naturphilosophie zur Grundlage und zum Modell der Philosophie der Geisterwelt zu erheben. Dadurch eignet der Pfarrer sich eine der grundlegenden Thesen der schellingschen Identitätsphilo­ sophie zu, wonach das Reale kein rein Reales, sondern ein Real-Ideales ist, woraus folgt, dass auch das Ideale kein rein Ideales, sondern nur ein Ideal-Reales sein kann (vgl. SW IX, 94; AA 11,8, 176). Nur auf dieser Grundlage ist es auch möglich, eine natürliche Erkenntnis der Geisterwelt zu gewinnen.148 Clara zeigt sich durch diese Klärung »hoch erfreut« und nimmt den Gedanken »mit großer Lebhaftigkeit« auf (SW IX, 94). Dadurch gibt sie zugleich zu erkennen, dass sie den Grundgedanken, den der Pfarrer 147 Schelling hat den Begriff der >Geisterwelt< wohl vor allem deshalb aufgegriffen, weil er ein solches geschlossenes Ganzes suggeriert (vgl. AA 11,8,178). 148 Zugleich weist der Pfarrer damit die These des Geistlichen zurück, dass beide einander sosehr entgegengesetzt wären, dass von der Geisterwelt überhaupt keine Erkenntnis zu erlangen ist, es sei denn durch göttliche Offenbarung (vgl. SW IX, 17,20,99).

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IV. DER LEHRER

5. RÜCKKEHR ZUR ERDE

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ihr in den vorhergegangenen Gesprächen beizubringen suchte, kaum angemessen erfasst hat, da die jetzige begriffliche Klärung dem kaum etwas Neues hinzufügt. Ein Fortschritt ist wenigstens insofern erzielt, als der Gedanke in der diesmaligen Formulierung eine starke Wirkung auf ihr Gemüt ausübt. Sie verlangt denn auch nach weiterer Auskunft und führt dadurch das Gespräch wieder auf das von ihr eingeführte Thema zurück. Dies gibt dem Pfarrer die Gelegenheit, in der längsten ununterbrochenen Rede der ganzen Erzählung eine intellektuelle Autobiographie< vorzulegen, in welcher er das entscheidende intellek­ tuelle Erlebnis seines Lebens erzählt (SW IX, 95-102). Offen bleibt, ob und inwiefern dieses Erlebnis ihn in der Folge dazu bewegt haben mag, Pfarrer zu werden. Wenigstens kann man in dieser Erzählung auch eine Art Glaubensbekenntnis sehen.149 Klar ist jedenfalls, dass er auch in seinem Leben von der Natur ausgehend angefangen hat. Er macht den Anfang mit einer Charakterisierung seines jugendlichen Glaubens der darauf beruhte, dass er alles »wörtlich« und »buchstäblich« ver­ stand, insbesondere die Rede von einem Unten und Oben und somit von qualitativen Differenzen in der Ordnung des kosmischen Raums (SW IX, 95). Dieses buchstäbliche Verständnis der Sprache kommt der Sprache des Volkes gleich. Dadurch weckt der Pfarrer von Anfang an den Eindruck, dass er der Sprache des Volkes treu bleiben und mit dem Volk gemeinsame Front gegen die newtonsche Lehre machen will die jene qualitativen Begriffe als »bloß Beziehungs-Begriffe« auffassen lehrt (SW IX, 96).150*Nach dieser Lehre erweist der Himmel sich

nicht so sehr als das Höhere, sondern vielmehr als ein Abgrund, bei dessen Betrachtung den Betrachter ein Schwindel erfasst, der ihn zur Verzweiflung zu treiben vermag.151 Diese neue Sicht hat seinen jugend­ lichen Glauben jedoch nicht so nachhaltig zu erschüttern vermocht, dass er ihn aufgab, wenn sie ihn auch dazu nötigte, einen Mittelweg zwischen diesen beiden Extreme zu finden. Den Gegensatz zwischen dem Volksglauben und der wissenschaftlichen Weltansicht bringt er anschließend in die Form der kantischen >ersten Antinomie*. Diese lässt die eigentliche Alternative indes gar nicht erst hervortreten, ob nämlich das Weltall »ohne ein letztes Ziel der Vollkommenheit« sei oder ob es »auf etwas Bestimmtes, Vollkommenes hinauslaufe« (SW IX, 97). Die Umformulierung der kantischen Antinomie vermag den (jungen) Pfarrer in seinem Glauben an ein »wahrhaftes Oben und Unten« zu bestärken und ihn dazu zu ermutigen, eine Naturphilosophie zu ent­ werfen, die sich dem newtonschen Weltbild entgegenzusetzen vermag (SW IX, 96). Sie führt ihn nämlich dazu, den buchstäblichen Sinn seines jugendlichen Glaubens aufzugeben und durch einen »bildlichen* Sinn zu ersetzen: Die Rangordnung im Weltall ist nicht in räumlichem Sinn zu verstehen, sondern soll auf die Art des Seienden bezogen werden. Als die höchste Art des Seienden kann demnach jenes be­ stimmt werden, in welchem das Weltall zu einer Erkenntnis seiner

149 »So will ich denn mit einem Bekenntniß oder einer Erzählung von mir selbst anfangen« (SW IX, 95). Beachte die wiederholte Erwähnung des Glaubens des Pfarrers (vgl. SW IX, 95, 96, 97, 98). Mit diesem Glaubensbekenntnis ist Sokrates’ intellektuelle Autobiographie« sowie die sokratische Geographie im Pbaidon zu vergleichen (96a-101e u. 108c-l 13c, vgl. SW IX, 98 f.). Auch Brunos Rede über die Gesetze des Weltalls wird als eine ununterbrochene Erzählung mitgeteilt (AA 1,11,383-402).

den Gesetzen des Denkens und den Gesetzen der Natur anzeigt. 151 In der Beschreibung des Himmels als eines »ganz unermeßlichen Abgrundfs]«, der einem »ganz schwindlich« macht, klingt der berühmte Satz Pascals an, wonach »Le silence eternel de ces espaces infinis m’effraie« (SW IX, 96; Pascal, Blaise (1904-1914): (Euvres. Hrsg, von L. Brunschvicg / P. Boutroux / F. Gazier. Paris, Bd. 13,127 (No. 206)). Hier ruft der Pfarrer selbst das »namenlose Schreckliche in der Natur« oder die Gleichgültigkeit der Natur gegen das menschliche Schicksal auf, in dessen Bann er früher Clara gesehen hatte (vgl. SW IX, 27 f.). Auch im Traum Scipios erscheinen die menschlichen Bemühungen im Lichte des Universums als unbedeutend und nichtig. Das Bewusstsein der Nichtigkeit aller menschlichen Bemühungen in Anbetracht der Unendlichkeit des Universums ist nicht ohne Beziehung zu der nachher erörterten Frage, weshalb Gott sich gerade in Hinblick auf das menschliche Heil offenbaren und inkarnieren solle.

150 Kurz zuvor hatte er den Grund angegeben, der ihn daran hindert, sich dem newtonschen Weltbild anzuschließen: »Ich habe leider wie der Künstler ein gewisses Urbild in meinem Kopfe, nach dem sich meine Zustimmung richtet. Trifft etwas mit ihm überein, so stimme ich bei, wenn es auch äußerlich noch so unglaublich scheinen sollte. Verwirft aber jenes innere Urbild die Sache, so kann ich sie nicht glauben, und wenn sie äußerlich auch noch so glaublich, ja, wie man zu reden

pflegt, streng bewiesen wäre« (SW IX, 94). Nur sofern er in der Betrachtung des Weltalls die Ideen oder Urbilder erkennt, vermag der Pfarrer seine Zustimmung zu geben, und zwar weil sich darin eine ursprüngliche Übereinstimmung zwischen

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selbst gelangt. Das Weltall ist danach insofern geschlossen, als es ein Wesen hervorbringt, das wenigstens die Fähigkeit hat, die Verfassung desselben zu verstehen.152 Durch die Hervorbringung eines Wesens, das Organ der Selbsterkenntnis des Universums zu sein vermag, findet dieses ein »bedeutendes Ende« und bildet ein geschlossenes, in sich geordnetes Ganzes (SW IX, 96): »Das Geschlossene sey aber überhaupt vortrefflicher und herrlicher als das Endlose, ja in der Kunst das Siegel der Vollendung« (SW IX, 97). Durch diese Lehre, die zunächst eine Dezentrierung des Menschen zu implizieren scheint, da dieser nur Organ der Selbsterkenntnis des Universums sei, vermag der Pfarrer den Menschen doch als Zentrum des Weltalls oder als höchste Stufe des Seienden zu restituieren. Dadurch fühlt der junge Pfarrer sich jetzt berechtigt, an einen »zwar nicht dem leeren Raum nach, der gegen alle Seiten gleichgültig sich ausdehnt, aber doch an einen der Natur und Beschaffenheit nach obern Ort zu glauben« (SW IX, 98). In seiner Betrachtung des Weltalls findet der Pfarrer die Bekräfti­ gung seines Glaubens an das Geistige als das Höhere. Sein Glaubens­ bekenntnis gipfelt denn auch in einer Beschreibung der Herrlichkeit der geistigen Welt. Die begriffliche Unterscheidung geht stets mit der Behauptung einher, dass sie in dieser Welt nicht getrennt seien. 752 C f. die These von Wolfram Hogrebe, wonach Welterkenntnis immer auch als Welt­ ereignis zu verstehen sei (W. Hogrebe (1989): Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings >Die Weltaltersittliche Bewußtsein« in Frage zu stellen bzw. einer rückhaltlosen Kritik zu unterwerfen, da der Zweifel an der

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IV. DER LEHRER

Durch die Erzählung der Krämerfrau, wie auch durch die sich anschließenden Unterredungen, soll die vorhin nur in Rücksicht auf die Philosophen vertretene These, dass die Geisterwelt schon jetzt und hier gegenwärtig sei, mit gehörigen Abwandlungen als auch für das Volk zutreffend erwiesen werden. Auch für dieses ist die Geisterwelt nicht in eine weite Zukunft entrückt, sondern sie ist bereits hier und jetzt derart gegenwärtig, dass das Volk sich in einem von Geistern bevölkerten Raum bewegt, den man deshalb als eine »mythische Land­ schaft* bezeichnen kann. Die mythische Landschaft konstituiert sich dadurch, dass »Geister, denen lange Zeit an bestimmten Orten eine gewisse Verehrung erzeigt wird, durch die Magie dieses Glaubens wirklich Schutzgeister solcher Gegenden werden« (SW IX, 104). Diese Landschaft ist selbst ein raumzeitliches Gebilde, dadurch, dass sich in ihm durch die Präsenz und Nachwirkung von Verstorbenen besondere Orte absondern, die auf eine Vergangenheit zurückverweisen. Damit werden im Gespräch jene Bezüge zum Thema, die der Erzähler ab der ersten Seite wiederholt heraufbeschworen hatte. Die für das dritte Gespräch charakteristische Bewegung vom Weltall zur heimatlichen Erde, eine Bewegung, die auch in der intellektuellen Autobiographie des Pfarrers Auswirkung zeigte, liegt der gesamten Erzählung zugrun­ de. Bereits in der Szene, die die Erzählung eröffnet, wurde mit dem Friedhof, auf welchem sich die »zerrissenen Lebensverhältnisse [...] für den Betrachter [erneuerten]« und die Generationen sich aus der zeitlichen Trennung wieder zu »Eine[r] Familie« vereinigten, ein sol­ cher Ort aufgerufen (SW IX, 11 f.). Die Präsenz der Verstorbenen sondert den Ort nicht nur von dem Raum ab und verleiht ihm einen sakralen Charakter, sondern organisiert zugleich den umgebenden Raum im Hinblick auf diesen Ort. Erst solche geweihten Orte machen unbedingten Geltung solcher Gefühle bereits genügen mag, um sie zu verletzen. Vgl. SW IX, 9: »Bei einem Gegenstände, der mit den tiefsten Empfindungen des menschlichen Wesens in vielfachen und innigen Verhältnissen steht, kann der Schriftsteller, wofern es ihm bloß um Wirkung zu thun ist, seines Zwecks nicht wohl verfehlen, wenn er es nur versteht, jene Empfindungen auf eine leichte und erfreuliche Art ins Spiel zu setzen. Derjenige hingegen, der auf Hervorbringung genau-wissenschaftlicher Einsicht geht, muß wünschen, sie vor der Hand vielmehr zum Schweigen zu bringen«.

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den Raum zur heimlichen Gegend, während sie selbst, als von dieser ausgegrenzt, im präzisen Sinn als unheimlich zu bezeichnen sind. Der Ort konstituiert den Raum wie auch die Zeit, indem man an solche Orte nur zu bestimmten Gelegenheiten wiederkehrt, um dort derartige Handlungen zu verrichten, die den Charakter eines Rituals haben. Die Nation ist gerade deshalb eine raumzeitliche Einheit, weil sie durch die Toten konstituiert wird, die für sie weiter wirksam sind: Es sind also die Toten, die die Lebenden zu einer Einheit und somit zu einer Nation vereinigen. Clara ruft ausdrücklich die Geister der Gründer dieser Landschaft und der Gesetzgeber des Volkes auf, also die Geister derjenigen, »welche zuerst in diese Wälder das Licht des Glaubens brachten, die diese Hügel mit Wein, diese Thäler mit Korn bepflanzt, und so die Urheber eines menschlicheren Lebens in zuvor wilden und fast unzugänglichen Gegenden geworden sind«, die »geistige[n] Väter« der »Länder und Völker [...], die durch sie gebaut und zu Einem Glauben vereinigt worden sind« (SW IX, 104). Besonders der Held, der Gründer oder Gesetzgeber, kann auf ein Leben nach dem Tod hoffen, nämlich insofern er in seinem Volk weiterwirkt. Die Rückkehr zur Na­ tur bedeutet, auf der Ebene des Geistes, die Rückkehr zur Mythologie: Das natürliche Bewusstsein ist eo ipso mythisch oder mythisierend. Diese Mythisierung ist bereits insofern natürlich, als sie gar nicht erst künstlich ins Werk gesetzt zu werden braucht, sondern wie von selbst vonstattengeht, wie sich am offensichtlichsten an der Mythisierung der Heimat als Ort der Kindheit erweist. Sie kann allerdings gepflegt oder aber vernachlässigt, und so dem Ausdörren preisgegeben werden (vgl. SW VI, 572). Die Rückkehr bedeutet indes nicht sosehr eine Wiederaufrichtung und Einführung einer Neuen Mythologie, sondern zunächst erst einmal das Aufdecken dieser Dimension des Bewusst­ seins, wie sie weiterhin wirksam ist, auch und sogar dann, wenn man dies nicht wahrhaben möchte und »sogar sittliche Gründe dagegen auf[sucht]« (AA 1,17,131). Das mythische Bewusstsein ist demnach nicht ein Stadium, das die Menschheit im Laufe der Geschichte hinter sich lässt und welches danach abgeschlossen ist, sondern es bleibt in allen geschichtlichen Epochen präsent und wirksam, und sei es auch nur im Modus der Abwesenheit.

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IV. DER LEHRER

In diesem Zusammenhang sind unter dem >Geistigen im Physischem nicht länger die Gesetzmäßigkeiten des Weltalls zu verstehen, son­ dern eine der Sinnlichkeit angenäherte geistige Gegenwart, die sich nicht erst durch eingehende Studien, sondern bereits durch eine etwas aufmerksamere Reflexion über die alltägliche Erfahrung erschließt, da wohl jeder »in jeder Landschaft eine gewisse geistige Gegenwart« zu empfinden vermöge, »die uns in der einen anzieht, in der andern zurückstößt« (SW IX, 105).157 Auch ein Land oder ein Volk ist ei­ ne solche >Gegend■Verderbniß« schließt ja nicht aus, dass nicht »diesefr] Theil« doch »als Stoff für höhere Zwecke« benutzt werde und dass »selbst aus dem verdorbenen Element noch immer himmlische Früchte erzeugt werden« können (SW IX, 98). Nicht nur ist es nicht möglich, den Eigenwillen aufzuheben, wie Clara es verlangt, sondern es ist dies auch nicht erforderlich, da er unabdingbar ist als Widerstand, der immer wieder überwunden werden kann und muss.160 Die Erzählung der Krämerfrau leitet zugleich den Rückweg und Ab­ stieg ein (vgl. SW IX, 106). Nachdem diese vorgeführt hat, wie Claras Verwerfung der »kindischefn] Vorstellung«, wonach die Verstorbenen »ihren künftigen Aufenthalt [...] auf einem der unzähligen Sterne über 160 Die frühere Behauptung, wonach sich bei Schelling keine systematische Wider­ legung des Offenbarungsglaubens finde, bedarf einer Präzisierung. Wie bereits bemerkt, findet die Erlösungstat Christi in Schellings Weihnachtsabendgespräch, anders als in Schleiermachers Weihnachtsfeier, nur am Rande Erwähnung, als Rahmen für eine ausführliche Betrachtung zur Ganzheit. Claras plötzliche, sie erschütternde Erkenntnis des Verlusts der Ganzheit macht sie der Erlösungsbe­ dürftigkeit des Menschen bewusst. Die Rückgewinnung der Ganzheit scheint ihr einem anderen Leben vorbehalten zu sein. Im ersten Gespräch wurde der Grund des Verlusts der Ganzheit in die Erregung des Eigenwillens verlegt. Das zweite Gespräch zeigt an, wie eine Wiedergewinnung der Ganzheit in diesem Leben nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist, da die triadische Struktur des menschlichen Geistes derart beweglich ist, dass dessen konstitutive Faktoren in ein solches Verhältnis zueinander gebracht werden können, das der Ganzheit entspricht. Das dritte Gespräch verhandelt das Verhältnis des Weltalls zur Erkenntnis desselben.

5. RÜCKKEHR ZUR ERDE

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uns« nehmen, insofern berechtigt ist, als sie vielmehr an bestimmten Orten der Landschaft gegenwärtig bleiben, wendet die Unterredung sich allmählich wieder dem Thema der Stellung der Erde im Weltall zu (SW IX, 93). Das anfangs formulierte Vorhaben, Clara von der ausschließlichen Beschäftigung mit einer künftigen Welt ab- und auf eine Betrachtung der (heimatlichen) Natur hinzulenken, scheint zum ersten Mal Erfolg zu haben, da Clara sich, trotz ihrer Sehnsucht nach dem zukünftigen Leben, obwohl ihr »Herz allem Aeußeren abge­ storben ist« und trotz ihrer »Ueberzeugung, daß die andere Welt die gegenwärtige in jeder Hinsicht weit übertreffe«, eine »Anhänglichkeit an die Erde« eingesteht, die der Erzähler hernach nach Kräften zu unterstützen suchen wird (SW IX, 106). Dies veranlasst den Arzt zu der feinsinnigen Bemerkung, ob nicht »die Herabsetzung der Erde auf eine so mäßige Stufe manches auch in den religiösen Vorstellungen verändert« (SW IX, 107). Der Pfarrer bekennt, nicht einzusehen, wes­ halb die religiösen Vorstellungen dadurch, dass »die Erde [...] aus dem Mittelpunkt verstoßen« ist, verändert werden müssten (SW IX, 107). Dennoch lenkt er nun, den Faden seines Glaubensbekenntnisses wieder aufgreifend, das Gespräch alsbald wieder dem Thema der Planeten und der Stellung der Erde im Ganzen zu, um insbesondere auf die von Clara verworfene Vorstellung zuzusteuern. Diese Vorstellung verbindet er mit Emanuel Swedenborg, den er, wenn auch ohne ihn zu nennen, ausführlich zitiert: »Ich erinnere mich, sagte ich, in früherer Zeit über eben diese Sache auch den nordischen Geisterseher gehört [sic] zu haben, dessen Reden über diesen Punkt mir noch am ehesten Genüge thaten« (SW IX, 108).161 Der Grund, weshalb der Pfarrer 161 Der Pfarrer zitiert eine 1758 anonym in London erschienene Abhandlung Sweden­ borgs, die 1770 auf Veranlassung Friedrich Christoph Gelingens in einer deutschen Übersetzung, um »Reflexionen« Oetingers ergänzt, erschien (vgl. E. Swedenborg (1758): De Telluribus in Mundo nostro Solari, Quae vocantur Planetae: et de lellurihus in Coelo Astrifero: Deque illarum Incolis; tum de Spiritibus & Angelis ibi; ex Auditis & Visis. London, 46-48. Ders. (1770): Von den Erdkörpem der Planeten und des gestirnten Himmels Einwohnern. Frankfurt am Main / Leipzig, 114-119). Letztere Ausgabe befand sich auch in Schellings Bibliothek (vgl. A.-L. MüllerBergen (2007): Schellings Bibliothek. Die Verzeichnisse von F. W.J. Schellings

Buchnachlaß. Stuttgart-Bad Cannstatt (Schellingiana 19), 208). Eine revidierte

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IV. DER LEHRER

Swedenborg hervorhebt und zitiert, dürfte darin zu suchen sein, dass dieser die Frage nach den Planetenbewohnern mit der Frage nach der Inkarnation verbunden hatte.162 Zugleich deutet er hierdurch an, dass die vorherigen Überlegungen zum Weltall und zur Stellung der Erde sämtlich einen Bezug zur Frage nach der Inkarnation haben. So hebt er erstens hervor, dass Swedenborg zufolge die Offenbarung Gottes mittels der Inkarnation auf anderen Planeten insofern nicht erforderlich sei, als der Staat dort nicht existiere und deren Bewohner nur im Familienverband leben würden. Nur wegen der Existenz des Staates, die auf die natürliche Verfassung des Menschen zurückgeht, sei Christus auf der Erde Mensch geworden, um, so muss man wohl ergänzen, den Menschen von der Zwangsgewalt des Staates zu befreien (vgl. SW IX, 109). Als einen zweiten beachtenswerten Punkt hebt der Pfarrer hervor, dass »mündliche Offenbarungen durch Geisterund En­ gel« ausreichen würden, solange »die Geschlechter in bloßen Familien Übersetzung wurde 1997 von Friedemann Horn vorgelegt (vgl. E. Swedenborg (1997): Die Erdkörper im Weltall und ihre Bewohner. Sowie einige Aufsätze verschiedener Autoren zum Thema. Hrsg, von F. Horn. Zürich). Vgl. auch E. Swe­ denborg (1869): Himmlische Geheimnisse, welche in der Heiligen Schrift oder in dem Worte des Herrn enthalten, und nun enthüllt sind. Basel / Ludwigsburg, Bd. 14,347-350. Für nähere Angaben und eine Schilderung der zeitgenössischen Debatte siehe: E. Benz (1947): Swedenborg in Deutschland. E C. Oetingers und Immanuel Kants Auseinandersetzung mit der Person und Lehre Emanuel Swe­ denborgs. Frankfurt am Main, 114-144. Ferner: F. Horn (1954): Schelling und Swedenborg. Ein Beitrag zur Problemgeschichte des deutschen Idealismus und zur Geschichte Swedenborgs in Deutschland. Zürich, 27-29,118-122. Der Absicht seiner Studie gemäß übersieht Horn den Vorbehalt, den der Zusatz »noch am ehesten« anzeigt. Dieser kann indes auch so gelesen werden, dass der Pfarrer sich von Swedenborgs Lehren höchstens noch mit dessen Lehre von den Pla­ netenbewohnern anzufreunden vermag. Vielleicht möchte er jedoch auch nur Swedenborgs Ansicht anderen Meinungen zu dem damals kontrovers diskutierten Thema der Planetenbewohner gegenüber hervorheben. 162 Kant hingegen hatte die Frage nach den Bewohnern der Gestirne auf das Problem der Sünde zugespitzt (vgl. I. Kant (1910): Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprünge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt. In: Ders.Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg, von der königl. Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin, Bd. 1, 365 f.).

5. RÜCKKEHR ZUR ERDE

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leben« (SW IX, 109). Die von Swedenborg gemachte Unterscheidung von mündlicher und schriftlicher Offenbarung veranlasst den Pfarrer jedoch dazu, von sich aus »hinzu[zu]setzen«, dass die Schrift, ungeach­ tet des früheren Vergleichs mit der jenseitigen Sprache, die wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Musik und ihrer Fähigkeit zu »Mittheilungen ohne Zeichen« und zur »unmittelbare[n] Erweckung« der »Vorstellung der Urbilder« entschieden den Vorzug vor der diesseitigen Sprache zu ver­ dienen schien, jetzt der Sternensprache vorgezogen wird, weil sie nicht nur bloß »flüchtige Empfindungen« anzuregen, sondern zugleich auch und insbesondere Gedanken mitzuteilen vermöge (SW IX, 101, 109). In der Sprache als »abgemessene, in sich organisirte, artikulirte Bewe­ gung« spiegelt sich die Artikulation der Dinge, deren jedes »in sich ein lebendiges Wort als Band des Selbst- und des Mitlautenden [trägt]« (SW VI, 492; IX, 101 ).163 Hier bricht das Fragment ab. Allerdings blieb ein Entwurf zu ei­ ner Fortsetzung erhalten. Dieser Entwurf scheint den durch Claras Bekenntnis ihrer Anhänglichkeit an die Erde markierten Fortschritt zunächst zu bestätigen, indem er mit einer Hymne auf die Natur anfängt, durch welche Clara das Gefühl einer Übereinstimmung zwi­ schen ihrem Zustand und der Jahreszeit bekundet: »O Frühling, Zeit der Sehnsucht, mit welcher Lebenslust erfüllst du das Herz!«.164 Die von Arzt und Pfarrer belehrte Clara erklärt, wie sie die Stimme der Natur jetzt zu vernehmen vermag, die »mit tausendfältigem Zauber Herz und Sinne zurück in das äußere Leben [ruft]«.165 Bei näherer Betrachtung erweist sich ihr Widerstand gegen die Lehre des Arztes und des Pfarrers jedoch als ungebrochen. Auf den verzückten Auftakt folgen nämlich elf - alles andere als rhetorische - Fragen, die dieselben Bedenken, die sie bereits früher geäußert hatte, erneut formulieren und

163 Es ist wohl kaum ein Zufall, dass Schelling in der kurzen Betrachtung zur Sprache in den Würzburger Vorlesungen den Menschen in der Idee zunächst als den »Mensch gewordenefn] Gott« und die Sprache anschließend als »das Wort, das Fleisch geworden ist«, bezeichnet (SW VI, 491 f. (§ 259 Zus.)). 164 Schelling (1862), 175; Schelling (1946), 272. Ehrhardt datiert dieses Fragment auf 1810 (vgl. Ehrhardt (2012), 140 f.). 163 Schelling (1862), 176 f.; Schelling (1946), 272.

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IV. DER LEHRER

dadurch ihren Widerstand bekräftigen. Anstatt ihre Übereinstimmung mit der Natur scheint die Rede somit vielmehr zu zeigen, dass es immer noch nicht gelungen ist, Clara zur Natur zurückzuführen und sie damit die Bedingung erfüllen zu lassen, die für den Übergang zur Gcisterwelt unerlässlich ist. Auffällig ist der Entwurf wenigstens insofern, als er die längste Rede Claras des ganzen Werkes enthält. An keiner Stelle hören wir sie so lange reden, wie hier. Mit dieser Rede fasst sie zusammen, was sie aus den zurückliegenden Gesprächen gelernt hat, und führt so vor Augen, wie wenig die bisherigen Versuche des Arztes und des Pfarrers, sie zu einer zuträglicheren Ansicht hinzuführen, gefruchtet haben. Mag der Versuch mit Clara sich auch für dieselbe nicht in dem erhofften Sinne als erfolgreich erweisen, so verhindert dies nicht, dass das Fragment dem Leser über das Unternehmen Schellings wertvolle Aufschlüsse zu geben vermag. Indem es vorführt, wie eine Erkenntnis der Geisterwelt sich auf der Grundlage und nach dem Modell der Naturerkenntnis gewinnen lässt, zeigt es zugleich, was dieser unter der von ihm von Anfang an bis zuletzt angestrebten >Ethik< verstanden haben möchte.166 Die verbreitete Meinung, wonach sich bei Schelling nicht nur keine Ethik finde, sondern sein Ansatz eine solche prinzipiell ausschließe, mag ihren Grund darin haben, dass man eine Ethik a la Kant als Muster nimmt, die indes auf die Annahme einer Trennung von Handeln und Erkennen aufbaut, die Schelling zurückweist. Handlun­ gen gehen aus Erkenntnissen hervor, die eine strenge Prüfung entweder zu bestehen vermögen, oder nicht. Insofern haben Erkenntnisse oder Vorstellungen eo ipso »Folgen auf unser Leben« (SW IX, 28). Die Erkenntnis ist somit nicht nur ein Weltereignis, sondern auch in Bezug auf die geistige Organisation des Individuums stellt sie einen reellen Faktor dar, sodass durch eine Veränderung auf der Ebene der Erkennt­ nisse oder Vorstellungen sich die gesamte geistige Rangordnung des Individuums zu verändern vermag. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei mythologischen Vorstellungen nicht nur um Vorstellungen

166 Vgl. AA 1,2, 80; 11,6, 483 f.; III,1,17; SW VI, 17. Diese Absicht bekräftigt Schelling noch 1834 (vgl. SW X,35f.).

5. RÜCKKEHR ZUR ERDE

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handelt, sondern dass dieselben als Artikulation eines bestimmten Ge­ fühls zu verstehen sind: Die mythische Vorstellung ist immer zugleich Vorstellung und Affekt oder Anschauung und Gefühl. Dadurch, dass man die Vorstellung rational zu durchdringen vermag, vermag man auch, das Gefühl zu bezähmen. Wenn die Vorstellungen ein solches »ethisches« Potential entfalten können und wenn zudem zutrifft, dass der Verstand sich vor allem darin zeigt, in das anfangs Regellose oder in den anfänglichen Wahnsinn eine Ordnung zu bringen, dürfte er­ sichtlich werden, weshalb Schelling sich zunächst solchen geistigen Phänomenen zuwendet, die der Moral und dem Verstand vorausliegen. An der rationalen Durchdringung des natürlichen Bewusstseins zeigt sich die Wirkung der Erkenntnis. Dabei konzentriert Schelling sich insbesondere auf kollektive Vorstellungen, um den Nachweis zu er­ bringen, dass sich in solchen Formationen dieselben Strukturen finden, die auch für die Vernunft konstitutiv sind. So muss Schellings Ansatz fast zwangsläufig auf eine Philosophie der Mythologie hinauslaufen.

Nachwort Die Betrachtung der Akten der Auseinandersetzung zwischen Schel­ ling und Schleiermacher hat gezeigt, dass >Zentrum und Höhepunkt* derselben so wenig in der schellingschen Spätphilosophie bzw. in der Glaubenslehre zu suchen sind, dass diese vielmehr nur als eine Art Rückzugsgefecht in diesem stillen Krieg gelten können. Von einem Dialog im anspruchsvollen Sinne ist in der Spätzeit nämlich kaum noch die Rede. Während Schelling in der Glaubenslehre gar nicht erst genannt wird, erwähnt Schelling selbst Schleiermacher zu späterer Zeit nur noch als einen »philosophischefn] Dogmatiker«, an welchem sich höchstens auf besonders schlagende Weise ein theoretisches Defizit nachweisen lasse, das dieser jedoch mit fast allen Theologen und Philo­ sophen gemein habe, sodass es ihn keineswegs besonders auszeichne.1 Mag Schelling auch vereinzelte Sätze der Glaubenslehre zitieren, so führt dies dennoch nicht zu einer eingehenden Auseinandersetzung mit derselben. Eine solche mag sich für ihn auch deshalb erübrigt haben, weil er sämtliche Bedenklichkeiten, die sich gegen dieselbe vorbringen ließen, bereits in den hier analysierten Texten hinlänglich entwickelt hatte. Er dürfte sich somit von einer kritischen Prüfung der Glaubens­ lehre kaum neue Gesichtspunkte oder Einwände versprochen haben. 1

Schelling (1990), 187. Schelling geht sogar so weit, zu behaupten, dass es »noch keinem [Theologen] eingefallen ist den Begriff des Monotheism ins Reine zu bringen« und dass die Lehre von der Einheit Gottes »sowol Philosophen als Theologen« in »Verlegenheit« versetze (Schelling (1990), 185, m. H.). Die Kritik sowohl an den Theologen als auch den Philosophen sowie die Behauptung, mit der Klärung des Monotheismus-Begriffs etwas Einmaliges zu leisten, bilden ein Leitthema des Monotheismus-Kapitels (vgl. SW XII, 12 f., 20, 21, 28, 35). In den Vorlesungen von 1827/28 wird Schleiermacher nicht namentlich genannt; der Nachschreiber scheint die Anspielungen indes sogleich durchschaut zu haben, wie aus seinen Randbemerkungen hervorgeht (vgl. Schelling (1990), 187, 190,196).

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NACHWORT

Dies mag ein hinreichender Grund sein, auf eine eingehende Befassung mit der Glaubenslehre in Druck oder in Vorlesungen zu verzichten. Schleiermacher konnte seinerseits durch die von Schelling angeführten philosophischen Gründe nicht in dem für ihn grundlegenden Christusglauben erschüttert werden. Unsere Untersuchung hat vielmehr gezeigt, dass Zentrum und Höhepunkt der Auseinandersetzung in der Zeit von 1799 bis etwa 1807 zu suchen sind, da nur zu dieser Zeit ein wirklicher Dialog stattgefunden hat, der sich insofern als für beide Parteien besonders fruchtbringend erwies, als er zu einem klareren Bewusstsein der eigenen Position und Aufgabe beigetragen hat. Dass Schelling auf eine Auseinandersetzung mit der Glaubensleh­ re verzichtet hat, besagt indes keineswegs, dass diese sich nicht aus schellingscher Sicht einer grundlegenden Kritik unterziehen ließe. Da wir uns an dieser Stelle nicht auf ein solches Unternehmen einlassen können, soll nur kurz gezeigt werden, wie ein solcher posthumer Dia­ log ansetzen könnte. Auch in der Glaubenslehre hält Schleiermacher an der grundlegenden Bedeutung des Gefühls fest, und zwar indem er dieses als das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit bestimmt. Es handelt sich somit nicht um irgendein Gefühl, sondern die nähere Bestimmung desselben gibt zu erkennen, dass damit die Frömmigkeit definiert wird (vgl. KGA 1,13,19-40). Nun ist zu beachten, dass diese Definition der Frömmigkeit sich in der Einleitung zur Glaubenslehre findet, die nach Schleiermachers ausdrücklicher Erklärung nicht selbst stricto sensu zur Dogmatik gehört, sondern sich Lehnsätzen aus an­ deren Wissenschaften bedient (vgl. KGA 1,13, 18 f., 60, 93). Während die Dogmatik, als die Artikulation der jenem Gefühl entsprechenden Anschauung, ganz auf dem Glauben beruht, weshalb in derselben weder Beweise noch eine natürliche Theologie zu suchen sind, sind die in der Einleitung aufgestellten Behauptungen derart, dass sie der Zustimmung von Gläubigen und Nicht-Gläubigen gleichermaßen fähig sein müssen (vgl. KGA 1,13, 34, 98,102, 148). Erst innerhalb der Dogmatik erhält die Frömmigkeit ihren eigentlichen Namen, näm­ lich als Bewusstsein der Erlösungsbedürftigkeit, als Bewusstsein der Sünde und des Angewiesenseins auf Gnade. In diesem Sinne ist das Gefühl die eigentliche Offenbarung (vgl. KGA 1,13, 40). Damit ist auch gesagt, dass sowohl die Definition der Frömmigkeit als auch die

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Bestimmung des Wesens des Christentums eine Prüfung erlaubt, die nicht auf den Glauben rekurriert. Dies ist denn auch der Punkt, an welchem der Subjektivismus-Vorwurf sich weiterentwickeln ließe. Ob­ wohl Schleiermacher das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit dem Selbstbewusstsein gleichsetzt, impliziert seine Definition dennoch, dass die so verstandene Frömmigkeit und die Selbsterkenntnis sich gegenseitig ausschließen: Die Frömmigkeit, die sich als solche bewusst wäre, würde sich eben dadurch in Stolz verwandeln. Jedenfalls würde der Fromme sich anmaßen, über sich selbst urteilen zu können und zu dürfen. Darüber hinaus lässt sich fragen, ob das Gefühl wirklich die Aufgabe erfüllen kann, die Schleiermacher ihm zugedacht hat. Er rekurriert nämlich auf das Gefühl als den Garanten der Wahrheit der Anschauung, deren Artikulation der dogmatische Teil der Glaubens­ lehre liefern soll. Dieser Argumentationsschritt war durch die Lage motiviert, die die aufklärerische Religionskritik, einschließlich dieje­ nige Kants, Fichtes und Schellings, herbeigeführt hatte.2 Im Gefühl meinte Schleiermacher eine Basis für die Religion gefunden zu haben, die einer dialektischen Untersuchung entzogen wäre. Der Philosoph kann jedoch durchaus vom Gefühl als Garanten der Wahrheit der Artikulation absehen, um nur die Artikulation selbst einer Prüfung zu unterziehen. Dies mag auch Schellings Vorgehen im MonotheismusKapitel erklären: Sofern er sich dort überhaupt auf Schleiermacher einlässt, abstrahiert er gänzlich von dessen Rekurs auf das Gefühl, um nur den Begriff und die Lehre vom Monotheismus einer Prüfung zu unterziehen. In der Tat hat Schleiermacher diese Lehre auf dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit gegründet: Wenn ein solches Gefühl als Offenbarung Gottes zu interpretieren ist, dann gibt es zugleich mit dem Dasein Gottes zu erkennen, dass es nur einen einzigen Gott gibt, da nur einem solchen die Allmacht zugeschrieben werden kann (vgl. Schelling (1990), 187; SW XII, 22,25 f.; KGA 1,13, 351 f.). Dass Schleiermacher vom Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ausgeht, führt somit zwangsläufig dazu, dass er die Allmacht als das entscheiden­ de göttliche Attribut behaupten muss. Nur weil ein anderer Gott oder die Existenz von etwas, das nicht Gott wäre, die Allmacht einschränken 2 Vgl. Fischer (2001), lOOf.

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wurde, könne es nur einen einzigen Gott geben. Daraus folgt zugleich dass er den Polytheismus nicht als eine Form der Frömmigkeit oder der Religion zu verstehen vermag. Bereits in den Vorlesungen über die Methode des academischen Studium hat Schelling angedeutet, dass es unabdingbar ist, den Polytheismus als Religion anzuerkennen, wenn die Wahrheit der Offenbarungsreligion rational ausgewiesen werden soll. Wenn unsere Untersuchung dazu beigetragen haben mag, einen wichtigen Aspekt der deutschen Geistesgeschichte wieder ins Licht zu rucken, so kann der entscheidende Grund, sich auf diese Texte einzu­ lassen, doch nur in der Sache selbst zu suchen sein. Damit diese Sache klar vor Augen trete, mag hier zum Schluss das Argument Schellings in der nötigen Kürze wiederholt werden, nachdem wir uns bislang ganz in die einzelnen Texte versenkt haben. Bei näherer Überlegung zeigt sich nämlich, dass die analysierten Texte stets neue Gesichtspunkte und Aspekte hervorheben, dabei jedoch nur ein einziges Argument zur Entfaltung bringen. Zugleich gelangt Schelling in dieser Auseinan­ dersetzung dazu, seine Aufgabe für die Zukunft festzustellen. Auch Schleiermacher mag in der Auseinandersetzung zu größerer Klarheit darüber gelangt sein, welche Aufgabe nur ihm Vorbehalten war. Die Klarheit über die eigene Aufgabe kann denn auch als das eigentliche Ergebnis dieses stillen Krieges angesehen werden. Es ist höchst aufschlussreich, dass Schelling in der unmittelbaren Reaktion auf Schleiermachers Reden und auf Novalis’ Aufgreifen derselben zunächst die existentielle Differenz herausstellt. Wie wir gesehen haben, diente das Epikurisch Glaubensbekentniss Heinz Wiederporsts nämlich in erster Linie dazu, die Eigenständigkeit der Philo­ sophie als eine Lebensweise hervorzuheben und die Behauptung der Überlegenheit der Religion zurückzuweisen. Schelling tritt mit diesem Gedicht der geläufigen Meinung entgegen, dass die Philosophie nicht in der Lage sei, eine besondere Lebensweise zu begründen. Er tut dies indem er sich die Figur des Heinz Wiederporsts zu eigen macht, die sich dazu eignet, wenigstens gewisse Züge des Philosophen, wie’den Eigensinn, den Argwohn, den Eros, nicht zuletzt die Heiterkeit und den esprit durchscheinen zu lassen. Eine Eigenschaft, die Wiederporst indes vorzüglich fehlt, ist die Frömmigkeit. Vor diesem Hintergrund

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mag auch die Tatsache als bedeutsam erscheinen, dass Schelling, wenn er gelegentlich auf ethische Probleme zu sprechen kommt, dies immer nur in Rücksicht auf die Philosophie als Lebensweise tut. Auf eine Moralphilosophie im Sinne einer Begründung der Moral für NichtPhilosophen lässt er sich hingegen kaum je ein, wohl in der Meinung, dass die Philosophie, sobald sie sich auf ein solches Unterfangen einlas­ sen würde, nur eine negative Wirkung ausüben könnte. Eine wahrhaft philosophische Untersuchung der Moral könnte nur die Gestalt einer Kritik annehmen. In den Vorlesungen über die Methode des academischen Studi­ um wagt Schelling einen bemerkenswerten Vorstoß: Hier deutet er aus eigenem Antrieb zum ersten Mal an, welche Folgen sich für das Verständnis der Religion aus seiner Philosophie ergeben.3 Zum einen hebt er in der sich direkt auf Schleiermacher beziehenden Stelle hervor, dass die Philosophie selbst ein Gefühl oder ein Selbstbewusstsein der Identität mit dem Absoluten und daher der Identität mit sich selbst auszeichnet. Dadurch nimmt er das bereits im Glaubensbekentniss entwickelte Argument in aller Kürze wieder auf, um es erneut gegen die Behauptung aufzubieten, dass das fromme Gefühl der höchste Zustand menschlicher Vollkommenheit sei (vgl. KGA 1,13, 40-53). Zum anderen hat die Reflexion über die existentielle Differenz von Phi­ losophie und Religion ihm jedoch zugleich zu Bewusstsein gebracht, dass die Philosophie einer Erklärung der Genese der Offenbarungs ­ religion nicht zu entraten vermag. Aus dieser Reflexion ergibt sich direkt eine wissenschaftliche Aufgabe, die im Kapitel zur historischen Konstruktion des Christentums umrissen wird. Aus dieser knappen Skizze geht wenigstens hervor, weshalb jene Aufgabe nur durch eine Philosophie der Mythologie und eine Philosophie der Offenbarung geleistet werden kann, wie wir gleich sehen werden. Es wird ebenfalls ersichtlich, weshalb die Durchführung dieser Aufgabe, wie Schelling sie mit den späten Vorlesungen vorgelegt hat, eine dreifache Einleitung erfordert. In der Historisch-kritischen Einleitung in die Philosophie der 3

Vgl. SW XII, 5, wo Schelling ebenfalls anzeigt, dass die Möglichkeit einer Natur­ philosophie auch und insbesondere für das Verständnis des Menschen weitgehende Folgen hat.

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Mythologie soll gezeigt werden, weshalb eine rationale Durchdringung des Phänomens der Mythologie, wenn überhaupt, dann nur mittels einer philosophischen Untersuchung gelingen kann. In dieser Absicht führt Schelling eine kritische Prüfung sämtlicher Annahmen durch, die, falls sie einer Prüfung standhalten, zu dem Ergebnis führen würden,' dass die Mythologie auch ohne Philosophie einsichtig gemacht werden könne. Jene Annahmen reflektieren insofern die historische Situation, als sie sich auf den gemeinsamen Nenner bringen lassen, dass man der Mythologie keine Wahrheit zuzuschreiben oder den Polytheismus nicht als eine Religion zu verstehen vermag.4 In der Darstellung der reinrationalen Philosophie verfolgt Schelling eine gegenläufige Absicht, indem er zeigt, dass die Philosophie einer Befassung mit der Mytholo­ gie und mit der Offenbarung nicht zu entraten vermag, wenn sie sich selbst verstehen will. Bei Mythologie und Offenbarung handelt es sich somit nicht um Gegenstände, denen die Philosophie sich nach Belieben zu- oder abwenden kann. Vielmehr soll gezeigt werden, dass die Phi­ losophie, sofern sie sich begründen will, nicht darauf verzichten kann, sich auf die Auseinandersetzung mit Mythologie und Offenbarung einzulassen. Wenn die Philosophie ihrem eigenen Anspruch genügen will, muss sie sich diesen gegenüber als überlegen erweisen. Im Mono­ theismus-Kapitel findet schließlich die direkte Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Theologie statt. Die Brisanz von Schellings Unternehmen zeigt sich bereits daran, dass er mit dem Begriff und der Lehre des Monotheismus den grundlegenden Begriff des Christentums zum Gegenstand einer philosophischen Untersuchung erhebt. Zudem behauptet er, dass man sich bis dahin noch niemals an eine rationale Begründung derselben gewagt habe.5*Aus dem Gesagten mag auch ersichtlich werden, weshalb die schellingsche Philosophie sich in einem 4

5

Die Historisch-kritische Einleitung ist indirekt auch für den Theologen von Bedeu­ tung: Ullmann spricht von einer »historischefn] Sinnestäuschung«, die der Theologe erliegt, wenn er »die eigene Situation, in der wegen des faktischen Nichtvorhan­ denseins von polytheistischer Religion [...] ein Monotheismusproblem weder für Theologie noch Philosophie zu existieren scheint, für die einzig mögliche und normale hält« (Ullmann (1985), 383). Übrigens lässt das Monotheismus-Kapitel sich als die Durchführung eines Plans

lesen, den Schelling anlässlich von Friedrich Schlegels Indien-Buch in einem Brief

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auffälligen Kontrast zu Hegel nicht auf weitere Gebiete der Realität wie die Kunst, die Geschichte, den Staat auszuweiten sucht, sondern sich ganz auf die Konfrontation mit dem Phänomen der Religion beschränkt und die Erörterung anderer Phänomene ganz diesem einen Ziel unterordnet.6 Nach Schleiermachers entscheidendem Einwand kann Schelling den Christus nur als eine mythische Figur verstehen. Präziser gesagt wäre Schelling ansonsten nicht in der Lage, zu verstehen, wie eine einmalige historische Figur zugleich der Christus sein könne. Be­ reits ihrer Anlage nach, durch die Unterscheidung einer Philosophie der Mythologie und einer Philosophie der Offenbarung, trägt die schellingsche Spätphilosophie diesem Einwand Rechnung. Der Kern des Arguments, das in der Spätphilosophie en detail entwickelt wird, findet sich indes bereits in den Vorlesungen von 1803. Zwar bedienen sich die Philosophie der Mythologie und der Offenbarung derselben Prinzipien, sie tun dies aber auf unterschiedliche Weise und mit un­ terschiedlicher Absicht. Wenn der Nachweis der Möglichkeit und Notwendigkeit einer philosophischen Durchdringung der Mythologie sich auch zunächst gegen neuzeitliche Annahmen richtet, wonach die Mythologie lediglich Gegenstand historisch-empirischer Erforschung sein kann, so steht er doch letztlich im Dienste einer Philosophie der Offenbarung, da letztere, wenn überhaupt, dann nur auf der Grundlage einer Philosophie der Mythologie durchgeführt werden kann. Es soll gezeigt werden, dass dieselben Prinzipien, die es erlauben, die Mytho­ logie rational einsichtig zu machen, dazu genutzt werden können, die Transformation einer mythologischen in eine Offenbarungsreligion zu verstehen. Die mythologische Religion zeichnet sich durch das Fehlen des Bewusstseins der Sünde aus. Durch das Bewusstsein von Gut und Böse wird die mythologische Religion aufgehoben. Sie erweist sich da­ mit als Sackgasse für das menschliche Bewusstsein, aus welcher dieses

an K. J. H. Windischmann vom 9. Mai 1809 umreißt (vgk Plitt II, 156 und SW XII, 35-39 und 66-79). 6 Schellings Verfügung über seinen Nachlass belegt, dass die dreifache Einleitung durchaus seiner Intention entspricht. Vgl. Fuhrmans (1959-60), 15 f. u. beachte SW XII, 8. Vgl. hingegen Tilliette (1970), Bd. 2,207-209, 214.

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nur durch die Offenbarung herauszufinden vermag.7 Die Anschauung der Geschichte, wie sie für das Christentum grundlegend ist, lässt sich nämlich aus der Umkehrung der Prinzipien verstehen, die den mythologischen Prozess einsichtig gemacht haben. Die Unterschei­ dung zwischen der christlichen Anschauung der Geschichte und der philosophischen Konstruktion der Geschichte, wie sie sich bereits in den Vorlesungen über die Methode des academischen Studium findet, bleibt auch in der Spätphilosophie erhalten.8 Ist die wissenschaftliche Aufgabe damit klar genug umrissen, so hat Schleiermachers Weihnachtsfeier Schelling erneut die politi­ sche Dimension des Problems vor Augen geführt, falls diese ihm nicht bereits von sich aus bewusst war. Schleiermachers Versuch, die Anschauung zu artikulieren, die in dem Gemeinschaftsgefühl der Weihnachtsgesellschaft impliziert ist, setzt sich in der Glaubensleh­ re insofern fort, als diese die Lehre zu entfalten sucht, die von der evangelischen Gemeinschaft gefordert wird.9 Diese politische Absicht ist von Schelling sofort klar gesehen worden. Das Schwergewicht der in der Weihnachtsfeier-Rezension formulierten Bedenklichkeiten fällt denn auch hauptsächlich auf diese politische Absicht, weshalb er insbesondere das Einebnen der Differenz zwischen Volk, Philosophen und Gebildeten moniert. Daraus ergibt sich für Schelling selbst die Aufgabe, zu zeigen, wie der Philosoph mit diesem Problem umgehen kann. In der als Clara bekannt gewordenen Erzählung gerät die gegen­ wärtige politische Situation zu keinem Zeitpunkt aus dem Blickfeld. Unter der Voraussetzung der Unverzichtbarkeit der sozialen Funktion

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der Religion versucht Schelling eine solche Fassung der Natürlichen Religion zu entwerfen, die den Nicht-Philosophen ein mehr oder weniger selbstgenügsames Leben ermöglicht. Als der augenfälligste Unterschied zu der Glaubenslehre, die Schleiermacher insbesondere Ernst und Eduard in der Weihnachtsfeier entfalten lässt und die dem Empfinden der Frauen zur Artikulation verhelfen soll, mag hier die Tatsache hervorgehoben werden, dass die Natürliche Religion, wie der Pfarrer oder der Erzähler sie mit Rücksicht auf Clara oder das Volk zu artikulieren suchen, über den Christus fast völliges Stillschweigen wahrt. Welchen Erfolg Schelling sich von der praktischen Umsetzung dieses Unternehmens versprach, mag indes daraus hervorgehen, dass er die Erzählung weder vollendete noch veröffentlichte. Auch bei diesem Unternehmen mag ihn somit vor allem ein theoretisches Interesse geleitet haben. Gerade aus diesem Grund bildet es einen integralen Teil von Schellings Politischer Philosophie.10

7 Vgl. Schelling (1803), 176.

8

Auf diese Unterscheidung habe ich an anderer Stelle hingewiesen, vgl. Scheerlinck (2017), 411—120.

9 Diese Absicht wird bereits klar genug durch den vollständigen Titel der Glaubens­ lehre angegeben. Vgl. KGA 1,13, 4 f., 15-17, 57 f, 135, 143-150,165 f., 169. Vgl. dazu F. Wittekind (2017): »Das Gespräch über Die Weihnachtsfeier«. In: Schleierma­ cher Handbuch. Hrsg, von M. Ohst. Tübingen, 178-188 u.S. Hennecke (2017)»Schleiermachers Weihnachtsfeier als Theorie der Kirche«. In: Der Mensch und seine Seele. Bildung - Frömmigkeit - Ästhetik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015. Hrsg, von A. v. Scheliha / J. Dierken. Berlin / Boston (Schlciermacher-Archiv 26), 599-604.

10 Beachte dazu Scheerlinck (2017), 4, 7-10, 60 f., 77, 337, 339 f., 362 Anm., 429-133.

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