Der Mensch und die Kunst bei Friedrich Schleiermacher: Beiträge zur Anthropologie und Ästhetik 9783111025483, 9783111007328

This volume focuses on Schleiermacher's anthropology and aesthetics. It offers contributions from the Wittenberg Sc

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Der Mensch und die Kunst bei Friedrich Schleiermacher: Beiträge zur Anthropologie und Ästhetik
 9783111025483, 9783111007328

Table of contents :
Inhalt
Einführung
I. Anthropologie
Die Endlichkeit des Menschen im Gespräch
Menschsein und Religion
Geschlechterrollen in der Erziehung
Der Mensch als sinnsuchendes Wesen
Schleiermachers Pädagogik und die Kontingenz der Anthropologie
II. Ästhetik
Kunst als die Praxis ihrer geistigen Hervorbringung
Besinnung und Ausdruck
Das Urbild als Vermittlung
Ästhetik und Kultus
Schleiermacher und die Musik nach Auskunft seiner Tagebücher
Kurzbiographien
Personenregister

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Der Mensch und die Kunst bei Friedrich Schleiermacher

Der Mensch und die Kunst bei Friedrich Schleiermacher Beiträge zur Anthropologie und Ästhetik Herausgegeben von Holden Kelm und Dorothea Meier

Der Band wurde gedruckt mit Unterstützung der Internationalen Schleiermacher Gesellschaft e.V.

ISBN 978-3-11-100732-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-102548-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-102568-1 Library of Congress Control Number: 2022946052 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Hintergrundbild: ZU_09 / DigitalVision Vectors / Getty Images Portrait Friedrich Schleiermachers: Stahlstich (ca. 1845) 5x4,5 cm, Künstler*in unbekannt Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Einführung

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Dorothea Meier Holden Kelm

I. Anthropologie Majk Feldmeier Die Endlichkeit des Menschen im Gespräch Divergenzen in Anthropologie und sittlicher Praxis bei Schleiermacher und Jacobi 19 Wilhelm Gräb Menschsein und Religion Schleiermachers Verständnis von der anthropologischen Allgemeinheit und kulturellen Situiertheit der Religion 39 Mari Mielityinen-Pachmann Geschlechterrollen in der Erziehung Anthropologie der Geschlechter in Schleiermachers Pädagogik und 59 Psychologie Cornelia Richter Der Mensch als sinnsuchendes Wesen Schleiermachers Anthropologie und Cassirers Essay on Man in aktuellen interdisziplinären Diskursen 79 Michael Winkler Schleiermachers Pädagogik und die Kontingenz der Anthropologie Mit Seitenblicken auf aktuelle Debatten 97

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Inhalt

II. Ästhetik Holden Kelm Kunst als die Praxis ihrer geistigen Hervorbringung Zur Genese und Systematik von Schleiermachers Vorlesungen über die 127 Ästhetik Bernadette Collenberg-Plotnikov Besinnung und Ausdruck Zum Begriff der Kunst bei Schleiermacher und Aby Warburg Carolyn Iselt Das Urbild als Vermittlung

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Simon Gerber Ästhetik und Kultus Für die Textarbeit ausgewählte Passagen aus der Praktischen 193 Theologie Elisabeth Blumrich Schleiermacher und die Musik nach Auskunft seiner Tagebücher Ergänzte und revidierte Bearbeitung der Kalendereinträge des gleichnamigen Beitrags von Wolfgang Virmond 217 Kurzbiographien

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Personenregister

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Einführung Der vorliegende Sammelband enthält Hauptvorträge der Wittenberger Schleiermacher-Symposien von 2019 (Anthropologie) und 2020 (Ästhetik) sowie ausgewählte Beiträge und Textarbeiten zu diesen Themenbereichen. Mit den Beiträgen spannt sich ein Bogen zwischen philosophischen und theologischen Blickwinkeln, die für das systematische Denken Schleiermachers – vor allem bezüglich anthropologischer, ästhetischer und religionstheoretischer Überlegungen – aufschlussreich sind. Zugleich liegen mit dem Erscheinen der beiden Vorlesungsbände zur Psychologie (KGA II/13) und zur Ästhetik (KGA II/14) im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Schleiermachers verbindliche und vollständige Textgrundlagen vor, die dazu einladen, sich den anthropologischen und ästhetischen Themen Schleiermachers neu zuzuwenden.

1 Zur Anthropologie Dorothea Meier Was macht den Menschen aus? Was trägt zu seiner Humanwerdung bei? Gewissermaßen ist das gesamte Schleiermachersche Denkkonzept ein anthropologisches – geht es ihm doch im weitesten Sinne und aus verschiedenen Perspektiven immer um die auf Natur und Vernunft beruhende Kulturfähigkeit und somit um die menschliche Dimension im dynamischen Prozess der Annäherung von Geist und Materie. Warum fand er aber für sich nur schwer Zugang zur Anthropologie als Wissenschaft und trug eine solche in seiner akademischen Tätigkeit nicht vor? Wurde diese Leerstelle anderweitig besetzt? Diesen Fragen nachzugehen ist das Anliegen des ersten Teils der Einführung in das vorliegende Buch, das Beiträge zu Schleiermachers Anthropologie und Ästhetik vereint. Mehrfach ist zusammengetragen worden, dass Schleiermacher die Anthropologie als Disziplin nur selten erwähnte, vage bestimmte und ihren Wissenschaftscharakter anzweifelte.¹ Eine frühe Beschäftigung mit dem Gegenstand

 Andreas Arndt, „Spekulative Blicke auf das geistige Prinzip. Friedrich Schleiermachers Psychologie“, in: Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, hg. v. Dieter Burdorf / Reinold Schmücker, Paderborn: Schöningh 1998, 147– 161; Andreas Arndt, „Schleiermachers Psychologie – eine Philosophie des subjektiven Geistes?“ In: Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gehttps://doi.org/10.1515/9783111025483-001

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lässt sich festmachen an der 1799 anonym veröffentlichten siebenseitigen Rezension von Immanuel Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht im Athenaeum, einer Zeitschrift der Schlegel-Brüder. Hier bezeichnete er Kants Anthropologie als eine „Sammlung von Trivialitäten“ und sogar als „Negation aller Anthropologie“, da letztere bei Kants „Denkungsart“ unmöglich sei.² Insbesondere kritisierte er den „Gegensatz zwischen physiologischer und pragmatischer Anthropologie“, weil seiner Ansicht nach Anthropologie die Vereinigung beider Seiten sein solle und sinnliche und intelligible Welt untrennbar seien.³ Ganz deutlich kommt hier bereits Schleiermachers breites und ganzheitliches Verständnis der Disziplin zum Ausdruck. Die Skepsis gegenüber der Anthropologie Kantischer Prägung scheint Schleiermacher in eine Vorsicht bezüglich ihrer prinzipiellen Bestimmbarkeit auszuweiten. Seine Aussagen zum Charakter der bzw. einer Anthropologie können nur mosaiksteinartig aus verschiedenen Vorlesungstexten zusammengesetzt werden. Interessanterweise finden sie sich zudem meist im Kontext der Abgrenzung gegenüber anderen Bereichen des Wissens, bestenfalls der Verhältnisbestimmung. Bezeichnete er 1813 in der Sittenlehre (mit dem Ziel der Gegenstandsbestimmung der Ethik) die „Anthropologie als empirische Beschreibung der menschlichen Natur“⁴, ist in einer bislang unveröffentlichten Ethik-Nachschrift aus dem Jahr 1827 zu lesen, die Anthropologie sei „die Analyse des Allen zum Grunde Liegenden von dem Seyn der Vernunft in der Natur“ bzw. „der ursprüngliche Ort der Vernunft in der Gesammtheit der menschlichen Natur“⁵. Der Gegenstand der Anthropologie umgreift demzufolge das Wirken der Vernunft in der Natur auf empirischer Basis. In der Ästhetikvorlesung des Jahrgangs 1825 führte Schleiermacher – auf der Suche nach der für die Kunstproduktion als komplexe menschliche Tätigkeit relevanten Dependenzdisziplin – neben der

sellschaft in Münster, hg. v. Arnulf von Scheliha / Jörg Dierken, Berlin / Boston: De Gruyter 2017, 245 – 256; Andreas Arndt, Schleiermachers Philosophie, Hamburg: Meiner 2021 (besonders 257– 299); Dorothea Meier: Schleiermachers Psychologie. Eine Phänomenologie der Seele, Baden Baden: Ergon 2019.  Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) I/2, Schriften aus der Berliner Zeit 1796 – 1799, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter 1984, 365 – 369, hier 365 – 366.  KGA I/2 (Anm. 2), 366: „[…] alle Willkühr im Menschen ist Natur, und [..] alle Natur im Menschen ist Willkühr; aber Anthropologie soll eben die Vereinigung beider seyn, und kann nicht anders als durch sie existieren; physiologische und pragmatische ist Eins und dasselbe, nur in verschiedener Richtung.“  Friedrich Schleiermacher, Sämmtliche Werke (SW) III/5, Entwurf eines Systems der Sittenlehre, hg. v. Alexander Schweizer, Berlin: Reimer 1835.  Zit. nach Arndt 2021 (Anm. 1), 266 – 267.

Einführung

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Ethik die „Psychologie oder Anthropologie, Kenntniß der menschlichen Natur in ihren verschiednen Verrichtungen“⁶ ins Feld. Abgesehen davon, dass Anthropologie und Psychologie hier als zwei mögliche Bezeichnungen desselben Wissensgebietes gelesen werden können, wird eine mögliche Begründung der Ästhetik aus diesem zurückgewiesen aufgrund der defizitären Form, in der die Psychologie zum Zeitpunkt der Überlegung betrieben wurde: als (vorwiegend empirisch arbeitende) Vermögensseelenlehre⁷. Diese Passage erhellt in Bezug auf die Wesensbestimmung der Anthropologie somit einerseits ein – zumindest zeitweiliges – Ineinssetzen von Anthropologie und Psychologie und andererseits den unbefriedigenden Zustand dieser Disziplin. Ebenfalls im Zusammenhang der Abspaltung, „Begrenzung“ und „Theilung“⁸ von der Anthropologie lassen sich die meisten Aussagen über ihren Charakter zerstreut gerade in den vier Vorlesungen über die Psychologie auffinden. Unter der Voraussetzung, dass Schleiermacher meinte, Anthropologie „überhaupt oder physische und psychische getrennt“ dürfe „nicht als eine Wissenschaft“ angesehen werden⁹, scheint es ihm hier darum zu gehen, demgegenüber die Wissenschaftlichkeit der Psychologie als Disziplin zu legitimieren, deren systematischen Ort im Wissen zu eruieren und einen Standpunkt in der zeitgenössischen Debatte über Empirismus und Rationalismus zu suchen. Die Ratlosigkeit, die sich bei der Lektüre in Anbetracht des widersprüchlichen Befundes einstellt, einerseits eine klare Teilung zwischen Anthropologie und Psychologie ziehen zu wollen, andererseits eine in physisch und psychisch getrennte Anthropologie nicht zuzulassen, widerspiegelt das Ringen Schleiermachers um Klarheit bezüglich der Anthropologie-Auffassung, die sich letztlich jedoch verweigert. Zunächst trennt er die Psychologie von der Anthropologie, um das rein empirische Gebiet zu verlassen und „das geistige Princip“ zu betrachten: „Die Psychologie ist also auf der einen Seite ein Bruch (nicht ein organischer Theil) der Anthropologie“¹⁰. Eine vorangestellte Notiz desselben Heftes lautet: „Die Psychologie ist auf der einen Seite nur Bruch (nämlich Theil der Anthropologie)“¹¹. Der Widerspruch (von „nicht“ und „näm-

 Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/14, Vorlesungen über die Ästhetik, hg. v. Holden Kelm, Berlin / Boston: De Gruyter 2021, 301.  KGA II/14 (Anm. 6), 301: „Die Psychologie ist bisher größtentheils so behandelt daß die einzelnen menschlichen Thätigkeiten mehr als ein Aggregat auftreten“.  Vgl. z. B. Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/13, Vorlesungen über die Psychologie, hg. v. Dorothea Meier unter Mitwirkung v. Jens Beljan, Berlin / Boston: De Gruyter 2018, 138.  SW III/5 (Anm. 4), 50.  KGA II/13 (Anm. 8), 16.  KGA II/13 (Anm. 8), 7.

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lich“) ist ein scheinbarer, insofern – und dies liegt nahe – „Bruch“ verstanden wird im Sinne des frühromantischen Fragments.¹² Nicht von losgelösten Scherben ist die Rede, sondern von einem großen Ganzen, das in sich verbunden ist, aber nur in seinen Teilen erfahr- und erkennbar. Auch inhaltlich hat die insofern romantisch geprägte Psychologie Schleiermachers es mit weit mehr zu tun als mit Rationalität, die zugänglich wäre. Sie schließt ausdrücklich die Einbildungskraft ein und macht sie stark, indem sie das Phantastische, den Aberglauben, den Traum, die Phantasie, hypnotische Zustände und weitere irrationale, aber erlebbare Phänomene – etwa Zustände des Wahnsinns, die ja nicht mit Vernunft erklärbar wären – anerkennt und untersucht. Ganzheitlichkeit, Totalitätsbezug und Abweichungen sind menschlich, Gegenstand der Seelenlehre und deren Prinzip. Korrespondierend damit geht die Seelenlehre methodisch von der Erfahrung aus und schreitet auf dem Weg zur höheren Erkenntnis fort, indem sie „auf den sich dazu eignenden Punkten die Verbindung mit speculativen Bliken versuchen“¹³ möchte. Darum ist es nicht verwunderlich, dass im Sommer 1818 (allerdings nur hier) die Psychologie – einhellig in allen Textzeugen – als Fortsetzung der oben genannten Zitate auf der anderen Seite als „Glied in der ganzen Reihe der Pneumatologie“¹⁴ bzw. – in der dem Kolleg vorangestellten Notiz – auch als „Unendliches (nämlich Theorie der Pflanzen Thiere Menschen Erde und Weltseelen[)]“¹⁵charakterisiert wird und damit eigentlich nicht (empirisch arbeitende) Anthropologie sein kann. Nun setzt Schleiermacher die Einigkeit von Geist und Materie, von Idealem und Realem, von Seele und Leib in jedem Moment voraus, so wie er auch Kants Trennung von physiologisch und pragmatisch zurückweist. Wieso trennt er – nicht ohne Verwicklungen – Psychologie von Anthropologie und trägt diese nicht in Gänze vor, zumal die Seelenlehre „Erstlich zusamen mit der Anthropologie“¹⁶ ist? „Wollten wir uns einen Augenblick die Anthropologie statt der Psychologie zu unserm Gegenstand machen, so würden wir uns weiter verbreiten müssen. Dies wäre offenbar ein Theil der Naturwissenschaften. Wir hätten es dabei mit den

 KGA II/13 (Anm. 8), 211: Die zuverlässige Hamburger Nachschrift teilt den Sachverhalt so mit: „Aber indem wir eine Psychologie wollen, wollen wir ein Aggregat von einzelnen Brüchen aus denjenigen Kenntnissen, welche die Anthropologie bilden. Das Psychische wollen wir uns bloß heraussuchen aus der Anthropologie, das darum nichts ist als ein Bruch derselben, denn ein Theil derselben ist es nicht.“  KGA II/13 (Anm. 8), 16.  KGA II/13 (Anm. 8), 16.  KGA II/13 (Anm. 8), 7.  KGA II/13 (Anm.8), 15.

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lebendigen Kräften zu thun.“¹⁷ Ein Grund besteht also darin, dass Schleiermacher die physischen bzw. physikalisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen nicht einbeziehen möchte. Ein weiterer Aspekt erhellt sich aus einer anderen Stelle: „Die Psychologie bleibt allein auf dem menschlichen Gebiete, ohne eine Fortsetzung nach unten hin zu haben, wie die Physiologie.“¹⁸ Ein Grund für die Abgrenzung der Psychologie von Anthropologie sei also, dass diese auch alle Vorgänge der Tiere und der Pflanzen bearbeite, während die Seelenlehre auf dem menschlichen Terrain verbliebe, weil die Beseelung der Vegetation nicht nachweisbar sei. Diese Erklärung trägt für den theoretischen Ausschluss der Physiologie aus der Psychologie trotz der immerwährenden „Identität von Seele und Leib“¹⁹. Aber Anthropologie sollte doch Menschenkunde sein und eben das ganze Menschliche untersuchen – die Argumentation legt jedoch nahe, Anthropologie sei für Schleiermacher Physiologie, wie dies übrigens auch aus weiteren Textstellen durchaus lesbar ist: „Auch das lezte der Naturkunde wäre Anthropologie nicht Psychologie“²⁰ bzw. wir müssten „die ganze Anthropologie aufnehmen [..] aus dem Standpunkt des Geistes betrachtet und umgekehrt die ganze Psychologie aus dem Gesichtspunkte des Leibes betrachtet“²¹. Trotz aller Unsicherheit steht fest: „Die Seele ist uns nur mit dem Leibe gegeben. […] Es ist nicht das rechte Anthropologie zu theilen in Psychologie und Physiologie, sondern Anthropologie muß das geistige und körperliche in jedem Moment zusammenfassen.“²² Schleiermacher scheidet in den Vorlesungen die Psychologie von der Anthropologie („nicht in Bezug auf den Inhalt sondern nur auf die Behandlung“²³), „um das geistige Princip, welches durch das ganze Leben hindurch geht auf einer bestimten Stufe, der einzigen die uns wirklich gegeben ist anzuschauen und davon auf das allgemeine auszugehen“²⁴. „Der Grund einer Theilung ist also das Interesse an dem rein Geistigen als dem höchsten Menschlichen.“²⁵ Das Geistige nun zeigt sich in der menschlichen Seele, in den unendlich vielen eigentümlichen Beschaffenheiten der Individuen in Verbindung mit dem Organischen. Im Menschen bestehen Physis und Psyche zusammen. Seele kann nur konkret in ihrer lebendigen, körperlich gebundenen Erscheinung

        

KGA II/13 (Anm. 8), 629. KGA II/13 (Anm. 8), 630. KGA II/13 (Anm. 8), 433. KGA II/13 (Anm. 8), 16. KGA II/13 (Anm. 8), 635. KGA II/13 (Anm. 8), 16. KGA II/13 (Anm. 8), 138. KGA II/13 (Anm. 8), 16. KGA II/13 (Anm. 8), 635.

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erfasst werden, denn ohne diese „wäre sie [..] nicht mehr Seele sondern Geist“²⁶ und damit nicht erklärter Gegenstand der Psychologie.²⁷ Nicht Geist an sich, aber menschlich erscheinender und damit organisch fundierter Geist in Form von Seele macht den Menschen aus.²⁸ Wird nun aber die Seele ausdrücklich in Verbindung mit dem Leib untersucht, so muss die Seelenlehre „alle organischen Facta aufnehme[n] und also doch wieder die ganze Anthropologie hineinziehe[n]“²⁹. Wie geht all das zusammen? Da Schleiermacher keine Naturphilosophie bearbeitet hat, zieht er sich auf den Bereich der menschlichen Psyche zurück. Das direkte Gegenstück zur Psychologie, die die in leiblicher Organisation erscheinende menschliche Seele untersucht, wäre Physiologie als Wissenschaft der geistig gesteuerten organischen Funktionen. Da jedes menschliche Wesen eine spezifische Version der menschlichen Natur als Verbindung des Materiellen mit dem Spirituellen ist, soll die Seelenlehre diejenige Disziplin sein, die sich dem geistigen, mithin menschlichen, Prinzip nähert, das notwendig damit verbundene Organische erklärtermaßen beiseitelassend. Im Laufe der Vorlesungen bindet Schleiermacher das Psychische aber immer wieder an das Physische zurück. Wegen dieser Untrennbarkeit nimmt die Psychologie den Platz ein, den eine Anthropologie beanspruchen könnte³⁰, weil das geistige Prinzip nicht ohne materielle Basis diskutiert werden kann und gewissermaßen den ganzen Menschen anschaut. Schleiermacher weist Anthropologie argumentativ eher als Physiologie aus, trägt aber mit seiner philosophischen Seelenlehre eine ganzheitliche anthropologische Wissenschaft vor. Er kann sie aber nicht Anthropologie nennen, weil eine solche nach dem Kenntnisstand der Zeit auf dem empirischen und naturwissenschaftlichen Gebiet verbleiben müsste, während er auf die spekulativen Blicke zuschreitet und auch das Ganze der menschlichen Existenz im Prozess der Einigung von Vernunft und Natur involviert. In der „Oscillation“ des

 KGA II/13 (Anm. 8), 631.  KGA II/13 (Anm. 8), 635: „Wir müssen [uns] bei allen Thätigkeiten welche in unserer Betrachtung vorkommen durchaus innerhalb der Identität von Seele und Leib in dem Dasein des Menschen halten. Die Einheit läßt sich darstellen unter der Form einer 2fachen Reihe von Thätigkeiten von solchen, wobei das Geistige das minimum und das Leibliche das maximum und umgekehrt. Nur wo sich der Puls des Geistes findet, haben wir etwas außer unserer Betrachtung Liegendes. In dem bisher Gesagten liegt ein Bestreben in dem Anthropologischen noch Seele zu finden.“  KGA II/13 (Anm. 8), 459: „Der Geist ist immer als Seele gegeben, d. h. in der Einheit mit dem Realen, die Materie immer als Leib, d. h. zusammen mit einem Idealen.“  KGA II/13 (Anm. 8), 138.  KGA II/13 (Anm. 8), 632: „Das Ursprüngliche, was hier aufgegeben ist, ist ursprünglich Anthropologie, nicht als ob sie aus Physiologie und Psychologie bestände, sondern ohne diese Theilung.“

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„Gegensatz[es] des Idealen und Realen“ ist die „menschliche Natur“ für Schleiermacher, „die Totalität des geistigen Lebens der Erde“.³¹ Der Mensch ist die höchste Spitze der Beseelung der Erde. Da tritt der Geist soweit heraus, als es einem Weltkörper möglich ist, und in allem zusammen, was daraus entsteht, ist das Selbstbewußtsein der Erde.Wir müssen nun sagen, daß in der Idee der Erde selbst, so als ein Begeistetes aufgefaßt, schon alle jene Typen, unter welchen die menschliche Seele zum Vorschein kommt, prädeterminirt sind. Und so können wir uns mit dem Gedanken befreunden, daß diesen ursprünglichen Typen der Seele die ursprünglichen Typen des organischen Leibes vollkommen entsprechen, ohne daß wir die Seele als abhängig vom Leibe setzen, vielmehr von unserer [Ansicht] aus davon ausgehend, daß die Seele erst den Leib bildet.³²

Schleiermacher verzichtet also auf eine genauere Bestimmung der Anthropologie, während die Untersuchung des geistigen Prinzips im Menschen als der höchsten Beseelung der Erde der Vorrang eingeräumt wird. Das Entscheidende der menschlichen Natur besteht für ihn im Bewusstsein, und dieses kann er als Psychologie untersuchen, nicht als Anthropologie. Der Mensch kann nicht ohne das Geistige, wie es in der Seele erscheint, angeschaut werden, da bereits der Naturbildungsprozess immer schon durchdrungen ist mit Vernunft und Bewusstsein. Psychologie als die Wissenschaft von dem, was den Menschen wirklich ausmacht, das Geistige, nimmt die Stelle der Anthropologie ein.Von hier aus ist es nicht mehr weit zu den Annahmen von Andreas Arndt und Michael Winkler, die eine große Nähe Schleiermachers zum Denken Hegels erkennen.³³ Mag die hier entwickelte These der anthropologischen Psychologie bei Schleiermacher auf unsicheren und ausweichenden Aussagen der entsprechenden Textzeugen beruhen, so lässt sie sich noch weiterdenken: Schleiermachers Ringen um eine Wesensbestimmung der Anthropologie stellt einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Herausbildung und Entwicklung der Anthropologie als vielseitig betriebene Disziplin dar. Skepsis, Offenheit, Ungewissheit sowie interdisziplinare Zusammenhänge bilden den Boden eines modernen Wissenschaftsverständnisses. Der Blick auf eine wesentlich vom Menschenbild abhängige Dimension menschlichen Handelns kann dies zeigen: Schleiermacher fragt in den Vorlesungen über die Erziehungslehre, ob und inwiefern sich die erzieherische Praxis auf die Anthropologie als Voraussetzungswissenschaft beziehen kann. Nicht nur die unbestimmte Vielfalt der organischen und psychischen Funktionen für sich genommen, sondern auch deren vielfältig modifizierten Zu-

 KGA II/13 (Anm. 8), 459.  KGA II/13 (Anm. 8), 459.  Arndt 2021 (Anm. 1), 268; Winkler in diesem Band 106 – 107, 114.

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sammenhänge machen jeden Menschen zu einer eigentümlichen Erscheinung der menschlichen Natur, „und wir können die Aufgabe diese Differenz zu finden niemals anders stellen als eine unendliche“³⁴. Darum spricht Schleiermacher auch von der „Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzungen“³⁵. Mit Blick auf das pädagogische Handeln ist es unmöglich zu wissen, welche Dispositionen ein neugeborenes Kind mit sich bringt. Darüber hinaus wäre es unethisch, anthropologische Gegebenheiten der Heranwachsenden vorauszusetzen, bevor sie sich zeigten und also etwas aus ihnen machen zu wollen, was die Erziehenden möchten, wo sich die zu Erziehenden in ihrer Selbstständigkeit und Freiheit selbst entfalten. Schließlich ist es irrelevant, anthropologische Grundeinstellungen zu kennen, weil das pädagogische Handeln in jeder Situation neu beurteilt und zugunsten der bestmöglichen Entwicklung der Jüngeren entschieden werden muss. „Pädagogische Einwirkung“ hat die Aufgabe, „die Selbstthätigkeit hervorzulocken und wenn sie da ist zu leiten. Das erste bezöge sich auf die Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzung und gehört mit zu dem wesentlichen der Erziehung erregend zu wirken was in der menschlichen Natur ist dann aber auch was in die Erscheinung tritt leitend zu behandeln“.³⁶ Als anthropologisch gesichert kann nur gelten, dass der Mensch ein lebendiges, bewusstes, sich entwickelndes Wesen ist, das sich in der Oszillation dynamischer und wechselseitiger Selbst-Welt-Beziehungen als ein Wesen bildet, das sich selbst als Ich setzt und in Gemeinschaft mit anderen Menschen und seiner Umgebung kulturbildend wirkt. Auf die Suche nach verschiedenen anthropologischen Aspekten bei Schleiermacher begeben sich die versammelten Beitragenden – in alphabetischer Reihenfolge – und spannen einen großen Bogen von im weitesten Sinne kommunikativen, religiösen, pädagogischen, psychischen, sinnsuchenden und bildungstheoretischen Dimensionen der menschlichen Entwicklung: Majk Feldmeier unternimmt in seinem Beitrag „Die Endlichkeit des Menschen im Gespräch. Divergenzen in Anthropologie und sittlicher Praxis bei Schleiermacher und Jacobi“ eine vergleichende Reise zu den anthropologischen Auffassungen von Schleiermacher und Jacobi, ohne bei dem einen noch bei dem anderen auf eigens als Anthropologie ausgewiesene Schriften zurückgreifen zu können. Dennoch verortet er beide – durch ihre Untersuchungen der Individualität der Menschen – in den  KGA II/13 (Anm. 8), 343.  Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/12, Vorlesungen über die Pädagogik und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht, hg. v. Jens Beljan / Christiane Ehrhardt / Dorothea Meier / Wolfgang Virmond / Michael Winkler, Berlin / Boston: De Gruyter 2017.  KGA II/12 (Anm. 35), 555.

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Kontext der anthropologischen Wende im 19. Jahrhundert. Trotz des gemeinsamen Ausgangspunktes der anthropologischen Dimension der im Menschen angelegten Verfasstheit, Allgemein- und Einzelwesen zu sein, benennt Feldmeier systematische Unterschiede, die sich an der Frage nach Möglichkeiten der Realisierung der eigenen Freiheit der*des Einzelnen entfalten. Für Schleiermacher wird diese am Idealmodell der freien Geselligkeit und der theoretischen Annäherung an die ideale Kommunikationsgemeinschaft nachvollzogen, während sie mit Jacobi in einem spezifischen Modell der Freundschaft dargelegt wird. Feldmeier zeigt, dass es Jacobi letztlich um die literarische Darstellung der realen Gesprächsgemeinschaft fehlbarer und krisenanfälliger Personen geht.Wilhelm Gräb weist mit dem Beitrag „Menschsein und Religion. Schleiermachers Verständnis von der anthropologischen Allgemeinheit und kulturellen Situiertheit der Religion“ zunächst darauf hin, dass Schleiermacher die religiöse Anlage als eine innerliche, zugleich aber kulturell und historisch differenzierte anthropologische Gegebenheit der Menschen annimmt und diese in den theologischen und philosophischen Disziplinen je eigen bestimmt. So gelangt er zu einer Annahme anthropologischer Allgemeinheit der Religion bei Schleiermacher, die allerdings den Menschen nicht als von Natur aus religiös beschreibt, sondern Religion einerseits als subjektiv und transzendent im Gefühl verortet und andererseits als plurales, kommunikatives und symbolisch vermitteltes Geschehen erlebbar macht. Gräb bezieht die transzendentalphilosophische Begründung der anthropologischen Allgemeinheit der Religion auf die theologische Reflexion ihrer kommunikativen Praxis und spürt die Funktion der im Gefühl verorteten Religion für das Selbst-Welt-Verhältnis der Menschen auf. Darüber hinaus fragt er nach der Bedeutung der anthropologischen Verortung der Religion für die kulturelle Kommunikationspraxis der Religion, um schließlich eine interkulturelle Gesprächsfähigkeit gelebter Religion aufzuzeigen. Mari Mielityinen-Pachmann diskutiert in ihrem Beitrag „Geschlechterrollen in der Erziehung – Anthropologie der Geschlechter in Schleiermachers Pädagogik und Psychologie“ Schleiermachers Aussagen zu Unterschieden der Geschlechter und fragt, ob und inwiefern diese für aktuelle Debatten gewinnbringend sein können. Zunächst trägt sie zusammen, dass Schleiermacher in den Vorlesungen über die Seelenlehre psychische Differenzen zwischen Männern und Frauen annimmt, ohne abschließend klären zu können, ob diese angeboren seien oder durch die vorherrschenden sozialen Strukturen der Gesellschaft definiert und auch determiniert würden. Die Hinzuziehung der Vorlesungen über die Pädagogik zeigt, wie durch Erziehung unterschiedliche Geschlechterrollen provoziert und tradiert werden. Mithilfe des theoretischen Ansatzes von Eidos, Topos und Telos versucht die Autorin, nach dem Was, dem Wie und dem Wozu der Geschlechtererziehung zu fragen und bezieht sowohl die verschiedenen Perioden der Erziehung als auch die wesentlichen pädagogischen

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Dorothea Meier

Handlungsformen des Behütens, Gegenwirkens und Unterstützens ein. Sie kommt zu dem Schluss, dass Schleiermacher letztlich den kommenden Generationen offenlässt, wie diese mit den Geschlechterdifferenzen umgehen werden. In der vorausgesetzten Gleichheit aller Menschen und der gleichzeitigen Betonung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern sieht Mielityinen-Pachmann die Besonderheiten des Weiblichen und Männlichen gleichermaßen gewürdigt. Mit „Der Mensch als sinnsuchendes Wesen. Schleiermachers Anthropologie und Cassirers Essay on Man in aktuellen interdisziplinären Diskursen“ wählt Cornelia Richter eine interdisziplinäre Perspektive auf die Anthropologie und führt Schleiermacher mit Cassirer ins Gespräch über die Menschen als sinnsuchende Wesen. Sie stellt dar, dass und wie der Sinnbegriff bei Schleiermacher an Religions- und Subjektivitätstheorie gebunden ist, Cassirer ihn in kulturtheoretischer Phänomenologie bearbeitet. Richter geht davon aus, dass die Sinndimension hier wie dort maßgeblich anthropologisch und durchaus interdisziplinär gefasst ist. Methodisch reziprok startet sie bei der Darlegung von Schleiermachers Anthropologie bei der Anlage des Gesamtwerkes und den verstreut sich findenden einschlägigen Ideen und stößt zu wesentlichen Kerngedanken vor, während sie sich Cassirer von innen nach außengehend annähert. Die sinngebende Komponente liegt bei Schleiermacher im gemeinschaftlichen Austausch über das, was die Menschen bewegt, so dass individuelle Bestimmungen allgemein werden. Bei Cassirer findet sich die Einsicht, dass die Menschen alle Details ihrer Lebenszusammenhänge mit Sinn zu versehen bemüht sind, was Ausdruck in der symbolischen Form als der Verbindung von sinnlichem Zeichen und Bedeutung findet. Richter führt aus, dass sich in Cassirers Position eine Tragik der Anthropologie verbirgt, um abschließend zu diskutieren, wie diese für das aktuelle interdisziplinäre Gespräch über die Menschen als sinnsuchende Wesen anschluss- und tragfähig sein könnte. Michael Winkler diskutiert in seinem Beitrag „Schleiermachers Pädagogik und die Kontingenz der Anthropologie“ die Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzungen, die Schleiermacher in den Vorlesungen über die Pädagogik mehrfach ausdrücklich statuiert, nicht nur als Provokation für die kritisch Rezipierenden, sondern auch als notwendig zu setzende Offenheit pädagogischen Handelns und wissenschaftlichen Nachdenkens über Erziehung. Gewissermaßen in einer Fortsetzung Schleiermacherscher Überlegungen geht Winkler den Fragen nach, ob, warum und in welchen Formen anthropologische Konzepte in die Pädagogik hineinspielen und schlägt fünf Ebenen vor, auf denen Anthropologie den pädagogischen Diskurs tangieren und die auch Schleiermacher bereits bewusst waren. Diesen Horizont nutzend stellt Winkler dar, in welcher Weise die Aussagen über die menschliche Natur, die für Schleiermacher eine wesentliche Leitfigur zur Entwicklung seiner Pädagogik bildete, in den drei Vorlesungen zur Erziehungskunst variieren. Aus einer an-

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thropologischen Perspektive auf die Erziehung führt Winkler aus, wie Schleiermacher sich in einem mehrfachen Paradigmenwechsel bewegte, der in seinem eigenen Denkkosmos ebenso wurzelte wie in den kulturellen und gesellschaftlichen Umbruchsituationen seiner Zeit. Eine vorsichtige Zurücknahme des Anthropologen Schleiermacher erfolgt Winkler zufolge zugunsten eines „individualisierenden Soziologen“. Winkler betont Schleiermachers Blick auf die Kontingenz der Zusammenhänge menschlicher Entwicklung, verweist auf die Offenheit und Notwendigkeit individueller Bildungsprozesse im Sinne oszillierender Selbst-Welt-Verhältnisse, die die Erziehung ethisch verantworten kann und muss, die sich aber keiner anthropologischen Gewissheiten bedienen können.

2 Zur Ästhetik Holden Kelm Ausgehend von seiner Bestimmung der Kunst in seiner Philosophischen Ethik entwickelt Schleiermacher die Ästhetik nach der Psychologie (1818) als die letzte seiner philosophischen Disziplinen und hält an der Berliner Universität Vorlesungen über sie in den Semestern 1819, 1825 und 1832/33.³⁷ Schleiermachers Ästhetikvorlesungen fallen damit in eine Zeit, als sich die Ästhetik erst sukzessive als philosophische und akademische Disziplin etablierte und ihre systematischen Grundlinien verbreitet diskutiert wurden. Aufgrund der Konzentration auf das schöpferische Moment des künstlerischen Prozesses, dessen Verbindung zum Traum und zur Wirkungskraft der Phantasie, hat Wilhelm Dilthey Schleiermacher einst als den „Ästhetiker der Romantik“³⁸ bezeichnet. Dilthey stellt Schleiermachers Ästhetik dabei zugleich in ein Nahverhältnis zu den systematischen Kunstphilosophien eines Schelling, Solger und Hegel, womit er auf ein durchaus spannungsvolles und facettenreiches Diskursgeflecht verweist, in dem sowohl kritische als auch affirmative Positionen gegenüber der (früh)romantischen Ästhetik eingenommen werden. Dabei ist es offensichtlich, dass Schleiermacher mit seinen Ästhetikvorlesungen in den Diskurs der klassischen deutschen Ästhetik eingreift, indem er in Auseinandersetzung mit Kants Kritik der Urteilskraft an einzelne frühromantische Motive anknüpft und etwa Schellings Philosophie der

 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/14, Vorlesungen über die Ästhetik, unter Verwendung vorbereitender Materialien von Wolfgang Virmond hg. v. Holden Kelm, Berlin / Boston: De Gruyter 2021, XXX (Historische Einführung).  Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, Bd. II/1, hg. v. Martin Redeker, Berlin: De Gruyter 1966, 443.

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bildenden Künste in ihrem Verhältnis zur Natur sowie spekulative Konzepte der Einheit der Kunst diskutiert und problematisiert.³⁹ Das systematische Anliegen, die Ästhetik als eine philosophische Disziplin zu konstituieren, verfolgt Schleiermacher ausdrücklich, indem er die allgemeine Bedeutung des Wortes „Kunst“ in Hinblick auf die einzelnen Künste reflektiert und dabei versucht, den Begriff der Kunst einer wissenschaftlichen Begründung zuzuführen.⁴⁰ Ausgehend von der Überwindung des tradierten Dualismus zwischen schönen Künsten und schönen Wissenschaften, an der bereits Schleiermachers Hallenser Lehrer und Förderer Johann August Eberhard laborierte, stellten sich damit eine Reihe von Fragen, wie die nach dem Wesen und den Erscheinungsformen der Kunst, nach dem Verhältnis des Kunstschönen zum Naturschönen, nach der Identität und der Differenz der einzelnen Künste oder nach einem Kanon der schönen Künste.⁴¹ Diese Fragen einer Lösung zuzuführen, kann als ein Anspruch von Schleiermachers Ästhetikvorlesungen betrachtet werden, die aufgrund ihres produktionsästhetischen und anthropologischen Lösungsansatzes eine eigenständige Position in der Konstellation der klassischen deutschen Ästhetik einnehmen. Neben seiner Dozententätigkeit an der Berliner Universität war Schleiermacher als Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften häufiger dazu angehalten, kurze Abhandlungen über seine wissenschaftlichen Projekte zu präsentieren und seinem Kollegium zur Diskussion zu stellen. Bereits der Titel seiner drei Akademieabhandlungen „Über den Begriff der Kunst in Bezug auf eine Theorie derselben“ (1831– 33) signalisiert eine Abkehr von denjenigen Theorieansätzen des 18. Jahrhunderts, in denen Kunst primär auf den Begriff des Schönen zurückgeführt wurde.⁴² Wenngleich Schleiermacher die letzte dieser Abhandlungen nur als einen unvollendeten Entwurf hinterlassen konnte, enthalten sie eine mit seinen Ästhetikvorlesungen konvergierende konzeptuelle Linie, die eine Dynamisierung des Kunstbegriffs vollzieht, ausgehend von der „Begeistung“ des Künstlersubjekts, während Kunst „im engeren Sinne“ durch das Gebiet der schönen Künste begrenzt wird und als „Selbstmanifestation des Künstlers“ eine

 Vgl. Gunter Scholtz, „Der Weg zum Kunstsystem des Deutschen Idealismus“, in: Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795 – 1805), hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg: Meiner 1999, 12– 29.  Vgl. Reinhold Schmücker, „Schleiermachers Grundlegung der Kunstphilosophie“, in: Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, hg. v. Dieter Burdorf und Reinold Schmücker, Paderborn u. a.: Schöningh 1998, 241– 264, hier: 241– 242.  Vgl. Johann August Eberhard, Theorie der schönen Künste und Wissenschaften, Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 31790, 6.  Vgl. Friedrich Schleiermacher, „Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Bezug auf die Theorie derselben“ (1– 3), Kritische Gesamtausgabe (KGA), I/11, Akademievorträge, hg. v. Martin Rössler, Berlin / New York: De Gruyter 2002, 725 – 742, 769 – 786, 787– 794.

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eigentümliche Bedeutung erhält.⁴³ Allerdings unterscheiden sich diese Abhandlungen aufgrund ihrer Prägnanz und ihrer konzeptuellen Dichte auch von den Ästhetikvorlesungen, in denen Schleiermacher seine Gedanken ausführlicher, diskurrierender und in einer sich stärker an den Grundriss seiner philosophischen Systematik anlehnenden Terminologie entfaltet, wovon vor allem die überlieferten Vorlesungsnachschriften zeugen. Auch ist Diltheys Aussage noch nicht ausdiskutiert, dass Schleiermacher im Umfeld der Ästhetikentwürfe seiner Zeit „der erste Vertreter derjenigen Theorie [sei], die das Symbolbildende in den Äußerungen der Phantasie für die Ästhetik zur Geltung gebracht hat.“⁴⁴ In diesem Symbolbilden liegt nun nicht nur die produktionsästhetische Dimension, sondern zugleich auch die ethische Relevanz des künstlerischen Schaffens nach Schleiermacher: Obwohl das Gefühl quasi triebhaft zur äußeren Darstellung drängt, um sich mitzuteilen, kann es sich nur auf eine symbolische Weise ausdrücken, weil es als individuelles nicht direkt mitteilbar ist. Und obwohl diese indirekten symbolischen Mitteilungen auf Verständlichkeit abzielen, bleiben sie – ähnlich wie diskursive Ausfertigungen von Gedanken – graduell unverständlich und eröffnen damit einen Deutungsspielraum für den Kreis der Rezipierenden. Künstlerische Ausdrucksweisen können nach Schleiermacher somit als symbolische Formen der sozialen Interaktion gedeutet werden, die sich anders als die diskursive Sprache primär als non-verbale (mimische, gestische, bildliche und poetische) Kommunikation vollzieht und kulturspezifisch entfaltet.⁴⁵ Als Symbolträger können künstlerische Ausdrucksformen damit als soziale und kulturelle Muster der (Selbst‐)Verständigung angesehen werden, in denen zugleich ihre individuellen und kulturellen Entstehungsbedingungen eingeschrieben sind, wenngleich durch die freie Kombinatorik der Phantasie in einer je individuellen Weise. Realisierte Kunstwerke bieten nach Schleiermacher daher eine Reflexionsfläche, die nicht nur das Verstehen ihres Gehalts ermöglicht, sondern auch für das individuelle Selbst- und Weltverständnis der Rezipierenden eine einschlägige Rolle spielen kann, womit Kunst – trotz ihrer relativen Autonomie gegenüber der Sphäre des praktischen Handels – auch eine gesellschaftliche Rolle spielt. In der ethischen Fundierung

 KGA I/11 (Anm. 42), 790. Vgl. Thomas Lehnerer, „Selbstmanifestation ist Kunst. Überlegungen zu den systematischen Grundlagen der Kunsttheorie Schleiermachers“, in: Internationaler Schleiermacher Kongress Berlin 1984, hg. v. Kurt-Victor Selge, Berlin / New York: De Gruyter 1985, 409 – 423.  Dilthey 1966 (Anm. 38), 444.  Hierin können durchaus Anklänge an Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen gesehen werden; vgl. dazu Cornelia Richter, Die Religion in der Sprache der Kultur. Schleiermacher und Cassirer – Kulturphilosophische Symmetrien und Divergenzen, Tübingen: Mohr Siebeck 2004.

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der Ästhetik ist somit eine die produktionsästhetische Ausrichtung ergänzende Rezeptionsästhetik angelegt, die von der Aufnahme, Aneignung und Weiterbildung der symbolischen Ausdrucksformen ausgeht und damit als Ausgangspunkt einer (noch auszuführenden) Kunsthermeneutik nach Schleiermacher dienen könnte. Die in diesem Band versammelten Beiträge konzentrieren sich auf Schleiermachers Ausführungen zum Kunstbegriff im Spannungsfeld von Vernunft und Sinnlichkeit, auf seine Auffassung der künstlerischen Praxis und auf die allgemeine Bedeutung der Ästhetik in philosophischer und theologischer Hinsicht, während von den einzelnen Künsten vor allem die Musik eine besondere Berücksichtigung findet. Im Vordergrund stehen dabei die ästhetischen Entwürfe Schleiermachers, die im Rahmen seiner Berliner Dozententätigkeit und seiner Tätigkeit an der Akademie entstanden sind. Der Beitrag „Kunst als die Praxis ihrer geistigen Hervorbringung. Zur Systematik und Genese von Schleiermachers Vorlesungen über die Ästhetik“ von Holden Kelm untersucht die Vorgeschichte, Genese und die systematische Stellung von Schleiermachers Ästhetikvorlesungen mit besonderer Rücksicht auf seine philosophische Ethik. Dabei werden die Ambivalenz und Aktualität der ethischen Fundierung der künstlerischen Praxis in Hinblick auf die Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Künstlers dargestellt und diskutiert. Der auf die von Schleiermacher ausgehenden Impulse für die Kunsttheorie des 20. Jahrhunderts bezogene Beitrag von Bernadette CollenbergPlotnikov „Besinnung und Ausdruck. Zum Begriff der Kunst bei Schleiermacher und Aby Warburg“ untersucht das bislang kaum erforschte Verhältnis von Schleiermachers und Warburgs Kunstverständnis. Aufgrund des ausführlichen Bezugs des Warburg-Schülers Edgar Wind auf Schleiermachers erste Akademierede „Über den Begriff der Kunst“ differenziert und problematisiert CollenbergPlotnikov den Kunstbegriff Schleiermachers in Hinblick auf den „visual turn“ und findet dabei zuletzt einen Übergangspunkt zu Hegels Ästhetik. Der Beitrag „Das Urbild als Vermittlung“ von Carolyn Iselt untersucht Schleiermachers Kunstbegriff aufgrund einer kritischen Darstellung seines Konzepts der Urbildung näher. Obwohl die Urbildung das zentrale Moment der Kunsttätigkeit nach Schleiermacher ausmacht, ist es von ihm selbst weder eingehend expliziert noch kontextualisiert worden. Neben der produktionsästhetischen Perspektive beleuchtet Iselt auch die rezeptionsästhetischen Bezüge von Schleiermachers Kunstauffassung aufgrund seiner Ausführungen über die Kunstwelt. Sind die ersten drei Beiträge auf Schleiermachers philosophische Ästhetik bezogen, so unternimmt Simon Gerber in seinem Beitrag „Ästhetik und Kultus – für die Textarbeit ausgewählte Passagen aus der Praktischen Theologie“ einen Ausflug in die religiöse Kunstlehre, die vor allem den religiösen Stil in der Kunst zum Gegenstand hat und

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dabei wesentlich auf den religiösen Kultus bezogen ist. In den kommentierten Auszügen aus Textzeugen der Kollegien 1812 und 1826 wird ersichtlich, dass nicht nur mimische und gestische Darstellungen, sondern auch die Erscheinungsformen der bildenden und redenden Künste für Schleiermachers theologische Ästhetik von Bedeutung sind. Schließlich stellt Elisabeth Blumrich in ihrem Beitrag „Schleiermacher und die Musik nach Auskunft seiner Tagebücher“ eine revidierte und erweiterte Fassung eines Beitrags von Wolfgang Virmond vor, in dem das breite Spektrum der persönlichen Kontakte Schleiermachers zu Musikschaffenden und zum Musikleben seiner Wahlheimatstadt Berlin detailliert hervortritt. *** Wir danken allen Mitwirkenden und Beitragenden dieses Sammelbandes. Der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft danken wir besonders für die finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung und für die Organisation der Wittenberger Symposien von 2019 und 2020. Dem Verlag Walter de Gruyter sei vielmals für die Aufnahme dieser Publikation in sein Programm gedankt.

I. Anthropologie

Majk Feldmeier

Die Endlichkeit des Menschen im Gespräch Divergenzen in Anthropologie und sittlicher Praxis bei Schleiermacher und Jacobi

Einleitung Im Vergleich mit anderen Denkern ‚um 1800‘, wie etwa Kant oder Hegel, ist es nicht leicht, über ‚Anthropologie bei Schleiermacher‘ zu schreiben. Wie Andreas Arndt bereits vor knapp dreißig Jahren bemerkte, ist die Anthropologie, verstanden als „empirische Beschreibung der menschlichen Natur“, für Schleiermacher nicht nur von grundsätzlich untergeordnetem Rang. Sie sei auch, so Schleiermachers kritisches Verdikt, unter den Zeitgenossen noch längst nicht in den Stand einer Wissenschaft erhoben. Er selbst wiederum verfolge ein solches Projekt im strengen Sinne erst gar nicht: „Sofern unter Anthropologie mehr verstanden werden soll, als die Rede vom Menschen, wie sie schon immer Sache der Philosophie war, nämlich der systematisch grundlegende Rekurs auf ein Wissen von der Natur des Menschen, kann ein solcher Begriff für Schleiermachers Philosophie nicht in Anspruch genommen werden.“¹ Nichtsdestotrotz ist Schleiermachers Denken mit seinem Grundansatz bei der Individualität des Menschen² durchaus in den Kontext einer anthropologischen Wende in der Philosophie des 19. Jahrhunderts einzuordnen, die als eine Gegenbewegung zu den großen Systementwürfen der klassischen deutschen Philosophie, allen voran Fichtes, Schellings und Hegels, „den endlichen Menschen ins Zentrum des philosophischen Denkens“ (zurück) zu rücken beabsichtigte.³ Ähnliches gilt für Jacobi. Auch er hat nicht eigens eine Schrift vorgelegt, die als ‚seine Anthropologie‘ zu verstehen wäre. Gleichwohl ist insbesondere Jacobi nicht nur ein Vorbereiter besagter anthropologischer Wende. Er greift vielmehr direkt in die entscheidenden Debatten zumindest mit Fichte und Schelling ein

 Andreas Arndt, „Friedrich Schleiermacher: Erfahrung und Reflexion.“ In: Philosophische Anthropologie im 19. Jahrhundert, hg. v. Friedhelm Decher / Jochem Hennigfeld, Würzburg: Königshausen und Neumann 1992, 81– 94, hier: 92.  Vgl. dazu ausführlich Andreas Arndt, Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin / Boston: De Gruyter 2013, 3 – 16.  Decher / Hennigfeld 1992 (Anm. 1), 12. https://doi.org/10.1515/9783111025483-002

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sowie er seine kritische Positionierung zu Hegel wenigstens im Ansatz formuliert.⁴ Und all dies geschieht gerade auch bei ihm im Namen der Individualität und Endlichkeit des Menschen. So erkennt mit Søren Kierkegaard dann auch nicht von Ungefähr einer der herausragenden Vertreter derjenigen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dann das endliche Individuum gegen eine jede Systemphilosophie neu akzentuieren, diese bedeutsame Stellung Jacobis und stellt sein eigenes Denken in dessen Tradition: „Ich leugne nicht, daß mich Jacobi des öfteren begeistert hat“, lässt er sein Pseudonym Johannes Climacus bekennen: […] er ist der Protest der Beredsamkeit eines edlen, unverfälschten, liebenswerten, reichbegabten Geistes gegen das systematische Einklemmen des Daseins, das siegreiche Bewußtsein und das begeisterte Kämpfen für die Überzeugung, daß die Existenz längere und tiefere Bedeutung haben muß als die paar Jahre, in denen man sich selbst vergißt über dem Studium des Systems.⁵

Vor diesem Hintergrund einer solchen Gemeinsamkeit im Ausgang von der Individualität des Menschen scheint ein vergleichender Blick auf die in diesem Sinne anthropologischen Überlegungen Schleiermachers und Jacobis allemal lohnend. Mit diesem Punkt möchte ich meinen Beitrag entsprechend auch beginnen (I), um sodann jedoch entscheidenden Unterschieden nachzuspüren, die nicht nur systematisch auszuweisen sind, sondern die beiden Denkern in ihrer wechselseitigen Kenntnisnahme und Anerkennung auch durchaus bewusst gewesen zu sein schienen (II). Diese Unterschiede verweisen in ihrer ursprünglich anthropologischen Dimension einer in der Individualität des Menschen angelegten Strukturbestimmung von Allgemeinheit und Einzelheit sowie von Identität und Differenz auf die spezifischere Frage nach dem Verhältnis dieser Individualität zur Aufgabe der Realisierung der eigenen Freiheit: Schleiermacher zielt ab auf eine ‚Allgemeinheit und Einheit‘, die sich hinsichtlich der Frage nach der Möglichkeit der Realisierung von Freiheit am Idealmodell der ‚freien Geselligkeit‘ orientiert, das als ein Modell der Endlichkeitsreduktion verstanden werden kann (III). Jacobi hingegen wird es letztlich um ein Modell von Freundschaft gehen, in dem die Endlichkeit des Individuums umgekehrt gerade als konstitutives Element anzusehen ist. Während es Schleiermacher um eine theoretische Annäherung an die ideale Gesprächsgemeinschaft ‚freier Geister‘ zu tun ist, geht es Jacobi – dies ist

 Vgl. zur kritischen Positionierung zu Hegel Jacobis Brief an Johann Neeb vom 30. Mai 1817, abgedruckt in: Friedrich Heinrich Jacobi, Friedrich Heinrich Jacobi’s auserlesener Briefwechsel. In zwei Bänden, hg. v. Friedrich Roth, Leipzig: Gerhard Fleischer 1925 – 1927, Nachdruck Bern: Lang 1970, hier: 2. Band, 464– 470.  Søren Kierkegaard [1846], Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. Erster Teil, übers. v. Hans Martin Junghans. Düsseldorf / Köln: Diederichs 1957, 243.

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die Pointe meines Beitrags – um die literarische Darstellung der realen Gesprächsgemeinschaft endlicher, bedingter und damit fehlbarer und krisenanfälliger Personen (IV).

I Drei grundsätzliche Gemeinsamkeiten im Denken Schleiermachers und Jacobis sind zuallererst hervorzuheben. (1) In einem Brief Schleiermachers vom 14.12.1803 an C. G.von Brinckmann ist zu lesen: Wer nun aber die Philosophie und das Leben so strenge trennt wie Fichte thut, was kann an dem großes sein? Ein großer einseitiger Virtuose aber wenig Mensch. […] Mir ist es nemlich immer verdächtig wenn Jemand von einem einzelnen Punkt aus auf sein System gekommen ist. So Fichte offenbar nur aus dialektischem Bedürfniß um ein Wissen zu Stande zu bringen, daher er nun auch nichts hat als Wissen um nichts als das Wissen; seitdem ich dies recht inne ward wußte ich wie es mit ihm stand.⁶

Mit diesem Urteil über Fichte darf sich Schleiermacher mit Jacobi einig wissen. Jacobi kritisiert bereits 1799, und damit vier Jahre vor der hier von Schleiermacher formulierten Kritik, die Wissenschaftslehre Fichtes mit bemerkenswert ähnlichen Worten als ein letztlich inhaltsleeres Unterfangen reiner Selbstbezüglichkeit, geleitet von der „reine[n] Lust am reinen Wißen allein des reinen Wißens“, von der „hohen Liebe des Erkenntnißes – blos des Erkennens; der Einsicht – blos des Einsehens; des Thuns – blos des Thuns.“ Kurzum, so lautet nun Jacobis Verdikt: Fichtes Wissenschaftslehre sei „ein blos logischer Enthusiasmus, das ist: Ein nur sich selbst vorhabendes und betrachtendes Handeln, blos des Handelns und Betrachtens wegen, ohne anderes Subject oder Object; ohne in, aus, für, oder zu.“⁷

 Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) V/7, Briefwechsel 1803 – 1804, hg. v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York: De Gruyter 2005, 158.  Friedrich Heinrich Jacobi, Werke, Gesamtausgabe, Band 2,1, Schriften zum transzendentalen Idealismus, hg. v. Klaus Hammacher / Walter Jaeschke, Hamburg: Meiner 2004, 205. Zu Schleiermachers kritischer Positionierung zu Fichte und zum sogenannten Atheismusstreit, in den Jacobi mit seinem hier zitierten Brief an Fichte maßgeblich eingreift, vgl. Folkart Wittekind, „Die Vision der Gesellschaft und die Bedeutung religiöser Kommunikation. Schleiermachers Kritik am Atheismusstreit als Leitmotiv der ‚Reden‘“, in: 200 Jahre „Reden über die Religion“. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, Halle, 14.–17. März 1999, hg. v. Ulrich Barth / Claus-Dieter Osthövener. Berlin / New York: De Gruyter 2000, 379 – 415.

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(2) Aber nicht nur in der Abgrenzung zu Fichte, sondern auch in der positiven Bestimmung des eignen konträren Ausgangspunktes stehen Schleiermacher und Jacobi einander zumindest auf den ersten Blick sehr nahe. Denn gegen eine solche inhaltsleere Selbstbezüglichkeit einer bloß auf wissenschaftliches Wissen ausgerichteten Philosophie bringt auch Jacobi, gleichwie Schleiermacher in seinem oben zitierten Brief, das Leben, genauer: die Fülle des „lebendige[n] Daseyn[s]“⁸ in Stellung, die Fichtes transzendentalem Idealismus gänzlich unzugänglich bleibe. (3) Zuletzt besteht auch hinsichtlich einer weiteren – zumindest, so sei hier bereits einschränkend formuliert, begrifflichen – Spezifizierung des eigenen Ansatzes Einigkeit zwischen Schleiermacher und Jacobi. Denn was nun näherhin mit dem Stichwort ‚Leben‘ bezeichnet sein soll, hängt bei beiden aufs engste zusammen mit dem Begriff der Individualität. „Das Ausgehn von der Individualität bleibt aber gewiß der höchste Standpunkt“⁹, heißt es bei Schleiermacher programmatisch. Und auch für Jacobi gilt: Das „Daseyn“, das gegen Fichte nicht qua idealistischer Konstruktion aus dem absoluten Ich zu erklären, sondern vielmehr in seiner genuin realen Qualität „zu enthüllen, und zu offenbaren“ ist, ist wesentlich individuelles Dasein; „Individualität“ fungiert ihm mithin, wie er an Jean Paul und in erneuter Wendung gegen Fichte schreibt, als „Fundamentalgefühl“¹⁰ menschlicher Welt-, vor allem aber Selbsterkenntnis, um die sich seine Philosophie letztinstanzlich bemüht.¹¹ Nun haben wir es hierbei nicht mit Gemeinsamkeiten zweier Denkansätze zu tun, die erst nachträglich durch die Forschung herausgestellt werden müssten, da die betroffenen Denker selbst einander in dieser Hinsicht nicht zur Kenntnis ge-

 Jacobi Werke Band 2,1 (Anm. 7), 229; vgl. auch Friedrich Heinrich Jacobi, Werke, Gesamtausgabe, Band 1,1, Schriften zum Spinozastreit, hg. v. Klaus Hammacher / Irmgard-Maria Piske, Hamburg: Meiner 1998, 248.  KGA V/7 (Anm. 6), 158.  Friedrich Heinrich Jacobi, Briefwechsel. Gesamtausgabe, begr. v. Michael Brüggen / Siegfried Sudhof, hg. v. Walter Jaeschke / Birgit Sandkaulen, Stuttgart-Bad-Cannstatt: Frommann Holzboog seit 1981, hier: Band 1,12, 207.  Dass Jacobi mit dem zu enthüllenden und zu offenbarenden Dasein letztinstanzlich auf die praktische Selbsterkenntnis des Menschen und nicht primär auf für sich stehende theoretische Überlegungen zur Ontologie und Epistemologie abzielt, geht aus der zunächst in der ‚Vorrede‘ zum Roman Edurard Allwills Briefsammlung von 1792 formulierten, dann 1819 im ‚Vorbericht‘ zur Werkausgabe der Spinozabriefe als der „ächte[ ] und allgemeine[ ] Schlüssel“ für sein Gesamtwerk wiederholten Absicht hervor, „Menschheit wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das gewissenhafteste vor Augen [zu] stellen“. Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi, Werke, Gesamtausgabe, Band 6,1, Romane I. Eduard Allwill, hg. v. Carmen Götz / Walter Jaeschke, Hamburg: Meiner 2006, 89; vgl. auch Jacobi Werke Band 1,1 (Anm. 8), 348.

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nommen haben. Ganz im Gegenteil. Insbesondere Schleiermacher als dem Jüngeren scheinen diese parallelen Ansätze nicht entgangen zu sein, insofern er, wie er von Brinckmann gegenüber bekennt, Jacobi stets im Blick hat und gerade auch in Bezug auf sein eigenes Denken „begierig“ auf das „Urtheil“ des Älteren wartet¹². Zugleich ahnt Schleiermacher jedoch auch, dass sich hier nicht unerhebliche Unterschiede verbergen, wenn man genauer ins Detail schaut. Und so steht er gerade vor dem Hintergrund des eigenen Individualitätsverständnisses dem Individualitätsverständnis Jacobis gänzlich unverständig gegenüber: „[W]ie versteht er es denn daß der große Punkt in der Philosophie das Principium individuationis ist?“, fragt er von Brinckmann. „Fast muß ich fürchten daß er dies bloß materiell versteht und physisch!“¹³ Materiell und physisch versteht Jacobi Individualität indes gerade nicht – mit dieser Befürchtung geht Schleiermacher ganz wesentlich in die Irre. Darauf komme ich noch zu sprechen. Treffsicher ist jedoch seine Ahnung, dass es in nicht unerheblichem Maße an dem jeweiligen Verständnis dieses Begriffs der Individualität hängt, dass zwischen Schleiermacher und Jacobi eine Differenz auszumachen ist, die beide zeitlebens nicht zu überbrücken in der Lage sind.¹⁴ Worin diese genau besteht, und inwiefern es sich hierbei um eine in bestimmter Hinsicht anthropologische Differenz handelt, gilt es im Folgenden zu klären.

II Wie verhält es sich zunächst mit Schleiermachers eigenem Individualitätsverständnis, das er zum einen gleichwie Jacobi als zentralen Ansatzpunkt seines Denkens hervorhebt, das ihn zum anderen aber zugleich von Jacobi zu entfernen scheint? Schaut man diesbezüglich noch einmal genauer in den Brief an von Brinckmann, so findet sich hier ein entscheidender Hinweis: „Das Ausgehn von der Individualität bleibt aber gewiß der höchste Standpunkt“, heißt es dort wie bereits zitiert. In direktem Anschluss liefert Schleiermacher nun aber auch eine Begründung für diese seine Behauptung, die zu beachten ist: „Das Ausgehn von der Individualität bleibt aber gewiß der höchste Standpunkt, da er zugleich den

 KGA V/7 (Anm. 6), 157.  KGA V/7 (Anm. 6), 157.  Dies bezeugt vor allem der Brief Schleiermachers, der am 30. März 1818, also knapp ein Jahr vor Jacobis Tod an diesen versandt wurde und dem ein persönliches Treffen in München folgte, sowie die im Kontext dieses Briefes überlieferten Äußerungen sowohl Jacobis als auch Schleiermachers.Vgl. dazu ausführlich Martin Cordes, „Der Brief Schleiermachers an Jacobi: Ein Beitrag zu seiner Entstehung und Überlieferung“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 68, 195 – 212.

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der Allgemeinheit und der Identität in sich schließt.“¹⁵. Darum geht es Schleiermacher also zunächst einmal strukturell: um eine Form der Individualität, die als durchaus konkrete und einzelne Individualität, so darf man hier ergänzen, in einem wesentlichen Verhältnis zur Allgemeinheit steht. Bemerkenswert ist vor allem aber die zweite hier formulierte Strukturbestimmung, dass eine solche Individualität sich in ihrem Verhältnis zu dieser Allgemeinheit zugleich auch in einem Verhältnis zur Identität befindet und vor dem Hintergrund dieses zu betonenden Verhältnisses zur Identität, so ist hier nun hinzuzufügen, zugleich über inhärente Momente der Differenz verfügen muss. Mit dieser Strukturbestimmung insbesondere der Identität und ihrer komplementären Bestimmung der Differenz ist man in einem nächsten Schritt auf Schleiermachers nun näherhin anthropologisches Grundverständnis des Menschen verwiesen: Der Mensch gilt ihm in Entsprechung zur Strukturbestimmung der Differenz als ein von Natur aus endliches Wesen, das jedoch „den hinreichenden Grund seiner Entwicklung vom ersten Anfang seines Lebens bis zur Vollendung in sich trägt“¹⁶, und die mithin eine Entwicklung von der Differenz zur Identität, von der Konkretheit und Einzelheit zur Allgemeinheit ist. Dies findet sich nicht erst, wie hier zitiert, in den Vorlesungen zur Pädagogik im Sommer 1826 unter dem Stickwort der Entwicklung formuliert, sondern ist bereits 1799 in der ersten Auflage der Reden über die Religion auf den Punkt gebracht, wenn Schleiermacher in dieser Schrift insbesondere die ursprüngliche Religion des Menschen „gegen Moral und Metaphysik“ als den Horizont der gelingenden Verwirklichung einer solchen ‚vom ersten Anfang des Lebens‘ in ihm angelegten Möglichkeit der eigenen Entwicklung beschreibt: Die Religion, so heißt es dort nämlich, […] will im Menschen nicht weniger als in allen andern Einzelnen und Endlichen das Unendliche sehen, deßen Abdruk, deßen Darstellung. […] Die Religion lebt ihr ganzes Leben […] in der unendlichen Natur des Ganzen, des Einen und Allen; […] die Religion athmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist, jenseit des Spiels seiner besondern Kräfte und seiner Personalität faßt sie den Menschen, und sieht ihn aus dem Gesichtspunkte, wo er daß sein muß was er ist, er wolle oder wolle nicht.¹⁷

 KGA 5/7 (Anm. 6), 158 (meine Hervorhebungen).  Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/12, Vorlesungen über die Pädagogik und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht, hg. v. Jens Beljan / Christiane Ehrhardt / Dorothea Meier / Wolfgang Virmond / Michael Winkler, Berlin / Boston: De Gruyter 2017, 548 (meine Hervorhebung).  Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) I/2, Schriften aus der Berliner Zeit 1796 – 1799, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter 1984, 211– 212.

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Zwei Aspekte sind hier hervorzuheben, mit denen zunächst einmal der rezeptionshistorische Kontext umrissen ist, in dem Schleiermacher seine Überlegungen anstellt: In dem hier formulierten Telos einer wieder Natur gewordenen Freiheit findet sich das Moment der Identität als anthropologisches Grundmoment einer Individualität reformuliert, die gegen eine ihr eigentümliche Differenz auf Identität als Aufhebung dieser Differenz ausgerichtet ist. Auf diesem Grundmoment basiert nun zum einen Schleiermachers Kritik am dualistischen Ansatz der Anthropologie Kants, die ‚um 1800‘ die unabdingbare Folie anthropologischer Überlegungen und Theorienbildung darstellt. Kants Anthropologie sei „vortrefflich“, wie es in Schleiermachers ebenfalls 1799 veröffentlichen Kant-Rezension heißt, jedoch „nicht als Anthropologie, sondern als Negation aller Anthropologie, als Behauptung und Beweis zugleich, daß so etwas nach der von Kant angestellten Idee durch ihn und bei seiner Denkungsart gar nicht möglich ist“¹⁸. Denn: Der in Kants Denkart gegründete und hier ganz eigentlich aufgestellte Gegensatz zwischen physiologischer und pragmatischer Anthropologie macht nemlich beide unmöglich. Es liegen dieser Einteilung allerdings zwei richtige Gegensätze zum Grunde, der: alle Willkühr im Menschen ist Natur, und der: alle Natur im Menschen ist Willkühr; aber Anthropologie soll eben die Vereinigung beider seyn, und kann nicht anders als durch sie existieren; physiologische und pragmatische ist Eins und dasselbe, nur in verschiedener Richtung.¹⁹

Aber nicht nur das. Dieser Kritik am Kantischen Dualismus von Natur und Freiheit steht zum zweiten die Affirmation des Spinozistischen Monismus komplementär zur Seite, die für Schleiermacher schon sehr früh – wohlgemerkt nicht durch die Lektüre von Spinozas Schriften, sondern von Jacobis Spinozabriefen – prägend ist und ihn erneut vor dem Hintergrund der Verhältnisbestimmung von Identität und Differenz in einen Gegensatz zu Jacobi stellt. Die im Entwicklungsgang des Menschen zu verwirklichende Anlage zur Einheit von Natur und Freiheit wird von Schleiermacher nämlich verstanden als ‚Ausdruck des Unendlichen‘, des ‚Einen und Allen‘ – des Ἑν και παν Lessings also, der sich im Gespräch mit Jacobi unter dieser Überschrift emphatisch zum Spinozismus bekennt²⁰.²¹ Und wie dann auch

 KGA I/2 (Anm. 17), 366.  KGA I/2 (Anm. 17), 366.  Vgl. Jacobi Werke Band 1,1 (Anm. 8), 16.  Auch Schleiermacher mangelt es nicht an Emphase in seinem Bekenntnis zu Spinoza. So heißt es in der zweiten der Reden: „Opfert mir ehrerbietig eine Loke den Manen des heiligen verstoßenen Spinosa! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe, in heiliger Unschuld und tiefer Demuth spiegelte er sich in der ewigen Welt, und sah zu wie auch Er ihr liebenswürdigster Spiegel war; voller Religion

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mit Jacobis Worten der „Einzigen Substanz des Spinoza“ als das ‚Eine und Alles‘ der gesamten Wirklichkeit die durch Endlichkeit und Bestimmtheit, also durch Momente von unvermittelbarer Differenz gekennzeichnete Eigenschaft der „Persönlichkeit“ notwendigerweise fehle²², betont Schleiermacher im obigen Zitat aus den Reden ganz richtig, dass sich dieser von ihm anvisierte Entwicklungsgang des Menschen „jenseit des Spiels seiner besondern Kräfte und seiner Personalität“²³ vollziehen muss. Es geht sogar noch radikaler formuliert darum, „daß die scharf abgeschittnen Umriße unsrer Persönlichkeit sich erweitern und sich allmählig verlieren sollen ins Unendliche“²⁴.²⁵ Persönlichkeit soll sich verlieren, d. h. Endlichkeit soll reduziert werden – diesem Projekt Schleiermachers steht das Projekt Jacobis entgegen, dem es, wie sich noch zeigen wird, gerade nicht um die Reduktion derjenigen Endlichkeit und die Aufhebung derjenigen Differenzen zu tun ist, die die Individualität als Personalität des Menschen auszeichnen; seine Schlussfolgerung, dass der Spinozanischen Substanz Persönlichkeit wesentlich abgehe, ist – ganz gegenteilig zu ihrer Affirmation durch Lessing und Schleiermacher – wesentlich kritisch zu verstehen. Wie insbesondere sein Roman Woldemar vor Augen führt, geht es Jacobi dann auch um die Realisierung einer Freiheit, die sich jenseits von Vorstellungen von Einheit und Allgemeinheit zwischen Personen vollzieht, d. h. einander in ihrer unabdingbaren Endlichkeit und so auch Widersprüchlichkeit anerkennender Individuen. Zunächst aber noch ein letzter Blick auf Schleiermacher, bei dem sich der Gedanke einer Reduktion der Endlichkeit zugunsten einer teleologisch auf die Einheit mit dem Unendlichen des Universums ausgerichteten Entwicklung des Menschen nicht nur im Kontext der Religion, sondern auch, und damit auf den ersten Blich doch noch einmal in größerer Nähe zu Jacobi, im Entwurf einer intersubjektiven Gesprächsgemeinschaft wiederfindet: in der Gesprächsgemeinschaft der ‚freien Geselligkeit‘.

war Er und voll heiligen Geistes; und darum steht Er auch da, allein und unerreicht, Meister in seiner Kunst, aber erhaben über die profane Zunft, ohne Jünger und ohne Bürgerrecht.“ (KGA I/2 (Anm. 17), 213) Zum Spinozismus in Schleiermachers Reden vgl. ausführlich Konrad Cramer, „‚Anschauung des Universums‘. Schleiermacher und Spinoza“, in: Barth / Osthövener 2000 (Anm. 7), 118 – 141.  Jacobi Werke Band 1,1 (Anm. 8), 22– 23.  KGA I/2 (Anm. 17), 212.  KGA I/2 (Anm. 17), 246 (meine Hervorhebung).  Vgl. dazu ausführlich Arndt 2013 (Anm. 2), 167– 177, insbesondere 170: „‚Person‘ und ‚Persönlichkeit‘ bezeichnen demnach eine Bestimmtheit als Verendlichung eines Unendlichen, wobei die Aufgabe darin besteht, sie in einer gegenläufigen Bewegung wieder auf das Unendliche zu beziehen.“

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III In seinem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, an dem Schleiermacher parallel zu den Reden arbeitet und dessen fertiggestellter Teil gleichwie die Reden 1799 erscheint, wird dieser Gedanke einer die Endlichkeit der eigenen Persönlichkeit ablegenden und sich darin zur Unendlichkeit eigentlicher Freiheit hin entwickelnden Individualität in anderer Nuancierung weitergedacht. Nicht geht es Schleiermacher hier um den mehr subjektiven Horizont einer ursprünglichen Religiosität des Menschen, sondern um den intersubjektiv-sittlichen Horizont einer ‚freien Geselligkeit‘, innerhalb derer diese Entwicklung zur Freiheit sich verwirklichen kann. Die ‚freie Geselligkeit‘ wird zunächst verstanden als Ort der Realisierung einer „moralische[n] Tendenz“²⁶ zur selbstzweckhaften Konversation, zur, wie Schleiermacher formuliert, „durchgängigen Wechselwirkung“ freier Individuen aufeinander: Der Zweck der Gesellschaft wird gar nicht als außer ihr liegend gedacht; die Wirkung eines Jeden soll gehen auf die Thätigkeit der übrigen, und die Thätigkeit eines Jeden soll seyn seine Entwicklung auf die andern. Nun aber kann auf ein freies Wesen nicht anders eingewirkt werden, als dadurch, daß es zur eigenen Thätigkeit aufgeregt, und ihr ein Objekt dargeboten wird; und dieses Objekt kann wiederum zufolge des obigen nichts seyn, als die Thätigkeit des Auffordernden; es kann also auf nichts anders abgesehen seyn, als auf ein freies Spiel der Gedanken und Empfindungen, wodurch alle Mitglieder einander gegenseitig aufregen und beleben. Die Wechselwirkung ist sonach in sich selbst zurückgehend und vollendet; in dem Begriff derselben ist sowohl die Form als der Zweck der geselligen Thätigkeit enthalten, und sie macht das ganze Wesen der Gesellschaft aus.²⁷

Die in dieser Form der Gesellschaft anvisierte Freiheit in Form selbstzweckhafter Konversation ist folglich eine absolute Freiheit des sittlichen Subjekts im Sinne Kantischer Autonomie: „Jeder für sich selbst Gesetzgeber seyn“²⁸ – darum geht es auch bei Schleiermacher dezidiert. Entsprechend steht die in diesem Sinne ‚freie Geselligkeit‘ disjunktiv einer „jede[n] durch einen äußern Zweck gebundenen und bestimmten geselligen Verbindung“ (KGA I,2: 169) gegenüber, in der eine solche selbstzweckhafte Konversation verhindert wäre; als beispielhaft gebundene gelten Schleiermacher sowohl Verbindungen des „häuslichen“ als auch des „bürgerlichen Lebens“ mit ihren „Sorgen“ und „Geschäften“²⁹: die Sphäre des Alltäglichen.    

KGA I/2 (Anm. 17), 168. KGA I/2 (Anm. 17), 169 – 170. KGA I/2 (Anm. 17), 166. KGA I/2 (Anm. 17), 165.

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In diesem Sinne fungiert die ‚freie Geselligkeit‘ für Schleiermacher als das Ideal des Außeralltäglichen, was drei wesentliche Implikationen mit sich führt. Erstens wird die beschriebene Konversation als rein intellektuelle Tätigkeit verstanden, die mitsamt des Alltäglichen und Persönlichen auch jeglichen Einschub von Affektivität ausschließt: „hier ist der Mensch ganz in der intellektuellen Welt, und kann als ein Mitglied derselben handeln“. Zweitens ermöglicht eine solche umfassende Reduktion von Elementen der Endlichkeit und Bedingtheit das Verständnis von Konversation als eine wesentlich harmonische Tätigkeit der Selbstbildung des Menschen: „dem freien Spiel seiner Kräfte überlassen, kann er sie harmonisch weiterbilden“. Drittens wird das hier tätige Subjekt ganz im Sinne der hier Kantisch geprägten Aspekte der Autonomie und Intellektualität verstanden als ein wesentlich suisuffizientes Subjekt dieser Endlichkeitsreduktion: „von keinem Gesetz beherrscht, als welches er sich selbst auferlegt, hängt es nur von ihm ab, alle Beschränkungen der häuslichen und bürgerlichen Verhältnisse auf eine Zeitlang, soweit er will, zu verbannen.“³⁰ Aus einem solchen Verständnis von Freiheit als selbstzweckhafter Konversation im Sinne einer rein intellektuellen und harmonischen Tätigkeit der Selbstbildung eines autonom-suisuffizienten Subjekts folgt zuletzt auch auf der metatheoretischen Ebene der Methode dreierlei: Zwar steht die Realität einer schwer abzustreifenden Alltäglichkeit mit all ihren Verwicklungen einer von Schleiermacher hier entworfenen ‚freien Geselligkeit‘ immer wieder entgegen; entsprechend fungiert sie, wie gesagt, lediglich als ein Ideal. Und Schleiermacher ist bei Weitem nicht so naiv zu glauben, dass diesem Problem mit der bloßen Aufstellung eines solchen Ideals hinreichend begegnet wäre. Nichtdestotrotz ist die ‚freie Geselligkeit‘ erstens als rein intellektuelles Ideal intellektuell durchaus bereits einzusehen, bevor sie – in welchem Maße auch immer – verwirklicht ist. Mehr noch ist eine solch vorgängige intellektuelle Einsicht dieses Ideals als Ideal für Schleiermacher sogar notwendige Voraussetzung für dessen Verwirklichung: Denn „es ist doch gewiß“, so schreibt er entsprechend, „daß man sich dem Ziele nicht auf eine stetige Weise nähern kann, wenn man es nicht begriffen hat, und die Annäherungspunkte kennt, welche durchlaufen werden müssen“³¹. Zweitens folgt daraus die Abhängigkeit dieser praktischen Verwirklichung von ihrer vorgängigen Bestimmung durch die Theorie: „es giebt […] keine Verbesserung ohne Theorie“³². So kommt auch dem Theoretiker eine entsprechend wesentliche Stellung im Prozess der Selbstbildung des Menschen zur Freiheit zu:

 KGA I/2 (Anm. 17), 165  KGA I/2 (Anm. 17), 166.  KGA I/2 (Anm. 17), 166.

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Der Theoretiker ist es, der […] auf dem höchsten Standpunkt steht; er allein sucht den Schlüssel des Räthsels und die letzten Gründe der Handlungen; er allein will das gesellige Leben als ein Kunstwerk construieren, da Virtuosen es oft nur als eine schöne Fantasie betrachten; er allein will dem, was diese schönes und treffendes sagen, dadurch die letzte Vollendung geben, daß er ihm seine Stelle im System anweist.³³

Drittens entspricht dieser Abhängigkeit der Praxis von der Theorie die Form philosophischer Darstellung, mit der Schleiermacher dieses Ideal einer ‚freien Geselligkeit‘ nicht zur zum Thema macht, sondern selbst in der Rolle des hier beschriebenen Theoretikers auftritt: Er verfasst, so der Titel seiner hier diskutierten Abhandlung, den ‚Versuch einer Theorie des geselligen Betragens‘, der nicht nur eine Begriffsbestimmung einer ‚freien Geselligkeit‘, sondern näherhin auch eine Darstellung der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten zum Ziel hat, denen eine solche unterliegt. Dieser ‚Versuch einer Theorie des geselligen Betragens‘ ist mithin selbst als ein erster Beitrag zu verstehen, ein „wenigstens im Umriß vollendetes System des geselligen Betragens“ im Sinne eines wesentlichen Schrittes auf dem Weg zur Verwirklichung des darin sich ausdrückend Ideals „darzustellen“³⁴.

IV Dass dieser Versuch Schleiermachers letztlich Fragment geblieben ist und die Darstellung der Gesetzmäßigkeiten einer ‚freien Geselligkeit‘ nicht über die Darstellung des ersten von laut Schleiermacher insgesamt drei Gesetzen hinaus nicht gelungen ist, sei hier dahingestellt. Die bisher gelieferte Skizze der entscheidenden anthropologischen Grundbestimmungen Schleiermacher und ihrer Konsequenzen im Bereich des Sittlichen genügt, um nun die Position Jacobis scharfstellen zu können, die m. E. der Position Schleiermachers in entscheidenden Punkten entgegensteht. Gegen einen strengen Dualismus Kantischer Prägung, in dem Natur und Freiheit einander disjunktiv gegenüberstehen, orientiert sich Jacobis Anthropologie an der Ganzheit des Menschen: „Ich nehme den ganzen Menschen, ohne ihn zu theilen, und finde, daß sein Bewusstseyn aus zwey ursprünglichen Vorstellungen, der Vorstellung des Bedingten und des Unbedingten zusammen gesetzt ist.“³⁵ Ein solches Modell der Ganzheit steht damit sowohl einem spinozistischen

 KGA I/2 (Anm. 17), 167.  KGA I/2 (Anm. 17), 166.  Jacobi Werke Band 1,1 (Anm. 8), 260.

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Modell der Einheit entgegen, dem Schleiermacher in den Reden folgt, als auch dem Modell, das in dem Gedanken menschlicher Selbstbildung, wie in der Theorie des geselligen Betragens, am rein intellektualistischen Ideal ‚freier Geselligkeit‘ orientiert ist. Insbesondere auch dieses letzte Modell muss mit Jacobi als reduktionistisch gelten. Zwar gehen beide, sowohl Schleiermacher als auch Jacobi, aus von der Individualität des Menschen, die auch für beide realiter bestimmt sind durch Bedingtheit und Endlichkeit, die in gewissem Widerspruch zur eigenen Freiheit und Unbedingtheit stehen. Für Schleiermacher ist eine solche Widersprüchlichkeit jedoch idealiter in der ‚freien Geselligkeit‘ aufzulösen, indem dort die eigene Endlichkeit und Bedingtheit – zumindest für eine gewisse Zeit – abgestreift werden kann. Für Jacobi hingegen ist eine solche Widersprüchlichkeit des Menschen idealiter gerade nicht aufzulösen, sondern als bestehende Widersprüchlichkeit immer wieder neu anzugehen, um angesichts dieser Widersprüchlichkeit ein gutes und gelingendes Leben führen zu können. Ein solches immer wieder neue Angehen der eigenen Widersprüchlichkeit würde für Jacobi in der Orientierung an einem Ideal des Außeralltäglichen gerade verfehlt. Es kann vielmehr nur im Horizont des Alltäglichen und Realen vollzogen werden und bedarf ganz wesentlich der in der Sphäre des Alltäglichen geführten Freundschaft. Damit ist Jacobis Ansatz nicht nur nicht auf eine rein intellektuelle Tätigkeit reduziert, indem gerade auch in der alltäglichen Form der Freundschaft die affektive Dimension des Menschen eine konstitutive Rolle spielt. Jacobis Subjekt ist damit auch in keiner Weise das suisuffiziente Subjekt kantisch geprägter Selbstgesetzgebung, sondern der Mensch als Person, der von einer Umwelt, von sozialen Beziehungen und anderen Personen, mit denen er solche Beziehungen führt, unhintergehbar abhängig ist. Damit ist die Freundschaft nicht wie Schleiermachers Ideal freier Geselligkeit auf die harmonische Selbstbildung des Menschen ausgerichtet. In ihr vollzieht sich der Prozess menschlicher Selbstbildung vielmehr wesentlich kritisch in der Erfahrung von Negativität und der durch den Freund gespiegelten eigenen Endlichkeit. Jacobis ganzheitliche Anthropologie ist in diesem Sinne eine wesentlich dialogische: „ohne Du, ist das Ich unmöglich“, schreibt Jacobi bereits in der ersten Auflage seiner Spinozabriefe von 1785. Und wie sich ein solcher Dialog lebenspraktisch vollziehen kann, fasst Jacobi nun ebenfalls ganz anders als Schleiermacher nicht in Form einer Theorie, die für ihn mit Blick auf das Konkrete der Individualität in keiner Weise den ‚höchsten Standpunkt‘ bezeichnen kann. Er schildert dies in Form eines Romans: seines Romans Woldemar, der in seiner letztgültigen Gestalt in der zweiten und überarbeiteten Auflage von 1796 vorliegt. Dazu nun zuletzt. Während der Allwill, Jacobis erster Roman, im Kern noch dem Anspruch des allgemein Gültigen nachhänge, sich vom Anspruch des Theoretischen noch nicht

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ganz befreit habe und als letztlich philosophische Abstraktion „mit Dichtung blos umgeben“ sei, gehe es im Woldemar, wie Jacobi betont, nun ganz und gar um das Konkrete individueller Existenz, um „die Darstellung einer Begebenheit“³⁶. Zuallererst geht es damit um das Konkrete einer Krise des Selbst, des Protagonisten Woldemar. Und nicht nur die Figur der Henriette, die als Gegenüber Woldemars sowohl an der Lösung, zunächst aber vor allem an der Verschärfung der Krise dieses „in sich Gescheuchten“³⁷ beteiligt ist, bestätigt die Krise des Selbst als Thema des Romans, indem sie das Streben menschlichen Existierens mit der Formulierung folgender Fragen auf den Punkt bringt: „Wie entgehen wir also der Vergänglichkeit in unserm Thun und Dichten? Wie retten wir unser Selbst; wie das Selbst derer, womit wir Ein Herz, Eine Seele auszumachen streben?“³⁸ Auch Woldemar erkennt dies am Ende als das Wesentliche seines ganz persönlichen Strebens an: „Dies war mein Zustand: Ich suchte mich selbst“³⁹. Auf zwei Aspekte dieser Krise gilt es sich nun zu konzentrieren: (1) Die Krise Woldemars ist keine Krise eines sich der sozialen Interaktion ent- und in die eigene Innerlichkeit zurückziehenden Subjekts, sondern vollzieht sich insbesondere in ihrer Genese, aber auch in ihrer Auflösung in der Auseinandersetzung mit der zwischenmenschlich-sozialen Umwelt, genauer in der Auseinandersetzung mit der Frage des Verhältnisses von Ehe und Freundschaft, bzw. mit der Frage, ob überhaupt die Ehe und nicht vielmehr die Freundschaft (und wenn, in welcher Art und Weise) die für Woldemar und Henriette richtige und zu verantwortende Form der gemeinsamen Lebensführung darstellt. (2) Daraus folgt, dass die Krise Woldemars zu einem vertieften Selbstverständnis führt, das sich entsprechend dieser sozialen Konstellation der Krise nicht nur im subjektiven Bewusstsein, sondern auch in der wechselseitigen Artikulation der Revisionsbedürftigkeit sowohl des eigenen Selbstverständnisses als auch des daraus resultierenden Verhältnisses zum jeweiligen Gegenüber gründet, d. h. wesentlich des Gesprächs bedarf, das dann jedoch ganz anders zu verstehen ist als die selbstzweckhafte Konversation in ‚freier Geselligkeit‘. Auf diese beiden Aspekte komme ich nun im Einzelnen zu sprechen. (1) Dass die Krise personalen Selbstseins und der mit ihr und durch sie thematisierte Prozess menschlicher Selbstbildung überhaupt in wesentlichem Maße als ein Prozess der Auseinandersetzung des individuellen Subjekts mit der zwischenmenschlich-sozialen Umwelt zu verstehen ist, in die dieses Subjekt einge Friedrich Heinrich Jacobi, Werke, Gesamtausgabe, Band 7,1, Romane II. Woldemar, hg. v. Carmen Götz / Walter Jaeschke, Hamburg: Meiner 2007, 207.  Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 224.  Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 413.  Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 458.

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bettet ist, wird bereits in der Exposition des Protagonisten Woldemar deutlich, die Jacobi ganz zu Beginn seines Romans vornimmt. Woldemar wird hier gleich zu Anfang als ein in dreifacher Hinsicht widersprüchlicher Charakter präsentiert:⁴⁰ (a) Zunächst begegnet Woldemar als „unschuldig“ und „gut“⁴¹, innerlich jedoch oszillierend zwischen unmittelbarer Affektion und reflektiertem Nachdenken; eine aus dieser Unruhe resultierende „innere[ ] Schwermuth“ erscheint als sein wesentlicher Charakterzug und ist gleichsam Grund einer gewissen Sorge seines älteren Bruders Biderthal: Durch eine sonderbare Vereinigung von Ungestüm und Stille, von Trotz und Nachgiebigkeit hatte sich der jüngere Bruder schon in seiner Kindheit ausgezeichnet. Heftig ergriff sein Herz alles, wovon es berührt wurde, und sog es in sich mit langen Zügen. Sobald sich Gedanken in ihm bilden konnten, wurde jede Empfindung in ihm Gedanke, und jeder Gedanke wieder Empfindung.⁴²

(b) Sodann wird Woldemar eine weitergehende Widersprüchlichkeit bescheinigt, diesmal ein Missverhältnis einer so beschriebenen Innerlichkeit zu seinem nun äußerlichen Verhalten. Dies wird besonders deutlich in Henriettes erster Reaktion auf Woldemar, dessen vordergründige Eitelkeit und Oberflächlichkeit in so grundsätzlichem Gegensatz zu dem tiefen, zugleich empfindsamen und reflektierten Charakter steht, den Biderthal geschildert hat: „Woher“, fragt Henriette, […] dies Äusserliche eines abgeglätteten Weltmannes, alle diese zur größten Fertigkeit gediehenen Künste des Scheins, die man nicht ohne anhaltenden Fleiß, mühsame Aufmerksamkeit, vielen Zeitverlust, lange Anstrengung und Uebung erwirbt; zumal wenn man nicht von Kindheit an dazu gewöhnt, darinn erzogen wurde – woher dies alles an dem Hasser des

 Da es Jacobi am Ende, wie sich noch zeigen wird, gerade nicht darum geht, diese Widersprüchlichkeiten aufzulösen, entspricht der Charakter des Woldemar bereits zu Beginn des Romans sehr viel weniger dem Ideal einer ‚schönen Seele‘, wie es etwa Schiller entwirft, wenn er schreibt: „Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf, und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen“ (Friedrich Schiller, Werke, Nationalausgabe, Bd. 20, Philosophische Schriften. Erster Teil, unter Mitw. v. Helmut Koopmann hg. v. Benno von Wiese, Weimar: Böhlau 1962, 287, meine Hervorhebungen), als vielmehr dem in ‚transzendentaler Obdachlosigkeit‘ unaufhebbar beschädigten Subjekt der Moderne, dem es nurmehr darum gehen kann, sich in ein Verhältnis zu dieser seiner Beschädigung zu setzen (vgl. dazu v. a. und immer noch Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Darmstadt / Neuwied: Luchterhand 91984, 33 – 35).  Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 217.  Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 216.

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Nichtigen, an dem Hochgesinnten? Wie konnte er in kleinen Dingen so groß werden? – Ist sein Herz getheilt? – Welche Theilung wäre dies? Es schauderte Henriette bey diesem Gedanken.⁴³

(c) Woldemar ist aber nicht nur in sich selbst und hinsichtlich des Verhältnisses seiner Innerlichkeit zu seinem äußerlichen Verhalten widersprüchlich; auch dieses äußerliche Verhalten ist für sich genommen alles andere als eindeutig. Woldemar schwankt vielmehr in der Art, wie er Menschen begegnet, enttäuscht Erwartungen und ist auch hier getrieben von einem Hin und Her aus Empfindung und Reflexion; der ‚in sich Gescheuchte‘ ist nicht nur sich selbst, sondern zugleich auch „unter den Menschen wie ein Fremdling“⁴⁴. Entsprechend schnell wandelt sich auch sein öffentliches Ansehen unter den Leuten: In seinen öffentlichen Verhältnissen zeichnete sich Woldemar mit vieler Würde aus. Seine Geschicklichkeit, sein Fleiß, seine Rechtschaffenheit, der Nachdruck womit er zu reden und zu handeln wußte, seine gute Art sich in schwierigen Fällen zu benehmen, verschafften ihm bald ein überwiegendes unbestrittenes Ansehen. Das Einnehmende seines Wesens vermehrte den Eindruck und machte ihn allgemeiner; man bewarb sich mit Eifersucht um seine nähere Bekanntschaft, um seinen Umgang. Aber von dieser Seite waren alle Versuche, alle Künste an ihm vergeblich, und dies stimmte bald die gute Meynung, die man sich von ihm gemacht hatte, sehr herab. Man fand nun, daß er im Grunde von einer verdrießlichen Gemüthsart, abgeschmackt hochmüthig, ungenießbar, ohne wahre Lebensart – ein Grillenfänger sey.⁴⁵

Nun ist es diese Sphäre des Äußerlichen, aus der heraus der Anstoß erfolgt, der Woldemar in die Krise stürzt. Dazu zunächst ein genauerer Blick auf die sich bis dahin entwickelte Beziehung Woldemars zu Henriette: Wenngleich schon ganz zu Beginn und fast bis zum Ende Biderthal eine Heirat zwischen Woldemar und Henriette bewirken will, ist für diese beiden schnell klar, dass ihr Verhältnis dasjenige der Freundschaft ist. Dies beinhaltet jedoch weitaus mehr Konfliktpotential als auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn nicht nur sperrt sich Woldemar hier dem Vorhaben seines Bruders; mit der Debatte über Liebes- und Freundschaftsverhältnisse wird zugleich auch die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Freund- und Geschwisterschaft ganz neu gestellt: Während Biderthal bei Gelegenheit äußert: „es ist doch keine rechte Freundschaft, als nur unter zwey solchen Brüdern!“⁴⁶ – und damit sich selbst und Woldemar im Auge hat

   

Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 224– 225. Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 363. Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 227. Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 217.

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–, ist es für Woldemar gerade umgekehrt die Freundin Henriette, die ihm als solche erst zum eigentlichen Bruder, zu „Bruder Heinrich“⁴⁷, wird. Nichtdestotrotz wird diese fixe Idee Biderthals von einer Heirat Woldemars und Henriettes virulent; und es ist vor allem Hornich, Henriettes Vater, der durch diesen Gedanken beunruhigt wird. Denn wenngleich wankelmütig in seinem Urteil über Woldemar, setzt sich ihm, als Verkörperung einer merkantilen Ratio und Verfechter „alle[r] Tugenden der Kargheit“⁴⁸, der Eindruck fest, Woldemar sei „ein Mensch von durch und durch verkehrtem Sinn, ohne Gesetz und Gott, ein wahrer Freygeist […]. Dabei hitzig, ausschweifend, unbesonnen … Kurz“, so seine drastischen Worte an Henriette, „ich weiß kein Unglück, das du nicht mit ihm zu befahren hättest; du wärest verloren für diese Welt, und wahrscheinlich auch für jene.“⁴⁹ Und so ringt der sterbende Vater der mitfühlenden Tochter letztlich das Versprechen ab, Woldemar unter keinen Umständen zu heiraten – obwohl dies, wie gesagt, nie ernstlich zur Debatte stand. Über Umwege und aus zweiter Hand erfährt Woldemar von diesem Versprechen gegen ihn und gerät dadurch nicht nur in einen Zweifel über die Freundschaft mit Henriette, sondern, damit gleichbedeutend, auch in einen Zweifel über sich selbst. Die Frage nach der Möglichkeit gelingender Selbstkonstitution stellt sich ihm erneut und in dramatischerer Weise als zuvor – dazu gleich mehr. Hier ist noch der letzte Hinweis darauf zu geben, dass sich nicht nur die bisher beschriebene Genese, sondern auch die Auflösung der Krise, in die Woldemar gerät, in der Auseinandersetzung mit seiner zwischenmenschlich-sozialen Umwelt vollzieht. Hier sind es erneut vorrangig Biderthal und Henriette – der ‚Freundesbruder‘ und die ‚Bruderfreundin‘ – die Woldemar zu der Revision seines Freundschafts-, aber auch seines Geschwisterverständnisses, und damit letztlich vor allem seines Selbstverständnisses führen, ihm, wie Jacobi es an einer Stelle Henriette in den Mund legt, „mit Gewalt Licht über sich selbst […] verschaffen.“⁵⁰ Wie dies geschieht, ist nunmehr als ein struktureller Punkt herauszustellen. (2) Nicht nur die Genese dieser Krise Woldemars vollzieht sich innerhalb einer komplexen Dialektik von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, von subjektivem Empfinden und reflexiver Auseinandersetzung mit Empfindungen und Erwartungen anderer. Insbesondere auch die Auflösung dieser Krise und das aus ihr resultierende Bewusstsein der Revisionsbedürftigkeit sowohl des eigenen Selbstverständnisses als auch des Verhältnisses zu anderen ist kein reiner Prozess

   

Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 325. Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 212. Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 343. Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 410.

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der Kontemplation Woldemars auf das zuvor Geschehene, sondern ist erneut und in entscheidendem Maße bedingt durch äußerliche Faktoren. Denn Woldemars Zweifel an der Freundschaft und die Zerrüttung seines Bildes von Henriette zieht noch lange nicht die Zerrüttung des eigenen Selbstbildes nach sich. Indem er erkennen muss: „Henriette ist mir ein Anderer; Henriette ist wider mich“⁵¹, erkennt er einzig, dass „auch sie nicht [ist] – was ich schon lange zu suchen aufgegeben hatte; – was ich endlich – gefunden zu haben meinte: – nicht die Eine, die Meine.“⁵² Woldemars „alte[r] Traum“ von Freundschaft bleibt als Ideal von Einheit intakt, in der die vermeidliche Unvollkommenheit der Individualität aufgehoben wird, die alle an ihm selbst erfahrene Widersprüchlichkeit zu bedingen scheint; er verhärtet sich zunächst sogar in dieser Vorstellung, dass „zwey Menschen […] Eins werden und bleiben könnten“⁵³. Wenngleich weiterhin unaufgelöst, spricht aus dieser Idealvorstellung von Freundschaft als Einheit bereits das existenzielle Bedürfnis nach dem anderen. Dieses Bedürfnis ist als ein Bedürfnis nach Einheit und Aufhebung von Individualität jedoch missverstanden. Dass das über den anderen zu konstituierende Selbstverhältnis nur dann gelingen kann, wenn der andere als anderer, d. h. als Person, als Mensch „mit Nahmen“⁵⁴, wie Jacobi an anderer Stelle schreibt, nicht nur erkannt, sondern auch anerkannt wird, wird Woldemar erst in der erneuten Konfrontation mit Henriette klar. Denn auch Henriette hat in der umgekehrten Konfrontation mit Woldemar und seinem sich ihr gegenüber verändertem Verhalten eine Entwicklung durchlaufen. Und um welche Entwicklung es sich hier genau handelt, ist von entscheidender Bedeutung. Ist Henriette sich anfangs unsicher, woraus Woldemars zunehmende Distanz ihr gegenüber resultiert, so ist ihr nach der Entdeckung, dass Woldemar von ihrem Versprechen gegen eine Heirat mit ihm erfahren hat, klar, dass allein dies der Grund für sein verändertes Verhalten sein kann. Im Anschluss an diese Entdeckung strebt sie nun aber nicht sogleich die Aufklärung der Sache im Gespräch, gar die Rechtfertigung ihres Handelns vor Woldemar an. Vielmehr durchlebt Henriette – und damit als erster Charakter noch vor Woldemar – die Revision des eigenen Selbstverständnisses: sie empfindet Reue. Das anfängliche Unverständnis der Sachlage – „Warum wollte er sie aus seinem Herzen verstoßen? […] Oh Gott! rief sie aus: ich bin ja unschuldig!“⁵⁵ – wandelt sich in Verständnis im Mo-

 Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 385.  Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 393.  Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 355 – 356.  Friedrich Heinrich Jacobi, Werke, Gesamtausgabe, Band 3, Schriften zum Streit um die göttlichen Dinge und ihre Offenbarung, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg: Meiner 2000, 51.  Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 401.

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ment des Eingeständnisses der eigenen Schuld: „sie selbst hatte gefehlt“⁵⁶. Erst damit ist die Möglichkeit der Auflösung nicht nur ihrer eigenen Sorge, sondern auch der Krise Woldemars gegeben: „[W]ie leicht“, so kann Henriette erst im Modus der Reue sprechen, „wird mir nun mein Geschäft, da ich Verzeihung zu suchen, ein Bekenntniß abzulegen habe; da ich die größte Schuld auf mich legen darf.“⁵⁷ Dieser Punkt ist entschieden zu betonen: Erst durch Henriettes Kommunikation der Einsicht in die Revisionsbedürftigkeit des eigenen Selbst, die zugleich bereits wesentlicher Ausdruck und Bestandteil dieses Revisionsprozesses ist, gelingt es auch Woldemar, eine neue, distanziertere Perspektive auf sein eigenes Selbst einzunehmen und damit zu allererst auch die Geltung seines Ideals von Freundschaft in Frage zu stellen: „Bey den Worten Bekenntniß, Verzeihung, Hoffnung verwandelte sich Woldemars ganze Gestalt, als hätten so viele Zauberschläge ihn berührt“⁵⁸, und er kann nun Henriette gegenüber die Einsicht artikulieren: „[D]ie Ursache meiner Erbitterung war nicht in Dir, sie war allein in mir selbst.“⁵⁹ Aber auch dies ist nicht Jacobis letztes Wort, insofern die neu gewonnene Einsicht in die jeweils eigene Schuld nicht missverstanden werden darf als das über die gegenseitige Versöhnung vermittelte Resultat einer Versöhnung Woldemars mit sich; nur kurz dauern „Heiterkeit“, „Zuversicht“ und „innere Ruhe“ an, die Henriette neu an Woldemar wahrnimmt⁶⁰. Denn zuletzt bittet auch Biderthal Woldemar um Verzeihung seines ständigen Drängens auf die Heirat mit Henriette, das die äußeren Umstände von Woldemars Krise ja überhaupt erst bereitet hat. Daraufhin erkennt Woldemar, dass auch die ihm zuvor nur verworren gegenwärtige Vorstellung einer durch die Versöhnung mit Henriette gegebenen Restitution seines ursprünglich ‚unschuldigen‘ und ‚guten‘ Selbst letztlich nicht weniger eine Selbsttäuschung war als das Festhalten am Ideal von Freundschaft als Einheit: Ja, es war eine Lüge was ich Biderthalen schrieb –: Henriette hätte gesiegt. Ich habe gesiegt; nicht Henriette. – – Sie sprach von einem Bekenntnisse das sie ablegen, von Verzeihung, die sie bey mir suchen wollte: Da frohlockte mein Hochmuth, legte sich meine Wuth. Darum allein hatte ich ja gewüthet, daß meinem Eigenwillen, meiner Selbstsucht dies Opfer gebracht würde […].⁶¹

     

Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 407. Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 411. Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 454. Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 475. Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 459. Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 462– 463.

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Erst hier ergibt sich die eigentliche Möglichkeit der Auflösung der Krise und damit die Möglichkeit einer gelingenden Selbstkonstitution Woldemars: in der doppelten Konfrontation mit der Reue und dem Schuldeingeständnis – sowohl Henriettes als auch Biderthals. Der andere als personales Gegenüber ist kein einzelner, einziger anderer, an dem weiterhin alles hinge – wenn auch nicht mehr im Modus der Identifikation. Es ist vielmehr eine Vielzahl von Personen im Spiel, denen allen als je einzelnes Gegenüber eine unabdingbare Rolle im Selbstbildungsprozess des Menschen zukommt – neben der Rolle der beiden hier angesprochenen Charaktere von Henriette und Biderthal wäre an anderer Stelle vor allem auch nach der Rolle von Allwina, Woldemars Ehefrau, zu fragen. Entscheidend ist hier, dass sich sowohl das Freundschaftsverhältnis von Woldemar und Henriette als auch das Geschwisterverhältnis von Woldemar und Biderthal erst im Modus der Reue und im wechselseitigen Eingeständnis von Schuld als ein sehr viel realistischeres und damit auch robusteres Verhältnis der „Nähe in Distanz“⁶² restituiert. Damit hat Jacobi nicht nur kompositorisch die zu Beginn des Romans aufgespannte Konstellation eines Spannungsverhältnisses von Freund- und Geschwisterschaft umfassend eingeholt. Auch in thematischer Hinsicht ist erst von diesem Ende her eine gelingende Konstitution eines Selbst zu denken möglich, das als ein robustes Selbst wohlgemerkt die eigene Krisenanfälligkeit nicht verleugnet, sondern eine neue Standfestigkeit angesichts weiterhin zu erwartender Krisen gewinnt. Eine solche Möglichkeit gelingender Selbstkonstitution bedeutet zugleich aber auch – und dies ist der letzte entscheidende Gedanke zum Woldemar – die Möglichkeit moralischer Vervollkommnung: Mit der Möglichkeit des Selbstseins ist zugleich die Möglichkeit des Selbstwerdens – und d. h. die Möglichkeit eines ‚besseren Selbst‘ gegeben, auf das Jacobi in seinem Roman vielfach zu sprechen kommt⁶³, am ausdrücklichsten in dem zum Ende ausgesprochenen Wunsch Woldemars: „Ich war nicht gut, Henriette! – Ich will es werden“⁶⁴. Beides, Selbstsein und Selbstwerden – dies ist die Pointe des Woldemar und Jacobis Botschaft an den Leser – ist erstens ein- und dasselbe; zweitens aber kann beides

 Diesen Ausdruck verdanke ich den Überlegungen Birgit Sandkaulens zum Woldemar, die eine solche „Nähe in Distanz“ als das maßgebliche Modell zum Verständnis des Freundschaftsverhältnisses zwischen Woldemar und Henriette herausarbeitet (vgl. Birgit Sandkaulen, Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit, Hamburg: Meiner 2019, 119 – 134, insbes. 132). Ich verstehe den hier vorgestellten Ansatz zur Interpretation des Woldemars als eine Fortsetzung dieses m. E. entscheidenden Gedankens.  Vgl. Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 222, 235, 269.  Jacobi Werke Band 7,1 (Anm. 36), 464.

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Majk Feldmeier

nur in der Auseinandersetzung, im Austausch, im Dialog mit einer Vielzahl anderer gelingen, die mir als Personen und Mitmenschen begegnen.

Wilhelm Gräb

Menschsein und Religion Schleiermachers Verständnis von der anthropologischen Allgemeinheit und kulturellen Situiertheit der Religion

Einleitung: Warum und wie die Religion zum Menschsein gehört Schleiermacher hat die Religion anthropologisch verortet. In den ‚Reden über die Religion‘ weist er ihr „eine eigene Provinz im Gemüte“¹ zu und behauptet kühn: „Der Mensch wird mit der religiösen Anlage geboren wie mit jeder andern.“² Man kann darin durchaus eine zentrale Intention von Schleiermachers ‚Reden‘ sehen, zu zeigen, dass die auf dem Gefühl basierende Religion eine eigene Dimension des Menschseins ausmacht, die dem menschlichen Lebensvollzug ebenso konstitutiv zugehört wie das Erkennen und das Handeln. Damit ist für Schleiermacher jedoch keineswegs die Schlussfolgerung verbunden, dass alle Menschen religiös sind und sich erkennbar so verhalten. Die zum Humanum gehörige Religion war ihm zugleich ein historisch und kulturell höchst differentes Phänomen. Religionen waren für Schleiermacher geschichtlich bedingt und die Zugehörigkeit zu ihnen ein Sozialisationsprodukt. Selbst in seinem damaligen soziokulturellen Umfeld galt es Schleiermacher schon längst nicht mehr als ausgemacht, dass die Menschen so etwas wie ein religiöses Gefühl entwickeln und sie dazu finden, einen religiösen Blick auf die Welt einzunehmen. Als ein Hindernis für die Ausbildung des religiösen Sinns, schon bei den Heranwachsenden, nennt Schleiermacher in den ‚Reden‘ den im Aufklärungszeitalter einseitig beförderten, die Imagination der Transzendenz versperrenden, Wissenschaft wie Lebenswelt durchdringenden Empirismus und Pragmatismus.³ In der Einleitung in die Glaubenslehre weist Schleiermacher, ebenso wie in den ‚Reden‘, darauf hin, dass das „schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl […] ein

 Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) I/2, Schriften aus der Berliner Zeit 1796 – 1799, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter 1984, 185 – 326, 204.  KGA I/2 (Anm. 1), 252.  KGA I/2 (Anm. 1), 252. https://doi.org/10.1515/9783111025483-003

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Wilhelm Gräb

der menschlichen Natur wesentliches Element“⁴ sei. Er macht auch dort das Argument stark, dass das religiöse Gefühl, weil es ein die Wahrheitsgewissheit und Handlungssicherheit verschaffendes Bewusstsein ist, notwendig zum Menschsein gehört. Das religiöse Gefühl ist „zur Vollständigkeit der menschlichen Natur in Allen zu rechnen“⁵. Ebenso sieht Schleiermacher sich jedoch wiederum veranlasst, die Behauptung der notwendigen Zugehörigkeit des religiösen Gefühls zur menschlichen Natur gegen die offenkundige „Zufälligkeit“⁶ ihres tatsächlichen Vorkommens zu verteidigen. Die Empirie veranlasst immer wieder, religiöse Praxis eher „für eine zufällige Form“⁷ menschlicher Lebensäußerungen zu halten. Es scheint sogar so zu sein, gibt Schleiermacher zu, dass solche, die „in die Mitte eines entwickelten religiösen Lebens gestellt an diesem keinen Teil nehmen“⁸. Wofür also steht die These von der Religion als anthropologischer Konstante, wie Schleiermacher sie vertreten hat? Offensichtlich keineswegs dafür, dass allen Menschen Religion als Praxis zuzuschreiben ist. Da Schleiermacher die anthropologische Verortung der Religion zudem mit dem Bezug auf die mentale Instanz des Gefühls, das als unmittelbare Selbstbeziehung qualifiziert ist, vornimmt, scheint eine mit universalem Anspruch auftretende Fremdzuschreibung von Religion geradezu ausgeschlossen. Die These von der anthropologischen Allgemeinheit der Religion bezieht sich auf die strukturelle Verfassung des Menschen als einem mit Bewusstsein ausgestatteten, vernunftbegabten Lebewesen. Sie hängt aufs engste mit der Verankerung des religiösen Bewusstseins im human-psychologischen Faktor des Gefühls zusammen, die Schleiermacher an zentralen Stellen seines philosophischen Systems vornimmt. In seinen Vorlesungen zur Philosophischen Ethik⁹ und dann auch, konzentriert auf die individuelle Persönlichkeit, in denen zur Psychologie¹⁰, beschreibt Schleiermacher die Dynamik des bewussten, Kultur schaffenden menschlichen

 Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) I, 13,1, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Zweite Auflage [1830/ 31], hg. v. Rolf Schäfer, Berlin / New York: De Gruyter 2003, 54.  KGA I/13,1 (Anm. 4), 54.  KGA I/13,1 (Anm. 4), 54.  KGA I/13,1 (Anm. 4), 54.  KGA I/13,1 (Anm. 4), 54.  Friedrich Schleiermacher, Werke, Auswahl in vier Bänden, Band 2, hg. von Otto Braun / Johannes Bauer, Leipzig: Meiner, 2. Auflage 1927– 1928, Neudruck Aalen: Scientia 1967, hier: „Entwürfe zu einem System der Sittenlehre“, 241– 371; „Brouillon zur Ethik 1805/06“, 75 – 240.  Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/13, Vorlesungen über die Psychologie, hg. v. Dorothea Meier unter Mitwirkung von Jens Beljan, Berlin / Boston: De Gruyter 2018.

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Lebens. In der Dialektik¹¹ erörtert er die Bedingungen und die Struktur des menschlichen Wissens von der Welt und des zielorientierten Handelns in ihr. Jeweils expliziert er dabei die Funktion, die das religiöse Gefühl im Aufbau der Kultur bzw. in der Erfüllung der Konstitutionsbedingungen menschlichen Erkennens und Handelns spielt. In der Psychologie kommt das religiöse neben dem geselligen und dem ästhetischen Gefühl als die höchste Stufe des Selbstbewusstseins zu stehen, weil in ihm der Einheit stiftende Grund im multiplen Ganzen der humanen Weltbeziehungen zu Bewusstsein kommt.¹² In der Philosophischen Ethik bringt das religiöse Gefühl die in allem sinnorientierten, vernünftigen Handeln immer schon in Anspruch genommene Zusammenstimmung von Vernunft und Natur symbolisierend zum Ausdruck, was dann auch zu den die gesellschaftliche Sinndeutungskultur aufbauenden und pflegenden religiösen Gemeinschaften führt.¹³ In der Dialektik wächst dem religiösen Gefühl die Bedeutung zu, den Vollzug der transzendentalen Synthesis von Denken und Sein, von der sowohl die Wahrheitsfähigkeit des Wissens wie auch die Sinnintentionalität des Handelns abhängen, am Ort des denkenden und handelnden Menschen zu gewährleisten.¹⁴

 Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/10, 1 und 2, Vorlesungen über die Dialektik, hg. v. Andreas Arndt, Berlin / New York: De Gruyter 2002.  Vgl. KGA II/13 (Anm. 10), 79 – 80. Das religiöse Gefühl, so führt Schleiermacher hier aus, ist über das ästhetische und gesellige Gefühl hinaus, deshalb die höchste Entwicklung des Selbstbewusstseins, weil es die „Beziehungen aller Lebenszustände“ zur „absoluten Einheit alles Lebens d. h. der Gottheit“ herstellt (79). Daraus, dass das religiöse Gefühl das höchste der Gefühle ist, leitet Schleiermacher hier zudem ein Argument dafür ab, dass das religiöse Gefühl als dem Menschen „ursprünglich und natürlich“ und nicht als „künstlich und durch Täuschung oder Betrug erzeugt“ anzusehen sei (80).  Vgl. Schleiermacher 1967 (Anm. 9), 101– 102 (Brouillon zur Ethik 1805/06): „Die eigentliche Sphäre des Gefühls im sittlichen Sein ist nun die Religion. Denn des sittlichen Lebens kann man sich nicht bewusst werden, wenn man sich nicht des beseelenden Princips auch als Vernunft, d. h. in seiner Identität mit dem Absoluten bewusst wird. Und diese Beziehung unmittelbar gegeben ist eben Religion.“ (99 – 100) Das religiöse Gefühl ist als Beziehung zum Absoluten zugleich deren Ausdruck und Darstellung, woraus Schleiermacher sowohl den inneren Zusammenhang von Religion und Kunst folgert wie auch die Kraft zur Bildung religiöser Gemeinschaft durch das symbolisierende Handeln. „Das Mittheilen desselben (sc. des religiösen Gefühls) individualisiert sich […] und diese individuelle Einheit des Gefühls selbst und der Darstellung ist die die Idee einer Kirche“.  Vgl. KGA II/10, 1 (Anm. 11), 266 – 267 (Ausarbeitung Schleiermachers zum Kolleg 1822): „Im Gefühl sind wir uns die Einheit des denkend wollenden und wollend denkenden Seins irgendwie, aber gleichviel Wie, bestimmt. In diesem also haben wir die Analogie mit dem transzendenten Grunde, nämlich die aufhebende Verknüpfung der relativen Gegensäze. […]. Diese Aufhebung der Gegensäze könnte aber nicht unser Bewußtsein sein, wenn wir uns selbst [darin] nicht ein bedingtes und bestimmtes wären oder würden. Aber nicht bedingt und bestimmt durch etwas selbst

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Alle diese Argumentationsgänge, die Schleiermacher in den der humanen Vernunftkultur geltenden philosophischen Disziplinen ausführt, weisen der Religion eine konstitutive Funktion im humanen Selbst- und Weltumgang zu. Sie lassen es m. E. insofern zu, Schleiermacher als einen prominenten Vertreter der These von der anthropologischen Allgemeinheit der Religion in Anspruch zu nehmen. Besonders interessant dabei ist jedoch, wie Schleiermacher diese These ausgeführt hat. Die anthropologische Verortung der Religion im Gefühl als einem Vermögen, das allen Menschen aufgrund ihrer mit der Vernunft immer schon vereinten Natur zukommt, verlangt für ihn keineswegs, Menschen als von Natur aus religiös aufzufassen. Gelebte Religion kommt für ihn vielmehr immer nur in geschichtlich und empirisch höchst pluralen, kommunikativen, auf Traditionen und deren symbolische Vermittlung angewiesenen Praktiken vor. Die anthropologische Verortung der Religion folgt Schleiermachers spekulativer Entfaltung der Anschauung vom Menschen. Die religiöse Praxis kommt hingegen nur der historischen Erfahrung und empirischen Wahrnehmung in den Blick. Spekulation und Empirie stehen in Differenz, verlangen die Vermittlung, sind für Schleiermacher aber nie in einander überführbar.¹⁵ Die anthropologische Verortung des religiösen Gefühls und die Bestimmung der Funktion, die dieses im humanen Lebensvollzug erfüllt, trägt für Schleiermacher die vernünftige Begründung der Religion. Sie tritt gewissermaßen an die Stelle der rationalen Begründung des Gottesgedankens, ersetzt jedoch in keiner Weise die historischen und empirischen Kenntnisse von der Religion in ihrer kulturellen Situiertheit und Vielfalt sowie dann auch ihren zeitlichen und räumlichen Entfaltungen. Erst die in religiösen Praktiken sich manifestierende Frömmigkeit bzw. die gelebte Religion macht die vorprädikative, mentale Präsenz des Einheitsgrundes unserer Wirklichkeitsbeziehung, wie sie im religiösen Gefühl vorgeht, durch „Darstellung“¹⁶ ausdrücklich. Dabei setzt sie die Tradition von Symbol- und Ritualkulturen bereits voraus und nimmt an deren sozialer Vermittlung und Fortführung wiederum aktiv teil. im Gegensaz begriffenes: denn insofern sind darin die Gegensäze nicht aufgehoben, sondern durch dasjenige worin allein das denkend wollende und das wollend denkende mit seiner Beziehung auf alles andere eins sein kann; also durch den transzendenten Grund selbst. Diese transcendente Bestimmtheit des Selbstbewußtseins nun ist die religiöse Seite desselben oder das religiöse Gefühl. Und in diesem also ist der transcendente Grund oder das höchste Wesen selbst repräsentiert.“  Vgl. Schleiermacher 1967 (Anm. 9), 252. In seiner Wissenschaftssystematik hat Schleiermacher deshalb einen „Cyclus kritischer Disziplinen“ vorgesehen, die das Spannungsverhältnis zwischen der begrifflichen Konstruktion und den empirischen Tatbeständen für die kritische Urteilsbildung fruchtbar machen.  Vgl. Schleiermacher 1967 (Anm. 9), 270 (Ethik 1812/13).

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Mit der anthropologischen Verortung der Religion im Gefühl leistet Schleiermacher dennoch einen wichtigen Beitrag für das Verständnis auch des empirischen Vorkommens von Religion als einem in kultureller und historischer Pluralität auftretenden „diskursiven Tatbestand“¹⁷. Sie bietet eine rationale Erklärung dafür, weshalb wir trotz der kontextuellen und kulturellen Situiertheit und damit immer auch der geschichtlichen und kulturpraktischen Pluralität und Kontingenz der gelebten Religion doch von ihrer allgemeinen Mitteilbarkeit und kommunikativen Anschlussfähigkeit ausgehen können. Aus der anthropologischen Allgemeinheit der Religion folgt nicht, dass alle Menschen von Natur aus religiös, sehr wohl aber, dass alle Menschen auf Religion, in welcher Semantik auch immer, ansprechbar sind. Dass Schleiermacher sich mit den ‚Reden‘ an die formal gebildeten Verächter der Religion gewandt und er dies eben in der Form fiktiver Reden, also mit rhetorischen Mitteln, zu tun versucht hat, gibt gewissermaßen einen Hinweis dafür, dass er selbst von dieser allgemeinen religiösen Ansprechbarkeit auch bei denen ausging, die keinen Anteil an religiöser Praxis nehmen und denen sie für ihr eigenes Lebens nichts zu bedeuten scheint. Die ‚Reden‘ sprechen in der Weise über die Religion, dass sie in die Erfahrung einweisen, aus der sie am Ort der einzelnen möglicherweise entsteht und in die Formatierung ihres Selbst- und Weltumgangs eingeht. In der Einleitung in die Glaubenslehre verbindet Schleiermacher die These, dass die Religion ein „der menschlichen Natur wesentliches Element“¹⁸ sei, direkt mit der weiterführenden Überlegung, dass sie eben deshalb am Gattungsbewusstsein, somit der Zugehörigkeit jedes einzelnen zur Menschheit teilhabe und auf allgemeine Mitteilung im Ganzen der Menschheit dränge. Aus der allgemeinen Zugehörigkeit der Religion zur Menschheit folgt nicht, dass alle sie praktizieren und einer der mehr oder weniger institutionalisierten religiösen Verbindungen anzugehören hätten, sehr wohl aber, dass alle durch religiöse Ansprache affiziert

 Vgl. Joachim Matthes, „Auf der Suche nach dem Religiösen. Reflexionen zu Theorie und Empirie religionssoziologischer Forschung“, in: Sociologica Internationalis 30 (1992), 129 – 142. Der Soziologe Joachim Matthes hat im Zusammenhang der Auswertung der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD als erster energisch darauf hingewiesen, dass die Präsenz der christlichen Religion im Leben der Menschen nicht daran festzumachen ist, ob und wie Kirchenmitgliedschaft praktiziert wird oder theologisch bzw. kirchlich-traditionell vorgegebene Lehr- und Glaubensaussagen gekannt werden und zustimmungsfähig erscheinen. Religion wird forschungskonzeptionell vielmehr von Joachim Matthes als ein „diskursiver Tatbestand“ (129) aufgefasst, in dem immer eine bestimmte „kulturelle Programmatik“ (132) zum Ausdruck kommt. D. h., was lebenspraktisch als Religion erscheint und als solche soziologisch wahrgenommen wird, hängt vom Diskurs über sie ab, aus dem sie gleichwohl nicht entsteht.  KGA I/13,1 (Anm. 4), 54.

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und zur Ausbildung eines eigenen religiösen Gefühlsbewusstseins angeregt werden können. Sofern dies geschieht, meint Schleiermacher denn auch, „wird Jeder wissen, dass es [sc. das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl] auf demselben Wege durch die mittheilende und erregende Kraft der Aeußerung zuerst in ihm ist gewekt worden“¹⁹. Auch diejenigen, die nicht an irgendeiner Form religiöser Praxis teilnehmen und mit deren Inhalten nichts anfangen können, bzw. deren Bedeutung und Wahrheitsgehalt bestreiten, verstehen, wovon die Rede ist, wenn von Religion die Rede ist. „Sie werden doch bezeugen müssen, die Sache selbst sei ihnen nicht so fremd, daß sie nicht in einzelnen Momenten von einem solchen Gefühl ergriffen wären“²⁰. Schleiermacher argumentiert mit dem religiösen Gefühl als einem dem Menschen von Natur aus gegebenen Vernunftvermögen, um seine Behauptung, dass alle Menschen auf Religion ansprechbar seien, zu verteidigen. Das Funktionieren religiöser Kommunikation wird von ihm nicht auf das Verstehen des semantischen Gehaltes religiöser Sprache, religiöser Metaphern und Symbole, reduziert. Indem Schleiermacher damit argumentiert, dass alle Menschen auf ein religiöses Gefühl ansprechbar seien, verweist er auf die vorsprachliche, eben in der vernünftigen Natur des Menschen liegende Resonanzbasis religiöser Kommunikation. Das scheint mir interessant, wird doch die These von der prinzipiellen Ansprechbarkeit der Menschen auf Religion auch in heutigen soziologischen Theorien religiöser Kommunikation vertreten, dabei aber auf den Vorgang sprachlicher Verständigung beschränkt.²¹ Der Begriff der Religion beschreibt dann nur noch eine „kulturelle Programmatik“, die auf kommunikative Tatbestände und Praktiken verweist.²² Er lässt sich nicht mehr auf eine Menschen ergreifende und verändernde, vor allem nicht mehr als eine sie im Ganzen ihrer Selbstauffassung und Weltsicht bestimmende Kraft beziehen. Dunkel bleibt zudem, weshalb Menschen aus sich selbst heraus Veranlassung zeigen, sich auf religiöse Kommunikation einzulassen, auch ohne in religiöse Kommunikations-

 KGA I/13,1 (Anm. 4), 56.  KGA I/13,1 (Anm. 4), 54.  Vgl. Armin Nassehi, „Erstaunliche religiöse Kompetenz. Qualitative Ergebnisse des Religionsmonitors“, in: Religionsmonitor 2008, hg. von Bertelsmann Stiftung, Gütersloh: Medienfabrik 2007, 113 – 132; vgl. auch Armin Nassehi, „Religiöse Kommunikation. Religionssoziologische Konsequenzen einer qualitativen Untersuchung“, in: Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, hg. v. Bertelsmann Stiftung, Gütersloh: Medienfabrik 2009, 169 – 203.  Vgl. Matthes 1992 (Anm. 17), 132.

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zusammenhänge bereits einbezogen zu sein, somit auch ohne eine religiöse Sprache gelernt zu haben. Auch Schleiermacher hat die Religion als einen kommunikativen Tatbestand gefasst, sie jedoch gerade nicht darauf reduziert, ein regelkonformer Umgang mit einer religiösen Sprache, mit den Inhalten und Praktiken einer bestimmten Religionsgemeinschaft zu sein. Mit der anthropologischen Verortung der Religion im Gefühl erbrachte Schleiermacher den Nachweis für ihre über die kommunikative und kulturelle Vermittlung und situative Bestimmtheit hinausgehende anthropologische Allgemeinheit. Das Gefühl kann die Begründungslast für eine Anthropologie der Religion allerdings auch nur deshalb tragen, weil ihm über seine psychologisch-mentale Funktion hinausgehend die Bedeutung zukommt, für den dem Wissen transzendenten Grund der Erfahrung, mit dem Ganzen der Wirklichkeit eins zu sein, einzustehen. Die psychologische Funktion des Gefühls erhellt die affektive Dimension, die in Prozessen religiöser Kommunikation eine wichtige Rolle spielt. Die transzendentale Funktion des Gefühls erlaubt die Verortung der Religion in der Struktur humaner Subjektivität und erhellt somit allererst deren basale Funktion im Selbst- und Weltumgang des Menschen. Im Weiteren will ich den Verbindungslinien folgen, die Schleiermacher zwischen der Auffassung der Religion als einem kommunikativen Tatbestand in kulturell-geschichtlicher Situiertheit einerseits und der Religion in ihrer allgemeinen Zugehörigkeit zum Menschsein andererseits hergestellt hat. Ersteres ist nicht ohne Bezugnahmen auf Schleiermachers Theologieprogramm zu machen und das andere verlangt, dem Gefühlsbegriff im Spannungsverhältnis von Anthropologie bzw. Psychologie und transzendentaler Wissenstheorie nachzugehen. Ich werde in einem 1. Schritt die transzendentalphilosophische Begründung der anthropologischen Allgemeinheit der Religion und die theologische Reflexion ihrer kommunikativen Praxis in Kultur und Geschichte ins Verhältnis setzen. Ich will 2. der transzendentalen, für unseren Selbst- und Weltumgang konstitutiven Funktion der im Gefühl anthropologisch verorteten Religion nachgehen. In werde 3. die Bedeutung der anthropologischen Verortung der Religion für die kulturelle Kommunikationspraxis der Religion herausarbeiten, um 4. und letztens deutlich zu machen, warum die anthropologische Verortung der kulturellen Kommunikationspraxis der Religion ihre interkulturelle Gesprächsfähigkeit freisetzt.

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1 Religionsbegründung und Religionshermeneutik zwischen Transzendentalphilosophie, Anthropologie und Theologie Bei Schleiermacher geht beides zusammen, die Behauptung der Religion als einer konstitutiven Dimension des Menschseins und der Hinweis darauf, dass sie sich in ihrem empirischen Vorkommen nicht aus ihrem allgemeinen Begriff ableiten lässt. Die Religion, so könnte man von Schleiermacher her auch sagen, ist eine anthropologische Konstante, aber eben nur in formal-transzendentaler Hinsicht, nur hinsichtlich der Vollzugsbedingungen der humanen Vernunft, nicht aber, was das religiöse Selbstverständnis und die religiöse Praxis der Menschen anbelangt. In Schleiermachers Denken spiegelt die Relation zwischen dem Allgemeinbegriff der Religion, der sie als anthropologische Konstante begreift und den vielen geschichtlich überlieferten Religionen, deren kommunikative Praktiken, Symboltraditionen und Gemeinschaftsbildungen nur historisch und empirisch aufgesucht und verstanden werden können, zugleich das Verhältnis von Transzendentalphilosophie und Theologie, insbesondere in Gestalt der Glaubenslehre. Im transzendentalen Teil der Dialektik²³ tritt das religiöse Gefühl als ein anthropologisches Datum auf, jedoch nicht in Gestalt der religiösen Selbstdeutung empirischer Subjekte. Das ist die Sache der Theologie, deren Thema die gelebte Religion ist, d. h. die von Menschen in den Erfahrungen des Lebens vollzogene, intersubjektiv vermittelte und gemeinschaftlich vollzogene religiöse Praxis. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Theologie und Philosophie liegt bei Schleiermacher genau in dieser so anderen Bezugnahme auf die Religion. In der Dialektik fungiert die Religion als ein transzendentales Postulat, das die dem Wissen selbst entzogenen Ermöglichungsbedingungen des Wissens im Gefühl präsent hält. Ebenso steht die Religion in der Philosophischen Ethik, die die basalen Funktionen menschlichen Handelns auf ihre in der menschlichen Ver-

 Vgl. KGA II/10,2 (Anm. 11), 239 (Vorlesungsnachschrift zum Kolleg 1818/19): „Es ist notwendige Voraussetzung, indem wir aus dem Denken ein Wissen produciren wollen, daß wir in das Absolute die Einheit des Denkens und Seins setzen. Dies ist aber bloße Voraussetzung. Wie verhält sich dazu das Gefühl? Im Gefühl ist diese Voraussetzung vollzogen, und zwar im religiösen Gefühl, aber nicht im Gedanken und nicht in der That. Im Gefühl also ist die höchste Identität des Idealen und Realen wirklich vollzogen, und was wir im Denken und Wollen nur voraussetzen haben wir vollkommen im Gefühl, und im Gedanken haben wir es nur, in sofern wir das Gefühl darin abbilden. Daher der Streit zwischen der Religion und Philosophie.“

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nunft-Natur liegenden Strukturbedingungen zurückführt, dafür, dass die Vernunft am Ort ihres humanen Vollzuges auch noch zur Symbolisierung der ihr immer schon vorausliegenden, den ethischen Prozess allererst ermöglichenden Einheit von Vernunft und Natur fähig ist. Die Theologie hingegen interpretiert die von ihr immer schon vorausgesetzte, praktisch gelebte, geschichtlich und kulturell vermittelte Religion des Christentums. Theologie wird zur Hermeneutik der gelebten, kulturell situierten und damit im Plural ihrer Traditionen auftretenden christlichen Frömmigkeit. Als solche interpretiert sie die gelebte Religion im Kontext ihrer kulturell-geschichtlichen Bedingungs- und Gestaltungsfaktoren. Als christliche Theologie wird sie zur Hermeneutik der geschichtlichen Symbolwelt des Christentums.

2 Die anthropologische Verortung des transzendentalen Religionsbegriffs Über Anthropologie hat Schleiermacher nicht gelesen und sie auch nicht als wissenschaftliche Disziplin in den Systemaufriss seiner Philosophie eingezeichnet. Dieser sieht die Physik als Wissenschaft von der Natur (Reales) und die Ethik als Wissenschaft von der Kultur (Ideales) vor. Ihnen liegt die Dialektik als Theorie der dialogischen Wissensproduktion zugrunde, die dann auch nach dem Grund der jedes Wissen überhaupt erst ermöglichenden Einheit des Realen und Idealen fragt. Den spekulativen Disziplinen der Physik und der Ethik sind die empirisch verfahrende Natur- und Geschichtskunde zugeordnet. Die Anthropologie kommt in diesem Systemaufriss nicht vor, sehr wohl aber setzt Schleiermacher an den Anfang seiner Ethik eine „Anschauung“ des Menschen²⁴. Man kann insofern doch von einer anthropologischen Grundlegung der Ethik und Kulturphilosophie Schleiermachers sprechen. Nicht jedoch im Sinne einer empirischen Erkenntnis der Natur und des Verhaltens des Menschen. Die „Anschauung“ des Menschen, von der Schleiermacher in der Ethik ausgeht, beinhaltet einen Begriff vom Menschen, der besagt, dass in ihm Natur und Vernunft, Leib, Seele und Geist immer schon geeint sind und er vermöge seines Selbstbewusstseins auch darum weiß.²⁵

 Vgl. Schleiermacher 1967 (Anm. 9), 82 (Brouillon zur Ethik 1805/06).  Vgl. Schleiermacher 1967 (Anm. 9), 82 (Brouillon zur Ethik 1805/06): „Die sittliche Anschauung sezt nun den Menschen, soweit ihn die theoretische Philosophie als Natur giebt, mit seinem geistigen Vermögen als Leib und sezt diesem als Seele entgegen die Freiheit des Vermögens der Ideen, d. h. als regierenden Trieb, welcher zu allen Thätigkeiten jener andern die hervorbringende und ordnende Ursache ist.“

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Eine Anthropologie, wenn sie denn wissenschaftlich ausgearbeitet würde, müsste nach Schleiermachers Vorstellung nicht nur von dem mit dem Menschsein gegebenen Ineinander von Vernunft und Natur ihren Ausgang nehmen, sondern dieses Ineinander differenziert zu beschreiben als ihre primäre Aufgabe sehen. Das geht aus Schleiermachers Rezension von Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1798) deutlich hervor.²⁶ In der 1799 anonym im Athenaeum erschienen Besprechung von Kants Schrift kritisiert Schleiermacher vor allem, dass Kant der Meinung war, die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht unter Absehung von einer solchen in physiologischer Hinsicht durchführen zu können, ja überhaupt die praktische Vernunft von ihren physiologischen Bedingungen abzulösen.²⁷ Schleiermacher sieht darin einen unversöhnlichen Dualismus von Natur und Freiheit. Mit ihm zu operieren, entspreche zwar Kants „Denkart“²⁸, verfehle aber den Menschen als vernunftbegabtes, seine endliche Freiheit immer nur unter Naturbedingungen realisierendes Lebewesen. Kant, so meint Schleiermacher, reißt auseinander, was man, will man den Menschen verstehen, zwar unterscheiden, aber doch in seiner untrennbaren Zusammengehörigkeit verstehen muss. Was die Natur aus dem Menschen macht, ist genau das, was ihn als einen mit Vernunft begabten, denken, wollenden und fühlenden Menschen auszeichnet. Mit dem Menschen ist die Einheit dessen gegeben, was im realen Wissen auseinandertritt und immer erst zur Einheit gebracht werden muss: Sein und Bewusstsein, Natur und Vernunft. In Schleiermachers systematischem Aufriss des Wissenschaftssystems stünde die Anthropologie, hätte Schleiermacher sie ausgearbeitet, vor der Frage, ob sie sich der Wissenschaft von der Natur (Physik) oder von der Kultur (Ethik) zuzuordnen hat. Sie hätte sich im Grunde entscheiden müssen, ob sie den Menschen als Naturwesen oder als Vernunftwesen zu ihrem Gegenstand machen soll. Mit beidem hätte sie den Menschen jedoch im Ansatz schon verfehlt, da es für Schleiermacher im Begriff des Menschen liegt, aus einer ursprünglichen Einheit von Natur und Vernunft sein Leben bewusst zu führen. Die eigentümliche wissenschaftssystematische Zwitterstellung, in die die Anthropologie auf dem Hintergrund von Schleiermachers Wissenschaftssystem ge-

 Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) I/2, Schriften aus der Berliner Zeit 1796 – 1799, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter 1984, 365 – 369.  Immanuel Kant, Werke. Akademie-Textausgabe Bd. 7, Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Berlin: De Gruyter 1968, 119: „Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er, als frei handelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und will.“  KGA I/2 (Anm. 26), 366.

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rät, dürfte der Grund dafür gewesen sein, dass Schleiermacher sie nicht disziplinär ausgearbeitet hat.²⁹ Stattdessen hat er mit der Psychologie die Strukturen und Dynamiken des bewussten, die Welt erkennenden und sie gestaltenden menschlichen Lebens entworfen. Sie steht, beschränkt auf die Analyse des Menschen als mit Bewusstsein ausgestattetem Lebewesen, gewissermaßen an der Stelle einer Anthropologie. Mit der Beschreibung des Menschen als (Selbst‐)Bewusstsein oder auch als an den Leib gebundene Seele, macht die Psychologie diejenige Einheit von Vernunft und Natur zum Thema, die mit der vernunftbegabten Natur des Menschen von Natur aus gegeben ist. Die Psychologie ordnet sich damit in Schleiermachers System der Wissenschaften am ehesten der Ethik zu. Sie macht sich die Ausarbeitung der im menschlichen Bewusstsein gegebenen Einheit von Vernunft und Natur, von der die Ethik ihren Ausgang nimmt, zur Aufgabe. In der Eröffnung der Philosophischen Ethik ist die im Menschen gesetzte Einheit von Vernunft und Natur eine Setzung, auf deren Basis sie dann das die Kultur aufbauende menschliche Handeln in seinen Grundstrukturen beschreibt.³⁰ Die Frage, wie die mit dem bewussten menschlichen Leben immer schon gegebene und im Aufbau der Kultur sich vollziehende Durchdringung von Vernunft und Natur dem Menschen selbst bewusstwird, beantwortet Schleiermacher in der Philosophischen Ethik wie in der Psychologie mit seiner Konzeption des religiösen Gefühls. In der Philosophischen Ethik wird das religiöse Gefühl zum Motor einer symbolischen Kommunikation, die der unmittelbar gefühlten Präsenz der Zustände des eigenen Daseins zeichenhaft Ausdruck verschafft. Das Gefühl stellt diejenige mentale Operation dar, vermöge deren der Mensch sich seines Seins nicht nur unmittelbar bewusstwird, sondern es leiblich spürt. Das Gefühl macht die Einheit von Sein und Bewusstsein, Idealem und Realem, Vernunft und Natur zur subjektiven Erfahrung. Es ist dies eine Erfahrung, mit der sich dem Menschen zeigt, dass er die Einheit von Vernunft und Natur immer schon lebt. Er findet sich in dieser Einheit immer schon vor. Diese kann ihm deshalb jedoch nicht als eine von ihm selbst hervorgebrachte zum Bewusstsein kommen. Diese Einheit transzendiert das Sein, dessen er sich unmittelbar bewusst wird. Das aber macht das Gefühl zum religiösen Gefühl, zum Gefühl eines unbedingten Gegründetseins. Dieses religiöse Gefühl kommt auf vorsprachliche Weise auf, geht aber doch zugleich in Deutungen über, die dann freilich bereits in inhaltliche Bestimmungen der Transzendenz und damit in Auffassungen vom Religiösen

 Vgl. Andreas Arndt, „Schleiermachers Psychologie“, in: Andreas Arndt, Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin / Boston: De Gruyter 2013, 363 – 378.  Vgl. Schleiermacher 1967 (Anm. 9), 82 (Brouillon zur Ethik 1805/06).

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führen, denen zuzustimmen keineswegs alle bereit sind. Das passiv und vorsprachlich aufkommende religiöse Gefühl äußert sich durch leiblich gestische Äußerungen, durch szenische Gestaltung, durch symbolisierendes, Symbole schaffendes kommunikatives Handeln. Letzteres bedingt dann auch die enge Beziehung zwischen Religion und Kunst, weshalb die ethische Valenz der Kunst darin besteht, dass sie als Selbstmanifestation der im Gefühl vorsprachlich repräsentierten Einheit von Vernunft und Natur fungiert.³¹ Ganz entsprechend zur Philosophischen Ethik hat Schleiermacher in seinen Vorlesungen zur Psychologie dem religiösen Gefühl die Bedeutung zugewiesen, dass es, weil es die allem menschlichen Leben immer schon zugrundliegende Synthesis mental repräsentiert, die „absolute[ ] Einheit allen Lebens“³² gegenwärtig werden lässt. Er beschreibt in der Psychologie das religiöse Gefühl als die höchste Form des menschlichen Bewusstseins und weist ihm somit einen konstitutiven anthropologischen Ort zu.³³ Das religiöse Gefühl gehört zum Menschen im tätigen Vollzug und den Bewegungen seines Lebens, weil es die Einheit des Ganzen der Weltwirklichkeit im leiblichen Bewusstsein des Menschen von sich selbst zur Präsenz bringt.³⁴ Sowohl in der Ethik wie in der Psychologie nimmt Schleiermacher die anthropologische Verortung der Religion im Gefühl vor. Aber nur in der Dialektik führt er die Argumentation aus, die zeigt, weshalb dem religiösen Gefühl diese zentrale Funktion im Weltaufbau zukommt, ohne doch in der geschichtlichen Wirklichkeit seines Vollzuges in Formen religiöser Praxis gemeint zu sein. Im

 Vgl. Schleiermacher 1967 (Anm. 9), 99 – 100 (Brouillon zur Ethik 1805/06): „Die eigentliche Sphäre des Gefühls im sittlichen Sein ist nun die Religion. Denn des sittlichen Lebens kann man sich nicht bewusst werden, wenn man sich nicht des beseelenden Prinzips als Vernunft d. h. in seiner Identität mit dem Absoluten bewußt ist. Und diese Beziehung unmittelbar gegeben ist eben Religion. Also muß auch die Religion und Kunst zusammenfallen, und die Sittliche Ansicht der Kunst besteht eben in ihrer Identität mit der Religion. Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös.“  Vgl. KGA II/13 (Anm. 10), 79 (Gedanken und Vorlesung im Sommersemester 1818).  Vgl. Dorothea Meier, Schleiermachers Psychologie. Eine Phänomenologie der Seele, BadenBaden: Ergon 2019, 165 – 169.  Vgl. KGA II/13 (Anm. 10), 79 (Gedanken und Vorlesung im Sommersemester 1818): „Wenn sich nun das erhöhte Bewußsein so weit gesteigert hat daß das Leben der menschlichen Gattung in das Selbstbewusstsein aufgenommen und alles persönliche so wie alle kleinern Sphären in dieser begriffen und ihr untergeordnet sind: so bleibt immer noch übrig daß diesem höchst entwickelten Selbstbewußsein entgegengesetzt ist die äußere Natur. Die Einwirkungen dieser werden nun auch in jenes zusammengesetzte Selbstbewußtsein aufgenommen; aber es muß sich nun nach der Analogie der bisherigen Entwiklung ein Bestreben entwikeln auch zwischen sich und der Natur ein gemeinsames Bewußtsein zu stiften und dieses nun wird das Bewußtsein der absoluten Einheit alles Lebens d. h. der Gottheit, und die Beziehungen aller Lebenszustände auf dieses sind dann die religiösen Gefühle.“

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transzendentalen Teil der ‚Dialektik’ richtet sich Schleiermachers Untersuchung auf die Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass sich das auf Wirklichkeit bezogene Denken von menschlichen Individuen in ein objektives Wissen überführen lässt. Wissen wird von Schleiermacher so definiert, dass es die Übereinstimmung der Individuen in ihrem Denken wie auch die Übereinstimmung ihres Denkens mit der Wirklichkeit verlangt – abbildend und vorbildend, theoretisch und praktisch. Das Wissen muss einem bestimmten Gegenstand in der vom Denken unterschiedenen Realität korrespondieren, und die Denkenden müssen sich untereinander im Konsens bezüglich der Übereinstimmung ihres Denkens über diesen bestimmten Gegenstand befinden. Soll Wissen prinzipiell möglich sein, dann müssen Individuen, die verschieden über die Wirklichkeit denken und deshalb immer wieder miteinander im Streit liegen, zu kohärenten Wirklichkeitsauffassungen finden können. Insofern muss dann aber auch, als Bedingung der Möglichkeit des Wissens, eine prinzipielle Einheit von Denken und Sein, wie auch eine prinzipielle Identität in den Operationen des Denkens aller menschlichen Individuen vorausgesetzt werden können. Schleiermacher arbeitet im transzendentalen Teil der Dialektik an der Bestimmung dieser transzendentalen Ermöglichungsbedingungen für die Überführung strittigen Denkens in ein intentional der Sache entsprechendes, konsensfähiges, kohärentes Wissen. Das Ergebnis ist, dass diese transzendentalen Bedingungen des Wissens nicht selber wieder gewusst werden können. Denn das Denken, das zum Wissen wird, kommt aus der Differenz von Denken und Gedachtem nie heraus, auch dort nicht, wo es die absolute Einheit zu denken versucht. Außerdem bleiben auch die denkenden Individuen, durch die das Wissen vollzogen wird, voneinander unterschieden. Der Grund des Wissens ist dem Denken, das ein Wissen werden will, nie anders gegeben als so, wie er von denkenden Individuen gedacht wird. Im Denken ist aus dem Gegensatz von Denken und Gedachtem bzw. von Denken und der Realität, auf die es sich im Wissen bezieht, ebenso wenig hinauszukommen wie sich das voneinander Verschiedensein der denkenden Individuen, ihre Individualität, überwinden lässt. Die Frage nach der Gegebenheit des dem Wissen transzendenten, es transzendental ermöglichenden Grundes des Wissens bringt Schleiermacher in der ‚Dialektik’ dahin, über das Denken hinauszugehen und auf die leibhafte Existenz der denkenden Individuen zu reflektieren. Was das Denken qua Denken nicht kann, nämlich zur Einheit mit dem Gedachten in einem wirklichen Wissen zu finden, das vollziehen die leibhaft existierenden, denkenden Individuen mit jedem Akt des Denkens. Sie sind denkendes Sein und seiendes Denken. Sie sind es freilich auch nur in der Faktizität ihres Daseins als vernunftbegabte, menschliche Individuen. Sie können die Einheit von Denken und Sein, die sie unmittelbar

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selbst sind, nicht gegenständlich und damit auch nicht in einem objektiven Wissen vor sich bringen. Sie sind diese Einheit von Denken und Sein, Denken und Wollen bzw. vorbildendem und abbildendem Denken in genau der Weise, in der sie sich selbst in ihrem Lebendigsein spüren. Denn sie sind sich selbst unmittelbar gegeben im eigenen leibhaften Dasein, „im Gefühl“ bzw. in ihrem unmittelbaren Selbstbewusstsein.³⁵ Im Gefühl erfahren sie eine unbedingte Wahrheitsgewissheit, d. h. die Gewissheit, zugleich und ineins ein denkendes und wollendes Lebewesen zu sein. Das Gefühl ist die Weise, in der ein leibhaft existierendes menschliches Individuum sich unmittelbar selbst hat und sich vor aller Reflexion seines Sich-Gegebenseins als eines denkenden Seins und seienden Denkens bewusst ist. Insofern ist das Gefühl diejenige Weise des Sich-Selbst-Gegebenseins des individuellen Subjekts, aufgrund derer es sich zugleich des Gegebenseins derjenigen Einheit von Denken und Sein bewusstwerden kann, die die Transzendentalphilosophie als die Voraussetzung allen Wissens postulieren muss. Im Denken ist diese Einheit von Denken und Sein aber nur als gedachte, nicht als wirklich vollzogene, da. Das Denken muss sich die prinzipielle Einheit von Denken und Sein zwar vorausdenken, wenn es die Bedingung der Möglichkeit, zu einem Wissen zu gelangen, denken will. Ob die vorausgedachte Einheit von Denken und Sein aber auch eine wirklich gegebene Einheit ist, ob sie somit als Ermöglichungsgrund des Wissens auch wirklich funktioniert, lässt sich nicht wissen, sondern kommt nur als Gefühl zur Präsenz im Bewusstsein. Dass Denken und Sein übereinstimmen, und Wissen in ein auf das intendierte Sein ausgerichtetes Wollen übergeht, macht es nötig, einen absoluten Einheitsgrund der Wirklichkeit zu postulieren. Dieser lässt sich nicht zum Gegenstand eines Wissens machen. Ihn zu postulieren hat jedoch seinen Grund in einer Erfahrung, die Menschen im Umgang mit sich und der Welt an sich selbst machen. Sie leben wie selbstverständlich einen ihnen unmittelbar bewussten Zugang zu sich selbst und den Dingen dieser Welt. In ihrem Selbstgefühl sind sie als leibhaft existierende menschliche Individuen sowohl sich unmittelbar ihres eigenen Daseins bewusst, wie auch dessen, dass sie die Welt erkennen und absichtsvoll gestalten können. Dieses Selbstgefühl wird zum religiösen Gefühl, wenn sich Menschen zeigt, dass ihnen dieses Gefühl die absolute Einheit des Ganzen der Wirklichkeit zur Präsenz im Bewusstsein bringt, die sie ansonsten nur in Gedanken sich und ihrem Handeln in der Welt voraussetzen können.³⁶  Vgl. KGA II/10,1 (Anm. 11), 142 (Ausarbeitung Schleiermachers zur Dialektik 1814/15): „Dem gemäß nun haben wir auch den transzendentalen Grund nur in der relativen Identität des Denkens und Wollens, nemlich im Gefühl.“  Vgl. KGA II/10,2 (Anm. 11), 239 (Vorlesungsnachschrift zum Kolleg 1818/19).

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Schleiermacher identifiziert dieses Gefühl unmittelbar gespürter Selbst- und Weltpräsenz mit dem „religiöse(n) Gefühl“³⁷. Er kann sogar davon sprechen, dass dieses Gefühl als ein „Gefühl von Gott“³⁸ auftritt, was dann bedeutet, „daß mit unserem Bewußtsein auch das Gottes gegeben ist als Bestandtheil unseres Selbstbewußtseins sowohl als unseres äußeren Bewußtseins“³⁹. Die Einheit von Denken und Sein wie auch der Übergang vom Denken zum Wollen lassen sich nicht zum Gegenstand des Wissens machen. In einem transzendentalen Rückschlussverfahren ist die Einheit der Wirklichkeit aber als notwendige Voraussetzung alles gegensatzbestimmten Handelns in der Welt zu denken. Im religiösen Gefühl wiederum ist die Idee dieser Einheit auf eine dem handelnden Menschen selbst spürbare Weise da. Zwar nie so, dass er nur von diesem Gefühl beherrscht wäre, wohl aber so, dass es ihn in all seinem Handeln begleitet und ihm somit allererst ein die Gegensatzbestimmtheit seines Daseins durchdringendes Realitätsbewusstsein einstiftet.⁴⁰ Der Realismus im Selbst- und Weltbewusstsein, so könnte man auch sagen, wird von einem Identitätsbewusstsein getragen, das mit dem religiösen Gefühl im Menschen aufkommt. Allem gegensatzbestimmten Selbst- und Weltumgang zum Trotz macht dieser die Erfahrung, dass er in den Widerspannungen des Lebens nicht zerfällt, sondern sich die Erschlossenheit der Welt mit dem Gefühl der Gründung im Unbedingten verbindet. Dieses Gefühl als ein religiöses zu bezeichnen geht dann allerdings auch in der Dialektik bereits mit einer Deutung einher, zu der Schleiermacher sich berechtigt sieht, weil mit ihm das Aufkommen der Idee Gottes als der absoluten Einheit der Wirklichkeit einen anthropologischen Ort gewinnt. Von einem unmittelbaren Gegebensein der Idee Gottes im unmittelbaren, vorsprachlichen Gefühlsbewusstsein wird man dennoch nicht sprechen können, was Schleiermacher aber auch nicht tut. Er spricht davon, dass die mit dem Gottesgedanken vorausgesetzte absolute Einheit im „religiösen Gefühl“ „vollzogen“⁴¹ ist. Mit dem unmittelbaren Vollzug der absoluten Einheit, die mit dem Selbstgefühl zur Präsenz im Bewusstsein kommt, muss nicht einhergehen, dass dieses Gefühl als ein religiöses Gefühl bewusstwird. Schleiermacher macht in der Dialektik von der Be-

 Vgl. KGA II/10,1 (Anm. 11), 143 (Ausarbeitung Schleiermachers zur Dialektik 1814/15).  Vgl. KGA II/10,1 (Anm. 11), 143 (Ausarbeitung Schleiermachers zur Dialektik 1814/15).  Vgl. KGA II/10,1 (Anm. 11), 143 (Ausarbeitung Schleiermachers zur Dialektik 1814/15).  Vgl. KGA II/10,1 (Anm. 11), 143 (Ausarbeitung Schleiermachers zur Dialektik 1814/15): „Das religiöse Gefühl ist zwar ein wirklich vollzogenes aber es ist nie rein denn das Bewußtsein Gottes ist darin immer an einem anderen; nur an einem Einzelnen ist man sich der Totalität, nur an einem Gegensatz (zwischen dem eigenen Sein und dem außer uns sezten) ist man sich der Einheit bewußt.“  Vgl. KGA II/10,2 (Anm. 11), 239 (Vorlesungsnachschrift zum Kolleg 1818/19).

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zeichnung des Gefühls als eines religiösen lediglich im Sinn seiner transzendentalphilosophischen Argumentation Gebrauch. Wichtig ist ihm, dass dem Individuum in seinem unmittelbar ihm aufkommenden Selbstgefühl, das mit seiner denkenden und wollenden Existenz unweigerlich verbunden ist, zusammen mit der Unmittelbarkeit seines sich selbst Spürens, der tätige Vollzug der Einheit der Wirklichkeit bewusstwird. Dass Menschen, sofern dieses Gefühl in ihnen aufkommt – und das sind alle, indem sie sich im tätigen Vollzug ihres Weltzugangs zugleich selbst erschlossen sind – es als ein religiöses Gefühl verstehen und den Grund der in ihnen aufscheinenden Einheit Gott nennen, setzt soziokulturelle Kontextbedingungen voraus, die mit der Conditio Humana, zu der das religiöse Gefühl de facto gehört, nicht schon gegeben sind. Deshalb ist genau hier auch die Grenze markiert, die der Philosophie in der Aufstellung des transzendentalen Begriffs der Religion gesetzt bleibt. Weiter kommt sie nicht, sofern sie es mit den allgemeinen Prinzipien des Wissens zu tun hat. Es ist ihre Sache nicht mehr, die Motive und Inhalte religiöser Praxis, die die Praxis konkreter, mit den Erfahrungen des Lebens vermittelter religiöser Lebensdeutung ist, zu verstehen und zu beschreiben.

3 Von der anthropologischen Verortung der Religion zur kulturellen Praxis der Religion Das religiöse Gefühl ist im wirklichen Vollzug individuellen Lebens in die Gegensätze des Lebens eingebunden. Die Akte der religiösen Deutung des Lebens müssen geradezu durch die Gegensätze des Lebens hindurchgeführt werden, um sie in der Perspektive der immer vorauszusetzenden Einheit der Wirklichkeit verstehen zu können. Schleiermacher hebt in der Dialektik darauf ab, dass wir vermöge des „religiösen Gefühl(s) […] den transcendentalen Grund in uns“⁴² finden. Im Gedankengang der Dialektik ist dieses religiöse Gefühl „eine Abspiegelung des Seins, inwiefern die Gegensätze von Denken und Wollen darin aufgehoben sind“⁴³. Die absolute Einheit als transzendentales Argument, ihre Funktion in der philosophischen Letztbegründung, ist jedoch das eine, ihre Form der Gegebenheit im

 Vgl. KGA II/10,2 (Anm. 11), 572 (Vorlesungsnachschrift zum Kolleg 1822).  Vgl. KGA II/10,2 (Anm. 11), 572 (Vorlesungsnachschrift zum Kolleg 1822).

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religiösen Bewusstsein das andere.⁴⁴ Im einen Fall geht es um Fragen der philosophischen Prinzipienerkenntnis. Im anderen Fall geht es um den existentiellen Kontakt zum Absoluten in der konkreten Praxis religiöser Lebensdeutung und Lebensführung. Das transzendentale Argument und die religiöser Praxis liegen auf verschiedenen Ebenen, die voneinander unabhängig sind, aber doch auch sinnvoll aufeinander verweisen, weshalb Schleiermacher von irgendwelchen Rangordnungen zwischen Philosophie und Religion auch nichts wissen wollte.⁴⁵ Die Transzendentalphilosophie erkennt, wo das Wissen aufhört und die Religion anfängt. Die Religion überschreitet somit zwar die Grenzen der Philosophie. Aber das hat Konsequenzen in erster Linie für die Praxis des Lebens. Der Wert der religiösen Praxis liegt in ihrer Lebensdienlichkeit, insofern sie, wo sie sich recht entwickelt, die eigene Existenz in der Einheit des unendlichen Ganzen der Wirklichkeit auf bewusste Weise gründet und damit Sinngewissheit für ein Handeln in den Gegensätzen und Widersprüchen des Lebens ermöglicht. Diese existentielle Bedeutung hat die Religion selbstverständlich auch für den Philosophen in seinem Menschsein, nur muss er sich darüber im Klaren sein, dass sie ihm in seinem philosophischen, auf Letztbegründung zielenden Gedankengang nicht weiterhilft.⁴⁶ Das religiöse Gefühl, sofern es in einem Menschen nicht nur aufkommt, sondern als religiöse Lebensdeutung vollzogen wird, hat es eben nicht mehr mit dem Wissen und den Bedingungen seiner Möglichkeit zu tun, sondern mit dem Leben und den Gegensätzen, in denen es auf bewusste Weise von uns Menschen zu führen ist. Das religiöse Gefühl ist das Bewusstsein der Einheit in den Ge Vgl. Ulrich Barth, „Der Letztbegründungsgang der ‚Dialektik‘. Schleiermachers Fassung des transzendentalen Gedankens“, in: Ulrich Barth, Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen: Mohr (Paul Siebeck) 2004, 353 – 388.  Vgl. KGA II/10,2 (Anm. 11), 573 (Vorlesungsnachschrift zum Kolleg 1822): „Diejenigen, welche die religiöse Seite des unmittelbaren Selbstbewußtseins über die Funktion der Spekulation stellen wollen, und sagen, der Mensch könne mit seiner Denkfunktion den transcendentalen Grund nur suchen, weil er ihn hat, und die Art, wie er ihn hat, müsse ihn dort leiten, – diese verwechseln 2 ganz verschiedene Thätigkeiten.“  Vgl. KGA II/10,2 (Anm. 11), 240 – 241 (Vorlesungsnachschrift zum Kolleg 1822): „Indem der Religiöse seinen Zustand beschreiben wollte, so fand er dazu nur Mittel in Gedanken und Begriffen; sind diese seinen Gefühlen adäquat, so braucht er sie eben als Zeichen für sein Gefühl, indem er aber diese Vorstellung weiter gebrauchte in der Beschreibung der verschiedenen Modificationen des religiösen Gefühls, so kommt doch immer mehr heraus, dass das Gefühl dem speculativen Ausdrucke nicht adäquat ist, und dann entsteht ein Widerstreit zwischen Religion und Philosophie. Die Schuld davon aber liegt nur in der Art wie der Religiöse sich der Mittel der Philosophie bedient. Findet nun aber der Religiöse von Anfang an die Gedanken und Begriffe nicht adäquat, so entsteht gleich hier ein Streit zwischen Religion und Philosophie. Allein dies sind lauter Missverständnisse.“

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gensätzen des Lebens. Dieses Bewusstsein der Einheit in den Gegensätzen des Lebens ist uns Menschen mit unserem Selbstbewusstsein untrüglich mitgegeben. Es kommt als das Bewusstsein eines absoluten Gegründetseins, einer Gründung im Absoluten, dergestalt auf, dass es den Charakter eines Grundvertrauens ausbildet. Ob dieses seine Symbolisierung in einem Gottvertrauen findet und in die Praxis gemeinschaftlicher Vollzüge religiösen Lebens führt, hängt jedoch von geschichtlich kontingenten Bedingungen ab, von religiöser Erziehung und Bildung, von den Gelegenheiten, an religiöse Kommunikation Anschluss zu finden. Gelebte Religion in der Vielfalt ihrer Praktiken, symbolischen Artikulationen und geschichtlichen Gemeinschaften ist ein kommunikativer und kulturell situierter Tatbestand. Schleiermacher machte offensichtlich insbesondere in der Dialektik-Vorlesung von 1822⁴⁷ darauf aufmerksam, dass die Theologie im Unterschied zur Philosophie vom Gegebensein des religiösen Bewusstseins ausgeht, sie die begriffliche, sich zu Darstellungszwecken auch der Philosophie bedienende Reflexion auf die Selbstauslegung des religiösen Bewusstseins ist. Die Theologie geht vom Gegebensein dessen aus, am Ort des individuellen Subjekts wie der Gemeinschaft der Kirche, was die Philosophie in ihrem regressiv-kritischen Verfahren lediglich als Postulat des Denkens aufstellt. Da die theologisch-reflexive Darstellung des an sich selbst vorprädikativen religiösen Gefühls dann aber im Medium der Sprache, somit von Begriff und Urteil, erfolgt, kann sie ihrem Inhalt auch nicht vollständig adäquat sein. Es gilt deshalb das religiöse Gefühl von den Formen seiner Darstellung bzw. seines sprachlichen Ausdrucks unterschieden zu halten. Auch Religion als Lebensvollzug und Theologie, die ja ebenfalls mit Begriffen arbeitet, dürfen nicht mit einander verwechselt werden. Die Religion gehört zum Menschsein, auch wenn sie in ihrem praktischen Vollzug, der auch unterbleiben kann, von kontingent-geschichtlichen Kontextbedingungen abhängt. Als kontingent-geschichtlicher Vollzug des Sich-aufTranszendenz-Beziehens ist die gelebte Religion sowohl von der Philosophie wie von der Theologie unterschieden, wenn auch auf je unterschiedliche Weise. Von

 Vgl. KGA II/10,2 (Anm. 11), 573 (Vorlesungsnachschrift zum Kolleg 1822): „Es giebt freilich über das unmittelbare Selbstbewusstsein und über das religiöse eine Reflexion, aber diese ist durchaus nicht die Analyse der Denkfunction in Bezug auf den transcendentalen Grund. Was sind die Resultate der Reflexion über das religiöse Selbstbewusstsein? Wir finden sie in der Form der Glaubenslehre, und der transcendentale Grund kann hier nicht anders betrachtet werden, als in der Vermischung mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein. Daher die Darstellung der Gottheit in der Analogie mit dem Menschlichen Bewusstsein, was nicht zu vermeiden ist, […]. Ganz anders ist der Process, in dem wir begriffen gewesen sind, bis wir das unmittelbare Selbstbewusstsein zu Hülfe rufen mussten.“

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der Philosophie ist die gelebte Religion unterschieden, weil die Philosophie nur an der transzendentalen Synthesisfunktion des den transzendenten Einheitsgrund von Wissen und Wollen repräsentierenden Gefühls interessiert ist. Von der Theologie ist die gelebte Religion unterschieden, weil sie dem Bemühen, den symbolischen Ausdruck ihres praktischen Vollzuges und damit die Praxis ihrer geschichtlichen Vermittlung zu verstehen, immer schon vorausliegt. Als Hermeneutik der Praxis der Mitteilung gelebter Religion ist dann die Theologie allerdings auch wieder auf die Philosophie angewiesen. „Der Philosoph braucht also die Religion nicht für sein Geschäft, aber als Mensch, und der Religiöse braucht die Philosophie an und für sich nicht, sondern nur in der Mittheilung. An ein Primat ist nicht zu denken.“⁴⁸

4 Von der kulturellen Praxis zur interkulturellen Gesprächsfähigkeit gelebter Religion Schleiermachers allgemeiner, transzendentalanthropologischer Begriff der Religion bezieht sich auf das Gefühl in seiner für den menschlichen Selbst- und Weltumgang konstitutiven Funktion. Aus diesem Allgemeinbegriff der Religion folgt, wie wir gesehen haben, die Ansprechbarkeit aller Menschen auf Religion, nicht aber, ob, wie und welche Religion sie praktisch leben. Offen bleibt sowohl das Dass als auch das Wie der individuell und sozial gelebten Religion. Obwohl das transzendentale Gefühl konstitutiv zur menschlichen Selbstbeziehung und Weltstellung gehört, bleiben sowohl der Vollzug von dessen religiöser Selbstdeutung als dann auch die verschiedenen Symbolsprachen, in denen das religiöse Gefühlsbewusstsein artikuliert und kommuniziert wird, geschichtlich kontingent. Große religiöse Gemeinschaften gehen zudem auf dominante religiöse Erfahrungen bzw. Offenbarungen zurück. Der allgemeine Begriff der Religion lenkt die Aufmerksamkeit sowohl auf die Individualität wie die Pluralität der gelebten Religion.⁴⁹ Die begriffliche Unableitbarkeit der ebenso individuellen wie pluralen Religionswelt verlangt nach deren historisch-empirischer Wahrnehmung. Diese geschieht jedoch selbst wiederum auf der Basis einer je bestimmten Religion, da es

 Vgl. KGA II/10,2 (Anm. 11), 242 (Vorlesungsnachschrift zum Kolleg 1818/19).  Vgl. Wilhelm Gräb, „Religion ‚ist nicht anders möglich als in einer unendlichen Menge verschiedener Formen‘. Schleiermacher und die Vielfalt der Formen des Religiösen“, in: Religion und Religionen im Deutschen Idealismus. Schleiermacher – Hegel – Schelling, hg. v. Friedrich Hermanni, Burkhard Nonnenmacher, Friederike Schick, Tübingen: Mohr Siebeck 2015, 65 – 84.

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ja gar kein geschichtliches Menschsein ohne eine zumindest rudimentäre Entwicklung der religiösen Anlage gibt. Jede Deutung der Religion in der geschichtlichen Vielfalt ihrer Formen ist letztlich selbst von religiösen Voraussetzungen getragen. So nimmt auch die Deutung des Christentums und seiner Stellung in der Welt der Religionen den christlichen Standpunkt in Anspruch und führt zu einer christlichen Deutung der Religionsgeschichte. Dieser christlichen Geschichtsdeutung Schleiermachers werden wir Heutigen kaum zu folgen bereit sein. Zu sehr ist sie für uns von religionsimperialen oder zumindest forciert inklusivistischen Ansprüchen des Christentums geprägt. Schleiermachers Konzept der anthropologischen Allgemeinheit der Religion, die mit der Pluralität der geschichtlichen Religionen ebenso hervortritt wie in der unendlichen Vielfalt ihrer individuellen Äußerungen, kann aber immer noch eine Erklärung dafür bieten, warum religiöse Kommunikation über Differenzen des Religiösen und Säkularen hinweg funktioniert. Es eröffnet den Ausblick auf eine Verträglichkeit zwischen einem pluralimusoffenen und einem positionellen Verständnis von der Religion. Es zeigt zudem, dass ein auf die Verständigung mit anderen Religionen ausgehendes Religionsgespräch der je eigenen religiösen Wahrheitsüberzeugung keinen Abbruch tun muss. Ein solches interreligiöses Religionsgespräch kann sich nach Schleiermacher vielmehr mit der Erwartung verbinden, dass alle Menschen auf Religion ansprechbar und auf religiöse Ansprache zu antworten im Stande sind, auch dann, wenn sie einer religiösen Selbstdeutung nicht folgen wollen. Schließlich kann dieses Religionsgespräch unter der Voraussetzung geführt werden, dass die eigene religiöse Überzeugung durch die Begegnung mit dem Anderssein anderer religiöser Überzeugungen größere Klarheit über sich selbst und eine sie bereichernde Einsicht in andere religiöse Erfahrungs- und Deutungswelten gewinnt. Es wird nicht mit dem Ziel geführt werden, besondere religiöse Wahrheits- und Geltungsansprüche zu verteidigen, sondern es zieht seine gewinnende Kraft daraus, dass Menschen von der Lebensgewissheit Auskunft geben, die sie in ihrem individuellen Gefühlsbewusstsein als die je eigene empfinden.

Mari Mielityinen-Pachmann

Geschlechterrollen in der Erziehung Anthropologie der Geschlechter in Schleiermachers Pädagogik und Psychologie

1 Zur Einleitung Die Debatte über Geschlechtsunterschiede und die daraus resultierende Frage nach der Gleichberechtigung in der Erziehung sind nicht nur eine Besonderheit unserer heutigen Zeit. Dass die Frage nicht ‚rein biologisch‘ zu beantworten ist und dass kulturelle, nationale und auch sprachliche Bedingungen zu unterschiedlichen geschlechtsspezifischen Prägungen beitragen, sind ebenfalls keine Neuigkeiten. Da Schleiermacher das Thema der Geschlechtsdifferenz aus unterschiedlichen Disziplinen heraus behandelt, die Entwicklung seiner theoretischen Haltung über die Jahrzehnte sich spannt und diese zudem immer parallel zu seiner Gesamtphilosophie und zu den gesellschaftlichen Diskussionen und Entwicklungen zu betrachten sind, ist das Gesamtbild nicht gerade mit klaren Konturen gekennzeichnet. Jedoch bietet Schleiermacher in seiner Psychologie und Pädagogik eine ausdifferenzierte Grundlage für die Diskussion über die Geschlechterrollen. Er hat zwar keine Antworten bezüglich des ‚Soll-Zustandes‘ dieser Problematik in der Gesellschaft, aber mit Bezügen zum seinerzeit realgeschichtlichen Geschehen einerseits und mit ideellen Verknüpfungen zu mehreren anderen wissenschaftlichen Disziplinen anderseits, bieten Pädagogik und Psychologie für die anthropologische Betrachtung der Geschlechterrollen selbst für unsere Zeit mit einem pluralistischen Geschlechtsbild einen durchaus soliden Startpunkt. Den anthropologischen Voraussetzungen und damit verbundenen Fragen der Grenzen der pädagogischen Einwirkung bezüglich der Geschlechterrollen in der Gesellschaft sollte man sich in der heutigen Zeit mit Vorsicht annähern. Ob die Differenzen zwischen den Geschlechtern angeboren sind oder erst mit der Zeit entstehen – dementsprechend von der erzieherischen und kulturellen Einwirkung geprägt sind – ist ein immer wiederkehrendes Thema vor allem in der frühkindlichen Erziehung und der elementaren Schulbildung. Pikante Nuancen in die altbekannten Diskussionen bringen neuere Themen, z. B. das „dritte“ Geschlecht und diesbezügliche anzustrebende Neutralität der Sprache. Die Frage, inwiefern Schleiermachers auf Polaritäten beruhendes, aber gleichzeitig auch diese zu https://doi.org/10.1515/9783111025483-004

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überwinden suchendes Denken noch Gültigkeit hat oder der gegenwärtigen Diskussion sogar dienlich sein kann, wird zum Schluss noch aufgegriffen.

2 Anthropologie der Differenzen Anthropologie im Sinne eines „systematisch grundlegende[n] Rekurs[es] auf ein Wissen von der Natur des Menschen“ ist bei Schleiermacher in Reinform nicht zu finden.¹ Für Schleiermacher ist Anthropologie eine empirisch begründete Wissenschaft, die den Gegenpol für das Spekulative bildet. Empirie und Spekulation sind wiederum in der Gegensätzlichkeit von Natur und Vernunft begründet. Allerdings sieht Schleiermacher Anthropologie „noch nicht zur Wissenschaft erhoben“, da diese nicht den Ansprüchen einer Erfahrungswissenschaft genüge. Anderseits war es Schleiermachers Programm, den Gegensatz zwischen Empirie bzw. Erfahrungswissenschaft und Philosophie aufzuheben.² An der seinerzeit einflussreichen Anthropologie Kantischer Prägung kritisierte Schleiermacher den Dualismus zwischen der physischen und moralischen Anthropologie³ und dadurch des als endlich gedachten Natürlichen und des unendlich angenommenen Spekulativen und damit auch des Moralischen. Das Bestreben nach der Überwindung dieser Trennung kommt bereits in den Reden „Über die Religion“ zum Vorschein, wo Schleiermacher die Anschauung seitens der Natur, das Gefühl seitens des unendlich Geistigen und Moralischen in einer ursprünglichen Synthesis gesehen hat.⁴ Anthropologie als Wissenschaft wäre aber geradezu prädestiniert, um die Überwindung des Dualismus zu zeigen: Dass der Mensch nicht ein Naturwesen im Physischen und ein geistiges Wesen im Psychischen ist, sondern dass beide Seiten eben in Einem die Basiseinheit des Menschen bilden. Aus dieser Quelle heraus bildet sich letztendlich auch die Subjektivität und darauf beruht die Möglichkeit des Individuellen. Das ist insofern im Zusammenhang mit Pädagogik nicht trivial, als dass das Herausbilden der Individualität im Kern aller pädagogischen Bemühungen steht. Als Gegenpol zur Individualität steht der Mensch in seiner Sozialität. Den Menschen als freies gesellschaftliches Wesen und seine anthropologische Begründung hat Schleier-

 Andreas Arndt, Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin: De Gruyter 2013, 364.  Arndt 2013 (Anm. 1), 364.  Schleiermacher verfasste 1799 eine anonyme Rezension bzw. Kritik im Athenaeum (von den Schlegel-Brüdern gegründete Zeitschrift) über Kants Anthropologie. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) I/2, Schriften aus der Berliner Zeit 1796 – 1799, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter 1984, 365 – 369.  Arndt 2013 (Anm. 1), S. 366 – 367.

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macher in den frühen Schriften „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ (1799) sowie auch in den „Monologen“ (1800) beschrieben. Hier werden schon Schleiermachers Bemühungen deutlich, den kantischen Dualismus zu überwinden: Für Schleiermacher erreicht der Mensch die Anschauung im sprachlichen, kommunikativen Handeln in der Gemeinschaft – diese ist nicht, wie in der kantischen Philosophie, a priori in Vernunft vorhanden.⁵ Wenn die Anschauung erst im Kommunikativen seinen Platz hat und sozusagen nicht in der angeborenen Natur des Menschen liegt, ist die Anschauung demzufolge geschlechtsspezifisch auch nicht prädestiniert. In den für Schleiermacher üblichen Quadruplizitäten sind die Akzentuierungen bezüglich der hier betrachteten Problematik in den Vorlesungen zur Psychologie und Pädagogik zu unterschiedlichen Zeitpunkten der allgemeinen Entwicklung seines Gedankenapparats durchaus verschieden. Von den Quadruplizitäten ist beispielsweise die von Spontaneität – Rezeptivität und subjektives vs. objektives Bewusstsein relevant.⁶ Die neueste, kritische Pädagogik-Edition⁷ zeigt zudem Abweichungen zu den bisherigen Ausgaben, die letztlich auf die von Carl Platz in den Sämmtlichen Werken edierten Vorlesungen zur Erziehungslehre zurückgehen. Auf diesen und den Vorlesungen über die Psychologie basieren die Überlegungen zu der Geschlechtererziehung bei Schleiermacher. Die Seelenlehre geht explizit der Frage nach der Geschlechtsdifferenz nach. Da die angenommen angeborenen Differenzen der Geschlechter durchaus einen Einfluss auf die Erziehung haben (auch wenn die Frage bleibt, inwiefern diese Differenzen erst von der Erziehung heraus entstehen und bzw. oder verstärkt werden), ist die Betrachtung der anthropologischen Grundlage aus der psychologischen Sicht sinnvoll. Auch wenn sich Schleiermacher in seinen Pädagogik-Vorlesungen nicht explizit auf die Psychologie bezieht, liegen seine Theorien der Seele und der Ethik der Pädagogik zugrunde.⁸ Trotz der zwiespältigen wissenschaftlichen Lage der Anthropologie legt Schleiermacher diese Disziplin für Pädagogik als Voraussetzungswissenschaft zu

 Arndt 2013 (Anm. 1), 369.  Rezeptivität des subjektiven Bewusstseins meint Empfinden, des objektiven Betrachten, Erkennen. Spontaneität des subjektiven Bewusstseins äußert sich dagegen als Drang zur Tätigkeit, des objektiven als Hervorbingen von Gegenständen (vgl. Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/13, Vorlesungen über die Psychologie, hg. v. Dorothea Meier unter Mitwirkung v. Jens Beljan, Berlin / Boston: De Gruyter 2018, XXXVI).  Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/12, Vorlesungen über die Pädagogik und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht, hg. v. Jens Beljan / Christiane Ehrhardt / Dorothea Meier / Wolfgang Virmond / Michael Winkler, Berlin / Boston: De Gruyter 2017.  Johannes Schurr, Schleiermachers Theorie der Erziehung, Düsseldorf: Schwann 1975, 178 – 181.

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Grunde. Der natürliche Ausgangspunkt für die Erziehung wäre ja die anthropologische Behauptung, alle Menschen wären von Grund auf gleich. Empirisch ist die These aber nicht begründbar – genauso wenig wie deren Gegensatz, dass alle Menschen ursprünglich ungleich wären. So lässt Schleiermacher das Dilemma offen und spricht von „Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzungen“⁹.

3 Die Anthropologie der Geschlechter in der Psychologie Die bisher eher im Schattendasein gebliebenen, aber 2018 im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe erschienenen Psychologie-Vorlesungen – u. a. mit Notizen von Schleiermachers Hand – sind für die pädagogische Schleiermacher-Forschung eine große Bereicherung. Das zeigt auch die Argumentation bezüglich der Geschlechterrollen. In den Psychologie-Vorlesungen geht Schleiermacher nicht nur auf die Grundfragen der Geschlechter ein, sondern auch explizit auf die erzieherische Einwirkung gegenüber Mädchen und Jungen. Die Psychologie-Vorlesungen führen die „Differenzen der Einzelwesen untereinander“ schon zu Anfang der Vorlesungen ein – die ausführliche Darstellung folgt im Konstruktiven Teil. In der Pädagogik findet die Geschlechterdifferenz erst am Ende der Vorlesungsreihe ihren Platz. Durchaus interessant ist die auch die Tatsache, dass die Geschlechtsdifferenz überhaupt den Platz hier, in den Pädagogik- und Psychologie –Vorlesungen, hat und nicht in der Staats- oder Rechtslehre, so wie es in der Zeit vor der Aufklärung der Fall war¹⁰ – an dem Punkt ist Schleiermacher auch auf der Höhe seiner Zeit. Diese Pointe hat einen tiefergehenden anthropologischen Grund: Ehe bzw. Familie wurden nicht mehr nur als erste menschliche Gemeinschaftsformen gesehen, die herrschaftsförmig sich bilden. Die Ehe war somit auch nicht nur zweckgebunden an Zeugung und Erziehung der nächsten Generation gebunden, sondern eine auf natürlichem Grund bestehende, kulturell gefestigte Gemeinschaftsform, die auf zwei grundsätzlich unterschiedlichen Wesensarten der menschlichen Gattung basiert.¹¹

 Schurr 1975 (Anm. 8), 180.  Friederike Kuster, „Anordnungen der Natur – Grundlagen der Geschlechtererziehung bei Rousseau“, in: Zeitschrift für Pädagogik 56 (2010) 5, 666 – 677, hier: 671.  Kuster 2010 (Anm. 10), 671.

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Woher kommen Schleiermacher zufolge die Differenzen zwischen den Geschlechtern? Die wildesten Ansätze diesbezüglich findet man in den „Gedanken zur Psychologie“: Wer weiß ob nicht die Differenz des Geschlechts in der planetarischen Dignität der Erde wurzelt[?] Das weibliche repräsentirt die Erde selbst in ihrem abhängigen empfangenden Verhältniß zur Sonne. Das männliche repräsentirt die Erde selbst in ihrer Selbständigkeit die aber nur entstehn kann indem eben dieses Verhältniß ins Innere aufgenommen d. h. begriffen[,] erkannt wird.¹²

Aber warum sollte man die Anthropologie in der Psychologie suchen? Ganz nüchtern betrachtet: Die Aufgabe und das Interesse der Schleiermacherschen Psychologie ist es, die geistigen Tätigkeiten des Menschen darzustellen und für diese Analyse theoretisch von den physischen zu separieren. Der Grund, warum Schleiermacher auf der Suche nach den geschlechtsspezifischen Differenzen bei den psychischen Eigenschaften anknüpft, scheint auf der Hand zu liegen: Das biologische Geschlecht kann ohne weitere Spekulation als angeboren gelten, also nicht als etwas, das erst mit der Zeit entsteht. Solange es sich noch um rein äußerliche Eigenschaften handelt, kann man diese Behauptung in den meisten Fällen so stehen lassen. Allerdings ist die Grenze zwischen physischen und psychischen Eigenschaften fließend: Alleine beim Nervensystem oder auch bei physisch bedingten kognitiven Eigenschaften (Denken, Gedächtnis etc.) ist spekulativ, was angeboren ist und worauf Erziehung einen Einfluss hat. An der Stelle knüpft Schleiermacher an und geht in den Psychologie-Vorlesungen systematisch vor: Er sucht zuerst den gemeinsamen Nenner im menschlichen Seelenleben und geht danach auf die Differenzen ein. Obwohl Schleiermacher die Verschiedenheit der Charaktere in unterschiedlichen Völkern und Nationalitäten feststellt, ist hier nicht erstrangig von Interesse, welchen gesellschaftlichen oder sozialen Einfluss diese Unterschiede bei den Geschlechtern machen, sondern quasi der Einfluss des Geschlechts auf den Lauf der individuellen Entwicklung.¹³ Obwohl Schleiermacher recht kategorisch von den Geschlechtern spricht, ist er sich der „Ungleichheit der Ungleichheiten“ bewusst, die vom Zeitalter oder von den physischen Verhältnissen abhängen.¹⁴ Natürlich tangieren sich die Fragen mit denen der gesamten Gattung: Ganz nüchtern stellt Schleiermacher fest, dass der trivialste Grund für die „Duplicität

 KGA II/13 (Anm. 6), 7.  Arndt 2013 (Anm. 1), 185.  KGA II/13 (Anm. 6), 232; vgl. auch Arndt 2013 (Anm. 1), 186.

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der Geschlechter [ist, dass es], ohne die [..] auf Erden keine Gattung gäbe“¹⁵ Aber welche psychischen angeborenen Unterschiede können angenommen werden? Schließlich haben die Überzeugungen der Erziehenden darüber, welche Eigenschaften welchem Geschlecht zuzuordnen sind, einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Heranwachsenden. Obwohl Schleiermacher explizit keinen weiteren Unterschied zwischen den Geschlechtern macht, „kein einzelnes Element dem weiblichen Subject fehlte“¹⁶, stellen die Psychologie-Vorlesungen fest: „Wir behandeln von Anfang an beyde Geschlechter verschieden, und muthen ihnen auch Verschiedenes zu; es fragt sich: ist Eins der Grund des andern oder nicht?“¹⁷ Ähnlich wie in den Pädagogik-Vorlesungen, fragt sich Schleiermacher im Grunde auch hier, ob die Eigenschaften angeboren oder durch Erziehung oder Sozialisation bzw. durch die vorherrschenden Verhältnisse vermittelt sind. Die angeborene Gleichheit – genauso wie die angeborene Ungleichheit – lässt sich nicht beweisen. Dass die „Behandlung“, sprich: Erziehung, nicht egalitär ist, scheint unumstritten zu sein. Zugunsten des weiblichen Geschlechts lässt Schleiermacher festhalten und relativiert den strikten Dualismus: „trotz der ungerechten Behandlung doch einzelne Weiber sich hervor thun“¹⁸. Egal, ob der Grund des Unterschieds also an der Gesellschaft, die das männliche Geschlecht bevorzugt, an der Erziehung, die die Männer – bewusst oder unbewusst – bevorzugt oder an den unterschiedlichen psychischen Differenzen liegt, gibt es empirisch belegbare Ausnahmen, die jeder einfachen Regel widersprechen. In der hier zitierten „Berliner Nachschrift“ thematisiert Schleiermacher auch noch die Frage, ob die Bestimmung des Geschlechts körperlichen oder psychischen Ursprungs sei. Er spielt erstmal mit der Möglichkeit, dass der Unterschied im Bereich des Physischen liegt und die seelischen Eigenschaften folgen. Damit wäre die Sache geklärt. Nimmt man aber den entgegengesetzten Fall an und sagt, dass der Unterschied nicht im Bereich des Physischen liegt, müsste man eben die unterschiedliche psychische Beschaffenheit als Grund annehmen. Das würde aber folglich heißen, dass die Seele quasi schon von vornerein männlich oder weiblich wäre. Diese Hypothese lässt sich aber empirisch nicht überprüfen und bleibt reine Spekulation. Die körperlichen Differenzen sind zwar leicht festzustellen, aber zu Schleiermachers Zeit ließe sich nicht genauer sagen, inwiefern die

 KGA II/13 (Anm. 6), 1038; Dorothea Meier, Schleiermachers Psychologie. Eine Phänomenologie der Seele, Baden Baden: Ergon 2019, 186.  KGA II/13 (Anm. 6), 1040.  KGA II/13 (Anm. 6), 1040; Meier 2019 (Anm. 15), 186.  KGA II/13 (Anm. 6), 1040.

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weitere physiologische oder anatomische Beschaffenheit (z. B. die Nervensysteme oder das Gehirn) Differenzen aufweist.¹⁹ Einen Grund für die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sieht Schleiermacher in der frühen Sozialisation beziehungsweise in der damals herrschenden gesellschaftlichen Ordnung, nach der die Frauen für die häusliche Erziehung und zugleich für die frühkindliche Bildung verantwortlich waren und dadurch für die ungleiche Erziehung selbst zuständig seien. „Die Frauen haben den Haupteinfluß im Innern des Hauses und unter den jüngsten seiner Bewohner; was nun hernach die Männer im spätren öffentlichen Leben sind und thun, ist hervor gerufen durch diese erste weibliche Erziehung.“²⁰ Was auf den ersten Blick nach Geringschätzung der Frauen aussieht, ist für Schleiermacher an dieser Stelle eine Frage der Machtverteilung: Wo die Männer im öffentlichen Leben die Macht haben, haben dafür im häuslichen Leben die Frauen „die Kraft“. Des Weiteren ergibt sich aus dieser Konstellation sogar eine größere Rolle für das Häusliche, weil diese logischerweise weitreichende Wirkung in das öffentliche Leben hat. Dagegen folgt aus der öffentlichen, ‚männlichen‘ Seite weitaus geringere Rückwirkung auf die frühkindliche Bildung. Da das Häusliche sozusagen auch als ‚Puffer‘ für gesamtgesellschaftliche Impulse dient, [steht] „In Beziehung auf das Ganze [..] das weibliche Geschlecht dem männlichen gewiß nicht nach.“²¹ Der wichtigste Ertrag der Psychologie-Vorlesungen zum Thema Geschlechtsdifferenz ist zum einen, dass es nicht empirisch feststellbar ist, ob die Unterschiede angeboren oder ‚anerzogen‘ sind. Der zweite, noch wichtigere Punkt besteht darin, dass die unterschiedlichen Eigenschaften der Geschlechter nicht hierarchisch zuzuordnen sind, sondern komplementär zu einander stehen.²² So spricht Schleiermacher gegenüber den kritischen Betrachtern Klartext: „die Geschlechtsdifferenz stellt eine funktionale Differenz dar“. Sie begründet keine qualitative Ungleichheit der Einzelwesen, sondern die Gleichheit und Gleichwertigkeit ist die Voraussetzung dafür, dass die Geschlechter sich gegenseitig ergänzen. Elisabeth Hartlieb²³ fasst das treffend zusammen: Männer und Frauen repräsentieren als einzelne partikular verschieden die Menschheit. Das allgemein Menschliche setzt sich zusammen im Gefühl – und das dominiert bei der Frau. Das Gefühl ist auch im Kern des religiösen Selbstbewusstseins, das männliche Geschlecht hat hier seine Teilhabe am Religiösen durch die religiöse Anschau-

 KGA II/13 (Anm. 6), 1040.  KGA II/13 (Anm. 6), 1042.  KGA II/13 (Anm. 6), 1042.  Meier 2019 (Anm. 15), 188.  Elisabeth Hartlieb, Geschlechterdifferenz im Denken Friedrich Schleiermachers, Berlin: De Gruyter 2006, 193.

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ung.²⁴ Wie das religiöse Selbstbewusstsein von den beiden Dimensionen, die den Geschlechtern zugesprochen werden, sich zusammengesetzt, ist Komplementarität ein gutes Stichwort: Jeder der beiden Geschlechter hat idealtypische Funktionen und die bringen die entsprechenden, anthropologisch bedingten Eigenschaften mit sich. Schleiermachers Darstellung der Geschlechtlichkeit kommt fast einer natürlichen Gesetzmäßigkeit nahe, an der weder etwas verändert werden kann noch soll. Dass man in der Erziehung trotzdem eine bewusste Haltung bewahren sollte, bleibt angeraten.

4 Die Geschlechterrollen in der Erziehung Die Psychologie untersucht die anthropologischen Grundbedingungen der Geschlechtsdifferenz und stellt fest, dass wir über rein natürliche Anlagen, angeborene Eigenschaften, nichts empirisch Prüfbares wissen können, aber dafür die herrschenden sozialen Strukturen der Gesellschaft die Geschlechtsdifferenz zu einem gewissen Grad definieren und sogar determinieren können. In diesem Übergang von der Beschreibung der Geschlechtsdifferenz hin zu den Geschlechterrollen agiert Pädagogik. So lässt Schleiermacher ohne weitere wissenschaftliche Begründung gelten, dass die Geschlechter in den Bereichen der Kultur und Gesellschaft geschlechtsspezifisch, einander ergänzende Rollen haben. In der Erziehung wird die heranwachsende Generation der binären Einteilung entsprechend vorbereitet. Schleiermacher agiert auch in der Theorie der Erziehung mit unterschiedlichen Gegensätzlichkeiten, etwa der Gegenüberstellung von Rezeptivität und Spontaneität, des Besonderen und Allgemeinen oder auch von Gemeinwesen und Individuum. Woran die Unterschiede zwischen den Individuen liegen, dekliniert Schleiermacher mit den Gegensätzen ‚angeboren – nicht-angeboren‘ und ‚angestammt – nicht-angestammt‘ durch.²⁵ Auf der individuellen Ebene wiederum gibt es Differenzen z. B. durch Temperament, Talente und eben die eigentümliche Differenz der Geschlechter. Die zentrale Frage hier ist herauszufiltern, welche Rolle letztendlich das Geschlecht für den individuellen Werdegang spielt, wenn die anderen Faktoren mitberücksichtigt werden. Bezüglich der Temperamente stellt Schleiermacher (nun wieder in den Vorlesungen über die Seelenlehre) fest, „die Temperamente sind auch in beiden Geschlechtern und es ist nur ein Vor-

 Hartlieb 2006 (Anm. 23), 193.  KGA II /13 (Anm. 6), 239 – 267.

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urtheil daß einige überwiegend männlich wären und andre überwiegend weiblich.“²⁶ Schon der grundlegende Gegensatz Rezeptivität – Spontaneität unterscheide sich bei den Geschlechtern: Bei der Frau ist die rezeptive, aufnehmende Form ausgeprägt, bei dem Mann die tätige, spontane. Diese Tendenz zeigt sich in unterschiedlichen Lebensbereichen, z. B. In der Kunst oder in der Musik: Das eine Geschlecht ist eben auch hier eher die aufnehmende Seite, das andere die tätige; das weibliche repräsentiere überwiegend das Nachahmende, das männliche das Schaffende. Selbst in der Poesie, die eigentlich für Frauen typische Gefühlsträchtigkeit mit sich bringe, und bei Frauen die einzelnen Gefühle in „kleinsten Theilen“ auch „merkwürdig übereinstimmen“, bleibe das weibliche Geschlecht sozusagen beim konkreten Leben hängen und erreiche nicht die Allgemeinheit.²⁷ Überhaupt herrsche bei dem Mann das Allgemeine, bei der Frau das Besondere.²⁸ Die Pädagogik Schleiermachers baut insofern auf die Psychologie auf, dass die ‚Seelenlehre‘ die mentalen Strukturen des zu Erziehenden untersucht, die die Erziehung vorfindet. Schleiermacher stellt als Aufforderung für Pädagogik, die individuelle Eigentümlichkeit zu erkennen, ehe man pädagogisch auf sie wirken kann. Wenn man hier einfache kausale Zusammenhänge erwartet, wird man schon mit einer kurzen Darstellung der Grundtheorien bei Schleiermacher von der Komplexität überrascht. Johannes Schurr²⁹ hat in seiner unübertrefflichen Darstellung von Schleiermachers Theorie der Erziehung das Theoriegerüst mithilfe des ‚technischen Dreiecks‘ verdeutlicht. Die ‚Ecken‘ des Dreiecks sind Eidos, Topos und Telos. Die eidetische Theorie fragt nach dem ‚was‘, der Topos nach dem ‚wie‘ und das Telos nach dem ‚wozu‘. Die Theorien und dazugehörigen Fragen bedingen sich gegenseitig.Wenn das Wesen des Menschen adressiert wird, ist dies Gegenstand der eidetischen Theorie: Welche Vorstellungen hat man darüber, was Erziehung hervorbringen kann oder will – und auch, ob sie das hervorbringen kann, was sie will. Es geht um die Vorstellung vom Erzieher, welchen ‚Stoff‘ er in dem Zögling sieht. ‚Topos‘ hat im griechischen viele Bedeutungen, wird hier im Sinn von „Muster oder Modell, eine gewisse Ordnung oder Regel einer Tätigkeit“, wie etwas hervorgebracht werden kann³⁰ verstanden. Kurz formuliert: Was ist der Weg, den Erziehung gehen muss, um ihre Ziele zu erreichen, um das ‚Eidos‘ zu erzielen? Es ist eine Frage der Methode. Die dritte Theorie, ‚Telos‘, fragt nach dem ‚Zweck‘ und zwar nicht nur nach dem Zweck an sich, sondern auch nach dem Warum man tut, was man im erzieherischen Handeln tut? Ein kurzer Blick auf die     

KGA II/13 (Anm. 6), 29. KGA II/13 (Anm. 6), 396. KGA II/13 (Anm. 6), 398. Schurr 1975 (Anm. 8). Schurr 1975 (Anm. 8), 52.

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drei Ansätze macht deutlich, dass diese sich gegenseitig bedingen: Ohne Wesensbestimmung (‚was finden wir vor?‘) ist das ‚Wie‘ sinnlos. Schließlich ist die Frage der Zielsetzung unabdingbar – sonst wäre das Handeln im wahren Sinn des Wortes ohne Sinn und Zweck. Die praktische Erziehung sieht Schleiermacher als Erziehungskunst und als technische Disziplin. Gemeint ist natürlich nicht Technik im heutigen Sinne, sondern eine Art und Weise, um aus den vorfindlichen „Materialien“ ein Ziel zu erreichen: Ein Wissen darüber, wie man aus dem Gegebenen etwas hervorbringt. Neben diesem weiten Verständnis der Technik verwendet Schleiermacher Technik auch für Mitteilung von Kenntnissen und Fertigkeiten.³¹ Auch der Begriff der Bildung weicht von dem ab, was unter Anderem heute unter Bildung verstanden wird. Schleiermacher deutet nicht auf angelernte Inhalte oder gar auf Kompetenzerwerb hin. Bildung verweist auf Selbstbildung, die aber nur im dialektischen Rückbezug auf andere sich vollzieht. Diese Bezogenheit auf das Allgemeine gilt sowohl im praktischen bzw. moralischen Bereich als auch dem Erkennen. Selbstbildung heißt demzufolge auch immer zugleich die Bildung der Allgemeinheit – im weitesten Sinne Bildung der Menschheit.³² Von diesem theoretischen Grundgerüst aus lassen sich die Geschlechterrollen in der Erziehung systematisch in ihrer Komplexität betrachten. So lässt sich mit der eidetischen Theorie die Frage stellen, was sieht Schleiermacher in den Geschlechtern als ‚gegeben‘ oder vereinfacht formuliert: Was haben wir zu erziehen? Die Frage enthält eine ‚innere‘ und eine ‚äußere‘ Richtung. Als ‚innere‘ fragt die Theorie nach dem Anfang der Erziehung: Wann oder wo fängt die Erziehung an? Im Mutterleib, bei der Geburt oder erst, wenn die Intelligenz sich sichtbar macht?³³ Die ‚inneren‘ Faktoren sind in diesem Zusammenhang die, die das Kind – vereinfacht – mit sich bringt. Die ‚äußere‘ Frage der eidetischen Theorie sucht die äußeren Grenzen der Erziehung. Es geht um den zeitlichen Rahmen (Wann endet die Aufgabe der Erziehung?) und um den Umfang bzw. die Wirksamkeit der Erziehung, die Schleiermacher im einen Extrem mit „Allmacht“ definiert, im anderen Extrem mit „Ohnmacht“.³⁴ Dass das Ende der Erziehung schwer definierbar

 Schurr 1975, (Anm. 8), 50.  Schon in seiner Schrift ‚Monologen‘ (1799), lange vor seinen ersten Pädagogik-Vorlesungen, beschreibt Schleiermacher: „[..] jeder Mensch[..]“ soll „[..] auf eigner Art die Menschheit [darstellen], in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit Alles was aus ihrem Schoosse hervorgehen kann“ (Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) I/3, Schriften aus der Berliner Zeit 1800 – 1802, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter 1988, 18).  Schurr 1975 (Anm. 8), 351– 352.  Vgl. z. B. KGA II/13 (Anm. 6), 352.

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ist, hat Schleiermacher erkenntlich gemacht, wenn er spekuliert, dass man im weitesten Sinn sagen könnte, dass die Erziehung nie aufhört: Weil die Bildsamkeit des Menschen nie aufhört, hört die Außenwirkung auch nie auf. Sollte man aber das Ende der Erziehung im engeren Sinn als ‚eine gewisse Selbsttätigkeit‘ definieren, die für die Eigenständigkeit in einer größeren Gemeinschaft reicht, kann die Grenze unterschiedlich definiert werden. Die Kirche setzt diese mit dem Übergangsritus der Konfirmation, in der bürgerlichen Gesellschaft ist die Grenze fließender.³⁵ Die Ziele der Erziehung sind die Hervorlockung der individuellen Eigentümlichkeit und das ‚Abliefern‘ der heranwachsenden Generation an das Gesamtleben.³⁶ Als die maßgeblichen Bereiche des gemeinsamen Lebens benennt Schleiermacher Staat, Kirche, freies geselliges Leben im Allgemeinen sowie Wissenschaft.³⁷ Gesetzt in die kontinuierlichen Wechselwirkungen zwischen dem subjektiven und objektiven Bewusstsein sowie in die Disjunktion von Rezeptivität und Spontaneität ergibt sich für das Wirken der Geschlechter in den sittlichen Sphären ein differenzierteres Bild. Demnach hat es das weibliche Geschlecht in Bezug auf Religion, Wissenschaft, Kunst und öffentliches Leben rein empirisch wirkmächtig nicht an die Spitze geschafft. Zumindest gilt das von der objektiven, spontanen Seite. Dafür haben die Frauen ihre Stärke auf der subjektiven, rezeptiven Seite, und diese erreicht im religiösen subjektiven Selbstbewusstsein ihre Höhe. Für das männliche Geschlecht ist der Übergang in die bürgerliche Gesellschaft, der das Ende der Erziehung markieren soll, leichter zu definieren, da den Männern die höhere Ausbildung vorbehalten war. Für die Frauen – und im häuslichen Umfeld auch für Männer – gibt es diese einigermaßen eindeutige Grenze nicht.³⁸ Die Rollen des jeweiligen Geschlechts in der Gemeinschaft beschreibt Schleiermacher zwar so, wie diese in der damaligen Gesellschaft vorzufinden waren. Da aber Männer und Frauen grundsätzlich über die gleichen Dispositionen verfügen, sind die Rollen in den sittlichen Sphären vom Funktionalen hergeleitet. Die Komplementarität der Geschlechter innerhalb der Familie bietet die Grundlage für die Gleichstellung der Geschlechter auf der gesellschaftlichen Ebene. Ein weiterer Aspekt ist hier die offenbar scharfe Trennung des Privaten vom Öffentlichen. Es bildet sich nämlich dennoch eine enge Wechselwirkung zwischen dem Familiären und dem Politischen. Das Private bildet in Kleinformat die politische Sphäre ab: Wäre das weibliche Territorium, familiäre Erziehung,

   

Schurr 1975 (Anm. 8), 350. KGA II/13 (Anm.6), 628. Vgl. z. B. KGA II/13 (Anm. 6), 264. KGA II/13 (Anm. 6), 1038, 351.

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nicht in der Lage, stabile emotionale Beziehungen herzustellen, könnten diese im gemeinschaftlichen Leben auch als solche nicht gelebt werden.³⁹ Ganz allgemein gilt für beide Geschlechter, dass die Erziehung aufhört, wenn die jüngere Generation der älteren gleichsteht. Auch das Kriterium lässt sich verallgemeinern, dass die Erziehung dort aufhört, wo die Heranwachsenden selbst in der Lage sind „dem Bösen, das von selbst entsteht, entgegen zu wirken“⁴⁰ oder allgemeiner formuliert: Die Heranwachsenden haben die moralischen Regeln verinnerlicht und steuern ihr Handeln selbst – unabhängig vom Geschlecht. Die Frage nach dem Richtigen oder „was mit den einzelnen beabsichtigt werden solle“, konstatiert Schleiermacher als „Gebiet der Sittenlehre, auf ein sehr bestrittenes Feld“.⁴¹ Die Erziehung soll in Beziehung auf die einzelnen zu Erziehenden auf der einen Seite der inneren Kraft welche sich entwickeln will zu Hülfe kommen; und in Beziehung auf das Gewirkte die äußeren Verhältnisse gewähren lassen so doch daß diese in sofern sie charakterisirt sind als Zeichen und Folgen einer bestehenden fortgesetzten Ungleichheit die in der Erziehung behandeln als etwas das allmählig verschwindet.⁴²

Das Zitat zeigt mehrere Aspekte der pädagogischen Theorie Schleiermachers. Hier werden die Grundformen der Erziehung deutlich erkennbar, nach denen man die ‚natürliche‘ Entwicklung behüten und unterstützen, den ungewollten Eigenschaften entgegenwirken sollte. Ebenso ist das Gegensatzpaar des Äußeren und Inneren angesprochen. Die genetisch angelegte, in Stufen folgende Entwicklung liegt der Erziehung als Material vor, das man eben von außen zum gewissen Grad steuern kann. Selbst wenn man als Grundsatz annimmt, dass die Ungleichheit der Menschen angestammt ist, sollte das Ziel der Erziehung sein, diese durch erzieherisches Einwirken zu minimieren. Schleiermachers Argumentation bezüglich des Geschlechtsunterschieds folgt den Entwicklungsstufen – oder Perioden, wie Schleiermacher diese benennt – die das Individuum in der Kindheit und Jugend durchläuft. Die Perioden sind nicht nur durch das Alter zu begrenzen, sondern beschreiben eher das Verhältnis zu den Erziehenden und teilweise zu den pädagogischen Institutionen. In der ersten Phase, die von dem „eigentlichem Knabenalter“⁴³, dauert von der Geburt bis ungefähr zum Vorschulalter. Die Phase unterteilt sich noch in die Zeit vor dem Sprechen und in die der Sprachmächtigen, und die Erziehung geschieht größtenteils in der Familie. Die zweite Phase folgt     

Vgl. Kuster 2016 (Anm. 10), 669 zu Rousseaus Verständnis der Geschlechtsdifferenz. KGA II/13 (Anm. 6), 380. Schurr 1975 (Anm. 8), 349. KGA II/12 (Anm. 7), 575. KGA II/12 (Anm. 7), 734.

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ungefähr mit dem Übergang in die Sphäre der öffentlichen Bildung, in die Schule. Die dritte Periode führt die Kinder entweder in das praktische Leben oder in die höheren Schulen.⁴⁴ Parallel zu diesen Phasen erfolgt die Erziehung der Geschlechter: In der ersten Phase unterscheidet sich die Erziehung nicht viel. Schleiermacher begründet das auch mit einem gewissen Gerechtigkeitsargument: Wenn man die Geschlechter von vornherein unterschiedlich behandeln würde, würde das dem „Kastenwesen“⁴⁵ ähneln. Hier sollte das Geschlecht noch keine Rolle spielen, da die Kinder noch nicht in der öffentlichen Erziehung sind. Ihm zufolge ist „später […] eine ungleiche Behandlung vollkommen gegründet“.⁴⁶ In der zweiten Periode, im Knabenalter, „[geht] die Theilung mit Recht [an]“.⁴⁷ Hier spekuliert Schleiermacher, inwiefern die natürliche Entwicklung und die absichtliche Erziehung insofern zusammenfallen, dass beide nicht mehr scharf trennbar sind und ob die spätere Ausbildung und Rolle in der Gesellschaft schon in dieser Phase einen Einfluss haben. Den Unterschied zwischen den Perioden aber macht für Schleiermacher die Tatsache (oder eigentlich vielmehr die Annahme), dass die erste Periode „für alle Zeiten und Völker“ „identisch“ ist.⁴⁸ Demzufolge würden Kinder unabhängig von der Kultur und den historischen Gegebenheiten in der ersten Phase gleichbehandelt und in der häuslichen Umgebung erzogen. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Perspektive der bewussten Selbstwahrnehmung, die Schleiermacher in die Diskussion bringt: Zu dem Zeitpunkt der ersten Periode wird sich das Kind seines Geschlechts bewusst, aber dies ist die Zeit, wo „das höhere Bewusstsein noch schläft“⁴⁹. Die Erziehung (hier die institutionale Erziehung bzw. Bildung) differenziert aber schon hier, also bevor das Individuum bewusst sich für irgendeine ‚Richtung‘ entscheidet,⁵⁰ bzw. seine gesellschaftliches Tätigkeitsfeld wählt. So wird die Erziehung des weiblichen Geschlechts ‚zur Privatsache‘. Die männliche Erziehung ist politisch oder wissenschaftlich motiviert. In der dritten Phase nimmt die „Erziehung ihre bestimmte Richtung“, wenn die Jugend in dem gegliederten Schulsystem entweder nach der

 Jens Brachmann, Friedrich Schleiermacher. Ein pädagogisches Portrait, Weinheim: Beltz 2002, 110.  KGA II/12 (Anm 7), 681.  KGA II/12 (Anm 7), 376 – 377.  KGA II/12 (Anm. 7), 378.  KGA II/12 (Anm. 7), 378.  KGA II/12 (Anm. 7), 378.  KGA II/12 (Anm. 7), 378.

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niederen oder mittleren Schule in das praktische Leben überging⁵¹ oder die akademische Laufbahn an der Universität schlug.⁵² Bei der Darstellung der Perioden der Erziehung hält Schleiermacher stets die Spekulativität der Differenzierung vor Augen. Wenn es sich nicht voraussagen lässt, in welchem Bereich der Gesellschaft – oder mit Schleiermacher gesprochen: den Gemeinschaften der Kirche, der Wissenschaft, des geselligen Lebens oder des Staates – das Kind später mitwirken wird, ist eine Allgemeinbildung auf gewisse Weise ein Risikogeschäft. „Wenn es im einzelnen kein natürliches Verhältnis zu den Gemeinschaften giebt, in welche er treten soll, so herrscht hier bloße Willkühr“.⁵³ Wie die Geschlechterrollen zukünftig in der Geschichte sich gestalten, lässt Schleiermacher vorsichtig optimistisch offen. Ob die Tendenz der Ungleichheit der Geschlechter abnehmend sein sollte, bleibt in den Vorlesungen aus dem Jahr 1820/21 noch ungewiss: Es „hängt vom Politischen ab“.⁵⁴ In den Vorlesungen aus dem Jahr 1826 äußert er sich schon zuversichtlich und geht vom „ständigen Voranschreiten der kulturellen Entwicklung“ aus.⁵⁵ In seiner Pädagogik ist demzufolge eine gewisse emanzipatorische Tendenz zu erkennen. Ein Aspekt in der Verschiedenheit der Geschlechter ist für Schleiermacher die sittliche Frage über die Schuld beziehungsweise die Unschuld des Kindes. Hier wird zunächst der Bezug zum bewussten versus nicht-bewussten Handeln angesprochen. Unabhängig vom Geschlecht wird mittels der Sprache auf den Unterschied zwischen dem jeweiligen kulturell definiert Guten oder Schlechten aufmerksam gemacht. Ist der Unterschied dem Kind einmal bewusst, geht die Unschuld verloren. In der Erziehung kann man also entweder solange wie möglich das Gute und Böse nicht thematisieren und wenn das nicht mehr geht, auf das Böse verzichten. Unschuld ist in irgend einer Hinsicht Bewußtlosigkeit des Gegensatzes von gut und schlecht, aber Uebereinstimmung der Bewußtlosigkeit mit dem guten. Sobald die Bewußtlosigkeit mit dem schlechten übereinstimmt, wird sie Ungewissheit, und es wird notwendig den Gegensaz zur Sprache zu bringen. Sobald aber das Kind vom schlechten afficirt wird als Wahrnehmung oder Gefühl, so geht die Unschuld verloren. Die eine Maxime will also theils die Unschuld

 Das Schulsystem war in den mittleren Schulen in verschiedene Typen untergliedert. Vgl. hierzu Brachmann 2006 (Anm. 44), 109 – 110. Vgl. auch KGA II/12 (Anm. 7), 299 (Vorlesungen von 1813/14): Hier unterscheidet Schleiermacher auch zwischen städtischen und ländlichen Schulen für Mädchen: Auf dem Lande sollte die Elementarbildung innerhalb der Familie stattfinden. Eine reine Mädchenschule ist laut Schleiermacher die schlechteste Variante und gilt nur als Notlösung.  KGA II/12 (Anm. 7), 378.  KGA II/12 (Anm. 7), 384.  KGA II/12 (Anm. 7), 492.  KGA II/12 (Anm. 7), LXIX.

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bewahren, theils wenn der Gegensaz durch die Erziehung entwikkelt ist, die Anschauung des Bösen im einzelnen verhüten.⁵⁶

Nach oder neben dem Verhüten bzw. Behüten – in unserem Fall vor dem Bösen – kommt die zweite Grundform der Erziehung: die des Entgegenwirkens. In der Erziehungstheorie gewinnt diese Form der Erziehung chronologisch nach der Phase des Behütens Gewicht. Schleiermacher geht explizit auf die Geschlechtsdifferenz ein und gibt Hinweise für das Gegenwirken in Geschlechtererziehung: „Verhältniß der Erziehung zu den anderweitigen Einwirkungen in so fern sie ihr zuwider sind“⁵⁷. Das Gegenwirken ist natürlich in Kombination mit der zunehmenden Selbstständigkeit des Kindes zu sehen. An dieser Stelle tritt die Geschlechtsdifferenz zu Tage. Hier bezieht – oder vielleicht auch rechtfertigt? – Schleiermacher die Differenz bezüglich der unterschiedlichen gesellschaftlichen Rollen. Hieraus folgt schon daß die Maxime eine größere Anwendbarkeit hat für das weibliche Geschlecht, welches nie in einen so freien und großen Spielraum tritt und welches diejenige Selbständigkeit die auf dem Begriff ruht niemals erlangt, als für das männliche.⁵⁸

Dieses Prinzip hat seine Äquivalenz in der institutionellen Erziehung. Die weiterführenden Schulen waren nur für die Jungen vorgesehen, für Mädchen und Frauen die häusliche Erziehung. Die Politik, Kirche und Wissenschaft sind männliche Domizile. Von den vier von Schleiermacher erwähnten institutionellen Formen dagegen war das gesellige Leben für Frauen jedoch legitim. Auch im Religiösen hat die Frau ihren Platz, aber im Bereich des Gefühls, nicht als institutionelle Akteurin. Da die Mädchen auf das ‚harte‘ gesellschaftliche Leben nicht vorbereitet werden müssen, sah es Schleiermacher für vernünftig an, diese länger in der Phase der Unschuldigkeit zu lassen. Sie sollten quasi erst „geweckt“ werden, wenn sie soweit sind, dass sie „bildend auftreten“⁵⁹, was hier heißt, dass sie selbst als Mütter erziehend wirksam werden: Hiermit hängt auch zusammen daß man auf die Unschuld einen größeren Werth legt bei Mädchen als Knaben. Mädchen sollen zum Bewußtsein erst kommen wo sie wieder bildend auftreten.⁶⁰

    

KGA II/12 (Anm. 7), 271– 272. KGA II/12 (Anm. 7), 270. KGA II/12 (Anm. 7), 272. KGA II/12 (Anm. 7), 401. KGA II/12 (Anm. 7), 272.

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Das weibliche Geschlecht ist für das häusliche Leben und die frühe Erziehung prädestiniert. Das Bewusstsein über das Gute und Böse ist hierbei nicht notwendig – wenn nicht sogar schädlich. Der Beweggrund des Handelns beruht bei der Frau eben nicht auf dem bewussten Denken, sondern auf Gefühl, vor allem auf Liebe. Die sollte unmittelbar umgesetzt werden, nicht erst reflektiert. Das öffentliche Leben ist nicht ihr Element, sondern sie haben nur einen indirekten Einfluss darauf durch die freie Geselligkeit im häuslichen Leben. Dieses ist ihr Zentrum, und in diesem sollen sie eigentlich das reine Wesen der Liebe repräsentieren, und in jenem das der Schönheit. Dies ist etwas anderes als das Herrschen und Forschen, denn die Liebe herrscht nicht, und die Frauen sollen nur durch die Kraft der Liebe wirken, die Jugend lieben und das Ganze zusammenhalten. Da ist keine Kenntnis über jenen Gegensatz, sondern nur das reine Gefühl nötig, welches, ohne durch das klare Bewusstsein hindurchzugehen, in Tätigkeit übergeht.⁶¹

Wo das Gefühl ebenso als herrschendes Prinzip wirkt und demzufolge eine günstige Sphäre für die Frau darstellt, ist das freie gesellige Leben. Hier koppelt Schleiermacher das Gefühl mit der Menschenerkenntnis. Selbst hier ist es dem männlichen Geschlecht nützlich, dass es bewusst vom Guten und Bösen vorgeht und über eine moralische Urteilskraft verfügt. Ebenso ist im geselligen Leben bei den Weibern stets das Vorherrschende die Seite des Gefühls, und wenn wir ihnen eine genauere Menschenkenntnis zuschreiben, so ist die Form doch eine andere als bei den Männern und eine Wirkung des Gefühls und dunklen Instinkts. Die Kräfte, die sie brauchen und womit sie wirken sollen, bedürfen des bestimmten Bewusstseins, worin die Form jenes Gegensatzes aufgenommen ist, gar nicht; und selbst wenn sie bildend auftreten sollen, ist es nicht nötig, dass sie die Unschuld verloren haben, sondern eher, als bis der Gegensatz ihnen selbst Gegenstand wird, braucht er ihnen nicht ins Bewusstsein zu kommen.⁶²

Den Jungen gilt das andere Erziehungsprinzip, das sie auf die gesellschaftliche Verantwortung vorbereitet. Ohne das Bewusstsein der Existenz vom Guten und Bösen, d. h. ohne Schuldbewusstsein wäre das nicht möglich. Hier sollte Erziehung sogar gegen ‚natürliche‘ Entwicklung fungieren: Die Unschuld der Knaben zerstören, obwohl sie in ihrer Entwicklung, in ihrem Bildungsgang, noch nicht so weit wären, dass die erzieherische Einwirkung in dieser Form notwendig wäre. In Knaben muß es eher gewekket werden, weil mit der Unschuld weder ein wissenschaftliches noch herrschendes Leben verträglich ist, also auch nicht nähere Vorbereitung zu beiden. Hier ist also der Irrthum gar leicht, daß man die Unschuld zu lange erhalten will; der

 KGA II/12 (Anm. 7), 401.  KGA II/12 (Anm. 7), 401.

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Verlust [der Unschuld. Anm. MMP] kann daher nicht groß sein, wenn das Leben sie auch etwas früher zerstört als der Gang der Bildung es notwendig machte.⁶³

Man könnte diese Form der Erziehung etwa als eine Art Konfrontationstherapie verstehen: Die Knaben werden aus der Unschuld geweckt, damit sie mit der Differenz zwischen Gut und Böse zeitig konfrontiert werden und die eigene Positionierung somit üben können. Jede neue Situation stellt neue, andere Herausforderungen, aber die Heranwachsenden übernehmen zunehmend selbst die Verantwortung und allmählich werden sie sich selbst bewusst. Oder noch anders formuliert: Jedes Mal, wenn das Kind in eine neue Situation, ein neues Gebiet kommt, muss es durch diese Maxime des Gegenwirkens überprüft werden. Mit der Entwicklung verinnerlicht aber das Kind im Einzelnen die Moral und so nimmt das Gegenwirken „im Einzelnen ab“. Dass die Anwendbarkeit dieser Maxime „im Ganzen“ zunimmt, ist erklärlich dadurch, dass die Quantität (und dadurch natürlich die Qualität) in den Kontexten, in die die Heranwachsenden treten, zunimmt. […] jedes neue Gebiet in welches der Zögling eintritt, sezt wieder einen neuen Gegenstand für diese Maxime, in welchem ebenso ihre Anwendbarkeit abnimmt. Sie nimmt also im einzelnen immer ab, im ganzen aber zu, so lange der Zögling noch im Besiz seines ganzen Daseins ist.⁶⁴

Aber selbst wenn sich die Erziehung bei den Jungen in die natürliche Entwicklung einmischen darf, „giebt [es] einen Punkt, in welchem ihm für vieles auf einmal der Sinn aufgeht: das ist die Periode der Mannbarkeit, in welcher der Mensch eigentlich für alles höhere erst empfänglich wird“⁶⁵. Die „Mannbarkeit“ scheint auf die Pubertät hinzuweisen. Dass man durch diese Entwicklung auf „alles höhere“ empfänglich wird, hat einen Charakter einer naturalistischen bzw. genetischen Epistemologie, so, wie wir es aus der Theorie der kognitiven Entwicklung von Jean Piaget knappe 200 Jahre später kennen. Er hat versucht, den Wissenserwerb, das Anwachsen wissenschaftlicher Erkenntnis und deren phylo- und ontogenetische Entstehungsbedingungen, in methodischer Anlehnung an die Biologie empirisch zu erklären.⁶⁶

   

KGA II/12 (Anm. 7), 272. KGA II/12 (Anm. 7), 272. KGA II/12 (Anm. 7), 272. Jean Piaget, Abriß einer genetischen Epistemologie, Stuttgart: Klett Cotta 1980.

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5 Diskussion Zu Schleiermachers Zeiten waren sowohl das pädagogische Denken als auch die institutionelle Erziehung im Umbruch. Rückblickend und als Gesellschaftsdiagnose seiner Zeit konnte Schleiermacher behaupten, dass die Kinder unabhängig von Kultur und historischen Gegebenheiten in der ersten Phase der Erziehung – heute würde man es frühkindliche Bildung nennen – gleichbehandelt und in der häuslichen Umgebung erzogen wurden. Er war gesellschaftskonform in seiner Ansicht bezüglich der Differenzen der Geschlechter in der Gesellschaft. Plausibel wäre auch zu behaupten, dass Schleiermacher an dieser Stelle kühn eine Zeitdiagnose stellte und – ähnlich Humes Gesetz (Sein-Sollen-Dichotomie) – damit nicht den Soll-Zustand beschrieben hat. Dass sich die institutionellen Rahmenbedingungen für die frühkindliche Erziehung bis in unsere Zeit geändert haben, ist klar. Auf der sprachlichen Ebene will man im Deutschen die Egalität der Geschlechter durch die ‚Sternchensprache‘ annähern. Ob das wirklich dem gewünschten Zweck dient oder vielmehr noch die Differenzen hervorhebt, sollte an dieser Stelle eine offene Frage bleiben. Genauso spekulativ bleibt, ob die gleiche Behandlung der Geschlechter die Realität ist oder aber auch, ob sogar durch das bewusste Erstreben nach der Gleichheit die Unterschiede erst recht zum Objekt werden und dadurch in den Fokus rücken. Dies verweist auch auf das Zeitlose und zugleich das Geniale, was Schleiermachers Psychologie und Pädagogik über die Geschlechterdifferenz uns liefern: Der wissenschaftliche, geschlechtsneutrale Aufbau der Argumentation. Egal, ob Anthropologie, Psychologie oder Pädagogik: Zum einen zeigt Schleiermacher, dass man die Gegensätzlichkeit braucht, um die Balance zu halten. Selbst, wenn man Schleiermacher aus heutiger Sicht nicht zustimmt, dass Frauen die rezeptiven, nachahmenden, fühlenden und nicht kritisch denkenden Hausfrauen wären, muss man ihm Recht geben, dass die Pendelbewegung im Kern der Bildung ist. Egal, ob auf der gesellschaftlichen oder individuellen Ebene: Ohne die ewige offene Dynamik zwischen den Polen erstarrt sich das pädagogische Denken und Handeln. Schleiermachers begriffliches Grundgerüst bietet eine jahrhundertlang erprobte Möglichkeit, die Offenheit in die Hand zu nehmen und die Quadruplizitäten virtuell zu überprüfen. Dass Schleiermachers Anthropologie ausgerechnet in der Pädagogik ihre ‚Schwäche‘ zeigt⁶⁷ (oder als solche interpretiert werden kann), scheint eher eine

 Vgl. Arndt 2013 (Anm. 1), 365 „Wie in diesem Sinne mit der Anthropologie als einer noch nicht zur Wissenschaft erhobenen Disziplin zu verfahren sei, führt modellhaft Schleiermachers Pädagogik vor.“

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logische Konsequenz seines gesamtphilosophischen Werdegangs zu sein als eine echte Bruchstelle: Wo sonst als in der Erziehung offenbart sich die ganze Komplexität und Offenheit des menschlichen Wesens? Wenn man Schleiermachers Anspruch der Überwindung von Natur und Vernunft, von Anschauung und Gefühl, die relative Gegensätzlichkeit der Rezeptivität und Spontaneität und die des Allgemeinen und Besonderen ernst nimmt, muss man feststellen, dass Erziehung all das verkörpert, was immer nur im Werden ist. Oder wie Arndt treffend formuliert, dass man die „Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzungen demnach anzuerkennen und einen Kanon finden sollte, der beide Voraussetzungen […] berechnet: die Erziehung soll der inneren Kraft des zu Erziehenden zu Hilfe kommen, aber in Bezug auf das, was von dieser Entwicklung bewirkt wird, Unterschiede im Sinne vermeintlich natürlicher gesellschaftlicher Schranken nivellieren.“⁶⁸ Dass Schleiermacher das Geschlecht von der physiologischen Seite für einen relativ eindeutigen Sachverhalt hielt, dürfte wenig überraschen, genauso wie seine Aussagen zu den tagesaktuellen Rollen der Geschlechter in der Gesellschaft. Dass er aber in seiner Pädagogik seinem theoretischen Gesamtgerüst treu bleibt und letztendlich den kommenden Generationen und Individuen offenlässt, wie diese die Geschlechterdifferenz definieren und wie Erziehung gleichzeitig einerseits die Eingliederung in die bestehende Gemeinschaft und Gesellschaft ermöglicht, anderseits aber das Individuelle und Besondere notwendig herausfordert, zeigt wiederum die Stärke der Schleiermacherschen Theorie der Erziehung. Man muss nur die Ambivalenz und Offenheit des menschlichen Geschlechts aushalten können. Marginalisiert man die systematische Auseinandersetzung mit den Geschlechterunterschieden, tut man es als theoretische Verwirrung ab und sieht sie auch nicht einfach als Ausdruck des Zeitgeistes, sind Schleiermachers Konstrukte in der Vielseitigkeit aktuell. So wird die Frau auch nicht aus emanzipatorischen Interessen der Frauenforschung in der Rolle der Unterdrückten betrachtet. Wenn Schleiermacher – ganz im Geist der Aufklärung – die Gleichheit aller Menschen voraussetzt und in dieser Gleichheit und Gleichberechtigung (im Sinn von ‚rechtlich gesehen‘) die natürliche, fundamentale Differenz der Geschlechter feststellt, gibt es zumindest rein argumentationslogisch keinen Grund zu behaupten, dass Schleiermachers Motive frauenfeindlich oder diskriminierend wären. Durch die Anerkennung der fundamentalen Differenz ist sogar das Gegenteil der Fall: Gerade, wenn die Unterschiede anerkannt werden, wird die Besonderheit beider Geschlechter gewürdigt: Die Frau ist nicht ‚der schlechtere

 Arndt 2013 (Anm. 1), 365.

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Mann‘, sondern – etwas zugespitzt – eine eigene Art der Gattung und als solche nicht in der hierarchischen Beziehung zum Mann. Demzufolge ist die häuslichmoralische Erziehung oder die Privatsphäre als weibliches Terrain nicht als etwas Niederwertiges zu betrachten, sondern einerseits als notwendiger Gegenpol zu dem öffentlichen Leben, aber auch als Bedingung des Bestehens des öffentlichen Lebens. Es lässt sich fragen, ob die Gender-Debatten unserer Zeit in gewissem Sinn in die voraufklärerische Zeit zurückfallen, wenn sie die Identität der bzw. aller Geschlechter betonen? Mit Einbeziehung von anthropologischen, psychologischen und pädagogischen Grundtheorien von Schleiermacher lässt sich schlussfolgern, dass die simple Polarisierung der Diskussion nicht intelligent und zielführend ist. Die dualistische Argumentation, derzufolge die Frau aus der Rolle einer Unterdrückten in jeder Hinsicht analogisch zum Mann gesetzt werden sollte, übersieht die logische Falle, dass durch und in den Differenzen die Einzigartigkeit des ‚Artes‘ erkennbar ist. Indem Schleiermacher die allgemeine Beschaffenheit der Menschen beschreibt, sind die Geschlechter gleich. So wird beispielsweise epistemologisch nicht zwischen den Geschlechtern grundsätzlich differenziert. Dafür zeichnet sich die Eigenart der Frau im Medium des Gefühls aus: Die Frau hat so gesehen die Gefühlsmacht, selbst in den öffentlichen Sphären – die Macht sollte man auch nicht unterschätzen. Und selbst, wenn Schleiermachers Bild der Frau als Wächterin und Quelle der Wärme, Liebe und Zuneigung nicht immer der Realität entspricht, lässt sich das als ein gewisses theoretisches Idealmuster oder kategorischer Imperativ darstellen – gewissermaßen als Pendant zu dem Mann, der zu Vernunft stehen sollte.

Cornelia Richter

Der Mensch als sinnsuchendes Wesen Schleiermachers Anthropologie und Cassirers Essay on Man in aktuellen interdisziplinären Diskursen

Die Anthropologie steht aktuell nicht nur in der Theologie hoch im Kurs, sondern ist eine elementare Verständigungsgrundlage im interdisziplinären Gespräch. Interdisziplinäre Diskurse wiederum sind nur in divergenter Kontingenz zu haben, weil sie die Anthropologie aus hochgradig spezialisierten disziplinären Perspektiven betrachten und sich vor allem phänomen- und problemorientiert in inter- und transdisziplinären Forschungsverbünden treffen. Die Autorin führt dieses Gespräch seit mehreren Jahren vor allem mit Kolleginnen und Kollegen aus Philosophie, Ethik und Soziologie, Psychosomatik und Psychotherapie, Allgemeinmedizin und Palliativmedizin.¹ Im Kontext der Theologie ließen sich für diesen Diskurs zahlreiche anthropologische Positionen als zentrale Gesprächspartner*innen benennen, allen voran sicherlich Helmut Plessners philosophische Anthropologie. Dennoch soll es im vorliegenden Beitrag um das Gespräch zwischen Schleiermacher und Cassirer gehen, weil beide auf eindrückliche und wirkungsgeschichtlich nachhaltige Weise gezeigt haben, was es heißt, den Menschen als sinnsuchendes Wesen zu verstehen. Mit Schleiermacher ist der Sinnbegriff an Religions- und Subjektivitätstheorie gebunden, mit Cassirer wird der Sinnbegriff in einer am Neukantianismus ausgerichteten kulturtheoretischen Phänomenologie bearbeitet. Für beide Ansätze gilt, dass die Sinndimension konstitutiver Bestandteil der Anthropologie ist, ungeachtet der Tatsache, ob man nach dem Menschen in einer religionstheoretischen, ästhetischen oder zum Beispiel in einer soziokulturellen Perspektive fragt. Es kommt hinzu, dass sich sowohl Schleiermacher als auch Cassirer intensiv in das Gespräch mit anderen Wissenschaften begeben haben, und zwar weit über die klassischen Bezugsdisziplinen der Theologie und der Philosophie hinaus. Bei Schleiermacher reicht die Bandbreite unter anderem von der Philologie und Ästhetik über Psychologie und Naturphilosophie bis zur Statistik, bei Cassirer reicht sie unter anderem von der Sprachphilosophie über Kunsttheorie und Religionswissenschaften bis zu Mathematik und Neurowissenschaften. All diese Felder werden – eine unverzichtbare Voraussetzung für das interdisziplinäre Gespräch – jeweils in ihrer Eigenlogik wahr- und ernstgenom-

 Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projekt Nr. 348851031. https://doi.org/10.1515/9783111025483-005

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men und dennoch auf den Kerngedanken des Menschen als sinngebendes Wesen konzentriert. Schleiermachers Anthropologie ist dabei aus seinen Schriften zu rekonstruieren und bleibt im Sinne eines geschlossenen Textes letztlich Fragment, Cassirers Essay on Man ² ist nicht nur eine fertige Monographie, sondern auch eine Art rückblickende Summe seines Denkens, die er aus seiner Philosophie der symbolischen Formen entwickelt. Diese Ausgangslage legt erstens die vergleichende Analyse von Schleiermacher und Cassirer nahe, wobei es einzelne Querbezüge zu aktuellen Diskursen gibt. Zweitens legt es sich nahe, die Interpretation in der Bewegung von außen nach innen und zurück nachzuzeichnen, wobei mit außen Werkanlage und disziplingenetische Einordnung gemeint sind und mit innen die im Kern zentralen Funktionsmodi der Anthropologie. Im Anschluss an die Einleitung schlängelt sich der Weg in Kapitel 1 bei Schleiermacher von außen nach innen, in Kapitel 2 bei Cassirer geht er von innen nach außen. In Kapitel 3 wird die mit Cassirers Position verbundene Tragik der Anthropologie thematisiert und in Kapitel 4 geht es um die Frage, in welcher Hinsicht die Einsicht in Cassirers tragische Anthropologie für das aktuelle interdisziplinäre Gespräch anschlussfähig ist und dabei über Schleiermacher und Cassirer hinausgehen müsste.

1 Anthropologie bei Schleiermacher Wer Schleiermachers Anthropologie rekonstruieren möchte, ist auf die Gesamtheit seiner Werke angewiesen. In diesem, aber freilich auch nur in diesem, polemischen Sinne wäre Karl Barth und seinen Schülern recht zu geben, dass Schleiermachers gesamte Theologie ja ohnehin nur vom Menschen aus verfasst sei. Daran ist richtig, dass es meines Erachtens keine einzige Schrift Schleiermachers gibt, in der es nicht in einer spezifischen Hinsicht um die Reflexion menschlicher Lebensverfasstheit ginge. Dieser Eindruck findet sich bestätigt bei Jörg Dierken, der mit dem Vortrag „Der Mensch und seine Seele“ den Schleiermacher-Kongress 2015 eröffnet hat: Bereits die ‚Reden‘ von 1799 entfalteten mit der Frömmigkeit einen Grundzug des Menschlichen in verschiedenen subjekt- und sozialtheoretischen Konstellationen, und die ‚Monologen‘ von 1800 beschrieben die Individualität des Menschen im Kontext von ethischer Selbstbildung im Lebenslauf. Schon daraus wird ersichtlich, dass es nicht um eine invariante

 Ernst Cassirer [1944], An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven: Yale University Press 1994; deutsch: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, PhB 488, Hamburg: Meiner 1996.

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anthropologische Formel zur Feststellung des ‚Wesens‘ des Menschen geht, sondern um dynamische Wechselbezüge zwischen Phänomenen des Menschlichen und geschichtlichkulturellen Lebenszusammenhängen. […] Subjektive Vermögen wie Erkennen, Gefühl und Handeln prägen sich in objektiven Institutionen aus, und diese bilden gerade in ihrer Eigenart als Kirche, Staat, Geselligkeit oder Wissenschaft Wechselverhältnisse. Das haben die kulturtheoretisch ausgerichteten Schriften zur philosophischen und theologischen Ethik herausgestellt. […] Die ‚Psychologie‘ (ab 1818) hat es [schließlich, CR] mit den Ausprägungen der Vernunft im Inneren des Menschen zu tun, dessen Leben immer auch leibhaft-organisch verfasst ist.³

Fügt man dem zum Beispiel noch die Weihnachtsfeier hinzu, dann hat man eine Anthropologie vor sich, die all das an einer individualisierten Typologie und Charakterstudie szenisch durchspielt und sich in den Predigten eben diesem Spektrum bürgerlicher Öffentlichkeit in konstitutiv dialogischer Weise performativ zuwendet. Die Stärke dieser Anthropologie liegt ohne Zweifel in der engen Wechselwirkung von Natur und Geist, Leib und Seele, die Schleiermacher mit und gegen Kant in all seinen philosophischen Reflexionsgängen bearbeitet. Kant kommt sicherlich das Verdienst zu, in den Debatten des 18. Jahrhunderts, maßgeblich bestimmt durch Descartes oder Hobbes, die Anthropologie als eine von der alten theologischen Metaphysik unabhängige eigene Disziplin mit etabliert zu haben: Was der Mensch ist, sollte nicht länger aus der spekulativen Metaphysik zwischen Geschöpflichkeit bzw. Ebenbild Gottes einerseits, Sündenfall und Sündersein andererseits abgeleitet werden, sondern im Hier und Jetzt angeschaut und beobachtet werden. Es ging in seiner Zeit daher um die Anatomie des Körpers insgesamt, geschlechtliche Anatomien und Geschlechterzuschreibungen, Körpertemperaturen, sogenannte „rassebedingte“ Eigenschaften und Qualitäten, Leistungsstärken und -schwächen, um den Zusammenhang von Physiognomien und Charakteren, und um alle damit zusammenhängenden körperlichen Absonderlichkeiten, was sich bis zum heutigen Tage an den pathologischen Sammlungen der naturhistorischen Museen ablesen lässt.⁴ All das deckt sich mit dem großen Interesse an der Psychologie, die längst in aller Munde war, auch

 Jörg Dierken, Der Mensch und seine Seele – Eröffnung des Kongresses und Einführung in das Thema, in: Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, hg. v. Arnulf von Scheliha / Jörg Dierken (SchlA 26), Berlin / Boston: De Gruyter 2017, 1– 7, hier: 1.  Zu den berühmtesten Museen der Aufklärung gehört sicherlich das Naturhistorische Museum Wien, eng verbunden mit Kaiser Franz I., Stephan von Lothringen und Kaiserin Maria Theresia, mit einer ersten Naturaliensammlung 1750; die Gründung der Anthropologischen Gesellschaft folgte 1870 und 1876 wurde die zugehörige Anthropologisch-Ethnologische Sammlung im Naturhistorischen Museum Wien begründet.

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wenn man noch höchst skeptisch war, wohin das Interesse für das Triebhafte, Emotionale und anderweitig Unkontrollierbare im Menschen führen sollte. Hand in Hand mit der Ausbildung von Anatomie und Medizin wurde der Mensch allmählich zum Gegenstand der naturwissenschaftlichen Forschung, auch wenn es diesen Terminus zum damaligen Zeitpunkt nicht im heute üblichen Gebrauch gab. Der Organismusbegriff war hierfür ebenso wegweisend, wie die kulturethnographischen und geographischen Studien Alexander von Humboldts, eng verbunden mit Herders Kulturtheorie und der entstehenden Ethnologie, erwachsen aus den Reiseberichten, nicht zuletzt der Missionare. Erst allmählich etablierten sich im weiteren Verlauf die ersten modernen psychiatrischen Kliniken, die keine „Narrentürme“ (wie in Wien)⁵ mehr waren und erst am Wechsel ins 20. Jahrhundert eingerichtet wurden – all das sind wissenschaftliche Fachdisziplinen, die wir aus heutiger Sicht für unabdingbar halten zur Bestimmung des Menschen. Freilich hat Odo Marquard zu Recht darauf hingewiesen, dass die Anthropologie zur Zeit Kants zwar bereits ein dezidierter Versuch der Emanzipation von der einerseits metaphysischen, andererseits moralischen bzw. moralisierenden Anthropologie der Theologie war, dass sie sich aber nicht ohne weiteres aus ihren metaphysischen Denkräumen verabschieden konnte. Deshalb sei im 17./18. Jahrhundert der Begriff der Natur zu einem Leitbegriff geworden, der metaphysisch konnotiert bleibe und dessen begriffliche Reichweite empirische und moralische Reflexionsgänge in sich fasse:⁶ Nicht nur Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von 1796/97, auch seine gesamte kritische Philosophie bewege sich in diesem Dreiklang von Metaphysik, Moralität und Natur. Dass der Mensch in dieser anthropologischen Perspektive gerade nicht als Krone der Schöpfung, sondern als „Mängelwesen“ (so später Arnold Gehlen)⁷ offenbar wurde, das schien geradezu zum Tenor zu werden. In der Medizin zeigte sich ohnehin die mangelhafte körperliche Ausstattung und Lebenstüchtigkeit des Menschen und auch für Kant

 Der sog. „Narrenturm“ in Wien wurde 1784 unter dem Namen „k.k. Irrenanstalt zu Wien“ als erste Anstalt Europas für die Versorgung psychisch-kranker Menschen gegründet; auch wenn die Einrichtung revolutionär war, erfolgte die „Versorgung“ unter menschenunwürdigen Bedingungen. Moderne Standards der Krankenpflege wurden erst sehr allmählich entwickelt. Seit 1971 befindet sich dort die pathologisch-anatomische Sammlung. Vgl. Stätten des Wissens. Die Universität Wien entlang ihrer Bauten, hg. v. Julia Rüdiger / Dieter Schweizer,Wien u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. Vgl. generell zur Geschichte der Psychiatrie: Burkhart Brückner, Geschichte der Psychiatrie, Köln: Psychiatrie Verlag 22015.  Odo Marquard, „Anthropologie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 1, hg. v. Joachim Ritter, Basel / Berlin: Schwabe 1971, 362– 374, hier: 363.  Arnold Gehlen [1940], Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin: AULAVerlag 162014.

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zeigte sich in der faktisch gelebten Moralität das dauernde Versagen des Menschen, dessen autonomer Vernunftgebrauch ihn doch eigentlich zu gelingender Moralität befähigen können müsste. In der späten Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793 ist der Mensch für Kant daher nur noch „krummes Holz“, das niemals mehr gerade zu richten sein wird, weshalb er auf die Sozialität bzw. seine kulturelle Einbettung angewiesen ist.⁸ Schleiermacher reagiert auf diese Debattenlage mit der ihm eigenen lebensnahen Beweglichkeit und optimistischen Grundhaltung. Mit Kant weiß er um die Bedeutung einer von metaphysischen Inhalten unabhängigen Anthropologie, mit Kant weiß er um die Unterscheidung von Metaphysik und Moralität, mit Kant argumentiert er für die elementare Unterscheidung von Leib und Seele, aber gegen Kant und über Kant hinaus argumentiert er für eine wesentlich fundamentalere Bezogenheit und wechselseitige Bedingtheit von Natur und Geist, Leib und Seele. Deshalb kann Schleiermacher in seinen Vorlesungen über die Psychologie auch sagen: Wir müssen uns die Möglichkeit des Zusammenhanges zwischen dem Verhältniß dieser materiellen Elemente und dem Verhältniß der wirklichen psychischen Lebensthätigkeiten denken. Wenn man dies auf eine solche Weise fortsetzen wollte, so sagen wir dies würde dahin endigen, daß wir die ganze Anthropologie aufnehmen müßten aus dem Standpunkt des Geistes betrachtet und umgekehrt die ganze Psychologie aus dem Gesichtspunkte des Leibes betrachtet. Es würde dann aber doch von dem rein Organischen nur das Verhältniß zu dem rein Geistigen in unsere Betrachtung aufgenommen. Der Grund einer Theilung ist also das Interesse an dem rein Geistigen als dem höchsten Menschlichen. Halten wir die Sache so, so sind wir weder in der Einseitigkeit des Materialismus noch in der Einseitigkeit des Spiritualismus. ⁹

Jede geistige Tätigkeit sei für Schleiermacher leibbezogen, so Jörg Dierken noch einmal, aber der Seele komme der Primat zu. „Sie symbolisier[e] eine implizite Sollbestimmung und überform[e] im Idealfall kultivierend den Leib.“¹⁰ Das Wie dieser kultivierenden Überformung wiederum könne nirgends anders als in der kultur- und geradezu systemtheoretisch zu analysierenden menschlichen Le-

 Volker Gerhardt, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart: Reclam 2002, 259 – 260, Erörterung zu I. Kant, AA 8, 23.  Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/13, Vorlesungen über die Psychologie, hg. v. Dorothea Meier unter Mitwirkung v. Jens Beljan, Berlin / Boston: De Gruyter 2018, 635 (Nachschrift Sickel 1830). Vgl. das pointierte Zitat bei Eilert Herms, „Leibhafter Geist – Beseelte Organisation. – Schleiermachers Psychologie als Anthropologie. Ihre Stellung in seinem theologisch-philosophischen System und ihre Gegenwartsbedeutung“, in: Der Mensch und seine Seele (Anm. 3), 217– 243, hier: 226.  Dierken 2017 (Anm. 3), 2.

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benswelt verstanden werden, weshalb es im Grunde ganz logisch ist, dass Schleiermacher, ähnlich wie Hegel oder Luhmann, in seinen Schriften beinahe das gesamte Panoptikum der Kultur abgebildet hat. Dem entsprechend ist die Grundorganisation des Menschen bei Schleiermacher traditionell zu bestimmen als sein Symbolisieren im Sinne des Erkenntnisvermögens und sein Organisieren im Sinne des Gestaltungsvermögens.¹¹ Auf dieser Basis bestimmt Herms die Anthropologie als die „Selbstbetrachtung und Selbsterfassung des Menschen als leibhaft-innerweltliches Ich.“¹² Freilich, ausgeführt habe Schleiermacher seine Psychologie aus kontingenten Gründen nicht, so Andreas Arndt: Die Psychologie bleibe aus der Dialektik ausgegliedert, werde auch nicht der Ethik neu oder anders eingeschrieben, sondern hänge „ortlos zwischen Physik und Ethik“ und „Empirie und Spekulation“.¹³ Letztlich bleibe sie ungelöst. Im Blick auf die religiöse Dimension der Anthropologie ist im Rahmen dieses Beitrags von besonderem Interesse die theoretisch starke, in der inhaltlichen Explikation aber auffällig zurückhaltende Reflexion des transzendenten Grundes. Denn von ihm her entwickelt Schleiermacher v. a. in der Dialektik von 1814/15, dass es konstitutiv zum Menschen gehöre, dass er immer beides zugleich sei, Denken und Gedachtes und sein Leben nur im Zusammenstimmen beider habe. Der transzendente Grund fungiert bei Schleiermacher damit als letzte Einheitsfigur, die im unmittelbaren Selbstbewusstsein im Menschen konvergiert. Es geht Schleiermacher dabei nicht um eine substantiell oder essentialistisch gedachte Entität, sondern der transzendente Grund ist für ihn Bedingung sine qua non für alle Erkenntnis, stellt sich aber – das ist entscheidend – im Vollzug der Einigung von Vernunft und Organischem erst her. Der transzendente Grund ist konstitutives Prinzip, das nur vollzugsförmig zur Geltung gelangen kann.¹⁴ Mit Andreas Arndt lässt sich an dieser Stelle die Auffälligkeit festhalten, dass Schleiermacher in den verschiedenen Ausführungen der Dialektik diese mit der Psychologie an- und miteinander als gegenläufige und komplementäre Disziplinen zugleich ausbildet: Die rationale Psychologie behalte ihren Platz in Schleiermachers „Transformation der metaphysischen Tradition“, und sei darin von der Psychologie als Einzeldisziplin zu unterscheiden, die er nun eben aus der Dialektik ausgliedere.¹⁵ Dessen

 Vgl. u. a. KGA II/13 (Anm. 9), 748 – 799 (Nachschrift Sickel 1830).  Herms 2017 (Anm. 3), 235.  Andreas Arndt, „Schleiermacher Psychologie – eine Philosophie des subjektiven Geistes?“, in: Der Mensch und seine Seele (Anm. 3), 245 – 256, hier: 253.  Vgl. Cornelia Richter, Die Religion in der Sprache der Kultur. Schleiermacher und Cassirer – Kulturphilosophische Symmetrien und Divergenzen, Tübingen: Mohr Siebeck 2004 (Religion in Philosophy and Theology 7), Kap. III, bes. 66 – 67.  Arndt 2017 (Anm. 3), 251.

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ungeachtet bleibt der funktionale Charakter des transzendenten Grundes durchgehend erhalten, denn in den Reden Über die Religion zeigt sich dieser transzendente Grund als das auf den Betrachter wirkende Universum, dem der Mensch dank seiner natürlichen Anlage zugewandt ist, in der Weihnachtsfeier als das in der naiv-kindlichen Offenheit durchscheinende Absolute, in der Dialektik wird er in verschiedenen Versionen als transzendenter Grund wissenschaftstheoretisch expliziert, in der Ethik ist er Garant für den Zusammenhalt der lebensweltlichen Realisierungsdimensionen, in der Glaubenslehre ist er das „Woher“ der schlechthinnigen Abhängigkeit, in den Predigten ist er die trotz aller Glaubenszweifel und Anfechtung vertrauensvoll zu vergegenwärtigende gemeinsame Bezugsdimension der Gemeinde. In jedem Fall ist diese religiöse Dimension bei Schleiermacher ebenso theoretisch stark, weil im strengen Sinne grundlegend, wie inhaltlich zurückhaltend, weil antidogmatisch formuliert. Mit Eilert Herms lässt sich sagen: Schleiermacher geht es darum, dass der Mensch seiner selbst nur inne wird, indem er sich als Teil der Welt und seiner Geschichte begreift, […] die aber ihrerseits geworden [sei] und im Werden verbleib[e] und somit auch ausgeliefert [sei] an ein Werden, das die menschliche Geschichte selbst umgreif[e] und also auch über das Menschsein hinausführ[e] und das heiß[e]: ausgeliefert an die alles bestimmende absolute ‚Tätigkeit‘ und ‚Selbstdarstellung‘ des Universums, nämlich seine ‚Selbstoffenbarung‘. […] Die Anthropologie erkenn[e] diese Grundbefindlichkeit als ihre eigene Möglichkeitsbedingung, also auch als die Möglichkeitsbedingung aller Selbsterfassung und Selbstgestaltung des Menschseins.¹⁶

Dazu passt der Hinweis von Andreas Arndt, dass Schleiermacher 1818 gegen „Kants Kritik der Pneumatologie als einer Lehre der von der körperlichen getrennten Geisterwelt“ und seiner Ersetzung von „‚Geist‘ im Sinne von mens, Bewusstsein“ am Begriff der Pneumatologie festhalte, vermutlich „weil er die Perspektive über die menschliche Seele hinaus erweitern und damit genau das tun [wollte], was Kant durch seine Entgegensetzung von Psychologie und Pneumatologie kritisier[e]; diese ‚spekulativen Blicke‘ seien sogar ‚der eigentliche Hauptzweck der Psychologie‘.“¹⁷ Entscheidend ist an all dem, auch das ließe sich mit Herms wie Arndt bestätigen, dass Schleiermacher die bis Kant aufrecht erhaltene Diastase zwischen  Herms 2017 (Anm. 3), 236 – 237; Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin: Unger 1799, 56 – 118.  Arndt 2017 (Anm. 3), 246; Friedrich Schleiermacher, Schriften, hg. v. Andreas Arndt, Frankfurt/ M: Deutscher Klassiker Verlag 1996 (Bibliothek deutscher Klassiker 134, Bibliothek der Philosophie), 846.

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dem Akt des Erkennens und der inhaltlichen Bestimmung des Erkannten überwindet, indem er auf deren Ineinander verweist. Damit sind wir auf dem Weg der Rekonstruktion von außen nach innen im philosophischen Kernbestand der Anthropologie Schleiermachers angekommen; würde es im vorliegenden Text nur um Schleiermacher gehen, könnte man die Analyse dieses Kernbestands nun vertiefen und ins aktuelle Gespräch mit Psychologie und Phänomenologie bringen, aber im Rahmen des der Autorin vorgegebenen Vergleichs geht es nun in die Überleitung zum innersten Kern der Anthropologie Ernst Cassirers.¹⁸

2 Anthropologie bei Ernst Cassirer Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, ausgeführt im dreibändigen Hauptwerk zwischen 1922 und 1929¹⁹, kreist im innersten Kern um die Einsicht, dass wir als Menschen unsere Welt nicht nicht interpretieren können: Wir sind zu jeder Zeit und an jedem Ort und unter allen situativen Verfasstheiten unseres Lebens damit konfrontiert, jedes noch so minimale Detail, jedes Empfinden und jeden größeren Weltzusammenhang mit Sinn zu versehen. Wo und in welchem Zustand auch immer wir uns befinden, wir kommen als Menschen nicht darum herum, das, was ist, als „etwas“ zu bezeichnen – sei es nun ein sinnvolles oder ein sinnloses Etwas. Das gilt, gerade wenn wir davon ausgehen, dass alle Wirklichkeit immer schon geprägte Wirklichkeit ist, denn nun geht es darum, eine Formel dafür zu finden, wie Wirklichkeit geprägt wird. Und hier findet sich nun Cassirers berühmte Gleichung, dass eine symbolische Form das Ineinander von Sinn und Sinnlichem, Zeichen und Bedeutung sei: „Unter einer ‚symbolischen Form’ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeu-

 Vgl. zu Cassirer ausführlich: Richter 2004 (Anm. 14), dort Kap. IV und V; Cornelia Richter, „Feeling and Sense, Ethics and Culture. Perspectives on Religion and Culture in Schleiermacher and Cassirer“, in: Schleiermacher und Kierkegaard. Subjektivität und Wahrheit/Subjectivity and Truth, hg. v. Niels J. Cappelørn et al., Berlin/New York: De Gruyter 2006 (Kg. St.11/Schl.A. 21), 159 −177; Cornelia Richter, „Die Religion – Fundament der Kultur oder symbolische Form? Ein „Gespräch“ mit Friedrich Schleiermacher und Ernst Cassirer“, in: „Die Grenze des Menschen ist göttlich“. Beiträge zur Religionsphilosophie, hg. v. Klaus Dethloff et al., Berlin: Parerga 2007, 303 −334.  Der Name ist Programm: „Philosophie der symbolischen Formen“ bezeichnet sowohl Cassirers gesamte Philosophie als auch sein dreibändiges Hauptwerk: Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde., reprod. ND der 2. Aufl. Darmstadt 1954−1997; Sonderausgabe Darmstadt 1994. Bd. 1: Die Sprache (1923), ND Darmstadt 101994; Bd. 2: Das mythische Denken (1925), ND Darmstadt 9 1994; Bd. 3: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), ND Darmstadt 101994; zit. als: Bd. 1– 3.

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tungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.“²⁰ Diese Version des Sinnbegriffs kennt Schleiermacher noch nicht; Cassirer hat sie unter anderem aus der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts entwickelt, aber Schleiermacher beschreibt bereits einen ganz ähnlichen Prozess der Sinngebung: Im gemeinschaftlichen Austausch über das, was uns bewegt, setzen wir in der Sprache individuelle Bestimmungen, die als solche sogleich allgemein werden – so Schleiermacher. Der entscheidende Unterschied zu Cassirers Sinnbegriff liegt darin, dass dieser als elementare Strukturparallele einerseits der gesamten Kultur unterliegt, in der Idealität seiner Relate (Zeichen und Bedeutung) andererseits aber gerade nicht aufgeht, denn wie Zeichen und Bedeutung einander zugeordnet werden, das ist in jeder symbolischen Form und für jeden Gehalt verschieden. Und nicht nur das, es ist auch abhängig von der Entwicklung der symbolischen Form, die sich meist über drei Stufen vollzieht. Diese drei Stufen bezeichnet Cassirer als „Typologie“ der symbolischen Formen: Die erste Stufe ist die der „Mimesis“, auf der Zeichen und Bedeutung im Verhältnis der Identität oder Indifferenz stehen und damit einen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit ermöglichen. Die zweite Stufe wird als „Analogie“ bezeichnet, auf der Zeichen und Bedeutung in einem Verhältnis der Dialektik stehen, was ein vermitteltes Verhältnis zur Wirklichkeit mit sich bringt. Die dritte Stufe bezeichnet Cassirer als „Symbol“. Auf ihr stehen Zeichen und Bedeutung in einem Verhältnis der Differenz und eröffnen einen abstrakten Zugang zur Wirklichkeit.²¹ Wenn wir nun einen Schritt weiter nach außen gehen, dann landen wir bei Cassirers Analyse des kulturellen Panoptikums. Er untersucht die verschiedenen Bereiche der Kultur, die er als „symbolische Formen“ bezeichnet. Das sind vor allem Sprache, Mythos/Religion, Wissenschaft, Technik oder Kunst. Jede von ihnen ist etwas Besonderes, sagt er, denn in jeder von ihnen wird die Welt in einem ganz eigenen Licht und aus einer ganz eigenen Perspektive gesehen. Dahinter liegt eine elementare Annahme: Es gibt nicht (zuerst) die eine wirkliche Welt an sich, auf die wir uns (dann) aus unterschiedlichen Perspektiven beziehen, sondern, was wir sehen, was die Wirklichkeit ist, ist immer schon von einer be-

 Ernst Cassirer [1921/22], „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften“, in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Sonderausgabe Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 81994, 169−200, 175.  Spielt man dies z. B. für die religionswissenschaftliche Interpretation eines Gewitters durch, so wäre auf der mimetisch-unmittelbaren Stufe das Donnergrollen mit dem Gott identisch, auf der analogischen Stufe würde der Donner den Zugang zu Gott vermitteln und auf der symbolischen Stufe kommt dem Donner die differenzierende Funktion des Symbols etwa für Gottes Schöpfung zu.

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stimmten Sichtweise geprägt. Wirklichkeit gibt es nur als geprägte Wirklichkeit – aber so, dass alle verschiedenen Prägungen gleich wichtig sind: „Vielmehr liegt die entscheidende Leistung jeder symbolischen Form eben darin, daß sie die Grenze zwischen Ich und Wirklichkeit nicht als ein für allemal feststehende im voraus hat, sondern daß sie diese Grenze selbst erst setzt – und daß jede Grundform sie verschieden setzt.“²² Das lässt sich besonders gut verdeutlichen an Cassirers berühmtestem Beispiel, dem Linienbeispiel:²³ An einer Wand ist eine simple Linie zu sehen – was stellt sie dar? Ist es eine mathematische Formel? Ein künstlerisches Ornament? Das Bild eines Schlangengottes? Die Frage lässt sich nicht leicht entscheiden, denn je nach Art der Betrachtung beinhaltet sie eine eigene Aussage, die aus einer je eigenen Kontextualisierung und Deutung der Welt erwächst. So wie diese Linie, so argumentiert Cassirer weiter, muss jeder Stoff „in irgendeiner Form stehen“²⁴. Aber diesen Stoff erhalten wir eben niemals als Ding an sich, weil er ausschließlich in einer Form auftritt und nur die Formen wechseln oder „umschlagen“²⁵ können: „Es gibt“ daher, so Cassirer, „auf dem Standpunkt der phänomenologischen Betrachtung sowenig einen ‚Stoff an sich‘, wie eine ‚Form an sich‘ – es gibt immer nur Gesamterlebnisse, die sich unter dem Gesichtspunkt von Stoff und Form vergleichen und ihm gemäß bestimmen und gliedern lassen.“²⁶ Neben dieser parallelen Anordnung der symbolischen Formen gibt es allerdings noch eine dritte, nämlich historische Betrachtungsweise. Für Cassirer, wieder ganz ähnlich wie für Schleiermacher, ist unbestreitbar, dass wir nicht hinter die Kultur zurückgehen können auf einen vor-kulturellen, rein natürlichen Zustand des Menschen. Aber er setzt deutlicher noch als Schleiermacher, der immerhin noch mit der Dualität von Natur und Kultur arbeitet und der Natur dabei eine elementare Rolle zuweist, immer beim „Dass“ der Kultur ein. Dennoch fragt er nach der Genese der Kultur und stellt in dieser Überlegung die symbolische Form Mythos/Religion als eine Art Urphänomen dar. Sie ist für ihn die erste und ursprüngliche symbolische Form, aus der heraus sich die anderen erst entwickeln. Zwar greifen Mythos, Sprache und Wissenschaft eng ineinander, aber dennoch: das mythische Bewusstsein steht an erster Stelle, wodurch die ursprünglich angenommene Parallelität und Egalität der symbolischen Formen gebrochen wird.

    

Cassirer 1994, Bd. 2 (Anm. 19), 186. Cassirer 1994, Bd. 3 (Anm. 19), 232. Cassirer 1994, Bd. 3 (Anm. 19), 232. Cassirer 1994, Bd. 3 (Anm. 19), 232. Cassirer 1994, Bd. 3 (Anm. 19), 231.

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Diese knappe Einführung zu Cassirers Philosophie der Symbolischen Formen ist wichtig, weil man sonst nicht recht versteht, welche Bezüge er im Blick auf die Einordnung der Anthropologie in das Fächerspektrum der Disziplinen setzt. Cassirer fordert nicht die Einbettung der Vernunft in alle Aspekte der Leiblichkeit (die bei ihm eher zu kurz kommt) und Sozialität, sondern er möchte Kants Reduktion des Geistes auf dessen bloß logische Fähigkeiten überwinden. Seine Erweiterung bezieht sich daher auf die gezielte Wahrnehmung und Analyse von Sprache, Mythos/Religion, Kunst, Technik, Wissenschaft, Politik etc. – aber nicht, wie bei Schleiermacher, als je unterschiedliche individuell-soziale Konstruktionen, sondern als jeweils unterschiedliche kulturelle Weisen symbolischer SinnProduktion. Cassirers Kulturphilosophie ist daher als transzendentalphilosophisch orientierte Phänomenologie konzipiert, in der die bunte Vielfalt der kulturellen Phänomene beschrieben werden soll als verschiedene, aber gleichberechtigte Formen menschlichen Lebens: Das Ziel der Kulturwissenschaften ist nicht […] die Universalität der Gesetze; aber ebensowenig ist es die Individualität der Tatsachen und Phänomene. Gegenüber beiden stellt sie ein eigenes Erkenntnisideal auf. Was sie erkennen will, ist die Totalität der Formen, in denen sich menschliches Leben vollzieht. Diese Formen sind unendlich-differenziert, und doch entbehren sie nicht der einheitlichen Struktur.²⁷

Durchgeführt wird dies so, dass Cassirer sich sozusagen ins Material stürzt, das er sich von den anderen Wissenschaften vorgeben lässt. Seine wichtigsten Bezüge sind erstens zahlreiche Sprachstudien und Ethnologien, weil ihn die Verquickung von sprachlichem Ausdruck und mythischem bzw. religiösem Denken fasziniert. Gemäß Humboldts Diktum, dass es kein Denken gibt ohne Sprechen, zeichnet er anhand der Sprachentwicklungen auch menschheitsgeschichtliche Denkentwicklungen nach – oder meint diese nachzeichnen zu können. Das war übrigens auch der Einsatzpunkt für die Amerikanerin Susanne K. Langer, die oftmals als Schülerin Cassirers bezeichnet wird, aber eher seine Kollegin war und im Austausch mit ihm den Gedanken des Ineinanders von Sprache und Rhythmus, Lebensform und Rhythmus und letztlich Verstehen, Geistestätigkeit und Rhythmus entwickelt hat.²⁸ Ein zweiter Bezug liegt für Cassirer in dem, was wir heute als klinische Neurologie bezeichnen würden, und zwar genauer bei Kurt Goldstein. Seine  Ernst Cassirer [1942], Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 61994, 76.  Vgl. Susanne K. Langer, Mind. An Essay on Human Feeling, Bde. 1– 3, Baltimore / London: The John Hopkins University Press 1967−1982.

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Studien zur klinischen Psychopathologie und zur Psychosomatik sind für Cassirer deshalb so wichtig, weil sie zeigen, wie eng die Fähigkeit des sprachlich-verstehenden Symbolisierens an die neurologischen Funktionen geknüpft ist. Dieser Aspekt ist deshalb so erstaunlich, weil Cassirer trotz dieser Faszination für Goldsteins Arbeit der eigenständigen Explikation der Leiblichkeit wenig Bedeutung zugemessen hat. Die Leiblichkeit seiner Anthropologie besteht eher in der für das Symbolisieren funktional notwendigen Körperlichkeit. Ein Bezug wäre um der Nähe zu Schleiermacher willen in der Kunst zu sehen, weil Cassirer die Kunst mit Goethe als „Intensivierung von Wirklichkeit“ bezeichnet. Während Sprache und Wissenschaft ständig abstrahieren, ist die Kunst für ihn eine Verdichtung und Konkretisierung, sie forscht nicht nach den Eigenschaften oder Ursachen der Dinge, sondern – ganz Schleiermacher – sie gibt uns eine Anschauung der Dinge und ist deshalb eine wirkliche, authentische Entdeckung, durch deren Vermittlung sich auch der Mensch selbst neu und anders versteht. Ein vierter Bezugspunkt wäre die Wissenschaft mit Einstein, und zwar maßgeblich mit der Relativität von Raum und Zeit, doch das sei hier nur genannt, weil weniger relevant für das Thema der Anthropologie. Viel wichtiger ist mir ein anderer methodischer Aspekt, der bereits den Weg in Cassirers Spätwerkt weist.

3 Die Tragik der Anthropologie in Cassirers Essay on Man In einem seiner letzten Werke, Zur Logik der Kulturwissenschaften von 1942, ordnet Cassirer sein Programm einer Philosophie der symbolischen Formen drei kulturwissenschaftlichen Arbeitsschritten zu, nämlich der Werk-, Form- und AktAnalyse, und platziert sie am Ort der Form-Analyse: Die Werk-Analyse ermittelt Bestand und Geschichte der vielfältigen kulturellen Bereiche, verbunden mit der jeweils beanspruchten Geltung. Sie richtet sich gegenstandsorientiert auf das bunte Panoptikum der Kultur, und zwar mittels einer Verbindung von Empirie, Phänomenologie, Historie und Hermeneutik. Klassische Beispiele einer WerkAnalyse sind, wie bereits genannt, Kunstgeschichte, Sprach- oder Religionswissenschaft. Gegenüber der Gegenstandsorientierung der Werk-Analyse ist die AktAnalyse vollzugsorientiert auf die in den jeweiligen kulturellen Bereichen ablaufenden Gefühls- und Bewusstseinsprozesse gerichtet. Sie arbeitet ebenfalls phänomenologisch, aber verbunden mit transzendentalphilosophischen Aspekten und den Methoden empirischer Psychologie. Als klassische Beispiele einer AktAnalyse können bewusstseinstheoretische Konzeptionen oder psychologische

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Studien zu Gefühl und Phantasie genannt werden, aber auch religionstheoretische Untersuchungen oder Ästhetik-Theorien. Die Werk-Analyse und die AktAnalyse stellen so zwei Bereiche dar, die in der Philosophie der symbolischen Formen fortwährend berührt werden. Denn Cassirer unterstreicht seine Argumentation laufend mit den von ihm rezipierten – nicht selbst erhobenen – Ergebnissen aus Sprach-, Religions-, Kunst-, Wissenschaftsgeschichte und Ethnologie ebenso wie er auf bewusstseinstheoretische und psychologische Konzeptionen zurückgreift. Sein eigener Weg, die Form-Analyse, steht also zwischen der Werk- und der Akt-Analyse. Denn zum einen ist er auf den durch die Werk-Analyse gewonnenen materialen Bestand angewiesen, um überhaupt einen quantitativ und qualitativ verlässlichen Gegenstand zu „haben“. Insofern ist ihr Verfahren methodisch durch die Phänomenologie bestimmt, die allerdings hermeneutisch orientiert wird, da der Phänomenbestand auf seine je spezifische Bedeutung und Funktion hin untersucht wird. Aber er wendet den hermeneutischen Blick in der Weise auf die Kultur, dass deren innere Form und Struktur so einsichtig werden, dass er damit die vollzugsorientierte Akt-Analyse vorbereitet. Cassirer vermutet also, ganz ähnlich wie Schleiermacher, dass dieses ganze Panoptikum der Kultur auf einer einheitlichen Gesetzmäßigkeit basiert. In seinem Spätwerk Essay on Man zieht allerdings eine einigermaßen tragische Dimension ein in dieses ansonsten so geistbezogene und geisterhabene Gesamtwerk: Cassirers Leitbestimmung des Menschen ist im Spätwerk, anders als bei Kant, nicht der Mensch als animal rationale, denn das wäre eine empirisch nicht gedeckte Reduktion. Ja, noch mehr, Cassirer – ausgerechnet dem Neukantianer Ernst Cassirer – erscheint es in seinem Spätwerk geradezu als absurd, den Begriff der Vernunft als Grundbegriff für die Vielfalt der kulturellen Formen zu wählen. Denn all diese Formen, so Cassirer „sind symbolische Formen. Deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum definieren. Auf diese Weise können wir seine spezifische Differenz bezeichnen und lernen wir begreifen, welcher neue Weg sich ihm öffnet – der Weg der Zivilisation.“²⁹ Im Vergleich mit den gerade zuvor vorgestellten symbolischen Formen mag das erstaunen, denn dort hat das Ineinander von Sinn und Symbol sehr wohl einen durch und durch rationalen Gestus getragen. Aber nun zeigt sich, dass Cassirer die Monographie Essay on Man sehr viel später geschrieben hat als die Philosophie der symbolischen Formen. Jene war zwischen 1923 und 1929 entstanden, der Essay on Man erscheint 1944 in Yale, als Cassirer in den USA im Exil ist und von dort aus auf das Desaster des Nationalsozialismus blickt. Dieser Blick hat

 Cassirer 1996 (Anm. 2), 51.

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nicht seine Konzeption der Kulturtheorie verändert. Aber es hat seinen Realismus verändert im Blick auf das, was die kulturtheoretische Analyse und vor allem die Anthropologie zu leisten imstande sind für das gelingende Zusammenleben in Sozialität und Kultur. Denn nun wird Cassirer sehr deutlich, dass es eine irgendwie geschärfte, radikalisierte Aktanalyse brauchen würde, um die Kultur wirklich als sinnhaften Prozess fortschreitender Selbstbefreiung des Menschen begreifen zu können. Einerseits sieht Cassirer dies und hält daran fest. Das Schlusswort des Essay on Man ist nach wie vor – geht es doch um eine Summe seiner Philosophie der symbolischen Formen – am Kulturprozess als Akt der Selbstbefreiung des Menschen orientiert. Aber zeitgleich mit seiner Arbeit am Essay on Man hat Cassirer eine weitere Monographie verfasst unter dem Titel Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens. Diese Monographie hat der Jude Ernst Cassirer, 1933 in die USA emigriert, dort 1945, kurz vor seinem Tod, geschrieben. Cassirer hat dies unter dem Vorzeichen seiner jahrzehntelangen Mythenforschung getan und sie in einer Reflexion des Nationalsozialismus auf den Staat bezogen. Und in diesem Werk heißt es am Ende so: Als wir zuerst die politischen Mythen hörten, fanden wir sie so absurd und unangemessen, so phantastisch und lächerlich, daß wir kaum dazu vermocht werden konnten, sie ernst zu nehmen. Jetzt ist uns allen klar geworden, daß dies ein großer Fehler war. Wir sollten denselben Irrtum nicht ein zweites Mal begehen. Wir sollten den Ursprung, die Struktur, die Methoden und die Technik der politischen Mythen sorgfältig studieren. Wir sollten dem Gegner ins Angesicht sehen, um zu wissen, wie er zu bekämpfen ist. | […] Was wir in der harten Schule unseres modernen politischen Lebens gelernt haben, ist die Tatsache, daß die menschliche Kultur keineswegs das festverankerte Ding ist, für die wir sie einst hielten. […] [D]ie großen Meisterwerke der menschlichen Kultur […] sind weder ewig, noch unangreifbar. Unsere Wissenschaft, unsere Dichtung, unsere Kunst und unsere Religion sind nur die obere Decke einer viel älteren Schicht, die in große Tiefe hinabreicht.Wir müssen immer auf heftige Erschütterungen vorbereitet sein, die unsere kulturelle Welt und unsere soziale Ordnung bis in ihre Grundlagen erschüttern können. […] Die Mächte des Mythus [gemeint sind tief verankerte, mythischen Schichten, CR] wurden durch höhere Kräfte besiegt und unterworfen. Solange diese Kräfte, intellektuelle und moralische, ethische und künstlerische, in voller Stärke stehen, bleibt der Mythus gezähmt und unterworfen. Aber wenn sie einmal ihre Stärke zu verlieren beginnen, ist das Chaos wiedergekommen. Dann beginnt mythisches Denken sich von neuem zu erheben und das ganze kulturelle und soziale Leben des Menschen zu durchdringen.³⁰

 Ernst Cassirer [1945], Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, 1949 postum publiziert bei: Zürich/München: Artemis Verlag, Nachdruck Frankfurt/M.: Fischer Verlag 1985, 388−390.

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4 Der Mensch als sinnsuchendes Wesen – über Schleiermacher und Cassirer hinaus Die Tragik von Cassirers Anthropologie ist im 21. Jahrhundert leider keineswegs obsolet geworden – die weltweiten Konflikte und Kriegsschauplätze bestätigen dies. Dennoch würden wir, anders als Cassirer, unsere heutige Problemlage vermutlich nicht primär unter den Leitbegriffen des Mythos und der Staatstheorie verhandeln, sondern auf Phänomene der Individualität und Identitätsbildung schauen, auf Gruppendynamiken und Kollektivierungsstrategien, die institutionell hybrid und fluide sind und sich deshalb noch einer eindeutigen Einschätzung entziehen. Auch würden wir anders als Cassirer die politische Theoriebildung methodisch eng beziehen auf Rezeptions- und Emotionstheorien, auf Performanztheorien, auf die Relation von Faktizität und Fiktionalität sowie auf handlungsorientierte Ansätze, weil wir aus dem 20. Jahrhundert gelernt haben, wie eng jede Anthropologie auf Aspekte von realer und irrationaler Machtdurchsetzung, Deutungsmacht und politischer Agency bezogen sein muss, sei es im politischen Diskurs, sei es im Genderdiskurs oder in sonstigen Diskursen zu individuellen und kollektiven anthropologischen Grundkonstanten. Drittens würden wir anders als Cassirer weniger das große Ganze der menschlichen Kultur in den Blick nehmen als vielmehr oder mindestens zusätzlich die konkrete Leiblichkeit und Situativität der individuellen und kollektiven Bezüge. Denn wie auch immer wir den Menschen anthropologisch zu bestimmen versuchen, wird dies nur Sinn ergeben, wenn es aufs engste rückgebunden ist an die stets hochgradig flexible und variantenreiche Situativität. Nicht, weil wir von der Situativität aus zur großen generalisierenden Anthropologie gelangen würden. Aber weil wir eine Anthropologie benötigen, mit deren Hilfe wir der vielfältigen, und leider nicht selten abgründigen Verfasstheit des Menschen theoretisch und pragmatisch beikommen können. Und zwar dort, wo sich diese Abgründigkeit im prekären Ineinander von Sozialität, Emotionalität, Ausgrenzungsgefühl oder Integrationsbedürfnis und dergleichen mehr in ungeschminkter Form zeigt. An dieser Stelle darf noch einmal an die Stärke von Schleiermachers Anthropologie erinnert werden: Sie liegt ohne Zweifel in der engen Wechselwirkung von Natur und Geist, Leib und Seele, die Schleiermacher mit und gegen Kant in all seinen philosophischen Reflexionsgängen bearbeitet. Ebenso liegt eine Stärke seines Ansatzes in der Reflexion des transzendenten Grundes, denn von ihm her entwickelt Schleiermacher v. a. in der Dialektik von 1814/15 die Überzeugung, dass es konstitutiv zum Menschen gehöre, dass er immer beides zugleich sei, Denken und Gedachtes und sein Leben nur im Zusammenstimmen beider habe.

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Nimmt man diese Stärke Schleiermachers mit Cassirers Einsicht zusammen, dass wir als Menschen unsere Welt nicht nicht interpretieren können, dann zeigt dies die Notwendigkeit auf, auch im 21. Jahrhundert noch einmal über Sinnkonstruktionen nachzudenken – und zwar gerade dort, wo es anhand krisenbezogener Lebenserfahrungen um das Aushalten und Gestalten von Ohnmacht, Angst und Sorge geht.³¹ Im Kontext der Anthropologie bietet es sich an, den Umgang mit solchen existentiell bedeutsamen, krisenbezogenen Lebenserfahrungen unter dem Resilienzbegriff zu thematisieren, weil er (ungeachtet der mit ihm verbundenen zahlreichen Probleme und riskanten Erwartungshaltungen)³² eine ressourcen- und präventionsorientierte, lösungs- und ergebnisorientierte Perspektive bietet, die sich auf vielfältige Weise disziplinübergreifend fruchtbar machen lässt. Da sich Resilienz weder auf einen einzelnen Resilienzmechanismus noch auf einen durch die Abwesenheit physischer und/oder psychischer Störung definierten Outcome reduzieren lässt, sondern ein mehrdimensionales, prozessuales und sinnbezogenes Geschehen ist, ist die sinnbezogene Auseinandersetzung mit Destruktivität, Hoffnung und Ambivalenz zentral. Der Sinnbegriff ist allerdings über Schleiermacher und Cassirer hinaus in einer höheren Mehrdimensionalität zu fassen:³³ (a) Sensorischer Sinn von Sinn: Der Mensch wird als Sinnenwesen in Leiblichkeit und Affektivität verstanden, denn die Sinne vermitteln uns mit der Welt und liefern Bedeutsamkeiten im Umgang mit der Umwelt. Dieser Aspekt wäre thematisch zu bearbeiten in Form von körperlicher Vulnerabilität, von Synchronisierungen im zwischenleiblichen Bereich (basale Empathie) und in verkörperten kollektiven Praktiken mit hoher affektiver Intensität (Atmosphären). Sinne des Menschen werden verkörpert  So der Untertitel der 2019−2022 von der DFG geförderten Forschungsgruppe 2686 „Resilienz in Religion und Spiritualität“, maßgeblich verantwortet von Thiemo Breyer, Judith Gärtner, Franziska Geiser, Eberhard Hauschildt, Constantin Klein, Lukas Radbruch, Cornelia Richter (Sprecherin) und Jochen Sautermeister.  Vgl. die zugehörigen Forschungsbände der DFG-FOR 2686: Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie, hg. v. Cornelia Richter, Stuttgart: Kohlhammer 2017 (Religion und Gesundheit 1); Die heilende Kraft des Sinns. Viktor E. Frankl in philosophischer, theologischer und therapeutischer Betrachtung, hg. v. Dietrich Korsch, Religion und Gesundheit 2, Stuttgart: Kohlhammer 2018; An den Grenzen des Messbaren. Die Kraft von Religion und Spiritualität in Lebenskrisen, hg. v. Cornelia Richter, Religion und Gesundheit 3, Stuttgart: Kohlhammer 2021.  Die folgenden Ausführungen sind in Kooperation mit Thiemo Breyer entstanden; vgl.: Thiemo Breyer, „Soziale Wahrnehmung zwischen Erkenntnistheorie und Anthropologie“, Jahrbuch Interdisziplinäre Anthropologie 4 (2016), 141– 162. Vertiefende Arbeiten zum Begriff der Narrativierung finden sich jüngst bei Katharina Opalka, „Was man erzählen kann, wenn man an seine Grenzen kommt. Zur Bedeutung der Narrativität im Resilienzdiskurs“, in: An den Grenzen des Messbaren (Anm. 32), 97– 115.

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konzipiert, so dass der Mensch als ganzer sprachlich, emotional, gedanklich kommuniziert. (b) Semantischer Sinn von Sinn: Hier steht die sprachliche Bedeutung im Zentrum, die wir im Zusammenhang mit Prozessen der Narrativierung untersuchen, denn in Narrativen sind jeweils bestimmte Sinngehalte fixiert und werden tradierbar, zum Beispiel in religiös-spirituellen Traditionen. Narrativierungen laden zur individuellen Rezeption ein, so dass die Sinnangebote einerseits individuell gefüllt werden können und andererseits über die individuelle Erfahrung hinaus die interindividuelle, gegebenenfalls solidarische Bearbeitung von Krisen ermöglichen. Interessant sind unter anderem solche Narrativierungsprozesse, die zwischen sinngebenden Narrativen und Atmosphären stehen sowie die Reflexion auf diese erschließen können. (c) Teleologischer Sinn von Sinn: Diese Perspektive thematisiert Sinn und Zweck von etwas, das heißt das Woraufhin von Handlungen und Entwürfen. Narrativierungen erlauben das Versprachlichen von Ambivalenzen bzw. Ambiguitäten, da Sprache immer eine zeitliche Dimension einzieht. Gerade weil sich Resilienz als ein prozessuales Geschehen des Aushaltens und Gestaltens in der Spannung von Destruktivität, Hoffnung und Ambiguität versteht, ist das sich-Einstellen auf die Zukunft bzw. das imaginative Entwerfen einer Zukunft, die für die Gegenwart hilft, in der Planung des Umgangs mit und der Transformation von Krisen ein zentraler Aspekt – und zwar bis hin zur Planung oder auch „nur“ Erwartung des Lebensendes in Palliativsituationen. (d) Existentieller Sinn von Sinn: Das letzte Beispiel zeigt, dass es in der Kulturgeschichte häufig um den Sinn des Lebens in einer umfassenden und existentiell eindringlichen Weise geht, sowohl in Texten aus Antike und Gegenwart als auch in empirisch untersuchbaren Krisensituationen. Vor allem dort, wo es zum Beispiel im Gesundheitsmanagement für Betroffene wie Angehörige, Therapeut*innen, Seelsorger*innen wie ehrenamtliche Mitarbeitende, besonders drastisch um schwere Krankheit, Sterben, Tod und Trauer geht, wird diese Sinndimension virulent, ob sie nun eher philosophisch säkular oder religions- und spiritualitätsbezogen geäußert wird: Wie bringen Menschen solche Krisen an ihrem Beginn, im Verlauf und an ihrem Ende leibhaft, affektiv, in wechselseitiger Resonanz, semantisch und narrativ zum Ausdruck? Insgesamt benötigt die Verortung solch einer vierfachen Sinndimension eine Theoriebildung, die eine gezielte Verschränkung von Hermeneutik und phänomenologischer Anthropologie erlaubt und auf diese Weise Phänomene der Leiblichkeit, Affektivität, Kognition und Narrativierung ebenso einbezieht wie Aspekte der Empathie, Resonanz und Reziprozität. Dabei geht es um menschliche Grundprobleme, die sich zwar als unabweisbare Probleme in allen historischen Epochen stellen, die aber immer wieder historisch kontingent und kulturell unterschiedlich geprägt sind und daher neu verhandelt werden müssen. Schleiermacher und Cassirer bieten sich für solch ein Unterfangen ohne Zweifel auch im

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Cornelia Richter

21. Jahrhundert als Gesprächspartner an, auch wenn dann mit ihnen über sie hinauszudenken sein wird.

Michael Winkler

Schleiermachers Pädagogik und die Kontingenz der Anthropologie Mit Seitenblicken auf aktuelle Debatten

1 Anthropologieverzicht als Provokation Angenommen das eine Extrem, die Allmacht der Erziehung, und vorausgesetzt, daß es bloß auf sie ankomme, um jede Tätigkeit im Menschen, wie man will, zu entwickeln: was würde daraus für die Pädagogik folgen? Etwas ist hier noch unbestimmt; es ist nämlich nicht dasselbe, wenn man sagt, man kann jede Anlage in jedem Menschen beliebig zu einer gewissen Vollkommenheit bringen, aber mit Hintansetzung anderer, oder wenn man letzteres weglässt und behauptet, man kann alle Anlagen insgesamt auf jeden Punkt erheben, wohin man will. Nimmt man das erste an, so fragt sich, was soll den Erzieher bestimmen, welche Anlagen er anderen aufopfere. Wir werden hier keinen gültigen Entscheidungsgrund finden. […] Es bleibt nichts anderes übrig als eine Bestimmung, die in der Vorliebe des Erziehers selbst zu diesem oder jenem Gegenstand liegt; so aber würde der Willkür und Subjektivität des Erziehers die Entscheidung anheimgegeben, der Zögling von dem Erzieher rein zu einem Anhang seiner selbst gemacht. Das ist vollkommen unsittlich. […] Setzt man nun auf das andere Extrem, die Beschränktheit der Erziehung, so wird vorausgesetzt, daß jeder Mensch eine durchgehende Verschiedenheit, eine Bestimmtheit des Verhältnisses der verschiedenen Anlagen mitsichbringe. Die Pädagogik ist dann auf dieses Verhältnis beschränkt; ist nun damit freilich unmittelbar ein Bestimmungsgrund gegeben, an dem es bei der ersten Ansicht fehle, so ist doch in anderer Beziehung die Erziehung gefährdet. Notwendig müßte man die differenten Anlagen erst kennenlernen, ehe die pädagogische Tätigkeit darauf hingeleitet und nach dem gegebenen Verhältnis geregelt werden könnte. Dadurch entsteht wiederum eine Passivität; denn wenn das Verhältnis mit Sicherheit erkannt werden kann, dann ist die Zeit der minierenden Einwirkung von außen und die pädagogische Bildsamkeit des Menschen meist vorüber. Aus all dem folgt, daß, wenn es eine Pädagogik geben soll, es auch eine Bestimmung geben muß, wodurch diese beiden Extreme gebunden werden. Diese Bestimmung kann nur theoretisch gefunden werden; wir müssen dabei auf das, was uns wirklich gegeben ist, zurückgehen, dies ist aber nichts anderes als Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzungen. […] Wenn wir auch von der Voraussetzung der Allmacht der Erziehung ausgehen, so bleibt doch immer dieses festzuhalten, so bleibt doch immer dieses fest, daß der Mensch ein Lebendiges ist, also von Anfang an ihm eine Selbsttätigkeit einwohnt in Beziehung auf alles, was zur menschlichen Natur gehört. Es würde also die pädagogische Einwirkung immer eine zwiefache Gestalt haben. Erregend müßte sie auf jede Anlage wirken, und leitend, indem sie das in die Erscheinung Getretene weiter fördert. Das

https://doi.org/10.1515/9783111025483-006

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Michael Winkler

erste würde sich auf die Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzungen beziehen.¹

Ein überlanges Zitat zu Beginn einer wissenschaftlichen Überlegung gehört sich nicht! Man könnte doch gleich beim ursprünglichen Autor bleiben! Dennoch (oder deshalb): Das Zitat provoziert als solches, man möchte ergänzen: heute noch, sogar mit einigem Recht. In seiner Länge, vor allem in seinem Inhalt. Und es tat dies schon, als Schleiermacher seine Vorlesungen über Pädagogik vorgetragen hat. Denn diese lange Textstelle bündelt wie in einem Brennglas, was die Theorie der Erziehung Schleiermachers auszeichnet: die abwägende, prüfende Denkweise, die Extreme auseinandertreibt, um so die Hörenden der Vorlesung und die mitdenkenden Leser*innen an einen Gegenstand heranzuführen, nämlich den Sachverhalt der Erziehung. Dieser Gegenstand bleibt aber doch – um es in mehrfacher Paradoxie zu formulieren – aufgrund seiner Eigenschaften bei aller Bestimmtheit unbestimmt. Er muss sogar bestimmt unbestimmt bleiben, weil er sich in seiner Wirklichkeit unterschiedlich darstellt. Ungewissheit ergibt sich als grundlegende Einsicht, die auf ein anderes, auf eine – buchstäblich – tiefliegende Erkenntnis als Ausgangspunkt des Nachdenkens und des Handelns verweist: Die provokative Radikalität der Überlegung zerstört Gewissheiten. Nämlich eben die anthropologischen Sicherheiten, die in der Pädagogik – vorsichtig ausgesprochen – zumeist mehr oder weniger stillschweigend vorausgesetzt wurden. Annahmen darüber, was Menschen auszeichnet und unterscheidet, als Menschen von anderen Lebewesen, als Menschen untereinander, mit dem makabren Effekt, dass es zu kategorialen Ausschlüssen kommen konnte. Schleiermacher diskutiert die Möglichkeiten, die in seiner Zeit angeboten werden, man liest den Text, als ob er Rousseau gegen Helvetius setzt², als ob er die religiösen Skeptiker gegen die Gläubigen des Fortschritts stellt, als ob er die ambitionierten National-Erziehungsfanatiker gegen die Materialisten antreten lässt – und ihnen deutlich macht, dass und wie sie ständig in Aporien geraten. Die Materialisten etwa, die

 Friedrich Schleiermacher, Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe Band 2, Grundzüge der Erziehungskunst (Vorlesung 1826), hg. v. Michael Winkler / Jens Brachmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, 19 – 21. Die Studienausgabe wird an den Stellen zitiert, wo der genaue Wortlaut der von Carl Platz vorgenommenen Textkompilation (ursprüngliche Quelle: Friedrich Schleiermacher, Sämmtliche Werke III/9, Erziehungslehre, hg. v. Carl Platz, Berlin: Reimer 1849) für die Argumentation entscheidend ist.  Jean-Jaques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, Stuttgart: Reclam 1963; Claude-Adrian Helvetius, Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972.

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mit mechanischer Determination rechnen, aber zugestehen müssen, dass die Mensch-Maschinen eigentlich gar nicht verändert werden können. All diese Annahmen tragen nicht, zumindest nicht hinreichend, soll eine Theorie der Erziehung, eine Pädagogik im Raum der Wissenschaften bestehen können. Die Wissenschaftsfähigkeit der Pädagogik ist umstritten, man unterstellt kaum etwas, wenn man ergänzt: weil sie mit religiösen Hoffnungen selbst von jenen überzogen wird, die das Paradies vom Himmel auf die Erde verlegt haben; weil sie politisch überfordert wird – und jene eben nicht begreifen, dass Politik und Pädagogik einander koordiniert sind. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Immer klingen dabei anthropologische Annahmen an, die plausibel sein mögen, hilfreich, um das Projekt einer Pädagogik zu rechtfertigen und voranzutreiben. Nur nebenbei: diese Lage unterscheidet sich kaum von den Debatten, wie sie heute geführt werden; wenn etwa Sozialpädagogik zunehmend als Soziale Arbeit verstanden und – wie auch die sogenannte Bildungspolitik – als beste Sozialpolitik behauptet wird. Anthropologische Annahmen bestimmen die Pädagogik, oft latent und sublim, häufig unbefragt. Immer schon, aber erstaunlicherweise bis heute, wenngleich mit einer leichten Verrenkung, die mit einer Tabuisierung von Anthropologie zusammenhängt. So wird Anthropologie als Forschungsthema innerhalb der Erziehungswissenschaft eher zurückgedrängt, von prominenten Ausnahmen abgesehen, wie sie zunächst in der Rezeption der Untersuchungen von Plessner³, dann in den Arbeiten von Christoph Wulf begegnen⁴. Anlass für das Verdikt gibt der Verdacht, dass die philosophische Anthropologie mit Substanzbestimmungen und unzulässigen Verallgemeinerungen argumentiert, zumal sie (nicht nur) für die Erziehungswissenschaft kontaminiert erscheint, weil maßgebende Vertreter dem Nationalsozialismus nahestanden. Das Tabu lässt das Verbotene allerdings fröhliche Urständ feiern, weil Heterogenität und Individualität bewegen, der Streit um kulturelle Identitäten nach anthropologischen Erwägungen ruft. Schon deshalb lohnt – wieder einmal – der Blick auf Schleiermacher. Ihn beschäftigt der Eindruck einer Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzungen wohl so intensiv, dass er ihn mehrfach ausspricht. Das Problem erscheint ihm für die Theorie wie für die Praxis entscheidend. Es ist ihm so wichtig gewesen, dass sogar die naheliegende Vermutung widerlegt wird, die Wiederholung könnte durch die Kompilation beim Ersther-

 Helmuth Plessner, Philosophische Anthropologie. Göttinger Vorlesung vom Sommersemester 1961, hg. v. Julia Grueveska / Hans-Ulrich Lessing / Kevin Liggieri, Berlin: Suhrkamp 2019.  Christoph Wulf, Einführung in die Anthropologie der Erziehung, Weinheim / Basel: Beltz 2001.

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ausgeber der Vorlesungen, bei Carl Platz, entstanden sein; denn auch die Sprüngli-Nachschrift in der KGA lässt die Bedeutung ahnen. Die Bedeutung liegt in einer, bis heute nachklingenden Provokation. Schleiermacher macht nämlich deutlich, dass das bislang (und vielfach weiterhin) tragende Fundament pädagogischer Reflexion nichts taugt. Pädagogiker unterstellen eigentlich immer eine Anthropologie, meist implizit, häufig in religiöser Form, wie sie bei Schleiermacher sogar erwartet werden könnte. Immerhin geben seine „Reden über die Religion“⁵ anthropologisch relevante Hinweise, etwa zur Bedeutung des Gefühls, allzumal der Bindung. Deshalb ziehen jüngere Interpretationen seiner Pädagogik eine Linie von der Theologie hin zur Pädagogik, so etwa Horst Friebel in seiner Untersuchung zur Bedeutung des Bösen⁶, wenige Jahre später dann Bruno Laist⁷ mit Blick auf das Abhängigkeitsproblem, endlich vor allem Ursula Frost⁸ und dann Alfred Langewand⁹ mit seiner Vermutung, dass die Pädagogik als Beitrag zu einer Heilslehre teleologisch verstanden werden müsse. Aus den Zusammenhängen zwischen theologischer Anthropologie und Pädagogik rekonstruiert Franziska Bartel die Entstehung der Pädagogik¹⁰, liest dabei vor allem Liebe – etwa im familiären Kontext – als ein fundierendes anthropologisches Grundprinzip. Aber könnte man diese nicht auch säkular, als Hinweis auf die Notwendigkeit sozialer Bindung lesen, wie sich etwa bei Schleiermacher in der „Christlichen Sitte“ andeutet? Zuletzt: Gleichwohl verliert sich das Interesse an der Anthropologie, einmal weil zurecht eine „interne Dezentrierung“¹¹ bei Schleiermacher erkannt wird, die aber mit einem „affirmativen Naturverhältnis“¹² einhergeht.

 Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) I/2, Schriften aus der Berliner Zeit 1796 – 1799, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter 1984, 185 – 326.  Horst Friebel, Die Bedeutung des Bösen für die Entwicklung der Pädagogik Schleiermachers, Ratingen: A. Henn Verlag 1961.  Bruno Laist, Das Problem der Abhängigkeit in Schleiermachers Anthropologie und Bildungslehre, Ratingen: A. Henn-Verlag 1965.  Ursula Frost, Einigung des geistigen Lebens: Zur Theorie religiöser und allgemeiner Bildung bei Friedrich Schleiermacher, Paderborn: Schöningh 1991.  Alfred Langewand, „Das Ende der Erziehung und ihrer Theorie“, in: Zeitschrift für Pädagogik 3 (1987), 513 – 522.  Franziska Bartel, Die Entstehung des Erziehungsdenkens bei Schleiermacher, Würzburg: Ergon 2012.  Steffen Kleint, Über die Pädagogik D.F.E. Schleiermachers. Theoriebildung im Spannungsfeld von Kritik und Affirmation, Frankfurt: Peter Lang 2008, 24.  Kleint 2008 (Anm. 11), 30.

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2 Nicht nur Schleiermachers Ausgangslage Man kann selbstverständlich argumentieren, dass eine Pädagogik ohne Anthropologie gar nicht denkbar ist. Allerdings ist der Begriff der Anthropologie selbst vieldeutig. Es geht um den Logos, der sich inhaltlich auf die menschliche Existenz bezieht, auf den unterschiedlichsten Ebenen der Konkretisierung. Seine Semantik reicht von Wesens- zu Seinsbestimmungen, von Erwartungen und Idealisierungen, von einer spirituell erhebenden Religion, über Machtphantasien bis hin zu manchmal engen Vorstellungen von natürlicher Verfasstheit; Schwarze Pädagogik stützt sich auf anthropologische Annahmen¹³. Philosophie und Alltagsdenken, große Heilsentwürfe wie volkstümliche Kalendersprüche sprechen vom Menschen schlechthin, längst begleitet von zaghafter Einrede, nach der nur von den Menschen, im Plural also, gesprochen werden dürfe. Nur: Was berechtigt zu einer solchen Ansammlung von Individuen? Welche Kategorie hilft, was eint Heterogenität? Anthropologie stellt ein Dilemma dar, dem kaum zu entkommen ist. Menschen zeichnet wohl aus, dass sie „menscheln“ müssen; als Herausforderung stellt sich, wie weit dieses dann reichen darf. Für die Pädagogik gilt das nun besonders, weil sie sich als das Geschehen begreift und präsentiert, das überhaupt erst die Menschwerdung von Menschen ermöglicht – obwohl diese das dann doch mehr oder weniger selbst vollbringen. Vielleicht wird die Pädagogik eben deshalb zuweilen so skeptisch betrachtet: Ihr Anspruch ist hoch, über ihre Leistung lässt sich streiten. Dabei begegnen anthropologische Themen in der Pädagogik meist auf fünf Ebenen: Auf der ersten geht es gewissermaßen um den objektiven Sachverhalt, dem man schlicht nicht entkommt. Jüngste Forschung bestätigt ihn als evolutionsbiologisch ausgewiesenen Befund in die natürlich gegebene Kulturalität und Gesellschaftlichkeit von Menschen – übrigens schlechthin, alle Vorstellungen abweisend, die Differenzen behaupten. Es gibt solche nicht, die Gattung ist einheitlich, wiewohl unterschiedliche Umweltbedingungen und Formen sozialer Organisation jeweils eigene Lebensformen hervorbringen. Diese humane Indifferenz in der Differenz besteht sogar gegenüber jenen, die als Vorläufer oder Seitenlinie des anatomisch modernen Menschen gelten,Vermischungen sind so normal, dass die heute Lebenden genetische Spuren jener in sich tragen, die als Neandertaler ausgestorben scheinen. Zunehmend beobachtet Forschung Ähnlichkeiten sozialer Organisation und Tradition in anderen Spezies. Zur Überheblichkeit der  Katharina Rutschky, Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Berlin: Ullstein 1977.

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menschlichen Spezies fehlt der Anlass – Theologen könnten sich beim Gedanken beruhigen, dass alle Lebewesen göttlicher Schöpfung sich verdanken.¹⁴ Nach diesem objektiven Sachverhalt steht Erziehung nun für eine Praxis, die seit Menschengedenken besteht, mehr oder weniger unvermeidlich. Denn sie gründet in dem, was man als das nicht-genetische Gattungswesen bezeichnet. Menschen müssen demnach als Duplexwesen aufgefasst werden,¹⁵ mit natürlichen Potenzialen, die genetisch vererbt werden, und sozial wie kulturell bestimmten Eigenschaften, die sie sich aneignen müssen, die sie erlernen und einüben, aber auch vergessen können. In Lernen und Vergessen spielt wiederum die Naturausstattung mit, die sich individuell konkretisiert. Manche lernen schneller, andere werden von Vergesslichkeit getroffen, die von der individuellen Natur nicht getrennt werden kann. Das nicht-genetische Erbe entsteht im unvermeidlichen Stoffwechselprozess, letztlich in den Überlebenstätigkeiten. Es entsteht als Nebenprodukt physischer Reproduktion, das jedoch Übermacht gewinnt und selbst verlangt erhalten zu werden; jüngere Evolutionsbiologie spricht vom Wagenhebereffekt,¹⁶ von Praktiken, die den Verlust oder Untergang der Kultur verhindern. Menschen setzen sich in ihren Lebensvollzügen mit ihrer Umwelt auseinander, zu der sie übrigens selbst gehören. Noch in der engsten Stammesgesellschaft sind die Anderen ein wenig fremd, so dass man sich an diesen abarbeiten muss, um damit eine Gemeinsamkeit zu begründen, die nicht selbstverständlich, daher auf Sinn angewiesen ist. Es geht, um Schleiermachers Terminologie schon aufzunehmen, um Organisieren und Symbolisieren als Grundmechanismen des Lebens, die formal und inhaltlich bestimmt sind, damit auf Seiten der Akteure Rezeptivität und Spontaneität verlangen. In der gemeinsamen Tätigkeit entsteht eine von aller Natureigenschaft differente Welt, entsteht Kultur, die aus Artefakten, Symbolen, moralischen Regeln besteht, aus neuen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die das Leben faktisch verändern – beginnend bei neuen Möglichkeiten der Nahrungsgewinnung, nicht endend dabei, dass Erzählungen über die eigene Existenz erfunden werden, Mythen und Göttergeschichten, die den Anfang berichten und auf

 Vgl. Robin Dunbar, Human Evolution, London: Pelican 2014; vgl auch Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002; Michael Tomasello, „Das ultra-soziale Tier“, in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau, Heft 69 (2014), Jg. 37, 97– 111; Michael Tomasello, Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese, Berlin: Suhrkamp 2020.  Vgl. Emile Durkheim, Sociologie et Philosophie. Collection SUP, Paris: Presses Universitaires de France 1974.  Tomasello 2002 (Anm. 14), 50 – 52.

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mögliche Zukünfte verweisen. Wahrscheinlich ist sogar diese Welt der Fiktionen, die an Sprache, an Gesang und Tanz gebunden ist, das human Entscheidende, davon abgesehen, dass die Arbeit zum Lebenserhalt in einer Weise gestaltet wird, die Zeit für die Kunst lässt. Das nicht-genetische Erbe ist flüchtig. Es braucht eine Tätigkeit, die es erhält, wenn man so will, eine künstliche und kunstvolle Meta-Tätigkeit, die über den Aktivitäten steht, die das Leben unmittelbar erhalten. Sie fordert Bewusstsein von der Notwendigkeit dieser Tätigkeit, das seinen Ausdruck in gestalteten Riten findet. Das nicht-genetische, kulturelle Erbe würde nämlich weitgehend verloren gehen, wenn eine institutionalisierte Handlungsweise fehlte, die Kultur an die jeweils Neugeborenen systematisch zu „vermitteln“, freilich immer so, dass diese nicht durch dieses Vermittelte festgelegt sind. Diese Handlungsweise rettet das kulturelle Erbe vor dem Tod der Menschen, vor der Naivität ihres Geburtszustands, sie macht es zugänglich, indem sie es aufgliedert und dem jeweiligen Entwicklungsstand passend artikuliert. Und noch einmal: sie leistet auch, dass die Subjekte mit dem kulturellen Erbe so umgehen können, dass sie es beherrschen, von diesem also nicht festgelegt werden, sondern mit ihm ihre Freiheit und zugleich die Dynamik des geschichtlichen Prozesses bestimmen können. Kurz: Erziehung schafft eine Objektivität des Gelernten, indem sie Bewusstsein von diesem initiiert. Was hat das mit Schleiermacher zu tun? Offensichtlich teilt er die Auffassung vom homo duplex, sieht die menschliche Naturausstattung als gleiche für alle, erkennt, dass und wie Menschen auf Kultur angewiesen sind. Er kennt die Beispiele wilder Kinder, wie sie für Furore gesorgt haben, Victor von Aveyron etwa, dessen Erzieher Jean Itard eine Pädagogik für Menschen mit Behinderung entwickelt – und dabei belegt, dass und wie diese Erziehung ihr Ausgangsproblem in einem Defizit des Sozialen hat. Dabei mahnt Schleiermacher zur Vorsicht: Die Fälle vereinzelt aufwachsender Kinder können nicht als Grundlage für die Theorie der Erziehung genommen werden. Die Einsichten aber nimmt er auf, die sich aufgrund dieser Fälle anthropologisch verallgemeinern lassen: Der Mensch soll sich „überall über den Instinct erheben“, sich aus dem Instinkt herausarbeiten.¹⁷ Dies aber gelingt nur in dem, was man als Kooperation bezeichnen kann: „Als einzelnes Wesen steht der Mensch allem entgegen, aber weil er im ganzen befasst ist, so ist das entgegenstellen Gemeinschaft“¹⁸.  Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/12, Vorlesungen über die Pädagogik und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht, hg. v. Jens Beljan / Christiane Ehrhardt / Dorothea Meier / Wolfgang Virmond / Michael Winkler, Berlin / Boston: De Gruyter 2017, 304 (Vorlesung 1813/14).  KGA II/12 (Anm. 17), 281 (Vorlesung 1813/14).

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So die einigermaßen objektive anthropologische Ausgangsbedingung für das pädagogische Denken und Handeln. Die auf Schleiermacher verweisenden Einsprengsel lassen ahnen, dass ihm diese vor Augen stand; zumal andere sehr bald die Denkfiguren noch schärfer fassten, als das hier aufgrund der Vorsicht gegenüber anthropologischen Feststellungen der Fall ist; so etwa Karl Marx in den Thesen ad Feuerbach, allzumal in der schwierigen Vorstellung vom Wesen des Menschen als „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“¹⁹. Schleiermacher argumentiert schon früher ähnlich. Aber in seiner Pädagogik richtet sich die Formel von der Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzungen auf die Hypertrophie, mit der die Anthropologie im Blick auf Erziehung zeitgenössisch geltend gemacht wird. Dabei geht es um die Position und den Status des Menschen in der Welt. Wie weit sind Menschen höhere Wesen, Gott nahe oder wenigstens ebenbildlich, eigentlich aus der Natur herausgehoben und ihr übergeordnet? Verpflichtet, sich die Welt und die Natur untertan zu machen. Eine Spiritualität, die bald zu einer Idee von Aktivität gewendet wird – das ökonomische Denken der Zeit verknüpft diese, Menschen auszeichnende Aufforderung mit einer nunmehr neu definierten Vorstellung, nämlich der von Arbeit. Hegel hat das thematisch gemacht. Die Schwierigkeit deutet sich schon an, sie wird zur Falle für viele, die sich deshalb heute einer Lektüre von bislang als klassisch geltenden Denkern verweigern. Gilt die Suprematie „des Menschen“ dann wirklich für alle? Andere werden als Angehörige einer Rasse betrachtet, untergeordnet unter die vorgeblich eurozentristisch und kolonialistisch gefassten Abwertungen – wie sehr sie nur den Versuch spiegeln, zu einer Beschreibung der Unterschiedlichkeit von Menschen zu kommen. Es stimmt schon, dass manche Äußerung dem Zeitgeist und dem Erkenntnisstand geschuldet ist, manchmal mit einer idealisierenden, kulturkritisch gemeinten Überhöhung des Wilden verbunden, oft genug mit dem Erlebnis von Menschen, die wegen ihrer Fremdartigkeit durchaus Rang und Namen hatten – noch in der heute umstrittenen Denkweise des Johann Gottfried Herder, der die Humanität nur in der Gesamtheit aller unterschiedlichen Menschen verkörpert sieht. Folgt ihm Schleiermacher, wenn er „von der Einheit der Menschheit“²⁰ ausgeht? Fast noch schwieriger aber scheinen die kategorialen Ausgrenzungen innerhalb der nur vordergründig gemeinsamen Gesellschaft. Weite Teile der Landbevölkerung wurden gar nicht als Menschen wahrgenommen, sondern den Tieren zugeordnet, denen man als Adeliger oder Herrschaft in

 Karl Marx, Friedrich Engels: Werke Band 3, 1845 – 1846, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin: Dietz 1969, 5 – 7.  KGA II/12 (Anm. 17), 356 (Vorlesung 1820/21).

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Nacktheit begegnen konnte. Endgültig zeigt sich das Drama der gespaltenen Anthropologie im Umgang mit den Juden. Das Problem des kategorialen Ausschlusses begegnet erneut auf einer dritten Ebene. Sie hat mit einer richtungsweisenden Einsicht Rousseaus zu tun, die sich aber dialektisch verkehren kann. Er begründet eine Anthropologie des Kindes, indem er Kindheit als einen besonderen Status im menschlichen Leben begreift, der nach bewusster Aufmerksamkeit und besonderen Handlungsweisen verlangt. Bei Rousseau gleich mehrfach bestimmt. Einmal wiederum theologisch, eng mit einem strikten Naturbegriff verbunden. Alles ist gut, wie es aus der Hand des Schöpfers kommt, alles wird durch die Menschen verdorben; durch Menschen, die in aller Aufklärung und allem Fortschritt der Wissenschaft vergessen, was Moral und Tugend verlangen. Damit wird der Mythos vom unschuldigen Kind geboren, der in der Reformpädagogik geradezu gefeiert wird.²¹ Rousseau teilt ihn nicht, beschränkt sich auf die Idee vom unschuldigen Wilden. Die andere Seite besteht im politischen Wunsch nach einer guten Ordnung des Lebens. Die Heilung der Welt und die Rückkehr in einen tugendhaften Zustand ermöglicht für Rousseau eine Erziehung, die indes mit einer entsetzlichen Grausamkeit beginnt; damit, dass das Kind seinen Eltern entzogen, auf sich verwiesen in einen Wald gebracht und der Willkür eines Erziehers ausgesetzt wird. Der dann sein eigenes Leben für die Erziehung aufgibt. Mit Verlaub gesagt: eines der schlimmsten Experimente, mit welchen sich die Pädagogik in der Verehrung für Rousseau bis heute schmückt, unentschieden übrigens, ob es um das Kind oder um eine andere Gesellschaft geht. Das Experiment endet düster, der so für sich erzogene Emile ist unfähig, dauerhaft soziale Beziehungen aufzubauen, schon gar nicht zum anderen Geschlecht. Wäre das Experiment erfolgreich, würde es mit dem Aussterben der Gattung enden. Die Dialektik dieser Anthropologie des Kindes besteht darin, dass ein menschlicher Sonderstatus denkbar wird. Die Kontinuität des menschlichen Lebens, wie sie in einer biographischen Identität sich ausspricht, wird in Frage gestellt. Mit Folgen bis heute: Die Anerkennung der Kindheit als anthropologischer Phase führt dazu, dass die Menschenrechte für Kinder besonders definiert werden müssen. Schutz und Sorge für Kinder als Kinder können übermächtig werden, verlangen nach institutionellen Räumen, die Orte der Absonderung werden. Kinder werden kategorial ausgeschlossen, weil die Anthropologie des Kindes erlaubt, Kinder gar nicht als Menschen zu betrachten.

 Vgl. Frithjof Grell, Der Rousseau der Reformpädagogen, Würzburg: Ergon 1996.

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Schleiermacher sieht dieses Problem, versucht Erziehung in einer Balance zu halten: Schutz, Behütung lassen sich nicht abweisen, weil Kinder gefährdet sind in ihren Lebensbedingungen und durch diese; sie müssen – um an die erste Ebene der Anthropologie zu erinnern – lernen, mit Gefährdungen umzugehen, die ihnen aus einer Kultur entstehen. Zu Schleiermachers Zeiten waren Unfälle mit Pferdefuhrwerken an der Tagesordnung, bei welchen Kinder zu Tode kamen. Kinder müssen zugleich als Menschen betrachtet werden, die eben nicht bloß gut oder edel sind, sondern moralisch falsch handeln können. Aufgrund innerer Entwicklungen, die eben deshalb eine Gegenwirkung verlangen. Deshalb sind Strafen denkbar – pädagogisch umstritten, möglich jedoch, wenn man Kinder als verantwortlich agierende, moralische Menschen betrachtet. Leitung wird erforderlich. Aber all dies führt zu der entscheidenden Maxime, die wiederum für alle Menschen gilt: Was immer als Erziehung geleistet wird, muss unterstützend wirken. Die Eigentätigkeit des Menschen als unbedingte – anthropologische – Voraussetzung darf und muss angeregt, durchaus angeleitet, also unterrichtlich belehrend realisiert werden, so dass die Beziehung zwischen dem individuellen Subjekt und der es umgebenden, sozialräumlichen Umgebung unterstützt wird.²² Die äußere und innere Vermittlung wird enger, so eng, dass man von einer Interaktion zwischen Natur und Geist sprechen kann, es gibt keinen „Gegensatz von Leib und Seele“²³. Aber es tritt eine unabdingbare Kautel hinzu: Diese Vermittlung muss im Horizont von Anfang und Ende gesehen werden, von einem Maximum an anregender und erregender Unterstützung bis zu einem Ende in der Freiheit subjektiver Selbstbestimmung. Man kann sie als Kooperation derjenigen fassen, die zunächst zwei Generationen zugeordnet waren, während das Ende der Erziehung auszeichnet, dass diese Differenz irrelevant wird. Übrigens wiederum ein Gedanke, der ähnlich bei Hegel auftritt. Was auf eine innere Sachgesetzlichkeit von Erziehung hinweist. Sie fügt sich ein in das, was jüngere Anthropologie ebenfalls erklärt. Allerdings: Schleiermacher warnt vor Annahmen über die Ähnlichkeit des anthropologischen Bewusstseins in den verschiedenen Völkern,²⁴ setzt sich selbst immer wieder der Frage nach dem „Gleichbleibenden“ in jedem Einzelnen aus, um dieses dann ausdrücklich für die Pädagogik beiseite zu schieben: „Dies ist wieder etwas Unendliches, und die Psychologie oder An-

 Vgl. André Munzinger, „Schleiermachers Geselligkeitskonzeption“, in: Der reformierte Schleiermacher. Gespräche über das reformierte Erbe in seiner Theologie, hg. v. Anne Käfer, Berlin / Boston: De Gruyter, 87– 100.  KGA II/12 (Anm. 17), 281 (Vorlesung 1813/14).  KGA II/12 (Anm. 17), 349 (Vorlesung 1820/21).

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thropologie muss hier vorausgesetzt werden“²⁵. Man könnte ergänzen: Aber das beschäftigt uns nicht im Kontext der Pädagogik. Schleiermacher bezieht sich zunächst schon auf das, was als Anthropologie gemeinhin für die Pädagogik galt und oft genug gilt. Er blendet das Thema nicht aus, doch verschiebt er es in eine Dimension starker Abstraktion. Man merkt ihm an, wie er mit den vorgeblich festen Anthropologien seiner Zeit in Dissens geraten ist – vermutlich aufgrund der historisch erfahrenen Instabilität, wahrscheinlich angesichts der wissenschaftlichen Debatten, nicht zuletzt wegen seiner eigenen Auseinandersetzung mit einer zunehmenden Säkularisierung. Dabei bemerkt er schon, wie spätestens mit der Reformation eine Bestimmung der Erziehung „aus einem religiösen Gesichtspunkt veraltet war.“²⁶ Um 1800 spitzt sich die Debatte um das Wesen des Menschen zumindest im intellektuellen Raum zu, mit deutlichen Auswirkungen auf die Pädagogik – die ja nun selbst ihrem Begriff nach noch als Neuankömmling gelten kann, wie Bildung und Kultur. Im Allgemeinen bleibt man bei den religiösen Vorstellungen menschlicher Existenz, von Gott bestimmt, der weiteren Natur überlegen, dieser aber ausgesetzt, mit dem wachsenden Anspruch darauf, diese Natur zu beherrschen. Aber zugleich geraten Vorstellungen von einem Wesen in die zersetzende Mühle historischer Auffassungen, die schließlich philosophisch artikuliert werden. Erneut zeigt sich: So weit liegen Schleiermacher und Hegel gar nicht auseinander, zumindest formal betrachtet. Der eine schreibt eine Ethik in Verbindung mit der Geschichte, der andere macht die Evolution der Vernunft zum Thema. Dies alles lässt die Grundlagen der Pädagogik unsicher werden, darin, was Menschen als Menschen auszeichnet, Schleiermacher hadert mit den anthropologischen Gewissheiten, sieht Spannungen und Widersprüche, die alle Lebensbereiche durchziehen. Widersprüche, die in der Erziehung dann aufgenommen werden müssen, entweder negierend und aufhebend oder eben fördernd und verwirklichend. Es geht um Wesensaussagen über Menschen, die mit Wertungen und normativen Folgen verbunden sind, wenn und sofern das substanzielle Urteil allgemein oder konkret nicht zutreffen sollte. Man könnte zurückhaltender von einem Menschenbild sprechen, das pädagogische Fachkräfte einigermaßen unvermeidlich leiten sollte und leiten muss – aber die Anthropologie wird meist schon mit mehr Gewicht in die Debatte eingebracht, mit Vorstellungen davon, dass Menschen prinzipiell und wesensmäßig gut sind oder böse, aufs Paradies zugehen könnten. Als Gute brauchen sie vielleicht gar keine Erziehung. Oder

 KGA II/12 (Anm. 17), 356 (Vorlesung 1820/21).  KGA II/12 (Anm. 17), 347 (Vorlesung 1820/21).

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doch, dann in der differenzierten Version, nach der ihnen andere Menschen und ihre gesellschaftliche Organisation einen Strich durch die Rechnung machen würden. Wie Rousseau das behauptet hat. Demgegenüber steht die eher trübe, in pietistischen Kreisen verbreitete Version, nach der Menschen eigentlich böse sind, weil von der Erbsünde belastet. Heilen kann hier nur ein strenges Reglement, wie etwa August Hermann Francke das nahelegt, ständige Fremd- und Selbstobservation, um den schädlichen Neigungen, den Lüsten allzumal entgegenzutreten. Die Pointe hier: Der Pietismus fördert die Einsicht in die Natur, erst recht übrigens in die innere. Ohne ihn wäre die moderne Psychologie vielleicht nicht zu denken. Das verbindet sich nun mit dem religiös antretenden, aber säkular und mundan gewendeten Vervollkommnungsanspruch der Aufklärung. Der ist längst verdorben, weil die Pädagogik eine Erziehungsbedürftigkeit als Moment der kindlichen Anthropologie angenommen hat, die aber durch ein utilitaristisches Denken kontaminiert worden ist. Die Philanthropen, notabene: Menschenfreunde, hatten sich diesem verschrieben, wie etwa das sechzehnbändige Revisionswerk widerspiegelt:²⁷ Darf man die Vollkommenheit und Harmonie des Menschen seiner Nützlichkeit und Brauchbarkeit aufopfern? Sie antworten mit ja. Schleiermacher hat seine Zweifel.²⁸ Er präferiert den Bildungsbegriff, aber eher deskriptiv und analytisch, nicht emphatisch, als ob er schon ahnt, was diesem dann zu Beginn des 21. Jahrhunderts widerfährt: Bildung als Vorwand auf die Vermessung von Schulsystemen und ihren Insassen gerichtet, im Blick darauf, ob und wie weit sie den Vorhaben von Investoren taugen.²⁹ Gegenüber einer Anthropologie der Vervollkommnungsfähigkeit steht Freiheit, auch in der Pädagogik. Der Begriff hält anthropologisch eine Nicht-Determiniertheit von Menschen fest, ihre Offenheit und zugleich die Fähigkeit zu einem eigenen, selbst begründeten und verantwortlichen Handeln, das nach vernünftiger und moralischer Begründung verlangt. Was die Frage aufwirft, woher eigentlich die Kriterien der Moralität stammen. Herbart nimmt dies beispielsweise auf,³⁰ fokussiert Erziehung auf die Entwicklung der Moralität, bringt sie in Verbindung mit dem Wissen um die Welt und um die Schönheit des Handelns – die

 Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher, hg. v. Johann Heinrich Campe, Hamburg: Bohn 1785 – 1792.  KGA II/12 (Anm. 17), 347 (Vorlesung 1820/21); vgl. auch Herwig Blankertz, Berufsbildung und Utilitarismus. Problemgeschichtliche Untersuchungen, Weinheim / München: Juventa 1985.  Vgl. Karl-Heinz Dammer, Vermessene Bildungsforschung. Wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe zu einem neoliberalen Herrschaftsinstrument, Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren 2015.  Johann Friedrich Herbart, Sämtliche Werke Band 1, Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung, hg. v. Karl Kehrbach, Langensalza: Beyer 1887, 259 – 274.

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Überlegung wird in der ästhetischen Darstellung der Welt verdeutlicht,³¹ in einer engen, an Kant angelegten Verbindung von Moralität und Schönheit. Ganz löst Herbart das Problem nicht, weil Erziehung bei ihm eben doch Einfluss auf das Kind nimmt, es sozusagen zunächst in den Zustand bringen muss, in dem die natürliche Willkür so gemindert wird, dass eine Erziehung zur Moralität den Willen begründen kann. Die Herstellung dieser Bildsamkeit zur Moralität erfolgt bei Herbart durch eine Art proto-Erziehung, die er als Regierung bezeichnet. Die „eigentliche Erziehung“ des moralischen und freien Zöglings rechtfertigt sich dann dadurch, dass die Erzogenen schon später ihre Zustimmung geben werden. Hegel nutzt ein ähnliches Modell, sieht die Sache pragmatischer, weil der Eintritt in die freie bürgerliche Gesellschaft den moralischen, eigentlich ethischen Umgang miteinander sichert. Schleiermacher bleibt konsequenter und setzt auf die ethische Qualität der sittlichen Gemeinschaften, in welche sich das Subjekt von Anbeginn seines Lebens hineinbegibt. Die sozialen Milieus wirken, wenn sie denn entsprechend gestaltet sind – und, ich greife vor, das geschieht möglicherweise nicht immer. Offensichtlich soll die Perspektive auf das Schöne dem Dilemma entkommen, Schiller hat das schon so gesehen. Sie begleitet von nun an die Pädagogik, gibt ihrem Selbstverständnis als Kunst eine weitere Bedeutung. Schönheit fügt sich einer Gestaltvorstellung. Zugleich erweist sich die Schönheit menschlicher Lebensführung als moralisch ausgewiesen, selbst Makarenko folgt dieser Auffassung, um sie nur ein wenig hinter der Vorstellung des idealen Sowjetmenschen zu verstecken. Die andere Konkurrenz zum Vervollkommnungsanspruch ergibt sich übrigens mit den frühmaterialistischen Denkweisen, die Menschen als Naturwesen betrachten.³² Menschen sind demnach Teil der gesamten Natur, eigentlich ein Vorgriff auf die Evolutionslehre, die ja mit dem Sieg im Überlebenskampf selbst ein wenig religiös bleiben wird. Man hat nun eine Erklärung für das Paradies, die Natur hat es gewollt. Dabei aber tritt eine weitere Metapher auf, nämlich die von Menschen als Maschinen, die angetrieben und geschmiert werden müssen, funktionieren und repariert werden können. Manchmal werden sie von Gott in Gang gesetzt, der sie dann auch wieder anhält. Die Vorstellung wird mittelfristig hoch bedeutsam, trägt erneut heute noch, mehr denn je übrigens. Nun gelten Menschen als biologische Maschinen, die beeinflusst und gesteuert werden können.

 Johann Friedrich Herbart, Sämtliche Werke Band 2, Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet, hg. v. Karl Kehrbach, Langensalza: Beyer 1887.  Vgl. Werner Krauss, Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Die Frühgeschichte der Menschheit im Blickpunkt der Aufklärung, Berlin: Akademie Verlag 1978.

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Das nun führt zu einer fünften Ebene, die bei Schleiermacher wohl der zeitgenössischen Wissenschaftssituation geschuldet ist. Sie erregt und verwirrt, es fällt nun schwer, „die Frage zu beantworten, was denn das Reale in der menschlichen Natur ist, jeder wird hier etwas sagen, aber darüber in Verlegenheit sein, ob seine Antwort auch das Ganze umfasse und allgemein befriedigend sei“³³. Denn um 1800 setzen die Ausdifferenzierung der Wissenschaften verbunden mit einem deutlichen Wissenszuwachs und zugleich eine neuartige, fruchtbare Form des kommunikativen Miteinanders zwischen den Disziplinen und ihren Erkenntnissen ein. Obwohl diese Ausdifferenzierung das Ende des Systemdenkens einläutet, wirkt sie sich zuerst in dem aus, was als spekulative Naturphilosophie bezeichnet wird, so etwa bei Schelling. Die akademischen Debatten rezipieren mit einiger Faszination die Befunde, was den einen oder anderen denkenden Zeitgenossen dazu bringt, eher selektiv, wenn nicht sogar erratisch Befunde aufzunehmen, weil und sofern sie in die eigene Erfahrungswelt sich fügen. So orientiert sich Schleiermacher Pädagogik immer wieder an zeitgenössischen medizinischen Beobachtungen, wobei er selbst – für heute ein wenig überraschend – die Gefahr sieht, dass das pädagogische Denken die Medizin an den Rand drängen könnte.

3 Erdungsverlust für die Pädagogik In der Rezeption der Schleiermacherschen Pädagogik rückte vor allem die Fassung von 1826 in den Mittelpunkt. Sie ist geradezu kanonisiert, gilt als der systematisch reifste Entwurf. Zunächst hat das aber schlicht mit unzureichender Überlieferung zu tun. Die Vorlesung von 1813/14 kann als die eigentlich authentische gelten, weil sie auf handschriftlichen Notizen beruht, ergänzt um ebenfalls von Schleiermacher festgehaltenen vereinzelten Gedanken. Eher nachlässig wurde die Vorlesung von 1820/21 behandelt, weil sie lange nur in Kurzformen vorlag, die auf das sie vorgeblich beherrschende Thema der Gegenwirkung und Strafe fokussiert wurden. Inzwischen ist die Textlage für diese als tragfähig zu bezeichnen, weil sie auf mehreren für sich bestehenden Nachschriften beruht. Schleiermacher hat seinen Gegenstand hier ebenfalls umfassend dargestellt, es ist eine vollständige Darstellung der Pädagogik, die insofern noch als besondere zu betrachten ist, weil in ihr der Zusammenhang zu der im Sommer-Semester 1821 folgenden Vorlesung zur Psychologie deutlich wird. Die Vorlesung von 1826 geht bekanntlich auf die Edition von Platz zurück, der jedoch mehrere Nachschriften

 KGA II/12 (Anm. 17), 349 (Vorlesung 1820/21).

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kompiliert hat, um eine schöne Textgestalt zu erzielen, auf Kosten der Authentizität und philologischen Korrektheit. Tatsächlich liegt jedoch in der Auseinandersetzung um die Anthropologie eine der entscheidenden Veränderungen in den unterschiedlichen Fassungen seiner Pädagogik. Diese gehen in den verhandelten Themen allerdings gar nicht so weit auseinander, wie man vielleicht vermuten möchte – es liegt nahe, dass sich Schleiermacher stets auf ein Konvolut von Notizen stützte, diese aber unterschiedlich arrangiert und damit systematisch differente Theorien entwickelt hat. Schleiermacher knüpft noch 1813/14 an eine eher optimistische Vorstellung der menschheitlichen Situation und einen Progress ihrer Entwicklung an: „Die Gestaltung der Erziehung beruht auf zwei Brennpunkten. Allgemein: Auf dem Interesse an der Jugend, dem Bestreben, ihr nachzuhelfen und sie die eigenen Verwirrungen vermeiden zu lassen. Besonders auf dem Gefühl dessen, was in der Gestaltung des gemeinsamen Lebens mangelhaft ist“³⁴. Selbst 1820/21 hält er noch eine gewisse Bedeutung der Anthropologie für die Pädagogik fest. So bezieht er sich auf die zeitgenössisch verfügbaren Annahmen, mithin auf die von der Anthropologie festgestellte „Menge der Rassen“³⁵, sodann auf die Gleichmäßigkeit und Kontinuität im menschlichen Gattungsleben, die verlangen, dass „Psychologie und Anthropologie […] vorausgesetzt“ werden müssen³⁶. Noch meint er hier, „an diejenige Vorstellung über das appelieren“ zu können, „was die Vollkommenheit des Menschen ausmacht, wovon wir glauben können, dass alle Menschen darin einig sind“³⁷. Die Natur des Menschen stellt ihm einen wichtigen Leitfaden dar, der ihm hilft, die Pädagogik zu entwickeln. Wie weit aber trägt solches anthropologische Denken? Von Anbeginn seiner Auseinandersetzung mit Pädagogik, eben doch schon in den Überlegungen der Reden zur Religion, dann erst recht in seiner Ethik spielt für Schleiermacher eine Rolle, was man als einen mehrfachen Paradigmenwechsel in der Pädagogik bezeichnen kann – wobei ihm die Position zwischen Kritik und Affirmation³⁸, zwischen Aufklärung und Modernität einerseits sowie Traditionalität andererseits³⁹ vielleicht sogar zu Gute kommt. Er wählt einen eigenen Denkweg, den er in seiner Wissenstheorie formuliert, immer in dem Versuch, das Wissen im Werden zu begreifen, dabei spekulatives Denken und

 KGA II/12 (Anm. 17), 273 (Vorlesung 1813/14).  KGA II/12 (Anm. 17), 354 (Vorlesung 1820/21).  KGA II/12 (Anm. 17), 356 (Vorlesung 1820/21).  KGA II/12 (Anm. 17), 349 (Vorlesung 1820/21).  Vgl. Kleint 2008 (Anm. 11).  Vgl. Andreas Arndt, Die Reformation der Revolution. Friedrich Schleiermacher in seiner Zeit, Berlin: Matthes und Seitz 2019.

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empirisches zu verbinden, so dass Gegenstandserkenntnis möglich und zugleich Forschung wie eine Praxis möglich werden, die Individualität und Freiheit als Maßstab haben. Dieser Paradigmenwechsel entsteht aus seiner Einsicht in die historische Umbruchssituation, die Wende zur bürgerlichen Gesellschaft, aus der Sympathie für die Revolution und dem Entsetzen über den Terreur, aus der unmittelbar erfahrenen Spannung zwischen Reform und Restauration, nicht zuletzt aus dem Umbruch der Denkweisen. All das weckt Zweifel an einer Erziehung, die als Tradition des Überkommenen sich darauf richtet, heranwachsende Menschen in eine Kultur einzufügen. Schleiermacher erkennt: Menschen sind Subjekte, nur in Freiheit zu denken. Und wenn Verhältnisse eigentlich zu verwerfen sind? „Hierin liegt die Aufgabe dem Zögling soviel Kraft und Freiheit anzuerziehen daß er dies aufheben könne“⁴⁰. Die Subjekte entwickeln sich, in einer Gesellschaft, die sich selbst verändert. Das ist ihre Natur, die aber als allgemeine vorauszusetzen ist, mehr oder weniger formal, als Bewegungsprinzip des Lebens, das sich dann doch vergegenständlicht. In einer Geschichte. Dies aber bedeutet für das Verständnis von Erziehung, dass er die institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen untersuchen muss, die für diese Entwicklungsvorgänge gegeben sind. Was in den sozialen Zusammenhängen geschieht und geschehen kann, klärt er immer wieder in historischer Vergewisserung sowie im Nachdenken über Implikationen und Möglichkeiten, die manchmal dramatisch sein könnten. Er thematisiert sogar die Unterrichtsgegenstände, die ihm über die gutachterliche Tätigkeit bekannt waren. Man muss diesen Implikationen konkret nachgehen, wie Schleiermacher das nahezu in jeder Stunde seiner Vorlesungen über Pädagogik tut, allzumal in jenen, die ihren Besonderen Teil ausführen. Als Bezugslinie dienen ihm dabei die in der Psychologie entfalteten Entwicklungsphasen des Kindes. Mit Blick auf diese prüft er, was das eine oder das andere an erzieherischen Aktivitäten bedeuten kann, stets aufmerksam auf den Zusammenhang zwischen subjektivem Lebensprozess und die diesen umgebenden Konstellationen und Formationen. Endlich aber bewegt ihn als Hintergrund der selbst noch historische Prozess der menschlichen Gattung. Er ist Thema seiner Ethik, mit all den Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. Optimistisch, in gleichsam traditioneller und aufklärerischer Denkart, zeigen die hier verwendeten anthropologischen Figuren auf, wie

 KGA II/12 (Anm. 17), 264 (Vorlesung 1813/14).

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die Menschheit einer Zukunft entgegenschreitet, teleologisch, wie viele bei Schleiermacher lesen, die als Paradies, mithin eschatologisch vorgestellt wird, oder mit der Idee der Vervollkommnung verbunden ist. Zuletzt war die Perfectibilité als Voraussetzung und Moment der Bildsamkeit in Anschlag gebracht worden, Fichte, Kant, kaum einer, der nicht daran dachte, dass ein künftig möglicher besserer Zustand zu erwarten sei, zumindest, wenn man sich dazu der Alten entledigt und die Geschicke in die eigene Hand nimmt. Noch mehr Emphase zeigen jene, die begreifen, dass und wie Menschen nur durch Menschen werden, also durch die Erziehung. Dass eine Humanisierung des Humanen mit der Educabilität in Verbindung steht. Es geht um die Erziehung des Menschengeschlechts, wie Lessing anmahnt, wie Schiller sie entwirft, mit dem Hinweis darauf, dass diese Humanisierung auf inneren Kräften von Menschen beruht, dennoch die wahre Existenz erlaubt, im Spiel der Freiheit, die als Schönheit empfunden und erlebt wird. Schleiermacher greift das auf, wenn er gegenüber der „Contemplation, ein Zurückgezogenseyn in sich selbst, worin aber überall eine ideale Lebendigkeit, Beziehung zwischen dem was in der inneren Wahrnehmung ist und den größten, höchsten Ideen“ sowie die „speculative Tätigkeit die aber in der Werkbildung begriffen ist“, dann die „imaginative Thätigkeit“ setzt, „die in ihrem maximum betrachtet in einer Conception irgend eines Kunstwerks besteht“. Er fügt hinzu: „das innere Spiel der Phantasie findet sich in allen Menschen mit einer inneren Produktivität“.⁴¹ Das sind vorsichtige, eher psychologische Beschreibungen menschlicher Motive, die eher als ein erläuterndes „Analogon“ zu verstehen sind.⁴² Zugleich eröffnen sie eine weitere Perspektive dem pädagogischen Denken, nämlich die enge Kopplung an die Ästhetik als Medium freier künstlerischer Gestaltung, in der das Eigentliche hervortritt, Form und Stoff vereinigend, nicht willkürlich, sondern kompositorisch und bewusst in freier Fassung hervorgebracht, die dem Subjekt gerecht wird. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Schleiermacher dem gefolgt ist, zwischen Schillers Erziehung und den Reden finden sich Übereinstimmungen, sein ästhetisches Denken war wichtig für die Pädagogik.⁴³ Aber damit zeigt sich erneut eine Abkehr von der alten Anthropologie hin zu einer neuen, die mit einem entwerfenden Verständnis vom Menschen einhergeht.

 KGA II/12 (Anm. 17), 719 (Vorlesung 1826).  KGA II/12 (Anm. 17), 719 (Vorlesung 1826); vgl. Sarah Schmidt, „Analogie versus Wechselwirkung – Zur ’Symphilosophie’ zwischen Schleiermacher und Steffens“, in: Friedrich Schleiermacher in Halle 1804 – 1807, hg. v. Andreas Arndt, Berlin / Boston: De Gruyter 2013, 91– 114.  Vgl. Mari Mielityinen, Das Ästhetische in Schleiermachers Bildungstheorie. Theorie eines individuellen Weltbezugs unter Einbeziehung der Theorie des Ästhetischen bei Schiller,Würzburg: Ergon 2009.

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Die entscheidende paradigmatische Änderung entsteht aus einer weiteren Fragedimension, nämlich der nach dem zunehmenden Bewusstsein der Akteure als einem Motor der historischen Entwicklung. Das gilt zunächst für die menschliche Existenz schlechthin, die er mit dem Wissen im Werden parallelisiert. Geschichte ist auch Geschichte des Geistes, der Vernunft, zumindest idealerweise so gedacht. Wenn man mit Hegel denken würde. Aber genau darin liegt gleich eine mehrfache Tücke, wenn es um die Anthropologie der Pädagogik geht, wenn es vor allem darum geht, Pädagogik wissenschaftlich zu begreifen: Als eine Wissenschaft, die sich auf das Gegebene bezieht, die Tatsachenwissenschaft ist, empirisch verfährt, mithin das Vorfindliche betrachtet. Hier nun spielt eine Rolle, dass ein doppeltes, vorfindliches Problem menschheitsgeschichtlich zu lösen ist – und dabei aus der Anthropologie herausführt. Als ein allgemeines Problem der Sicherung und Wahrung menschlichen Lebens. Dann als ein besonderes, das sich in Gestalt einer modernen Gesellschaft stellt, die nicht mehr hierarchisch und eindeutig gelöst ist, sondern sich in der Spannung zwischen monologischer Individualität und in Geselligkeit erfahrener Gesellschaftlichkeit stellt. Seine Lösung findet dieses doppelte Problem in Gestalt einer – wenn man so modern sprechen will – funktionalen Praxis. Das Denken verlässt die Anthropologie und wird soziologisch. Denn die sozial funktionale Praxis findet sich in der bewusst gestalteten Erziehung, die zwar schon immer „irgendwie“ geleistet und so gesehen vorausgesetzt werden kann. Wobei diese Anleihe an moderne soziologische Einsichten noch weiterführt. Schleiermacher erkennt die aktuelle Problemgestalt darin, dass in einer differenzierten Gesellschaft die Individuen befähigt sein müssen, sich in den unterschiedlichsten Dimensionen des Lebens auf diese Vielfalt von sozialen Sphären zu beziehen:⁴⁴ Darauf heben die Verweise auf das Gefühl, auf Liebe ab, dann aber besonders der für die Pädagogik leitende auf Gesinnung. Die Frage lautet: Wie gewinnen Subjekte diese in einer differenzierten Gesellschaft eigentlich unmögliche soziale Grundeinstellung im Laufe ihres Entwicklungsprozesses? Und die Antwort lautet: Sie erleben diese in ihren Beziehungen zu diesen Sphären, zu Familie, Schule, Religion, Wissenschaft und Staat, aber nicht einfach sozialisatorisch, sondern in einem moderierten Verhältnis zu diesen, also durch Unterstützung, Behütung, Gegenwirkung, die aber doch das (Selbst‐)Bewusstsein entstehen lassen. Wenn man so will als ethische Grunddisposition eines jeden Menschen. So gesehen realisiert Schleiermacher die wissenschaftliche Betrachtung der Pädagogik gleichermaßen als Tatsachenwissenschaft, die empirisch verfährt und die vorfindli-

 Vgl. Munzinger 2019 (Anm. 22).

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chen Einrichtungen gleichsam funktional analysiert, andererseits aber offen genug angelegt bleibt, um nicht deterministisch zu wirken. Dabei wirken sich noch die zeitgenössischen Debatten um Möglichkeiten und Grenzen von Erkenntnis aus, bis hin zu den Fragen, die sich durch Kants Versuch stellen, grundlegende Erkenntnisformen jenseits ihres Inhalts zu fassen: Raum und Zeit. Vor allem die zweite scheint Schleiermacher umzutreiben, wenn es um die anthropologischen Voraussetzungen von Pädagogik geht. Oder anders, eigentlich besser formuliert: Wer die Zeitlichkeit mit in den Erkenntniszusammenhang aufnimmt, kann vor dem Prozess der menschlichen Entwicklung nicht Halt machen. Menschen müssen in ihrer Individualität, in ihren Beziehungen zu anderen und ihrer lebensweltlichen Umgebung bedacht werden, aber eben doch in ihrem durchgehend sie auszeichnenden Entwicklungsprozess, Leben und Bildung gehören zusammen, notorisch. Und das verbietet, nur noch von Wirkungen zu sprechen – selbst wenn es um Wirkungen geht, so paradox das klingt, so unvermeidlich diese bei Erziehung sind. Sie führen immer zu Veränderungen, sie stehen in Wandlungsprozessen, die das ganze Leben ständig in Veränderung halten. Wie stark, wie intensiv? Wann fangen sie, wann hören sie auf? Können sie überhaupt begrenzt werden oder zeichnet das Erziehungsgeschehen nicht doch eine Veränderung aus, die zum Ende kommen muss, aber doch anhält, freilich nach der Erziehung? Aber was bedeutet das dann?

4 Eine vorsichtig zurückgenommene Anthropologie In den Vorlesungen von 1813/14 und 1820/21 stellt Schleiermacher schon diese Fragen; es geht ihm schließlich um eine Antwort auf die für ihn entscheidende wissenschaftliche Herausforderung: „was versteht man unter Erziehung?“⁴⁵. Sechs Jahre später geht er noch einen Schritt weiter und setzt das Allgemeinverständnis von Erziehung voraus, um in die wissenschaftliche Betrachtungsweise einzutreten. Aber von Anbeginn an treibt ihn um, wie Pädagogik zwar von der Sittenlehre ausgeht, aber eben doch „ihre Realität selbst begründe[t]“.⁴⁶ Die Ethik hält dabei den funktionalen Ort der Erziehung fest; wo sie also im sittlich-geschichtlichen

 KGA II/12 (Anm. 17), 348 (Vorlesung 1820/21).  KGA II/12 (Anm. 17), 259 (Vorlesung 1813/14).

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Prozess stattfindet.⁴⁷ Nicht aber: wie. So gesehen gibt es keine Hierarchie zwischen Ethik und pädagogischer Theorie,⁴⁸ auch keine Teleologie, wie Langewand vermutet hat⁴⁹. Das Argument für die Realität der Erziehung gleicht allerdings dem heute für den Wagenhebereffekt vorgebrachten: „Denn wenn die großen sittlichen Formen sich nicht von einer Generation auf die andere in ihrem Wesen erhielten, so wäre das in der Sittenlehre dargestellte nichts in sich selbst reales“; nur: einzelne Menschen kämen für sich, außerhalb des „lebendigen Zusammenhang mit anderen“ niemals auf das historisch und gesellschaftlich gegebene Niveau. Sie bedürfen der Einwirkung, die aber als Kunst darzustellen ist, was „das Object der Pädagogik“ sei.⁵⁰ Die Theorie der Erziehung versucht, die Verhältnisse allzumal zwischen den gegebenen Gestalten des Sozialen und dem sich entwickelnden Subjekt zu sortieren, das als Subjekt aller Erziehung zu Grunde liegt. Erziehung ist „Einleitung und Fortführung des Entwicklungsprozesses des einzelnen durch äußere Einwirkung“:⁵¹ Das sich verändernde Subjekt, das sich selbst und seine Beziehungen sowie sich in diesen zunehmend mit Bewusstsein bestimmt, das Subjekt in dem Sinne des Ausdrucks als das zu Grunde liegende, dem sich dann doch alles fügen muss. Unter der Voraussetzung von anfangs starker Rezeptivität und zunehmender Spontaneität. Irgendwie wenigstens – und ständig neu, weil Erziehung eben wirkt und Veränderung initiiert, unterstützt, behütet oder ihr entgegenwirkt. All dies tritt schon auf, lässt sich durchgängig als Grundfiguren der Vorlesungen identifizieren. Das Problem wirkt noch ein wenig gezähmt, weil die Erziehung nun zwar – ein ganz moderner, soziologischer Gedanke – ein anthropologisches Problem löst, durchaus funktional, aber zunächst einlinig. Aber noch bleibt dies an eine weitgehend konstante grundlegende Anthropologie gebunden; es ist das Wesen des Menschen, das sich im Fortschritt zeigt, als Ausdruck der ihm inhärenten perfectibilité, wie die Aufklärung versprochen hat. Immerhin: Ausschließen lässt sich nicht, dass einer historischen „Periode des Steigens“⁵² eine des „Verfalls“ gegenübertreten kann⁵³. Noch mehr Zweifel stellen sich 1820/21 ein, wobei hier  Friedrich Schleiermacher, Ethik (1812/13), hg. v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg: Meiner 1981, 29, 32, 41, 112; Friedrich Schleiermacher, Brouillon zur Ethik (1805/06), hg. v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg: Meiner 1981, 54– 59, 92.  Henning Schluß, „Hierarchie und Normativität – Fragen an zwei Konzepte pädagogischer Praxis“, in: Normativität und Normative (in) der Pädagogik, hg. v. Thorsten Fuchs / May Jehle / Sabine Krause, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, 141– 155, hier: 143.  Vgl. Langewand 1987 (Anm. 9).  KGA II/12 (Anm. 17), 260 (Vorlesung 1813/14).  KGA II/12 (Anm. 17), 260 (Vorlesung 1813/14).  KGA II/12 (Anm. 17), 277 (Vorlesung 1813/14).  KGA II/12 (Anm. 17), 278 (Vorlesung 1813/14).

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schon die Möglichkeit des Steigens und Sinkens in Betracht gezogen wird, freilich erst ziemlich in der Mitte des Kollegs: „Was ist nun das Verhältniß jedes Geschlechts zum folgenden in der Periode des Steigens? Offenbar ist jedes besser als das vorige. Das Verhältnis des Fallens ist, „daß das künftige Geschlecht immer schlechter wird als das vorige“.⁵⁴ Noch argumentiert Schleiermacher hier zumindest tendenziell anthropologisch, hat aber schon Zweifel. Dass die jüngere Generation schlechter wird, könnte daran liegen, dass „ja aber die Natur auch schlechter“ werde.⁵⁵ Aber: Anthropologisch könnte man doch mindestens ebenso festhalten, ganz im Sinne des nicht-genetischen Erbes: „Der Mensch ist ja in einem Gegensatz gegen die Natur, und so ist der Mensch in einem Teil der Erde fest geworden, so | wird sein Leben freier, jener Gegensatz schwindet immer mehr, und jenes freie Leben wirkt auch auf die Quellen der Erzeugung unter günstigen Umständen“⁵⁶. Allerdings: Liegt im Menschen „ein Keim von Corruption [..], so wirkt er auch auf die Erzeugung und die Menschen werden schlechter“.⁵⁷ Man merkt, dass und wie Schleiermacher um eine Bestimmung von Erziehung ringt, mit bitterer Anklage gegenüber den vielen „einseitige[n] Neuerungen“ im Erziehungswesen, die auf einen Fall der kulturellen Situation schließen lassen. Hoffnung gibt ihm dabei, dass „der Sinn für das Fremde geöffnet ist, und die Liebe zum Fremden ist vorüberge|gangen. Dies ist ein Symptom vom Steigen“⁵⁸. Eine kryptische Formulierung, die vermuten lässt, dass Schleiermacher hier eher für eine nationale Ausrichtung sich entscheidet, vermutlich wohl gegen die Napoleonischen Einflüsse. Das muss offenbleiben – oder auch nicht, weil diese heute konservativ klingende Kritik dennoch den Weg zu einer eigenständigen Sicht auf Pädagogik öffnet, die vielleicht bürgerlich fortschrittlich erscheint, wie Schuffenhauer⁵⁹ einst vermutet hat. Systematisch jedenfalls einen eigentlich sozialpädagogischen Weg schon eröffnet. Dennoch kann er 1820 das Problem noch postponieren. Die Vorlesung zur Psychologie schließt nämlich an. Die Verbindungen mit dieser waren schon 1813/ 14 klar, aber nun denkt Schleiermacher beide zusammen. Die Vorlesungen ergeben ein inneres Geflecht, zwischen den Überlegungen, die der äußeren Gestalt des Erziehungsgeschehens gelten und dem, was ihn als der innere Beweggrund von Erziehung gegeben und verhandelt werden kann und muss: Die Bildung des

 KGA II/12 (Anm. 17), 443 (Vorlesung 1820/21).  KGA II/12 (Anm. 17), 443 (Vorlesung 1820/21).  KGA II/12 (Anm. 17), 443 (Vorlesung 1820/21).  KGA II/12 (Anm. 17), 443 (Vorlesung 1820/21).  KGA II/12 (Anm. 17), 444 (Vorlesung 1820/21).  Heinz Schuffenhauer, Der fortschrittliche Gehalt der Pädagogik Schleiermachers, Berlin: Volk und Wissen 1956.

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Subjekts in seinen Lebensphasen, die sich getreulich in den unterschiedlichen Epochen der Erziehung niederschlagen. Noch ist das aber nicht wirklich innerlich verbunden, noch kann es getrennt verhandelt werden, sozusagen mit Blick auf zwei Wandlungskontinuen im menschlichen Leben, wie Norbert Elias das einmal gesagt hat, höchstwahrscheinlich ohne Bezug auf Schleiermacher: das Wandlungskontinuum der Gattung in ihrer Geschichte, die als ethischer Prozess zu begreifen ist, mithin als Zuwachs an Bewusstsein über das eigene Tun und – so müsste man wohl ergänzen – Wollen. Wie es die Ethik sozusagen in das Lehrbuch der Pädagogik schreibt. Und dann, auf der anderen Seite, in der Psychologie verhandelt, die Entwicklung des menschlichen Subjekts, nicht als linearer Prozess, sondern als Kontinuum der Veränderungen. Manchmal stoßweise vollzogen, wie er schreibt. Endlich die Vorlesung von 1826. Sie wird als die gerühmt, die in ihrer Systematik vollständig durchkomponiert ist – wie sehr Schleiermacher wohl von der „Hand in den Mund“ gelebt hat. Ihr Kern liegt zweifelsohne darin, dass er Erziehung als einen eigenen Sachverhalt begreift, dabei eine Theorie entwickelt, die dem pädagogischen Handeln einen inneren Grund gibt – und zwar noch darin, dass sie der von ihr geleiteten Praxis die Möglichkeit eröffnet, sich den Widersprüchen der Welt zu stellen. Es lohnt sich der Blick fast an das Ende des Kollegs von 1826: „Aber im allgemeinen hat die Theorie auf die Widersprüche hinzuweisen die in der Praxis überall hervortreten wo das Ende der eigentlichen Erziehungszeit nur theilweise mit der Anerkennung der Selbständigkeit verbunden ist“⁶⁰. Um diesen eigenen Sachverhalt der Erziehung darstellen zu können, wählt Schleiermacher eine komplexe Konstruktion, die ihn als einen individualisierenden Soziologen erkennen lässt: Zum einen löst er auf, was als anthropologisches Kontinuitätsdenken gelten könnte. Fortschritt ist möglich, aber nicht sicher. Es gibt ein Steigen und Sinken im historischen Prozess – der Verdacht der früheren Vorlesung hat sich bestätigt und gibt sogleich den Ausgangspunkt. Einen Ausgangspunkt, der sich doppelt relational darstellt, weil anders Temporalität nicht zu strukturieren wäre: Zum einen eben das Generationenverhältnis. Zum anderen zeigt sich aber, wie das menschliche Wesen eben so stabil nicht ist, zumindest jenseits von allen gemeinsamen Natureigenschaften, wie sie der lebendigen Bildung in den Tätigkeitsformen Rezeptivität und Spontaneität zum Ausdruck kommen. Bezogen auf eine mehr oder weniger objektive Wirklichkeit – die, deshalb die Einschränkung, selbst als lebendige Praxen zu verstehen sind, als Gü-

 KGA II/12 (Anm. 17), 871 (Vorlesung 1826).

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tergemeinschaften, wie die Ethik das schon festhält. Die Generationen stehen in Relation zu den Gütern, zu Kultur und Gesellschaft. Diese Dreieckskonstruktion zwischen älterer und jüngerer Generation sowie den Gütern, auf die wir Wert legen, erlaubt nun formal gesehen, dass zwar der historische Gattungsprozess in seiner Doppelung als Realgeschichte und begleitendem Bewusstsein, im idealen Fall als Werden des Wissens zur Grundlage wird – jenseits anthropologischer Substanzannahmen, beschränkt auf die Wesen der historischen und sozialen „Unwesentlichkeit“ von Menschen. [D]as menschliche Geschlecht ist aus einzelnen Wesen, die einen Cyclus durchlaufen und wieder verschwinden. Auf solche Weise, daß wir uns immer die Zusammenlebenden theilen können in eine ältere und jüngere Generation. Allein wenn wir das menschliche Geschlecht betrachten in seinen größeren Massen, den Völkern, so sehen wir daß keins von beyden sich darinnen vollkommen gleich bleibt. […] Auf diesen Grundlagen von den Verhältnissen einer älteren zu einer jüngeren Generation müssen wir nun alles bauen, was in das Gebieth dieser Theorie fällt.⁶¹

Die geschichtliche Entwicklung als Steigen und Sinken, als Diskontinuität wird Grundlage, während zugleich die Generationenfolge darin einen Ausschnitt vornimmt, um das Objekt der Erziehung zu fixieren. Ein Verfahren, das alle anwenden, die eine soziale Praxis im historischen Prozess begreifen wollen – Lorenz von Stein, Otto Willmann und vor allem Emile Durkheim wählen das Generationsverhältnis als Rahmung des Erziehungsgeschehens, sogar Adorno weist auf diesen Zugang hin⁶². Festzuhalten ist freilich, dass damit Erziehung nur heuristisch identifiziert wird, inhaltlich jedoch als Problem erkannt wird, weil es um das Verhältnis der beteiligten Generationen zu den sozialen Praxen geht. Schleiermacher umreißt so den Gegenstand, kann eine erste sachliche Festlegung vornehmen, die nun wiederum eine minimale anthropologische Bedingung geltend macht; damit wird Erziehung sachlich festgehalten: Diese minimale Gegebenheit findet sich im lebendigen Entwicklungsprozess des menschlichen Subjekts: Lebendige Veränderung, Bildung. Der Mensch ist ein Wesen welches den hinreichenden Grund seiner Entwicklung vom ersten Anfang seines Lebens bis zur Vollendung in sich trägt, das liegt im Begriff des Lebens und mehr im geistigen intellectuellen Leben. Wo ein solcher innerer Grund nicht ist sind auch keine inneren Veränderungen des Subjects oder nur so von außen her, Veränderungen sind

 KGA II/12 (Anm. 17), 547 (Vorlesung 1826).  Theodor W. Adorno, Nachgelassene Schriften IV/11, Fragen der Dialektik (1963/64), hg. v. Christoph Ziermann, Berlin: Suhrkamp 2012, 152.

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nur mechanischer Art. Nie aber schließt dieß aus daß solche Veränderungen des Lebens durch Äußeres nicht sollten auch modifiziert werden. Die Gemeinschaft ist nichts anderes als der Begriff der Gattung, und sagen wir daß die Summe aller Menschen zusammen die menschliche Gattung bildet, so haben wir mitgesagt daß die Entwicklung eines einzelnen Wesens bedingt ist durch die gleiche Natur in allen einzelnen Wesen und durch die Einwirkung der Einzelnen auf andere.⁶³

Menschen bewegen sich im historischen Prozess, der ethische Sinn von Erziehung besteht darin, die kulturelle Entwicklung nicht zurückfallen zu lassen.⁶⁴ Menschen sind, notabene, Subjekte, die sich entwickeln, sie tun dies in der Gemeinschaft, im sozialen Kontext, der eigentlich das Gattungswesen ausmacht. Platz notiert die „Welt“⁶⁵. Nun eine möglicherweise strittige Beobachtung: Dieses Verhältnis kann modifiziert werden, was den Geltungsanspruch von Erziehung deutlich gegenüber der Wirkung des Sozialen zurücknimmt. Erziehung richtet sich auf die Tätigkeit des Subjekts in seiner Welt und gegenüber dieser, die ihm das nicht-genetische Gattungswesen gibt. Bei Platz klingt das anders, mehr darnach, dass man eben die Entwicklung modifizieren dürfe, er nimmt die starke Stellung des Subjekts zurück. Von dieser zweischichtigen Gegenstandskonstruktion ausgehend umkreist Schleiermacher nun das Erziehungsgeschehen, wiederum als einen eigenen zeitlichen Prozess, ausgehend von der Entwicklung, die im „Anfange erregend, im Fortgang leitend, sich an die Idee des Guten anzuschließen habe, mit Rücksicht auf die Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzungen.“⁶⁶ Da haben wir sie noch einmal, die Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzungen. Anthropologie hilft nicht weiter, weder im Allgemeinen, noch im Besonderen. Denn das einzelne Individuum muss in seiner Konkretheit aufgesucht und gefunden werden, die Tätigkeit aber muss einer Idee des Guten gehorchen – wie sie in den Gütergemeinschaften anzutreffen ist, aber doch über diese hinausgreift, indem eben Freiheit, Selbständigkeit, das eigene Urteil und die Selbsttätigkeit für das Ende der Erziehung sorgen – wie er die Vorlesung beschließt. Das notiert alle Merkmale von Erziehung, in größter Zurückhaltung gegenüber der Anthropologie: Als eine allgemeine Aussage über Menschen lässt sich festhalten, dass diese tätig sind, selbsttätig, in freier Tätigkeit und Selbstentwicklung.⁶⁷ Anthropologisch kann man nur von Agilität als Grundprinzip     

KGA II/12 (Anm. 17), 548 (Vorlesung 1826). KGA II/12 (Anm. 17), 549 (Vorlesung 1826). Schleiermacher 2000 (Anm. 1), 10. Schleiermacher 2000 (Anm. 1), 21. Vgl. z. B. KGA II/12 (Anm. 17), 720 (Vorlesung 1826).

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menschlichen Lebens sprechen,⁶⁸ die das Seelenleben auszeichnet. Sie zeigt sich erst noch in Willkür, stimmt sich aber zunehmend in den Formen, die als Spontaneität und Rezeptivität bezeichnet werden. Als relativer Gegensatz belegen sie die fundamentale Duplizität menschlichen Handelns.⁶⁹ Niemals schwindet die Selbsttätigkeit, sie nimmt eher zu,⁷⁰ wird eine bestimmte als Gesinnung und Fertigkeiten, „in der Art wie der einzelne in die Gesammtheit eingeht“, im bürgerlichen Verkehr und in der Geselligkeit⁷¹. Subjektive Selbsttätigkeit herrscht vor, Rezeptivität schlägt wiederum in subjektive und freie Eigentätigkeit um, die sich bei Kindern als Spiel in der „Combination mit den Elementen des Wahrgenommenen“ zeigt.⁷² Wieder hebt Schleiermacher auf die menschliche Natur als und in Tätigkeit ab, die ihrerseits „auf den realen Lebensverhältnissen in den Functionen des geistigen Lebens beruht“⁷³. Tätigkeit kann nicht jenseits von den Dingen und Verhältnissen getrennt werden, auf die sich Menschen beziehen, die sie aneignen und sich anverwandeln, beginnend übrigens mit dem eigenen Leib.⁷⁴ In diesem Zusammenhang werden Tätigkeiten zu „eigentlichen Handlungen“⁷⁵. Das geistige Leben hängt dabei eng mit dem Sprechen und der Sprache zusammen, in welchen sich die realen Organisationen des Lebens dann so symbolisieren, dass sie als Vorstellung zum Moment der inneren Gesinnung und damit Grundlage von Volition und Handlung werden, die sich auf alle Tätigkeitsformen bezieht. Um als ein weiteres Beispiel anzuführen, das dem politischen Handeln gilt: „Die Menschen sollen aber so gebildet werden, daß ein Einfluß vermöge der Vorstellung auf ihren Willen statt findet. Hier wird das was unmittelbar erreicht werden müßte eine Ausbildung des Vorstellungsvermögens seyn – [daß] ein Zusammenhang begründet wäre zwischen den Regierenden und den Regierten“.⁷⁶ Der Distanz zur Anthropologie entspricht freilich die Nähe zu den Bestimmungen der Psychologie, die im Grunde als die innere Seite des Erziehungsgeschehens angeführt werden können, zumal Psychisches und Organisches stets vermittelt sind: Der Mensch als ein sich bildendes, sich entwickelndes Wesen, ist zunächst gekennzeichnet als Leben. Als ein Leben, das – wie Dorothea Meier

 Dorothea Meier, Schleiermachers Psychologie. Eine Phänomenologie der Seele, Baden-Baden: Ergon 2019, 172.  KGA II/12 (Anm. 17), 652 (Vorlesung 1826).  KGA II/12 (Anm. 17), 653 (Vorlesung 1826).  KGA II/12 (Anm. 17), 653 (Vorlesung 1826).  KGA II/12 (Anm. 17), 724 (Vorlesung 1826).  KGA II/12 (Anm. 17), 724 (Vorlesung 1826).  Meier 2019 (Anm. 68), 182.  KGA II/12 (Anm. 17), 724 (Vorlesung 1826).  KGA II/12 (Anm. 17), 766 (Vorlesung 1826).

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gezeigt hat – in der Auseinandersetzung mit der Welt zu einem Bewusstsein seiner selbst kommt, sich als Ich zu begreifen vermag. Das Leben trägt den Grund seiner Entwicklung in sich selbst, ausströmende und rezeptive Seelentätigkeiten beziehen sich auf die Gegebenheiten der Welt, Bezugnahmen, die sich als „Einwirkung der Dinge“ auf die Seele zeigen.⁷⁷ Das verschiebt den Blick auf die menschliche Gegebenheit, verändert die anthropologische Grundkonstellation. Sie darf nicht mehr als Wesensbestimmung gesehen werden, sondern zweigt sich einer Selbstvergewisserung, durch welche Menschen sich ihrer Menschlichkeit vergewissern – wohl wissend, dass solche Selbstvergewisserung zu deutend hergestellter Gemeinsamkeit führt, zu einer Bindung, zur Re-ligio, die den Gebildeten eigentlich ein Bedürfnis sein muss, weil sie eine existenzielle Bedingung ausmacht, das Gefühl der Gemeinsamkeit; ein Gefühl, das man ebenfalls nicht wirklich voraussetzen darf. Es kann verloren gehen, wie die „Reden über die Religion“ feststellen und als Problem aufwerfen: Wo entstehen solche Bindungen und wie können sie das für das Aufwachsen leisten, was sie eben leisten, nämlich in Familie, in der Schule, in der Kirche, in der Wissenschaft und im Staat? Das freilich steht in enger Beziehung zu dem Wissen des Subjekts um sich selbst, die Psychologie ist eigentlich eine fast kognitiv zu nennende Theorie des menschlichen Selbstbewusstseins, wie es sich als Ich zu äußern vermag. Obwohl Schleiermacher doch von Gesinnung spricht, diese nicht von Gefühlen trennen will, meint er doch ein Wissen um die Welt und die Menschen selbst, das eben im Werden ist – seine Theorie des Wissens fügt sich hier eng an.

5 Handlung, Bildung – Kontingenz All das vollzieht sich in den Perioden menschlicher Entwicklung, buchstäblich als Bildung, durchaus in einem emphatischen Sinne des Ausdrucks. Psychologie und Pädagogik sind eng parallel konstruiert, die eine zeigt das Innere auf, dessen Verhältnisse zur Welt durch die Pädagogik gestaltet werden – eben um Ordnung und Kontinuität zu sichern, ohne freilich ein Heilsversprechen zu geben, weder für die Menschen noch im Sinne eines gesellschaftlichen Fortschritts. Damit mindert sich das Gewicht, das den substanziellen Feststellungen über den Menschen und seine Eigenschaften allzumal in der Pädagogik zukommt. Anthropologie bietet kein umfassendes Wissen mehr, sondern nur Einsichten, die man fast als solche

 Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/13, Vorlesungen über die Psychologie, hg. v. Dorothea Meier unter Mitwirkung v. Jens Beljan, Berlin / Boston: De Gruyter 2018, 34; vgl. Meier 2019 (Anm. 68), 136 – 137.

Schleiermachers Pädagogik und die Kontingenz der Anthropologie

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der Physiologie bezeichnen kann, zeitgenössisch der Temperamentenlehre. Manchmal tritt das Gegebene in seiner ganzen Banalität hervor, die sich durch Hinweise auf eher hygienische oder diätetische Empfehlungen ausspricht. Schleiermacher ignoriert solche nicht, weil sie eben die Wirklichkeit des Erziehungsgeschehens bestimmen (müssen). Einerseits. Andererseits bleibt aber als durchgängiges und entscheidendes Konstruktionsprinzip: Menschen sind lebendige, sich entwickelnde Wesen, sie bilden sich, sie zeigen Bildsamkeit, eben einen Zusammenhang zwischen Rezeptivität und Spontaneität, der sich immer in einer sie verändernden Weise ihres Zusammenhangs mit ihren sozialen und kulturellen Umfeldern zeigt. Man darf sich nichts vormachen: Schleiermacher löst sich nicht nur von der substanziellen Anthropologie, durchaus um den Preis des Verlusts ethischer Vollkommenheitserwartungen, vielmehr vollzieht er in radikaler Weise eine Prozessualisierung des Erziehungsgeschehens; er macht Ernst mit dem Konzept der Bildung als den Bezugspunkt aller Pädagogik. Vor ihm hat dies in solcher Konsequenz nur Pestalozzi getan,⁷⁸ neben ihm und nach ihm leistet das Fröbel⁷⁹. Im 20. Jahrhundert kommt wohl Siegfried Bernfeld ihm nahe,⁸⁰ Korczak vielleicht. Aber allzumal ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts verschreibt sich die Pädagogik einem strukturfunktionalistischen und technisch ausgerichteten Denken, das sich dem Rätsel verweigert, wie Erziehung eigentlich zu denken ist, nämlich als ein Prozess ständiger Veränderung des menschlichen Subjekts. Damit wird für Schleiermacher entscheidend und für die pädagogische Debatte bis heute maßgebend, dass und wie er das Fundament aller Erziehung verflüssigt. Pädagogik wird handlungstheoretisch gefasst, da die „Pädagogik ein wesentliches Element in der praktischen Philosophie [sei], und es muss also eine rein wissenschaftliche Behandlungsweise derselben geben, die dem praktischen Bestreben zum Grunde gelegt werden kann. Das ist unser Gesichtspunkt.“⁸¹ Und dieser wird umso wichtiger, weil die ethischen Systeme keinen Anknüpfungspunkt bieten. Diese Handlungstheorie aber richtet die Aufmerksamkeit auf das sich selbst entwickelnde Subjekt in seinem Bezug zu seinen Lebensbedingungen.

 Johann Heinrich Pestalozzi, „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“ [1797], in: Sämtliche Werke Band 12, Schriften aus der Zeit von 1797 – 1799, hg. v. Artur Huchenau / Eduard Spranger / Hans Stettbacher, Berlin: De Gruyter 1983, 1– 165.  Vgl. Ulf Sauerbrey / Michael Winkler, Friedrich Fröbel und seine Spielpädagogik. Eine Einführung, Paderborn: Schöningh 2018.  Vgl. Siegfried Bernfeld, Sisyphos oder Die Grenzen der Erziehung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967.  KGA II/12 (Anm. 17), 347– 348 (Vorlesung 1820/21).

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Michael Winkler

Die – wie ein Jahrhundert später Bernfeld formuliert – „Entwicklungstatsache“⁸² verlangt aber ein fast Unmögliches, nämlich eine Theorie zu entfalten, die mit dauernder Veränderung ihres Geschehens rechnet. In jeder Hinsicht übrigens: Die Subjekte verändern sich, die Weltverhältnisse ebenfalls – und nicht zuletzt die Erziehung selbst. Sie muss immer wieder eine andere werden, was dann verständlich macht, warum es keine allgemeingültige Theorie geben kann. Pädagogik muss immer prozessual-relational denken und handeln, so unbequem das sein mag, im Einzelfall wie im Allgemeinen. In der individuellen Situation, bezogen auf das besondere Subjekt, in seinen jeweiligen Lebensphasen, weil eben – notabene: in der Erziehung – für die Beteiligten gilt, die Gegenwart nicht der Zukunft aufzuopfern, dass vielmehr in jeder Lebensphase die Tätigkeit in ihr Selbstzweck bleiben dürfe (wie Schleiermacher Kants Imperativ zuspitzt),⁸³ wohl aber die Offenheit zu sichern, um in die Gestaltung der Welt selbst eintreten zu können. Bezogen auf die gesellschaftlichen und kulturellen Lebensbedingungen, wie am Ende übrigens auch für das Denken, das ein bestimmtes ebenfalls nur situativ werden kann, dafür aber gezwungen ist, alle Möglichkeiten immer wieder auszumessen und abzuwägen. Der Anthropologieverzicht bedeutet für Schleiermacher und bei ihm, die Aufmerksamkeit auf die Realität des Gegebenen zu richten, durchaus insofern divinatorisch, als es in seiner Zeitlichkeit betrachtet wird. Angesichts der ungewissen historischen und sozialen Entwicklung, wohl auch angesichts der Kontroversen in der Öffentlichkeit und im akademischen Raum seiner Zeit tritt für ihn die Kontingenz des Geschehens hervor, eben die Ungewissheit. Es geht höchstens um eine Zukunft, die als Möglichkeitsraum bestimmt sein soll, in der entscheidungs- und handlungsfähige Subjekte wirken sollen, weil und sofern sie durch Erziehung und Unterricht Ordnung und Zusammenhang im Denken und Handeln gefunden haben, mit größerer Intensität als dies das Handeln in der Welt selbst gegeben hätte.⁸⁴ Das lässt sich dann in der Pädagogik ethisch verantworten – mehr aber auch nicht.

 Bernfeld 2013 (Anm. 80), 51.  KGA II/12 (Anm. 17), 785 (Vorlesung 1826).  Vorlesung 1826, KGA II/12 (Anm. 17), 786.

II. Ästhetik

Holden Kelm

Kunst als die Praxis ihrer geistigen Hervorbringung Zur Genese und Systematik von Schleiermachers Vorlesungen über die Ästhetik

Einleitung. Zur Ambivalenz der künstlerischen Praxis Gleich zu Beginn seiner letzten Vorlesung über die Ästhetik von 1832/33, in der historischen Einleitung, verdeutlicht Schleiermacher seine Ansicht von der Ästhetik als einer philosophischen Disziplin, die es mit einer Praxis zu tun hat, deren historische Wurzeln bis in die Antike zurückreichen. Geläufige Begriffe für diese Praxis wie techne oder ars gelten für Schleiermacher dabei als nachträgliche Theoretisierungsversuche, d. h. als Versuche, ein Feld von Tätigkeiten und Gegenständen zu bestimmen, das der theoretischen Betrachtung stets vorgängig ist. „Also“, so Schleiermacher laut der Nachschrift Schweizer, „war Praxis immer früher als Theorie“.¹ Der Gegenstand der Ästhetik – die schöne Kunst – kann demnach nicht unmittelbar erfasst werden, seine theoretische Behandlung bedarf vielmehr einer Rückwendung auf eine Praxis, die geschichtlich disponiert ist und sich etwa auch in Form von Kunstschulen oder Kunstakademien institutionalisiert und weiterentwickelt hat. Diese Voranstellung der Praxis und die damit einhergehende historische Perspektive auf die Kunst findet sich in der Einleitung zu Schleiermachers letzter Ästhetikvorlesung von 1832/33 ausführlicher dargelegt als in den vorherigen Einleitungen. Allerdings verdeutlicht Schleiermacher bereits in seiner ersten Ästhetikvorlesung von 1819, dass seine Kunstauffassung sich gegen eine formalästhetische oder empirisch-psychologische Ansicht wendet, in der die Kunst primär in ihrer Bedeutung für das Geschmacksurteil oder aufgrund ihrer subjektiven Wirkungen untersucht wird, wobei der rezeptive Aspekt überbewertet und der

 Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/14, Vorlesungen über die Ästhetik, unter Verwendung vorbereitender Materialien von Wolfgang Virmond hg. v. Holden Kelm, Berlin / Boston: De Gruyter 2021, 537 (Nachschrift Schweizer 1832/33). Zu den enthaltenen und überlieferten Dokumenten vgl. den Anhang zu diesem Beitrag. https://doi.org/10.1515/9783111025483-007

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Holden Kelm

produktive Aspekt weitgehend ausgeblendet werde. Neben der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts adressiert Schleiermacher mit dieser kritischen Volte auch Kants Kritik der Urteilskraft, deren Frage nach den formalen Bedingungen der Beurteilung eines schönen Gegenstandes er gewissermaßen umkehrt, indem er schöne Gegenstände nicht als gegeben voraussetzt, sondern sie in ihrer Entstehung reflektiert und dabei nicht die Natur oder deren mechanische Nachahmung, sondern die lebendige menschliche Produktivität ins Zentrum seiner Kunsttheorie stellt.² Dabei geht Schleiermacher aufgrund seines bereits in der Psychologie ausgeführten Konzepts des Lebendigen als einer aktiven Wechselwirkung von Produktivität und Rezeptivität davon aus, dass schon das „Geschmaksurtheil“ ein „dunkler Ansatz zur Production“ sei.³ Kunst als eine produktive Tätigkeit des lebendigen Individuums zu begreifen, aufgrund derer überhaupt erst Gegenstände entstehen, die als schön beurteilt werden können, erscheint in diesem Licht auch als eine Möglichkeitsbedingung einer Theorie der Kunstrezeption. Und offenbar war es dieser produktionsästhetische Impetus, der Benedetto Croce zu Beginn des 20. Jahrhunderts dazu veranlasst hat, Schleiermachers Ästhetik als die „beachtenswerteste“ ihrer ganzen Epoche zu bezeichnen und sie dem „metaphysischen Idealismus“ der Ästhetiken Schellings, Solgers und Hegels entgegenzustellen.⁴

 Mit Kants Schriften war Schleiermacher bereits in seiner Jugendzeit in Berührung gekommen, insbesondere mit der Kritik der praktischen Vernunft. Aus dem ästhetischen Bereich kannte er Kants „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ (1771), auf die ihn sein Jugendfreund Johannes Baptist von Albertini in einem Brief vom 12. Mai 1787 aufmerksam gemacht hatte. Kants Kritik der Urteilskraft (1790) dürfte Schleiermacher erst spät im Jahr 1792 während seiner Schlobittener Zeit rezipiert haben, wie ein Brief an ihn von seinem Studienfreund Friedrich Carl Gottlieb Duisburg vom 4. Dezember 1792 nahelegt. Die zweite Auflage der Kritik der Urteilskraft (1793) bewahrte Schleiermacher in seiner nachgelassenen Bibliothek auf. – Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) V/1, Briefwechsel 1774 – 1796, hg. v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, Berlin / New York: De Gruyter 1985, 78, 274 (Briefe 68 und 204); Günter Meckenstock, „Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer“, 2. Auflage, in: Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA), I/15, erstellt von Lars Emersleben, Berlin / New York: De Gruyter 2005, 651– 912 (Nr. 1021).  KGA II/14 (Anm. 1), 39 (Kollegheft Ästhetik 1819). Vgl. Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA), II/13, Vorlesungen über die Psychologie, hg. v. Dorothea Meier, Berlin / Boston: De Gruyter 2018, 30 (Psychologie 1818).  Vgl. Benedetto Croce, Ästhetik als Wissenschaft des Ausdrucks und allgemeine Sprachwissenschaft, Leipzig: Verlag E.U. Seemann 1905, 293, 303 (Original: Benedetto Croce, Estetica come scienza dell’espressione e linguistica generale, Milano / Palermo / Napoli: Sandron 1902); siehe dazu: Holden Kelm, „Ästhetische Expressivität: Benedetto Croce liest Friedrich Schleiermacher“, in: The Journal of Aesthetics and Science of Art, Nr. 62, Feb. 2021, 224– 239.

Kunst als die Praxis ihrer geistigen Hervorbringung

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Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, dass Schleiermachers Bezugnahme auf eine kulturhistorisch veränderliche Kunstpraxis auch eine Theorie dieser Praxis aufweisen muss, die insbesondere sein Konzept der Kunstproduktion betrifft. Diese Theorie findet sich zunächst in seiner philosophischen Ethik skizziert, wo die Kunsttätigkeit aufgrund einer Theorie der grundlegenden ethischen Tätigkeitsformen im Rahmen der Güterlehre entwickelt wird.⁵ Als ein individuelles Symbolisieren des Gefühls, das die Form einer indirekten Mitteilung aufweist und das Individuum in seiner sinnlich-organischen Expressivität erfasst, steht Kunst den organisierenden Tätigkeiten gegenüber. Sie ist für den gesellschaftlichen Bereich konstitutiv, weil jeder Mensch sie potenziell ausüben kann, der seine Gefühle und Stimmungen darstellt und ausdrückt, um sich anderen mitzuteilen. In dieser allgemein-ethischen Bedeutung wird Kunst nicht nur als eine Form der ästhetischen Kommunikation sichtbar, sondern auch als eine Repräsentation intersubjektiver Verhältnisse, als ein ‚Symbol des Sittlichen‘ (Kant), das als eine das Sittliche mitgestaltende Kraft, zugleich eine alltägliche ‚Praxis des Symbolisierens‘ ist.⁶ In seinen Ästhetikvorlesungen verdeutlicht Schleiermacher allerdings eine Differenz zwischen der ethischen und der ästhetischen Perspektive auf die individuelle Kunsttätigkeit. Er geht im Ästhetikentwurf von 1819 davon aus, dass bei der künstlerischen Aktivität das Gefühl nicht unmittelbar zum Ausdruck kommt, sondern durch einen Akt der „Besinnung“ reflexiv vermittelt wird.⁷ Weil es daher nicht die unmittelbare Gefühlserregung sein kann, die den Nährboden der künstlerischen Darstellung bildet, konzentriert sich Schleiermacher in der Ästhetik auf den Begriff der „Stimmung“, die als eine Komplexion von Gefühlen die momentane Wirksamkeit der Erregung ‚aufhebt‘ und als begeisterte Stimmung den entscheidenden Impuls zum Eintritt in die künstlerische Praxis gibt.⁸ Dabei differenziert Schleiermacher diese Praxis schematisch in die drei Momente „Erregung“ (Begeisterung), „Urbildung“ (Erfindung) und „Ausbildung“ (Darstel-

 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Ethik (1812/13), mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre. Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun, hg. und eingeleitet v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg: Meiner 1990, 19, § 6.  Vgl. Immanuel Kant, Kants Werke, Akademie-Textausgabe, I/V, Kritik der Urteilskraft [1793], hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: De Gruyter 1968, 353: „Nun sage ich: das Schöne ist das Symbol des Sittlich=Guten“. Zur Korrelation von Kunst und Kraft vgl. Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2013, 11– 14.  KGA II/14 (Anm. 1), 47– 48. Vgl. Peter Grove, „Der Grundton aller unserer Gefühle. Schleiermachers Begriff der Stimmung“, in: Der Mensch und seine Seele. Bildung–Frömmigkeit–Ästhetik, Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, hg. v. Arnulf von Scheliha und Jörg Dierken, Berlin / Boston: De Gruyter 2017, 533 – 552.  KGA II/14 (Anm. 1), 54 (Kollegheft Ästhetik 1819).

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lung), wobei er den Schwerpunkt auf die ersten beiden Momente legt, insofern die Ausbildung eines innerlich vorgebildeten Kunstwerks tendenziell zu den technischen Regeln gehört und damit aus dem inneren Bereich der Kunsterzeugung hinausführe.⁹ Und hierin liegt das geistige oder mentalistische Moment von Schleiermachers Kunsttheorie: Nur insofern das Kunstwerk innerlich und selbstbestimmt aufgrund des freien Spiels der Phantasie entsteht, ist die künstlerische Praxis auch als eine „freie Production“ anzusprechen.¹⁰ Im Licht der angedeuteten Differenz zwischen der ethischen und der ästhetischen Dimension der Kunst wird somit eine strukturelle Spannung in Schleiermachers Kunstbegriff sichtbar. Diese Spannung liegt darin, dass aus ethischer Perspektive alle Menschen Künstler sind, insofern sie als soziale Akteure ihre Gefühle symbolisch ausdrücken, um sich mitzuteilen, während zugleich aber aus ästhetischer Perspektive nicht alle Menschen Künstler sind, sondern nur einige aufgrund des bewussten Akts der Besinnung schöne Kunstwerke hervorbringen und „wirkliche Künstler“ sind.¹¹ Kunst mit Schleiermacher als die Praxis ihrer geistigen Hervorbringung zu verstehen, birgt somit eine Ambivalenz in sich, die sich auch auf die Theorie dieser Praxis erstreckt, insofern diese an besondere gesellschaftliche Bedingungen geknüpft ist, welche die freie Produktion ermöglichen und zugleich begrenzen. Um diese Ambivalenz genauer betrachten zu können, wird Schleiermachers Kunsttheorie im Folgenden in ihrer Genese und Systematik rekonstruiert. Daher wird zunächst auf ihre entwicklungsgeschichtlichen Anfänge zurückgegangen, mit besonderer Rücksicht auf Schleiermachers Aufsatz „Über den Stil“ von 1791 (1). Neben einigen Theorieelementen und Motiven aus seiner frühromantischen Zeit wird anschließend Schleiermachers Systematik der Kunst, ihr Nahverhältnis zur Religion und zum Denken in Hinblick auf seine Ethik-, Dialektik- und Psychologievorlesungen erörtert (2). Anschließend wird der ästhetische Diskurs der klassischen deutschen Philosophie im Umfeld der Berliner Universität als Ausgangspunkt genommen, um Schleiermachers Ästhetikkonzeption von 1819 in

 KGA II/14 (Anm. 1), 49 (Kollegheft Ästhetik 1819).  KGA II/14 (Anm. 1), 55 (Kollegheft Ästhetik 1819). Vgl. Reinhold Schmücker, „Schleiermachers Grundlegung der Kunstphilosophie“, in: Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, hg. v. Dieter Burdorf und Reinold Schmücker, Paderborn u. a.: Schöningh 1998, 241– 264, hier: 241– 242.  Die Formulierung „alle Menschen sind Künstler“ findet sich bereits in Schleiermachers Brouillon zur Ethik von 1805/06, vgl. Friedrich Schleiermacher, Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. 2, Brouillon zur Ethik 1805/06, hg. v. Otto Braun, Leipzig: Meiner 1913 (Philosophische Bibliothek 137), 184. Zur Bestimmung des „wirklichen Künstlers“ vgl. KGA II/14, 596 (Nachschrift Schweizer 1832/33) sowie in diesem Beitrag: 4. Ausblick.

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Bezug auf ihre begrifflichen Grundlagen darzustellen und ihren Verlauf in den Kollegien 1825 und 1832/33 anzudeuten (3). Abschließend wird in einem Ausblick diskutiert, was aus der skizzierten Ambivalenz der Kunst als einer individuell freien und zugleich kulturhistorisch determinierten Tätigkeit für Schleiermachers Theorie der künstlerischen Praxis folgt (4).

1 Schleiermachers frühe Auseinandersetzung mit ästhetischer Theorie Seine ersten theoretischen Kenntnisse der Ästhetik hat Schleiermacher während seines Studiums (1787– 1789) von seinem philosophischen Lehrer und Förderer an der Universität Halle, Johann August Eberhard, erworben.¹² Eberhard, der die Schulphilosophie von Leibniz und Christian Wolff gegen den aufkommenden Kantischen Kritizismus verteidigte, verfasste selbst eine Theorie der schönen Wissenschaften (1786), später ein Handbuch der Aesthetik (1803 – 1805), und betreute u. a. eine Neuausgabe von Baumgartens Metaphysik (1783). Schleiermacher hörte bei ihm bekanntlich Geschichte der Philosophie und Metaphysik und wurde von Eberhard gefördert. Von einer intensiven Auseinandersetzung mit der ästhetischen Theorie seiner Zeit finden sich in Schleiermachers Frühschriften jedoch nur vereinzelte Hinweise. In seinem kurzen Aufsatz „Über das Naive“ (1789) untersucht er etwa Mendelssohns Schrift Über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften (1771) näher und erörtert mit dem Naiven, Erhabenen und Lächerlichen ästhetische Kategorien, die in der Ästhetik der Spätaufklärung und Empfindsamkeit diskutiert wurden. Schleiermacher kritisiert Mendelssohns Begriff des Naiven dabei vor allem aus ethischer Perspektive als unzulänglich, weil er die äußerlichen Bewegungen und die charakterlichen Eigenheiten eines naiven Menschen nicht hinreichend zu erfassen erlaube. Auch in seiner Schrift „Über die Freiheit“, die um 1790 entstand, behandelt Schleiermacher die Ästhetik nur am Rande. Die kurze Untersuchung des ästhetischen Urteils darin betrifft nicht etwa das Geschmacksurteil im Kantischen Sinne, sondern die Frage, inwiefern die Behandlung des Moralischen mit der des Ästhetischen in Beziehung gesetzt

 Vgl. Kurt Nowak, Schleiermacher: Leben, Werk und Wirkung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, 35.

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werden könne.¹³ In „Über den Wert des Lebens“ (1793) findet sich wiederum eine Passage, die offenbar eine Kritik der zeitgenössischen Kunsttheorie enthält: Hätten wir erst die absolute Theorie des aesthetischen Gefühls welches wahrscheinlich unmöglich ist, dann möchte eine solche Anmaßung Statt finden, aber dann würden wir auch nothwendig einen ganz anderen Blik in diese Dinge haben. Jezt ist jedes System einer Kunst oder irgend einer Anwendung des Schönheitsgefühls nur hypothetisch und beruht immer auf Voraussezungen und Beobachtungen über das angenehme und schikliche bei welchen gar keine Allgemeinheit möglich ist.¹⁴

Das individuelle „Schönheitsgefühl“ und der „ästhetische Genuß“ seien daher unabhängig von der Beschaffenheit einer allgemeinen Theorie des Schönen zu begreifen, womit Schleiermacher der Ästhetik der Spätaufklärung eine Kluft zwischen Sinnlichkeit und Verstand attestiert. Zur Zeit der Abfassung seiner in Schlobitten verfassten Abhandlung „Über den Stil“ (1790/91) hatte sich Schleiermacher zwar bereits intensiver mit Kants Kritik der praktischen Vernunft auseinandergesetzt, die Kritik der Urteilskraft (1790) dürfte er aber erst später rezipiert haben.¹⁵ In „Über den Stil“ erörtert er mit der Art und Weise der sprachlichen Mitteilung von Empfindungen eine durchaus ästhetische Thematik und skizziert bereits einige Aspekte, die später in seinen Ästhetikvorlesungen vorkommen werden. Schleiermacher geht davon aus, dass eine unmittelbare Übertragung und Mitteilung von Empfindungen oder Gedanken nicht möglich ist, weshalb eine solche Mitteilung nur indirekt mit Hilfe von Zeichen erfolgen könne, bei denen er „natürliche“, „wesentliche“ und „willkürliche“ Zeichen unterscheidet.¹⁶ Anschließend nimmt Schleiermacher an, dass sich dieser drei Zeichenarten auch alle Künste und Wissenschaften bedienen würden und differenziert dementsprechend drei verschiedene Ausdrucks- und Stilformen in den Künsten: 1. Insofern Gebärden und Töne zu den natürlichen Zeichen gehören, sei die Kunst ihres Ausdrucks der mimische oder musikalische Stil, 2. Malerei und Bildnerei enthielten Ausdrucksformen wesentlicher Zeichen, die auf sinnliche Eindrücke zurückgingen, weshalb es auch einen besonderen Stil in den bildenden Künsten gebe, 3. Poesie und Rhetorik stellten schließlich die Kunst des Ausdrucks

 Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) I/1, Jugendschriften, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter 1983, 219 – 356, hier: 258 – 262.  KGA I/1 (Anm. 13), 391– 471, hier: 451– 452.  KGA I/1 (Anm. 13), 365 – 390. Zu Kant vgl. Anm. 2. Siehe auch: Wolfgang Virmond, „Schleiermachers Schlobittener Vorträge ‚Über den Stil‘ von 1791 in unbekannten Nachschriften“, Synthesis Philosophica, Nr. 23, Bd. 12, H. 1, Zagreb 1997, 7– 38.  KGA I/1 (Anm. 13), 365 – 390, hier: 365.

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von Vorstellungen durch die willkürlichen Zeichen der Sprache dar, die Schleiermacher in Hinblick auf den Stil besonders interessieren.¹⁷ Bemerkenswert an dieser Einteilung der Künste ist nicht nur ihr semiologischer Ansatz, sondern auch, dass Eberhard in seiner in mehreren Auflagen erschienenen Theorie der schönen Wissenschaften (1786) die Kunstformen in ähnlicher Weise gegliedert hat. Eberhard rekurriert darin auf eine Debatte, die von Mendelssohn angeregt wurde, der der Behandlung der Kunst in Baumgartens Ästhetik eine Verengung auf die Poesie und die Rhetorik vorhielt und demgegenüber ein semiotisches Einteilungsschema vorschlug, das alle schönen Künste und Wissenschaften umfassen sollte.¹⁸ Unter Berücksichtigung dieser Kritik konstatiert Eberhard bezüglich der zu seiner Zeit noch geläufigen Unterscheidung zwischen schönen Künsten (v. a. Musik, Mimik, Malerei, Plastik, Baukunst) und schönen Wissenschaften (v. a. Redekunst und Dichtkunst): Die „erstern sind also von den leztern blos durch die Arten der Mittel verschieden, deren sie sich zu Erreichung ihres gemeinsamen Zweckes [des Vergnügens, H.K.] bedienen. Die schönen Künste nemlich bedienen sich wesentlicher Zeichen, die schönen Wissenschaften aber nicht wesentlicher, dergleichen die meisten willkührlichen Zeichen sind.“¹⁹ Von den wesentlichen Zeichen, die „dem Bezeichneten ähnlich“ und den Verfahrensweisen der bildenden Künste implizit seien, unterscheidet Eberhard schließlich die natürlichen Zeichen, „die mit dem Bezeichneten in einem nothwendigen Zusammenhange stehen“ und primär bei den nachahmenden (mimischen) Künsten vorkommen würden.²⁰ Mit diesem dreigliedrigen Zeichenmodell unternimmt Eberhard somit den Versuch, die seit Baumgarten geläufige Zweiteilung der Ästhetik in schöne Künste und schöne Wissenschaften, die mit einer weitgehenden Ausklammerung der mimischen und bildenden Künste einherging, durch ihre Rückbindung an einen allgemeinen Zweck der Kunst (dem Vergnügen) zu überwinden und damit die einzelnen Künste auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen. Schleiermacher knüpft in „Über den Stil“ offensichtlich an diese semiologisch basierte Einteilung der Künste an und entwickelt daraus eine Dreiteilung,

 KGA I/1 (Anm. 13), 365 – 366.  Vgl. Norman Kasper: „Ontologischer Sensualismus als Restitution der sinnlichen Erkenntnis und dessen Kritik. Zweierlei Begründung der seelischen Empfindung durch die Sichtbarkeit (Eberhard und A.W. Schlegel)“, in: Ein Antipode Kants? Johann August Eberhard im Spannungsfeld von spätaufklärerischer Philosophie und Theologie, hg. v. Hans-Joachim Kertscher und Ernst Stöckmann, Berlin / New York: De Gruyter 2012, 225 – 250, hier: 226 – 231.  Johann August Eberhard, Theorie der schönen Künste und Wissenschaften, Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 31790, 6, 16.  Eberhard 1790 (Anm. 19), 6.

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die noch in seinen Ästhetikvorlesungen in ähnlicher Weise vorkommt: 1. begleitende Künste (Mimik und Musik), 2. bildende Künste (Architektur, Skulptur, Malerei) und 3. redende Künste (Poesie). Allerdings entwickelt Schleiermacher diese Einteilung nicht explizit in Bezug auf das Zeichenmodell und nicht in Hinblick auf den äußerlichen Zweck des Vergnügens, sondern in Bezug auf die künstlerische Praxis und deren anthropologische und ethische Relevanz (und klammert die Rhetorik dabei aus). Anders als bei den meisten Kunstphilosophien seiner Zeit erhalten die mimischen Künste bei Schleiermacher eine eigene Abteilung. Seine frühesten Kenntnisse der Ästhetik und des Kanons der schönen Künste sind somit eng mit dem Diskurs der von Baumgarten ausgehenden Ästhetik, der Empfindsamkeit und der Aufklärungsästhetik Eberhards verbunden. Mit dem semiologischen Modell verfügt Schleiermacher bereits über ein Konzept der Kunst als einer indirekten Mitteilung von Empfindungen bzw. Gefühlen, bevor er die Kunst in seinen Hallenser Ethikvorlesungen von 1805/06 in dieser Hinsicht näher bestimmen wird, wenngleich die Kunst darin in steter Rücksicht auf den Grund des Gefühls – die individuelle Religiosität – dargelegt wird.²¹ Dabei verweist insbesondere die Ausdrucksform der ‚natürlichen Zeichen‘ auf dasjenige Gebiet, von dem ausgehend Schleiermacher in der Ethik die Kunst spezifizieren wird: die vom Gefühl ausgehenden mimischen, gestischen und sprachlautlichen Expressionen, die als symbolische und non-verbale Mitteilungen (dem diskursiven Gebiet zugleich vorgängig und parallel) zugleich den Ausgangspunkt für die beiden in der Ästhetik näher untersuchten Kunstformen der Mimik und Musik bilden.

2 Systematische Vorgeschichte der Ästhetikvorlesungen Eine grundlegende Erweiterung seiner Ansichten und Kenntnisse über die Kunst und ihre Theorie dürfte Schleiermacher nicht nur nach seiner Lektüre von Kants Kritik der Urteilskraft erfahren haben, sondern auch in seiner ersten Berliner Zeit, als er im Kreis der Frühromantiker mitwirkte und zur Niederschrift seiner Reden Über die Religion (1799) motiviert wurde. Das darin entwickelte Nahverhältnis von Kunst und Religion, für das Schleiermacher den Neologismus „Kunstreligion“ bildet, der noch heute kontrovers diskutiert wird, entspringt teils aus einer Weiterentwicklung der Religionskritik und Ästhetik der Aufklärung, teils aus der Einsicht in das immersive und begeisternde Vermögen der Kunst, das der indi Schleiermacher 1913 (Anm. 11), 99 – 100, 366 (Brouillon 1805/06)

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viduellen Religiosität ‚implantiert‘ werden sollte, damit diese als „Anschauung des Unendlichen“ jenseits von empiristischen und rationalistischen Reduktionen verstanden werden kann.²² Als ‚Sprache der Religion‘²³ kommt der Kunst eine vermittelnde Bedeutung nicht nur bezüglich des Inneren und Äußeren des Einzelnen zu, sondern auch bezüglich der individuellen und allgemeinen Religiosität, indem sie den intersubjektiven Austausch auch auf der non-verbalen Ebene ermöglichen soll. In seinem in Halle ausgearbeiteten Brouillon zur Ethik von 1805/06 differenziert Schleiermacher das in den Reden entworfene Nahverhältnis von Kunst und Religion in Bezug auf die Quadruplizität der ethischen Handlungsformen aus. Kunst erscheint dabei als eine symbolisierende Tätigkeit der Phantasie aufgrund des individuellen Gefühls und unterscheidet sich damit graduell vom Denken, das als eine symbolisierende Tätigkeit der Vernunft die allgemeine Dimension des Wissens erschließt. Was das Kunstwerk macht, ist die freie Combination durch Fantasie, die aber die Vernunft ist unter dem Charakter der Eigenthümlichkeit in der Function des Darstellens, und die Fantasie denken wir uns immer in der genauesten Verbindung mit dem Gefühl.²⁴

In Bezug auf die nicht-direkte Übertragbarkeit des Gefühls betont Schleiermacher hierbei die Notwendigkeit des darstellenden Nachaußentretens des Verinnerlichten für die „Einheit des Lebens“, womit deutlich wird, dass Kunst nicht nur das Selbstverständnis des Individuums in Rücksicht auf sein Privatleben befördert, sondern auch in Rücksicht auf seine Stellung im Gemeinschaftsleben. Die sittliche Tendenz der Kunstdarstellung liegt demnach in der Vermittlung des Individuellen mit dem Allgemeinen aufgrund von symbolischen Ausdrucksweisen des Gefühls, die sich vor allem im Rahmen der Geselligkeit vollziehen. Kunst wird damit als eine allgemein-menschliche Ausdrucksweise dargelegt, die notwendig im System der menschlichen Tätigkeiten verankert ist und außerhalb der gesellschaftlichen Sphäre nicht adäquat begriffen werden kann. So heißt es auch in

 Vgl. Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) I/2, Schriften aus der Berliner Zeit 1796 – 1799, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter 1984, 185 – 326, hier: 262– 263. Siehe auch: Kunstreligion (Bd. 1). Der Ursprung des Konzepts um 1800, hg. v. Albert Meier, Alessandro Costazza, Gérard Laudin, Berlin / New York: De Gruyter 2011; Anne Käfer, „Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös.“ Schleiermachers Ästhetik im Kontext der zeitgenössischen Entwürfe Kants, Schillers und Friedrich Schlegels, Tübingen: Mohr Siebeck 2006.  Vgl. Schleiermacher 1990 (Anm. 5), 74– 75, § 228 (Ethik 1812/13).  Schleiermacher 1913 (Anm. 11), 98 (Brouillon 1805/06).

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Schleiermachers Vorlesungen über die Praktische Theologie, „daß der eigentliche Ort für alle Kunstdarstellung das gesellschaftliche Leben“ sei.²⁵ Als allgemeine Aufgabe der Ästhetik als philosophischer Disziplin betrachtet Schleiermacher in den Ethikvorlesungen von 1805/06 und 1812/13 die Untersuchung des künstlerischen Darstellungsprozesses in Hinblick auf das „Wesen“ der einzelnen Künste: „Es ist die Sache der kritischen Disciplin, welche wir jezt Aesthetik nennen, den Cyclus der Künste zu deduciren und das Wesen der verschiedenen Kunstformen darzustellen“.²⁶ Die Ästhetik als ‚kritische Disziplin‘ der Ethik hat es somit nicht nur mit der Analyse und Darstellung des kombinierenden Verfahrens der Phantasie im Ausgang des Gefühls zu tun, sondern muss dabei auch dem systematischen Anspruch genügen, die einzelnen Künste in ihrer kulturhistorisch bedingten Erscheinungsweise aus einem allgemeinen Kunstbegriff zu entwickeln. Durch Schleiermachers Entwicklung der Dialektik ab 1811 erhält mit der Ethik auch die Ästhetik ein neues theoretisches und spekulatives Fundament. Zwar wird in der Ethik die philosophische Wahrheitsfindung als ein allgemeines Symbolisieren dem individuellen Symbolisieren der Kunst relativ entgegengesetzt, zugleich aber wird das Philosophieren dem Kunstschaffen nicht gänzlich enthoben, weil es mit diesem nicht nur das symbolisierende Verhältnis zur Natur als einer Vernunfttätigkeit teilt, sondern auch die geistige Art und Weise der Hervorbringung der symbolischen Produktionen. In der Dialektik heißt es dazu: „Das Philosophiren ist deshalb Kunst weil die Anwendung der Regeln nicht wieder unter Regeln zu bringen ist. Sie steht unter der Gesinung und dem Talent.“²⁷ Künstlerisches und philosophisches Schaffen lässt sich nach Schleiermacher somit nicht auf mechanische oder gebundene Tätigkeiten reduzieren. Zugleich aber sei die Voraussetzung einer absoluten Einheit von Sein und Denken, die den transzendenten Grund des rezipierenden und produzierenden Selbstbewusstseins ausmacht, nach Schleiermacher nicht allgemeingültig und systematisch explizierbar, weil diese Einheit sonst die grundlegende Bestimmung der Unmittelbarkeit verlieren würde. Es ist die Kunst demnach ganz allgemein die eigentümliche Art und Weise, in der ein Individuum die allgemeinen Formen, die

 Friedrich Schleiermacher, Praktische Theologie 1826, Nachschrift Bindemann (Berlin Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Archiv, Schleiermacher-Nachlass 555), fol. 29 – 30. Vgl. dazu die von Simon Gerber in diesem Band veröffentlichten Auszüge zur Ästhetik in der Praktischen Theologie.  Schleiermacher 1990 (Anm. 5), 126, § 232 (Ethik 1812/13); vgl. Schleiermacher 1913 (Anm. 11), 366 (Brouillon 1805/06).  Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/10,1, Vorlesungen über die Dialektik, hg. v. Andreas Arndt, Berlin / New York: De Gruyter 2002, 62.

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der Natur und dem Geist immanent sind, in der Auseinandersetzung mit sich selbst, seiner natürlichen Umwelt und sozialen Mitwelt realisiert und dementsprechend seine geistigen Funktionen der Phantasie (Kunst) und Vernunft (Philosophie) vollzieht. Neben der Ethik und der Dialektik enthält schließlich auch die von Schleiermacher ab 1818 vorgetragene Psychologie einige Konzepte, die für die Ästhetik systematisch relevant sind. Psychologie und Ästhetik sind inhaltlich vor allem in Hinblick auf das ästhetische Gefühl, die begeisterte Stimmung, das Wechselverhältnis von Spontaneität und Rezeptivität und die den Kunstproduktionen ähnelnden Erzeugungen des Traums miteinander verschränkt. Aber auch bezüglich des Begriffs der Besinnung, der den für die Ästhetik wichtigen Unterschied zwischen einer alltäglichen und einer künstlerischen Gefühlsdarstellung bezeichnet, werden bereits in der Psychologie grundlegende Aussagen getroffen: „Kunst nennen wir aber die Aeußerung erst wenn zwischen das Gefühl und die Aeußerung ein Vorgebildetsein derselben im Bewußtsein eintritt.“²⁸ Während ein Individuum in leidenschaftlichen Zuständen der Lust oder Unlust seine Gefühle unmittelbar ausdrückt und in diesen Äußerungen potenziell kunstgemäß sein kann, so sind diese Äußerungen nach Schleiermacher nicht im engeren Sinn künstlerisch, weil sie nur unterschwellig durch einen bewussten Akt hervorgerufen werden. Demnach kann eine genuin künstlerische Darstellung eines trauernden Menschen nur jemand vollbringen, der sich nicht unmittelbar im Zustand der Trauer befindet, sondern diesen Gemütszustand in sich reflektiert, phantasiegeleitet entäußert und dadurch bei seiner mimischen Darstellung nur den Schein erweckt, als ob er sich gerade in einer traurigen Stimmung befinden würde.

3 Zur Ästhetikkonzeption von 1819: Kontext und Systematik Schleiermacher hielt seine Ästhetikvorlesungen zu einer Zeit, als die Ästhetik sich erst sukzessive als eine philosophische und akademische Disziplin etablierte und mit ihren theoretischen Grundlagen auch der Zusammenhang und die Selbstständigkeit der schönen Künste verbreitet diskutiert wurden. Seine Ästhetikvorlesungen bilden dabei eine wichtige Komponente in der ästhetischen Lehre am philosophischen Institut der Berliner Universität und dem davon ausgehenden Verständnis dessen, was ‚Philosophie der Kunst‘ bedeutet. Hier war es zunächst Solger, der von 1811 bis 1819 insgesamt sechs Vorlesungen über Ästhetik bzw.  KGA II/13 (Anm. 3), 89 (Psychologie 1818).

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philosophische Kunstlehre hielt und darin klassizistische, frühromantische und spekulative Motive in Beziehung setzte.²⁹ Schleiermacher gab seine Vorlesungen dann nach dem unerwarteten Tod Solgers in den Jahren 1819, 1825 und 1832/33 abwechselnd zu Hegel, der in Berlin zwischen 1820 und 1829 viermal über die Philosophie der Kunst las (in denen er sich ab 1826 in der historischen Einleitung auch ausdrücklich auf Solger bezieht).³⁰ Die in ihren systematischen Grundlagen durchaus verschiedenen Ästhetikentwürfe Solgers, Schleiermachers und Hegels, die allein in Form von Vorlesungsmanuskripten und -nachschriften überliefert sind, bearbeiten in unterschiedlicher Weise die grundlegenden ästhetischen Fragestellungen der Zeit, die sich in kritischem Anschluss an Kants Kritik der Urteilskraft und die frühromantische Kunsttheorie stellten.³¹ Dabei wurde zunächst die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Ästhetik als philosophischer Disziplin und damit einhergehend die Frage nach dem Verhältnis von Rationalität und Sinnlichkeit des ihr zugrunde liegenden Kunstbegriffs problematisiert. Bereits Schellings Jenaer Vorlesungen über die Philosophie der Kunst von 1802/03 versuchten diesen Anspruch aufgrund eines spekulativ ausgelegten Systems der Identität einzulösen.³² Bei den ästhetischen Vorlesungen an der Berliner Universität lässt sich in diesem Zusammenhang eine zunehmend kritische Vergegenwärtigung der Geschichte der Ästhetik beobachten, die zumeist in dem Interesse stand, von sporadischen und unbestimmten Ansatzpunkten in der Antike ausgehend, die Genese der Ästhetik zu einer konsistenten wissenschaftlichen Philosophie der Kunst nachzuzeichnen. Dementsprechend finden sich in den historischen Einleitungen dieser Ästhetikvorlesungen teilweise ausführliche historische Reflexionen der Kunsttheorie, die teilweise stärker historiographisch orientiert, teilweise stärker auf die idealen Strukturen des Kunstbegriffs bezogen sind. Die verschiedenen Ästhetikkonzep-

 Vgl. Karl Wilhelm Ferdinand Solger, Vorlesungen über Ästhetik, hg. v. Giovanna Pinna, Hamburg: Meiner 2017 (Philosophische Bibliothek 698), X.  Vgl. Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben–Werk–Schule, Stuttgart: Metzler 2016, 413.  Es gibt bislang nur wenige Gesamtdarstellungen zur Ästhetik der klassischen deutschen Philosophie, vgl. u. a. Heinz Paetzold, Ästhetik des deutschen Idealismus: zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer, Wiesbaden: Steiner Verlag 1983; Ästhetik und Philosophie, hg. v. Karl Ameriks und Jürgen Stolzenberg, Berlin / New York: De Gruyter 2007 (Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus 4); Früher Idealismus und Frühromantik: Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795 – 1805), hg. v. Walter Jaeschke und Helmut Holzhey, Hamburg: Meiner 2013; Paul Gordon, Art as the absolute: art’s relation to metaphysics in Kant, Fichte, Schelling, Hegel and Schopenhauer, New York u. a.: Bloomsbury 2015.  Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Historisch-kritische Ausgabe an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften II/6, Philosophie der Kunst und weitere Schriften (1796 – 1805), hg. v. Christoph Binkelmann und Daniel Unger, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2018.

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tionen vollziehen dabei auch in unterschiedlicher Weise die Kritik eines für die Empfindsamkeit und Spätaufklärung maßgeblichen Paradigmas: die schöne Kunst als Mimesis der schönen Natur. In Abgrenzung zu dieser Ansicht wurde die Kunst vor allem in ihrer geistigen und reflexiven Disposition begriffen und erschlossen, wozu Konzepte wie die intellektuelle Anschauung, die produktive Einbildungskraft, die Phantasie oder das Kunstideal beitrugen, während der Begriff des Schönen teilweise seine Strahlkraft verlor. Die Reflexion auf die Geschichtlichkeit der Kunst, die auch ihre Nähe zur Religion etwa in der antiken Kunstreligion und im christlichen Kultus deutlich werden ließ, brachte es schließlich mit sich, auch die Eingebundenheit der Kunst in die Sphäre des gesellschaftlichen Lebens zu reflektieren. Die von Kant und Moritz intendierte Autonomie der Kunst wurde zunehmend als ein Phänomen der Aufklärung reflektiert und als wichtige Errungenschaft festgehalten, jedoch ohne dabei die immer deutlicher werdende Bedingtheit der Kunstproduktion durch die sich ausdifferenzierenden Formationen der bürgerlichen Gesellschaft aus dem Blick zu verlieren. Die Kunsttätigkeit als eine freie produktive Tätigkeit zu begreifen, die zugleich im System der menschlichen Tätigkeiten verankert ist und insofern einen notwendigen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens ausmacht, ist dabei eine Position, die sich wohl am ausdrücklichsten in Schleiermachers Ästhetik ausspricht. Erste Überlegungen Schleiermachers, eine Vorlesung über Ästhetik zu halten, finden sich in einem Brief an Joachim Christian Gaß zum Jahreswechsel 1816/17, in dem er einen Mangel im Repertoire seiner philosophisch-theologischen Systematik beschreibt: „[A]ber leider fehlen mir noch ganze Disciplinen, an die ich nicht kommen kann, Einleitung ins Neue Testament, Psychologie, Aesthetik. Davon bin ich noch sehr weit entfernt.“³³ Gut zwei Jahre später, zum Jahreswechsel 1818/19, kündigt Schleiermacher seinem Kollegen August Bekker für das Sommersemester 1819 bereits sein erstes Ästhetikkolleg an – und berichtet bei dieser Gelegenheit auch von der Ankunft Hegels an der Berliner Universität.³⁴ Wie andere briefliche Aussagen belegen, beschäftigen Schleiermacher in dieser Zeit seine unvollendeten wissenschaftlichen Projekte außerordentlich, insbesondere die Niederschrift der Ethik und der Dogmatik, so dass er offenbar nur wenig Zeit

 Brief von Friedrich Schleiermacher an Joachim Christian Gaß, vom 29. Dezember 1816 bis 2. Januar 1817, in: Friedrich Schleiermachers Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, mit einer biographischen Vorrede hg. v. Wilhelm Gaß, Berlin: Georg Reimer 1852, 128.  Brief von Friedrich Schleiermacher an August Immanuel Bekker, vom 9. Januar 1819 bis zum 16. Januar 1819, in: Friedrich Schleiermacher: Briefwechsel mit August Boeckh und Immanuel Bekker. 1806 – 1820, für die Litteraturarchiv-Gesellschaft in Berlin, hg. v. Heinrich Meisner, Berlin: Litteraturarchiv-Gesellschaft 1916, 102.

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für die Vorbereitung seiner Ästhetik zur Verfügung hatte. An seinen Schüler August Twesten schreibt Schleiermacher noch am 14. März 1819: „Nun freilich ist es schlimm, daß ich für den Sommer ein neues Collegium angekündigt habe, das ich schon lange im Schilde führe, aber wozu noch nichts vorbereitet ist, nämlich Aesthetik.“³⁵ Gleichwohl beginnt Schleiermacher gut einen Monat später, am 19. April, mit seiner ersten Vorlesungsstunde zur Ästhetik, die er dann in fünf wöchentlichen Stunden bis zum 7. August fortsetzt.³⁶ Trotz dieser hinderlichen Umstände gelang es Schleiermacher, eine eigenständige Ästhetikkonzeption zu entwerfen und auszuführen, was vor allem darauf zurückgeführt werden kann, dass er in seinen Vorlesungen über die philosophische Ethik und die Psychologie bereits systematisch auf die Kunst und die Prinzipien der Ästhetik reflektiert hat. Wie seine vorbereitenden Notizen zur Ästhetik belegen, hat sich Schleiermacher darüber hinaus mit dem ästhetischen Diskurs seiner Zeit auseinandergesetzt, insbesondere mit der Philosophie der Kunst von Schelling in dessen Aufsatz „Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur“ (1807), aber auch mit Goethe, Friedrich Bouterwek und Friedrich Ast.³⁷ Schleiermacher beginnt sein Kollegheft zur Ästhetik von 1819 mit einer knappen historischen „Einleitung“ über den Gegenstand und den Begriff der Kunst als einer Produktion, die der Naturproduktion ähnlich sei, aber im menschlichen Kunstvermögen ihr Zentrum habe: Das „Schöne [ist] freie menschliche Production“.³⁸ Dieser freien Produktion des Schönen liegen nach Schleiermacher im Allgemeinen keine bestimmten praktischen oder theoretischen Zwecke zugrunde, weshalb sie zunächst als selbstzweckmäßig erscheint. Nach der Einleitung folgen zwei Hauptteile: ein „Allgemeiner spekulativer Teil“, in dem Schleiermacher die ethischen Grundlagen der Ästhetik, den Begriff der Kunst und aus ihm den Einteilungsgrund der einzelnen Künste herleitet, und ein „Besonderer Teil“, in dem die einzelnen Künste aufgrund der drei Abteilungen begleitende, bildende und redende Künste behandelt werden. Die im Allgemeinen Teil erfolgende Ableitung der Ästhetik aus den Grundsätzen der Ethik verdeutlicht nicht nur die systematische Stellung, sondern auch die Nähe, in die Schleiermacher die Kunstausübung zu der erkennenden resp. symbolisierenden Tätigkeit des Individuums stellt, die ihren Grund im Gefühl hat.

 Brief von Friedrich Schleiermacher an August D. C. Twesten vom 14. März 1819, in: D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, hg. v. Carl Friedrich Georg Heinrici, Berlin: Wilhelm Hertz 1889, 342.  Es schrieben sich 108 Hörer für das Kolleg ein; vgl. Die Vorlesungen der Berliner Universität, hg. v. Wolfgang Virmond, Berlin: Akademie 2011, 191.  Vgl. KGA II/14 (Anm. 1), 5 – 8 (Notizen I), 26 – 27, 31– 32, 34– 35 (Notizen II).  KGA II/14 (Anm. 1), 40 (Kollegheft 1819).

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Insofern das Gefühl in der Ästhetik aber nur vermittelt durch die „Besinnung“ in die Kunstproduktion einfließen kann, weil sonst das Spezifische der schönen Künste nicht erfasst werden könnte, muss Schleiermacher einen neuen Begriff für diesen vermittelnden Grund suchen und findet ihn in dem der „Stimmung“, die er als einen „Durchschnitt festgehaltener Affectionsmomente“ spezifiziert.³⁹ Diese auf das „freie Spiel der Phantasie“ einwirkende Stimmung bildet somit den Vermittlungsgrund für die Sinnlichkeit des Gefühls und die geistige Hervorbringung des Kunstwerks. Anders als ein alltäglicher Gefühlsausdruck muss eine genuin künstlerische Darstellung nach Schleiermacher „Maaß und Wechsel“ enthalten, womit sie auf einen inneren Typus bzw. ein „Urbild“ zurückführt, das seiner äußeren Darstellung notwendig vorausgeht.⁴⁰ Die aufgrund der „Besinnung“ vollzogene „Erfindung“ oder „Urbildung“ des Kunstwerks ist demnach ein geistiger Vorgang, in dem das künstlerische Subjekt einen ‚Prototyp‘ des Kunstwerks erzeugt, in dem allgemeingültige geistige Formen bzw. Urbilder aufgerufen werden. Das Kunstwerk erscheint damit als eine Verbindung von sinnlich-individueller und geistigallgemeiner Dimension des Menschen: „Die Kunst ist also hier die Identität der Begeisterung, vermöge deren die Aeußerung aus der inneren Erregung herrührt und der Besonnenheit vermöge deren sie aus dem Urbilde herrührt.“⁴¹ Aus der inneren Vorbildung des Kunstwerks muss der Künstler schließlich die äußerlichmaterielle Gestalt des Kunstwerks erzeugen, ohne die die Kunstrezeption keinen Ansatzpunkt hätte. Die Gestalt eines Kunstwerks kann nach Schleiermacher dann als schön beurteilt werden, wenn in ihren internen Relationen eine Verbindung von elementarischer und organischer „Vollkommenheit“ erkennbar ist, die dem „Ideal“ als einer „mangellosen“ Erscheinung möglichst entspricht.⁴² Hier finden sich somit durchaus noch Anklänge an die Vollkommenheitstheorie der Ästhetik seines Lehrers Eberhard. Kunst in anthropologischer Perspektive als „organisch werden der Stimmung“ und in ethischer Rücksicht als eine „freie menschliche Production“ zu fassen, die einem „allgemeinen Kunsttrieb“ entspringe, ermöglicht es Schleiermacher schließlich, die einzelnen Künste aus einem einheitlichen Begriff zu entwickeln: „[D]ie Begeisterung aber ist nichts anderes als das Erregtwerden der freien Production durch die Stimmung. Also ist sie auch an sich dieselbe in allen Künsten, das jedesmal erneuerte Werden der bestimmten Kunst selbst aus dem

   

KGA II/14 (Anm. 1), 54 (Kollegheft 1819). KGA II/14 (Anm. 1), 47 (Kollegheft 1819). KGA II/14 (Anm. 1), 47 (Kollegheft 1819). KGA II/14 (Anm. 1), 71 (Kollegheft 1819).

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allgemeinen Kunsttriebe.“⁴³ Eine Erregung kann somit eine Begeisterung hervorrufen, die sich auf die individuelle Stimmung derart auswirkt, dass sie in eine begeisterte oder produktive Stimmung übergeht und sich dabei graduell von der Erregung löst, indem die Besinnung zunehmend intensiver und mit ihr der urbildende Prozess der symbolbildenden Phantasie zunehmend wirksamer wird. In Schleiermachers Ästhetikentwurf von 1819 wird damit (ähnlich wie später in seiner ersten Akademierede „Über den Begriff der Kunst“ von 1831) der Ausgangspunkt der Kunsttätigkeit, die „Begeisterung“ (bzw. „Begeistung“) der Stimmung, zu einem Einheitsmoment des Kunstbegriffs erhoben, insofern diese nicht nur die freie Produktion des Künstlers hervorruft, sondern auch einen inneren Zusammenhang der einzelnen Künste „an sich“ bezeichnet.⁴⁴ Auch die beiden folgenden Momente, die Urbildung und die äußere Darstellung, müssen nach Schleiermacher in jedem künstlerischen Prozess vorkommen, obwohl sie in inhaltlicher und materialer Hinsicht bereits stärker die Besonderheiten und damit die Differenzen der einzelnen Künste bezeichnen. Dem Begriff des „Kunsttriebs“ kommt hierbei eine zentrale Bedeutung in Hinblick auf den allgemeinen Einteilungs- und Motivationsgrund der künstlerischen Tätigkeit zu. Schleiermacher entlehnt ihn aus der zeitgenössischen Naturphilosophie, wo er etwa in den Schriften eines Steffens oder Treviranus zur Bezeichnung des instinktiv gestaltbildenden Verhaltens von Bienen (Waben) oder Spinnen (Netze) verwendet wird, insofern diese Lebewesen, anders als einfachere Organismen, sich mittels organischer ‚Werkzeuge‘ über die Grenzen des eigenen Körpers hinausgehend mit der anorganischen Natur assimilieren.⁴⁵ Nach Schleiermachers Adaption in die Kunsttheorie bezeichnet „Kunsttrieb“ nunmehr das allgemein-menschliche Bestreben, in seinen symbolisierenden Tätigkeiten zu einer künstlerischen Vollkommenheit zu gelangen. Mit dieser naturphilosophischen Wendung löst sich im Ästhetikentwurf von 1819 in gewisser Weise ein, was Schleiermacher in Schellings Rede „Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur“ rezipiert haben dürfte, nämlich, dass die „Kunst eine der Natur ähn KGA II/14 (Anm. 1), 68 – 69 (Kollegheft 1819).  Vgl. Friedrich Schleiermacher, „Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Bezug auf die Theorie derselben“ [vorgetragen am 11. August 1831], in: Kritische Gesamtausgabe (KGA), I/11, Akademievorträge, hg. v. Martin Rössler, Berlin / New York: De Gruyter 2002, 725 – 742, hier: 736.  Vgl. Henrich Steffens, Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft zum Behuf seiner Vorlesungen, Berlin: Verlag der Realschulbuchhandlung 1806, 78 – 80; Gottfried Reinhold Treviranus, Biologie oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte, Vol. 1 (1802), 369 – 370. Vgl. dazu Holden Kelm, „Zur Konzeption des ‚Kunsttriebs‘ bei Schleiermacher und Steffens in Hinblick auf eine systematische Verbindung von Ästhetik und Naturphilosophie“, in: System und Subversion. Friedrich Schleiermacher und Henrik Steffens, hg. v. Sarah Schmidt und Leon Miodoński, Berlin: De Gruyter 2018, 155 – 174.

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liche hervorbringende Kraft“ sei, wobei Schleiermacher das Kunstschöne als spezifisch menschliche Hervorbringung von dem Naturschönen graduell abhebt.⁴⁶ Die einzelnen Kunstzweige entwickelt Schleiermacher dann entsprechend der Richtung des allgemeinen Kunsttriebs in Bezug auf die besondere Kunsttätigkeit, insofern sich diese in jedem Künstler auf eine spezifische Weise – abhängig von der individuellen Ausprägung seiner sinnlichen und geistigen Organe – manifestiert.⁴⁷ Demnach ist die spezifische Begeisterung für körperliche und seelische Bewegungen, für Mimik und Gestik, für Laute und Töne, der Anfang der (subjektiven) Kunstzweige Mimik und Musik, die spezifische Begeisterung für regelmäßige körperliche bzw. organische Gestaltungen im Medium der anorganischen Materie der Anfang der (objektiven) Kunstzweige Architektur und Skulptur, während in den redenden Künsten (Poesie) die spezifische Begeisterung des Künstlers vorwiegend auf sprachliche Vorstellungen gerichtet ist. Somit gewinnt Schleiermacher die bereits in Bezug auf Eberhards semiologisches Schema erwähnte Einteilung: 1. begleitende Künste (Mimik, Musik), 2. bildende Künste (Architektur, Skulptur, Malerei), 3. redende Künste (Poesie). Dabei sieht Schleiermacher in dieser Reihe einen zunehmenden Intensitätsgrad an Reflexivität, so dass die Poesie als die Kunstform erscheint, in der das subjektive Moment der Erregung am stärksten durch die produktive Phantasie sublimiert wird. Gleichwohl möchte Schleiermacher diese Reihe als einen Zyklus verstanden wissen, insofern die begleitenden (auch dienenden) Künste wesentlich auf die redenden (auch dominierenden) Künste bezogen sind, Poesie und Prosa also in beiden Kunstrichtungen eine entscheidende Rolle spielen: „Die ganze Kunst ist nur in der Identität beider Arten, und beide ziehen sich daher an, weil der ursprüngliche Kunsttrieb kein specifischer ist, sondern auf alle zugleich geht.“⁴⁸ Dabei stehen die bildenden Künste gewissermaßen in der Mitte und können sowohl mit den begleitenden als auch mit den redenden Künsten Verbindungen eingehen. Eine Binnenunterteilung, die alle einzelnen Künste durchzieht, findet Schleiermacher schließlich im Unterschied zwischen religiösem und geselligem Stil sowie im historischen Gegensatz von Antike und Moderne. Schleiermachers zweite Ästhetikvorlesung wird im Lektionskatalog der Berliner Universität für das Sommersemester 1825 angekündigt und verlief vom 11. April bis zum 9. September.⁴⁹ Die Schleiermacher in dieser Zeit beschäftigenden wissenschaftlichen Projekte, die Überarbeitung seiner 1821/22 erschienenen    

KGA II/14 (Anm. 1), 71 (Notizen I). Vgl. KGA II/14 (Anm. 1), 84 (Kollegheft 1819). Vgl. KGA II/14 (Anm. 1), 91 (Kollegheft 1819). Es schrieben sich 81 Hörer für das Kolleg ein; vgl. Virmond 2011 (Anm. 36), 383.

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Glaubenslehre und die Weiterarbeit an seiner Ethik, haben möglicherweise dazu beigetragen, dass er seine Ästhetik in diesem Semester ohne größere Veränderungen gegenüber 1819 vorgetragen hat. Im Kollegheft 1819 finden sich jedenfalls nur wenige Marginalien oder Zusätze, die eindeutig in das Jahr 1825 datiert werden können. Die erhaltenen Nachschriften des Kollegs 1825 zeigen zudem weitgehende inhaltliche Übereinstimmungen mit dem Kollegheft 1819. Sein letztes Ästhetikkolleg hält Schleiermacher im Wintersemester 1832/33, er liest fünfmal in der Woche morgens von 7– 8 Uhr, vom 23. Oktober 1832 bis zum 29. März 1833.⁵⁰ Im Kollegheft von 1819 finden sich ausführliche Marginalien für diese Vorlesung, die zusätzliche Gedanken und Schematisierungen enthalten, welche einige terminologische Veränderungen mit sich bringen. Zunächst erweitert Schleiermacher die historische Einleitung insbesondere in Hinblick auf die jüngere Ästhetikgeschichte von Kant bis Hegel. Zudem führt er im Allgemeinen Teil den Begriff des „(unmittelbaren) Selbstbewusstseins“ als einen systematisch tragenden Terminus ein, der weitgehend synonym mit dem Begriff der „Stimmung“ verwendet wird. Dabei ersetzt das ethische Konzept des „Gesamtbewusstseins“, in dessen Kontext die „freie Produktivität“ der Kunst nun gestellt wird, die systematische Stellung des Begriffs des „Kunsttriebs“ als dem allgemeinen Einteilungs- und Motivationsgrund der Kunsttätigkeit.⁵¹ Schließlich verändert sich auch die Anordnung der einzelnen Künste geringfügig: Die 1819 im Rahmen der Architektur nur erwähnte schöne Gartenkunst wird nun als eine eigenständige Kunstform zwischen Architektur und Malerei verortet. Diese Überarbeitung seiner Ästhetik hat Schleiermacher offenbar erst zur Vorbereitung des Kollegs 1832/33 vorgenommen, also nach der Fertigstellung seiner ersten beiden Akademieabhandlungen „Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Bezug auf die Theorie derselben“, die er 1831 und 1832 vortrug.⁵² Ein dritter Vortrag zum selben Thema war geplant, konnte aber (wohl aufgrund der fortschreitenden Krankheit Schleiermachers zu Beginn des Jahres 1834) nicht mehr realisiert werden. Allein diese dritte, unvollendet gebliebene Abhandlung ist nach dem Ende der Vorlesung entstanden, was Schleiermachers Notizhefte

 Das Kolleg wird erstmals unter der Rubrik „Kunstgeschichte und Kunstlehre“ im Lektionskatalog der Berliner Universität angekündigt. Es schrieben sich 71 Hörer ein; vgl. Virmond 2011 (Anm. 36), 712.  Über die Hintergründe dieses terminologischen Wandels, ob und inwiefern darin auch eine konzeptuelle Umstellung der Ästhetik-Konzeption angelegt ist, wird derzeit (vom Verfasser) in einem DFG-Projekt geforscht. Vgl. URL: https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/448730446 (letzter Zugriff 17.06. 2022).  KGA I/11 (Anm. 44), 725 – 742, 769 – 786, 787– 794.

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belegen, in denen sich beginnend auf der Rückseite eines Zirkularbriefes vom 9. November 1833 vorbereitende Notizen für diese Abhandlung befinden.⁵³

4 Ausblick. Die künstlerische Praxis als Befreiung vom Bindenden? Abschließend soll auf die eingangs skizzierte Ambivalenz zurückgekommen werden, die der Begriff der Kunst als der geistigen Hervorbringung von Kunstwerken durch die künstlerische Praxis in sich birgt, indem sie als eine kulturhistorisch-bedingte Tätigkeit und zugleich als eine freie Produktivität betrachtet wird, durch die sich das Individuum von äußeren Determinationen löst. Schleiermacher bespricht diese Ambivalenz in seiner letzten Ästhetikvorlesung von 1832/33 ausführlicher als zuvor, was auch der Beobachtung entspricht, dass in dieser Vorlesung die ethische Perspektivierung der Kunst gegenüber der naturphilosophischen in den Vordergrund tritt. Indem Schleiermacher im Allgemeinen Teil seiner Vorlesungen mit den ethischen Voraussetzungen der künstlerischen Praxis auch die Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft ins Spiel bringt, gibt er zu bedenken, dass die Entwicklungsstufe menschlicher Gesellschaften eine kultur- und sozialgeschichtliche Bedingung der freien Produktivität im Allgemeinen sowie der künstlerischen im Besonderen darstellt. Demnach setzt bereits das „Wohlgefallen“ am Schönen (neben der Überwindung von Unterdrückungsverhältnissen wie der „Knechtschaft“ oder der „Leibeigenschaft“⁵⁴) einen gesellschaftlichen Differenzierungsgrad voraus, der die Bedürfnisbefriedigung des Individuums in einer Weise sicherstellt, dass dieses dazu kommen kann, seinen Geschmack zu bilden: Hat einer Wohlgefallen, wo er die Kunstthätigkeit findet, so hat er Geschmack (guten oder schlechten), was die Steigerung des bloßen Verlangens ist und erfordert, daß der Mensch von Noth und Bedürfniß doch so viel Ruhe hat, zu solcher Betrachtung zu kommen; und dann daß das Verlangen eine gewisse Stärke haben muß.⁵⁵

Obwohl die Ausübung der Kunsttätigkeit als eine kulturhistorische Errungenschaft betrachtet werden muss, die auch dem allgemein-ethischen Kunstbegriff Schleiermachers einen historischen Index verleiht, folgt aus dieser Perspektive  Vgl. Friedrich Schleiermacher, „Notizen zur dritten Akademieabhandlung ‚Über den Begriff der Kunst in Bezug auf die Theorie derselben‘“, KGA II/14 (Anm. 1), 919 – 924 (Anhang).  KGA II/14 (Anm. 1), 626 (Nachschrift Schweizer 1832/33).  KGA II/14 (Anm. 1), 596 (Nachschrift Schweizer 1832/33).

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auch, dass nicht alle Individuen, die in ihrem Leben über die nötige Distanz gegenüber grundlegenden Existenzbedürfnissen verfügen, auch zu Künstlern werden. Es sind nach Schleiermacher noch zwei weitere Bedingungen zu erfüllen, damit aus Kunstkennern und Kunstliebhabern, die ihren Geschmack nach Belieben bilden können, auch „wirkliche Künstler“ werden: Aber nicht alle von diesen werden nun auch äußerlich Kunstwerke hervorbringen, denn dazu gehören noch zwei Bedingungen, einmahl mehr Zeit, was innerlich als Eins da ist, in einer Reihe von Momenten äußerlich hinzustellen, was auch von der Dichtkunst gilt, da im Insichtragen die technische Vollkommenheit noch nicht ist, ja nicht einmahl das Ganze in Worten, aber der lebendige Keim des Ganzen; also muß man Herr einer größern Muße seyn und zweytens gehören dazu gewisse organische Bedingungen, die nicht mehr in derselben geistigen Richtung ihren Grund haben, sondern vom Leiblichen und Psychischen abhängt, das sich nicht im Maaße wie jenes entwickelt. […] Erst wo diese zwei Bedingungen noch sind, wird der Mensch in der Entwicklung der innren Thätigkeit ein wirklicher Künstler. Es ist dasselbe, was beym einen das Wohlgefallen erzeugt, aber nichts weiter, und beym andern wirklich künstlerische Thätigkeit; nur in verschiedner Entwicklung und Freyheit von Hemmungen.⁵⁶

Mit dieser Konkretisierung der im Kolleg 1819 weitgehend abstrakt dargelegten Momente der künstlerischen Praxis verdeutlicht Schleiermacher ihren sozialen Differenzierungsgrund: Obwohl die symbolisierende Darstellung in anthropologischer Hinsicht grundlegend für alle Individuen ist, die ihre Gefühle darstellen, um sich anderen mitzuteilen, und obwohl viele ihren Geschmack bilden und sich für Kunstwerke begeistern, werden nur diejenigen, die auch über freie Zeit verfügen können, um ihre künstlerischen Motive zu entfalten sowie technisches Geschick besitzen, auch zu praktizierenden Künstlern. „Wir haben schon gesagt, die Anfänge der Kunst als das wo Kunstloses und Künstlerisches nicht unterschieden ist, die hat jeder Mensch, aber nicht jedem entsteht daraus eine Thätigkeit, die Kunstausübung ist.“⁵⁷ Der Beruf des Künstlers, den Fichte im System der Sittenlehre (1798) als Vermittlung zwischen dem Beruf des Gelehrten (den Verstand repräsentierend) und dem Beruf des Lehrers (den Willen repräsentierend) einführt und durch die pädagogische Aufgabe kennzeichnet, den ‚ästhetischen Sinn‘ der Gemeinschaft zu bilden, findet bei Schleiermacher somit eine von den grundlegenden Bedürfnissen des Menschen ausgehende Begründung, die durchaus kunstsoziologische Züge trägt.⁵⁸  KGA II/14 (Anm. 1), 596 – 597 (Nachschrift Schweizer 1832/33).  KGA II/14 (Anm. 1), 607– 608 (Nachschrift Schweizer 1832/33).  Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, in: Gesamtausgabe I/5, Werke 1798 – 1799, hg. v. Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1977, 19 – 317, hier: 301, 447.

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Dabei stellt sich die Frage, inwiefern diese künstlerische Tätigkeit als eine freie Produktion bezeichnet werden kann. Für Schleiermacher spielt hier nicht nur die individuelle Selbstbestimmung, sondern auch die „sittliche Gesinnung“ eine entscheidende Rolle, insofern diese darauf ausgeht, das Gesamtleben zu gestalten und nicht im Privatleben zu verharren. Erst aus dieser auf das Allgemeine ausgehenden Perspektive erwächst dem Individuum die Einsicht in die äußere Abhängigkeit seiner organisierenden Tätigkeiten, ihre Eingebundenheit in die gesellschaftliche Organisation und damit auch das Bedürfnis, diese Determinanten selbst zu bestimmen. Und in dem Reflektieren dieses „Bindenden“ liegt nach Schleiermacher der Anfang der freien Produktivität: Was ist das Innre, das sich hier zur freyen Productivität durcharbeitet? Offenbar die sittliche Gesinnung vermöge der jeder Einzelne das ganze Gesamtleben constituiren möchte; aber im Leben selbst wird jeder durch die Thätigkeiten andrer bestimmt und kann seine sittlichen Thätigkeiten nur gebunden manifestiren, und wird nur verstanden, wenn das ihn Bindende verstanden ist. Da ist Anfang freyer Productivität und das geschieht nur, wenn was in der Wirklichkeit den Menschen bindet, sein eigenes Product wird.⁵⁹

Die ungebundene Produktivität setzt demnach nicht nur die Differenziertheit der modernen Gesellschaft, sondern auch eine Kultur der (Selbst‐)Reflexion voraus, die auf eine Vergegenständlichung der Konstitutionsbedingungen der Individualität ausgeht. Der Anfang der freien Produktivität liegt demnach darin, dass dieses äußerlich Bindende durch seine Reflexion nicht mehr als eine äußerliche Notwendigkeit erscheint, sondern als etwas Gewordenes und Veränderliches, das als „eigenes Product“ hervorgebracht werden kann. Je mehr das künstlerische Individuum demnach über freie Zeit, über Erfindungs- und Darstellungstalent verfügt, desto mehr wird es seine künstlerische Praxis selbstbestimmt lenken und umso intensiver wird der Akt der Besinnung sich auf diese Praxis auswirken können. Es ist dies eine Reflexionsbewegung, die strukturell an Hegels wechselseitige Bestimmung der Selbständigkeit und der Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins in der Phänomenologie des Geistes erinnert, wenngleich diese nicht im engeren Sinn mit der künstlerischen Praxis in Verbindung steht.⁶⁰ Im Licht dieses „Zurückstoßens des Bindenden“ erschließt sich die von Schleiermacher in seiner dritten (unvollendeten) Akademieabhandlung getroffene Aussage, dass

 KGA II/14 (Anm. 1), 621 (Nachschrift Schweizer 1832/33).  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke (GW) 9, Die Phänomenologie des Geistes, hg. v. Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, Hamburg: Meiner 1980, 109 – 116.

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alle schöne Kunst „nur als Selbstmanifestation des Künstlers“ denkbar sei, in ihrer ethischen Bedeutung.⁶¹ Offenbar wird die künstlerische Praxis als freie nämlich keine autonome, jenseits der ethischen Verhältnisse stattfindende Beschäftigung eines genialen Künstlers mit sich selbst – Schleiermacher möchte den Künstler ausdrücklich nicht als einen „Libertin“ verstanden wissen, der allein in der (scheinbaren) Isolation vom gesellschaftlichen Leben sein Auszeichnungsmerkmal erblickt.⁶² Wie sollte das ethisch Bindende durch seine symbolische Vergegenständlichung auch aufhören, bindend zu sein? Der Künstler vollbringt die Loslösung vom Bindenden zwar in seinem individuellen Leben auch insofern, als er sich Zeit für seine künstlerische Praxis nimmt, womit ihm weniger Zeit für seine gebundenen Tätigkeiten bleibt; – zuvorderst ist das ‚Zurückstoßen des Bindenden‘ aber ein symbolischer und insofern erkennender Akt, der sich nur mittelbar auf die Wirklichkeit auswirkt. Die Fertigstellung eines Kunstwerks und die Hinwendung zur Herstellung eines neuen sind demnach Momente einer geistigen Praxis, die parallel zu den gebundenen Tätigkeiten verläuft und von diesen durchkreuzt wird – und aus denen der Künstler zugleich Inspirationen für sein ungebundenes Schaffen zieht. Der Künstler würde die sittliche Idee nach Schleiermacher auch gänzlich negieren und keine wirkliche Kunst hervorbringen, wenn er sich in seiner ästhetischen Praxis vollständig in sich abschlösse und seine Produktionen keine Art der Mitteilung enthielten, die – auch wenn die Unverständlichkeit dominiert – irgendwie verstanden werden könnte. Denn Schleiermacher fundiert das Kunstwerk als ‚geistige Vorbildung‘ zwar mentalistisch, seine äußere Darstellung stellt aber die Vollendung der künstlerischen Praxis dar und ist zugleich die notwendige Voraussetzung für die Kunstrezeption, in der sich die ethische Dimension der Kunstproduktion einlöst. Als indirekte Mitteilung adressiert das Kunstwerk allerdings kein bestimmtes Individuum, wie es bei der dialogischen Kommunikation zumeist der Fall ist, sondern Kunstwerke (selbst solche, die bestimmten

 KGA II/14 (Anm. 1), 608 (Nachschrift Schweizer 1832/33); KGA I/11 (Anm. 44), 790. Vgl. Thomas Lehnerer, „Selbstmanifestation ist Kunst. Überlegungen zu den systematischen Grundlagen der Kunsttheorie Schleiermachers“, in: Internationaler Schleiermacher Kongress Berlin 1984, Teilband 1, hg. v. Kurt-Victor Selge, Berlin / New York: De Gruyter 1985 (Schleiermacher Archiv 1,1), 409 – 423.  „Ungeachtet der scheinbaren Negativität haben wir da etwas aufgestellt, was allen Künstlern gemeinsam ist, ein Zurückstoßen des Bindenden; ich meine nicht, daß dieselben nach allen Seiten für Libertins seyen, sondern ohne Nachtheil des Ethischen suchen sie das Bindende zurückzuweisen, nur als die innre Freyheit bindend.“ (KGA II/14 [Anm. 1], 608 [Nachschrift Schweizer 1832/33])

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Personen gewidmet sind) beziehen sich potenziell auf alle Individuen eines mehr oder weniger weiten Kulturkreises. Insofern sich im Kunstwerk die ethische Bedingtheit des hervorbringenden Künstlers auf symbolische Weise manifestiert, kann darin schließlich auch ein singulärer Ausdruck des befreienden Umgangs mit diesen Abhängigkeiten gesehen werden. Als Inversion von bindenden Lebensverhältnissen veranschaulichen Kunstwerke individuelle Muster der Deutung und Überwindung dieser Verhältnisse, insofern sie Aspekte der ethischen Wirklichkeit enthalten, die als Umstände ihres Entstehens direkt oder indirekt in ihre Hervorbringung eingeflossen sind. Die Kunstrezeption steht nach Schleiermacher somit vor der Aufgabe, nicht nur die symbolischen Inhalte der künstlerischen Selbstmanifestation, sondern auch ihre kulturhistorischen und politischen Entstehungsumstände wahrzunehmen, zu entschlüsseln und zu hinterfragen. Dabei können Kunstwerke den Ansatzpunkt für eine fortsetzende künstlerische Auseinandersetzung bilden, womit der von Schleiermacher intendierte Kreislauf zwischen Kunstproduktion und Kunstrezeption deutlich wird. Die Aktualität von Schleiermachers Ästhetik kann somit darin gesehen werden, dass er die individuelle Kunsttätigkeit als ein notwendiges Strukturmoment der modernen Gesellschaft begreift, im Rahmen derer sie sich entfaltet, zirkuliert und als Praxis des Symbolisierens eine kommunikative Funktion erfüllt. Angesichts der gegenläufigen Tendenz, die Kunsttätigkeit zugleich von den organisierenden Tätigkeiten in der Gesellschaft abzuheben und auf wirkliche Künstler zu beschränken, um erklären zu können, wie aus dem phantasiegeleiteten künstlerischen Prozess einzigartige Kunstwerke hervorgehen, bleibt die künstlerische Praxis nach Schleiermacher jedoch ambivalent: Obwohl sie notwendig an die ethischen Verhältnisse ihres Wirkungsraums zurückgebunden ist, muss sie zugleich eine Loslösung von diesen Verhältnissen vollziehen, um ihren Status als eine freie Produktion zu behaupten.

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Anhang. Friedrich Schleiermachers Vorlesungen über die Ästhetik: Materialien⁶³ I. Schleiermachers Manuskripte . . . .

Notizen zur Ästhetik I (Schleiermacher-Nachlass , KGA II/) Notizen zur Ästhetik II (Schleiermacher-Nachlass /, KGA II/) Kollegheft Ästhetik  (Schleiermacher-Nachlass , KGA II/) Marginalien für das Kolleg / (im Kollegheft Ästhetik , KGA II/)

II. Vorlesungsnachschriften Kolleg  . Bluhme (Fragment, sekundäre Überlieferung durch die Edition Odebrecht ⁶⁴, KGA II/) . Wigand (verschollen, wenige Auszüge in der Edition Lommatzsch⁶⁵, KGA II/) Kolleg  . Bindemann (Schleiermacher-Nachlass , erwähnt in der Edition Lommatzsch, Auszüge in der Edition Odebrecht, KGA II/) . Trendelenburg (Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Nachlass Trendelenburg A , schleiermacher digital) . Anonymus (Fragment, Schleiermacher-Nachlass , schleiermacher digital) . Braune (verschollen, kompiliert in der Edition Lommatzsch) Kolleg / . Schweizer (ZB Zürich, Nachlass Alexander Schweizer VIII , erwähnt und kompiliert in der Edition Lommatzsch, KGA II/ und schleiermacher digital) . Henke (UB Marburg, Ms. ,  – , schleiermacher digital) . Stern (Fragment, Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Nachlass , Mappe ) . Erbkam (verschollen, einzelne kompilierte Auszüge in der Edition Lommatzsch) . George (verschollen, einzelne kompilierte Auszüge in der Edition Lommatzsch)

 Dokumentiert und veröffentlicht in KGA II/14 (Anm. 1) und auf schleiermacher digital. URL: https://schleiermacher-digital.de/vorlesungen/index.xql?vorlesung=aesthetik (letzter Zugriff 23.06. 2022).  Friedrich Schleiermacher, Ästhetik, im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Literatur-Archiv-Gesellschaft zu Berlin nach den bisher unveröffentlichten Urschriften hg. v. Rudolf Odebrecht, Berlin: Akademie Verlag 1931.  Friedrich Schleiermacher, Sämmtliche Werke (SW) III/7, Vorlesungen über die Aesthetik, hg. v. Carl Lommatzsch, Berlin: Georg Reimer 1842.

Bernadette Collenberg-Plotnikov

Besinnung und Ausdruck Zum Begriff der Kunst bei Schleiermacher und Aby Warburg Vom 7. bis 9. Oktober 1930 fand an der Universität Hamburg der vierte Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft statt. Zwar war die Initiative zu dieser Veranstaltung maßgeblich von Ernst Cassirer, dem Vorsitzenden des Hamburger Ortsausschusses der Gesellschaft für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, ausgegangen. Von Anfang war aber ebenfalls Cassirers Kollege und Freund, der Kunsthistoriker Aby Warburg, der in Hamburg seine Kulturwissenschaftliche Bibliothek installiert hatte, als „einer der eifrigsten Förderer des Kongresses“¹ aufgetreten. Allerdings war Warburg im Oktober 1929 überraschend verstorben. Diesem Umstand trugen die Kongressorganisatoren in verschiedener Weise Rechnung. So umfasste etwa das Rahmenprogramm, zweifellos als Hommage an Warburg, eine Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe über das Schlüsselthema seines Forscherlebens, Das Nachleben der Antike. ² Zudem wurde für auswärtige Kongressteilnehmer eine Führung durch die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg in dem 1926 eröffneten hochmodernen Neubau angeboten. Und Edgar Wind fiel dabei die Aufgabe zu, im großen ovalen Lesesaal dieses Hauses Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die moderne Ästhetik zu erläutern.³ Für diese Aufgabe war Wind, der 1922 von dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky und dem Philosophen Cassirer promoviert worden war, in der Tat in besonderer Weise qualifiziert: Als Assistent an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek war er mit Warburg in engen persönlichen Kontakt getreten und stark von dessen kulturwissenschaftlichem Forschungsansatz beeinflusst worden. So war es später auch Wind, der, 1933 zur Emigration gezwungen, wesentlich zum erfolgreichen Transfer der Bibliothek nach London beitrug⁴ und zu einem Haupt-

 „Die Vorgeschichte“ [des vierten Kongresses für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft], in: Vierter Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Hamburg, 7.–9. Oktober 1930. Bericht, hg. im Auftrage des Ortsausschusses v. Hermann Noack, Stuttgart: Ferdinand Enke 1931 (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Beilageheft zu Bd. 25), 1– 5, hier: 1.  Vgl. „Die Vorgeschichte“ (Anm. 1), 4.  Siehe auch „Die Vorgeschichte“ (Anm. 1), 3.  Vgl. besonders Bernhard Buschendorf, „Auf dem Weg nach England. Edgar Wind und die Emigration der Bibliothek Warburg“, in: Porträt aus Büchern. Bibliothek Warburg und Warburg Institute, hg. v. Michael Diers, Hamburg: Dölling und Galitz 1993, 85 – 128; siehe auch John Michael Krois, „Einleitung“, in: Edgar Wind, Heilige Furcht und andere Schriften zum Verhältnis von Kunst https://doi.org/10.1515/9783111025483-008

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vertreter des Fachs Kunstgeschichte auf dezidiert Warburgscher – d. h. kulturwissenschaftlicher – Basis wurde. Mit Winds Kongressvortrag wurde das Programm des Hamburger Kongresses noch einmal ganz dezidiert auf das auch von Cassirer in seiner Begrüßungsansprache benannte Ziel des Kongresses hin ausgerichtet, „den Sinn“ von Warburgs wissenschaftlichem Werk zu erläutern und zu zeigen, „wie dieses Werk unter uns lebendig geblieben ist, und wie es, in der Richtung auf die Ziele, die er ihm gestellt hatte, weiterwirkt“.⁵ Dieser Vortrag hat daher in der Forschung einen festen Platz als die früheste und als besonders prägnante Darstellung von Warburgs wissenschaftlichem Ansatz, mit dem Wind zugleich seine eigene Position charakterisiert. Wind präsentiert Warburgs Konzeption dabei unter drei zentralen Aspekten, die sich in der Warburg-Forschung als Schlüsselmotive etabliert haben: „Warburgs Begriff des Bildes, seine[r] Theorie des Symbols und seine[r] Psychologie des mimischen und hantierenden Ausdrucks“.⁶ In der Forschung wurde bisher jedoch allenfalls am Rande notiert, dass Wind sich bei dieser Darstellung maßgeblich auf die Ästhetik Friedrich Schleiermachers, genauer: auf dessen erste Akademieabhandlung zur Fragen der Kunsttheorie vom August 1831, bezieht. So erklärt Wind hier: „Um […] die Betrachtungsweise, die Warburg geübt und gelehrt hat, zu umschreiben, kann ich kaum etwas Besseres tun, als die Worte zu gebrauchen, die Schleiermacher in seiner Abhandlung ‚über den Umfang des Begriffes der Kunst mit Bezug auf die Theorie derselben‘ geprägt hat.“⁷ Wind arbeitet dabei aber nicht nur charakteristische Ähnlichkeiten, sondern ebenso Differenzen zwischen den Bestimmungen Warburgs und Schleiermachers heraus. Im Folgenden soll dieser Zusammenhang, also der von Wind vorgenommene Vergleich der kunsttheoretischen Positionen von Warburg und Schleiermacher, näher analysiert werden. In einem ersten Schritt werden mit Wind die Parallelen und anschließend, in einem zweiten Schritt, die Unterschiede der Ansätze re-

und Philosophie, hg. v. John Michael Krois und Roberto Ohrt, Hamburg: Philo Fine Arts 2009 (Fundus-Bücher 174), 9 – 40, hier: 12.  „Gesellige und künstlerische Veranstaltungen“ [des vierten Kongresses für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft], in: Vierter Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Hamburg, 7.–9. Oktober 1930. Bericht, hg. im Auftrage des Ortsausschusses v. Hermann Noack, Stuttgart: Ferdinand Enke 1931 (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Beilageheft zu Bd. 25), 9 – 15, hier: 14.  Edgar Wind, „Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik“, in: Vierter Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Hamburg, 7.–9. Oktober 1930. Bericht, hg. im Auftrage des Ortsausschusses v. Hermann Noack, Stuttgart: Ferdinand Enke 1931 (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Beilageheft zu Bd. 25), 163 – 79, hier: 163.  Wind 1931 (Anm. 6), 173.

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konstruiert, die Wind für gleichermaßen charakteristisch hält. Die Frage, inwiefern Wind dabei tatsächlich Warburgs genuine Position oder nicht vielmehr seine – wenngleich dieser unbestreitbar eng verwandte – eigene darstellt, soll dabei außen vor bleiben. In einem dritten Argumentationsschritt soll vielmehr vor dem Hintergrund dieser Rekonstruktion die Stellung von Warburg und Schleiermacher zu einer Frage bestimmt werden, deren Tragweite heute, unter den aktuellen Bedingungen des ‚Iconic‘ bzw. ‚Visual Turn‘, in einem neuen Licht erscheint: Kann und soll eine Grenze zwischen künstlerischen und nicht-künstlerischen Gegenständen – mit Schleiermacher gesprochen: zwischen ‚Kunstmäßigem‘ vom ‚Kunstlosem‘⁸ – gezogen werden und wenn ja: wie?

1 Zur Bestimmung der Kunst bei Schleiermacher und Warburg 1.1 Schleiermacher Für den Aufweis der Parallelen zwischen den kunsttheoretischen Positionen von Warburg und Schleiermacher führt Wind in seinem Kongressvortrag ein ausführliches Zitat aus Schleiermachers erster ästhetischer Akademieabhandlung an: So wollen wir uns denn zunächst halten an eine alte Rede, die sich aber auch in dem Munde neuer Meister wiederholt, daß alle Kunst entspringt aus der Begeistung, aus lebhafter Bewegung der innersten Gemüts- und Geisteskräfte, – und an eine andere ebenso alte tief in unsere Denkweise eingewurzelte, daß nämlich jede Kunst ihr Werk muß aufzuweisen haben. Und so wäre wohl das nächste, zuzusehen inwiefern in den verschiedenen Künsten auf dieselbige Weise aus der Bewegung das Werk entsteht. Aber der Schwierigkeit der Sache wegen möchte es geraten sein, den Versuch bei denen Künsten zu beginnen, wo der Weg zwischen beiden Punkten nur kurz sein kann und der Prozeß sehr einfach erscheint. Und glücklich wären wir und hätten einen guten Wurf getan, wenn wir auf der einen Seite neben dem Kunstwerk auch ein verwandtes Kunstloses fänden, um zeigen zu können, wie das eine sich von dem andern unterscheidet, und auf der anderen Seite das Gefundene auch auf die anderen Künste übertragen könnten, bei denen der Weg nicht mehr so kurz ist und das Verfahren nicht mehr so einfach …

 Vgl. Friedrich Schleiermacher, „Ueber den Umfang des Begriffs der Kunst in Bezug auf die Theorie derselben“ [vorgetragen am 11. August 1831], in: Sämmtliche Werke (SW) III/3, Reden und Abhandlungen, der Königl. Akademie der Wissenschaften vorgetragen, hg. v. Ludwig Jonas, Berlin: Georg Reimer 1835, 181– 198, hier: 192 (KGA I/11, Akademievorträge, hg. v. Martin Rössler, Berlin / New York: De Gruyter 2002, 725 – 742, hier: 737).

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Es ist das Wesen jenes kunstlosen Zustandes, daß Erregung und Äußerung identisch sind und völlig gleichzeitig durch ein bewußtloses Band vereinigt miteinander beginnen und miteinander verlöschen, oder, noch genauer zu reden, sind beide wahrhaft eins und nur von dem draußenstehenden Beschauer willkürlich getrennt; wogegen in jeder Kunstleistung diese Identität wesentlich aufgehoben ist: … Eine andere höhere Gewalt ist zwischen eingetreten und hat das sonst unmittelbar Verbundene geschieden; ein Moment der Besinnung schlägt gleichsam trennend ein, bricht auf der einen Seite schon durch das Anhalten, durch die Weile jene rohe Gewalt der Erregung und bemächtigt sich zugleich während dieses Anhaltens der schon eingeleiteten Bewegung als ordnendes Prinzip.⁹

Schleiermacher geht also bei seinen Hypothesen ‚über den Umfang des Begriffes der Kunst mit Bezug auf die Theorie derselben‘ von zwei ebenso verbreiteten wie seiner Auffassung nach spontan plausiblen Annahmen aus: der Ansicht, dass alle Kunst „aus der Begeistung, aus lebhafter Bewegung der innersten Gemüths- und Geisteskräfte“ entspringt, und der Überzeugung, daß „jede Kunst ihr Werk muß aufzuweisen haben“. Er unternimmt damit in seinem Akademievortrag den Versuch, nicht – wie in seiner Ästhetik und Ethik – von einem spekulativen Begriff der Kunst aus „den Cyklus der Künste zu deduciren und das Wesen der verschiedenen Kunstformen darzustellen“.¹⁰ Er setzt vielmehr sozusagen beim entgegengesetzten Ende, der „lebhafte[n] Bewegung der innersten Gemüts- und Geisteskräfte“, an, um nachzuzeichnen, wie „aus der Bewegung das Werk entsteht“. Mit den beiden Grundannahmen über die Kunst verbindet Schleiermacher eine weitere, nämlich die Auffassung, dass das Kunstwerk als die Artikulation jener inneren „Erregung“ anzusehen ist, mit der die Kunsttätigkeit beginnt. Er geht also davon aus, dass die Produktion von Kunst immer auf einen ursprünglichen inneren Erregungsimpuls zurückgeht, der im Kunstwerk zum Ausdruck kommt. Schleiermacher erinnert hier insbesondere an die eigentümlichen Laute und „willkührlichen leiblichen Bewegungen“, in denen sich Freude und Schmerz äußern können. Zwar ist, wie Schleiermacher in einer von Wind ausgesparten Passage der Akademierede ausführt, „bei diesen Aeußerungen an ein Kunstwerk nicht unmittelbar zu denken. Und doch sind dies unläugbar die Naturanfänge zweier Künste, das kunstlose zu Tanz und Gesang als dem kunstmäßigen, zwei Künste, aus denen sich doch die größeren Gebiete der Mimik und der Musik nur durch natürliche Erweiterung entwikkelt haben.“ Diese Künste, bei denen der „Weg“ zwischen „Bewegung“ und „Werk“ besonders kurz ist und der „Prozeß“  Wind 1931 (Anm. 6), 173. Vgl. Schleiermacher 1835, „Ueber den Umfang des Begriffs der Kunst“ (Anm. 8), 191– 192 (KGA I/11, 736 – 737).  Friedrich Schleiermacher, Sämmtliche Werke III/5, Entwurf eines Systems der Sittenlehre, hg. v. Alexander Schweizer, Berlin: Georg Reimer 1835, 326, § 291.

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dementsprechend „sehr einfach erscheint“, versteht Schleiermacher dabei als paradigmatische Bestätigung seiner Bestimmung der Kunst überhaupt als Ausdruck von Emotionen.¹¹ Allerdings ist die Artikulation innerer Erregung als solche natürlich kein Spezifikum der Kunst. So würde man etwa das Winseln eines Hundes als Ausdruck von Schmerzen oder sein Schwanzwedeln als Ausdruck der Freude, aber auch das spontane Weinen oder Lachen eines Menschen, kaum als Kunstwerk bezeichnen. Dieses Problem ist der Gegenstand des zweiten Teils in dem von Wind angeführten Schleiermacher-Zitat. Dort vergleicht Schleiermacher solche ‚kunstlosen‘ Äußerungen des Gefühls mit Werken der Kunst, um auf diesem Weg eine zureichende Kunstdefinition zu gewinnen. Dabei charakterisiert er beide Seiten, also den ‚kunstlosen‘ Gefühlsausdruck und das Kunstwerk, als die Pole eines Relationsverhältnisses: Den Pol des ‚Kunstlosen‘ bildet ein Zustand, wo „Erregung und Äußerung identisch sind und völlig gleichzeitig durch ein bewußtloses Band vereinigt miteinander beginnen und miteinander verlöschen“. In der Kunsttätigkeit, dem anderen Pol, ist diese Identität demgegenüber „wesentlich aufgehoben“. Das heißt, in der Kunst verhallt die ursprüngliche Erregung nicht einfach, sondern sie manifestiert sich, allerdings in transformierter, nämlich reflexiv gebrochener Gestalt: Das Kunstwerk ist kein bloßer Gefühlsausdruck, sondern gestalteter Ausdruck. Verantwortlich ist hierfür nach Schleiermacher „ein Moment der Besinnung“, das „schon durch das Anhalten, durch die Weile jene rohe Gewalt der Erregung“ bricht und sich „zugleich während dieses Anhaltens der schon eingeleiteten Bewegung als ordnendes Prinzip“ bemächtigt. Dabei bestimmt Schleiermacher diese Besinnung in der Abhandlung zugleich näher als „Vorbildung“¹², d. h. als Präfiguration des künstlerischen Artefakts in der Vorstellung, die sich nicht nur in Musik und Mimik, sondern „in allen Künsten“¹³ nachweisen lasse. Schleiermacher meint daher den „gewagten Saz aufstellen“ zu dürfen, dass die „vorbildende Besinnung“ „das Wesen jeder Kunst als solcher sei“.¹⁴ Nur weil Schleiermacher die künstlerische ‚Vorbildung‘ nicht als unmittelbare Konvertierung eines einzelnen, momenthaften Erregungszustandes begreift, kann er auch

 Schleiermacher 1835, „Ueber den Umfang des Begriffs der Kunst“ (Anm. 8), 191– 192 (KGA I/11, 736 – 737).  Schleiermacher 1835, „Ueber den Umfang des Begriffs der Kunst“ (Anm. 8), 194 (KGA I/11, 738).  Schleiermacher 1835, „Ueber den Umfang des Begriffs der Kunst“ (Anm. 8), 193 (KGA I/11, 738).  Schleiermacher 1835, „Ueber den Umfang des Begriffs der Kunst“ (Anm. 8), 193 (KGA I/11, 738).

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der emotionalen Komplexität vieler Kunstwerke Rechnung tragen.¹⁵ Und insofern diese ‚Vorbildung‘ nicht im luftleeren Raum, sondern stets in einer bestimmten sozio-kulturellen Konstellation stattfindet, ist das Kunstwerk für Schleiermacher, bei aller Individualität, immer zugleich eine ‚sozio-kulturelle Kundgabeform‘¹⁶. Die Kunst wird so für Schleiermacher durch das Zusammenspiel von drei Momenten konstituiert: Sie setzt erstens eine „innere Erregung“ des empfindsamen Subjekts voraus, die im Subjekt zweitens eine „vorbildende Besinnung“ erfährt und schließlich drittens in die „Ausführung“ dieser Vorbildung im Kunstwerk einmündet. Es ist daher diese Besinnung, die, so Schleiermacher, „die Naturthätigkeit über sich selbst erhebt und zu einer Offenbarung des sich seiner bewußten und die Erregung beherrschenden Geistes adelt“.¹⁷ Dieses auf die Kunst bezogene Polaritätsdenken von ursprünglicher innerer Bewegung und artikulierter äußerer Gestaltung von Ausdruck ist für Wind die charakteristische Parallele zwischen Schleiermacher und Warburg: Wie Schleiermacher versteht Warburg die Kunst als Ausdruck eines seelischen Erlebens, genauer: als anschaubare Manifestation eines Ausgleichs von ursprünglicher, ungezügelter ‚Erregung‘ und ‚Besinnung‘.

 „Ist aber durch die vorbildende Besinnung das unmittelbare Zusammenschlagen von Erregung und Aeußerung aufgehoben: so ändert sich natürlich auch das ganze Verhältniß zwischen beiden. Wirkt nämlich in dem kunstlosen Zustand der Erregungsmoment nur unmittelbar: so erschöpft er sich auch größtentheils durch einen kleinen Kreis von Bewegungen, und wenn er zu schwach ist bewirkt er gar nichts. Auf diese Weise entstehen dann von jeder Erregungsweise aus analoge und verwandte Aeußerungen aber alle geringfügig und vereinzelt. Wird aber der Prozeß durch die vorbildende Besinnung aufgehalten: so kann noch während dieser Hemmung ein zweiter erregter Zustand entstehen, der vielleicht für sich gar nichts bewirkt hätte, der aber nun doch etwas zur Darstellung hinzubringt und sie über jenes Maaß hinaus erweitert. Auf dem Gebiet der Kunst also kann es Darstellungen geben, die sich auf eine Reihe von Erregungsmomenten beziehen.“ (Schleiermacher 1835, „Ueber den Umfang des Begriffs der Kunst“ [Anm. 8], 193, [KGA I/11, 738]) – Siehe auch Reinold Schmücker, „Schleiermachers Grundlegung der Kunstphilosophie“, in: Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, hg. v. Dieter Burdorf und Reinold Schmücker, Paderborn: Schöningh 1998, 241– 265, hier: 257.  Vgl. Michael Moxter, „Gefühl und Ausdruck. Nicht nur ein Problem der Schleiermacherinterpretation“, in: Theologie der Gefühle, hg. v. Roderich Barth und Christopher Zarnow, Berlin / Boston: De Gruyter 2015, 125 – 141, hier: 135.  Schleiermacher 1835, „Ueber den Umfang des Begriffs der Kunst“ (Anm. 8), 192– 194 (KGA I/11, 736 – 738). – Siehe auch Schmücker 1998 (Anm. 15), 254– 255.

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1.2 Warburg Schon in seiner Dissertation, also noch vor seiner Bekanntschaft mit Warburg, hatte Wind sich in Auseinandersetzung mit Heinrich Wölfflin und Aloys Riegl ein Denken über die Kunst in Polaritäten zu eigen gemacht. Bei Warburg stößt Wind dann erneut auf ein solches Denken – allerdings unter einer völlig anderen Akzentuierung, die er auch bei Schleiermacher wiederfindet: Es geht nicht länger um Pole, in denen das „reine Sehen“ sich auf einer von allem stofflichen Interesse befreiten „optische[n] Schicht“ orientiert – etwa das Malerische und das Lineare bzw. das Haptische und das Optische.¹⁸ Es geht vielmehr auch in Warburgs Psychologie des bildhaften Ausdrucks um die Polarität von „rohe[r] Gewalt der Erregung“ einerseits und „Besinnung“ andererseits¹⁹, die sich im „konkreten, gerätmäßig gebundenen Objekt“²⁰ artikuliert, das unter bestimmten soziokulturellen Bedingungen bestimmte Aufgaben übernimmt. Ebenso war ja auch bereits Schleiermacher in seiner Akademierede von der Grundüberzeugung ausgegangen, dass „jede Kunst ihr Werk […] aufzuweisen haben“ muss. Näherhin vertritt Wind mit Warburg die Auffassung, dass die „vorkünstlerische Bestimmung“ eines Artefakts, seine Funktion im Lebenszusammenhang, zugleich „in der künstlerischen Gestaltung bestimmend mitschwingt und ästhetische Unterschiede bewirkt: – Unterschiede des Formgehalts mit Bezug auf den betrachtenden Menschen“.²¹ Der Formalismus führt daher zu völlig unangemessenen Generalisierungen, indem er das Heterogenste unter dieselbe „allgemeine Formel“ fasst.²² So hatte etwa Wölfflin erklärt, dem „Spitzschuh“ liege das gleiche „spezifische Formempfinden des gotischen Stils“ zugrunde wie der „Kathedrale“.²³ Es gilt vielmehr, auch in ästhetischer Hinsicht die „Unterschiede des gerätmäßigen Gebrauchs mit Bezug auf den hantierenden Menschen“ mitzubedenken.²⁴ Zudem ist das ‚Bild‘ – Warburgs eigentliches Forschungsgebiet – nicht

 Wind 1931 (Anm. 6), 164.  Wind 1931 (Anm. 6), 173.  Wind 1931 (Anm. 6), 167.  Wind 1931 (Anm. 6), 166.  Wind 1931 (Anm. 6), 164.  Wind 1931 (Anm. 6), 166. – Wind kommentiert weiter: „Aber je mehr man auf diese Weise lernte, an einem Spitzschuh gerade auf das zu achten, was man an einer Kathedrale zu sehen gewohnt war, oder bei einer Kathedrale das zu bemerken, was einen zur Not auch ein Spitzschuh hätte lehren können, desto mehr verlor man das Gefühl für die elementare Tatsache, daß ein Schuh ein Gegenstand ist, den man über den Fuß schlüpft um auszugehen, während man in eine Kathedrale eintritt um seine Andacht zu verrichten.“ (Ebd.)  Wind 1931 (Anm. 6), 166.

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nur „Stimmungsgestalter“, sondern „zugleich auch Stimmungserreger“²⁵, d. h. es reflektiert nicht allein die Bedingungen, unter denen es hervorgebracht wird, sondern es wirkt auch auf diese zurück. Dabei ist das Bild im allgemeinsten Verständnis für Warburg „irgend ein sichtbarer Gegenstand“²⁶, insofern dieser eine Bedeutung symbolisiert, in seinem speziellsten Verständnis das Kunstbild. So stellt Wind mit Warburg Wölfflins „Begriff des reinen künstlerischen Sehens“ den „Begriff der Gesamtkultur entgegen, in der das künstlerische Sehen eine notwendige Funktion erfüllt“.²⁷ Und statt die „Wechselbeziehungen in abstracto zu behaupten“, geht es auch Warburg, ebenso wie Schleiermacher in seiner Akademierede, darum, diesen Wechselbeziehungen „dort nach[zu]spüren, wo sie am einzelnen Objekt historisch faßbar werden“.²⁸ Warburg führt den von Schleiermacher benannten polaren Kontrast von ursprünglicher ‚Erregung‘ und ‚Besinnung‘ in seinem Konzept der sogenannten „Pathosformeln“ zusammen²⁹, die im Zentrum seines Bilddenkens stehen. Darunter versteht er den Vorrat von „Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins“³⁰, wie sie seiner Ansicht nach in der antiken Kunst anfänglich verdichtet wurden und als Nachleben der Antike bis heute neue Bilderfindungen steuern. Es handelt sich für Warburg bei diesen Formeln also um bestimmte, als besonders prägnant empfundene sinntragende Formen der körperlichen Präsenz der Menschen, die über die Epochen hinweg unbewusst fortleben und daher in den Bildgestaltungen in unterschiedlichen kulturgeschichtlichen Zusammenhängen und variierenden Bedeutungen wiederkehren.³¹

 Wind 1931 (Anm. 6), 168.  Wind 1931 (Anm. 6), 170.  Wind 1931 (Anm. 6), 167. – Wind erklärt weiter: „Es ist eine der Grundüberzeugungen Warburgs, daß jeder Versuch, das Bild aus seiner Beziehung zu Religion und Poesie, Kulthandlung und Drama herauszulösen, der Abschnürung seiner eigentlichen Lebenssäfte gleichkommt. Für wen aber das Bild diese unauflösliche Verflochtenheit mit der Gesamtkultur besitzt, dem stellt sich auch die Aufgabe, ein Bild, das man nicht mehr unmittelbar versteht, zum Sprechen zu bringen, ganz anders dar als jemanden, der an ein ‚reines Sehen‘ im abstrakten Sinne glaubt.“ (Ebd., 168)  Wind 1931 (Anm. 6), 167.  Wind 1931 (Anm. 6), 176.  Aby Warburg, „Einleitung“ [zum Bilderatlas Mnemosyne] [1929], in: ders., Der Bilderatlas Mnemosyne, hg. v. Martin Warnke, Gesammelte Schriften, 2. Abt., Bd. II.1, Berlin: Akademie-Verlag 2000, 3 – 6, hier: 3.  Warburg selbst schreibt hierzu: „In der Region der orgiastischen Massenergriffenheit ist das Prägewerk zu suchen, das dem Gedächtnis die Ausdrucksformen des maximalen Ergriffenseins, soweit es sich gebärdensprachlich ausdrücken läßt, in solcher Intensität einhämmert, daß diese Engramme leidenschaftlicher Erfahrung als gedächtnisbewahrtes Erbgut überleben und vorbildlich den Umriß bestimmen, den die Künstlerhand schafft, sobald Höchstwerte der Gebär-

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Bilder sprechen sich somit für den Forscher nicht selbst ganz aus, sondern für ihr angemessenes Verständnis ist zugleich diskursives kulturgeschichtliches Wissen gefragt. Bilddeutung ist, so verstanden, ebenso wie Bildgestaltung, Erinnerungsarbeit. Warburg unterstellt seine Bildwissenschaft daher, wie Wind erklärt, dem Namen der Göttin der Erinnerung und Mutter der Musen – Mnemosyne: Der Forscher aber, der auf diese Weise einen längst verschütteten Komplex von Vorstellungen aufdeckt, kann sich nicht dem Glauben hingeben, daß seine Betrachtung eines Bildes ein einfaches Anschauen, ein unmittelbares Sicheinfühlen sei. Es wird für ihn zu einem begrifflich geleiteten Erinnerungsvorgang, durch den er eintritt in die Reihe derer, die die ‚Erfahrung‘ der Vergangenheit lebendig erhalten. Warburg war davon überzeugt, daß er in seiner eigenen Arbeit, das heißt im reflektierten Akt der Bildanalyse, eine Funktion ausübte, die das Bildgedächtnis der Menschen im spontanen Akte der Bildsynthese unter dem Zwange des Ausdruckstriebes vollzieht: das Sichwiedererinnern an vorgeprägte Formen. Das Wort Μνημοσύνη, das er über den Eingang seines Forschungsinstituts hat setzen lassen, ist in diesem doppelten Sinne zu verstehen: als Aufforderung an den Forscher, sich darauf zu besinnen, daß er, indem er Werke der Vergangenheit deutet, Erbgutverwalter der in ihnen niedergelegten Erfahrung ist – zugleich aber als Hinweis auf diese Erfahrung selbst als einen Gegenstand der Forschung, d. h. als Aufforderung, die Funktionsweise des sozialen Gedächtnisses an Hand des historischen Materials zu untersuchen.³²

Dabei geht Warburg davon aus, dass „die Bedingungen der Stilbildung“³³ nicht allein an den äußeren Lebensverhältnissen einer Kultur festgemacht werden können, sondern dass in ihnen zugleich seelische Dispositionen in einer epochenspezifischen Weise zum Ausdruck kommen, die es zu erkunden gilt: Die auch von Schleiermacher geltend gemachten „wiederstreitenden Seelenregungen“ von „Erschütterung“ einerseits und einer diese Erschütterung moderierenden „Besinnung“ andererseits versteht Warburg als „Pole einer einheitlichen Schwingung“, die den Charakter einer Epoche ausmacht, wobei diese Pole unterschiedlich prägnant zu Geltung kommen können und dementsprechend das „Ausmaß der Schwingung“ variieren kann.³⁴ densprache durch Künstlerhand im Tageslicht der Gestaltung hervortreten wollen“. (Warburg 2000, Anm. 30, 3)  Wind 1931 (Anm. 6), 168 – 169.  Wind 1931 (Anm. 6), 167.  Wind 1931 (Anm. 6), 169. – Auch die Grundbegriffspaare der kunsthistorischen Formalisten werden für Warburg erst dann wirklich sprechend, wenn sie nicht als „abstrakte Antithese“, sondern als „Pole eines Schwingungsvorgangs“ aufgefasst werden, „der sich als kultureller Auseinandersetzungsprozeß geographisch-historisch festlegen läßt“. Wenn so etwa Wölfflin als Antithese zum ‚Linearen‘ „einen bestimmten Begriff des Malerischen als einheitliche Stilfunktion definiert, die so entgegengesetzte Erscheinungen wie Terborch und Bernini in sich befaßt, so müßte sich diese Behauptung interpretieren lassen als Hinweis auf einen real-geographischen

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In dieser „Polaritätstheorie des seelischen Verhaltens“ findet Warburg die Antwort auf seine „grundlegende Frage nach dem Wesen der Auseinandersetzung mit den vorgeprägten Formen der Antike“, und er steigert sie zu der allgemeinen These, „daß im Prozeß der Bildgeschichte die vorgeprägten Ausdruckswerte, je nach der seelischen Schwingungsweite der umbildenden Kraft, eine Polarisierung erfahren.“³⁵ So kann der Künstler, wie Ernst Gombrich in seiner Warburg-Biographie erläutert, die Pathosformeln in einem veränderten kulturgeschichtlichen Kontext in einem anderen Zusammenhang verwenden, ihren ursprünglichen wilden Sinn ‚umkehren‘ und doch aus ihrem Wert als Ausdrucksformeln einen Gewinn ziehen. Auf diese Weise hatte Bertoldo di Giovanni eine heidnische Mänade als Vorlage benutzt, um den leidenschaftlichen Schmerz der Magdalena unter dem Kreuz auszudrücken, und Donatello hatte nach Warburgs Ansicht ein Sarkophagrelief, auf dem Pentheus von Mänaden in Stücke gerissen wird, für seine eigene Komposition im Santo in Padua verwendet. Wo heidnische Ekstase ein von rasenden Frauen abgerissenes Bein abgebildet hatte, da ‚invertiert‘ der christliche Künstler nun das Motiv und verherrlicht die Heilung eines gebrochenen Beins.³⁶

Und nichts ist, wie Wind erinnert, „charakteristischer für die Entwicklung der Frührenaissance als daß sie den Pathosformeln der Antike, deren erregungslösende Kraft sie aufs Höchste empfand, den Einlaß in ihre Bilder zunächst in der höchst distanzierten Form der Grisaille gewährte.“³⁷ Einen maßgeblichen Bezugspunkt für dieses Bildverständnis hatte Warburg, wie Wind weiter erläutert, in Friedrich Theodor Vischers Aufsatz über Das Symbol von 1887 gefunden.Vischer unterscheidet dort drei besondere Symbolbegriffe, die dazu dienen, die „Hauptarten der Verbindung zwischen Bild und Sinn auseinanderzuhalten“. Auf der ersten Stufe, die Vischer als die „dunkel-verwechselnde“, Warburg als die „magisch-verknüpfende“ bezeichnet, werden „Bild und Bedeutung in eins gesetzt“. Hier handelt es sich um „Symbole der Aneignung“, die man sich typischerweise durch „Essen und Trinken“, also physisch, einverleibt. Diese

Auseinandersetzungsprozeß zwischen Norden und Süden im Zeitalter des Barock. Die Namen Bernini und Terborch würden dabei das Ausmaß eines geistigen Schwingungsvorgangs bezeichnen, dessen historisches, als soziale Einheit aufweisbares Subjekt die europäische Kulturgemeinschaft des siebzehnten Jahrhunderts wäre.“ (Ebd., 177)  Wind 1931 (Anm. 6), 169.  Ernst H. Gombrich, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984 (stw 476), 334. – Siehe auch Klaas Huizing, „Gestische Kommunikation. Theologie als Gesten- und Medienwissenschaft – eine Annäherung an Aby Warburg und Co.“, in: Hermeneutik der Religion, hg. v. Ingolf U. Dalferth und Philipp Stoellger, Tübingen: Mohr Siebeck 2007, 173 – 188, hier: 177.  Wind 1931 (Anm. 6), 176 – 177.

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archaische, „magisch-bindende“ Symboldeutung lebt etwa auch im katholischen Verständnis der „christlichen Lehre der Eucharistie“ fort.³⁸ Den Gegenpol hierzu bildet die „logisch-sondernde“ Symboldeutung, wo die Bedeutungsträger „nicht als Kräfte, die geheimnisvoll wirken“, sondern „als Zeichen, die intellektuell zu verstehen sind“, zu uns sprechen. Auf dieser historisch späten, logisch oder rein begrifflich orientierten Stufe, die nach Wind etwa im protestantischen Verständnis der Eucharistie zum Tragen kommt, ist das Symbol frei von jeder affektiven Färbung und wird so an ein lebloses, ganz abstraktes Zeichen geheftet. „Das Symbol im Sinne einer unlöslichen Einheit von Ding und Bedeutung hat sich in die Allegorie verwandelt, wo die beiden Seiten des Vergleichs sich klar gesondert gegenübertreten.“ Der „Ausspruch Christi: ‚Dies ist mein Leib …‘“ wird also nicht mehr als „Trope“, sondern als „Metapher“ verstanden.³⁹ Der kulturwissenschaftlich vordringlich relevante Symbolbegriff bezieht sich dagegen auf eine mittlere, zwischen leiblicher Aneignung und intellektuellem Verstehen angesiedelte, „vorbehaltende“⁴⁰ Stufe, die in diesem Modell den Bereich der Kultur im engen und eigentlichen Sinn bildet. Hierzu erläutert Wind: Die kritische Phase aber liegt in der Mitte, dort, wo das Symbol als Zeichen verstanden wird und dennoch als Bild lebendig bleibt, wo die seelische Erregung, zwischen diesen Polen in Spannung gehalten, weder durch die bindende Kraft der Metapher so sehr konzentriert wird, daß sie sich in Handlung entlädt, noch durch die zerlegte Ordnung des Gedankens so sehr gelöst wird, daß sie sich in Begriffe verflüchtigt. Und eben hier hat das ‚Bild‘ (im Sinne des künstlerischen Scheinbildes) seine Stelle.⁴¹

So macht auch bereits Warburgs Rede von Pathosformeln deutlich, dass es sich hier um Bildfindungen handelt, die nicht unmittelbarer Ausdruck einer ursprünglichen ‚Erregung‘ – bei Warburg insbesondere der Angst – sind, sondern vielmehr „einen bereits besonnenen Umgang mit leidenschaftlicher Erfahrung beschreiben“.⁴² Die in der Antike geprägten Ausdrucksgebärden, die nach Warburg im modernen Bildschaffen nachleben, speichern damit als symbolische Formen die Polarität seelischen Erlebens – hier: von Angst und Angstkontrolle. In Warburgs Kontrastierung von phobischer Entfesselung und Bändigung kehrt damit zugleich namentlich Friedrich Nietzsches Kontrastierung von Dionysi-

    

Wind 1931 (Anm. 6), 170 – 171. Wind 1931 (Anm. 6), 171. Wind 1931 (Anm. 6), 171. Wind 1931 (Anm. 6), 172. Huizing 2007 (Anm. 36), 175.

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schem und Apollinischem wieder.⁴³ Dabei ist es aber, wie Gombrich betont hat, zugleich Warburgs Intention, die Kulturgeschichte als einen zwar nicht linearen, aber doch nachweisbaren ‚Entdämonisierungsprozess‘ zu beschreiben: „Nicht sich unmittelbaren phobischen Reaktionen ausliefern, sondern die Zeitspanne der Reflexion ausdehnen: das ist das Ziel wahrer Kultur.“⁴⁴ So schreibt auch Warburg selbst in der Einleitung zu seinem ‚Bilderatlas Mnemosyne‘, der solche wiederkehrenden visuellen Themen und Muster von der Antike über die Renaissance bis zur Gegenwartskultur nachzeichnen soll: „Bewußtes Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt darf man wohl als Grundakt menschlicher Zivilisation bezeichnen“.⁴⁵

2 Eine Differenz zwischen Schleiermachers und Warburgs Bestimmungen der Kunst? Bei aller offenkundigen Nähe der Positionen von Warburg und Schleiermacher meint Wind jedoch, auf einen nicht weniger offenkundigen Unterschied hinweisen zu müssen: Aber so sehr diese Worte Schleiermachers, als Ganzes genommen, die Warburgsche Betrachtungsweise kennzeichnen, so enthalten sie doch einen Punkt, in dem Warburg von ihnen abweicht. Der Akt der Besinnung, der kritische Moment des ‚Anhaltens‘, wird von Schleiermacher wie eine Art Wunder behandelt, – als ob, um mit seinen eigenen Worten zu reden, ‚eine andere, höhere Gewalt zwischen eingetreten‘ wäre und ‚das sonst unmittelbar Verbundene geschieden‘ hätte. Bei Warburg aber besteht zwischen jenem Zustand, den Schleiermacher als völlige Einheit von Erregung und Äußerung betrachtet, und dem Akt der Besinnung, mit welchem für ihn das eigentlich Künstlerische beginnt, kein Bruch sondern ein kontinuierlicher Übergang. An der Theorie des mimischen Ausdrucks und der Hantierung läßt sich dies im einzelnen nachweisen.⁴⁶

Schleiermacher betrachtet demnach den „Akt der Besinnung“, der den Übergang vom Kunstlosem zur Kunst markiert, als einen „Bruch“, der nur als „Wunder“ verstanden werden kann: Weil der Geist, der sich in der Kunst manifestiert, der Natur fremd ist, ist auch die Kunst nicht etwa – mit dem Vokabular der modernen Wissenschaftstheorie gesprochen – eine bloße Hochstilisierung von Impulsen, die bereits in der ursprünglichen „Einheit von Erregung und Äußerung“ angelegt    

Vgl. Huizing 2007 (Anm. 36), 176. Gombrich 1984 (Anm. 36), 322. – Siehe auch Huizing 2007 (Anm. 36), 176. Warburg 2000 (Anm. 30), 3. Wind 1931 (Anm. 6), 173 – 174.

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sind. Vielmehr ist die Kunst etwas grundsätzlich anderes, nämlich Geistiges. Schleiermacher wird hier also als Verfechter eines strikten Dualismus zwischen Natürlichem bzw. Sinnlichem und Geistigem charakterisiert. Wichtig ist Wind aber vor allem, die Position Warburgs als diametralen Kontrast zu einer solchen Metaphysik auszuweisen: Der „Akt der Besinnung“, mit dem für Schleiermacher „das eigentlich Künstlerische beginnt“, ist für Warburg, wie Wind hervorhebt, „kein Bruch sondern ein kontinuierlicher Übergang“. Und Wind schickt sich an, diese Diagnose anhand einer Skizze von Warburgs „Theorie des mimischen Ausdrucks und der Hantierung“ zu belegen, mit der er die biologischen und anthropologischen Grundlagen von Warburgs Kulturwissenschaft umreißt. Für die Charakteristik von Warburgs Bestimmung des mimischen Ausdrucks geht Wind zunächst – parallel zu Schleiermachers Annahme eines ‚bewusstlosen‘ Zustands, in dem „Erregung und Äußerung identisch sind“ und ebenso, wie sie „miteinander beginnen“, auch wieder „miteinander verlöschen“ – von einem Zustand vollständiger materieller Bestimmtheit aus. So kann man sich, wie Wind erklärt, „einen Zustand denken, und im Verhalten niedriger Lebewesen wohl auch tatsächlich aufweisen, wo jede durch einen äußeren Reiz verursachte Erregung sich unmittelbar in organische Bewegung umsetzt, an der das Tier als ganzes beteiligt ist“.⁴⁷ Hier liegt ein einfaches Verhältnis von Ursache und Wirkung vor. Man kann sich nun aber, so Wind weiter, auch „eine etwas höhere Stufe denken, auf der der Erregungszustand sich differenziert, wo die Bewegung nicht den Organismus als ganzen gleichmäßig erfaßt, sondern sich an einigen Teilen staut und andere frei läßt“. Wenn dabei die Ereignisse „ihre Spuren“ in Form von Gebärden hinterlassen und die Erregungen sich „typisch zu gliedern“ beginnen, dann handelt es sich dabei bereits um erste Manifestationen jener Reflexion und „Bildprägung“, die später, in der bewussten Gestaltung von Bildern, in verdichteter Form zum Tragen kommt. An diesen höher entwickelten Erregungszuständen kann man so „den Prozeß der Bildprägung in Gestalt der körperlichen Ausdrucksgebärde in statu nascendi studieren, und man wird dabei entdecken, daß das Phänomen des Ausdrucks selbst in seiner elementarsten Form schon mit einem Minimum an Besinnung verbunden ist“.⁴⁸ Ganz parallel hierzu lässt sich aber auch die „Funktionsweise des menschlichen Körpers“ betrachten, „wo die jeweilige Erregung sich in differenzierte Muskelbewegung umsetzt und wo jeder Muskel eine besondere Funktion erfüllt, in deren Vollzug er durch Übung gestärkt wird“: Auch hier hinterlässt die „häufige

 Wind 1931 (Anm. 6), 174.  Wind 1931 (Anm. 6), 174.

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Wiederholung desselben Aktes“ ihre „Spuren“.⁴⁹ Wind verweist in diesem Zusammenhang auf den Physiologen Ewald Hering (1834– 1918), der 1870 das Gedächtnis als „eine allgemeine Function der organisirten Materie“ gedeutet hatte.⁵⁰ Richard Semon (1859 – 1918), ein begeisterter Anhänger der Lehre Herings, hatte dessen „monistische[…]“⁵¹ These vom Gedächtnis als Körperfunktion in seinem Buch über Die Mneme als erhaltendes Princip im Wechsel des organischen Geschehens ⁵², das Warburg 1908 erworben hatte, weitergeführt. Semons Lehre besagt, dass „[j]edes Ereignis, das auf lebende Materie einwirkt“, eine Spur hinterlässt, von Semon ‚Engramm‘ genannt, und dass das „in diesen ‚Engrammen‘ bewahrte Energiepotential“ sowohl im Individuum als auch der Gattung „reaktiviert und entladen werden“ kann, weil sich der Organismus „an das vorangegangene Ereignis erinnert“.⁵³ Zusammen mit der Sozialpsychologie Karl Lamprechts (1856 – 1915), die „in dem sozialen Ganzen, ebenso wie im Geist des Individuums, ein Bündel von Reizen sah“, bildet diese Vorstellung einer in ‚Engrammen‘ bewahrten „Gedächtnisenergie“, die „nahezu physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt“, einen „Rahmen für Warburgs historische Psychologie“. Dabei entspricht dem Semonschen ‚Engramm‘ in der Geschichte der Kulturen das Symbol: „Im Symbol – im weitesten Wortsinn – werden jene Energien bewahrt, deren Ergebnis es selbst ist.“ Diese Energien stammen aus jenen „intensiven Urerlebnissen“, die bereits das „Leben des primitiven Menschen“ geprägt hatten, und in „diesen archaischen Schichten der Seele hoffte Warburg die Wurzeln jener zwei Grundaspekte der Kultur zu finden, die er ‚Ausdruck‘ und ‚Orientierung‘ nannte.“⁵⁴ So geht Warburg davon aus, dass die menschlichen Muskeln aufgrund dieser Spuren neben „ihrem rein körperlichen Dienst“ noch eine andere Aufgabe übernehmen: „Sie dienen dem mimischen Ausdruck.“ Insofern es nun aber „vielfach die gleichen Muskeln sind, die eine physische und eine Ausdrucksfunktion verrichten“, kehrt „im Gebrauch des eigenen Körpers das Phänomen der Metapher wieder“. Daher gilt für Warburg: „Aller Ausdruck durch Muskelbewegung ist metaphorisch und unterliegt der Polarität des Symbols.“ Es sind nämlich nicht nur etwa „die Muskeln, mit denen wir dem Gefühl des Widerwillens Ausdruck

 Wind 1931 (Anm. 6), 174.  Ewald Hering, Über das Gedächtniss als eine allgemeine Function der organisirten Materie, 2 Wien: Carl Geroldʼs Sohn 1876.  Gombrich 1984 (Anm. 36), 326.  Richard Semon, Die Mneme als erhaltendes Princip im Wechsel des organischen Geschehens, 2 Leipzig: Wilhelm Engelmann 1908.  Gombrich 1984 (Anm. 36), 326.  Gombrich 1984 (Anm. 36), 327.

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geben, indem wir das Gesicht verziehen, dieselben, die durch den Zustand des physischen Übelseins automatisch erregt werden“. Vielmehr gilt überdies einerseits, dass die „symbolische Bewegung der physischen“ umso näher kommt, „[j]e stärker, je konzentrierter die seelische Erregung ist, die sich im Ausdruck entlädt“, wie etwa aus der Tatsache erhellt, dass uns „im Zustand höchsten seelischen Ekels“ zugleich „physisch übel“ wird. Andererseits wird „die mimische Bewegung“ umso stärker retardiert, „[j]e schwächer, je milder die Erregung ist“. Und „der Grenzfall ist erreicht, wenn der momentane mimische Ausdruck sich in dem bleibenden physiognomischen Gesichtszug verflüchtigt“.⁵⁵ Was aber „zur symbolischen Handlung, zur ‚Ausdrucksgebärde‘ geworden ist“, das leitet sich nach Warburg eben immer „aus einer viel stärkeren Körperbewegung her. Ein Mensch, der zu solchen Bewegungen regrediert, ist dem Wahnsinn verfallen. […] Ohne die immer schwächer gewordenen Erinnerungen an diese Urreaktionen hätte der Mensch jedoch überhaupt keine Ausdruckmöglichkeit.“⁵⁶ Allerdings ist der Körper des Menschen für Warburg zwar das „nächstliegende“, aber nicht das „einzige Organ für den Ausdruck“: Der Mensch als „tool using animal“ bzw. „hantierendes Tier“, wie Thomas Carlyle (1795 – 1881) ihn charakterisiert hatte, „schafft sich Geräte, mit denen er die Funktionen seines Körpers erweitert und ergänzt“. Und ebenso wie die Muskelbewegungen werden auch die Geräte „über ihre Zweckbestimmung hinaus zu Trägern von Ausdruckswerten“. Und wieder sind diese Ausdruckswerte „der Polarität des Symbols unterworfen“. Dies lässt sich nicht nur mit Carlyle an den Kleidern darlegen, die ihre Träger ebenso schmücken wie „als verächtlich stempeln“ können, sie aber in jedem Fall ebenso „bezeichnen“ wie „verhüllen“. Auch die „soziale Gebärdensprache, die die mimische ergänzt und erweitert“, kann gegensätzliche Bedeutungen zum Ausdruck bringen. So können unterschiedliche Gesten Unterwerfung oder Triumph signalisieren. Zugleich kann aber auch ein und dieselbe Geste umgedeutet werden: „[J]e nachdem, ob sie beschleunigt oder retardiert oder im kritischen Punkt des Anhaltens gar in ihrer Richtung verändert wird“, kann sie sich „aus einer Gebärde der Annäherung in eine Gebärde der Loslösung verwandeln, aus einer Geste des Zugreifens und Sich-Aneignens in eine Geste des Loslassens und Freigebens, aus einem Akt des Verfolgens und sieghaften Überwältigens in einen Akt des Zauderns und großmütigen Vergebens.“⁵⁷ Zwar bestreitet Wind mit Warburg durchaus nicht, dass da eine neue Stufe erreicht ist, wo die Geräte vom Menschen nicht mehr genutzt werden, „um durch

 Wind 1931 (Anm. 6), 175.  Gombrich 1984 (Anm. 36), 327.  Wind 1931 (Anm. 6), 175.

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sie die mimischen Ausdrucksmittel seines eigenen Körpers zu erweitern, sondern um sie sich gegenüberzustellen und sie aus der Entfernung zu betrachten“. „Dies ist“, wie Wind erinnert, „die Stufe, an der für Schleiermacher das Künstlerische überhaupt erst beginnt; denn erst hier tritt das retardierende Moment im Ausdruck als bewußte Besinnung auf.“ Und als „formale[…] Grenzbestimmung“ behält diese Definition durchaus ihr Recht.⁵⁸ Die Differenz zwischen den Positionen Schleiermachers und Warburgs liegt Winds Auffassung nach also keineswegs im Verständnis der Kunst als einer im Zuge der ‚Besinnung‘ vollzogenen maximalen Distanzierung von ursprünglichen, ungezügelten Formen des Ausdrucks als solchem: Auch für Warburg finden in der größten Kunst – etwa bei „Lionardo, Raffael und Holbein“ – die „stärksten Gegensätze ihren höchsten Ausgleich“.⁵⁹ Aber man muß darauf hinweisen, daß zwischen dieser Stufe der höchsten Distanzierung, wo die durch den Reiz ausgelöste Bewegung im Akt der Kontemplation fast aufgehoben erscheint, und der Stufe der engsten Bindung, in welcher Erregung und Ausdruck in der ausgelösten Handlung fast völlig verfließen, zwei mittlere Stufen liegen: die der ausdrucksgesättigten Muskelbewegung, deren beide Pole die mimische Anspannung und die physiognomische Ruhelage sind, und die der ausdrucksgesättigten Hantierung, die zwischen den Polen des sozialen Aneignungstriebes und des sozialen Entfernungswillens schwingt.⁶⁰

Zudem bleibt der in der großen Kunst geleistete Ausgleich für Warburg immer fragil, denn „Kunstschaffen“ und „Kunstgenießen“ „nähren sich beide […] aus den dunkelsten Energien des menschlichen Lebens und bleiben ihnen selbst dort verhaftet und durch sie bedroht, wo ein harmonischer Ausgleich – vorübergehend – geglückt ist. Denn auch der harmonische Ausgleich ist Produkt einer Auseinandersetzung, in der der ganze Mensch mit seinem religiösen Verleibungsdrang und seinem intellektuellen Aufklärungsstreben, seinem Aneignungstrieb und Entfernungswillen beteiligt ist.“⁶¹ Das Kunstwerk steht daher für Warburg stets im Zeichen einer „Krisis, in der die im Kunstwerk verkörperten Erregungen umzuschlagen und das eigentlich Künstlerische zu zerstören drohen“.⁶²

    

Wind 1931 (Anm. 6), 176. Wind 1931 (Anm. 6), 179. Wind 1931 (Anm. 6), 176. Wind 1931 (Anm. 6), 172. Wind 1931 (Anm. 6), 173.

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3 Kunstbegriff und ‚Iconic Turn‘ Nach Winds Darstellung besteht also der entscheidende Unterschied zwischen Schleiermacher und Warburg darin, dass für Schleiermacher die künstlerische Relevanz der ursprünglichen ungezügelten Einheit von Gefühlsimpuls und Ausdrucksbewegung erst im Zuge ihrer neuen, durch ‚Besinnung‘ gestifteten harmonischen Einheit beginnt. Für Warburg beginnt die Reflexivität, die ihren vollständigsten sinnlichen Ausdruck in der Kunst hat, dagegen bereits in der expressiven Bewegung und der Herstellung nicht-künstlerischer Artefakte, die neben ihrer unmittelbaren Zweckdienlichkeit auch Ausdrucksfunktion übernehmen. Demnach geht Warburg von einer Kontinuität zwischen nicht-künstlerischem und künstlerischem Ausdruck aus, wobei letzterer durch eine Steigerung der Reflexivität gekennzeichnet ist, die bereits sich im nicht-künstlerischen Ausdruck artikuliert. Dagegen besteht für Schleiermacher zwischen beiden Seiten ein Bruch, der durch den Einsatz der Reflexivität im Zuge der ‚vorbildenden Besinnung‘ markiert ist. Dem Dualisten Schleiermacher wird dabei der Monist Warburg gegenübergestellt. Unter rhetorischem Aspekt kann man diese Kontrastierung wohl verstehen, und Schleiermachers Akademierede, die Winds Bezugspunkt bildet, legt sie auch durchaus nahe. Allerdings ist es mehr als fraglich, ob Wind damit Schleiermachers Position tatsächlich in ihrem ganzen Umfang gerecht wird. So geht auch Schleiermacher etwa in seiner Glaubenslehre davon aus, dass alle „frommen Erregungen […] dieses mit allen andern Modificationen des bewegten Selbstbewußtseins gemein [haben], daß sie sich, so wie sie einen gewissen Grad und eine gewisse Bestimmtheit erreicht haben, auch äußerlich kund geben, am unmittelbarsten und ursprünglichsten mimisch durch Gesichtszüge und Bewegungen sowol Töne und Gebehrden welche wir als den Ausdrukk derselben betrachten“.⁶³ Zwar tritt hier der „Gedanke“ noch nicht „wahrnehmbar“ zwischen die „Elemente jenes natürlichen Ausdrukks“ und die „heiligen Zeichen und symbolischen Handlungen“, wie dies in der Kunst der Fall ist.⁶⁴ Allerdings unterstellt Schleiermacher durchaus nicht, dass wir es in „Zeichenprozessen oder in Ritualen“ jenseits der Kunst „mit Ausdrucksformen zu tun haben, die vom Denken unberührt, gleichsam gedankenlos, gefunden werden, sondern nur, dass die

 Friedrich Schleiermacher, Sämmtliche Werke (SW) I/3, Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche, Bd. 1, Berlin: Georg Reimer 1835, 99, § 15,1 (KGA I/13,1, Der christliche Glaube. 2. Auflage (1830 – 1831), hg. v. Rolf Schäfer, Berlin / New York: De Gruyter 2003, 127).  Schleiermacher 1835 (Anm. 63), 99, § 15,1 (KGA I/13,1, 128).

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Mitwirkung des Gedankens nicht gleich bzw. nicht leicht erkennbar ist“.⁶⁵ Vielmehr ist auch für Schleiermacher bereits in jede noch so „mangelhafte und sparsame Ausbildung“⁶⁶ menschlichen Ausdrucks immer schon die „Form des Gedankens“⁶⁷ eingetragen. So denkt er sich etwa die äußerliche Darstellung „in bestimmter Rede“⁶⁸ als einen zumindest ‚gedankenförmigen‘ Prozess, „durch den das schwankende Brüten bloß innerlicher Seelenzustände allererst diejenige Bestimmtheit erhält, die eine Kommunikation, einen Umlauf des frommen Gefühls, ermöglicht“⁶⁹. Und es ist dieser durch die ‚Form des Gedankens‘ veranlasste „Übergang des Gefühls in die Kommunikation“⁷⁰, der dem Gefühl einen größeren Resonanzraum verschafft, als es „durch den unmittelbaren Ausdrukk möglich“⁷¹ wäre. Dabei sind alle „Formen, in denen sich das Gefühl ausdrückt und darstellt, […] sozio-kulturell vermittelt“.⁷² Daher ist schon für Schleiermacher hinsichtlich menschlicher Artikulation von Ausdruck „mit komplexeren Verhältnissen selbst dort zu rechnen, wo Gefühle direkte Auslöser von Ausdruck sind“.⁷³ Schleiermacher interpretiert den Zusammenhang von Gefühl und Ausdruck, Natur und Kultur, also weder naturalistisch noch rationalistisch, wie Wind es zur kontrastierenden Profilierung der Position Warburgs nahelegt. Vielmehr hat der Theologe Michael Moxter zur Charakteristik von Schleiermachers Position zu Recht auf Warburg verwiesen, der 1912 in seinem Vortrag auf dem 10. Internationalen Kunsthistorikerkongress in Rom das Desiderat einer „historische[n] Psychologie des menschlichen Ausdrucks“⁷⁴ geltend gemacht hat. So gilt bereits für Schleiermacher: „Auch wenn es ein natürliches Repertoire von Ausdrucksformen geben mag, so sind auch diese in einen Prozess kultureller Transformationen eingebettet, in denen bewegtes Seelenleben in Formen seinen Ausdruck findet.“⁷⁵ Der Ausdruckswille greift auf vorgeprägte Ausdrucksformen zurück, in die „das intensive Gefühl des subjektiv Erlebten eingeschrieben wird“.⁷⁶ Die

 Moxter 2015 (Anm. 16), 134.  Moxter 2015 (Anm. 16), 135.  Schleiermacher 1835, Der christliche Glaube (Anm. 63), 100, § 15,1 (KGA I/13,1, 128).  Schleiermacher 1835, Der christliche Glaube (Anm. 63), 100, § 15,1 (KGA I/13,1, 128).  Moxter 2015 (Anm. 16), 135.  Moxter 2015 (Anm. 16), 135.  Schleiermacher 1835, Der christliche Glaube (Anm. 63), 100, § 15,1 (KGA I/13,1, 128).  Moxter 2015 (Anm. 16), 135.  Moxter 2015 (Anm. 16), 136.  Aby Warburg, „Italienische Kunst und Internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara“ [1912], in: LʼItalia e lʼarte straniera. Atti del X Congresso Internazionale di Storia dell’Arte in Roma, hg. v. Adolfo Venturi, Rom: Maglione & Strini 1922, 179 – 193, Tafeln XXXVII–XLVII, hier: 191.  Moxter 2015 (Anm. 16), 135.  Moxter 2015 (Anm. 16), 136.

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vorgeprägten Ausdruckswerte werden – mit Warburg gesprochen – ‚einverseelt‘⁷⁷ und dabei zugleich abgewandelt. Zwar spricht Schleiermacher hinsichtlich der Kunst nicht nur von emotionaler ‚Erregung‘ und deren Ausdruck im ausgeführten Kunstwerk, sondern er rückt zwischen beide Pole die ‚Vorbildung‘, in der sich der ‚die Erregung beherrschende Geist‘ offenbart.⁷⁸ Er unterstellt dabei in der Tat, was Wind fokussiert, „dass die Darstellung die quasi-naturhafte Unmittelbarkeit von Gefühl und Ausdruck unterbricht“. Zugleich besteht aber eben auch für Schleiermacher eine Kontinuität zum vorkünstlerischen Ausdruck, insofern die Kunst den lebensweltlichen Zusammenhang von Gefühl und Ausdruck aufgreift und „durch Unterbrechung steigert“.⁷⁹ Bereits Schleiermacher versteht die künstlerische Tätigkeit daher, wie später Warburg, als eine Form des symbolisierenden Handelns⁸⁰ neben anderen. Die Gemeinsamkeiten gehen aber noch weiter: Wie Warburg sieht Schleiermacher, der die ‚innere Erregung‘ als Ursprung der Kunst erkennt, zudem vor Sigmund Freud die Zusammenhänge zwischen Kunstproduktion und Unbewusstem bzw. Traum.⁸¹ Wie Warburg sich intensiv mit kulturellen Zwischenstufen – insbesondere dem Festwesen als Zwischen von sozialem Leben und Kunst – beschäftigt hat, um die Polarität seelischen Ausdrucks besser studieren zu können, so sind auch bereits für Schleiermacher „festliche Zeiten“ nichts anderes als „der gemeinschaftliche Entladungsact für die aufgesparte Darstellung“, die im Kunstwerk stattfindet.⁸² Und wie Warburg seine Vorliebe für ‚schlechte Bilder‘

 Vgl. Warburg 2000 (Anm. 30), 3.  Siehe Anm. 17.  Moxter 2015 (Anm. 16), 136.  Siehe etwa Wilhelm Dilthey: „Hier liegt nun die eigentliche Originalität Schleiermachers in der Ästhetik. Er ist der erste Vertreter derjenigen Theorie, die das Symbolbildende in den Äußerungen der Phantasie für die Ästhetik zur Geltung gebracht hat. Daher geht er von der Mimik und der Musik aus. In diesen wird der unmittelbare Zusammenhang des aufgeregten Inneren durch Ton und Gebärde, durch vorbildliche Besinnung zu dem Verhältnis erhoben, nach dem ein Inneres in einem gemessenen und geordneten Ganzen musikalischer oder mimischer Art den Ausdruck findet.“ (Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, Bd. 2: Schleiermachers System als Philosophie und Theologie, hg. v. Martin Redeker, 1. Halbbd.: Schleiermachers System als Philosophie, Berlin: De Gruyter 1966, 444.)  Vgl. Schmücker 1998 (Anm. 15), 256.  „Wird aber der Prozeß durch die vorbildende Besinnung aufgehalten: so kann noch während dieser Hemmung ein zweiter erregter Zustand entstehen, der vielleicht für sich gar nichts bewirkt hätte, der aber nun doch etwas zur Darstellung hinzubringt und sie über jenes Maaß hinaus erweitert. Auf dem Gebiet der Kunst also kann es Darstellungen geben, die sich auf eine Reihe von Erregungsmomenten beziehen. Und dieses wirkt auf die ganze Eintheilung des Lebens, denn je mehr Kunstsinn in einem Volk um desto mehr bilden sich in demselben festliche Zeiten. Was den

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öffentlich gemacht hat, weil sich dort die psychologischen Zwänge und Notwendigkeiten, die einen ästhetischen Gestaltfindungsprozess auslösen, um die Urkräfte in einem Akt zu offenbaren und zu bändigen, markanter ausdrücken als in den seelisch austarierten Meisterwerken⁸³, geht auch Schleiermacher ausführlicher als auf bedeutende Kunst auf schwache Kunst ein: Das in der großen Kunst hergestellte Gleichgewicht von ursprünglicher Erregung und Besinnung wird überhaupt erst als solches erkennbar vor dem Hintergrund der Masse an epigonaler, uninspirierter und dilettantischer Kunst.⁸⁴ Die Produktivität der Annahme einer solchen Kontinuität zwischen außerkünstlerischer und künstlerischer Expressivität gerade auch für das Verständnis der Kunst steht außer jedem Zweifel. Insbesondere Warburgs eigene Studien, aber auch die breiten Forschungen, die namentlich seit den 1970er Jahren unter dem Eindruck von Warburgs Vorstoß entstanden sind, haben dies immer wieder beeindruckend Weise unter Beweis gestellt. Allerdings hat die programmatische Öffnung des Phänomenbereichs der Kunstforschung, wie sie auf dieser Linie heute im Zeichen des ‚Iconic‘ oder ‚Visual Turn‘ propagiert wird, ein Problem verdeutlicht, das der Annahme einer solchen Kontinuität immanent ist: Es fehlt nämlich ein Kriterium, den Bereich der Kunst kategorial von dem des NichtKünstlerischen zu unterscheiden. Man kann diese Nivellierung, wie es insbesondere bei den neueren Bestrebungen der Fall ist, das akademische Fach Kunstgeschichte in einer allgemeinen ‚Bildwissenschaft‘ oder auch ‚Cultural Studies‘ aufgehen zu lassen, durchaus strategisch betreiben und darauf verweisen, dass eine solche übergreifende Perspektive nicht nur der aktuellen Erfahrung, einer ‚Bilderflut‘ ausgesetzt zu sein, Menschen unter den Geschäften des Lebens innerlich bewegt, das bleibt innerlich verwahrt, die vorbildende Thätigkeit regt sich, aber tritt wieder zurükk um sich nicht ins kleine zu zersplittern, und die festliche Zeit ist nichts anders als der gemeinschaftliche Entladungsact für die aufgesparte Darstellung. Aber eben so läßt sich nun auch denken, daß es Erregungsmomente giebt, die so tief das ganze Wesen ergreifen, daß sie eine gleichsam unendliche Aufgabe für die urbildliche Besinnung werden. Ein einzelner Act auch nach dem größten Maaß genügt ihr nicht, die Erregung ist noch nicht gestillt und fährt fort nach außen zu drängen, und Ein Moment, der mit einem Uebermaaß von erregender Kraft das ganze Wesen durchzieht, erhält auch die vorbildende Besinnung immer rege und wird das Thema eines ganzen Lebens.“ (Schleiermacher 1835, „Ueber den Umfang des Begriffs der Kunst“ [Anm. 8], 193 – 194 [KGA I/11, 738])  „Und wenn Warburg dem einzelnen Kunstwerk gegenübertrat, so ereignete sich ein Vorgang, der dem formal-ästhetisch geschulten Menschen wie eine Paradoxie erscheinen mußte, und der auch Warburgs Methode, Bildtafeln zusammenzustellen, das eigentümliche Gepräge gegeben hat: das künstlerisch schlechte Bild fesselte ihn ebenso sehr wie das gute, ja, aus einem Grunde, den er selbst ausdrücklich angab, oft noch mehr: – Es ließ sich mehr daraus lernen.“ (Wind 1931 [Anm. 6], 178)  Vgl. Schmücker 1998 (Anm. 15), 259 – 260.

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sondern auch der fortschreitenden ‚Entgrenzung‘ ehemals getrennter kultureller Bereiche in der Gegenwart Rechnung trägt: Wo an die Stelle der Kunst als mehr oder weniger klar umgrenztem Bereich innerhalb der Kultur eine allgemeine Ästhetisierung der Existenz gesetzt wird, wo kein äußerliches Kriterium mehr angeführt zu werden vermag, das einen Gegenstand sicher als Kunst auszuzeichnen vermöchte, da wird die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst fragwürdig. Die zentrale Referenz dieses wissenschaftlichen Perspektivwechsels ist dabei Warburg. So hatte bereits Warburg die semantischen Verschiebungen, denen die antiken Pathosformeln unter kulturhistorisch veränderten Bedingungen ausgesetzt sind, programmatisch auch jenseits der Grenzen der ‚Hochkunst‘ aufgezeigt: Wie eine Körper zerfleischende antike Mänadenfigur im Rahmen der christlichen Kunst zur Heilerin invertiert werden kann, ebenso können antike Bildformeln etwa auch in der modernen Fotografie, der Werbung oder Briefmarken in modifizierter Bedeutung wiederkehren. Zwar wollte bereits Warburg sich selbst explizit nicht als ‚Kunst‘-‚ sondern als ‚Bildwissenschaftler‘ verstanden wissen: Sein Forschungsobjekt ist keine nach Stilen gegliederte europäische Kunstgeschichte, sondern der alle Epochen und Kulturen übergreifende Strom der Bilder. Vermutlich ist allerdings weder Warburg selbst noch Wind – weit im Vorfeld der aktuellen, durch die Neuen Medien entfesselten ‚Bilderflut‘ – die Tragweite einer solchen Neubestimmung bewusst gewesen. Ihr Interesse galt vielmehr vordringlich dem Ziel, die Kunst aus der traditionalistischen Fixierung auf die ‚Schönheit‘ bzw. das ‚Ästhetische‘ zu lösen und bisher übersehene Verbindungen aufzuzeigen. Inzwischen wird aber im Gegenzug zu den aktuellen, die Kunst programmatisch übergreifenden, Tendenzen geltend gemacht, die Kunst bilde, allen Entgrenzungen zum Trotz, nach wie vor einen kulturellen Faktor sui generis. Der gegenwärtig dominierende Impuls, die Kunst in allgemeineren Leitbegriffen wie dem ‚Bild‘ oder der ‚Kultur‘ aufzuheben, kann nun seinerseits als Reduktion der differenzierteren kulturellen Tatsachen kritisiert werden.⁸⁵ So bleibt festzuhalten,  Im Rahmen des Berliner Sonderforschungsbereichs Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste (SFB 626) hat dies vor allem die Philosophin Juliane Rebentisch unter erfahrungstheoretischem Gesichtspunkt geltend gemacht. Vgl. z. B. Juliane Rebentisch: „Autonomie? Autonomie! Ästhetische Erfahrung heute“, in: Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit, hg. v. Sonderforschungsbereich 626, Berlin 2006, URL: https://www.gesch kult.fu-berlin.de/e/sfb626/veroeffentlichungen/online/aesth_erfahrung/aufsaetze/rebentisch. pdf (zuletzt aufgerufen am 08.08. 2021). – Unter den Vertretern der Kunstgeschichtsforschung als Einzelwissenschaft von der Kunst vgl. besonders Wolfgang Kemp: „Reif für die Matrix. Kunstgeschichte als Bildwissenschaft“, in: Neue Rundschau. 114/3 (2003), 39 – 49; Willibald Sauerländer: „Der Kunsthistoriker angesichts des entlaufenen Kunstbegriffs“ [1985], in: ders.: Geschichte der Kunst – Gegenwart der Kritik, hg. v. Werner Busch, Wolfgang Kemp, Monika Steinhauser und

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dass nach wie vor nicht etwa nur der Begriff der Kunst im Sinne einer (wie auch immer konkret verstandenen) Bildenden Kunst institutionell und sprachlich präsent ist. Überdies ist auch der Begriff der Kunst im Sinne eines die verschiedenen Gattungen übergreifenden sachlichen Zusammenhangs nach wie vor in vielen natürlichen Sprachen zu finden, und deshalb liegt die Annahme nahe, dass er „nicht semantisch leer ist, sondern eine bestimmte Bedeutung besitzt“.⁸⁶ In dieser Situation verspricht nun gerade Schleiermachers ambivalente Position, einerseits die Kontinuitäten zwischen nicht-künstlerischem und künstlerischem Ausdruck, deren kulturgeschichtliche Relevanz Warburg eindrücklich herausgestellt hat, aufzuzeigen, andererseits aber zwischen beiden Polen einen kategorialen Unterschied anzunehmen, sachlich weiterzuführen. Allerdings ist eine solche Ambivalenz nicht nur in philosophischer Hinsicht unbefriedigend, sondern Schleiermacher hebt den Erkenntnisgewinn dieser doppelten Bestimmung für den Kunstbegriff zumindest teilweise selbst wieder auf – und zwar in dreierlei Hinsicht. Zum einen ist Schleiermachers Kunstbegriff, wenn man auf sein gesamtes Œuvre blickt, kaum geeignet, den Bezugspunkt für die fragliche Differenzierung zu bilden. Während er sich nämlich in seinen ästhetischen Akademievorträgen in der Tat dezidiert der Aufgabe widmet, den Umfang des Begriffs der Kunst in jenem „engen Sinne des Worts verzeichnen“, der den Gegenstand der philosophischen Kunsttheorie begrenzt⁸⁷, vertritt er namentlich in seiner Ethik einen offenen Kunstbegriff, der in seiner Breite selbst Warburgs Ausgriff auf die weite Welt der Bilder in den Schatten stellt. Schleiermacher vertritt hier nämlich im Zuge seiner Martin Warnke, Köln: DuMont 1999, 293 – 323; ders.: „Dies Bildnis ist bezaubernd fremd. Man sieht immer noch, daß es Menschen sind: Zweifelnd verwandelt Hans Belting die Gegenstände der Kunstgeschichte in ethnographische Objekte“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 162 (16. 07. 2001), 47; ders.: „Iconic turn? Eine Bitte um Ikonoklasmus“, in: Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, hg. v. Christa Maar und Hubert Burda, Köln: DuMont 32005 (12004), 407– 26; ders.: „Kunstgeschichte und Bildwissenschaft“, in: Ästhetik in metaphysikkritischen Zeiten. 100 Jahre „Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft“, hg. v. Josef Früchtl und Maria MoogGrünewald, Hamburg: Meiner 2007 (Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft 8), 93 – 108.  Reinold Schmücker, „Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Zur Aktualität eines historischen Projekts“, in: Kunstgrenzen. Funktionsräume der Ästhetik in Moderne und Postmoderne, hg. v. Alice Bolterauer und Elfriede Wiltschnigg, Wien: Passagen 2001 (Studien zur Moderne 16), 53 – 67, hier: 62.  Friedrich Schleiermacher, „Ueber den Umfang des Begriffs der Kunst in Bezug auf die Theorie derselben“ [vorgetragen am 2. August 1832], in: Sämmtliche Werke (SW) III/3, Reden und Abhandlungen, der Königl. Akademie der Wissenschaften vorgetragen, hg. v. Ludwig Jonas, Berlin: Georg Reimer 1835, 199 – 218, hier: 202 (KGA I/11 [Anm. 8], 773). – Siehe auch Schmücker 1998 (Anm. 15), 241.

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Ableitung des Ästhetischen aus dem Ethischen das romantische Ideal der Einheit von Kunst und Leben: Dasselbe Vermögen der „synthetische[n] Kombination“ und „Originalität der Erfindung“, das der im engeren Sinne des Wortes verstandene Künstler im Kunstwerk realisiert, kann jeder Mensch in der Gestaltung seines Lebens zur Geltung bringen, das als ethisch gelungenes Leben auch ästhetisch schön ist. „In diesem Zusammenhang wird“, wie bereits Dilthey notiert hat, für Schleiermacher „jedes sittlich und folgerecht geführte Leben selbst zum Kunstwerk“.⁸⁸ Daher gilt für Schleiermacher: „Alle Menschen sind Künstler“.⁸⁹ Und als Schöpfung Gottes verstanden ist die ganze Welt, so Schleiermacher, ein Kunstwerk. Für die kategoriale Abgrenzung der Kunst im engeren Sinne bzw. der Bestimmung ihres Verhältnisses zum Nicht-Künstlerischen ist mit solchen Aussagen nicht viel zu gewinnen. Zum anderen ergeben sich bei Schleiermachers Bestimmung der ‚Besinnung‘ Probleme für die Ontologie der Kunst. So geht Schleiermacher in seiner ersten ästhetischen Akademieabhandlung zwar ausdrücklich davon aus, dass „jede Kunst ihr Werk […] aufzuweisen haben“ muss. Für den Begriff der Kunst ist es demnach nicht ausreichend, bei der ‚Besinnung‘ stehenzubleiben, sondern diese muss in die Gestaltung eines sinnlich erfahrbaren Werks einmünden. Auf dieser Linie liegt etwa auch seine in der Ethik vertretene These, das Sprechen hänge dem Denken so wesentlich an, „daß kein Gedanke fertig ist, ehe er Wort geworden ist“.⁹⁰ Zugleich finden sich bei Schleiermacher allerdings immer wieder Äußerungen, die offen lassen, „ob für ihn erst durch die materielle Realisation des mental vorgebildeten Artefakts ein Kunstwerk entsteht oder ob er sich die Auffassung zu eigen macht, daß Kunstwerke geistige Entitäten sind, die bereits durch die Urbildung hervorgebracht werden und unabhängig davon existieren, ob es einen Wahrnehmungsgegenstand gibt, in dem sie sich äußerlich manifestieren“.⁹¹ So erklärt Schleiermacher etwa in seinen Ästhetikvorlesungen ausdrücklich, „das innere Bild“ sei bereits „das eigentliche Kunstwerk“⁹², daher könnten wir „das Wesen der Kunst fassen […], wenn wir auch auf die äußere Darstellung keine Rükksicht nehmen“⁹³. Diese Fixierung auf das ‚innere Bild‘ erklärt sich daraus, dass Schleiermacher der Kunst in seiner Ästhetik ihre Systemstelle nicht exklusiv

 Dilthey 1966 (Anm. 80), 443.  Dilthey 1966 (Anm. 80), 430, Anm. 43.  Schleiermacher 1835, Entwurf eines Systems der Sittenlehre (Anm. 10), 133, § 170.  Schmücker 1998 (Anm. 15), 263 – 264.  Friedrich Schleiermacher, Sämmtliche Werke (SW) III/7, Vorlesungen über die Aesthetik, hg. v. Carl Lommatzsch, Berlin: Georg Reimer 1842, 58 (KGA II/14, Vorlesungen über die Ästhetik, hg. v. Holden Kelm, Berlin / Boston: De Gruyter 2021, 569).  Schleiermacher 1842 (Anm. 92), 112 (KGA II/14, 795).

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zuerkennt, sondern die Kunst diese mit der Religion teilt. Zu Recht hat Reinold Schmücker hierzu allerdings angemerkt, dass sich aus einer solchen mentalistischen Position⁹⁴ keine „plausible[…] Kunstontologie“⁹⁵ entwickeln lässt: Selbst angesichts einer fortgeschrittenen intellektualistischen Kunstposition wie etwa der der Concept Art erweist sie sich als unhaltbar. Und schließlich changiert Schleiermachers Bestimmung der ‚Besinnung‘ als Grund der Kunst in Bezug auf die Darstellung von Gefühlen: Einerseits bildet sie den fruchtbaren kommunikationstheoretischen Hinweis auf „Maaß und Regel“⁹⁶ als die notwendigen Bedingungen jener kulturhistorisch situierten Mitteilungsform, als die er die Kunst versteht: Kunstwerke sind Äußerungen, die von der bloßen „Reaction des getroffenen und erschütterten Gemüths nach außen“⁹⁷ insofern verschieden sein müssen, als es ihnen darum geht, dessen „Affectionen in die andern Personen fortzupflanzen und […] ihre Affectionen mit darzustellen“⁹⁸.⁹⁹ Andererseits ist Schleiermachers von Warburg geteilte Bestimmung der Kunst als ‚Besinnung‘ wiederholt als anachronistische Verpflichtung der Kunst auf Gefühlskontrolle und Mäßigung im Sinne eines klassizistischen Kunstideals kritisiert worden.¹⁰⁰ Mit einem solchen Ideal der Leidenschaftslosigkeit mitten im Pathos ist aber nicht nur die Kunst der Gegenwart über weite Strecken nicht zu fassen. Und es ist überdies fraglich, ob Schleiermachers Festlegung der Kunst auf die Mitteilung von Gefühlserlebnissen, so erhellend sie sein mag, das, „was sich in der Gestaltetheit eines Kunstwerks zu manifestieren vermag, umfassend und präzise genug beschreibt“.¹⁰¹ Es geht also um die Frage, wie der wichtige Hinweis auf die Kontinuität, die die Reflexivität der Kunst mit menschlicher Reflexivität überhaupt verbindet, mit der für die Bestimmung der Kunst als spezifischem Bereich der Kultur unerlässlichen Annahme ihrer kategorialen Differenz vermittelt werden kann. Hierzu ist eine modifizierte Bestimmung jener ‚Besinnung‘ erforderlich, die nach Schleiermachers Ausführungen in den Akademievorlesungen die Wende zur Kunst mar-

 Vgl. Schmücker 1998 (Anm. 15), 264.  Schmücker 1998 (Anm. 15), 263.  Schleiermacher 1835, „Ueber den Umfang des Begriffs der Kunst“ (Anm. 8), 192 (KGA I/11, 736).  Schleiermacher 1835, „Ueber den Umfang des Begriffs der Kunst“ [vorgetragen am 2. August 1832] (Anm. 87), 200 (KGA I/11, 771).  Schleiermacher 1835, Entwurf eines Systems der Sittenlehre (Anm. 10), 322, § 289.  Vgl. Schmücker 1998 (Anm. 15), 258.  Vgl. etwa Huizing 2007 (Anm. 36), 185; Moxter 2015 (Anm. 16), 134– 41.  Schmücker 2001 (Anm. 86), 57. – Schmücker schlägt in diesem sachlichen Zusammenhang vor, von „der sparsameren Annahme“ auszugehen, „Kunstwerke seien Objekte, die uns durch die Gestaltung, die sich in ihnen manifestiert, etwas darzubieten beabsichtigen, das zu erfassen jedes angemessene Rezeptionsverhalten intendiert.“ (Ebd.)

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kiert. Dieser Bestimmung muss es gelingen, die ‚Besinnung‘ in der Kunst sowohl als Fortsetzung jener Reflexivität zu deuten, die für menschliches Bewusstsein und Handeln generell charakteristisch ist, als auch als eine andere, spezifische Art des Bewusstseins, die dieser Reflexivität eine neue Wendung gibt: Das Bewusstsein richtet sich in der Kunst nicht mehr auf etwas anderes, sondern auf sich selbst als historisch und kulturell situierte Position, und zwar nicht abstrakttheoretisch, sondern im Medium der Sinnlichkeit. Dies ist es, was Hegel im Blick hat, wenn er die Kunst als die erste Form des Absoluten Geistes bestimmt. Die Kunst ist demnach derjenige Bereich, wo die beiden Pole der Kultur, wie Wind sie mit Warburg und Schleiermacher identifiziert hatte, also Rationales und Irrationales, nicht nur in einem prekären Gleichgewicht gehalten werden, sondern wo diese Spannung auch als solche zu Bewusstsein kommt. Das heißt, die Reflexivität, die bei anderen Kulturgegenständen erst durch den kulturwissenschaftlichen Zugang als solche thematisch wird, ist in der Kunst immer schon als Imperativ an die Rezeption enthalten. Kunst ist nicht nur eine Form der ‚Besinnung‘, also der Reflexion, sondern zugleich eine Weise, sich über diese Reflexionsform anschauend zu verständigen.

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Das Urbild als Vermittlung 1 Urbild und Produktivität in Schleiermachers Ästhetik 1.1 Einheit und Mannigfaltigkeit der Kunst

Durch die Konfrontation mit der modernen und postmodernen Kunst wird die Einheit des Kunstbegriffs und vielmehr noch die Möglichkeit von dessen Bestimmung im Laufe des 20. Jahrhunderts von einigen Philosophen zurückgewiesen. Zugleich wird von denselben Denkern nicht infrage gestellt, dass das Wort „Kunst“ weiterhin verwandt wird.¹ Allerdings bestehen seit jeher unterschiedliche Kunstgattungen, ebenso ist der historische Wandel der Kunst kein rein modernes Phänomen und wurde auch nicht erst im Laufe der Moderne bemerkt. Diese „Mannigfaltigkeit“² der Kunst stand etwa auch Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor Augen. Dennoch abstrahierte dieser davon zunächst, um Kunst überhaupt einheitlich erfassen zu können:³ Wesentlich ist für Schleiermacher vor aller Ausdifferenzierung in verschiedene künstlerische Ausgestaltung der innere Prozess im Vorstellen des Künstlers, den er als „Urbil-

 Diese Position ist von William E. Kennick auf die Spitze getrieben worden: „[W]e are able to separate those objects which are works of art from those which are not because we know English; that is, we know how correctly to use the word ‘art’ and how to apply the phrase ‘work of art’. […] The ‘correctly’ and the ‘properly’ has nothing to do with some ‘common nature’ or ‘common denominator’ of all works of art; they have merely to do with rules which govern the actual and commonly accepted usage of the word ‘arts’.“ William E. Kennick, „Does Traditional Aesthetics Rest On A Mistake?“, Mind 67, No. 267 (7/1958), 317– 334, hier: 321. Kennick gehört neben Paul Ziff und Morris Weitz zu den bekannten Vertretern einer skeptischen Strömung in der sprachanalytischen Kunstphilosophie, die in den 1950er Jahren aufkam.  Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/14, Vorlesungen über die Ästhetik, hg.v. Holden Kelm, Berlin / Boston: De Gruyter 2021, 43: „Wir können in der Grenzbestimmung nur auf die bisherige vorläufige Art verfahren, auffassend was sich uns bis jezt vorläufig ergeben hat und den Gegensaz von Einheit und Mannigfaltigkeit in der Kunst zum Hauptpunkt unserer Construction machend.“  Vgl. dazu auch Thomas Lehnerer, „Selbstmanifestation ist Kunst. Überlegungen zu den systematischen Grundlagen der Kunstphilosophie Schleiermachers“, in: Schleiermacherkongreß 1984 in Berlin, Teilband 1, hg.v. Kurt-Victor Selge, Berlin / New York: De Gruyter 1985, 408 – 422, hier: 410. https://doi.org/10.1515/9783111025483-009

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dung“⁴ bezeichnet. Gleichwohl trägt Schleiermacher den „einzelnen Künste[n]“⁵ Rechnung und setzt sie ausführlich auseinander. Im Folgenden ist der Prozess der Urbildung, wie Schleiermacher ihn zunächst begrifflich fasst, zu untersuchen, weil er einerseits in Abstraktion von der Mannigfaltigkeit der Kunst entwickelt wird und anderseits mit ihr in Verbindung stehen muss. Dadurch soll gezeigt werden, dass gerade aus dem Ringen zwischen „Einheit“⁶ und Mannigfaltigkeit in der Kunst Erkenntnisse gewonnen werden. Dies unterbleibt indessen, wenn einseitig Vielheit konstatiert und zugleich ohne philosophische Reflexion der Kunstbegriff auf die Vielheit angewandt wird.⁷

1.2 Produktion, Werk und Rezeption In Anbetracht des Primats der Urbildung wäre Schleiermacher der modernen Unterteilung in Produktions-, Werks- und Rezeptionsästhetik zufolge offenkundig der ersteren zuzuordnen – wenngleich auf eine noch zu erläuternde eigentümliche Weise.⁸ Im Folgenden ist die innere Produktivität des Künstlers dem Ansatz Schleiermachers nach hauptsächlich deshalb nachzuvollziehen, weil im konsequenten Nachvollzug Spannungen auftreten, wodurch die Anstrengung, Einheit und Mannigfaltigkeit zu verbinden, zum Vorschein kommt. Das Überschreiten seiner abgesteckten begrifflichen Grenzen unternimmt Schleiermacher selbst, woraus nicht Inkonsequenzen seines Denkens – innerhalb seines systematischen Ansatzes sucht er diese einzufangen –, sondern Erkenntnisse über seinen Ge-

 KGA II/14 (Anm. 2), 48.  KGA II/14 (Anm. 2), 91.  KGA II/14 (Anm. 2), 43.  Vgl. Anm. 1.  Vgl. unten „3. Erregung, Urbild, Ausführung“ sowie die dortige Anm. 25.Vgl. auch Lehnerer 1985 (Anm. 3), 411; sowie in dem von Jörg Dierken und Arnulf von Scheliha herausgegebenen Band: Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, Berlin / Boston: De Gruyter: 2017 folgende Aufsätze: Jörg Dierken, „Der Mensch und seine Seele – Eröffnung des Kongresses und Einführung in das Thema“, 1– 7, hier: 6; Björn Pecina, „Vom Gourmet zum Kunsthandeln. Aufgeklärte Empfindungen vor Schleiermachers Ästhetik“, 469 – 484, hier: 482– 484; Peter Grove, „Der Grundton all unserer Gefühle. Schleiermachers Begriff der Stimmung“, 533 – 552, hier: 546; Holden Kelm, „Kunsttrieb und Besinnung. Das ambivalente Verhältnis von Kunst und Natur in Schleiermachers Ästhetik“, 553 – 563, hier: 555 – 556.

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genstand, die künstlerische Tätigkeit, abzuleiten sind. Dazu gehört auch, dass eine Trennung in drei Ästhetiken nicht haltbar ist.⁹ Dass Bestimmungen des Werks und der Rezeption bei Schleiermacher von der Produktion ausgehend erfolgen müssten, hat bereits 1985 Thomas Lehnerer in seinem Aufsatz „Selbstmanifestation ist Kunst“ angemerkt, aber nicht verfolgt.¹⁰ Dem weiter nachzugehen, führt aber zu Resultaten – wie aufgezeigt werden soll –, die die auf das Produzieren reduzierte Betrachtung nicht hervorbringt.¹¹ Diese Resultate zielen darauf, Lehnerers These¹² – plausibilisieren zu können, dass „Selbstmanifestation […] Kunst“ ist – umzukehren und zu erweitern: Kunst ist auch Selbstmanifestation. In der Untersuchung, wie sich Produktion, Werk und Rezeption bei Schleiermacher zueinander verhalten, wird daher auch die Frage danach leitend sein, in welchem Verhältnis dabei Individualität und Allgemeinheit stehen. Individualität und Allgemeinheit fasst Schleiermacher in seinem systematischen Aufriss als „Eigenthümlichkeit“ und „Identität“. Dieser Aufriss wird zuerst erläutert (vgl. 2.), weil er für die Beurteilung der Kunst als Selbstmanifestation des Individuums entscheidend wird (vgl. 4.); zudem liegt diese Systematik auch dem Urbild zugrunde, dessen Erläuterung auf diejenige des Aufrisses folgt (vgl. 3.). Anhand all dessen soll die vermittelnde Funktion des Urbilds aufgezeigt werden, die abschließend herausgestellt wird (vgl. 5.).

 Dass „in gegenwärtiger Wahrnehmung eher der Akzent auf dem Äußeren der Darstellung“ liegt, erachtet Jörg Dierken als „Bewährungsprobe“ für „Schleiermachers Produktionsästhetik“. „Doch schon der Begriff des Äußeren zeigt, dass es nicht allein stehen kann. Das Innere bleibt im Spiel, zumindest virtuell.“ Darauf weist Dierken zu Recht hin, Dierken 2017 (Anm. 8), 6 – 7. Beide Seiten gegeneinander auszuspielen, endet in schlechten Vereinseitigungen. Wenn im Folgenden die Bedeutung des Bezugs auf die Äußerung für den inneren Prozess und letztlich die Äußerung selbst hervorgehoben werden, soll damit zugleich gezeigt werden, dass das Innere vom Äußeren ebenso wenig abgeschnitten werden darf.  Vgl. Lehnerer 1985 (Anm. 3), 411. Auch Björn Pecina versucht, mit und in seiner Auseinandersetzung mit Schleiermachers Ästhetik die „Produktion“ starkzumachen. Er geht auf die für Schleiermacher eher geringe Bedeutung der „Ausführung“ oder „Darstellung“ ein, problematisiert deren Ausgrenzung vom künstlerischen Prozess aber nicht, Pecina 2017 (Anm. 8), 482– 484.  Darüber hinaus geht z. B. Kelm 2017 (Anm. 8), 557.  „Erst aber Schleiermachers Behauptung, daß diese einheitliche Tätigkeit nichts als die Selbstmanifestation des Individuums zum Inhalt hat, gibt seiner Kunsttheorie Kontur.“ Lehnerer 1985 (Anm. 3), 422.

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2 Identität und Eigentümlichkeit I Schleiermacher entwickelt seinen systematischen Aufriss anhand des menschlichen Tuns im Allgemeinen. Dieses bestimmt er in zweierlei Hinsicht. Es ist zunächst auf die von ihm „[z]weitens“¹³ vorgenommene Bestimmung einzugehen, denn es ist diejenige, die für die ‚Selbstmanifestation‘ von Bedeutung ist. Laut Schleiermacher wirkt sich auf das Tun und auf das „Verhältnis der Menschen untereinander“ notwendig aus, dass jeder einzelne Mensch „[z]usammengesezt [ist:] aus Identität der Natur in allen und Eigenthümlichkeit der Person in jedem“.¹⁴ Diese zwei Seiten rufen für Schleiermacher aber keine Trennung hervor, denn es verhält sich nicht so, dass „das eigenthümliche etwas zur identischen Natur hinzukommendes [ist], noch umgekehrt, sondern es ist die Natur selbst welche sich in jedem eigenthümlich gestaltet, und das Eigenthümliche selbst in welchem sich das identische manifestirt“.¹⁵ Obschon Schleiermacher es nicht derart expliziert, ist etwa aus der Nachschrift Schweizer seiner Vorlesungen zu entnehmen, dass das den Menschen bestimmende „identische“ nicht nur Natur, sondern auch Kultur darstellt.¹⁶ Die „Eigenthümlichkeit der Person in jedem“ wäre somit nicht bloß mit der menschlichen Natur im Allgemeinen, sondern auch mit allgemeinen gesellschaftlichen Bestimmungen als verbunden anzusehen. Zu letzteren gehören auch ästhetische Formen, die in den Werken einerseits tradiert, andererseits auf eigentümliche Weise vom Künstler ins Werk gesetzt und dadurch auch verändert werden. Dies wird mit Bezug auf die Nachschrift Schweizer des Kollegs von 1832/33 noch diskutiert.¹⁷ Wie sich auch noch herausstellen wird, wirkt sich die von Schleiermacher als erstes aufgestellte „Construction der menschlichen Functionen“¹⁸, d. h. des menschlichen Tuns im Allgemeinen, ebenfalls auf seine Bestimmung der Kunst aus.¹⁹ Diese erste „Construction“ mündet in der Unterscheidung zwischen Erkennen und Handeln. Beiden liegt Schleiermacher zufolge der „Gegensaz zwischen Sein und Bewußtsein, Idealität und Realität“²⁰ zugrunde, der jeweils in unterschiedlichen Bewegungsrichtungen aufgelöst wird. Als „Erkennende Func       

KGA II/14 (Anm. 2), 45. KGA II/14 (Anm. 2), 45. KGA II/14 (Anm. 2), 45. Vgl. „4. Identität und Eigentümlichkeit II“. Vgl. „4. Identität und Eigentümlichkeit II“. KGA II/14 (Anm. 2), 45. Vgl. dazu mit Rückgriff auf Schleiermachers Ethik Lehnerer 1985 (Anm. 3), 411– 412. KGA II/14 (Anm. 2), 45.

Das Urbild als Vermittlung

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tion“ erachtet Schleiermacher die Aufnahme des „Reale[n]“, des Seienden, in die Idealität; im Handeln bzw. in der „Organisirende[n] Function“ werde hingegen „Ideales in die Realität“ gebracht.²¹ Wie „Identität der Natur“ und „Eigenthümlichkeit der Person“ sind auch diese beiden Tätigkeiten für Schleiermacher nicht voneinander zu trennen. Darauf, inwiefern sich „erkennen und organisiren“²² in der künstlerischen Tätigkeit geltend machen und wie sie sich zur Urbildung verhalten, ist zurückkommen.²³ Zunächst ist diese selbst bzw. das Urbild zu erläutern.

3 Erregung, Urbild, Ausführung 3.1 Urbild und Erregung Das Urbild – oder die Urbildung – ist Moment eines dreiteiligen abstrakten Schemas, das Schleiermacher zur Bestimmung der Kunst aufstellt und dem des Weiteren „Erregung“ und „Ausführung“ angehören.²⁴ Jedoch, obgleich Schleiermacher Kunst überhaupt durch Abstraktion der verschiedenen Künste bestimmt, konstruiert er deren Begriff nicht abstrakt allgemein. Vielmehr müssen sich das Allgemeine und Spekulative der Kunst – die drei genannten Momente – am Einzelnen auffinden lassen. Dies wird deutlich an seinem Vorgehen, Kunst anhand einer Tätigkeit zu bestimmen, die sowohl kunstlos als auch künstlerisch sein kann.²⁵ Seinen Ausgangspunkt bilden „Musik und Mimik“²⁶ – wobei zur Mimik

 KGA II/14 (Anm. 2), 45.  KGA II/14 (Anm. 2), 45.  Vgl. „3. Erregung, Urbild, Ausführung“ sowie Schleiermacher 2021 (Anm. 2), 58.  Vgl. KGA II/14 (Anm. 2), 47– 50.  Lehnerer betont, dass Schleiermacher Kunst nicht aus dem Absoluten ableitet oder mittels einer Idee begründet. Vielmehr entwickle Schleiermacher den einheitlichen Kunstbegriff anhand der „Kunsttätigkeit“, „an Tätigkeitsformen des individuellen Subjekts“. Deshalb ordnet Lehnerer Schleiermacher eindeutig der Produktionsästhetik zu. Allerdings gilt es zu präzisieren, dass für Schleiermacher die Tätigkeit des inneren Prozesses des Vorstellens, die Urbildung, für die Kunst ausschlaggebend ist, weniger die Ausführung. Dies wird noch zu erläutern und vor allem zu problematisieren sein. Insofern muss aber Lehnerers Charakterisierung der Ästhetik Schleiermachers als „wesentlich psychologisch ausgerichtete Produktionsästhetik“ hervorgehoben werden. Unter Produktion darf hier also nicht das Komponieren, Dichten, in Steinschlagen, Zeichnen, Malen usf. gefasst werden. Vgl. Lehnerer 1985 (Anm. 3), 410 – 411. Lehnerer diskutiert und problematisiert ebenfalls die „Differenz zwischen kunstlosem und künstlerischem Gefühlsausdruck“, vgl. dafür die Seiten 418 – 422. Dabei stößt er auch auf die Schwierigkeit, die im Folgenden noch dargelegt wird, dass die für die Kunst notwendige „Besinnung“ dem Gefühl entgegengesetzt

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Theater wie auch Tanz hinzuzuzählen sind. Zunächst verweist Schleiermacher auf zwei Momente, die Musik und Mimik zugrunde liegen: „Erregung“ und „Ausführung“.²⁷ Auf ein erregendes „Gefühl“²⁸ folgt mithin eine ausführende Bewegung bzw. ein Ton: Die Eigenthümlichkeit und Unübertragbarkeit desselben [des Gefühls] ist anerkannt. Es hat aber als Aeußerung wie das Wissen die Sprache so seinerseits den Ton und die Bewegung. – Hier finden wir die Naturanfänge zweier Künste Musik und Mimik und zwar das Künstlerische so dicht neben dem Kunstlosen daß wir [an] diesen Punkten nicht vorbeigehn können.²⁹

Erregung und Ausführung gehören für Schleiermacher ebenfalls zur Kunst, aber sie decken nur zwei der drei Momente des Schemas ab. Folgen sie direkt aufeinander, sind etwa Musik und Mimik kunstlos: Auf diesem Gebiet [der Musik und Mimik] nun ist das Identische zwischen dem kunstlosen und künstlerischen die innere Erregung und das Aeußerlich werden derselben. […] Das Kunstlose aber ist ohne Maaß und Regel[,] Sprung in der Freude, Umherwüthen im Zorn[,] Schrei im Schreck p. Das Künstlerische hat Maaß und Wechsel und wird dadurch Gesang und Tanz.³⁰

Während Schleiermachers Behauptung, „Das Kunstlose ist die unmittelbare Identität der Erregung und Aeußerung“, problemlos nachzuvollziehen ist, beruht Schleiermachers Charakterisierung des „Künstlerischen“ auf einem Gegensatz:³¹ „Wo aber Maaß im Wechsel ist, da ist ein innerer Typus, Urbild, der der Ausführung vorangeht und zwischen die Erregung und sie tritt. Die Kunst ist also hier die

ist. Allerdings erkennt er dann in der „Urbildung“ die Lösung, weil er selbst das „Komposit[orische]“ des Urbilds als einen weiteren aus der Phantasie des Individuums stammenden „Gefühlsausdruck“ deutet. Er behebt also die Schwierigkeit durch die Auflösung der Spannung zwischen „Begeisterung“ und „Maß“, letztlich bilden sie für ihn einen „doppelten Gefühlsausdruck“. Die vorliegende Argumentation kommt zu einem anderen Ergebnis: Mit Schleiermacher lässt sich zeigen, dass diese Spannung Kunst auszeichnet. Für Kelm stellt sich das Problem – auf im Vergleich zu Lehnerer umgekehrte Weise – ebenfalls nicht, weil er die drei Momente als Differenzierung der „Besinnung“ erachtet, wodurch die Besinnung als Urbildung nicht mehr im Kontrast zur Erregung und Begeisterung steht, sondern die Erregung als „Stimmung“ zur Besinnung mit hinzugezählt wird, Kelm 2017 (Anm. 8), 558 – 561.  KGA II/14 (Anm. 2), 47. Zur ausführlichen Behandlung von Mimik (d. h. auch Tanz und Theater) und Musik vgl. KGA II/14 (Anm. 2), 92– 116, zu beachten ist auch die Sachanmerkung auf Seite 92.  KGA II/14 (Anm. 2), 47.  KGA II/14 (Anm. 2), 46.  KGA II/14 (Anm. 2), 46 – 47.  KGA II/14 (Anm. 2), 47.  KGA II/14 (Anm. 2), 47.

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Identität der Begeisterung, vermöge deren die Aeußerung aus der inneren Erregung herrührt[,] und der Besonnenheit vermöge deren sie aus dem Urbilde herrührt.“³² Laut Schleiermacher vereinigt Kunst also Erregung bzw. Begeisterung und Besonnenheit. Diese Gegensätzlichkeit ist weiter zu diskutieren, Schleiermacher selbst setzt sie auseinander. Zudem bleibt unklar, was das Urbild, „ein innerer Typus“, sein soll. Da Schleiermacher diesen Begriff an keiner Stelle eindeutig klärt, ist dessen Erwähnungen nachzugehen. Vorerst ist es der Gegensatz zur Erregung, zum Gefühl und zur Begeisterung, was Schleiermacher zur Erläuterung des Urbildes anbietet: nämlich das Beruhen auf Besonnenheit und das Herrufen eines Maßes. Allerdings behauptet Schleiermacher auch, dass die Äußerung in der Kunst, die „Darstellung“, zurückzuführen sei „auf einen Erregungsmoment aus welchem das Urbild selbst entsprungen ist“.³³ Anschließend verweist er indes wieder auf die Besinnung, „die eine Urbildung bewirken [kann] die aber nicht gleich in Erscheinung tritt“³⁴. Dieser Gegensatz zwischen Erregung und Besinnung, den Schleiermacher im Verlauf seiner Überlegungen selbst thematisiert,³⁵ wirkt sich ebenfalls in seiner Bestimmung von Kunst und seiner Erläuterung des Urbildes aus: „Das Urbild ist die Quelle des Maaßes und […] zugleich Besinnung“, aber ebenso habe „an allen Kunstthätigkeiten die Erregung Theil“.³⁶ Ohne dass Schleiermacher es explizit formulierte, scheint er weniger den Zusammenhang dieser Momente – der Erregung und des Urbilds – vom Gegensatz befreien zu wollen, als diesen selbst der Kunst zugrunde zu legen.³⁷ Dass Erregung der Kunst wesentlich ist, bezweckt er ferner an der Gegenüberstellung „der lebendigen und bleichen Kunst“³⁸ zu verdeutlichen: [D]enn dieser Unterschied ist nicht in den organischen Fertigkeiten zu suchen sondern kommt von innen heraus. Es kommt also nur darauf an, zu untersuchen, inwiefern dieser

 KGA II/14 (Anm. 2), 47.  KGA II/14 (Anm. 2), 48.  KGA II/14 (Anm. 2), 48.  Vgl. etwa KGA II/14 (Anm. 2), 47– 48: „Man muß daher sagen daß in dem Gebiet der Kunst nicht nur jene Identität nicht nothwendig, sondern daß sie in demselben wesentlich aufgehoben ist, und die Darstellung unmittelbar nur auf das Urbild bezogen wird. Hierdurch hebt sich von selbst eine Einwendung welche gegen diese Ableitung gemacht werden kann, daß nemlich die Kunstübenden niemals in einem erregten Zustande sind. Denn mittelbar bezieht sich durch das Urbild die Darstellung doch auf einen Erregungsmoment aus welchem das Urbild selbst entsprungen.“  KGA II/14 (Anm. 2), 50.  Vgl. auch die Nachschrift Schweizer 1832/33, KGA II/14 (Anm. 2), 584: „In der Begeisterung und Besonnenheit ist also der Begriff der Kunst. Wo diese beyden sind, da ist sie.“  KGA II/14 (Anm. 2), 51.

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innerste Punkt bei allen [Hervorhebung d. Vf.] Künsten in denselben allgemeinen Ort des Gefühls gehört.³⁹

Fraglich ist freilich, ob überhaupt von einer „bleichen Kunst [Hervorhebung d. Vf.]“ die Rede sein kann. Aber nicht darin liegt die Schwierigkeit, sondern sie besteht in dem „allgemeinen Ort des Gefühls“, den Schleiermacher für Kunst geltend macht. Zugleich darf ihm zufolge das Gefühl in der Kunst nicht „besinnungslos“ sein, es zumindest nicht bleiben; denn „Maaß und Form“ bilden ebenfalls „das gemeinsame aller Kunst“.⁴⁰ Diese Spannung ist nicht aufzulösen.

3.2 Urbild und Abbild Der Charakterisierung von Schleiermachers Ästhetik, eine Produktionsästhetik zu sein, entspricht: dass es – wie soeben zitiert wurde – auf den „innersten Punkt“, „denselben allgemeinen Ort des Gefühls“ ankommt. Bestärkt wird diese Zuordnung dadurch, dass Kunst für Schleiermacher nicht wesentlich durch die „Ausführung“⁴¹ bestimmt wird, wodurch das Werk aber erst entsteht und die Rezeption ermöglicht wird. Da die Ausführungen unterschiedlich erfolgen können, sieht Schleiermacher in ihnen nicht „das in allen Kunstformen identische“, sondern „das differente“.⁴² Hier ist jedoch gegenüber Schleiermacher einzuwenden, dass zwar die Art und Weise der Ausführungen differiert, aber als wesentliches und drittes Moment zählt ja auch er selbst die „Ausbildung“⁴³ – oder Darstellung, Ausführung, Äußerung – zur Bestimmung der Kunst mit hinzu. Zudem ist ebenso wenig von ein und derselben Art und Weise der Erregung und Urbildung auszugehen: Was einen erregt und welches Gefühl erregt wird sowie aus welchen Vorstellungen sich das Urbild zusammensetzt, differiert gleichfalls.⁴⁴ Der neuralgische Punkt liegt aber in dem begründet, worauf Schleiermacher letztlich hinauswill: Er bezweckt, die Unabhängigkeit der Erregung und Urbildung vom „Medium“⁴⁵, in dem die Ausführung erfolgt, herauszustellen. Demzufolge können dieselbe Erregung und Urbildung im Gesang, in der Skulptur und in

      

KGA II/14 (Anm. 2), 51. KGA II/14 (Anm. 2), 50 – 51. KGA II/14 (Anm. 2), 51. KGA II/14 (Anm. 2), 51. KGA II/14 (Anm. 2), 49. Vgl. dagegen KGA II/14 (Anm. 2), 51. KGA II/14 (Anm. 2), 51.

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der Poesie geäußert werden. Schleiermacher bezweckt dies, um die Einheit der Kunst – trotz Differenzierung in der Ausführung – begründen zu können. Als Beispiel könnte Schleiermacher die Tatsache dienen, dass ein und dasselbe Thema in verschiedenen Künsten ausgearbeitet wurde, etwa Themen der antiken griechischen Mythologie. Allerdings kann das Urbild nicht allein in dem Thema – etwa der Raub der Persephone – bestehen, zur Urbildung als „freie[r] Production“⁴⁶ muss die Ausarbeitung in der Vorstellung hinzugehören, für die die „Verwandtschaft des Künstlers zu einer bestimmten Darstellungsweise“ nicht aus-, sondern miteinzuschließen wäre. Schleiermacher hingegen schließt nicht nur die Ausführung selbst vom künstlerischen Prozess aus, sondern weist auch das Beziehen auf die Ausführung im für das Künstlerische wesentlichen Vorstellen, im Urbilden, zurück. Es wird sich aber noch deutlich zeigen, dass Schleiermacher selbst diese Trennung argumentativ nicht durchhält.

3.3 Die Ausdifferenzierung des Gefühls Bereits dargelegt wurde das Urbild in seinem Spannungsverhältnis zu den beiden anderen Momenten der Kunst, Erregung und Ausführung. Dass Erregung und Urbildung in keiner „Verwandtschaft“ mit einer „bestimmten Darstellungsweise“ stehen dürfen, dient Schleiermacher aber nicht nur zur Begründung der Einheit der Kunst. Darin liegt für ihn ebenfalls begründet, dass etwas Eigentümliches in das Kunstwerk überhaupt hineintreten kann.⁴⁷ Allerdings ist Schleiermachers Darstellung der „eigenthümliche[n] Welt“ im Vorstellen letztlich weniger hermetisch.⁴⁸ Trotzdem wird anhand der nun zu erläuternden eigentümlichen Welt keine Auflösung der beiden aufgezeigten Spannungen erreicht. Jedoch wird dargelegt, wie Schleiermacher der ersten durch eine Differenzierung des Gefühls begegnet. Darauf, dass Schleiermacher die zweite, die spannungserzeugende Trennung von Urbild und Ausführung, selbst nicht aufrechterhält, ist anschließend einzugehen. Es ist dann zu sehen, wie er auf diese Inkonsequenz reagiert. Schleiermacher zielt auf keine absolute eigentümliche Welt eines jeden Einzelnen ab. Zuvörderst basiert diese auf dem allen gleichermaßen „angeborenen BegriffsSystem[…] im BeWußtsein“, das durch die „Sinne“ angeregt wird und das

 KGA II/14 (Anm. 2), 55.  KGA II/14 (Anm. 2), 51– 52.  KGA II/14 (Anm. 2), 52.

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Schleiermacher auch als „Productivität der Vernunft“ bezeichnet.⁴⁹ Zu unterstreichen ist aber vor allem Schleiermachers Gedanke, dass die eigentümliche Welt mit einer mit anderen geteilten Welt zusammenbestehen können muss, wenngleich die Eigentümlichkeit in der „individuellen erkennenden Function“ das „freie Spiel“ im Vorstellen ermöglicht.⁵⁰ Und es ist dieses freie Spiel, das Schleiermacher ebenfalls als Hervorbringen von „Urbilder[n]“⁵¹ erachtet. Wären diese aber durch und durch eigentümlich, gäbe es keine Möglichkeit der Darstellung. Insofern unterscheiden sie sich vom rein subjektiven Gefühl: Das übergetragene ist aber nicht das an sich unübertragbare Gefühl über dieses bleiben wir vielmehr immer zweifelhaft, sondern das Urbild selbst.⁵²

Obgleich Schleiermacher dieses und die Ausführung als Urbild und „Abbild“⁵³ gegenüberstellt, darf dieses Verhältnis nicht als bloßes Abbilden eines vorgestellten Bildes aufgefasst werden. Entscheidend ist dafür, das soeben Zitierte nicht als komplette Loslösung vom Gefühl zu verstehen. Allerdings muss aus diesem eine „Stimmung“ entwickelt worden sein: „Die Darstellung ist nur ein Durchgangspunkt auf der einen Seite, sie will das Urbild wieder geben und dieses, auch ein Moment, kann nicht mitgetheilt werden wenn nicht auch das mitgetheilt wird, woraus es hervorgegangen ist; das war aber nur die Stimmung, nicht das bestimte Gefühl, nicht die Volition.“⁵⁴ Einerseits wird hieran die Verbindung zwischen Erregung und Urbild – trotz des Gegensatzes des ersteren zu Maß und Besinnung – abermals deutlich, andererseits muss unterschieden werden zwischen Stimmung und Gefühl. Die Differenz zwischen den beiden führt Schleiermacher zur Unterscheidung zwischen Musik und Mimik auf der einen Seite und Poesie auf der anderen ein.⁵⁵ In Letzterer sei es vielmehr eine Stimmung, die das Vorstellen zur „freie[n] Production“⁵⁶ anrege. Musik und Mimik hingegen stehen laut Schleiermacher stärker im Zusammenhang mit der Leidenschaft. Aber auch das leidenschaftliche Gefühl darf durch die Urbildung eben nicht „besinnungslos“⁵⁷ bleiben.

        

KGA II/14 (Anm. 2), 52. KGA II/14 (Anm. 2), 52. KGA II/14 (Anm. 2), 52. KGA II/14 (Anm. 2), 58. KGA II/14 (Anm. 2), 51. KGA II/14 (Anm. 2), 61. Vgl. KGA II/14 (Anm. 2), 54. KGA II/14 (Anm. 2), 55. KGA II/14 (Anm. 2, 50.

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Begrifflich ist es problematisch, dass sich Schleiermacher gerade in der allgemeinen spekulativen Bestimmung an die Künste anpasst. Umgekehrt ist aber der Fakt der Anpassung dem ästhetischen Gegenstand geschuldet, von dessen Unterschieden Schleiermacher doch nicht gänzlich abstrahiert, sondern sie zu integrieren sucht. Insofern folgt Schleiermacher seinem Anspruch, die Einheit am Mannigfaltigen zu zeigen und dadurch auch die Teilungsgründe der verschiedenen Künste aufzudecken.⁵⁸

3.4 Die Kunstwelt Nachdem sich gezeigt hat, dass Schleiermacher angesichts des Gefühls seine Begrifflichkeit an die Künste anpasst, und damit auf die zuerst aufgezeigte Spannung reagiert wird, soll nun die zweite Spannung zwischen Urbild und Ausführung weiter untersucht werden. Dafür ist zunächst das Verhältnis von Produktion und Rezeption zu erörtern. Unverkennbar entwickelt Schleiermacher die Bestimmung des wesentlich Künstlerischen ausgehend von der Produktion, d. h. von der künstlerischen Tätigkeit im Vorstellen, der Urbildung. Gleichfalls entwickelt Schleiermacher aber auch einen Begriff der „Kunstwelt“, zu der sowohl Produktion als auch Rezeption gehören: „Eine solche [Kunstwelt] besteht nie ohne die Abstufungen zwischen den originellsten Künstlern und dem gern genießenden Publicum, eben so wenig als ohne die beiden entgegengesezten Modificationen.“⁵⁹ Die unterschiedlichen Mitglieder der Kunstwelt bestimmt Schleiermacher ausgehend von den drei Momenten der Kunst – „der Erregung, der Urbildung und der Ausbildung“ –, unter erstens und drittens erwägt er zudem die „entgegengesezten Modificationen“.⁶⁰ Mit diesen zielt Schleiermacher auf zwei Extreme: Zum einen zieht er in Betracht, dass Urbildung bzw. „Erfindungsgabe“ – wie er jene hier ebenfalls nennt⁶¹ – und Ausführung ohne Erregung stattfinden, zum anderen, dass bloße Erregung gefühlt wird, wenn „die Begeisterung allein vorherrscht“.⁶² Indem Schleiermacher zuerst das Fehlen der Erregung durchdenkt, stößt er auf das erste Extrem. Dadurch wird einerseits die für Schleiermacher wesentliche Verbindung von Erregung und Urbildung deutlich erkennbar: Denn „[w]ie der Fall

 Vgl. KGA II/14 (Anm. 2), 43 – 44.  KGA II/14 (Anm. 2), 49 – 50.  KGA II/14 (Anm. 2), 49.  Vgl. dazu auch Kelm 2017 (Anm. 8), 558 – 559 und zur Erläuterung der verschiedenen Seiten der Kunstwelt ebenda Seite 560.  KGA II/14 (Anm. 2), 49.

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möglich ist können wir nicht einsehn, da wir die Erfindungskraft nicht unabhängig sondern nur im Zusammenhang mit der Erregung gefunden haben“.⁶³ Andererseits besteht gerade die von Schleiermacher zuerst erwogene Modifikation darin, dass „das Talent der Erfindung und die Virtuosität der Ausführung vorherrschen“.⁶⁴ Vermutlich hat Schleiermacher eine Form der Virtuosität vor Augen, die für ihn die Grenze zum Sport markiert; in der Hinsicht verweist er an anderer Stelle im Kollegheft auf die Gefahr des Tanzes, ins „Seiltänzerische“ überzugehen.⁶⁵ Das Verhältnis zwischen Erregung und Urbildung durchdenkt Schleiermacher zudem weiter unter zweitens: in der Überlegung, dass „die Erfindungsgabe [fehlt]“. Deutlich wird hier, dass ihm zufolge die Erregung auch durch bereits bestehende Kunst erfolgen kann, wodurch immer noch die Möglichkeit der „Nachahmung“⁶⁶ gegeben ist, auch wenn kein eigentümliches Urbild entwickelt wird. Fehle aber zudem noch die „organische Fertigkeit“, folge das „Verschwinden der Productivität in die bloße Receptivität“.⁶⁷ Unter drittens führt Schleiermacher dann den Gedanken des Fehlens der „organischen Fertigkeit“ näher aus. Letztlich mündet diese Überlegung im zweiten Extrem, im Vorherrschen der Erregung. Zur Erläuterung dessen verweist Schleiermacher auf das Verhältnis zwischen Erfindungsgabe und Ausführung, was substantiell für die vorliegende Argumentation ist: Denn „in gewissem Grade [tritt] auch das Talent der Erfindung, weil sie nicht auf die Ausführung berechnet wird, zurük[…]“ – auch laut Schleiermacher. Hieraus sind zweierlei Konsequenzen zu ziehen: Erstens kann Schleiermacher die Ausführung doch nicht konsequent von der Urbildung ausschließen; zweitens jedoch verringert sich „das Talent der Erfindung“ lediglich „in gewissem Grade [Hervorhebung d. Vf.]“. Aus ersterem ist zu folgern: dass auch Schleiermacher den Bezug zur Ausführung in der Urbildung anerkennen muss. Andernfalls tritt zweitens ein: große Begeisterung und höchstens „in gewissem Grade“ Erfindung, d. h. Urbildung. Aus der gleichzeitig fehlenden Erfindungsgabe und organischen Fertigkeit schloss Schleiermacher auf das „Verschwinden der Productivität in die bloße Receptivität“. Da aber zum Primat der Produktion bei Schleiermacher auch der Vorrang der Erregung und des Urbilds gegenüber der Ausführung gehört, könnte streng ge-

    

KGA II/14 (Anm. 2), 49. KGA II/14 (Anm. 2), 49. KGA II/14 (Anm. 2), 93. KGA II/14 (Anm. 2), 49. KGA II/14 (Anm. 2), 49.

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nommen der begeisterte Urbildende ein Künstler sein, ohne das Vorgestellte auszuführen.⁶⁸ Mit in diese Überlegung einzuschließen ist Schleiermachers Differenzierung der menschlichen Tätigkeit in „erkennen und organisiren“⁶⁹.Vom Urbild an sei die künstlerische Tätigkeit im Schleichermacher’schen Sinne organisierend, d. h. „bildend“⁷⁰. Vordem jedoch, in der Urbildung, erachtet Schleiermacher sie als erkennend. Da für ihn darin – angesichts des Künstlerischen – das „dominirende“⁷¹ liegt, wären Produktivität, die durch ein bestehendes Kunstwerk erregt würde, und Rezeptivität aneinander anzunähern. Verbliebe aber die Kunst in dem rezipierenden Produzieren, käme kein Kunstwerk zustande, auf dessen Bedeutung nun noch einzugehen ist, auch um die Möglichkeit der Selbstmanifestation zu erläutern. Auf der auch für Schleiermacher bestehenden Bedeutung der Ausführung ist vorab schon zu insistieren anhand des folgenden Zitats aus seinem Kollegheft: So war uns der eigentliche Kern der Betrachtung die Erzeugung des Urbildes und wurde uns zur Duplicität von Stimmung und Darstellung. Die Kunstthätigkeit ist aber nur in der Identität beider und darum ist die Kunst noch nichts ohne die ganze Fülle ihrer Zweige, sie ist nicht die Stimmung sondern das organisch werden der Stimmung [Hervorhebung d. Vf].⁷²

4 Identität und Eigentümlichkeit II Die Bedeutung des Eigentümlichen wurde bereits hervorgehoben, das aber nur aufbauend auf dem „angeborenen BegriffsSystem im BeWußtsein“⁷³ und in Verbindung stehend mit der allgemein geteilten Welt dargestellt und mitgeteilt werden kann. In seiner letzten Ästhetik-Vorlesung von 1832/33 – überliefert durch die Nachschrift Schweizer – konfrontiert Schleiermacher seine Bestimmung des Künstlerischen als Urbildung im Sinne von „freyer Produktivität“ mit Beispielen

 Vgl. auch die Nachschrift Schweizer 1832/33, KGA II/14 (Anm. 2), 570: „Also müssen wir sagen, die eigentliche Kunstthätigkeit ist etwas was sich rein innerlich vollbringt, und das Äußre ist ein Zweites, das als solches auf eine mechanische Weise wird und daher nicht mehr unter den Begriff der Kunst gehört.“  KGA II/14 (Anm. 2), 45.  KGA II/14 (Anm. 2), 57.  KGA II/14 (Anm. 2), 58.  KGA II/14 (Anm. 2), 63. Zum Verhältnis von Urbild, Stimmung und Darstellung vgl. Pecina 2017 (Anm. 8), 482.  KGA II/14 (Anm. 2), 52.

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aus der Kunstgeschichte, unter anderem aus der Malerei.⁷⁴ In der christlichen Kunst finden sich etwa das Thema der heiligen Familie und der Typus der Madonna. Wenn nun Schleiermacher das Urbild auch als „inneren Typus“⁷⁵ an systematisch entscheidender Stelle in seinem Kollegheft von 1819 bestimmt, meint er damit einen solchen konkreten, bereits vorhandenen Typus, an den man sich zu halten habe, um Künstlerisches hervorzubringen? Vorgegebene Formen und Inhalte mögen dazu dienen, einerseits die Begeisterung zu erregen – wie zuvor erläutert wurde in der Nachahmung und im rezipierenden Produzieren – oder andererseits umgekehrt um sie zu zügeln – indem zur Darstellung von Gefühlen auf gegebene Formen und Inhalte zurückgegriffen wird. Vielmehr noch streicht Schleiermacher aber den für das Künstlerische notwendigen Kontrast zum tradierten Typus heraus, da ihm zufolge gerade solche durch Geschichte und Kultur vorgegebenen Typen die Möglichkeit bieten, die freie Produktivität und Eigentümlichkeit hervorzuheben. Zwar stellen die bestehenden allgemeinen Formen eine größere Herausforderung für die Darstellung des Eigentümlichen dar, sie kommt aber durch den Vergleich mit den anderen Darstellungen desselben Typus zum Vorschein. Schleiermacher stellt eine Madonna von Raphael einer von Rubens gegenüber.⁷⁶ An dieser Gegenüberstellung lässt sich zeigen, dass Schleiermacher nicht nur eine natürlich menschliche Identität von der Eigentümlichkeit der Person unterscheidet, sondern ebenso unterschiedliche historische und regionale Identitäten. Dass Raphaels Madonna sich anders ausnimmt als diejenige von Rubens, ist für Schleiermacher nicht nur auf deren Eigentümlichkeit der Person zurückzuführen, sondern auch auf den Einfluss von „Zeit und Localität“⁷⁷ auf die Eigentümlichkeit. Auch insofern besteht die Analogie zur Identität der Natur, zu der das Individuelle nicht hinzutritt, sondern worin sich Allgemein-Natürliches manifestiert. Manifestieren sich nun neben dem schon angeborenen Begriffssystem des Bewusstseins noch Bestimmtheiten des „Gesamtbewußtsein[s]“⁷⁸ einer bestimmten Zeit und Lokalität

 KGA II/14 (Anm. 2), 635 – 638; vgl. KGA II/14 (Anm. 2), XLIII (Historische Einführung).  KGA II/14 (Anm. 2), 49.  KGA II/14 (Anm. 2), 637.  Schleiermacher 2021 (Anm. 2), 638: „Wollte man dagegen Zweifel erheben und sagen: nehme ich eine Anzahl Madonnen von Raphael und eine Menge von Rubens, so ist da [ein] Unterschied; aber will man nicht sagen, daß dieser Unterschied auf ihrer persönlichen Differenz beruhe, sondern das sey der Unterschied der Zeit und Localität, so ist das wahr, aber keine Einwendung, denn die individuelle Besonderheit des Einzelnen ist ebenfalls durch Zeit und Localität bedingt, und wäre nicht so geworden in andrer Zeit und Localität. Aber außer diesen wird man doch noch die Grenzen der individuellen Persönlichkeiten finden […].“  Schleiermacher 2021 (Anm. 2), 637.

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im eigentümlichen Bewusstsein, so kommt dieses durch den Künstler hindurch im Werk zur Anschauung und erst abhebend davon bestenfalls noch dessen Eigentümlichkeit. Die Selbstmanifestation in der Kunst ist also kein bloßes Ausdrücken der Individualität, sondern diese bedarf des Identischen, des Allgemeinen, um überhaupt erkennbar zu werden. Davon, dass Allgemeines – sei es die menschliche Natur, sei es das sogenannte Gesamtbewusstsein – von der Individualität des Einzelnen nicht zu trennen ist, geht Schleiermacher nicht nur aus, sondern baut auf dieser Prämisse seine gesamte Systematik⁷⁹ auf und somit, wie ausgeführt wurde, auch seine Ästhetik. Was folgt daraus nun für die Bestimmung des Urbilds?

5 Das Urbild als Vermittlung Bekannt ist der Theologe Schleiermacher auch für seine philologische Arbeit: der Übersetzung einiger Dialoge Platons. Vor diesem Hintergrund wäre zu vermuten, der Begriff „Urbild“ sei in eine platonische Ideenkonzeption eingebunden. Schleiermachers Rede vom „Abbild“ bezüglich der Darstellung des Urbilds verstärkt diesen Eindruck. Deutlich von der platonischen Idee unterscheidet sich Schleiermachers Auffassung vom Urbild indes dadurch, dass es kein Jenseitiges, Ewiges und historisch Unwandelbares ist. Die ebenfalls verwandte Formulierung „Urbildung“ lässt den aktiven Charakter des Urbilds erkennen, das erst vom Künstler im Vorstellen geschaffen wird. Platonisch bleibt jedoch die Hierarchisierung die Schleiermacher vornimmt: Das ausgeführte Werk ist nur Abbild und – wie er auch in seiner Vorlesung von 1832/33 betont – eher etwas Mechanisches.⁸⁰ Allerdings gesteht auch Schleiermacher zu, dass in der Ausführung des Urbilds dieses verändert oder vervollständigt werden kann.⁸¹ Dieser für das künstlerische Schaffen notwendige Prozess, dass im Ausführen des Werks dieses erst konkre-

 Vgl. Inken Mädler, „Ästhetik“, in: Schleiermacher-Handbuch, hg.v. Martin Ohst, Tübingen: Mohr 2017, 295 – 300, hier: 296 – 297.  Vgl. Anm. 68 und Anm. 81.  KGA II/14 (Anm. 2), 570: „Denkt man nun freylich, daß der Mahler während des Werkes noch ändert, und will daraus schließen, das Äußre sey nun das Kunstwerk, da er die eigentliche Kunstthätigkeit und nicht bloß Mechanisches darauf verwendet. Das ist wie wenn der Dichter Verse ändert. Die Sache ist aber, daß der Künstler an seinem innern Werk selbst ändert und es noch nicht fertig gehabt. Zu dieser Änderung kommt er freylich durch die äußre Darstellung. Die wahre Vollkommenheit ist aber offenbar, daß der Künstler sein Urbild vollständig in sich trage, ehe er äußerlich thätig ist. […] Also müssen wir sagen, die eigentliche Kunstthätigkeit ist etwas was sich rein innerlich vollbringt, und das Äußre ist ein Zweites, das als solches auf eine mechanische Weise wird und daher nicht mehr unter den Begriff der Kunst gehört.“

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tisiert wird, auf das Vorstellen zurückwirkt und wirklich entsteht, schätzt Schleiermacher jedoch eher gering gegenüber einem künstlerischen Schaffen, dem ein „vollständiges Urbild“⁸² vorangeht. Der laut Schleiermacher nicht „wahre“⁸³ künstlerische Prozess, das ist ihm zu entgegnen, bildet aber vielmehr die Regel als einen Mangel. Er selbst verweist in seinen Vorlesungen zwar auf das Verändern von Versen.⁸⁴ In seine Systematik fängt er dies aber ein, insofern für ihn das nachträgliche Abändern und Komplettieren des Urbildes dennoch ein Teil des inneren Prozesses bleibt, wenngleich es einen Mangel und nicht die „wahre Vollkommenheit“⁸⁵ darstellt. Entscheidend ist aber, und das markiert besonders den Unterschied zur Ideenlehre Platons, dass selbst das Allgemeine im Urbild, das Formende und das Messende, keine unveränderliche Konstante darstellt, sondern dass es sich zeitlich wie lokal beeinflusst verändert und vor allem mit der Individualität des Künstlers verbunden wird. Insofern – also angesichts des Allgemein-Identischen und des Individuellen – stellt das Urbild eine Vermittlung dar. Es ist freie eigentümliche Produktion im Vorstellen, aber beruhend auf einem Begriffssystem. Es wird gebildet durch die eigentümliche Vorstellungswelt, aber ohne die Verbindung mit der allgemein geteilten Welt zu verlieren. Ebenfalls stellt das Urbild eine Vermittlung zwischen Produktion, Werk und Rezeption dar. Die Urbildung maßregelt die Erregung, sodass überhaupt etwas Darstellbares vorgestellt wird. Daher vermittelt es auch zwischen Produktion und Werk. Dafür, dass diese Vermittlung ebenfalls als künstlerisch produktiv und nicht bloß als mechanisch aufgefasst wird, muss allerdings über Schleiermachers Konzeption hinausgegangen oder dasjenige betont werden, was er selbst über seine strenge Auffassung des Künstlerischen überschreitend, darlegt: Zur Erfindung gehört – darauf weist er, wie schon zitiert wurde, hin –, dass sie „auf die Ausführung berechnet wird“. Außerdem wird das Darzustellende nachträglich im Komponieren, Dichten usf. weiterentwickelt, was zum künstlerischen Prozess – Schleiermacher entgegen – hinzugezählt werden muss. Die Bedeutung des Werks kommt bei Schleiermacher dadurch zum Tragen, dass es die Rezeption erst ermöglicht, die für Schleiermacher konstitutiver Bestandteil der Kunstwelt ist. Ferner müsste ihm zufolge das Werk von außerordentlicher Bedeutung sein, weil erst in ihm die Selbstmanifestation des Künstlers zur Erscheinung kommt, insbesondere wenn sie sich von allgemeinen Formen und Typen erkennbar abheben kann.    

KGA II/14 (Anm. 2), 570. KGA II/14 (Anm. 2), 570. Vgl. Anm. 81. KGA II/14 (Anm. 2), 570.

Simon Gerber

Ästhetik und Kultus Für die Textarbeit ausgewählte Passagen aus der Praktischen Theologie Das ursprünglich für den 3. bis 5. Dezember 2020 in der Wittenberger Leucorea geplante Symposium über Schleiermachers Ästhetik – coronabedingt wurde es dann am 4. Dezember verkürzt und als Videokonferenz durchgeführt – sah eigentlich noch mehrere Textarbeitseinheiten vor, darunter eine über Ästhetik und Praktische Theologie.¹ Da es noch einige Jahre dauern wird, bis die kritische Edition der Praktischen Theologie in der Kritischen Gesamtausgabe vorliegt,² sollen die von mir zur gemeinsamen Lektüre ausgewählten und zusammengestellten Passagen (sie kommen aus zweien der praktisch-theologischen Kollegien, dem von 1812 und dem von 1826) hier präsentiert werden.

Aus dem Kolleg von 1812 Im Sommersemester 1812 las Schleiermacher zum ersten Mal die Praktische Theologie (einem für das Wintersemester 1806/07 geplanten Kolleg war die Schließung der Universität Halle durch die Franzosen zuvorgekommen). Ein recht umfangreiches Manuskript mit Kollektaneen, Reflexionen und Stundenausarbeitungen³ dokumentiert diese Vorlesung. Im ersten Hauptteil der Vorlesung über den Kirchendienst und dort im ersten Teil über die Tätigkeit des Geistlichen im Gottesdienst (Kultus) kommt Schleiermacher auf den Zusammenhang zwischen

 Zum Thema vgl. Simon Gerber, „Ästhetische Probleme des Gottesdienstes nach Schleiermachers Praktischer Theologie“, in: Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, hg. v. Arnulf von Scheliha und Jörg Dierken, Berlin / Boston: De Gruyter 2017 (Schleiermacher Archiv 26), 607– 617.  Vgl. dazu auch Simon Gerber, „Aus der Editionswerkstatt: Schleiermachers Praktische Theologie – Frerichs’ Ausgabe in ihre Quellen zerlegt“, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 27 (2020), 242– 261.  Vgl. Gerber 2020 (Anm. 2), 260. Das Manuskript: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Schleiermacher-Nachlass 48/2. Im Folgenden wird (obwohl der Text dem Manuskript folgt) jeweils die Stelle in Frerichs’ Ausgabe angegeben: Friedrich Schleiermacher, Sämmtliche Werke (SW) I/13, Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. v. Jacob Frerichs, Berlin: Georg Reimer 1850, 731– 785. https://doi.org/10.1515/9783111025483-010

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Gottesdiensttheorie und Ästhetik: Der Gottesdienst als darstellende Feier besteht aus Kunstelementen, gehört also insofern ins Gebiet der Ästhetik. Schon in der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums heißt es dazu: Da der Cultus in das Gebiet der Kunst fällt, und aus Kunstelementen zusammengesezt ist: so ist die Theorie des Cultus im allgemeinen die religiöse Kunstlehre. Sie hat theils den religiösen Styl in jeder Kunst zu bestimmen, theils die Art wie aus ihnen insgesamt das religiöse Kunstwerk, der Cultus zu bilden ist.⁴

Im praktisch-theologischen Manuskript von 1812 also notiert Schleiermacher: Fünfte Stunde Allgemeine Anschauung des Cultus. 1) Empirische Betrachtung. Unter dem Begriff des Festes. Der Unterschied ist nur von mehr und weniger; alles im Gottesdienst ist Fest. […] Jedes Fest ist zusammengesezt aus Kunstelementen. Jedes Fest will weniger einen Effect als nur Darstellung. Daraus auch der Gottesdienst. Die Belebung des religiösen Princips findet nur Statt in so fern dieses selbst den Gottesdienst hervorgebracht hat. 2) Betrachtung aus der Idee des religiösen Princips. Jedes Innere will ein Aeußeres werden, sich darstellen in allem Lebendigen. Alle menschlichen Darstellungsmittel sind Kunst. Ton, Geberde, Bild. Im Menschen ist alles je mehr es ihm eigenthümlich ist um so mehr ein gemeinschaftliches. Auch das religiöse Princip will sich als ein gemeinschaftliches äußern. Dies das Wesen des Cultus. Dies die beiden Gesichtspunkte aus denen es kritisirt und construirt werden muß. Schwierig denn die gemeinschaftliche Aeußerung kann nur unter bestimten Formen und Anordnungen geschehen, die nur von Einigen ausgehn kann, wie können diese auf Alle passen. Die innere Affection jedes Einzelnen ist zugleich an seine Persönlichkeit gebunden, wie kann ihre Aeußerung eine gemeinschaftliche sein.⁵

Man kann sich dem Phänomen des Kultus also von zwei Seiten nähern: von der kulturtheoretischen (der Kultus als Fest, als gemeinsames darstellendes Handeln)⁶ und von der religionstheoretischen Seite (das religiöse Gefühl will nach

 Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, Berlin: Realschulbuchhandlung 1811, 85, Teil III, 2, § 4– 5 (Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe [KGA] I/6, Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hg. v. Dirk Schmid, Berlin / New York: De Gruyter 1998, 310). Vgl. Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/2, Vorlesungen über die Theologische Enzyklopädie, hg. v. Dirk Schmid, Berlin / Boston: De Gruyter 2019, 255 – 256 (Enzyklopädie 1816/17); ders., Sämmtliche Werke (SW) I/12, Die christliche Sitte, hg. v. Ludwig Jonas, Berlin: Georg Reimer 1843, 537 (Christliche Sitte 1822/ 23).  SW I/13 (Anm. 3), 737.  Vgl. Friedrich Schleiermacher, Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. 2, Brouillon zur Ethik 1805/ 06, hg. v. Otto Braun, Leipzig: Meiner 1913 (Philosophische Bibliothek 137), 98 (15. Stunde); SW I/ 12 (Anm. 4), 525 – 527, 620 – 623 (Christliche Sitte 1822/23).

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außen treten und sich mitteilen).⁷ Als gemeinsame Darstellung braucht der Kultus aber eine Ordnung und Form; die müssen einige für alle geben, aber so, dass der künstlerische Akt nicht das Werk der wenigen, sondern aller ist. Sechste Stunde Wenn nun der Gottesdienst Darstellung des religiösen BeWußtseins ist so entsteht die Frage was ist daran Kunst? Man kann sagen: ist nur das BeWußtsein recht so wird es auch die Darstellung sein. Man kann sagen Kunstregeln beruhen am Ende alle auf Willkühr und Convention – Wie die Darstellung Kunst wird ist eine {versirende}⁸ Frage auf der die Principien der Aesthetik beruhen müssen. Nur im Allgemeinen, die Kunst ist nicht gemacht, sie findet sich vor aller Theorie, im Keim auf allen Bildungsstufen ja in Kindern. Das erste wodurch die Reflexion sich in den Organen offenbart ist Maaß und davon geht alle Kunst aus; die Theorie ist nur Reflexion über das so gewordene – Ferner scheint in die Theorie des Kultus die ganze Aesthetik hineinzukommen und das geht auch nicht; ganz vorausgesezt und nur auf die bestimmten Fälle angewendet kann sie auch nicht werden, um so weniger als die Theorie in ihrem tiefsten noch nicht auf dem reinen ist. Es kommt zunächst darauf an ob die religiöse Darstellung eine besondere Art ist und es gemeinsame Principe für sie in allen Künsten giebt. Dann braucht man nur das Wesen jener Art festzustellen und hat dann das allgemeine im besondern.⁹

Mit den Kunstelementen kommt also auch die Kunsttheorie, die Ästhetik, in die Theorie des Kultus. Allerdings ist diese noch ein umstrittenes Gebiet; auch hat die Kunst selbst gegenüber der Ästhetik die Priorität. Es kommt zunächst also nur darauf an, zu klären, ob es für die Elemente der verschiedenen Kunstgebiete, wie sie denn im Kultus vorkommen, gemeinsame allgemeine Prinzipien gibt. Siebente Stunde Ob die religiöse Kunst ein eigenthümliches Gebiet ist? Aus der Idee nach den beiden Formen des höheren Gefühls des {rechten} und geselligen. Dies muß also auch eine eigene Darstellung haben. A posteriori sieht man es in allen Künsten. Am deutlichsten Musik – Kirchenstyl und Opernstyl. Malerei Kirchensstyl und Decorationsstyl. Beredtsamkeit – Religiöse Rede und epideiktische. Plastik schwerer weil sie alt ist und am alten jene Grunddifferenzen weniger heraustreten. Beispiel Matrone {oder Siebträgerin} und Hermaphrodit oder Nymphe und Faun. Architektur zeigt auch Analogien. Die Eintheilung ist aber nicht so Haupteintheilung daß sich die Künste darunter theilten denn die Individualität der Künste beruht auf dem {herrschenden} Sinn und Organ und alle {können} allen Formen dienen, sondern es ist eine Verschiedenheit des Styls in jeder Kunst. Wir werden dieses aber

 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Über die Religion, Berlin: Unger 1799, 177– 187 (KGA I/2, Schriften aus der Berliner Zeit 1796 – 1799, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin / New York: De Gruyter 1984, 267– 271); ders., Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Band 1, Berlin 21830, § 6,4 (KGA I/13,1, Der christliche Glaube. 2. Auflage (1830 – 1831), hg. v. Rolf Schäfer, Berlin / New York: De Gruyter 2003, 57– 58).  Hier und im Folgenden bezeichnen die geschweiften Klammern unsichere Lesarten einzelner Wörter.  SW I/13 (Anm. 3), 737– 738.

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nur betrachten in denen Künsten gemeinschaftlich welche in der Thätigkeit des Klerikers am meisten vorkommen d. h. in Poesie Musik und Beredsamkeit. Die andern nur kürzlich abhandeln wo von den einzelnen organischen Theilen des Kultus die Rede ist.¹⁰

Es heben sich also tatsächlich in den verschiedenen Künsten ein weltlicher, epideiktischer und ein religiöser Stil voneinander ab. Achte Stunde Ehe wir auf das Unterscheiden der verschiedenen Style gehn müssen wir zuerst das was ganz aus dem Kunstgebiet herausfällt scheiden, damit es nicht stillschweigend mit darunter begriffen wird, dies ist wo die Kunstelemente im Geschäftsleben zu Zwecken gebraucht werden. Das was man innerhalb der Kunst Erfolg nennen kann, nämlich das Uebergehn des ursprünglich productiven BeWußtseins aus dem Künstler in den Beschauer ist nicht so zu fassen. Es ist nicht die That des Künstlers, er kann und soll nichts für die besondere Beschaffenheit des Beschauers oder sein besonderes Interesse thun. Es ist die That des Beschauers selbst, der Künstler kann nur für die Angemessenheit der Darstellung sorgen und muß Alles übrige anheimstellen. Nicht so zB beim Reden zwischen Verkäufer und Käufer p wo der Ueberredende aus seiner eignen Ueberzeugung und Ansicht herausgeht. In der Musik ist die kriegerische etwas ähnliches jedoch nur indirect, in der Poesie die versus memoriales wo die Form der Poesie da ist und ihr Wesen fehlt. Bei der Beredtsamkeit komt es besonders häufig vor. In der alten Theorie war beides nicht gesondert vielmehr gingen sie vom Geschäftsbedarf aus, wie man aus Platon sieht musikalischer Ohrenkizel und dialektischer Trug, die wahrhaft technische Verschiedenheit nur nebenbei. Man könnte sagen hier wäre auch ein Zwek die Gemüther zu bewegen; allein dieser soll ganz auf dem Fundament der religiösen Gesinnung ruhn und die Voraussezung das Gemüth auch ohne diese zu irgend etwas zu bewegen darf in der religiösen Rede nicht gemacht werden. Neunte Stunde. Daß Zwek und Geschäft für die religiöse Rede nicht gehören beweist sich aus dem Dilemma. Sind die Hörer religiös so ist nicht nöthig etwas besonderes zu thun um bestimmte Vorstellungen oder Entschlüsse zu erregen ja es würde schädlich sein denn dieses besondere würde außer dem Gebiete der religiösen Darstellung liegen und also entweder nicht verstanden werden oder ein Mißtrauen in die religiöse Gesinnung der Hörer beweisen und ihnen das Ganze verderben. Sind die Hörer irreligiös so muß vor allen bestimten Entschlüssen darauf gearbeitet werden sie religiös zu machen. Auch das aber kann durch keine fremden Motive geschehen weil sonst doch kein religiöser Act herauskomt sondern nur durch die Darstellung welche veranlaßt daß das Princip sich in ihnen durch eigene Kraft rege. Erbauung ist nur der Effect der ohne daß etwas besonderes für ihn geschehe von selbst resultirt, indem theils das Einzelne sich aus dem gemeinsamen stärkt theils das specielle sich aus dem allgemeinen entwikelt. Nun aber ist noch das Dilemma zu schlichten denn da die religiöse Rede immer von anderen Theilen des Cultus umgeben ist bei denen die Versamlung mitwirkt so muß sie in diesen als religiös vorausgesezt werden wenn das Ganze nicht frevelhaft sein soll. Also auch hier. Alles Belehrende und Bewegende kann nur untergeordnet sein und nur als Darstellungsmittel da stehn. Folglich Alles was zum Cultus gehört liegt im Gebiet der einen höheren Darstellung und es fragt sich zunächst wodurch unterscheidet sich die religiöse Darstellung von der gesel-

 SW I/13 (Anm. 3), 738.

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ligen. Zuerst materiell ist der Unterschied nicht. So wie keine Kunst an sich auch die körperlichste die Mimik nicht ausgeschlossen ist, so auch kein Element einer Kunst; so wie kein Ton so auch kein Wort ist an sich aus der religiösen Darstelung ausgeschlossen. Zweitens. So wie man zur Combination schreitet entsteht der Unterschied. Man findet schikliches unschikliches und indifferentes, was wiederum nur durch die Combination eins von beiden wird. Es fragt sich nun worin liegt das Princip?¹¹

Kunst im engeren Sinne zielt nicht auf einen außer ihr liegenden Effekt, möchte auch nicht von etwas überzeugen; denn das Übergehen des produktiven Bewusstseins aus dem Künstler in den Rezipienten fällt nicht in diese Kategorie, ebenso wenig die Bewegung der Gemüter durch den Kultus. – Worin liegt dann das Spezifische der religiösen Kunst? Jedenfalls nicht darin, dass bestimmte Künste von vornherein aus dem Kultus ausgeschlossen wären. Zehnte Stunde. Auch das an sich nicht in die religiöse Darstellung gehörige scheint auf eine indirecte Weise hineinkommen zu können als Darstellung des Gegentheils. Also ist auf diesem Wege das wahre Princip nicht zu finden und man muß zugleich den entgegengesezten speculativen einschlagen. Der Gegensaz beider Formen des höheren BeWußtseins beruht auf der Richtung auf die Einheit und auf die Vielheit. In der einen ist die Göttlichkeit in der andern die Weltlichkeit des höhern Princips herrschend. Das BeWußtsein der Gottheit selbst aber kann nicht unmittelbar dargestellt werden, sondern nur an einer wirklichen That oder wirklichen Gedanken der sein Object im Endlichen haben muß. Also kann der gesammte Inbegriff des Mannigfaltigen in die Darstellung kommen. Nichts Einzelne und Besondere kann in wiefern es nur als solches dargestellt wird in seiner sittlichen Dignität aufgefaßt werden sondern nur wenn die Beziehung zur absoluten Einheit klar wird. Also kann alles was in die religiöse Darstellung gehört auch in die gesellige kommen. Der Unterschied beruht also nur auf der Unterordnung. Im religiösen Gebiet ist das Einzelne und Mannigfaltige nicht das Darzustellende selbst sondern nur Darstellungsmittel und ebenso im geselligen Gebiet das religiöse. Was im Einen Darstellungsmittel ist[,] also secundär untergeordnet das ist im andern Darzustellendes selbst überwiegend und ursprünglich. Es kann also alles in das religiöse Gebiet selbst aber es muß ihm mitgegeben sein daß es nur als Darstellungsmittel auftritt. Die Anwendung dieses Princips beruht also auf dem Gegensaz zwischen Darzustellendem und Darstellungsmittel. Dieser scheint gegeben zu sein durch Gedanken und Wort oder Empfindung und Ton. Aber Gedanken sind auch oft nur Hülfsgedanken und Darstellungsmittel und im musikalischen Theil der Sprache ist das Darzustellende selbst der Einfluß der Gemüthsstimmung auch gegeben.¹²

Hier sind also abermals Schleiermachers Transzendentalphilosophie und Religionstheorie ins Spiel gekommen: Die religiöse Kunst soll das Göttliche darstellen; das Göttliche, das Bewusstsein des Göttlichen, ist für sich aber gar nicht  SW I/13 (Anm. 3), 738 – 740.  SW I/13 (Anm. 3), 740.

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unmittelbar darstellbar. Darstellbar sind immer nur einzelne Gegenstände, und zwar für sich oder auch in ihrer Beziehung auf die absolute Einheit, den transzendenten Grund, der selbst nicht Teil der empirisch wahrnehmbaren Welt ist.¹³ Religiöse Kunst unterscheidet sich mithin von der weltlichen nicht in dem, was dargestellt wird, sondern darin, ob Einzelnes in seiner Vielheit, für sich selbst und um seiner selbst willen der Gegenstand ist oder ob es Mittel dazu ist, die Beziehung alles Einzelnen auf den transzendenten Grund und die absolute Einheit darzustellen. Eilfte Stunde. Das Princip zuerst anzuwenden auf die Composition d. h. das Verhältniß des einzelnen zum Ganzen. Für die religiöse Darstellung das Gesez der Simplicität 1.) das Einzelne muß nicht zu sehr als Vielheit erscheinen d. h. in seinen relativen Gegensäzen heraustreten. 2) es muß sich nicht mimisch aussondern und die Betrachtung für sich fordern. Beides hängt genau zusammen. Beispiele Choral in die {Acten} und in die Dominante religiöse Bilder aus wenigen Figuren oder wenn aus Vielen diese einförmiger gehalten. Vergleichung zwischen Kreuztragung und Bakchanal. Eben so auch die Farben in Einem Ton nicht bunt. Ferner das Gesez der Keuschheit. Die technische Vollkommenheit muß zwar da sein aber es darf nichts einzelnes die Bestimung haben sie darzustellen. In der weltlichen Darstellung ist beides unverboten. Keine schweren Passagen, keine schweren Stellungen, keine schönen Stellen, so daß da die beiden Kreise der religiösen und weltlichen Darstellung in einander übergehn so finden auch Uebergänge statt von Huldigungs und Gedächtnißreden, Oratorien in der Kapelle, religiöse Gemälde für Zimmerverzierungen.¹⁴

Daraus, dass sie das Einzelne nur als Hinweis auf die absolute Einheit zur Darstellung bringt, ergeben sich für die religiöse Kunst in allen ihren Zweigen also die Gesetze der Simplizität (statt weltlicher Mannigfaltigkeit und Vereinzelung) und der Keuschheit (statt weltlicher Üppigkeit, Sinnlichkeit und Demonstration technischer Virtuosität).

Aus dem Kolleg von 1826: Elementarische Betrachtung des Kultus Das Kolleg von 1826 nannte Jacob Frerichs einen „begeisterten Vortrag, hingerissen vom Gegenstande, um erregend auf die Jünglinge zu wirken, aber bei

 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/10,1, Vorlesungen über Dialektik, hg. v. Andreas Arndt, Berlin / New York: De Gruyter 2002, 108, 136, 141– 150 (19., 31. und 35.– 38. Stunde) §§ 163 – 166, 200 – 201, 214– 222 (Dialektik 1814/15); Schleiermacher 1830 (Anm. 7), §§ 4, 5,2, 32, 34 (KGA I/13,1, 32– 40, 43 – 45, 201– 205, 212– 215).  SW I/13 (Anm. 3), 741– 742.

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weitem nicht so ordnungsmäßig als 1824“.¹⁵ Wie so oft, so wird auch hier manches, was sich in Schleiermachers eigenen Aufzeichnungen lakonisch und enigmatisch ausnimmt, im studentischerseits mitgeschriebenen ausführlichen Vortrag deutlicher. Schleiermacher führt im „elementarischen Teil“ des Kapitels über den Kultus, der die Elemente des Kultus vor ihrer Zusammenfügung in ein organisches Ganzes zunächst einzeln vorstellen soll, aus: So werden wir sagen müssen es hat keine Noth daß wir nicht sollten auf bestimmte Principien kommen für diesen elementarischen Theil unsrer Gattung. Diesen müssen wir voranschiken und den organischen folgen lassen. Der elementarische Theil wird es damit zu thun haben zuerst was ist in allen Kirchen das gemeinsame Princip wodurch sich in allem die religiösen Gattungen unterscheiden? Das wäre das Princip der religiösen Kunstlehre überhaupt. Was für Künste vorkommen können wir in diesem Theile nicht entwikeln. Das wird das Princip des organischen Theils seyn.Wir werden daher nicht anders dabei zu Werke gehn als wiedrum ein Verfahren einschlagen das an sich unvollkommen ist aber doch für unsern Zwek genügen wird. Das ist ein vergleichendes. Diese Vergleichung können wir nicht anders anstellen als daß wir den ganzen Umfang der Kunst auf dem religiösen Gebiet vergleichen. Da gehört zuerst dies dazu daß wir uns das Gebiet der Kunst von allem fremdartigen rein halten.Wir müssen da auf etwas schon da gewesenes zurükgehn. Das eine war daß wir ausgingen von dem Gegensatz zwischen dem wirklichen Handeln und dem darstellenden Handeln wohin uns der Cultus hineinfällt. Das war nichts andres als der allgemeine Begriff der Festlichkeit. Nun finden wir den Cultus zugleich als einen Theil des allgemeinen Kunstgebiets, da fragt sich ob alles was wir im engern Sinn Kunst nennen eben so von dem geschäftigen Leben unterschieden ist und ob eine gewisse Verwandtschaft ist zwischen dem was wir in einer Beziehung Kunst nannten in andrer Beziehung aber Festlichkeit. Das zweite ist dies: Es ist schon gesagt: daß alles was Kunst ist durch Maaß und Ordnung bestimmt sei aber das ist nur so gelegentlich hingeworfen. Es giebt sich zwar als etwas allgemein geltendes von selbst zu erkennen aber auf der einen Seite in wiefern dies zu dem eigenthümlichen Wesen der Kunst gehört und in wiefern auf der andern Seite es darauf ankommt den Unterschied zwischen Kunst und religiöser Kunst zu finden das liegt uns zunächst ob zu bestimmen.¹⁶

Es folgen Ausführungen zum Verhältnis zwischen künstlerischer Tätigkeit und Geschäftsleben und dann zu dem zwischen Kunstgenuss und Geselligkeit. Wenn das nun so ist und wir also eine große Analogie finden zwischen dem Gebiet der Kunst und derjenigen Art und Weise das Leben auszufüllen welche als festliche Geselligkeit ebenfalls dem Geschäftsleben entgegengesetzt ist kann man dann sagen: daß das festliche Zusammenseyn der Menschen durch die Kunst soll ausgefüllt werden und daß alle Kunst-

 SW I/13 (Anm. 3), VIII.  Friedrich Schleiermacher, Praktische Theologie 1826, Nachschrift Bindemann (Berlin Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Archiv, Schleiermacher-Nachlass 555), fol. 19 – 19v.

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produkte für das festliche Zusammenseyn der Menschen ist? Beides bejaht sich gegenseitig aber doch wollen wir die Probe machen, indem wir von jeder Seite die Negation aufstellen. Jemand z. B. kauft viele Gemälde schließt sie in ein Gebäude ein aber läßt niemand herein. Wenn die Künstler das sehn würden so würden sie damit nicht zufrieden seyn und sagen: Die Kunstwerke könnten nur unter der Bedingung aus einer Hand in die andre gehn, daß sie für die Anschauung da seyn sollten. Denken wir ein festliches Zusammenseyn aber keine Kunst darin so kann man sich gar nichts denken, als daß die Menschen versammlet sind um zu essen und zu trinken. Das aber ist nur für das rohere Volk. Unter gebildeten Menschen können wir uns nichts anderes denken als die Kunst. – Wenn selbst in dem Gespräch die Kunst fehlt dann ist es ganz leer. Je mehr die wirkliche Kunst hineintritt desto vollkommner wird es. So wie der Künstler sich absolut verletzt fühlt wenn sein Kunstwerk der Anschauung entzogen wird, so fühlt er sich vollkommen befriedigt wenn es in diesem Totale ist. Nun könnten wir also mit Sicherheit bald von dem einen Punkt der Kunst oder dem festlichen Zusammenseyn ausgehn.¹⁷

Kunstgenuss und Geselligkeit gehören zusammen: Kunst, die nicht mitgeteilt und angeschaut wird, verfehlt ihren Zweck; kein Künstler wäre damit zufrieden, dass sein Gemälde als Kapitalanlage in einen Safe eingeschlossen wird. Geselligkeit ohne Kunst andererseits wäre ein bloßes rohes Gelage.¹⁸ – Weiter geht es darum, dass Kunst noch nicht unmittelbarer Ausdruck innerer Erregtheit ist, zur Kunst vielmehr immer auch Maß, Ordnung und Gestaltung gehören: Das zweite war: wir hatten als allgemeines Element der Kunst Maaß und Ordnung gesetzt und es fragt sich: in wiefern dies den Begriff der Kunst erschöpft oder das ein so wesentliches Gebiet der Kunst ist –? Es erscheint diese Aufgabe gewissermaßen als eine zufällige. Dieser Schein entsteht daraus daß wir eine angewandte Wissenschaft behandeln wollen und müssen ohne das vorauszusetzen, dem sie untergeordnet ist. Daß diese beiden Merkmale (Maaß und Ordnung) nicht als den Begriff der Kunst erschöpfend angesehn werden ist etwas für sich. In der Malerei wäre das gebrochne Licht und der Umriß das materiale, aber nur [dadurch] daß dies vollkommen von Maaß und Ordnung durchdrungen ist würde es Kunstwerk seyn. Wie nun Maaß und Ordnung von einander verschieden sind und wie sie zusammengehören in allen Künsten das müßten wir uns auch noch klar machen. In der Musik besteht jedes Kunstwerk aus einer Mannigfaltigkeit von Tönen. Da ist die Ordnung das Kunstwerk das Maaß aber ist eigentlich in den einzelnen Elementen für sich. Hier will es so hervorgehn als ob das eine das künstlerische ist in den einfachen das andre in den zusammengestellten Elementen. Dasselbe werden wir auch erkennen in allen übrigen Kunstgattungen.¹⁹

 Schleiermacher 1826 (Anm. 16), fol. 20v–21.  Vgl. SW I/12 (Anm. 4), 672 (Christliche Sitte 1824/25).  Schleiermacher 1826 (Anm. 16), fol. 21. Vgl. zum Dreischritt der Kunstproduktion (Begeisterung, Besinnung und Konzeption, Anfertigung) auch Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/13, Vorlesungen über die Psychologie, hg. v. Dorothea Meier, Berlin / Boston: De Gruyter 2018, 89 – 90, 41.–42. Stunde (Psychologie 1818); ders., „Ueber den Umfang des Be-

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Nun kommt die elementarische Betrachtung zu der Frage, welche Kunstgebiete im christlichen Kultus dominieren und welche bloß untergeordnet vorkommen: Was ist der Charakter des religiösen Kunstgebiets allen übrigen gegenüber? Hier müssen wir sagen: es ist nun leicht daß wir unterscheiden was für Künste in Beziehung auf die religiöse Darstellung dominiren und welche als untergeordnet erscheinen. Offenbar ist daß drei Künste im öffentlichen Gottesdienst hervorragend sind. 1) Poesie, 2) Musik (kirchlicher Gesang) 3) dann die kunstgemäße Behandlung der prosaischen Rede. Alle andern erscheinen als untergeordnet, so zunächst: die Mimik, Architectur, die bildenden Künste. Ob dies zugleich die Totalität aller Künste sind geht uns hier gar nichts an.²⁰

Was an Kunst in den Kultus Eingang findet, hat eine bestimmte stilistische Eigenart. Schleiermacher stellt zunächst fest, dass man den religiösen Stil in den verschiedenen Kunstzweigen vom weltlichen Stil unterscheidet: Wir finden die Distinction von geistlicher und weltlicher Musik, Dichtkunst und Beredsamkeit und [diese Distinction] hebt also bestimmt auf diese Weise das religiöse heraus. Wir wollen dies vorläufig so annehmen daß diese Distinction theologischen Ursprungs sei und abgesehn davon warum die religiöse Dichtung nur lyrisch ist, fragen was ist der Charakter des Religiösen als Unterschieden von allem Andern? Daß das etwas verschiednes ist ob man in einem Kunstgebiet redet von einer Mannigfaltigkeit der Gattungen oder von einer Mannigfaltigkeit des Styls ist klar. Denken wir z. B. an die Geschichts und LandschaftsMalerei so sind dies verschiedne Gattungen. In jeder dieser beiden redet man von einem strengen und laxen Styl. Eben so in der Poesie. Das Epos ist nur eine Gattung das Lyrische auch. Eine Verschiedenheit des Styls ist nicht zu verkennen, und liegt darin der eigentliche Ort des Religiösen. Ist es etwas eigenthümliches in der Kunst durch die Gattung oder durch den Styl? Da scheint es als ob der nicht in allen den Hauptkünsten auf gleichmäßige Weise könne behandelt werden. – Es gibt eine Menge von lyrischer Poesie die in dem religiösen Gebiet gar nicht vorkommen. Da scheint es also als ob das Religiöse sich mehr hinneige eine Bestimmtheit zu seyn als eine eigne Gattung. In der Musik scheint das andre wieder den Vorrang zu haben. Es kann geistliche und weltliche Oratorien geben. Da gestaltet sich die Verschiedenheit des Styls als das herrschende. In sofern die religiöse Kunst eine bestimmte Gattung ist kann man nicht sagen daß sie eine besondre Bestimmtheit von Maaß und Ordnung ist, insofern die religiöse Kunst aber ein bestimmter Styl ist ist sie auch nach einem gewissem Maaß und Ordnung. In der Beredsamkeit finden wir in allen Gattungen das Religiöse; da tritt die Eigenthümlichkeit des Religiösen als verschiedner Styl hervor in allen Gattungen. Da scheint Musik und Beredsamkeit auf der einen Poesie aber auf der andern Seite zu stehn. Ist das auch recht daß die religiöse Dichtkunst nur in der Lyrik versirt? Wenn

griffs der Kunst in Bezug auf die Theorie derselben. Erste Abhandlung“ (11. 8.1831), in: Kritische Gesamtausgabe (KGA) I/11, Akademievorträge, hg. v. Martin Rössler unter Mitwirkung von Lars Emersleben, Berlin / New York: De Gruyter 2002, 736 – 738, 741; Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/14, Vorlesungen über die Ästhetik, hg. v. Holden Kelm, Berlin / Boston: De Gruyter 2021, 581– 585 (Ästhetik 1832/33, 13.–14. Stunde).  Schleiermacher 1826 (Anm. 16), fol. 22.

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wir auf den gegenwärtigen Gottesdienst sehn haben wir Recht aber sehn wir auf das Ganze so hat es auch Dramatische Kunstwerke im Religiösen gegeben. Also müssen wir sagen: auch dieses erscheint doch nicht so wie es sich auf den ersten Anblik darstellt, sondern religiöse Poesie giebt es auch in andern Gattungen als in der Lyrischen Poesie und dann würde es auch hier darauf ankommen daß das Religiöse auch hier [als] ein besondrer Styl nicht Gattung eigenthümlich erscheint und es wird darauf ankommen zu fragen: was ist der Charakter des religiösen Styls und gibt es etwas das wir aufstellen können als ein gleich sehr in allen Kunstgebieten geltendes? – Man könnte allerdings sagen: wir sind davon ausgegangen daß alles was den öffentlichen Gottesdienst ausmacht seinem Wesen nach Darstellung ist dessen was wir das Religiöse beim Menschen nennen. Nun könnte man sagen, das ist ja eben ein Gegenstand und also muß das religiöse Gebiet auch ein besondres seyn in den Künsten vermöge des Gegenstandes. Dies muß berüksichtigt werden, nämlich so daß man fragt ob man bei andern Künsten wol so zu Werke geht wie geschehn müßte wenn wir so verführen. Wenn wir ausgehn von dem, was in allen Künsten ganz unmittelbar eine darstellende Thätigkeit ist; so müssen wir sagen: geht man bloß davon aus so erscheint die Kunst wieder in der größtmöglichen Annäherung an das Mechanische, so in der Malerei des Portrait, so in der Dichtkunst des Epos und Drama rein als Übertragung des Geschehnen angesehn. Es läßt sich als Abmessen bloß nach der Richtigkeit des Auffassens und Wiedergebens. Da ist auch eine Art des Mechanismus. Das hieße also Kunst bei demjenigen anfassen was am wenigsten Kunst ist.²¹

Worin liegt nun das Spezifische der religiösen Kunst? Ist es ihr Gegenstand? Ist das Religiöse überhaupt ein solcher? Oder umgekehrt: Gibt es ein Gegenständliches, an dem das Religiöse nicht in Erscheinung tritt? Läßt sich aber denn wirklich das Religiöse eigentlich als der Gegenstand behandeln? Was ist denn wohl der Gegenstand? Die Idee der Gottheit ist der erste aber diese an und für sich ist gar kein darstellbarer Gegenstand. Wir sagen nur daß ein Mensch religiös ist insofern und in dem Maaße als diese an und für sich nicht darstellbare Idee constitutiv ist in seinem Bewußtseyn, was sich zu erkennen giebt in der Aussage des lebendigen Verhältnißes des Menschen zu diesem Gegenstand. Da würde das Verhältniß der Gegenstand seyn. Dies aber kann auch nicht dargestellt werden als nur an einem andern. Es muß uns der Mensch in einem bestimmten Zustande gegeben werden und an diesem Zustand kann dies Verhältniß mit dargestellt werden. Dies kann verschieden seyn. Der Mensch kann erscheinen als afficirt durch etwas äußeres und da kann das Verhältniß zu Gott gar nicht hinzutreten oder es kann hinzutreten oder der Mensch kann überwiegend selbstthätig seyn also im Handeln begriffen oder es erst constituirend. Es kann auch darin das Verhältniß des Menschen zu Gott gesetzt seyn oder nicht. So ist das Verhältniß etwas irreligiöses oder religiöses. Fragen wir nun: was ist hier eigentlich das gegenständliche? so müssen wir sagen: dasjenige woran das religiöse erscheint[,] und da würde die Frage seyn: giebt es etwas gegenständliches auf dem Gebiet des menschlichen Lebens woran das religiöse nicht erscheinen könnte? Das werden wir schlechthin verneinen müssen. Also giebt es nichts gegenständliches in dem Gebiet der Kunst in sofern sie menschliche Darstellungen sind was im Religiösen nicht könnte darge-

 Schleiermacher 1826 (Anm. 16), fol. 22– 23.

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stellt werden. So sieht man daß das Religiöse in den Künsten nicht Gattung ist. Das erste um die Entscheidung zu prüfen würde dies seyn: Giebt es denn nichts aus dem Gebiete des menschlichen Lebens was als gegenständlich angesehn aber durchaus nach dem was als Religiöses angesehn werden kann widersprechend sei? Das sehn wir als Eigenthümliches des Menschen an daß ein Verhältniß zum höchsten Wesen in und für ihn gesetzt ist. Also werden wir sagen: wenn es nun etwas im Menschen gibt was rein animalisch, so werden wir sagen das sei ein gegenständliches worin das religiöse nicht sei. Das ist aber nur auf untergeordnete Weise wahr.Was dem Menschen animalisch ist das soll auch nicht vollkommen einen Moment ausfüllen. Es muß immer auch ein menschliches mit dabei seyn. Nicht durch die Natur der Sache aber durch die rüstige Wahl des Künstlers in der Darstellung ist dies aufgeschlossen. – Wir setzen etwas in den Menschen als rein realen und positiven Widerspruch gegen das Verhältniß des Menschen zu dem höchsten Wesen das Böse. Wie ist es damit? Niemand wird z. B. sagen: daß die Darstellung der Reue irreligiös sei. Denn ohne das Böse gibt es keine Reue. Ja sagt man das Böse ist in der Vergangenheit gesetzt. Denken wir uns den Zustand der Versuchung so wird auch niemand sagen daß der keine religiöse Darstellung seyn kann. Ja sagt man, da ist das Böse als das Künftige gesetzt. Beides kann man nicht läugnen sondern muß es annehmen.Wenn wir eine böse Handlung darstellen und nichts als diese so wäre das ein Gegenstand der vom Gebiet der religiösen Darstellung ganz ausgeschlossen wäre. Ja sagen wir 1) wenn es möglich wäre daß in dem Bösen bei der Darstellung Zukunft und Vergangenheit zu trennen ist und 2) wenn es möglich wäre daß das Böse allein den ganzen Moment ausfülle. Je mehr die Versuchung in der bösen Handlung gesetzt ist desto weniger wird sie ein Gegenstand der religiösen Darstellung. Wenn wir diese beiden Extreme doch nicht anders als so ansehn können so müssen wir sagen: an und für sich ist nichts was in das Gebiet der religiösen Darstellung fällt davon absolut ausgeschlossen in das Gebiet eingehn zu können und daraus folgt weil die religiöse Darstellung an allem Darstellbaren seyn kann [kann] sie keine eigne Gattung bilden. Nicht alle einzelnen Theile der Darstellung haben ein gleiches Verhältniß zu der Idee der Darstellung denn einige haben ein mittelbares andre ein unmittelbares Verhältniß, unter das mittelbare kann auch das der Idee des Gegenstands entgegengesetzte gehören. Dies angenommen ist die Sache vollkommen entschieden.²²

Wenn also das Spezifische der religiösen Kunst nicht im Gegenstand liegt, muss es in der Darstellungs- und Behandlungsweise liegen. In jedem Kunstwerk verhalten sich Einheit und Mannigfaltigkeit auf bestimmte Weise zueinander. Nun fragen wir also: die religiöse Darstellung in den verschiedenen Künsten kann sich nicht unterscheiden durch den Gegenstand allein sondern die Ausrichtung der Gegenstände ist dann nichts andres als die Vollkommenheit des Kunstwerkes, aber das religiöse Gebiet an und für sich kann sich nur unterscheiden durch die Art und Weise wie das gegenständliche behandelt wird. Dies ist aber eigentlich eine ganz leere Formel. Wie sollen wir zu einer bestimmten Anschauung gelangen? Überall in jedem Kunstwerk ist eine Einheit aber auch eine Mannigfaltigkeit und es entsteht die Frage: wie sich dies beides gegen einander verhält? Da können wir uns die größte Differenz denken aber dennoch wird die Einheit immer domini-

 Schleiermacher 1826 (Anm. 16), fol. 23 – 23v.

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ren. Kann es auch religiöse Darstellungen geben, die den Charakter haben, daß die absolute Mannigfaltigkeit so darin dominirt daß die Einheit nur da ist um diese Mannigfaltigkeit zu erschaffen? Nein. Das Gegenständliche ist hier dasjenige woran ein andres verborgen erscheinen soll. Das ist die Einheit wozu sich die Mannigfaltigkeit nur als Mittel verhält. Da fällt die eine Gattung nun schon ganz aus dem religiösen Gebiet heraus. Das sind überall nur untergeordnete Gattungen der Kunstwerke in welchen so die Manigfaltigkeit hervortritt und die Einheit zurüktritt. Nun haben wir so viel gewonnen daß wir sagen: die religiöse Darstellung gehört überall dem Gebiet der höheren Gattungen an. Dies erfodert eine ganz verschiedne Behandlung denn es ist ganz etwas andres wenn ich sage: ein Kunstwerk hat nur die Tendenz daß aus dem chaotischen eine Manigfaltigkeit hervortrete in der ich in der Einheit eine Befriedigung finde als wenn ich sage: es ist die Tendenz des Kunstwerks daß die Mannigfaltigkeit die Befriedigung gewähre und die Einheit dem ersten Eindruk diene. Wir wollen von einzelnen Punkten ausgehend etwas allgemeines feststellen. Den Begriff von Maaß haben wir auf die einzelnen Elemente bezogen. Gehn wir nun auf diese zurük so werden wir sagen: es giebt in den einzelnen Elementen gewisse Extreme die wir im Gebiete der religiösen Kunstausübung nicht leicht finden werden, z. B. in der religiösen Musik werden die Extreme der höchsten und tiefsten Töne Schnelligkeit und langes Aushalten immer nur selten oder als Ausnahmen erscheinen. Eben so was die Ordnung betrifft so werden wir sagen: daß es hier auch etwas gebe was vom religiösen Kunstgebiet ausgeschlossen ist. Z. B. in der Mahlerei so wie etwas in einem gewissen Extrem bunt ist, so wird das gegen die Natur des religiösen Gebiets in der Kunstübung seyn. Dies ließe sich durch mehrere Beispiele hindurch führen. Wichtiger aber ists den Grund davon aufzusuchen warum wir im religiösen Gebiet dies verwerfen. Ein Maximum z. B. von Höhe oder Tiefe Schnelligkeit der Bewegung und langem Aushalten sind Virtuositäten des Organs was als selten angesehn und durch lange Übung nur zu erhalten ist. Natürlich zieht dies wo es vorkommt die Aufmerksamkeit auf sich. Dies ist der Grund: das Hervortreten der organischen Virtuosität so daß es die Aufmerksamkeit auf sich zieht das ist das was wir in dem religiösen Gebiet nicht wollen. Denken wir z. B. den religiösen Redner in seinen mimischen Bewegungen ausgeartet in künstlichen Stellungen denen das Absichtliche gar nicht abzusprechen wäre so werden wir sagen dies kann auf dem religiösen Gebiet nicht seyn. Die Aufmerksamkeit soll in dem religiösen Gebiet nicht auf dieses gelenkt werden.²³

Am Gegenständlichen, der Vielheit, soll in der religiösen Kunst das darin Verborgene aufgezeigt werden, die Einheit. Damit ist alles das aus ihr ausgeschlossen, was die Aufmerksamkeit auf das Einzelne lenkt: Grellheit, extreme Höhen und Tiefen, technische Virtuosität um ihrer selbst willen. Das entspricht dem, was in der Kunsttheorie der strenge Stil ist. In der religiösen Kunst nennt man die Strenge, den Verzicht auf Sinnlichkeit und Üppigkeit, der nicht zuletzt von der religiösen Rede gefordert wird, Keuschheit: Wir haben eine allgemeine Eintheilung gemacht in der Kunst zwischen strengerem und loserem ernsten und weichem Stil und sagten das religiöse Gebiet liegt mit in dem strengen

 Schleiermacher 1826 (Anm. 16), fol. 23v–24v.

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Styl. Ist das eben angeführte nur ein Eigenthum des strengeren Styls oder ist es ein Eigenthum der geistlichen Darstellung? Ob diese Enthaltsamkeit von allem was von dem strengeren Styl gefodert wird gilt, wollen wir unentschieden lassen. Aber auf dem religiösen Gebiet wird sie gewiß gefodert. Ist das nun ein Grund welcher dem religiösen Gebiet ausschließend zukommt? Jeder würde sagen: es sei nicht abzusehn warum es nicht mancherlei Gattungen geben könnte (in den verschiedenen Künsten) des strengeren Styls ohne daß die Aufmerksamkeit auf sich gezogen werde. Worauf bezieht sich denn die Sache auf dem religiösen Gebiet der Kunstausübung? Gehn wir davon aus: die religiöse Kunst ist nichts andres als die wohlgeordnete Darstellung desjenigen Innern was wir die religiöse Darstellung nennen, weil dies ein rein Innres ist so ist es an und für sich selbst ein nicht darstellbarer Zustand. Eigentlich ist in aller religiösen Darstellung die durch die Rede doch die Hauptsache. Da müssen wir sagen: die Rede gibt den Gedanken, der Gedanke an und für sich ist nicht religiös sondern dies ist das unmittelbare Bewußtseyn von dem Verhältniß zu Gott und da mögen wir sagen: Wenn wir den einzelnen Gedanken nehmen so ist er nicht als religiös denkbar wenn wir nicht mehrere Gedanken zusammenstellen. Wenn wir auf andre Gattungen der Rede sehn so ist das gar nicht so: Im Epos z. B. ist der Gedanke unmittelbar der Ausdruck der Thatsache. Die Rede ist wieder nur der Ausdruck des Gedanken und steht also noch weiter entfernt von dem Mittelpunkte des Ganzen. Die Aufmerksamkeit auf dieses äußerste lenken ist in dem religiösen Gebiet streng zu vermeiden. Wenn wir zurükgehn auf die Vorstellung von dem festlichen Zusammenseyn der Menschen und sagen: so will sich dadurch und durch eine Menge von Feierlichkeiten bewußt werden wie sich der ganze Mensch entwikelt hat. Je näher hieran eine Annäherung der Kunst liegt desto mehr muß jenes vorhanden seyn. Dies wurde vorhin Enthaltsamkeit genannt und dies ist ein Ausdruck der sich sehr natürlich ergibt. Von Innen heraus aber betrachtet paßt der Ausdruk nicht und wir müssen sagen: wo der Name Enthaltsamkeit ist, da ist dieser ein Fehler denn dieses Enthaltsame setzt eine Lust voraus. Wenn wir richtig fassen wollen so müssen wir einen andern Ausdruck substituiren und da liegt dann ganz nahe der Ausdruck: die religiöse Beziehung muß ganz keusch seyn. Was wir gefühlt haben als solches was auf der religiösen Kunstausübung vermieden werden muß das ist nicht bloß die organische Virtuosität sondern etwas was eine sinnliche Wirkung hervorbringt. Nun aber soll [in] der religiösen Darstellung gar keine sinnliche Erwartung hervortreten. – Der Musiker muß eine technische Virtuosität haben. Eben so der Mimiker. Wenn wir nun übergehn von dem einzelnen der organischen Virtuosität zu der technischen Vollkommenheit, können wir nun sagen: das gehöre auch zur religiösen Vollkommenheit daß die technische Vollkommenheit nicht vorhanden sei? Das wäre wol nicht zu behaupten. Der Kenner erkennt aus dem Gegebnen dennoch die technischen Vollkommenheiten in dem Kunstgebiet. Das Wesen der Keuschheit der religiösen Darstellung ist daß sie es überall nicht anlegen darf auf ein Hervortreten der technischen Vollkommenheit. – Dies also können wir als charakteristisches Merkmal ansehn und wenn in einer religiösen Rede das vorkommt was man gewöhnlich schöne Stellen nennt da ist schon eine Abweichung von diesem Grundsatz²⁴

Ebenso darf nichts vorkommen, das bloße Ausschmückung ohne weitere Beziehung auf die darzustellende Einheit ist (das Gesetz der Simplizität). Allerdings

 Schleiermacher 1826 (Anm. 16), fol. 24v–25v.

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fragt sich, ob es hierbei noch etwas Spezifisches gibt, das die christliche Kunst von der religiösen Kunst sonst unterscheidet: Von demselben Punkt ausgehend daß es ein rein Innres ist was hier zum Bewußtseyn kommen soll der Thätigkeit so sagen wir: Jedes Kunstganze besteht immer aus einer Masse von Einzelnen. Dies schadet aber nichts und kann keinen verschiedenen Charakter geben. Je mehr das Einzelne in der Darstellung sich auf das Gemeinsame der Darstellung selbst fixirt dominirt die Einheit.Wie steht es um die religiöse Darstellung? Die religiöse Thätigkeit versirt eben so auf dem religiösen Gebiet. In der Composition durch den Redner ist eine Einzelheit welche ohne Beziehung auf die gemeinsame Einheit für sich hervortritt entweder eine Abschweifung oder ein loser ganz für sich hingestellter Schmuk. In der religiösen Darstellung werden wir sogleich beides verneinen. Nehmen wir in dem Religiösen Einzelheiten in der Composition die nichts als Schmuk sind so ist das gegen den Charakter der religiösen Darstellung. Eben so in der Mahlerei – denkt man sich ein Gemälde mit einer Menge von Figuren, so werden in dem religiösen Gemälde die Figuren der Beziehung auf das Ganze müssen untergeordnet seyn. – So werden wir dies als den allgemeinen Charakter der religiösen Darstellung feststellen können. Aber nun entsteht eine schwierigere Frage: Wir sind von dem allgemeinen Begriff des Religiösen ausgegangen. Aber mit unsrer Theorie befinden wir uns nicht auf dem Gebiete des religiösen überhaupt sondern auf dem Gebiete des Christlichen und es fragt sich nun wie ist es mit der religiös christlichen Darstellung? Sie wird diesen Charakter haben müssen aber dadurch daß sie es hat ist sie noch keine christliche. Kommt das bloß von dem Gegenstand und so {weiter}? Die Frage ist deswegen schwierig weil die Sache vorausgesetzt es müsse einen solchen specifischen Charakter des christlichen in der Darstellung auch geben die Aufgabe schon complicirter ist und es leichter war durch Zusammenstellung der religiösen und weltlichen Darstellung etwas über den Charakter der ersten aufzustellen. Einen Punkt haben wir beiläufig schon angeknüpft. In dem der Vergleichung wegen gegenübergestellt wurde wie eine heidnische einer christlichen Gemeine gegenübergestellt ist, (Kreuztragung versus Bachanal) so könnte man sagen: das Bachanal ist auch ein religiöses nur ein heidnisches und man könnte sagen den Unterschied zwischen religiöser und weltlicher Darstellung haben wir ganz ignorirt. Offenbar haben wir uns da schon auf den christlichen Standpunkt gestellt. Für uns ist jenes bloß ein weltliches. Für andre wären sie aber religiös. Wir können nicht läugnen daß die Differenz zwischen religiösen Gebieten erstaunlich groß erscheint. Die mythologischen Religionen haben einen überwiegend sinnlichen Charakter. Für die Regel der Simplicität ist gar nicht derselbe Grund vorhanden, sondern alle Beziehung auf eine bestimmte Gottheit wenn sie den Charakter ausdrüken soll so muß sie als eine Einzelheit erscheinen. Auch spielt in dieser das leibliche eine weit größre Rolle. Daher wird auch der Kanon der Keuschheit auf jenem Gebiete gar nicht seine Anwendung finden. Wenn wir das ganze Gebiet jener welthistorischen Religion betrachten so werden wir dies Resultat erhalten: Wir können alle mythologischen Religionen so dem Christenthum gegenüberstellen daß sie von diesem aus ganz als weltlich erscheinen. Wir finden aber Religionen die in gewisser Hinsicht dem Christenthum weit näher stehn die monotheistischen jüdische und muhamedanische. Da müßte der religiöse Charakter der Darstellung im Vergleich mit dem heidnischen dem christlichen weit näher stehn. Diese Religionen sind aber eigentlich gar nicht Kunst erzeugende. Von der jüdischen scheint dies mehr Ausnahmen zu erleiden; dann finden wir religiöse Poesie und Musik aber die Poesie ist so unvollkommen in Beziehung auf die Unterscheidung der gebundenen und ungebundenen

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Rede daß man doch sagen muß es ist eine sehr untergeordnete Stufe der Kunst und das Musikalische muß demnach eben so unvollkommen gewesen seyn. Im Muhamedanismus ist alle Kunst der Rede nicht religiös weil sie gar nicht in dem öffentlichen religiösen Leben vorkommt und ist daher mehr ein Produkt der Speculation so daß auch darauf wir nicht zu sehn brauchen.²⁵

Die mythologischen Religionen sind im Vergleich mit dem Christentum viel sinnlicher. Die dem Christentum näher verwandten monotheistischen Religionen Judentum und Islam wiederum haben gar keinen eigenen Kunsttypus ausgebildet. – Wenn es also offenbar ein spezifisch christliches Kunstgebiet gibt, was und mit welchen Mitteln kommt darin zur Darstellung? Das, meint Schleiermacher, hänge davon ab, was man für das Wesen des Christentums hält: Wir haben nun eine zweite verwandte Frage aufzustellen: welches denn nun die Darstellungsmittel sind für das eigenthümlich christliche? Hier müssen wir etwas gemeinschaftliches haben was wir zum Grunde legen können denn wenn es nicht ein gemeinschaftliches Anerkennen gibt dessen was in der religiösen Darstellung liegt so würden wir kein Gebiet zur Anwendung der obigen Regeln haben; sind aber die Ansichten von dem eigenthümlichen Wesen des Christenthums so verschieden so würde es mit der Theorie nicht besser stehn. – Hier wollen wir im Allgemeinen uns klar machen was für ein Gebiet wir vor uns haben. Denn was wir jetzt zum Grunde legen muß die Entscheidung geben nicht nur für den elementaren Theil sondern auch für alle einzelnen Disciplinen denen die Darstellung des christlichen Cultus zum Grunde liegt: d. h. die praktische Theologie hängt ihrer Entwicklung nach von der dogmatischen Grundansicht ab. Wer das Sittliche zu Grunde legt dem erscheint alles nur als secundär was nicht ursprünglich mit dem Sittlichen zusammenhängt. Wenn einer gewisse theoretische Lehren in bestimmten Buchstaben aufgefaßt für das Wesen des Christenthums hält so ist für den alles untergeordnetes Darstellungsmittel was nicht selbst ein Theil ist jener Lehre. Da haben wir zwei einseitige Ansichten von dem Wesen des Christenthums die theoretische und praktische.²⁶

Wenn aber der Inhalt der christlichen Kunst der christlich-fromme Gemütszustand ist, dann fragt sich weiter, ob der in sich einfach oder mannigfach und ob es, wenn letzteres der Fall ist, mannigfacher Darstellungsmittel bedarf: Auf die Darstellung durch die Rede müssen wir vorzüglich Bezug nehmen. Es fragt sich zuerst: woher, von welchem Princip aus sollen wir dies ausmitteln und 2) in wiefern wird dadurch etwas ganz besondres für das religiöse Gebiet der Darstellung gesetzt oder in wiefern muß auf ein Allgemeines für die Darstellung überhaupt zurückgegangen werden? Da müssen wir auf das Verhältniß sehn zwischen den Darstellungsmitteln und das Darzustellende. Das Darzustellende ist der christliche Gemüthszustand wie ist dieser nun einig oder

 Schleiermacher 1826 (Anm. 16), fol. 25v–26.  Schleiermacher 1826 (Anm. 16), fol. 28 – 28v.

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manigfaltig? In allen andern Künsten als auf dem religiösen Kunstgebiet ist da das darzustellende ein ähnliches oder ganz verschiednes und also auch das Darstellungsmittel dasselbe oder ein andres? Sagen wir das darzustellende ist der christliche Gemüthszustand so finden wir Abstufungen, christlich wäre das Merkmal für unsern individuellen Gegenstand, fromm wäre das Merkmal für das religiöse Gebiet dieses Zustandes so müßte also die Darstellung dieselbe seyn? Ist das wahr? In gewissem Sinn werden wir es wohl überall annehmen können.Von allen Darstellungen durch die Rede ohne Rüksicht auf religiöses oder nicht religiöses Gebiet werden wir es unmittelbar behaupten können. Denn was man aus der Darstellung erkennt ist die Folge eines Gedankenzusammenhangs die ein wirkliches Lebensmoment darstellen. Sehn wir auf andre Künste so geht da eine größre Differenz hervor. Musik gleich Gemüthszustand und wenn dieser ein andrer wird [wird] auch die Ausübung eine andre. In den bildenden Künsten scheint es etwas andres aber eigentlich ist es erstens der Zustand einer besondern Verwandtschaft zwischen dem Menschen als Künstler und dem besondren Gegenstand und dem besondren Verhältniß das in der Darstellung ausgedrükt ist. Also werden wir es eigentlich als etwas ganz allgemeines setzen können. Es kommt nun an auf Differenzen in dem darzustellenden. Jede Kunst hat an und für sich ihre Totalität von Darstellungsmitteln wodurch sie eben eine besondre und bestimmte Kunst wird. Die Sprache ist der Inbegriff der Darstellungsmittel für die Redenden Künste und die Töne der Inbegriff der Darstellungsmittel für die Musik. Bei den bildenden Künsten gerathen wir in Verlegenheit, sollen wir sagen: der Inbegriff der sichtbaren Gegenstände oder der Inbegriff dessen wodurch die Gegenstände sichtbar werden für die Darstellungsmittel. Beides muß verbunden werden. Form und Licht ist nicht zu trennen. Gehn nun in die religiöse Darstellung Elemente aus verschiedenen Künsten ein so wird die Regel in der Ordnung verschieden seyn aber die Regel für die Darstellungsmittel und [das] darzustellende kann doch dieselbe seyn. In wiefern ist das Darzustellende ein differentes? Voraussetzend daß die Theorie gewinnt wenn wir aus dem gemeinschaftlichen das religiöse als specielles entwikeln so müssen wir dies versuchen.²⁷

Im menschlichen Leben, dessen Momente die Kunst darstellt, ist die Hauptdifferenz diejenige zwischen Zu- und Abnahme, allgemeiner ausgedrückt: zwischen Erhebendem und Niederschlagendem. Die Differenz dieser beiden Momente gibt es auch in der Frömmigkeit; nach Schleiermachers Ansicht ist es die Hauptdifferenz bei den religiösen Gemütszuständen; sie ergibt sich aus dem Zusammensein des höheren Bewusstseins mit dem sinnlichen Bewusstsein.²⁸ Christlich verstanden, sind diese Gemütszustände das Bewusstsein der Gnade und Erlösung und das Bewusstsein der Sünde und Sündhaftigkeit.²⁹ Beides ist tatsächlich in

 Schleiermacher 1826 (Anm. 16), fol. 28v–29.  Vgl. KGA II/13 (Anm. 19), 79 – 81, 33.–34. Stunde (Psychologie 1818); KGA II/14 (Anm. 19), 574– 578 (Ästhetik 1832/33, 11.–12. Stunde).  Vgl. z. B. SW I/12 (Anm. 4), Beilage, 7, 14– 19, 25 – 26, §§ 18, 43 – 55, 74– 78 (Christliche Sitte 1809/10); Schleiermacher 1830 (Anm. 7), §§ 5, 29, 62– 63, 66 – 67 (KGA I/13,1, 40 – 51, 190 – 193, 391– 398, 405 – 411); Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Band 2, Berlin: Georg Reimer 21831, §§ 94, 96,3,

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jedem zusammen da, und beides muss in jedem Akt des christlichen Kultus zur Darstellung kommen. Aber (um auf die weiter oben aufgeworfene Frage zurückzukommen) erheischen sie auch verschiedene Darstellungsmittel? Was ist die größte Differenz des durch die Kunst darzustellenden, und wenn das darzustellende Lebensmomente sind so ist auf der einen Seite eine Äußerung gegeben auf der andren eine unendliche Manigfaltigkeit und da müssen wir Ausgleichung suchen in einer bestimmten Vielheit. Nun fragt sich: ist eine solche bestimmte leicht übersehliche Differenz in der Art wie das Leben eine solche Menge von Manigfaltigkeit und Äußerung wird? Hier bietet sich gleich als durchgehendes dies dar: wenn wir das Leben als verschiedenes in seiner Genesis betrachten, so ist es von Anfang an ein Zunehmendes und dann wenn es entwickelt ist ein abnehmendes bis es verschwindet. Jede Lebensäußerung muß den Charakter an sich tragen entweder in einer Lebenszu oder abnahme. Dies ist nicht so als ob sich diese Duplicität in zwei solche Hälften zerschnitten fände. – Wenn wir dies allgemein ausdrüken wollen so müssen wir sagen: wir haben Lebensmomente von zwei entgegengesetzten Charaktern die erhebenden und niederschlagenden (zu und abnehmenden). Ist darin eine Differenz die sich als Differenz des darzustellenden eben so gut in der weltlichen als religiösen Darstellung findet. Es wird niemand läugnen, wenn wir sagen: der Frömmigkeitsgehalt in irgend einem Lebensmomente ist kein andrer als ein dem Bewußtseyn des höchsten Wesens inhärirender Moment. Denn wenn wir ihn auch Frömmigkeitsmoment [nennen], was ist denn darin der Gegensatz auf den wir eben gekommen sind von der allgemeinen Form des erscheinenden Lebens überhaupt? Wir müssen die Sache so stellen: Wenn sich in einem Momente der mit einem Gehalt der Frömmigkeit gesetzt ist ausspricht die zunehmende Richtung dieses Bewußtseyns mit allen übrigen zu verbinden so erscheint dadurch diese besondere Function, die Frömmigkeit als ein Zunehmendes. – Ob dies mit dem weltlichen auch so ist wäre die zweite Frage. Gehn wir von dem früheren wieder aus: daß der eigentliche Ort für alle Kunstdarstellung das gesellschaftliche Leben ist – so müssen wir sagen: das hat für unser Gebiet seine leichte Anwendung. Je mehr die religiöse Darstellung auf das gemeinsame sich bezieht um so mehr muß auch was in der Darstellung hingeht in dem gemeinsamen Leben seinen Grund haben. In Beziehung auf die übrigen Gebiete müssen wir sagen: diese Differenz werden wir in jedem Lebensverhältniß finden. Gibt es wol in dem religiösen Gebiet des Christenthums eine größere Differenz der Darstellung als diese? Von Schleiermachers Ansicht vom Christenthum aus, gibt es keine größre. Überall wo im Gemüthszustande die Sündhaftigkeit hervortritt und die Erlösung zurüktritt da ist der Charakter das niederschlagende und wo die Erlösung hervor und die Sündhaftigkeit zurüktritt das ist der Charakter des erhebenden. Nun müssen wir wieder sagen: daß das ursprüngliche ein rein elementarer Gegensatz ist; es ist der Gegensatz des darzustellenden in sich selbst. Der allgemeine Typus des religiösen Lebens ist so gestellt daß man die Sündhaftigkeit der Natur als etwas erst in die Erscheinung tretendes und dann ist die Hinsicht der göttlichen Gnade als das Zweite, als ein Wendepunkt. Hier ist das rein elementare von zwei entgegengesetzten Formen einzelner Lebensmomente. Wie in jedem Lebensmoment eigentlich das ganze Leben erscheint, so ist auch überall der religiöse Lebensgehalt

100 – 101 (KGA I/13,2, Der christliche Glaube. 2. Auflage (1830 – 1831), hg. v. Rolf Schäfer, Berlin / New York: De Gruyter 2003, 52– 58, 67– 68, 104– 120).

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verbunden mit allen andern religiösen Funktionen und kann auch nicht anders erscheinen als mit diesen in Verbindung. In der Darstellung durch die Rede da läßt sich das erste auch nicht anders als unter der Form der Betrachtung geben und also für unser Gebiet der Darstellung verschwindet jene Differenz wieder.Wenn wir die Sache betrachten in Beziehung auf den öffentlichen Cultus, zu fragen: kann jemals ein solcher ganzer Akt ausschließend das eine oder das andre seyn? so wird jeder dies verneinen und sagen: denken wir uns solchen Akt ganz und gar in dem Zustand des Niederschlagenden so müßte man erdrükt werden, wollten wir das entgegengesetzte sagen: so würde durch die Darstellung der Einzelne ganz und gar aus dem Gebiete der Wirklichkeit herausgesetzt werden, und die Darstellung für das übrige Leben würde eigentlich nichts seyn. Nun stellen wir uns die Frage: ob so unsre Darstellungsmittel bestimmt gesondert werden? Da ist die Antwort nicht leicht.³⁰

Schleiermacher lässt die Frage erst einmal unbeantwortet und geht zu den einzelnen Künsten über. Musik und Mimik sind im christlichen Kultus nur begleitende Künste, sie begleiten die Sprachformen der Poesie und der prosaischen Rede. Die religiöse Poesie hat zu ihrer natürlichen Begleitung den Gesang und im Gebiete des Cultus gibt es eigentlich keine Poesie, nun ist aber Musik da also ist schon das andre nicht ganz ausgeschlossen. Die Praxis ist davon verschieden. Es gibt kirchliche Gesellschaften die die Musik ganz ausschließen, andere lassen sie zu, aber es gibt allerdings eine Überladung der religiösen Poesie welche schwächt eine zu große Attraktion nach der andern Seite hin statt findet. Wie ists mit der religiösen Rede? Hat die gar keine solche Begleitung? Sie existirt nur im religiösen Vortrag. Im lebendigen Vortrag liegt schon eine begleitende Kunst die Mimik der Stimme. Ist die Mimik der Stimme unentbehrlich so ist es auch die Mimik der Gebehrde wobei es aber auch ein Extrem gibt vor dem man sich hüten muß. Auch finden wir beides verbunden. Die Musik komt auch wohl vor in Verbindung mit der prosaischen Rede und auf [der] andren Seite kommt die Poesie auch mit der Mimik verbunden vor aber das liegt außerhalb des religiösen Cultus. Wenn wir uns fragen worin liegt der Grund daß im Gebiet der religiösen Darstellung diese an und für sich nur begleitend vorkommenden Künste auf ein bestimmtes Maaß beschränkt sind, so ist bekannt daß es eine Ansicht gibt die dies so ausdehnt daß Mimik und Musik (bloß Instrumentalmusik) auf nichts gebracht werden muß. Hinsichts der Musik führten dies die Reformirten besonders ein. – Manche großen Kanzelredner haben sich keine begleitende Bewegung der religiösen Rede erlaubt. – Wir wollen bei der Mimik anfangen und fragen worauf denn das beruht, aber wir müssen erst fragen wie es um den Zusammenhang zwischen beiden steht. Die Rede ist ein rein geistiger Akt der aber nur auf leibliche Weise vollzogen werden kann. Die Organe womit er vollzogen wird sind die Stimmwerkzeuge. Unter mimischer Bewegung versteht man nun gewöhnlich die Begleitung andrer Werkzeuge als die der Stimme. Es würde sich nicht leicht jemand finden der behauptete es wäre gar keine Geberdenmimik zuzulassen und so auch keine Verändrung der Stimme. Es würde sonst Monotonie entstehn. Die Stimme müßte immer denselben Ton halten, dieselbe Stärke haben. Das wäre die völlige Bewegungslosigkeit. Dies als Maximum ist eben Monotonie. Kann jemand das für Recht halten? Das entgegengesetzte Extrem

 Schleiermacher 1826 (Anm. 16), fol. 29 – 30.

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müssen wir gleich gegenüberstellen. Da setzt sich gleich zweierlei ab. Es gibt eine Mannigfaltigkeit von Bewegung der Stimme die einen leidenschaftlichen Charakter hat. So wie wir dies bemerken beschleunigt und erhebt sich die Stimme welche sinkt so bald die Leidenschaften sich legen. Die religiöse Rede als geistiger Akt kann durchaus nicht leidenschaftlich seyn und also würde auch die Leidenschaft der Stimme in der religiösen Rede nicht statt finden können. Es gibt eine Manigfaltigkeit in der Bewegung der Stimme die das ist was wir manierirt nennen, insofern es absichtlich oder angewöhnt ist. Das absichtlich manierirte muß durchaus nicht statt finden; denn das ist solche Art der Unschönheit die im Gebiet der religiösen Darstellung noch verwerflicher ist als irgend anderswo. Es setzt nämlich dies voraus daß eine Aufmerksamkeit auf das an und für sich gewandt seyn soll; und dies ist gegen den Kanon der Keuschheit. Es geht auf das Leibliche und dies soll nur dienend seyn.Was die Mannigfaltigkeit betrifft die aus schlechter Gewöhnung geschieht so finden wir dies zwar häufig aber rechtfertigen würde es niemand. Es gibt also hier ein Extrem was vermieden werden muß aber wird man sagen: um dies recht sicher zu vermeiden soll man die Monotonie einführen? Gewiß nicht. Wir sind so auf ein mittleres Gebiet gewiesen. Gibt es einen Menschen für den das ein natürlicher Zustand ist monoton zu sprechen? Wenn man solch einen sich denken soll so muß ich sagen: es muß ein geistig ganz unbewegter Mensch seyn und ein gewisses Maximum an Phlegma haben.Wenn wir auch dies annehmen, so wird doch jeder sagen: Wenn er sich selbst solchen Menschen denkt in dem Akt der religiösen Mittheilung so müßte doch darin das Interesse der Sache das Phlegma besiegen, und die Monotonie könnte nicht natürlich seyn. Also entweder ist die Monotonie etwas künstlich gemachtes dann schon an sich zu verwerfen als etwas an und für sich die Aufmerksamkeit in Anspruch nehmendes, oder es muß ein Mangel an Interesse der Sache seyn. Die absolute Monotonie, ist daher so gut zu verwerfen als das entgegengesetzte Extreme. Eine Mimik der Sprache gibt es also. Das Interesse auf der einen Seite am Gegenstande auf der andren am Auffassen desselben bringt von selbst eine Mimik der Bewegung hervor die der Rede folgt. – Wir haben schon zugestanden: Die Bewegung andrer Theile als der Stimmwerkzeuge hänge nur auf untergeordnete Weise mit der Rede als geistiger Akt zusammen. – Gebe es gar keinen solchen Zusammenhang dann sollten in der Religiösen Darstellung auch gar keine andren Bewegungen vorkommen. Nun fragen wir: ob es einen solchen Zusammenhang gibt? so müssen wir sagen: es gibt Bewegungen die ihrer Natur nach Leidenschaft sind die dürfen aber nicht statt finden, und nicht That werden. Einen solchen Zusammenhang mit diesen kann es nicht geben. Denn die religiöse Mittheilung kann durch keine leibliche That unterstützt werden. Aber ist das jemals ein natürlicher Zustand daß einer absolut bewegungslos spricht? Auf allgemeine Weise betrachtet müssen wir sagen das würde ein Extrem voraussetzen. Denn die Erfahrung ergibt dies: daß es Gemüthsbeschafenheiten gibt die ein stärkeres Maaß an Bewegungen in der Begleitung der Rede unabsichtlich hervorbringen und eben so ein schwächeres, aber die gänzliche Bewegungslosigkeit ist unnatürlich.Was sind es für Bewegungen die That werden wollen? Das ist der Ausdruk. Ist es wohl denkbar als natürlicher Zustand daß jemand spricht so daß Bewegung in seiner Stimme ist aber Bewegungslosigkeit in seinen Gesichtszügen? Nein. Denn das Interesse an der Sache und an dem Zuhörer drängt die Bewegungslosigkeit zurük, die mit der Monotonie auf Einer Linie steht. – So wie wir uns ein höheres Maaß an Bewegung in Gesichtszügen aber Bewegungslosigkeit im übrigen Körper denken so geht das wieder nicht recht, sondern so wie eine körperliche Bewegung eingeleitet ist wird sie auch durch ein bestimmtes Maaß fortgeführt auf die übrigen Bewegungen des Körpers, aber nicht bis zum Extrem. Das Auf und Abgehn auf der Kanzel ist nicht zu billigen aber dies ist nur conventionell; in südlichen Gegenden geschieht

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es; in einigen katholischen Gegenden auch. Welches sind denn die Grenzen? Haben wir qualitative Grenzen gefunden? Nein. Die Grenze ist qualitativ wird aber zugleich quantitativ. Die Sache ist diese: der leidenschaftliche Zustand ist an und für sich betrachtet etwas in einem höhern Grade leibliches; weil seine leibliche Äußerungen schon im Gebiet des Blutrundlaufs liegen die durch das Leidenschaftliche des Zustands immer afficirt werden. Sagen wir nun das ist die Grenze so werden wir das rechte getroffen haben – z. B. Es gibt kein Organ was so geistig ist als das Auge aber es gibt doch Bewegungen des Auges die aus jenem leidenschaftlichen Bewußtseyn entspringen und mit der {nahihten} oder zurükgedrängten Respiration zusammenhängen. Überall wo Zorn Wollust etc sich im Auge abspiegelt da sind die Bewegungen quantitativ. Das ist eigends das Eine bestimmte Maaß des Mimischen daß alles was seinem Charakter nach Leidenschaft ist durchaus ausgeschlossen seyn muß. Das quantitative daraus ergibt sich von selbst, denn alle Bewegungen werden beschleunigt sobald die Respiration und Blutumlauf beschleunigt sind. Da kommen wir zurük darauf: daß das Gebiet der religiösen Darstellung durchaus alles Leidenschaftliche ausschließt.³¹

Ein weiteres Kunstgebiet, das im christlichen Kultus (wenigstens im Protestantismus) nur untergeordnet ist, ist die bildende Kunst: Wie steht es mit den bildenden Künsten? Diese scheinen, weil sie etwas bleibendes sind in einem eigentlichen Akt des Cultus gar nicht hineinzugehören und es kann uns die Frage entstehn in wiefern können sie vorkommen innerhalb des für den Gottesdienst bestimmten Raums. Aber sehn wir auf den Cultus im Allgemeinen so sehn wir daß die bildenden Künste einen großen Platz darin einnehmen. In dem Katholischen auch griechischen Cultus finden wir die Werke der bildenden Kunst in den Akt des Religiösen verflochten. Wenn z. B. die Processionen in denen die heiligen Bilder umhergetragen werden, einen Theil des Cultus ausmachen, wenn die heiligen Bilder zum Küssen dargereicht werden so sind sie auch wirkliche Theile des Cultus. Wir werden uns leicht dahin verständigen daß mit dem Geiste des evangelischen Christenthums dergleichen durchaus nicht übereinstimmt. […] Nun können wir es nur zu thun haben mit den bildenden Künsten als ornamenta in dem Raum wo die gottesdienstlichen Gebräuche statt finden. Kann ein Werk der bildenden Künste jemals bei uns ein wesentlich mitwirkendes Element des Cultus werden? Das werden wir verneinen müssen. Im catholischen Kultus ist auch dies anders. Da sind die Bilder der Ort für bestimmte Gottesdienstliche Handlungen. Man kniet vor dem Bilde. Aber das ist schon nicht eigentlich das was wir den Cultus nennen denn das stille Gebet des Einzelnen ist die Privaterbauung und dabei müssen wir stehen bleiben daß diese PrivatErbauung gar nicht zum Cultus gehört. Es ist oft getadelt, daß die protestantischen Kirchen nicht wie die katholischen Kirchen immer offen stehn damit der Einzelne seine Privaterbauung dort verrichten könne. Aber wir wollen das gar nicht. Es soll die Privaterbauung nicht an der Kirche gebunden seyn, sie soll überall gleich stark seyn können. Kann in dem gemeinsamen Cultus in der evangelischen Kirche ein wirklicher Gebrauch gemacht werden von Werken der bildenden Kunst? So wie von einem wirklichen Gebrauch die Rede ist wird Schleiermacher sich gleich negativ erklären. Etwas deictisches in die Rede zu bringen in Beziehung auf irgend ein vorhandnes Bild ist sehr unpassend und nicht zu gestatten. Wenn wir z. B. denken, (was jetzt wieder

 Schleiermacher 1826 (Anm. 16), fol. 31v–33v.

Ästhetik und Kultus

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häufiger zu werden anfängt), daß man ein Crucifix als einen wesentlichen Bestandtheil des Altars ansieht so fragen wir: kann bei irgend einer religiösen Handlung ein Gebrauch vom Crucifix gemacht werden? nein. Denn wenn man bei der Abendmahlsliturgie das Crucifix wollte deictisch behandeln so würde auch das falsch seyn. Es steht bloß da und ein eigentlicher Gebrauch davon kann nicht gemacht werden. Ist es nun bloß Ornament? Ornament ist etwas 1) in sofern es einen bestimmten Raum ausfüllt, bloß damit er nicht leer sei 2) was den Raum ausfüllt in einer bestimmten Idee. Das 1) ist etwas rein unvollkommnes. Es muß ein Bestimungsgrund doch hinzukommen. Alle architectonischen Ornamente sind nicht gleichgültig für jeden Ort. Wenn man also sagt die bildenden Künste können im religiösen Cultus nur vorkommen als ornamental so heißt das soviel als in dem zweiten Sinn. Wir finden zwar nicht selten wenn die Wände an der Kirche mit Monumenten geziert sind daß dann da die Porträts derjenigen die dort liegende Personen sind. Dies sind aber immer nur antiquirte Reste aus einer Zeit wo die Kirchen noch Begräbnißplätze waren. Sind die Bilder aus der heiligen Geschichte dann sind es ornamente. Sind diese zuläßig oder nicht? Die eine Sinnesart läßt sie zu, die andre verwirft sie. Nun wenn wir auf die Zeit vor der Reformation zurükgehn so waren damals die Bildnisse überall verbreitet und wir finden Schutz und Toleranz der Bilder auf der einen und Bilderstürmerei auf der andren Seite. Das Herauswerfen der Bilder hat den Schein der Gewaltsamkeit aber das Princip kann deshalb doch richtig seyn. Man muß die Frage so stellen: Kann die Anwendung solcher Kunstwerke etwas gleichgültiges seyn und wenn sie das nicht kann ist dann eine Förderung oder Störung des evangelischen Cultus vorhanden? Nur aus diesem Gesichtspunkt kann die Frage entschieden werden. Es ist hier ein Gegensatz zwischen katholischem und protestantischem Typus des Gottesdiensts. Im protestantischen ist die Hauptsache: die Mittheilung durch die Rede und durch das Wort was im katholischen zurüktritt wo dagegen die Wirkung der symbolischen Handlungen die Hauptsache ist. Das letzte könnte man bestreiten indem man sagt der Meßkanon bestehe auch aus Reden aber erstlich existiren diese für viele nicht da sie in fremder Sprache da sind aber die symbolischen Handlungen fixiren die Aufmerksamkeit auf bestimmte Weise und die Sprüche die beim Meßkanon vorkommen verlieren durch die beständige Wiederholung ihren logischen Gehalt. Es sind zwei streitende Operationen in einer Mittheilung des Worts begriffen, seyn auch nur als aufnehmender und in der Betrachtung eines Bildes begriffen seyn. Wenn wir fragen: was für andre Momente des Gottesdienstes gibt es bei uns außer der Mittheilung des Wortes, so finden wir da nun noch die Mittheilung der Sacramente. Daher ist auch das vorherrschende in evangelischen Kirchen daß Bildwerke Altargemälde sind. Es tritt die Handlung in gewisser Beziehung hervor. Das Bildwerk kann da mit {eintreten}. Dann muß es aber auch in bestimmter Beziehung auf die Handlung stehn. Da kann man wieder nicht anders sagen: als es muß in evangelischen Kirchen ein Bildwerk am Altar seyn und in Beziehung auf die Handlung am Altar andre würden von der Handlung wieder abführen. Nun zwischen diesen beiden ist auch wieder ein merkwürdiger Unterschied. Denn der leidende Christus z. B. wie er bei uns vorkommt ist künstlerisch angesehen immer ein sehr mißlicher Gegenstand. Der künstlerische Werth liegt in dem gehörigen Studium der Anatomie. Gewöhnlich ist es geschmaklose Darstellung und dann kann der Eindruk nicht mehr ein mitwirkender seyn. – Das eigentliche was also mit Sicherheit eine Mitwirkung leisten kann, wäre demnach das Gemälde von der Stiftung des Abendmahls. Soll denn alles übrige als schädlich angesehn werden? Soll dies Theorie seyn so muß die Praxis gleich danach eingerichtet werden. Es müßten alle Bilder abgeschafft werden oder wenigstens keine neuen geschafft werden. Das erste wäre zu revolutionair und daher nicht anzuwenden. Das letzte aber wäre wohl zu rathen. Wie sieht es denn aus da wo

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wir einen Reichthum von Bildern in den Kirchen finden? Sehn wir darauf was sie im Cultus bewirken, so ist es im evangelischen Cultus nichts. Die Gemeine ist um die Mittheilung des Wortes begriffen und kümmert sich um die Bilder nicht. Sie wirken daher für diejenigen die nicht im Cultus sind und das ist schädlich und störend – (Spatziergänger die sich Gemälde in der Kirche besehn – da wird Kirchenpolicei nöthig die wir auch nicht wünschen können, die man in Dresden alle Tage sehn kann –) Sieht man die Kirchen als Pracht und Kunstgebäude an dann können Gemählde da seyn aber Pracht und Kunstgebäude sollen Kirchen eben nicht seyn. Wo viel alte gothische oder überhaupt kunstvolle Kirchen sind da lasse man die Bildwerke aber mitwirkend auf den Cultus sind sie durchaus nicht.³²

Die erwähnten Zustände in Dresdner Kirchen kannte Schleiermacher von Besuchen dort. Auch wenn er kein radikaler Bilderstürmer war – eine Bildmeditation hätte er als Predigt schwerlich gutgeheißen. – Unmittelbar an die Überlegungen zur bildenden Kunst schließen sich noch solche zur Architektur: Dies führt uns auf die Architektur als Kunst in der Kirche. Auch in Beziehung auf die Architektur finden wir eine entgegengesetzte Tendenz in der evangelischen Kirche. Die eine ist mehr eine Freude und ein Wohlgefallen an der Pracht und Kunstvollkommenheit der Kirche die andre ein Bestreben nach Simplicität und das Bestreben den Anspruch auf Kunst ganz fallen zu lassen. Daß sich diese entgegengesetzten Tendenzen nicht gleichmäßig äußern liegt von selbst in dem Mangel der sich einfindet, an Mitteln bei Erbauung neuer Kirchen. Giebt es zwischen beiden Tendenzen eine Entscheidung der Differenz. In der Ansicht die die Kunst auch hier ganz entfernen will gibt es ein Extrem, ihrem Wesen nach gründet sie auf dem allgemeinen Canon daß nirgends in der religiösen Darstellung die Virtuosität hervortreten soll, aber ein Extrem gibt es darin, denn es gibt ein gewisses Verhältniß der Kunstlosigkeit zur Masse was als Dürftigkeit erscheint und das ist etwas niederdrükendes und daher ganz abzuweisen. Worin liegt aber diese Abneigung dagegen? Darin daß man das Gefühl bekommt als ob ein Mangel an Werthschätzung der Sache bei der Ausführung mit vorgekommen sei. Wir müssen jede Kirche ansehn als ein Werk das die christliche Gemeine aufgeführt hat und da verlangen wir daß die Freude das Interesse an der Sache sich in der Construction soll kund geben. Das ist ein billiges Verlangen. Wenn also in dem Gebäude nichts ist was das Wohlgefallen und Interesse der Erbauer verkündet so ist das ein Mangel. – Nun wollen wir das andre Extrem ins Auge fassen. Sehn wir Kirchen in welchen der größte Aufwand von architektonischer Virtuosität obwaltet, so müssen wir sagen: solche Gebäude müssen wir allemal tadeln weil sie gegen den aufgestellten Canon der Simplicität sind. Wer aber wollte auf ein solches Werk wie der Dom in Cölln oder Münster in Straßburg den ersten Stein werfen? Wie steht da das Urtheil? Wenn uns jemand sagte: ich will auch alle Mittel geben um ein ähnliches Gebäude aufzuführen und will auch die Sicherheit geben daß es soll ausgeführt werden würden wir unsre Zustimmung und Billigung dazu geben? Wir werden sagen: Sobald wir uns denken es soll ein Gebäude für den Gottesdienst einer einzigen Gemeine aufgeführt werden, so würden wir es verneinen. Jene großen Kathedralen waren nicht für einzelne Gemeinen sondern für ganze Provinzen und zugleich der Sitz des Kirchenregiments. Das ist nun etwas andres. Die Sache bekommt dadurch eine andre Gestalt und

 Schleiermacher 1826 (Anm. 16), fol. 34v–36.

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müssen aus einem noch andren Gesichtspunkt betrachtet werden. Auch liegts schon in der Sache daß man eine solche größre Beziehung setzen soll. Es müssen die beiden Beziehungen erreicht werden daß solche Gebäude zugleich für eine einzelne Gemeinde tauglich seyn und auch für eine größre Masse von Menschen. In dem Actus des Cultus selbst muß nicht durch das Gebäude die Aufmerksamkeit abgezogen werden von der Rede.³³

Die Architektur ist also noch stärker als die bildende Kunst dienend und zweckgerichtet. Große Dome und Münster baut man nicht um der Größe und Pracht willen, sondern deshalb, weil ihre Bestimmung sich nicht darin erschöpft, für den Gottesdienst einer Einzelgemeinde Raum zu schaffen, sie vielmehr kirchliche und weltliche Zentren ganzer Provinzen sind. – Bevor er zum Abschluss dieser elementarischen Betrachtung des Kultus auf das Hauptelement kommt, die Sprachkunst, Poesie und vor allem Prosa,³⁴ zieht Schleiermacher noch ein vorläufiges Fazit über die dienenden Künste: Zu gleicher Zeit haben wir beiläufig alles was sich auf diejenigen Künste bezieht die nicht zur Rede gehören, abgemacht für unsre vorläufige Untersuchung. Es haben uns diese Erörterungen Beispielsweise gedient zu dem was der Charakter ist in dem Gebiete der vorwaltenden Künste. Der Zusammenhang ist der daß wir uns überzeugt haben daß alle andren Kunstgebiete in Beziehung auf den Gottesdienst nur untergeordnet sind und daß das Centrum die Rede ist.³⁵

 Schleiermacher 1826 (Anm. 16), fol. 36 – 37.  Vgl. SW I/12 (Anm. 4), 538—541 (Christliche Sitte 1822/23).  Schleiermacher 1826 (Anm. 16), fol. 37.

Elisabeth Blumrich

Schleiermacher und die Musik nach Auskunft seiner Tagebücher Ergänzte und revidierte Bearbeitung der Kalendereinträge des gleichnamigen Beitrags von Wolfgang Virmond

Vorbemerkung Da die Transkription der Tageskalender der späteren Jahre ab 1820¹ unter Zuziehung der Manuskriptscans inzwischen vollständig abgeschlossen ist, bot es sich an, die von Wolfgang Virmond verarbeiteten Eintragungen² einer Revision zu unterziehen. So erscheint es sinnvoll, in Fortsetzung der von Virmond geleisteten Arbeit die musikbezogenen Eintragungen der Forschung zugänglich zu machen. Die Transkription orientiert sich an den editorischen Richtlinien für Manuskripte Schleiermachers der Kritischen Gesamtausgabe, in kursiven eckigen Klammern finden sich die Anmerkungen der Herausgebenden. Alle nachweisbaren Personennamen werden jeweils bei der Erstnennung in den Fußnoten nachgewiesen.

 Überliefert sind die Jahrgänge 1808 – 1811 und 1820 – 1834 nebst einem Reisebericht von 1817. Vgl. schleiermacher digital / Schleiermachers Tageskalender 1808 – 1834, hg. v. Elisabeth Blumrich, Christiane Hackel, Wolfgang Virmond, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin, URL: https://schleiermacher-digital.de/tageskalender/index.xql (letzter Zugriff: 03.05. 2022).  Wolfgang Virmond, „Schleiermacher und die Musik nach Auskunft seiner Tagebücher“, in: Schleiermacher, Romanticism, and the Critical Arts. A Festschrift in Honor of Hermann Patsch, hg. v. Hans Dierkes, Terrence N. Tice und Wolfgang Virmond, New Lewiston / Queens: The Edwin Mellen Press 2007 (New Athenaeum 8), 381– 389. Der langjährige Schleiermacherforscher der Kritischen Gesamtausgabe (KGA) an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) starb am 27. Januar 2020 im Alter von 79 Jahren. – Hinzuweisen ist auf den weiterführenden Beitrag von Bernhard Schmidt, „Schleiermacher und die Musik“, der demnächst im Tagungsband Friedrich Schleiermacher zwischen Reform und Restauration. Politische Konstellationen, theoretische Zugänge und das Berliner Stadtleben, hg. v. Elisabeth Blumrich, Simon Gerber und Sarah Schmidt, im Verlag De Gruyter erscheinen wird, und auf Eberhard Cherdron, „Schleiermacher und die Musik“, in: ders., Kirchen-Musikalisches, Studien I, Norderstedt: Books on Demand, 2020, 208 – 283, der auch die Hauptbücher des Verlages Reimer ausgewertet hat. https://doi.org/10.1515/9783111025483-011

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Elisabeth Blumrich

Jahr / Datum

Eintragungen Schleiermachers

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Klavier gekommen Abends in Stralsund. Nachtmusik bei Lotte Cummerow³ Abends […] Musik Abends Musik bei Brahl⁴ Nanny ⁵ erste Singstunde Singstunde ausgefallen Conzert

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Erste Singstunde Singstunde NM⁶ […] Singakademie Singstunde Singstunde NM […] Singakademie VM⁷ […] gesungen ohne Singstunde SingAkademie Singstunde Zu zeitig [in] die[?] Singstunde Singakademie Singstunde abgesagt Singstunde ausgefallen Singstunde gesungen ohne Singstunde Singstunde Singakademie Singstunde Singstunde VM […] Singakademie Mit Nanny bei Zelter⁸ […] NM Singakademie

     

Charlotte Cummerow, geb. Israel, Freundin F. Schleiermachers, wohnhaft in Stralsund. Johann Brahl, 1752/54– 1812, Redakteur und Akzise-Inspektor in Königsberg. Anne (Nanny) Maria Louise Schleiermacher, 1786 – 1869, F. Schleiermachers Halbschwester. NM = Nachmittag. VM = Vormittag. Carl Friedrich Zelter, 1758 – 1832, von 1800 bis zu seinem Tod Leiter der Berliner Singakademie.

Schleiermacher und die Musik nach Auskunft seiner Tagebücher

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Singstunde gesungen ohne Singstunde gesungen ohne Singstunde gesungen ohne Singstunde Singakademie Keine Singstunde Singakademie Keine Singstunde Tod Jesu [Graun ⁹] Singstunde Singstunde Singstunde Singstunde, und bezahlt […] Singakademie Singakademie Singstunde Singakademie Keine Singstunde [Morgens] Von  –  Singstunde Singakademie Singstunde Musik und Thee bei Grashof¹⁰ [auf Rügen] NM Singakademie NM Singakademie Mit Nanny Singakademie NM mit Nanny Singakademie Singakademie NM Singakademie NM Singakademie Singakademie Singstunde Singakademie Singstunde Singstunde NM […] Singakademie NM Singakademie

 Carl Heinrich Graun, 1704/05 – 1752, Komponist und Sänger. Sein Passionsoratorium wurde regelmäßig am Karfreitag von der Singakademie aufgeführt.  Karl Friedrich August Grashof (Graßhoff), 1770 – 1841, Pädagoge und Konrektor des Lyzeums in Prenzlau.

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Singstunde Singstunde NM Singakademie Singakademie mit Jette¹¹ Singstunde Singakademie mit Jette […] Singstunde [in Gnadenfrei] Ich mit Jette in der Singstunde [in Gnadenfrei] Singakademie Singakademie Singstunde Singstunde Singakademie Singstunde Singstunde Nicht in Singakademie Singakademie Keine Singstunde wegen Zahnweh Singakademie NM Singakademie mit Jette Singstunde NM Singakademie Singstunde Singstunde NM Singakademie NM Singakademie Singstunde Singakademie Singakademie Singstunde Singakademie mit Jette Singstunde

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Singakademie [Vormittags] Singstunde

 Henriette Schleiermacher, 1788 – 1840, geb. von Mühlenfels, verw. von Willich, seit 1809 Ehefrau von F. Schleiermacher.

Schleiermacher und die Musik nach Auskunft seiner Tagebücher

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NM Singakademie NM Singakademie Singstunde NM zeitig große Probe auf der SingAkademie NM Singakademie. Abends Liedertafel bis Morgens um drei Uhr. Schlechte Nacht Singstunde (bezahlt und eine neue Marke.) Singstunde Singakademie Singstunde Singstunde Singstunde ausgesezt Singstunde Singakademie Singstunde Abends musikalischer Thee bei Alberthals¹² NM Singakademie Singstunde Singakademie Abends Singakademie Singstunde Singakademie Singstunde Singakademie Zelters Te Deum aufgeführt VM Singstunde Singakademie Singakademie versäumt Singstunde Singstunde Singstunde Singstunde Don Juan [Mozart ¹³]. Ich mit Gaß¹⁴ im Parterre Abends bei Zelter Abends ich im Figaro [Mozart] Abends Liedertafel

 Familie des Ludwig Alberthal, 1786 – 1813, Stiefsohn von Georg Ludwig Spalding.  Wolfgang Amadeus Mozart, 1756 – 1791.  Joachim Christian Gaß, 1766 – 1831, Diakon an St. Marien in Berlin, ab 1811 Professor der Theologie in Breslau.

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NM Pfund¹⁵ hier wegen Kirchenmusik VM Predigt mit Kirchenmusik [Pfingsten] NM Singakademie Musik in der katholischen Kirche [in Dresden]

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Mittag bei Prinz August¹⁶. Dann im Samson [Händel ¹⁷] Ich im Don Juan [Mozart] auf der Liedertafel Singakademie Mit Schwarz¹⁸ in die Singakademie Singakademie NM […] Judas Maccabbaeus [Händel] [Garnisonkirche] Mösersches¹⁹ Quartett

 .., So .., So .., Mi .., So .., Di .., Mi .., Mi

[Ausgabennotiz:] Klavierunterricht bei Reichard²⁰ pro October – December []  rth²¹ Abends Schedes²² mit Musik, Amerikanern und Griechen die Musik versäumt Singunterricht bei Klein²³ mit Julchen²⁴ auf d. Singakademie NM Mildersche²⁵ Musik Jette in der Oper²⁶

 Johann Gottfried Pfund, 1780 – 1852, Lehrer und Professor am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin.  (Prinz von Preußen) August, 1779 – 1843.  Georg Friedrich Händel, 1685 – 1759.  Adolf Philipp Theodor Schwarz, 1777– 1850, Pfarrer in Wiek auf Rügen.  Carl Möser, 1774– 1851, Geiger und Kapellmeister.  Gustav Reichardt, 1797– 1884, Komponist und Klavierlehrer.  rth = Reichsthaler.  Familie des Karl Wilhelm Ludwig Schede, 1774– 1833, Regierungsrat und Notar in Berlin.  Bernhard Klein, 1793 – 1832, Komponist, Musikdirektor und Musiklehrer.  Julie Reinhardt, geb. Schütze.  Anna Milder-Hauptmann, 1785 – 1838, Opernsängerin.  Uraufführung der Oper „Freischütz“ von Carl Maria von Weber, 1786 – 1826. Schleiermacher selbst befand sich auf der Hochzeitsfeier seines Kollegen Carl Georg Benjamin Ritschl, 1783 – 1858, der ein engagiertes Mitglied der Berliner Singakademie und Liedertafel war und an diesem Tag seine zweite Ehe mit Auguste Sebald, 1792– 1861, einging.

Schleiermacher und die Musik nach Auskunft seiner Tagebücher

.., Di .., Mi .., Mo .., Mo .., Di .., Mi .., Di .., Mo .., Di .., Mi  .., Do .., Mo .., Mo .., Mi .., Sa .., Di .., Mi .., Sa .., Di

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Singakademie Abends mit Carl²⁷ und Elsbeth²⁸ im Freischüz [Weber] Abends Liedertafel bei Haas²⁹ Abends bei Savignys³⁰ wo Boucher³¹ spielten NM das Concert und Liedertafel Die Kinder im Concert (Schöpfung) [Haydn ³²] NM Singakademie Mit Julchen [Reinhardt] in der Oper Titus [Mozart] Singakademie Jette im ersten Möserschen Quartett

[Ausgabennotiz:] Rombergsches Concert³³  rth Mösersches Concert Oper Iphigenie in Aulis³⁴ [Gluck ³⁵] [Ausgabennotiz:] Sing und Klavierunterricht bei Frau Winzer³⁶  rth Abends Liedertafel und die Studenten auf Montag bestellt NM mit Mühlenfels³⁷ […] und Jette auf Singakademie Singstunde [in Herrnhut] Singstunde [in Niesky] Singakademie

 Karl (Carl) Schleiermacher, Bruder von F. Schleiermacher.  Clara Elisabeth Schleiermacher, 1810 – 1881, Tochter von Henriette und F. Schleiermacher.  Haas, Justizkommissar, Mitglied der Singakademie (1821).  Familie des Friedrich Karl von Savigny, 1779 – 1861, Rechtswissenschaftler, seit 1810 Professor in Berlin.  Das berühmte Virtuosenehepaar Alexandre-Jean Boucher (Violine), 1778 – 1861, und CélesteEléonore Gallyot (Klavier und Harfe), zw. 1775 und 1777– 1841, gastierte 1821/22 in Berlin.  Joseph Haydn, 1732– 1809.  Es handelt sich hier möglicherweise um eines der Wohltätigkeitskonzerte anlässlich des Todes des Gothaer Kapellmeisters und Komponisten Andreas Romberg, geboren 1867, der am 10.11. 1821 plötzlich gestorben war und eine Witwe und zehn minderjährige Kinder hinterließ, vgl. Hans Michael Schletterer, „Romberg“, in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Bd. 29, 104– 115, hier: 108.  Anna Milder-Hauptmann sang die Iphigenie, vgl. Lili Parthey, Tagebücher aus der Berliner Biedermeierzeit, hg. v. Bernhard Lepsius, Berlin / Leipzig: Gebrüder Paetel 1926, 210.  Christoph Willibald Ritter von Gluck, 1714– 1787, Komponist.  H. L. F. Winzer, geb. Pochhammer, von 1803 – 1838 Mitglied der Singakademie.  Baron von Mühlenfels, Oberstleutnant der russischen Armee, später Landrat des Kreises Greifswald, Cousin von Schleiermachers Frau.

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.., Do .., Mi  .., Mi .., Mo .., Mi .., Mi .., Do .., Mi .., Do .., Mi .., Fr .., Mi .., Mo .., Di .., Mi .., Mi .., So .., Di .., Di .., Sa

Choral der Kinder Abends bei Reinhardts³⁸ Musik

Erster musikalischer Abend In der Oper Iphigenie in Aulis [Gluck] mit Minna³⁹ und Lina⁴⁰ Musikalischer Thee Abends Musik Choralgesang der Kinder Musikalischer Abend fiel aus. Abends bei Hannchen Zimmermann ⁴¹ wo Mendelssohn⁴² spielte. Abends Musik. Wolfarts⁴³ und Schedes eingeladen NM im Tod Jesu [Graun] Musikalischer Abend Winterfeld⁴⁴ dabei Musikalischer Abend NM Klassensizung, die andern im Messias [Händel, Garnisonkirche] Jette mit Kindern in Schöpfung [Haydn] Musikalischer Abend Abends in der schönen Müllerin [Berger ⁴⁵] Abends in der Oper Abends auf der Liedertafel bei Beyer⁴⁶ Fahrt nach dem englischen Garten und zur Musik. [in München]

 Familie des Heinrich Wilhelm Reinhardt, 1783 – 1844.  Minna Kobes, Erzieherin von Schleiermachers Töchtern.  Karoline (Lina) Marie Sybille von Kathen, später verheiratete Forstner, 1799 – 1834.  Johanna (Hannchen) Zimmermann, Sängerin und Pianistin, jung verwitwet, wohnte wie Schleiermacher im Palais Wilhelmstr. 73. In ihrer Dachwohnung in der dritten Etage spielte der Knabe Felix Mendelssohn gern privatim im kleineren Kreis,vgl. Heinrich Dorn, Aus meinem Leben, Bd. 3, Berlin: Hausfreund-Expedition 1872, 45, 61– 62.  Felix Mendelssohn Bartholdy, 1809 – 1847.  Familie des Karl Christian Wolfart(h), 1778 – 1832, Professor in Berlin, Spezialist für Mesmerismus.  Carl Georg Vivigens von Winterfeld, 1784– 1858, Jurist und Musikwissenschaftler.  Gemeint ist wohl die Vertonung einiger der Müllerlieder durch Ludwig Berger, 1777– 1839, denn Franz Schubert hat „Die schöne Müllerin“ erst im Herbst 1823 vertont.  Gemeint ist wohl Gottlieb Ludwig August von Beyer, 1780 – 1827, Kammergerichtsrat, Mitglied der Singakademie.

Schleiermacher und die Musik nach Auskunft seiner Tagebücher

.., Di .., Mi .., Sa .., So .., Di .., Fr  .., Mo .., Mo .., Fr .., So .., Mo .., So .., Fr .., Mo .., Mo .., Do .., So

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Abends musikalischer Thee bei Balligand⁴⁷ [in Regensburg] Musik Theater neue Oper von Morlacchi⁴⁸ Der Buffo Benincasa⁴⁹. Die primadonna Funk⁵⁰ [in Dresden] Ammons⁵¹ Predigt – Kirchenmusik. [in Dresden] Lina geht in die Dido [Klein] ⁵². Morgengesang

Abends Musikalischer Abend Musikalischer Abend [Ausgabennotiz:] An Zelter für  Stunden bis Ende nächster Woche  rth Conferenz der Singakademie Musikalischer Abend. Idomeneo [Mozart] Musik bei Reinhardt Abends im Tod Jesu [Graun] Musikalischer Abend Musikalischer Abend mit Krauses⁵³ Steffens⁵⁴ und Pistors⁵⁵ Reichardts Klavierstunden fangen an⁵⁶ Abends der erste musikalische Kinderabend

 Baligand (auch Balligand), Karl Theodor von, 1779 – 1828, Oberpostmeister in Regensburg und Förderer des dortigen Musikalischen Vereins.  „La gioventù di Enrico V“, 1823 von Francesco Morlacchi, 1784– 1841, Komponist, Kapellmeister und Direktor der Italienischen Hofoper in Dresden komponiert, wurde in der Zeit von Oktober, November und Dezember 1823 fünfmal an der Italienischen Oper in Dresden gegeben mit den beiden hier genannten Protagonisten.  Gioacchino Benincasa, 1783 – 1835, Sänger an der italienischen Hofoper in Dresden.  Friederike Funk, 1796–nach 1830, Opernsängerin in Dresden.  Christoph Friedrich von Ammon, 1766 – 1849, Theologieprofessor, ab 1813 Oberhofprediger und Oberkonsistorialrat in Dresden.  Oper von Bernhard Klein, 1793 – 1832, Libretto von Ludwig Rellstab, 1799 – 1860.  Amalie Krause, geb. Sebald, 1787– 1846, Sängerin, auch als Solistin geschätztes Mitglied der Singakademie, Schwester der Auguste Sebald, mit ihrem Ehemann Ludwig Krause, um 1781– 1825, Justizrat.  Familie des Henrik Steffens, 1773 – 1845, norwegischer Naturphilosoph, Professor in Halle und Breslau.  Familie des Karl Philipp Heinrich Pistor, 1778 – 1847, Astronom und Mechaniker.  Bereits im Januar 1821 zahlte Schleiermacher an ihn 21 Reichstaler für Klavierunterricht des letzten Quartals 1820, vgl. Bl. 6r des Tageskalenders 1821; es handelt sich wohl um eine Wiederaufnahme des Unterrichts.

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.., Mi

.., Do .., So .., Di .., Mi  .., Mo .., Di .., So .., Mo .., So .., Di .., So .., Mo .., Di .., So .., Mi .., Di .., Fr .., Di .., So

            

Musikalischer Abend. Judas Maccabaeus [Händel] aufgeführt. Gäste (außer Schedes) Steffens mit Frau, Herr Thürschmidt⁵⁷, Rahel⁵⁸, die Herz⁵⁹, Auguste Petzke⁶⁰, Arndt⁶¹ Jette mit den Kindern im Thürschmidtschen⁶² Messias. [Händel] Abends Kindermusik bei Schede Abends Belmonte und Constanze [Mozart: Die Entführung aus dem Serail] Abends im Quartett

Abends bei Reinhardts zur Musik Musikalischer Abend Alceste [Gluck] Abends Kindermusik bei Schedes NM Jette mit Betty⁶³ und Jette⁶⁴ in die Jessonda [Spohr ⁶⁵] Musikprobe Musikalischer Abend wobei Steffens Albertis⁶⁶ Zu Jette’s Geburtstag Choral Abends bei Schedes. Kindergesang Bei Reinhardts zum Quartett Jette mit Betty im Freischüz Abends Kindermusik bei uns Abend mit Jette, Betty und Ehrenfried ⁶⁷ im Königsstädtischen Theater Abends Musik mit Herrn Kienemann[?] und Reichardt Jette mit Jettchen und Ehrenfried im Tode Jesu⁶⁸ Abends Musik bei Reinhardts Abends Kindermusik bei uns. Bleek⁶⁹ ist als Gast dabei

Carl Nicolaus Türrschmidt, 1776 – 1862, Klavierlehrer und Ehemann der Auguste Türrschmidt. Rahel Varnhagen, geb. Levi. Henriette Herz, 1764– 1847, sehr gute Freundin von F. Schleiermacher. Auguste Petzke, lebte 1821 in Schleiermachers Hause. Ernst Moritz Arndt, 1769 – 1860, Schriftsteller und Historiker, Schleiermachers Schwager. Auguste Türrschmidt, 1800 – 1866, Altistin. Elisabeth (Betty) Luise Ulrike Charlotte Gräfin von Schwerin-Putzar, 1804– 1899. Henriette Pauline Marianne von Willich, 1805 – 1886, Stieftochter Schleiermachers. Louis Spohr, 1784– 1859, Berliner Erstaufführung der Oper unter Leitung des Komponisten. Familie des Karl Alberti, 1763 – 1827, preußischer Staatsbeamter. Ehrenfried von Willich, Sohn der Henriette von Willich, Stiefsohn von F. Schleiermacher. Benefizaufführung im Opernhaus. Friedrich Bleek, 1793 – 1859, Schleiermacherhörer, Prof. der Theologie in Berlin und Bonn.

Schleiermacher und die Musik nach Auskunft seiner Tagebücher

.., Mi .., So .., Mi .., So .., Mi .., So .., So .., So .., Di .., Fr .., Do .., So .., Di .., Mi .., So .., Di .., Do

 .., Do .., Do .., So .., Fr .., Mo .., Mo

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NM Samson [Händel] Abends Kindermusik bei Schede’s Musikalischer Abend Abends Schede’s zur Kindermusik bei uns Kindergesang zum Hochzeitstag Abends Kindermusik bei Schede’s Abends KinderConcert bei Schedes und Eggers⁷⁰ als Mitspieler Abends Schedes zur Kindermusik und später Eggers Abends bei Winterfeld⁷¹. Gesang aus Händel [in Breslau] Abends zum Gesang bei Winterfelds [in Breslau] Mit Gaß und Jette im Königsstädtischen Theater. Abends bei Reinhardts zu Musik und Abendbrodt. Jette ging wieder mit Mit Jette im Königsstädtischen Theater. Sontag⁷² als Italienerin Ehrenfried im Concert der Sonntag⁷³ Mittags mit Tochter Jette auf dem Richtschmaus der Singakademie Abends zur Musik bei Schedes mit Lauers⁷⁴ Abends ich allein im Königstädtischen Theater Così fan tutte [Mozart]

GesangbuchsCommission versäumt, wegen des musikalischen Abends. Alexanderfest [Händel] Aufbau und Choralgesang Ausschuß der SingAkademie Jette Tochter singt im Tod Jesu. [Graun] Wir andern zu Hause Abends Messias [Händel] bei Reinhardts Abends Kindermusik mit Herrn Kienemann und Julchen Reinhardt dabei

 Es handelt sich wohl um den Maler Carl Adolf Johann Eggers, 1787– 1863.  Karl Friedrich Gotthilf von Winterfeld, Oberfinanzrat in Berlin.  Henriette Sontag, 1804– 1854, Koloratursopran. Die gefeierte Sängerin war als Italienerin in Algier in der gleichnamigen Oper von Gioacchino Rossini zu erleben.  Henriette Sontag, Großes Konzert im Königlichen Theater.  Hans Adolf Karl Heinrich Freiherr Lauer von Münchhofen, 1795 – 1874, preußischer Militär und Komponist mit seiner Frau Rosalie, geb. Gräfin von Haeseler, 1799 – 1886.

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.., So

.., Mo .., Do .., Di .., Sa .., Di .., Mo .., Mi .., Fr .., Di .., Di  .., Di .., Mi .., So .., Do .., So .., Do .., Fr

Abends Schedes, die Herz, Hannchen [Johanna Zimmermann] als Geburtstagskind & Etwas Kindermusik, die Willich⁷⁵ mit Bekkers⁷⁶ und Reinhardt Abends Herr Kienemann zur Kindermusik Concert von Hummel⁷⁷ SingAkademie Griechen Concert⁷⁸ Abends Musik vor Herrn Berger mit Reichardt und Riekmann[?] Julchen Reinhardt und Hannchen [Zimmermann] dabei Concert im Garten NM Jette mit den Kindern in der Schöpfung. Jettes [Tochter] Geburtstag, Bescherung und Choral Abends mit Klenze⁷⁹ Liedertafel Choral

Abends mit Klenzes in der Liedertafel [Dazu die Vormerkung:] Liedertafel Englisches Haus ½  Uhr Ich im Josuah [Händel] Zur Musik bei Reinhardts Herr Berger hat wieder angefangen mit der dritten Stunde. Einweihung der Singakademie [Zelters Choral „Gott ist alleine groß und schön“] Abends im Opernhause Katalani⁸⁰ Die Kinder mit Minna im Tod Jesu. [Graun]

 Möglicherweise handelt es sich um Margarethe Dorothea (Doris) von Willich, die Mutter von Bekkers Frau.  Familie des August Immanuel Bekker (Becker).  Johann Nepomuk Hummel, 1778 – 1837, Komponist und Pianist.  Das Konzert fand im Hause Reimer statt, organisiert von Johanna Zimmermann (Hannchen); Näheres vgl. Matthias Wolfes, Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft: Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, Schleiermacher-Studien. Bd. 1, Teil 1, Arbeiten zur Kirchengeschichte, hg. v. Christian Albrecht, Christoph Markschies und Gerhard Müller, Bd. 85/1, Berlin / New York: Walter de Gruyter 2004, 404.  Familie des Clemens August Carl Klenze, Rechtswissenschaftler, Professor in Berlin.  Angelica Catalani, 1780 – 1849, hochberühmte Sängerin (Sopran); vgl. zum Abschiedskonzert und seinen Kontexten Christoph Helmut Mahling, „Zum ‚Musikbetrieb‘ Berlins und seinen Institutionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: Studien zur Musikgeschichte Berlins im frühen 19. Jahrhundert, hg. v. Carl Dahlhaus, Regensburg: Gustav Bosse Verlag 1980, 27– 284, hier: 69 – 70.

Schleiermacher und die Musik nach Auskunft seiner Tagebücher

.., Fr .., Mi .., Di .., Do .., Sa .., Mo  .., Do .., Mi .., So .., Fr .., So .., Mo .., So .., Do

 .., Mi .., Di

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Fidelio [Beethoven ⁸¹] von der Schechner⁸² gehört Mittag Lina Forstner. Herr Berger spielte Abends zur Musik bei Karoline [Schede] Mit Frau von Kreuzer im Königstädtischen Theater im lustigen Schuster. [Paër ⁸³] Wiegenlieder [in Schlesien bei Winterfelds] Abends bei Schedes Trio und KinderSymphonie

Akademie bis  Uhr. Niemand im Judas Maccabäus ⁸⁴ [Händel] Abends Gesellschaft mit Musik NM Taufe bei Klein, aber doch noch dinirt. Musik Tod Jesu [Graun], wo ich jedoch nicht bis zu Ende blieb. Großer Ausschuß der SingAkademie Nathanael mit Amory⁸⁵ im Königstädtischen Theater Abends Schedes mit Kreuzers und Beckers. Musik. in Pall Mall. Von da in der English Opera. The Soldiers Wife [Goss ⁸⁶]. Miss Kelly⁸⁷. (The Pirate of Genoa⁸⁸.) [in England]

Passionsmusik⁸⁹ Gertrud⁹⁰ mit Ehrenfried in der Stummen. [Auber ⁹¹]

 Ludwig van Beethoven, 1870 – 1827.  Nanette (Anna) Schechner-Waagen, 1804– 1860, Opernsängerin.  Gemeint ist die einaktige Farsa comica „Le Donne cambiate, auch: Der Lustige Schuster oder die Weibercur“ komponiert von Ferdinando Paër, 1771– 1839.  Vgl. Hinrich Lichtenstein, Zur Geschichte der Sing-Akademie, Berlin: Trautwein 1843, XXI.  Nathanael Hermann, 1820 – 1829, Sohn von F. und Henriette Schleiermacher, mit William Amory, 1804– 1888, einem nordamerikanischen Juristen, der seine Studien in Europa vervollständigte.  John Goss, 1800 – 1880, englischer Komponist und Kirchenmusiker. „The Soldier’s Wife“ blieb seine einzige Oper, entstanden um 1820. Vgl. William Alexander Barrett, English Church Composers, London: Sampson Low, Marston, Searle & Rivington 1882, 175.  Frances Maria Kelly, 1790 – 1882, englische Sängerin und Schauspielerin.  Eine englische Version von Joseph Weigls, 1766 – 1846, Oper „Gli Amori Marinari“ wurde im September 1828 im English Opera House als englische Uraufführung auf die Bühne gebracht.  Es handelt sich um die legendäre erste Wiederaufführung der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach, 1685 – 1750, nach dessen Tod durch Mendelssohn mit der Singakademie.  Hanna Gertrud Schleiermacher, 1817– 1839, Tochter von F. und Henriette Schleiermacher.  Die Oper „La muette de Portici“, deutsch „Die Stumme von Portici“ von Daniel-François-Esprit Auber, 1782– 1871, war im Jahr zuvor in Paris uraufgeführt worden.

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.., Mo .., So .., Di .., Mi .., Sa .., Do  .., Di .., Mi .., Di .., Do .., Do

 .., So .., Fr .., So .., Do .., Sa

Mit Jette in Paganinis⁹² Koncert Singakademieversammlung [laut Vormerkung:]  Uhr Die andern in der Vestalin [Spontini ⁹³] Ich mit Jette und Gertrud im Don Juan [Mozart] Die Kinder singen Auf Gott und nicht auf meinen Rath [Text: Gellert ⁹⁴] Im Samson [Händel]

Die andern im Faust [Spohr ⁹⁵] Abends mit Jette im Concert⁹⁶ Bernhard Klein und Auguste Türrschmidt musiziren [in Halle] Abends Liederkranz [in Tübingen] Lommatzsch ⁹⁷ und Elsbeth nach dem Alexanderfest [Händel] zum Thee

die Andern nach der Kirche in der Bachschen Musik⁹⁸ Frühpredigt um  Uhr. Communion. Nachher Marheineke geholfen. Niemand ging in den Tod Jesu [Graun] Die Töchter in der Alceste [Gluck] Die Frau in der Bachschen Musik Musik in der Kirche⁹⁹

 Nicolò Paganini, 1782– 1840, Violinvirtuose, macht auf seiner Gastspielreise 1829 in Berlin Furore.  Im Original „La Vestale“ von Gaspare Spontini, 1774– 1851, Dirigent und Komponist, ab 1820 Erster Kapellmeister und Generalmusikdirektor der Königlichen Schauspiele und Mitglied der Singakademie.  Gellert, Christian Fürchtegott, 1715 – 1769, Dichter.  Die Berliner Erstaufführung hatte am 14. November 1830 unter der Leitung von Giacomo Meyerbeer (1891– 1864) stattgefunden. Die von Schleiermachers Familie besuchte Vorstellung war die sechste der Spielzeit, vgl. Allgemeine Theater-Chronik. Organ für das Gesammtinteresse der deutschen Bühnen und ihrer Mitglieder, 12. Jg., Nr. 80, 5. Juli, Leipzig: Sturm und Koppe 1843, 317. Der 1816 in Prag uraufgeführten Oper liegt nicht die Goethesche Bearbeitung, sondern die Faustlegende zu Grunde.  Zu Leitung und Programm vgl. Mahling 1980 (Anm. 80), 160 – 161.  Karl Bernhard Lommatzsch, 1788 – 1865, Schwiegersohn von F. Schleiermacher.  Aufführung der Matthäuspassion in der Singakademie, vgl. Lichtenstein 1843 (Anm. 84), XXII.  A capella-Konzert der Singakademie in der Dreifaltigkeitskirche zu wohltätigen Zwecken während der Cholera-Epidemie, vgl. Lichtenstein 1843 (Anm. 84), XXII.

Schleiermacher und die Musik nach Auskunft seiner Tagebücher

 .., Do .., Mi .., So .., Do .., So .., Di .., So .., Do .., Di .., Sa .., Do .., So .., Do .., Do .., Di .., Do .., Mi

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NM Akademie. Judas Maccabaeus. [Händel] Abends Gesellschaft mit Musik. Für  Klavierstunden an Herrn Nicolai¹⁰⁰  rth Abends Judas Maccabaeus [Händel] Frühpredigt Marcus ,–[]. Communion (Bachsche Musik¹⁰¹) Abends bei Fürst Radziwill¹⁰² zur Musik. Ausschuß der SingAkademie NM Singakademie [Ausgabennotiz:] An Stümer¹⁰³ für Singstunden  rth An kleine Jette für Bargiel¹⁰⁴ Singakademieconferenz bei Köhler¹⁰⁵ Singakademieversammlung Früh essen wegen der Musik¹⁰⁶ [Lediglich in seinem Kassenbuch notiert Schleiermacher:] Mendelssohnsches Concert¹⁰⁷  rth. Singakademie Conferenz Singakademie Concert Abends Gesellschaft Felix Mendelssohn

 Otto Nicolai, 1810 – 1849, Komponist und Dirigent, verdiente in seinen frühen Jahren seinen Lebensunterhalt durch Musikunterricht und war solistisch tätiges Mitglied der Singakademie.  Gemeint ist wohl die Aufführung der Matthäuspassion durch die Singakademie, vgl. Lichtenstein 1843 (Anm. 84), XXII.  Fürst Anton Henryk von Radziwill, 1775 – 1833, Politiker und Komponist.  Heinrich Stümer, 1789 – 1857, Königlicher Kammersänger.  Adolph Bargiel, 1783 – 1843, Klavier- und Gesangslehrer.  Angesichts der Schwierigkeiten, die Nachfolge Zelters zu regeln, wurde eine Kommission gewählt, die aus Schleiermacher, dem Sänger Eduard Devrient, 1801– 1871, und dem Vorsteher der Singakademie, dem Wirkl. Geh. Oberregierungsrat Christian Philipp Köhler, 1778 – 1842, bestand. Sie erarbeiteten einen Vorschlag, die Leitung der Singakademie aufzuteilen: Carl Friedrich Rungenhagen sollte unter Beibehaltung seiner Dienstwohnung geschäftsführend an der musikalischen Leitung beteiligt werden, die eigentliche musikalische Leitung solle jedoch Mendelssohn obliegen, vgl. Eduard Devrient, Erinnerungen an Felix Mendelssohn-Bartholdy und Seine Briefe an mich, Leipzig: J. J. Weber 1869, 150 – 151, URL: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/ bsb10310110?page=160,161 (abgerufen am 09.04. 2022), und R. Larry Todd, Felix Mendelssohn Bartholdy: Sein Leben. Seine Musik, Stuttgart: Carus-Verlag 2008, 300.  Konzert der Singakademie zum Besten der erblindeten Krieger in der Garnisonkirche: Oratorium „Das Gesetz des Alten Bundes“, von Sigismund von Neukomm, 1778 – 1858, vgl. Lichtenstein 1843 (Anm. 84), XXII.  Es handelt sich um die Uraufführung der sogenannten „Reformations-Sinfonie“ unter der Leitung des Komponisten.

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Elisabeth Blumrich

.., Di .., Mi  .., Mi .., Do .., Do .., Mi .., Do .., Fr .., Di .., Mo .., Mi .., Mi .., Mi .., Mi .., So

.., Mo

NM Singakademie Abends Gesellschaft mit Felix

An Nicolai Generalbaß[stunden]  rth Concert[?] Abends Concert¹⁰⁸ Choral Aufbau Passionsconcert ¹⁰⁹ Abends im Tod Jesu. [Graun] [Ausgabennotiz:] Zu Herrn Nicolais Concert  rth Abends die Radziwillsche Trauermusik¹¹⁰ Die beiden Töchter werden zu Rungenhagen¹¹¹ geführt NM in Nicolais Musik. [Te Deum] NM Besuch von Musikdirektor Kähler¹¹² Abends im Theater Iphigenie [in Tauris; Gluck] mit der Schechner Zum Schauspiel über den Strom hinüber. Gegeben „Die erste Liebe [evtl. Scribe ¹¹³] und der Hofmeister in Verlegenheit“ [Donizetti ¹¹⁴] Lezteres ein Vaudeville wobei bald anfangs die Marseillerhymne als Duett vorkam. [in Norwegen] Herr von Berg¹¹⁵ von Neuenkirchen. Er trommelt alle Opern durch […] Luise¹¹⁶ singt eine Bravourarie aus dem Samson

 Bachs Johannespassion, aufgeführt von der Singakademie, vgl. Lichtenstein 1843 (Anm. 84), XXII.  Bachs Matthäuspassion, aufgeführt von der Singakademie, vgl. Lichtenstein 1843 (Anm. 84), XXII.  Mozarts Requiem zum Gedächtnis des Fürsten Anton Radziwill in der Singakademie, vgl. Lichtenstein 1843 (Anm. 84), XXII.  Carl Friedrich Rungenhagen, 1778 – 1851, Komponist und Nachfolger Zelters als Direktor der Singakademie.  Moritz Friedrich August Kähler, 1781– 1834, Musikdirektor in Züllichau.  Eugène Scribe, 1791– 1861, Dramatiker und Librettist.  Im Original „L’ajo nell’imbarazzo“, komponiert von Gaetano Donizetti, 1797– 1848.  Es handelt sich wohl um Heinrich Ernst Christian von Berg, 1785 – 1863, Herr auf Neuenkirchen.  Luise Fischer, Tochter der Karoline Fischer, im Alter zwischen Schleiermachers Töchtern Elisabeth und Gertrud, besaß eine schöne Altstimme und lebte mit ihrer Mutter in der Familie Schleiermacher, vgl. Ehrenfried von Willich, Aus Schleiermachers Hause: Jugenderinnerungen seines Stiefsohnes, Berlin: Reimer, 1909, 95 – 96.

Schleiermacher und die Musik nach Auskunft seiner Tagebücher

233

.., Fr .., Sa

[Händel]. Zulezt gehn wir noch mit einem Choral zum Abendessen und so wird auch nachher geschlossen. Herr von Berg spielt zum Abmarsch aus dem Tod Jesu [Graun]. [in Pommern] Gesang und Aufbau [Ausgabennotiz:] An Trautwein¹¹⁷ für [die Gluckschen Opern] Armide und Iphigenie  rth Die Liedertafelgesänge bei Trautwein bestellt. die Gesänge bei Trautwein bezahlt

 .., Do .., Di

Alexanderfest [Händel] Abends Mutter und Kinder auf der Liedertafel

.., Di .., Mi

Nachbemerkung Der erweiterte Datenbestand gibt Gelegenheit zu einigen ersten Beobachtungen. Zunächst lässt sich feststellen, dass Schleiermacher häufiger Opern und Konzerte besucht hat, als bisher bekannt war. Auch hat er sich sowohl für die leichte Muse (z. B. „Der lustige Schuster oder die Weibercur“ am 30. 8.1827) als auch für zeitgenössisches Repertoire innerhalb und auf seinen Reisen außerhalb Preußens und im europäischen Ausland interessiert, so in Dresden (4.10.1823), in London (11.9.1825) und in Oslo (15.9.1833). Hinter den knappen Eintragungen Schleiermachers zu seinen Kontakten verbergen sich auch in musikalischer Hinsicht Informationen, von denen wir erst durch die Gegenseite erfahren.¹¹⁸ Exemplarisch sei hier ein prominenter Zeuge genannt: Der später als Komponist der Oper „Die lustigen Weiber von Windsor“ berühmt gewordene Otto Nicolai. Von ihm erfahren wir Näheres über Schleiermachers vorletzten Geburtstag am 21. November 1832: „Vor Tische war ich da und machte Visite. – Die halbe Stadt gratuliert diesem sehr geschätzten und beliebten Redner an diesem Tage. – Ich war von den Studenten aufgefordert worden, ihnen diejenigen Musikstücke einzustudieren, welche sie dem Professor Schleiermacher abends bei Fackelschein als Ständchen singen wollten. […] Die Sache ging abends gegen 9 Uhr vor sich; und die Musikstücke (sämtlich von meiner Komposition)

 Traugott Trautwein, 1787– 1865, Musikverleger, Buch- und Musikalienhändler in Berlin.  Eine Aufnahme sämtlicher privater Kontakte zu den persönlich bekannten Musikern hätte den Rahmen der tabellarischen Übersicht gesprengt; sie sind per Recherche auf der Plattform schleiermacher digital (URL: https://schleiermacher-digital.de/tageskalender/index.xql) zu finden.

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Elisabeth Blumrich

gingen recht gut. […] Nach dem Ständchen war ich noch zu Schleiermachers eingeladen und so habe ich den gestrigen Abend ziemlich vergnügt verbracht. – Schleiermachers gehören zu den Leuten in Berlin, wo ich wirklich gern hingehe; die meisten Gesellschaften besuche ich nur aus Rücksichten.“¹¹⁹

 Otto Nicolai, Briefe an seinen Vater, hg. v. Wilhelm Altmann, Regensburg: Gustav Bosse Verlag 1924, Brief v. 22.11.1832, 31– 40, hier 33 – 34.

Kurzbiographien Elisabeth Blumrich, Dipl.-Theol., wissenschaftliche Mitarbeiterin der Schleiermacher-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), historischkritische Edition (digital) der Tageskalender F. Schleiermachers. Arbeitsschwerpunkte: Schleiermacher und Religionspädagogik. Publikationen (Auswahl): „Lob und Dank. Kinder lernen die Sprache der Freude an ausgewählten Psalmversen zur Schöpfung kennen“, Loccumer Pelikan. Religionspädagogisches Magazin für Schule und Gemeinde (1993); (Hg.) Friedrich Schleiermacher, Predigten 1820 – 1821, KGA III/6 (2015); „‚Vor allem hat Schleiermacher kalt und herzlos gesprochen.‘ Kultus versus Kult: Seine Gedächtnispredigt für Königin Luise“, in: Wissenschaft, Kirche, Staat und Politik: Schleiermacher im preußischen Reformprozess, hg. v. Andreas Arndt, Simon Gerber, Sarah Schmidt, Berlin / Boston: De Gruyter 2019. Bernadette Collenberg-Plotnikov, apl. Prof. Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ruhr-Universität Bochum (Forschungszentrum für Klassische Deutsche Philosophie / Hegel-Archiv) und außerplanmäßige Professorin an der FernUniversität in Hagen (Institut für Philosophie). Arbeitsschwerpunkte: Kunstphilosophie, philosophische Ästhetik und Kunstgeschichte. Publikationen (Auswahl): Die Allgemeine Kunstwissenschaft (1906 – 1943). Idee – Institution – Kontext, Hamburg: Meiner 2021 (Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft 20); „Grundzüge und Perspektiven der Allgemeinen Kunstwissenschaft“, in: Die Allgemeine Kunstwissenschaft (1906 – 1943); (Hg.) Max Dessoir – Emil Utitz – August Schmarsow – Richard Hamann – Edgar Wind. Grundlagentexte, Hamburg: Meiner 2021 (Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft 21), V–LVI. Majk Feldmeier, Dr. phil. (des.), Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie I der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Klassische Deutsche und nachklassische Philosophie, hier insbesondere F. H. Jacobi und S. Kierkegaard. Publikationen (Auswahl): „‚… das furchtbare darin, sich selbst unsterblich zu denken‘. Kierkegaards Referenz auf Jacobi in Stadien auf des Lebens Weg“, in: Subjekt und Person. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der klassischen deutschen Philosophie, hg. v. Oliver Koch und Johannes-Georg Schülein, Hamburg: Meiner 2019, 241 – 260; „Der Mensch, ein ‚krummes Holz?‘ Zur anthropologischen Fundierung von Religion bei Jacobi und Kant“, in: Jacobi und Kant, hg. v. Birgit Sandkaulen und Walter Jaeschke, Hamburg: Meiner 2021, 157 – 174. Simon Gerber, PD Pfarrer Dr. theol., BBAW, Theologische Fakultät der HU Berlin, Ev. Luther-Kirchengemeinde Berlin-Schöneberg. Arbeitsschwerpunkt: Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts. Publikationen (Auswahl): „Calixt von Rom und der monarchianische Streit“, ZAC 5 (2001), 213 – 239; „Georg Witzels Widerlegung der Schmalkaldischen Artikel“, KuD 62 (2016), 283 – 300; „Judenfeindschaft nach 1800 – unter besonderer Berücksichtigung von Rühs und Fries“, in: Dorothea Wendebourg u. a. (Hg.), Protestantismus, Antijudaismus, Antisemitismus, Tübingen: Mohr Siebeck 2017, 205 – 222. Wilhelm Gräb, Dr. theol., geb. Prof. em. für Praktische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum und an der Humboldt-Universität zu Berlin, Leiter des Instituts für Religionssoziologie; seit 2016 Leiter des Forschungsbereiches „Religiöse Gemeinschaften und Nachhaltige Entwickhttps://doi.org/10.1515/9783111025483-012

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Kurzbiographien

lung“ der HUB; seit 2011 Extraordinary Prof. an Universität Stellenbosch, RSA; seit 2022 Senior Advisor im Internationalen Graduiertenkolleg „Transformative Religion“. Publikationen (Auswahl): Predigtlehre. Über religiöse Rede, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013; Vom Menschsein und der Religion. Eine praktische Kulturtheologie, Tübingen: Mohr Siebeck 2018. Carolyn Iselt, Dr. phil. (des.), wissenschaftliche Mitarbeiterin der Schleiermacher-Forschungsstelle der BBAW, Lehrbeauftragte an der Universität Oldenburg, promoviert an der WWU Münster zum Thema „Individualität und Kunst. Zum Problem ihrer normativen Bestimmung in Hegels Phänomenologie des Geistes“. Arbeitsschwerpunkte: Kunst-, Subjekt- und Rechtsphilosophie in der klassischen deutschen Philosophie und in der kritischen Theorie. Publikationen (Auswahl): „Die Vergeistigung der Kunst bei Hegel und bei Adorno“, in: Anne Becker et al. (Hg.), Das Fortleben des Idealismus in der Kritischen Theorie (i. D.); „Die Tragödie als Bild absoluter Sittlichkeit? Zur politischen Notwendigkeit von Opfer und Herrschaft in Hegels Naturrechtsaufsatz (GW 4, S. 458.35 – 464)“, in: Michael Städtler et al. (Hg.): Hegels Naturrechtsaufsatz. Kooperativer Kommentar (i. D.). Holden Kelm, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der BBAW mit dem DFG-Projekt „Schleiermachers Ästhetikvorlesungen im Kontext. Zur Anwendung und Reflexion digitaler Methoden in der Konstellationsforschung“. Arbeitsschwerpunkte: Ästhetik, klassische deutsche Philosophie, Hegel-Rezeption in Frankreich. Publikationen (Auswahl): Hegel und Foucault. Die Geschichtlichkeit des Wissens als Entwicklung und Transformation, Berlin / Boston: De Gruyter 2015.; (Hg.) Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Ästhetik, unter Verwendung vorbereitender Materialien von W. Virmond, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/14, Berlin / Boston: De Gruyter 2021; „Architektur als erstarrte Zeitgeschichte. Schleiermachers Architekturästhetik in Hinblick auf die Berliner Innenstadt“, Schleiermacher-Archiv (i. D.). Dorothea Meier, PD Dr. phil. habil., Universität Rostock. Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Pädagogik und Historische Bildungsforschung, Schleiermacher (insbesondere Pädagogik, Psychologie, Konfirmationsunterricht). Publikationen (Auswahl): (Hg.) Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/12, Vorlesungen über die Pädagogik und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht, hg. v. Jens Beljan, Christiane Ehrhardt, Dorothea Meier, Wolfgang Virmond und Michael Winkler, Berlin / Boston: De Gruyter 2017; (Hg.) Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (KGA) II/13, Vorlesungen über die Psychologie, unter Mitwirkung v. Jens Beljan, Berlin / Boston: De Gruyter 2018; Schleiermachers Psychologie – Eine Phänomenologie der Seele, Baden Baden: Ergon 2019. Mari Mielityinen-Pachmann, Dr. phil., Universität Chemnitz, Zentrum für Lehrerbildung. Publikationen (Auswahl): „Die Individualität als Frage der Pädagogik bei Schleiermacher“, in: Denkkulturen. Selbstwerdung des Menschen. Erziehungskulturen. Festschrift für Prof. Dr. Heino Liimets. (Baltische Studien zur Erziehungs- und Sozialwissenschaft. Band 18), Frankfurt am Main: Peter Lang 2010, 211 – 224; mit Michael Uljens, „Hermeneutik, dannelse og uddannelsesteori – arven fra Schleiermacher“, in: Pædagogisk ide´historie. Bidrag til empirisk uddannelsesforskning, hg. v. Alexander von Oettingen, Kopenhagen: Hans Reitzels Forlag, 2019, 215 – 232; mit Michael Uljens, „Hermeneutics and non-affirmative theory of education“, in: Reinventing General Theory of Education – Non Affirmative Education; hg. v. Alexander v. Oettingen und Michael Uljens, Heidelberg: Springer Verlag 2022 (i. D.).

Kurzbiographien

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Cornelia Richter, Prof’in für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn, Sprecherin der interdisziplinären Forschungsgruppe DFG-FOR 2686 „Resilienz in Religion und Spiritualität“. Arbeitsschwerpunkte: Systematische Theologie und Hermeneutik. Publikationen (Auswahl): Die Religion in der Sprache der Kultur. Schleiermacher und Cassirer – Kulturphilosophische Symmetrien und Divergenzen, Tübingen: Mohr Siebeck 2004; „Integration of Negativity. Powerlessness and the Role of the Mediopassive“, in: Interdisciplinary Journal for Religion and Transformation in Contemporary Society 7/2, 2021, 491 – 513. Michael Winkler, Univ. Prof. i.R. Dr. phil. habil, bis 2018: Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik am Institut für Bildung und Kultur der Friedrich-Schiller-Universität Jena, jetzt: sozialpädagogischer Schriftsteller mit Lehraufträgen. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte und Theorie der Pädagogik, Friedrich Schleiermacher, Friedrich Fröbel. Theorie der Sozialpädagogik, Familienerziehung und Inklusion. Publikationen (Auswahl): Eine Theorie der Sozialpädagogik, Neuauflage mit neuem Nachwort, Weinheim und Basel: Beltz-Juventa 2021; Poetologie zur Sozialpädagogik. Über die Möglichkeiten von Belletristik für die Soziale Arbeit. Weinheim und Basel: Beltz-Juventa 2022; „Schleiermacher’s Theory of Education“, in: F.D.E. Schleiermacher’s Outlines of the Art of Education: A Translation & Discussion (Paedagogica, Vol. 2), hg. V. Norman Friesen und Karsten Kenklies, New York: Peter Lang International Academic Publishers 2022 (i. D); „Sich selbst (ver‐)trauen – wider den Bildungswahn“, in: Bildung und Kompetenz in Konkurrenz?, hg. v. Wassilios Baros und Maximilian Seiler, Wiesbaden: Springer VS 2022, 191 – 218.

Personenregister Adorno, Theodor W. 119 Alberthal, Ludwig 221 Alberti, Karl 226 Albertini, Johannes Baptist von 128 Albrecht, Christian 228 Altmann, Wilhelm 234 Ameriks, Karl 138 Ammon, Christoph Friedrich von 225 Amory, William 229 Arndt, Andreas 1 f., 7, 19, 21, 26, 41, 49, 60 f., 63, 76 f., 84 – 86, 111, 113, 128, 136, 198 Arndt, Ernst Moritz 226 Auber, Daniel-François-Esprit 229 August (Prinz von Preußen) 222 Aveyron, Victor von 103 Bach, Johann Sebastian 229 – 232 Baligand (auch Balligand), Karl Theodor von 225 Bargiel, Adolph 231 Barrett, William Alexander 229 Bartel, Franziska 100 Barth, Karl 80 Barth, Roderich 156 Barth, Ulrich 21, 26, 55 Bauer, Johannes 40 Baumgarten, Alexander Gottlieb 131, 133 f., 138 Beethoven, Ludwig van 229 Bekker (Becker), August Immanuel 139, 228 f. Beljan, Jens 3, 8, 24, 40, 61, 83, 103, 122 Benincasa, Gioacchino 225 Berg, Heinrich Ernst Christian von 232 Berger, Ludwig 224, 228 f. Bernfeld, Siegfried 123 f. Bernini, Gian Lorenzo 159 f. Beyer, Gottlieb Ludwig August von 224 Bindemann, Ernst Moritz Heinrich 150 Binkelmann, Christoph 138 Birkner, Hans-Joachim 116, 129 Blankertz, Herwig 108 https://doi.org/10.1515/9783111025483-013

Bleek, Friedrich 226 Blumrich, Elisabeth 15, 217 Bluhme, Friedrich 150 Bolterauer, Alice 172 Bonaparte, Napoleon 117 Bonsiepen, Wolfgang 147 Boucher, Alexandre-Jean 223 Bouterwek, Friedrich 140 Brachmann, Jens 71 f., 98 Brahl, Johann 218 Braun, Otto 40, 129 f., 194 Braune, Heinrich Wilhelm Julius 150 Breyer, Thiemo 94 Brinckmann, Carl Gustav von 21, 23 Brückner, Burkhart 82 Brüggen, Michael 22 Burda, Hubert 172 Burdorf, Dieter 1, 12, 130, 156 Busch, Werner 171 Buschendorf, Bernhard 151 Campe, Johann Heinrich 108 Cappelørn, Niels J. 86 Carlyle, Thomas 165 Cassirer, Ernst 10, 13, 79 f., 84, 86 – 95, 151 f. Catalani, Angelica 228 Cherdron, Eberhard 217 Climacus, Johannes (Syn. Søren Kierkegaard) 20 Collenberg-Plotnikov, Bernadette 14, 151 Cordes, Martin 23 Costazza, Alessandro 135 Cramer, Konrad 26 Croce, Benedetto 128 Cummerow, Lotte 218 Dahlhaus, Carl 228 Dalferth, Ingolf Ulrich 160 Dammer, Karl-Heinz 108 Decher, Friedhelm 19 Descartes, René 81 Dethloff, Klaus 86

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Personenregister

Devrient, Eduard 231 Dierken, Jörg 2, 80 f., 83, 129, 178 f., 193 Dierkes, Hans 217 Diers, Michael 151 Dilthey, Wilhelm 11, 13, 169, 173 Donatello 160 Donizetti, Domenico Gaetano Maria 232 Dorn, Heinrich 224 Duisburg, Friedrich Carl Gottlieb 128 Dunbar, Robin 102 Durkheim, Emile 102, 119 Eberhard, Johann August 12, 131, 133 f., 141, 143 Eggers, Carl Adolf Johann 227 Ehrhardt, Christiane 8, 24, 61, 103 Einstein, Albert 90 Emersleben, Lars 128, 201 Engels, Friedrich 104 Erbkam, Wilhelm Heinrich 150 Feldmeier, Majk 8 f., 19 Feuerbach, Ludwig 104 Fichte, Johann Gottlieb 19, 21 f., 113, 138, 146 Fischer, Luise 232 Fischer, Karoline 232 Francke, August Hermann 108 Frankl, Viktor E. 94 Franz I, Kaiser von Österreich 81 Frerichs, Jacob 193, 198 Freud, Sigmund 169 Friebel, Horst 100 Fröbel, Friedrich 123 Frost, Ursula 100 Früchtl, Josef 172 Fuchs, Thorsten 116 Funk, Friederike 225 Gallyot, Céleste 223 Gärtner, Judith 94 Gaß, Joachim Christian 139, 221, 227 Gehlen, Arnold 82 Geiser, Franziska 94 Gellert, Christian Fürchtegott 230 George, Johann Friedrich Leopold 150 Gerber, Simon 14, 136, 193, 217

Gerhardt, Volker 83 Giovanni, Bertoldo di 160 Gliwitzky, Hans 146 Gluck, Christoph Willibald Ritter von 223 f., 226, 230, 232 f. Goethe, Johann Wolfgang 90, 140, 230 Goldstein, Kurt 89 f. Gombrich, Ernst Hans Josef 160, 162, 164 f. Gordon, Paul 138 Goss, John 229 Götz, Carmen 22, 31 Gräb, Wilhelm 9, 39, 57 Grashof (Graßhoff), Karl Friedrich August 219 Graun, Carl Heinrich 219, 224 f., 227 – 230, 232 f. Grell, Frithjof 105 Grove, Peter 129, 178 Grueveska, Julia 99 Hackel, Christiane 217 Hammacher, Klaus 21 f. Händel, Georg Friedrich 222, 224, 226 – 231, 233 Hartlieb, Elisabeth 65 f. Hauschildt, Eberhard 94 Haydn, Joseph 223 f. Heede, Reinhard 147 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 7, 11, 14, 19 f., 57, 84, 104, 106 f., 109, 114, 128, 138 f., 144, 147, 175 Heinrici, Carl Friedrich Georg 140 Helvetius, Claude-Adrian 98 Henke, Ernst Ludwig Theodor 150 Hennigfeld, Jochem 19 Herbart, Johann Friedrich 108 f. Herder, Johann Gottfried 82, 104 Hering, Ewald 164 Hermanni, Friedrich 57 Herms, Eilert 83 – 86 Herz, Henriette 226, 228 Hobbes, Thomas 81 Holbein, Hans (der Jüngere) 166 Holzhey, Helmut 138 Huchenau, Artur 123 Huizing, Klaas 160 – 162, 174 Humboldt, Alexander von 82

Personenregister

Humboldt, Wilhelm von 87, 89 Hume, David 76 Hummel, Johann Nepomuk 228 Iselt, Carolyn 14, 177 Itard, Jean 103 Jacobi, Friedrich Heinrich 8 f., 19 – 23, 25 f., 29 – 37 Jaeschke, Walter 12, 21 f., 31, 35, 138 Jehle, May 116 Jonas, Ludwig 153, 172, 194 Junghans, Martin 20 Käfer, Anne 106, 135 Kähler, Moritz Friedrich August 232 Kant, Immanuel 2, 4, 11, 19, 25, 27 – 30, 48, 60 f., 81 – 83, 85 f., 89, 91, 93, 109, 113, 115, 124, 128 f., 131 – 135, 138 f., 144 Kasper, Norman 133 Kathen, Karoline (Lina) Marie Sybille von 224 f., 229 Kehrbach, Karl 108 f. Kelly, Frances Maria 229 Kelm, Holden 3, 11, 14, 127 f., 142, 173, 177 – 179, 182, 187, 201 Kemp, Wolfgang 171 Kennick, William E. 177 Kertscher, Hans-Joachim 133 Kierkegaard, Søren (Syn. Climacus, Johannes) 20, 86 Klein, Bernhard 222, 225, 229 f. Klein, Constantin 94 Kleint, Steffen 100, 111 Klenze, Clemens August Carl 228 Kobes, Minna 224 Köhler, Christian Philipp 231 Koopmann, Helmut 32 Korczak, Janusz 123 Korsch, Dietrich 94 Krause, Amalie 225 Krause, Ludwig 225 Krause, Sabine 116 Krauss, Werner 109 Krois, John Michael 151 f. Kuster, Friederike 62, 70

241

Laist, Bruno 100 Lamprecht, Karl 164 Langer, Susanne K. 89 Langewand, Alfred 100, 116 Laudin, Gérard 135 Lauer (von Münchhofen), Adolf Karl Heinrich Freiherr 227 Lauer (von Münchhofen), Rosalie, geb. Gräfin von Haeseler 227 Lauth, Reinhard 146 Lehnerer, Thomas 13, 148, 177 – 182 Leibniz, Gottfried Wilhelm 131 Lepsius, Bernhard 223 Lessing, Gotthold Ephraim 25 f., 113 Lessing, Hans-Ulrich 99 Lichtenstein, Hinrich 229 – 232 Liggieri, Kevin 99 Lommatzsch, Carl Bernhard 150, 173, 230 Lothringen, Stephan von 81 Luhmann, Niklas 84 Lukács, Georg 32 Maar, Christa 172 Mädler, Inken 191 Mahling, Christoph Helmut 228, 230 Makarenko, Anton Semjonowitsch 109 Marheineke, Philipp Konrad 230 Maria Theresia, Kaiserin von Österreich 81 Markschies, Christoph 228 Marquard, Odo 82 Marx, Karl 104 Matthes, Joachim 43 f. Meckenstock, Günter 2, 24, 39, 48, 60, 68, 100, 128, 132, 135, 195 Meier, Albert 135 Meier, Dorothea 1 – 3, 8, 24, 40, 50, 61, 64 f., 83, 103, 121 f., 128, 200 Meisner, Heinrich 139 Mendelssohn, Moses 131, 133 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 224, 229, 231, 232 Menke, Christoph 129 Meyerbeer, Giacomo 230 Mielityinen-Pachmann, Mari 9 f., 59 Milder-Hauptmann, Anna 222 f. Miodoński, Leon 142 Moog-Grünewald, Maria 172

242

Personenregister

Moritz, Karl Philipp 139 Morlacchi, Francesco 225 Möser, Carl 222 Moxter, Michael 156, 168 f., 174 Mozart, Wolfgang Amadeus 221 – 223, 225 – 227, 230, 232 Mühlenfels, Baron von 220, 223 Müller, Gerhard 228 Munzinger, André 106, 114 Nassehi, Armin 44 Neeb, Johann 20 Neukomm, Sigismund von 231 Nicolai, Otto 231 – 234 Nietzsche, Friedrich 161 Noack, Hermann 151 f. Nonnenmacher, Burkhard 57 Nowak, Kurt 131 Odebrecht, Rudolf 150 Ohrt, Roberto 152 Ohst, Martin 191 Osthövener, Claus-Dieter

21, 26

Paër, Ferdinando 229 Paetzold, Heinz 138 Paganini, Nicolò 230 Panofsky, Erwin 151 Parthey, Lili 223 Patsch, Hermann 217 Pecina, Björn 178 f., 189 Pestalozzi, Johann Heinrich 123 Petzke, Auguste 226 Pfund, Johann Gottfried 222 Piaget, Jean 75 Pinna, Giovanna 138 Piske, Irmgard-Maria 22 Pistor, Karl Philipp Heinrich 225 Platz, Carl 6, 61 f., 73, 84, 98, 100, 110, 120, 152, 212 Plessner, Helmuth 79, 99 Radbruch, Lukas 94 Radziwill, Fürst Anton Henryk von Raffael (Raphael) 166 Rebentisch, Juliane 171 Redeker, Martin 11, 169

231 f.

Reichardt, Gustav 222, 225 f., 228 Reimer, Georg Andreas 2, 98, 128, 139, 150, 153 f., 167, 172 f., 193 f., 208, 217, 228, 232 Reinhardt, Heinrich Wilhelm 224 – 228 Reinhardt, Julie 222 – 228 Rellstab, Ludwig 225 Richter, Cornelia 10, 13, 79, 84, 86, 94 Richter, Jean Paul 22 Riegl, Aloys 157 Ritschl, Georg Carl Benjamin 222 Ritter, Joachim 82 Romberg, Andreas 223 Rossini, Gioacchino 227 Rössler, Martin 12, 142, 153, 201 Roth, Friedrich 20 Rousseau, Jean Jaques 62, 70, 98, 105, 108 Rubens, Peter Paul 190 Rüdiger, Julia 82 Rungenhagen, Carl Friedrich 231 f. Rutschky, Katharina 101 Sandkaulen, Birgit 22, 37 Sass, Hartmut von 84 Sauerbrey, Ulf 123 Sauerländer, Willibald 171 Sautermeister, Jochen 94 Savigny, Friedrich Karl von 223 Schäfer, Rolf 40, 167, 195, 209 Schechner-Waagen, Nanette (Anna) 229 Schede, Karl Wilhelm Ludwig 222, 224, 226 – 229 Scheliha, Arnulf von 2, 81, 129, 178, 193 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 11, 19, 57, 110, 128, 138, 140, 142 Schick, Friederike 57 Schiller, Friedrich 32, 109, 113, 135 Schlegel, August Wilhelm 2, 60, 133 Schlegel, Friedrich 2, 60, 135 Schleiermacher, Anne (Nanny) Maria Louise 218 f. Schleiermacher, Clara Elisabeth 223, 230, 232 Schleiermacher, Hanna Gertrud 229 f., 232 Schleiermacher, Karl (Carl) 223 Schleiermacher, Nathanael Hermann 229 Schletterer, Hans Michael 223

Personenregister

Schluß, Henning 116 Schmid, Dirk 194 Schmidt, Bernhard 217 Schmidt, Sarah 113, 142, 217, 235 Schmücker, Reinold 1, 12, 130, 156, 169 f., 172 – 174 Scholtz, Gunter 12 Schubert, Franz 224 Schuffenhauer, Heinz 117 Schulz, Heiko 84 Schurr, Johannes 61 f., 67 – 70 Schwarz, Adolf Philipp Theodor 101, 222 Schweizer, Alexander 2, 127, 130, 145 – 148, 150, 154, 180, 183, 189 Schweizer, Dieter 82 Schwerin-Putzar, Elisabeth (Betty) Luise Ulrike Charlotte Gräfin von 226 Scribe, Eugène 232 Sebald, Amalie 225 Sebald, Auguste 222, 225 Selge, Kurt-Victor 13, 148, 177 Semon, Richard 164 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 11, 128, 137 f. Sontag, Henriette 227 Spalding, Georg Ludwig 221 Spinoza (Spinosa), Baruch de 25 f. Spohr, Louis 226, 230 Spontini, Gasparo 230 Spranger, Eduard 123 Sprüngli, Jacob 100 Steffens, Henrik 113, 142, 225 f. Stein, Lorenz von 119, 138, 214 Steinhauser, Monika 171 Stern, Sigismund 150 Stettbacher, Hans 123 Stöckmann, Ernst 133 Stoellger, Philipp 160 Stolzenberg, Jürgen 138 Stümer, Heinrich 231 Sudhof, Siegfried 22 Terborch, Gerard 159 f. Tice, Terrence N. 217 Todd, Ralph Larry 231 Tomasello, Michael 102 Trautwein, Traugott 229, 233

243

Trendelenburg, Friedrich Adolf 150 Treviranus, Gottfried Reinhold 142 Türrschmidt (Thürrschmidt), Auguste 226, 230 Türrschmidt (Thürrschmidt), Carl Nicolaus 226 Twesten, August 140 Unger, Daniel

138

Varnhagen, Rahel 226 Venturi, Adolfo 168 Virmond, Wolfgang 8, 11, 15, 21, 24, 61, 103, 127 f., 132, 140, 143 f., 217 Vischer, Friedrich Theodor 160 Warburg, Aby 14, 151 – 153, 156 – 172, 174 f. Warnke, Martin 158, 172 Weber, Carl Maria von 222 f., 231 Weigl, Joseph 229 Weitz, Morris 177 Wiese, Benno von 32 Wigand, Eugen Anton 150 Willich, Ehrenfried von 226, 232 Willich, Henriette von 220, 226 Willich, Henriette Pauline Marianne von 226 Willich, Margarethe Dorothea (Doris) von 228 Willmann, Otto 119 Wiltschnigg, Elfriede 172 Wind, Edgar 14, 151 – 171, 175 Winkler, Michael 7 f., 10 f., 24, 61, 97 f., 103, 123 Winterfeld, Carl Georg Vivigens von 224 Winterfeld, Karl Friedrich Gotthilf von 227, 229 Winzer, H. L. F., geb. Pochhammer 223 Wittekind, Folkart 21 Wolfart(h), Karl Christian 224 Wolfe, Judith 84 Wolfes, Matthias 228 Wolff, Christian 131 Wölfflin, Heinrich 157 – 159 Wulf, Christoph 99 Zarnow, Christopher

156

244

Personenregister

Zelter, Carl Friedrich 231 f. Ziermann, Christoph

218, 221, 225, 228, 119

Ziff, Paul 177 Zimmermann, Johanna (Hannchen) 228

224,