Interpretation und Wissen: Zur philosophischen Begründung der Hermeneutik bei Friedrich Schleiermacher und ihrem geschichtlichen Hintergrund 9783110855784, 9783110115932

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Interpretation und Wissen: Zur philosophischen Begründung der Hermeneutik bei Friedrich Schleiermacher und ihrem geschichtlichen Hintergrund
 9783110855784, 9783110115932

Table of contents :
Einleitung
1. Elemente der Zeichentheorie, Sprachauffassung und Hermeneutik des 18. Jahrhunderts und der Romantik im Hinblick auf Schleiermacher
1.1 Semiotischer Rationalismus
1.2 Semiotischer Realismus
1.3 Semiotischer Idealismus
2. Die philosophische Begründung der Hermeneutik bei Schleiermacher
2.1 Zur Theorie der Subjektivität
2.2 Philosophie des Endlichen
2.3 Dialektik als Theorie des endlichen Wissens
2.4 Hermeneutik und Dialektik
2.5 Theorie und Methode des Verstehens
2.6 Schluß
Literaturverzeichnis

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SchlA 6

w DE

G

Schleiermacher-Archiv Herausgegeben von Hermann Fischer und Hans-Joachim Birkner, Gerhard Ebeling, Heinz Kimmerle, Kurt-Victor Selge

Band 6

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1988

Reinhold Rieger

Interpretation und Wissen Zur philosophischen Begründung der Hermeneutik bei Friedrich Schleiermacher und ihrem geschichtlichen Hintergrund

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1988

Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)

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der Deutseben

Bibliothek

Rieger, Reinhold: Interpretation und Wissen : zur philos. Begründung d. Hermeneutik bei Friedrich Schleiermacher u. ihrem geschichtl. Hintergrund / Reinhold Rieger. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1988 (Schleiermacher-Archiv ; Bd. 6) ISBN 3-11-011593-X NE: GT

1988 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Printed in Germany. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Druck: Hildebrandt, Berlin 65 Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

INHALT Seite Einleitung

1.

1

Elemente der Zeichentheorie,

Sprachauffassung

und Hermeneutik des 18. Jahrhunderts und der

1.1

Romantik im Hinblick auf Schleiermacher

5

Semiotischer Rationalismus

5

1.1.1

Leibniz

1.1.1.2

Die Individualität der Monade

5 8

1.1.1.3

Die Repräsentationsfunktion der Monade

11

1.1.1.4

Der vollständige Begriff der Monade

14

1.1.1.5

Der Zeichencharakter der Monade

15

1.1.1.6

Die Textualität der Monade

18

Ansatz zu einer Hermeneutik

21

1.1.1.7 1.1.2

Wolff

24

1.1.2.1

Repräsentation und Sprache

24

1.1.2.2

Elemente der Hermeneutik

28

1.1.3

Baumgarten

1.1.3.1

Sinnliche Erkenntnis und Zeichen

31 31

1.1.3.2

Hermeneutik als Teil der Semiotik

34

1.1.3.3

Text und Dichtung

36

1.1.4

Lambert

39

1.1.5

Meier

41

1.1.5.1

Begründung der Semiotik

41

1.1.5.2

Begründung der Hermeneutik

45

1.2

Semiotischer Realismus

1.2.1 1.2.1.1 1.2.1.2 1.2.2

Hamann Vernunft und Sprache Zur Hermeneutik Herder

49 49 49 52 53

1.2.2.1

Zusammenhang von Sprache und Denken

53

1.2.2.2

Zur Kant-Kritik Herders

57

1.2.2.3 1.2.3 1.2.3.1

Verstehen und Anerkennen Jean Paul Friedrich Richter Zur Fichte-Kritik

62 65 65

Inhalt

VI

Seite 1.2.3.2

Sprache und Witz

67

1.2.3.3

Verstehen und Witz

72

1.3

Semiotischer Idealismus

1.3.1

Friedrich Schlegel

1.3.1.1

74 74

Zur Sprachphilosophie

74

Wesen der Sprache

74

1.3.1.1.1 1.3.1.1.1.1

Anthropologischer Stellenwert der Sprache 75

1.3.1.1.1.2

Synthetische Funktion der Sprache

75

1.3.1.1.1.3

Synthetischer Charakter der Sprache

78

1.3.1.1.1.5

Einheit von Denken und Sprechen

81

1.3.1.1.1.6 1.3.1.1.2

Die historische Funktion der Sprache Sprache und Schrift

85 87

1.3.1.1.2.1

Funktion der Schrift

87

1.3.1.1.2.2

Schrift und Interpretation

92

1.3.1.1.3

Sprache der Natur

94

1.3.1.1.3.1

Natur als Gegen-Ich

94

1.3.1.1.3.2

Dialog mit der Natur

99

1.3.1.1.3.3 1.3.1.1.4

philosophie und Sprache Sprache und Kunst

102 104

1.3.1.1.4.1

Sprache als Kunstwerk

104

1.3.1.1.4.2

Kunst als Sprache

105

1.3.1.1.4.3

Sprache und Dichtung

107

1.3.1.2

Zur Hermeneutik

1.3.1.2.1

Wesen des Verstehens

111 111

1.3.1.2.1.1

Vernunft und Verstand

111

1.3.1.2.1.2

Verstehen als Dialog

114

1.3.1.2.1.3

Die Kreativität des Verstehens

119

1.3.1.2.1.4 1.3.1.2.2

Die Grenze des Verstehens Aspekte des Verstehens

125 129

1.3.1.2.2.1

Rezeptivität

129

1.3.1.2.2.2

Reflexion

130

1.3.1.2.2.3

Hermeneutik und Kritik

132

1.3.1.3

Zur Interdependenz von Sprachphilosophie und Hermeneutik

139

VU

Inhalt

Seite 1.3.2

Novalis

1.3.2.1

Texttheoretische Implikationen

1.3.2.1.1

Semiotischer Idealismus

141 141 141

1.3.2.1.1.1

Endlichkeit des Subjekts

141

1.3.2.1.1.2

Zeichen

145

1.3.2.1.1.3

Sprache und Text

155

1.3.2.1.1.4

Denken und Sprechen

163

1.3.2.1.1.5

Magischer Idealismus

168

1.3.2.1.1.6

Wissenschaftslehre als Semiotik

178

1.3.2.1.2

Textualität

181

1.3.2.1.2.1

Sprache im Vollzug

181

1.3.2.1.2.2

Bestimmtheit

183

1.3.2.1.2.3

Schrift

187

1.3.2.1.2.4 1.3.2.1.3

Buch Xsthetizität

191 193

1.3.2.1.3.1

Kunstcharakter der Sprache

193

1.3.2.1.3.2

Dichtung als höchste Kunstform

194

1.3.2.1.3.3

Dichtung und Leben

196

1.3.2.1.3.4

Dichtung und Philosophie

197

1.3.2.2

Hermeneutik

201

1.3.2.2.1

Verstehertsbegriff

201

1.3.2.2.2

Verstehensprozeß

203

1.3.2.2.2.1 1.3.2.2.2.2

Ansatz des Verstehens

203

Mitteilung durch Alienation und Aneignung

205

1.3.2.2.2.3

Symptomatik und Repräsentation

209

1.3.2.2.2.4

Kunstcharakter des Verstehens

212

1.3.2.2.3

Textkonstitution und Verstehen

217

1.3.2.2.4

Philosophische Begründung der Hermeneutik

219

2.

Die philosophische Begründung der Hermeneutik bei Schleiermacher

2.1

Zur Theorie der Subjektivität

2.1.1 2.1.1.1

Die Endlichkeit des Subjekts Das unmittelbare Selbstbewußtsein

221 222 222 222

Vili

Inhalt

Seite 2.1.1.2

Gottesbewußtsein

2.1.1.3

Ursprüngliche Textkonstitution u n d Textinterpretation

2.1.2

Philosophie des Endlichen

2.2.1

Die Endlichkeit des Wissens

2.2.2

Ableitung der Ethik als Theorie des geschichtlichen Geistes

2.2.2.1 2.2.2.2 2.2.3

237 237 242 242

Entfaltung der Ethik

245 251

Das W i s s e n u n d die Textkonstitution in der Ethik

2.2.3.2

251

Verhältnis v o n Textkonstitution u n d Textinterpretation in der Ethik

2.2.3.3 2.2.4

235

Ableitung der Ethik als solcher Der Ort der Hermeneutik in der Ethik

2.2.3.1

2.3

232

Individualität u n d Geschichtlichkeit des Subjekts

2.2

229

Hermeneutik als Theorie, Kritik u n d Technik Zum philosophischen System Schleiermachers

253 257 258

Dialektik als Theorie des endlichen Wissens

262

2.3.1

Der dialogische Charakter der Dialektik

262

2.3.2

Die polare Struktur des Denkens

265

2.3.2.1

Die Polarität im Denkprozeß

265

2.3.2.2

Die Polarität im W i s s e n

269

2.3.3

Die Sprachlichkeit des Denkens

2.3.3.1

Funktion der Sprache

2.3.3.1.1 2.3.3.1.2

2.3.3.2 2.3.4 2.3.4.1 2.3.4.2

273

Zur differenzierenden Funktion der Sprache 273 Zur individualisierenden Funktion der Sprache

2.3.3.1.3

273

274

Zur schematisierenden Funktion der Sprache 278 Der Zusammenhang v o n Sprache u n d Denken

Die Textualität des Wissens Dialektik als Theorie der Textkonstitution

279 285 285

Interdependenz von Textkonstitution und Textinterpretation

287

Inhalt

IX

Seite 2.4

Hermeneutik u n d Dialektik

2.4.1

Hermeneutik u n d Dialektik 2.4.2 2.5

290

Interdependenz u n d Komplementarität v o n 290

Die Funktion der Hermeneutik für die Dialektik 294 Theorie u n d Methode des Verstehens

300

2.5.1

Aufgabe des Verstehens

300

2.5.2

Der Gegenstand des Verstehens

310

2.5.2.1

Zur grammatischen Interpretation

314

2.5.2.2

Zur psychologischen Interpretation

321

2.5.3 2.6

Die Methode des Verstehens Schluß

Literaturverzeichnis

325 332 341

Einleitung Der folgende Versuch einer Darstellung der philosophischen Begründung der Hermeneutik bei Schleiermacher und ihres geschichtlichen Hintergrundes hat primär historisches, nicht systematisch-aktualisierendes Interesse. Es soll aber nicht um Einflußforschung oder um biographisch-genetische Feststellungen gehen, sondern um einen ideengeschichtlichen Aufriß, der den Ansatz Schleiermachers im Rahmen der mitteleuropäischen Philosophie des 18. Jahrhunderts und der Romantik betrachtet. Es steht dabei nicht die Kritik im Vordergrund, sondern die Rekonstruktion der jeweiligen Ansätze. Der historische Rahmen kann nur selektiv und skizzenhaft dargestellt werden. Es findet eine Beschränkung auf die Vorgeschichte Schleiermachers statt, weshâlb z.B. W.v.Humboldt oder Bernhardi fehlen, und auf Elemente zur philosophischen Begründung der Hermeneutik, weshalb etwa Chladenius und Erneáti fehlen. Die philosophische Begründung der Hermeneutik bèi Schleiermacher findet statt in großer Nähe zur romantischen Philosophie, deren Hauptvertreter Fr. Schlegel und Novalis1 sind. Diese beiden stehen in Auseinandersetzung mit dem subjektiven Idealismus des frühen Fichte, durch die sich eine neue Variante des Idealismus bildet, die man semiotischeh Idealismus nennen könnte und zu der auch Schleiermacher zu rechnen ist. Denn Schleiermacher stimmt mit Fr. Schlegel und Novalis darin überein, daß die Gefahr des Subjektivismus überwunden werden könne, indem das Verhältnis des Denkens zum Zeichen, zur Sprache bedacht wird. Aus diesem Verhältnis heraus ergibt sich für die drei die Notwendigkeit der Hermeneutik. Trotz dieser gemeinsamen Basis unterscheidet sich Schleiermacher von Fr. Schlegel und Novalis, während für Schlegel Erkennen und Verstehen zusammenfallen, weil die Weltgegenstände wie die Kulturgegenstände Zeichencharakter haben, sind bei Schleiermacher Erkennen und Verstehen die beiden komplementären Hälften des Wissensprozesses. Fr. Schlegels Pan1

Zum Verhältnis Schleiermachers zu Fr. Schlegel vgl. Briefe I, 161ff. 277. IV, 61. 89f. Zu Novalis vgl. ebd. I, 291. 309. 381. II, 28.

2

Einleitung

logismus will die Differenzen in die umfassende Alleinheit auflösen, wogegen Schleiermacher gerade der Differenz eine konstitutive Funktion für das Wissen zubilligt. Die Hermeneutik ist bei Schlegel eine absolute Universalhermeneutik, bei Schleiermacher steht sie in produktiver Spannung zur Dialektik, die ihre Verabsolutierung verhindert. Die Unterscheidung von Erkennen und Verstehen teilt Schleiermacher mit Novalis, weil er wie dieser im Gegensatz zu Fr. Schlegel an den kritischen Idealismus Kants anknüpft. Schleiermacher und Novalis räumen deshalb der Realität ein Eigenrecht ein, so daß die Differenz zwischen Natur und Zeichen gewahrt bleibt. Die Hermeneutik hat die spezifische Aufgabe der Zeicheninterpretation zum Gegenstand, die zur Naturerkenntnis beiträgt, weil diese sich immer der Zeichen bedient, aber nicht schlechterdings mit ihr zusammenfällt. Der Realismus-Anspruch des Novalis gerät allerdings in seinem magischen Idealismus in Gefahr, wenngleich in weniger starkem Maße als bei Schlegel, weil für Novalis die Fiktionalität der magischen Identifizierung von Natur und Zeichen bewußt bleibt. Schleiermacher ist hingegen mit seiner Zuordnung von Hermeneutik und Dialektik konsequenter und versucht die Spannung zwischen Denken und Sein und zwischen Denken und Sprechen durchzuhalten, weil sich erst aus ihr wirkliches Wissen ergibt. Die philosophische Begründung der Hermeneutik bei Schleiermacher hat deshalb im Gegensatz zu Novalis systematischen Charakter. Der semiotische Idealismus Fr. Schlegels, Novalis' und Schleiermachers und deren Hermeneutik haben ihre Wurzeln einerseits im kritischen Idealismus Kants, der die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis analysierte, andererseits in der semiotisch-realistischen Kritik Hamanns, 2 Herders und Jean Pauls an Kant und am frühen Fichte. Diese brachte die durch Zeichen vermittelte Erfahrung der Wirklichkeit gegen den Subjektivismus und Apriorismus der Transzendentalphilosophie zur Geltung, wobei der Zeichenbegriff der 2

Zur Bekanntschaft Schleiermachers mit Jean Paul vgl. Briefe I, 179. 245.

Einleitung

3

Aufklärung durch die Idee einer produktiven Einbildungskraft modifiziert wurde. Der semiotische Realismus betonte die Geschichtlichkeit der Erkenntnis in ihrer Bindung an die kulturell begründeten Zeichen. Besonders für Hamann und Herder stehen Sprechen und Denken in so enger Beziehung, daß sie nicht zwischen anschaulichem und begrifflichem Denken und deren unterschiedlichem Verhältnis zur Sprache trennen. Dies findet seine Fortsetzung in der Auffassung der Romantik von der Interdependenz zwischen Sprechen und Denken, wo die klare Bestimmung des Verhältnisses ebenfalls fehlt, so daß die Hermeneutik undifferenziert auf das Denken und Wissen bezogen wird. Der semiotische Realismus impliziert eine objektive Hermeneutik, weil das Verstehen den Text auf das Innere des Autors hin überschreitet. Hier hat der psychologische Aspekt der Hermeneutik Schleiermachers einen Anhaltspunkt, wenngleich die Psychologie bei Schleiermacher in Wechselwirkung mit der Grammatik steht. Der semiotische Idealismus, dem Schleiermacher zuzurechnen ist, und der semiotische Realismus, von dem er Impulse empfangen hat, bezogen den Zeichenbegriff aus dem Rationalismus des 18. Jahrhundert, der wegen seiner semiotischen Grundlage semiotischer Rationalismus genannt werden könnte. Im semiotischen Rationalismus, dessen Beginn mit Leibniz angenommen werden kann, wurde dem Zeichen eine unverzichtbare Funktion für das Denken zugesprochen. Das Denken vollzieht sich demgemäß immer mit Hilfe von Zeichen, etwa einer Sprache. Im Unterschied zum semiotischen Realismus und noch deutlicher zum semiotischen Idealismus der Romantik hat das Zeichen hier instrumenteilen Charakter. Es dient zum Ausdruck des Denkens, dessen Begrifflichkeit unabhängig von den Zeichen in der Bezugnahme auf die objektiven Weltgegenstände entsteht. Für den Rationalismus gilt eine Entsprechungsrelation zwischen Gegenstand, Begriff und Zeichen. Erst die transzendentale Wende durch Kant bereitete einer produktiven Einbildungskraft den Boden, die diese Entsprechung als im Subjekt begründet erklären ließ, so daß die Gegenstände ihre Gestaltung durch die subjektiven Begriffe erfahren. Im semiotischen Realismus und Idealismus wurde diese Entwicklung weitergeführt durch

4

Einleitung

die Betonung der konstitutiven Funktion der Zeichen bei der Ausbildung von Wissen. Angebahnt wurde die transzendentale Wende zum Subjekt, die auch für Schleiermachers Philosophie konstitutiv bleibt, schon in der Monadologie von Leibniz, für den die Monade als Individuum das Universum repräsentiert und, weil sie fensterlos ist, durch die prästabilierte Harmonie dazu in die Lage versetzt wird. Die Idee der prästabilierten Harmonie wurde von Wolff aufgegeben und später von Kant ersetzt durch die Idee der rezeptiven und spontanen Ausstattung des Subjekts. Der semiotische Charakter des Rationalismus in Anschluß an Leibniz implizierte eine objektive Hermeneutik, deren Gegenstand das Verstehen als Reproduktion des Gemeinten war, und 3

zwar des Gemeinten im Sinne der Bezeichnung , der Referenz, des Bezugs auf den objektiven außersprachlichen Sachverhalt. Diese objektive Hermeneutik wurde wohl erst unter dem Einfluß des transzendentalen Idealismus Kants und des geschichtlichen Realismus Hamanns und Herders zugunsten einer produktiv-subjektiven Hermeneutik überwunden, die eine Hermeneutik des Sinns, nicht nur der Bezeichnung ist. Diese Hermeneutik des Sinns fand ihre systematische philosophische Begründung bei Schleiermacher.

3

Zur Definition der im folgenden zur Analyse verwendeten Termini: Sprache im allgemeinen, Einzelsprache, Text und der ihnen entsprechenden Termini für die Inhalte: Bezeichnung, Bedeutung, Sinn vgl. COSERIU 1973, 6-9. 1980, 7f. 35-47. 48-50.

1.

Elemente der Zeichentheorie, Sprachauffassung und Hermeneutik des 18. Jahrhunderts und der Romantik im Hinblick auf Schleiermacher

1.1

Semiotischer Rationalismus

1.1.1 1.1.1.1

Leibniz Ansatz der Monadenlehre

Der Titel einer Abhandlung Leibnizens von 1695 formuliert sein Programm: "Systeme nouveau de la nature et de la communication des substances, aussi bien que l'union qu'il y a entre l'ame et le corps" . Es geht Leibniz darum, einen Neuansatz in der Metaphysik vorzunehmen, der das Wesen der Natur bestimmt, indem er einerseits die Beziehungen zwischen den Substanzen, andererseits die Beziehung zwischen Seele und Körper erklärt. Leibniz übt scharfe Kritik am Descartesschen Dualismus von Seele und Körper, dem gemäß diese zwei voneinander getrennte Substanzen sind, die ein unterschiedliches Wesen haben, nämlich Denken bzw. Ausdehnung. Für Leibniz ist der Körper als solcher, insofern er nur durch Ausdehnung bestimmt ist, keine Substanz, weil er unendlich teilbar ist, weil es keine materiellen unteilbaren Atome gibt, aus denen er sich aufbaute. Die Materie allein kann keine Substanz bilden, denn sie ist nicht in der Lage, die Vielheit des Materiellen und Teilbaren zur Einheit zu bringen, was Voraussetzung für die Substanz 2

ist . Leibniz schreibt am 27. Dez. 1701 an de Voider: "Inter primarios Cartesianorum errores est, quod extensionem tanquam 1

Titel der Abhandlung in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg. von C.J. Gerhardt, IV. Bd., Berlin 1880 (Nachdruck Hildesheim 1960), 477. Die Ausgabe von Gerhardt wird hinfort abgekürzt zitiert durch: Gerh. PhS mit Bandnummer und Seitenzahl. Die Orthographie der Leibnizzitate ist entsprechend der jeweiligen Ausgabe beibehalten. Dies gilt auch für alle anderen nicht deutschsprachigen Texte. Bei deutschsprachigen Texten wurde i.d.R. die Orthographie und Interpunktion modernisiert. Hervorhebungen durch die Autoren wurden oft stillschweigend getilgt.

2

vgl. Monad. § 65; Nouv. Essais, Preface. Systeme, Gerh. PhS IV, 478f.

Leibniz

6

aliquid primitivum et absolutum concepere et quod constituât 3 substantiam" . Die Ausdehnung ist wegen ihrer unendlichen Teilbarkeit nicht geeignet, die Substanz zu konstituieren. Schon 1686 hatte Leibniz an Arnauld geschrieben: "La premiere difficulté que vous indiqués. Monsieur, est, que nostre ame et nostre corps sont deux substances réellement distinctes; donc il semble que l'un n'est pas la forme substantielle de l'autre. Je reponds qu'à mon avis nostre corps en luy même, l'ame mise à part, ou le cadaver ne peut estre appelle une substance que par abus, comme une machine ou comme un tas de pierres, qui ne sont pas des estres par aggregation; car l'arrangement regulier ou irregulier ne fait rien à l'unité substantielle"

Der Mangel der Ausdehnung kann nur behoben werden durch eine substantielle Einheit, die nicht von der Ausdehnung stammt, sondern von dem, was Descartes der Ausdehnung

entgegensetzt,

nämlich dem Denken, dem Intelligiblen, das nicht wie bei Descartes auf das Selbstbewußtsein beschränkt werden darf, sondern das der Natur jeder Seele entspricht^, weil sein Wesen in der Kraft besteht. Die Kraft ist es, die dem Materiellen Einheit verleiht und die allein die Substanz konstituiert. Leibniz behauptet: "In rebus corporeis esse aliquid praeter extensionem, imo extensione prius, alibi admonuimus, nempe ipsam vim naturae ubique ab Autore inditam"^. Gegen den Okkasionalismus der Cartesianer sagt Leibniz in derselben Abhandlung : "Quod si jam Deo per miraculum transcribí non debet, certe oportet, ut vis illa corporibus ab ipso producatur, imo ut intimam corporum naturam constituât, quando agere est character substantiarum, extensioque nil aliud, quam jam praesuppositae nitentis renitentisque id est resistentis substantiae continuationem sive jdiffusionem, dicit; tantum abest, ut ipsammet substantiam facere possit" . Im Systeme nouveau von 1695 faßt Leibniz seine Einsicht zusammen:

3 4 5 6 7

Gerh. PhS II, 234. Leibniz an Arnauld 28. Nov./8. Dez. 1686, Gerh. PhS, II, 75. vgl. Monad. § 14; vgl. L. an de Voider 14. März / 3. April 1699, Gerh. PhS II, 168-175. Specimen dynamicum 2. ebd. 2/4. vgl. De primae philosophiae Emendatione, et de Notione Substantiae, in: Gerh. PhS IV, 468-470.

Leibniz

7

"Je m'apperceus, qu'il est impossible de trouver les principes d'une veritable Unité dans la matière seule ou dans ce qui n'est que passif, puisque tout n'y est que collection ou amas de parties jusqu'à l'infini. Or la multitude ne pouvant avoir sa realité que des unités véritables qui viennent d'ailleurs et sont tout autre chose que les points mathématiques qui ne sont que des extrémités de l'étendu et des modifications dont il est constant, que le continuum ne sçauroit estre composé. Donc pour trouver ces unités reelles, je fus contraint des recourir à un point reel et animé pour ainsi dire, ou à un Atome de substance qui doit envelopper quelque chose de forme ou d'actif, pour faire un Estre complet. Il fallgt donc rappeller et comme rehabiliter les formes substantielles" .

Diese substantiellen Formen sind für die Einheit in der Vielfalt des Materiellen verantwortlich und konstituieren die Substanzen, die den Körpern zum Dasein verhelfen. Die substantiellen Formen sind die ursprünglichen Kräfte, die den Dingen von Anfang an innewohnen und ihr Wesen und ihren Bestand ausmachen: "Aristote les appelle entelechies premieres, je les appelle peutestre plus intelligiblement forces primitives, qui ne contiennent pas seulement l'acte ougle complement de la possibilité, mais encor une activité originale" .

Diese ursprünglichen Kräfte nennt Leibniz einfache Substanzen oder Monaden, weil sie das Prinzip der Einheit in der Vielheit sind und nicht in Teile zerlegt werden können im Gegensatz zur Materie und den Körpern. Da das aus Teilen Zusammengesetzte seine Einheit nicht in sich selber und aus sich selbst heraus finden kann, muß es ein anderes Prinzip der Einheit geben, das selbst nicht aus Teilen besteht und dieses Prinzip ist die einfache Substanz: "Et il faut qu'il y ait des substances simples, puisqu'il y a des composés; cajole composé n'est autre chose qu'un amas, ou aggregatum des simples"

Die einfachen Substanzen können wegen ihrer Unteilbarkeit keine materiellen Atome sein:

8 Systeme nouv., Gerh. PhS IV, 478ff. 9 ebd. 479. 10 Monad. § 2.

Leibniz

8

"Mais les Atomes de matiere sont contraires à la raison: outre qu'ils sont encor composés de parties, puisque l'attachement invincible d'une partie à l'autre (quand on le pourroit concevoir ou supposer avec raison) ne detruiroit point leur diversité. Il n'y a que les Atomes de substance, c'est à dire, les unités reelles et absolument destituées de parties, qui soyent les sources des actions, et les premiers principes absolus de la composition des choses, et cçijime les derniers elemens de 1 ' analyse des choses substantielles"

Die Monaden m ü s s e n deshalb intelligible Atome sein: "Or là, ou il n'y a point de parties, il n'y a ni étenduë, ni figure, ni divisibilité possible. Et ces Monades sont les véçj,tables Atomes de la Nature et en un mot les Elemens des choses"

W e g e n ihrer Unteilbarkeit sind die Monaden unkörperlich.

1.1.1.2

Die Individualität der Monade

Wenngleich die Verschiedenheit als Prinzip der

Individualität

ihren Grund in der permanenten Veränderlichkeit u n d Wandelbarkeit des Körpers hat, durch die er sich v o n allen anderen Körpern unterscheidet, reicht die Veränderlichkeit

allein

noch nicht aus, um die Individualität u n d Identität des Individuums zu begründen, denn die körperliche Gestalt kann sich ändern, ohne daß die Identität des Individuums verlorengeht u n d umgekehrt kann die Gestalt gleichbleiben u n d trotz13 dem das Individuum, das ihr einwohnt, wechseln . Die Individualität bedarf also eines immateriellen Prinzips, um ihre Identität zu wahren, u n d dieses Prinzip ist die Monade. Die Monade selbst kann ihre Individualität nicht aus dem Körper haben, da sie unkörperlich und unteilbar ist, sondern nur aus ihren inneren Vollzügen, d e n Perzeptionen u n d Appetitionen: 11 12 13

Systeme nouv. Gerh. PhS IV, 482. Monad. § 3. Zum Ansatz der Monadenlehre vgl. CASSIRER 1902, 370f.; ders.. Die Philosophie der Aufklärung 1932, 37-43. Nouv. Essais, Chap. XXVII, 229-247. Zum Begriff des Individuums bei Leibniz vgl. BÖHLE 1978; zum principium identitatis indiscernibilium vgl. LORENZ 1969, 149-159.

Leibniz

9

"Et par consequent une Monade en elle-même, et dans le moment, ne sauroit être discernée d'une autre que par les qualités et actions internes, lesquelles ne peuvent être autre chose que ses perceptions, (c'est-à-dire les représentations du composé, ou de ce qui est dehors dans le simple), et ses appetitions (c'est-à-dire ses tendences d ^ n e perception à l'autre) qui sont les principes du changement"

Die Individualität der Monade gründet in der Art und Weise ihrer Beziehung zur Außenwelt, die einerseits rezeptiv, andererseits spontan stattfindet, nämlich als Aufnahme des Äußeren ins Innere und als Gestaltung dieser Aufnahme. Diese Beziehung zur Außenwelt ist bei jeder endlichen Monade eine andere, weil jede eine bestimmte Perspektive und einen bestimmten Standpunkt hat, von dem aus die Perzeption geschieht . Durch ihre Einheit und Einfachheit sind die Monaden in sich abgeschlossen und erfahren keinen Einfluß von außen, so daß die Beziehung zur Außenwelt immer nur ein inneres Faktum der Monaden selbst ist, das ihre Grenze nicht überschreitet: "Les monades n'ont point de fenêtres, par lesquelles quelque chose y puisse entrer ou sortir"15. Die Veränderungen und Modifikationen der Monaden, die ihre Individualität ausmachen und die in ihrer Beziehung zur Außenwelt stattfinden, müssen also rein innere Vorgänge sein, die durch die Kraft bewirkt werden 16 . Die innere Verschiedenheit und Vielfalt der Monade, auf der ihre Individualität beruht, ist eine Vielheit in der 17 Einheit ("une multitude dans l'unité ou dans le simple" ), die durch Perzeption zustandekommt: "L'état passager qui enveloppe et represente une multitude dans l'unité, ou dans la substance simple, n'est autre chose que ce qu'on appelle 18

la Perception" . Mit der Einfachheit ist also gleichzeitig eine Mannigfaltigkeit gegeben, die der Monade in gleichem 14 15 16 17 18

Principes § 2. Monad. § 7. vgl. Discours de métaphysique, Gerh. PhS IV, 451f. § 26. vgl. Monad. § 11. Monad. § 13. Monad. § 14. vgl. HÜBNER 1975a, 112. CASULA 1975, 402f. MITTELSTRASS 1970, 185-190.

Leibniz

10 Maße innerlich zukommt

19

. Deshalb lehnt Leibniz den strikten

Dualismus Descartes' zwischen Ich und Welt ab, indem er zeigt, daß die Substanz nicht nur als einfache das Denken ist, sondern auch als mannigfaltige das Denken von Etwas: "Percipio autem intra me non tantum me ipsum qui cogito, sed et multas in cogitationibus meis differentias, ex quibus alia 20 praeter me esse colligo" Leibniz ergänzt die erste Wahrheit Descartes', das cogito ergo sum, durch das Gegenstandsbewußtsein und verhindert das Auseinanderbrechen von Ich und Welt, indem er die Welt von vornherein in das Ich hineinverlegt: "Ego cogito, adeoque sum, inter primas veritates esse praeclare a Cartesio notatum est. Sed aequum erat ut alias non negligeret huic pares. [...] Non tantum mei cogitantis sed et meorum cogitatorum conscius sum, nec magis verum certumve est me cogitare, quam illa vel illa a me cogitari. Itague veritates facti primas non incommode referre licebit ad has duas: Ego cogito, et: Varia a me cogitantur. Unde cjijjnsequitur non tantum me esse, sed et me variis modis affectum esse"

Diese Kritik am Cartesianismus hat zweierlei zur Folge: zum einen wird eine wesentliche innere Beziehung des Ichs zur Außenwelt anerkannt, zum anderen bedeutet die Innerlichkeit dieser Beziehung, daß sie nicht von der Außenwelt herrührt, sondern von der Monade selbst. Leibniz sagt im Discours von 1686: "On peut même demonstrer que la notion de la grandeur, de la figure et du mouvement n'est pas si distincte qu'on s'imagine, et qu'elle enferme quelque chose d'imaginaire et de relatif à nos perceptions, comme le font encor (quoyque bien d'avantage) la couleur, la chaleur, et autres qualités semblables dont on peut douter si ell^ se trouvent véritablement dans la nature des choses hors de nous"

Die Fensterlosigkeit der Monaden erlaubt keinen Einfluß von außen, so daß alle ihre Begriffe aus ihr selbst stammen:

19 20 21

22

Monad. § 16. vgl. BOHLE 1978, VII. De Synthesi et Analysi universali seu Arte inveniendi et judicandi, Gerh. PhS VII, 292-298. 296. Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum, Gerh. PhS IV, 354-406. 357. vgl. CASSIRER 1903, 371. HÜBNER 1975a, 112. 1975b, 328. WÖRMANN 1975, 46. Discours de métaphysique, Gerh. PhS IV, 436.

Leibniz

11

"Il est tousjours faux de dire que toutes nos notions viennent des sens qu'on appelle exterieurs, car celle que j'ay de moy et de mes pensées, et par consequent de l'estre, de la substance, de l'action, de ^ i d e n t i t é , et de bien d'autres, viennent d'une experience interne"

Die aus der Seele selbst stammenden Begriffe lassen auch die Erfahrung der Natur aus ihrem Grund erwachsen. Alles, was die Monade erfahren hat, erfährt u n d erfahren wird, ist in ihr selbst angelegt. "Nous avons dit, que tout ce qui arrive à l'ame et à chaque substance, est une suite de sa notion, donc l'idée même ou essence de l'ame porte que toutes ses apparences ou perceptions luy doivent naistre (sponte) de sa propre nature, et justement en sorte qu'elles répondent d'elles mêmes à ce qui arrive, dans tout l'univers, mais plus particulièrement et plus parfaitement à ce qui arrive, dans tout l'univers, mais plus particulièrement et plus parfaitement à ce qui arrive dans le corps qui luy est affecté, parce que c'est en quelque façon et pour un temps, suivant le rappgjt des autres corps au sien, que l'ame exprime 1'estât de l'univers"

Die Monade bleibt immer in sich selbst u n d hat trotzdem Bezug zur Außenwelt, w e i l sie die Außenwelt in sich selbst reprä25

sentiert

1.1.1.3

Die Repräsentationsfunktion der Monade

Die Tatsache, daß die Monade die W e l t repräsentiert, ist der objektive Aspekt ihrer selbstkonstituierten Beziehung zur Außenwelt. Die Repräsentationsfunktion der Monade gibt ihr Zeichencharakter, wie daraus deutlich wird, daß eine vollständige Monade immer mit einem Körper versehen ist, der materieller Repräsentant der Monade als der Repräsentation des Universums in bestimmter Perspektive ist.

23

24 25

ebd. 452f. vgl. Leibniz an Königin Charlotte von Preußen: Lettre touchant ce qui est independent des Sens et de la Matiere, Gerh. PhS VI, 499-508. 502. ebd. 458. vgl. ebd. 439.

Leibniz

12

"C'est que je crois avec la plupart des anciens que tous les génies, toutes les ames, toutes les substances simples créées sont toujours jointes à un corps, ej^qu'il n'y a jamais des ames qui ne soient entièrement séparées"

Jeder Monade entspricht also ein Körper, der als materieller Gegenstand unendlich teilbar ist in Teilkörper, denen ihrerseits, sofern sie Einheit aufweisen, Monaden

zugrundeliegen.

Jede Monade ist das Zentrum einer körperlichen Substanz, die aus unendlich vielen einfachen Substanzen ist. Diese unendliche Mannigfaltigkeit der

zusammengesetzt zusammengesetzten

Substanzen, die dem Körper zugrundeliegen, machen ihn zu einem Spiegel des Universums, das gerade durch die Unendlichkeit seiner Vielfalt ausgezeichnet ist: "Chaque portion de la 27 matiere put exprimer tout l'univers" . Schon durch die unendliche Mannigfaltigkeit des Körpers repräsentiert die Monade das Universum. Die Repräsentation des Universums durch die Monade hat über diese allgemeine Strukturanalogie hinaus ihren Grund in der Wechselwirkung zwischen allen Körpern: "Chaque substance simple ou Monade distinguée qui fait le centre d'une substance composée (comme par example d'un animal) et le principe de son unicité, est environnée d'une Masse composée d'une infinité d'autres Monades [...] Et comme à cause de la plenitude du Monde tout est lié et que chaque corps agit sur chaque autre corps, plus ou moins, selon la distance, et en est affecté, par reaction, il s'ensuit que chaque Monade est un Miroir vivant ou doué d'action interne, représentatif de l'univers^gsuivant son point de veuë et aussi réglé que l'univers lui même"

Der Spiegelcharakter der Monade, der ihr aufgrund ihres Körpers zukommt, wird in der "Monadologie" folgendermaßen bestimmt : "Or cette liaison ou cet accommodement de toutes les choses créées à chacune et de chacune à toutes les autres, fait que chaque substance

26

27 28

Nov. Essais 58. vgl. Leibniz an Bernouilli, in: Leibnizens mathematische Schriften, hg. von C.J. Gerhardt, 1. Abt. 3. Bd., Halle 1855, 541-545. Monad. § 65. vgl. ebd. §§ 66f. Principes § 3.

Leibniz

13

simple a des rapports qui expriment toutes les autres, et q u e l l e est par consequent un miroir vivant perpetuel de l'univers"

Daß die Repräsentationsfunktion der Monade mit dem Bild des Spiegels umschrieben wird, zeigt die rezeptive Haltung der Monade, die ihr als Körper zukommt. Die aktiv-spontane Seite der Monade betrifft nur ihr intelligibles Zentrum, nicht ihren materiellen Ausdruck. Obwohl die Monade vermittels ihres Körpers das Universum als ganzes repräsentiert, ist diese Repräsentation nie vollkommen deutlich und adäquat, sondern geschieht immer von einem bestimmten Standort aus und unter einer bestimmten Perspektive. Diese Einschränkung der universalen Repräsentation hat ihren Grund gerade im eigenen Körper, der für die Monade am leichtesten erkennbar ist, weil er ihr am nächsten steht, während die anderen Körper in mehr oder weniger großer Entfernung von dem eigenen Körper der Monade sich befinden, so daß ihre Repräsentation mit wachsender Entfernung an Deutlichkeit ab und an Verworrenheit z u n i m m t ^ . Die Folge davon ist die Unendlichkeit und Vielzahl der Weltbilder, da jede 31 Monade die Welt auf individuelle Weise repräsentiert . Die Perspektivität der Repräsentation ist der materielle Grund für die Individualität der Monaden: "Entelechias différé necesse est, seu non esse penitus similes inter se, imo principia esse diversitatis, nam aliae aliter exprimunt universum ad suum quaeque spectandi modum, idque ipsarum officium est ut sint totidem specula vitalia rerum seu totidem mundi concentrati" .

29 30 31 32

Monad. § 56. vgl. ebd. § 61. vgl. Monad. § 62. Zum Begriff der Repräsentation bei Leibniz siehe KÖHLER 1913. GURWITSCH 1974, 35-42. Monad. § 57. Systeme nouv., Gerh. PhS IV, 484. Principes §§ 3.12. Leibniz an Arnauld Juni 1686, Gerh. PhS II, 47-59. Discours métaphysique § IX. Gerh. PhS IV, 433f. Leibniz an de Voider 30. Juni 1703, Gerh. PhS II, 248-253. 251f.

14

Leibniz

1.1.1.4

Der vollständige Begriff der Monade

Die individuelle begrenzte Sichtweise der Monade, ihre Standortgebundenheit und Perspektivität sind kein Mangel, sondern haben die größtmögliche Mannigfaltigkeit der Welt zur Folge, weil es so viele Welten wie Monaden gibt 33 . Außerdem bedeutet die Begrenztheit der Erkenntnis einer Monade gerade ihre Bestimmtheit, da sie nur so sich von allen anderen Monaden unterscheidet und irreduzible Individualität erhält. Die endliche Monade ist nach Leibniz der individuelle Begriff ihrer selbst, insofern sie die Gesamtheit ihrer Bestimmungen ausdrückt und ihre ganze Geschichte schon in sich enthält, sie ist auch der Begriff der Welt, insofern die Monade als individueller Körper die Welt als ganzes repräsentiert und auf individuelle Weise darstellt. Aus dem Satz "que la notion individuelle de chaque personne enferme une fois pour toutes 34 ce qui luy arrivera à jamais" folgt für Leibniz, daß "toute substance individuelle exprime l'univers tout entier à sa maniere et sous un certain rapport, ou pour ainsi dire suivant le point de veue dont elle le regarde"35. Die Auffassung, "que la notion de la substance individuelle enferme tous les evenemens et toutes ses denominations, même celles qu'on appelle vulgairement extrinseques", gründet in der Konzeption des Urteils bei Leibniz, dergemäß "La notion du prédicat est comprise en quelque façon dans celle du sujet, praedicatum inest subjecto"3®, so daß aus dem Begriff der individuellen Substanz alle Prädikate in Aussagen über sie abgeleitet werden können, wenn man den individuellen Begriff voll ausschöpft: "Ainsi il faut que le terme du sujet enferme tousjours celuy du prédicat, en sorte que celuy qui entendroit parfaitement la notion du sujet, jugeroit aussi que le prédicat luy appartient. Cela estant, nous pouvons dire que la nature d'une substance individuelle ou d'un estre complet, est d'avoir une notion si accomplie qu'elle

.33 34 35 36

Monad §§ 57f. Leibniz an Arnauld, Juni 1686, Gerh. PhS II, 48. ebd. 57. ebd. 56. Zum Begriff der vollständigen Substanz LORENZ 1969, Ders., 1975, 318f. MITTELSTRASS 1970, 180.

155f.

Leibniz

15

soit suffisante à comprendre et à en faire d e d u c e cats du sujet à qui cette notion est attribuée"

tous les prédi-

Die Monade oder individuelle endliche Substanz kann sich nicht selbst vollständig erkennen, weil sie endlich und begrenzt ist, aber sie kann einsehen, daß es einen vollkom38

menen Begriff von ihr gibt, den nur Gott bildet . Der vollständige Begriff kann nicht adäquat dargestellt, sondern nur 39 durch den Körper stellvertretend repräsentiert werden Der vollständige Begriff der Monade ist zugleich der Begriff der Welt, den jede Monade aber in anderer Bestimmtheit darstellt, weil sie einen spezifischen Standpunkt in der Welt einnimmt. Die Monade und der sie bezeichnende Name, der für ihren vollständigen Begriff steht, können wegen des universalen Weltzusammenhangs jede andere Monade vertreten, so daß der Name der einen Monade zur Metapher für eine andere Monade werden kann^.

1.1.1.5

Der Zeichencharakter der Monade

Die Aufgabe, das Universum zu repräsentieren, macht die Monade zu einem Zeichen des Repräsentierten. Die Zeichendefinition von Leibniz: "Signum est quod nunc sentimus (percipimus) et aliquin cum aliquo connexum esse ex priore 41

experientia nostra vel aliena judicamus" , trifft auch auf die Monade als körperlicher Substanz zu, insofern der Körper der Monade etwas Wahrnehmbares ist, das etwas anderes, nämlich einerseits die intelligible einfache Substanz, andererseits das gesamte materielle Universum repräsentiert. Der 37 38 39 40 41

Discours m é t a p h y s i q u e , Gerh. PhS. IV, 433. Leibniz an Arnauld Juni 1686, Gerh. PhS II, 47. vgl. LORENZ 1975, 323. vgl. MITTELSTRASS 1970, 195. HÜBNER 1975b, 331. Leibniz, Philosophische Schriften Bd. 2, Berlin 1966, 500. vgl. DASCAL 1975, 239. 1978, 78f. BURKHARDT 1980, 175. HEINEKAMP 1975, 263. Ob SCHNELLE 1962, 25 recht hat, wenn er das Zeichen dadurch von der Repräsentation unterscheidet, daß es im Gegensatz zu dieser "bereits wesentlich mit einem Sinnesdatum verknüpft" ist, bleibt fraglich.

Leibniz

16 Körper daß

ist Ausdruck

der Seele,

er als d e r e n Z e i c h e n d i e n e n

des

Inneren,

des Denkens,

so

kann:

"Le corps est fait en sorte que l'ame ne prend jamais des resolutions où les mouvemens des corps ne s 1 accordent, les raisonnemens mêmes les plus abstraits y trouvent leur jeu, paraje moyen des caracteres, qui les représentent à l'imagination"

Der Körper

ist für die

Seele notwendig,

Individualität und Bestimmtheit Vermittlung Beziehung riellen

in Beziehung

schafft.

für das

Ideellen,

Diese

Ideelle

das Denken,

Monaden eignet.

weil

sie durch

erhält und erst durch

zur Außenwelt

tritt bzw.

allgemeine Notwendigkeit

sich des

gilt auch für eine besondere

das den bewußten und

ihn seine diese Mate-

Form

Das Denken kann sich nur mit Hilfe der

chen als materieller

Medien

des

selbstbewußten Zei-

vollziehen:

"je suis persuadé que les Ames et les Esprits créés ne sont jamais sans organes et jamais sang^sensations, comme ils ne sauroient raisonner sans caracteres" "Car c'est par une admirable Oeconomie de la nature, que nous ne saurions avoir des pensées abstraites, qui n'ayent point besoin de quelque chose sensible, quand ce ne seroit que des caracteres teils que sont les figures des lettres et des sons; quoiqu'il n'y ait aucune connexion necessaire entre tels caracteres arbitraires, et telles pensées. Et si les traces sensibles s'etoient point requises, l'harmonie preetablie entre l'ame et le corps, dont j'aura|^occasion de vous entretenir plus amplement, n'auroit point de lieu"

Die Relation

zwischen Denken und Zeichen

Fall der prästabilierten Harmonie riellem oder

ist für L e i b n i z

zwischen

zwischen Seele und Körper.

Ideellem und

Die Vereinigung

Seele und Körper wird durch die prästabilierte gewährleistet,

weil beide von sich aus getrennt

keiner Beziehung

42

43 44

zueinander

stehen,

also

ein Matevon

Harmonie sind und

auch nicht

in

aufeinan-

Response aux reflexions contenues dans le seconde Edition du Dictionnaire Critique de M. Bayle, article Rorarius, sur le systeme de l'Harmonie préétablie, in: Gerh. PhS IV, 554-571. 559. Nouv. Essais 212. ebd. 77. vgl. Dialogus August 1677, Gerh. PhS VII, 190-193. Zur Notwendigkeit des Zeichens als materiellen Mediums für das Denken vgl. ISHIGURO 1972, 35. SCHNELLE 1962, 23f. POSER 1979, 315. HÖNIGSWALD 1928, 30. DASCAL 1978, 80. 96f. 173ff.; 1975, 249. BURKHARDT 1980, 178. COOK 1975, 231. HEINEKAMP 1975, 263f.

17

Leibniz

der einwirken können. Nur eine bei der Erschaffung der Substanzen eingerichtete Relation zwischen Seele und Körper 45

stellt ihre Harmonie und ihr Zusammenwirken her . Die Vereinigung von Seele und Körper und in Analogie dazu die Beziehung zwischen Denken und Zeichen haben ihren Grund in der allgemeinen prästabilierten Harmonie aller Monaden: "L'ame suit ses propres loix et le corps aussi les siennes; et ils se rencontrent en vertu de 1'harmonie préétablie entre toutes les substancgg, puisqu'elles sont toutes des representations d'un même univers"

Die Harmonie der Substanzen überwindet die Trennung zwischen den Monaden, die in ihrer Abgeschlossenheit keinen Einfluß aufeinander nehmen können. Weil alle Monaden ein und dasselbe Universum repräsentieren, müssen sie auch zueinander in Beziehung treten, so daß eine "influence idéale d'une Monade 47

sur l'autre" stattfindet . Die prästabilierte Harmonie zwischen den Monaden und ihre notwendige Materialität haben zur Folge, daß die Repräsentation des Körpers der einen Monade, der diese materiell darstellt, durch die Seele der anderen Monade wieder als Körper erscheinen muß. Dadurch entsteht eine Verflechtung der Körper miteinander, so daß der eine 48 Korper auf den anderen verweist . Die Repäsentation der Seele durch den Körper kann ihrerseits nur repräsentiert werden durch die gegenseitige Repräsentation der Körper. Die Relation zwischen Denken und Zeichen vollzieht sich dementsprechend in der Relation zwischen den Zeichen, weil jedes Zeichen nicht unmittelbar ins Denken übertragen werden kann, sondern immer in ein anderes Zeichen übersetzt werden muß, das als Interpretand des ersten Zeichens dient. Weil die Relation zwischen den Körpern der Zeichen die Relation zwischen Körper und Seele, Ausdruck und Inhalt der Zeichen repräsentiert, ist diese Relation einerseits arbiträr, ande45 46 47 48

vgl. Monad. §§ 51. 59. 78. 79. 80. 81. Principes § 3. Systeme nouv. 484f. Monad. § 78. vgl. DASCAL 1978, 97f. GURWITSCH 1974, 4. CASULA 1975, 401. Monad. § 51. vgl. L. an Arnauld, Gerh. PhS II, 57. vgl. LORENZ 1975, 323.

18

Leibniz

rerseits notwendig. Arbitrarität kommt der Relation zwischen Ausdruck und Inhalt deshalb zu, weil keine natürliche Brücke besteht zwischen dem Materiellen und Ideellen, insofern das Materielle unendlich teilbar, das Ideelle absolut einfach ist. Wegen der fehlenden Einheit ist auch keine unmittelbare Relation zwischen dem Materiellen, den Körpern möglich, die ohne substantielle Form in immer weiter zerfallende Bruch49 stücke sich auflösen . Deshalb erfordert die Relation zwischen den Körpern und auch zwischen den Zeichen ein nichtmaterielles Prinzip, nämlich eine Monade, die Einheit in der Vielheit verbürgt. Aufgrund dieses Prinzips, das der Materie Struktur verleiht und sie zum Organismus belebt, entsteht eine notwendige Beziehung zwischen Körper und Seele, Ausdruck und Inhalt. Die prästabilierte Harmonie der Monaden läßt die getrennten Sphären zueinander kommen und hebt die Spaltung zwischen ihnen auf. Wenn ohne diese Harmonie die Verbindung von Seele und Körper, Inhalt und Ausdruck willkürlich und ohne Berechtigung bleiben muß, bekommt sie erst durch die Harmonie eine innere Rechtfertigung und Natürlichkeit. Die bloße Innen-Außen-Relation ist arbiträr, während ihre Repräsentation im Innern ihr Begründung verleiht und sie notwendig-natürlich macht. Die innere Repräsentation bedarf des äußeren Ausdrucks, so daß auf diesem Wege die Beziehung zwischen den Ausdrücken des Inneren, zwischen den Körpern also, ebenfalls Notwendigkeit erhält.

1.1.1.6

Die Textualität der Monade

Die Fähigkeit zur Repräsentation macht die Monade als körperliche Substanz zum Zeichen. Die Monade ist ein Zeichen, das seine Repräsentationsfunktion in doppelter Richtung ausübt, sich auf zwei Pole bezieht, die trotz ihrer Entgegensetzung zusammengehören und zwei Aspekte des Gleichen ausmachen. Die Monade repräsentiert nämlich als körperliche Substanz einerseits die individuelle einfache Substanz ihrer selbst, ihren 49

Systeme nouv., Gerh. PhS IV, 482f.

Leibniz

19

intelligiblen Kern und andererseits die Mannigfaltigkeit des Universums. Als Repräsentation der einfachen Substanz hat die Monade den Zeichencharakter des Namens, der nichts bedeutet, sondern nur ein Individuum bezeichnet^. Als Repräsentation des Universums ist die Monade ein unendlicher Text, der sich aus der unendlichen Zahl von Prädikationen, die auf Perzeptionen basieren, zusammensetzt und durch seine Komplexität die unendliche Mannigfaltigkeit des Alls spiegelt^"*". Name und Text sind polare, aber komplementäre Realisationen der Natur der Monade, die als individuelle Darstellung des Universums einen vollständig bestimmten Begriff bildet, der sowohl die individuelle Substanz selbst als auch die Mannigfaltigkeit des Universums erfaßt. Die Bestimmtheit des vollständigen Begriffs manifestiert sich in der körperlichen Substanz, deren Zeichencharakter einerseits wegen ihrer Individualität und intelligiblen Einheit als Name, andererseits wegen ihrer Universalität und Mannigfaltigkeit als Text aufgefaßt werden kann. Die Monade kann deshalb Text genannt werden, weil sie eine unendliche Komplexität von Prädikationen, die miteinander verknüpft und unter eine Einheit gebracht sind, in sich begreift, aber auch weil sie durch das aktuelle Wirken der ursprünglichen Kraft geprägt ist, das die Zeichen, deren sich ihr Körper zum Ausdruck des Universums bedient, mit konkretem Inhalt füllt und zum Vollzug bringt. Wenngleich die verwendeten Zeichen als einzelne konventionell sind und in keiner natürlichen Relation zum Bezeichneten stehen, wird die Konventionalität und Arbitrarität der Zeichen aufgehoben, sobald sie im Text in Beziehung zueinander treten und durch die so entstehende komplexe Struktur das 50 51

Nouv. Essais 275. 288. vgl. LORENZ 1975, 319. vgl. MITTELSTRASS 1970, 194f., der von einer "unendlichen Konjuktion von Prädikaten" spricht, aber nicht den Textbegriff verwendet. Vgl. HÜBNER 1975a, 107. 1975b, 328 nennt die Prädikatoren sprachliche Ausdrücke, die den Monaden zu ihrer Kennzeichnung beigelegt werden. Den Terminus Text verwendet Hübner nur als Analogie zur Monade. Wenn man den Textbegriff nicht auf historische Sprachen beschränkt, sondern den Vollzug jedes beliebigen Zeichensystem darunter faßt, kann er zur Interpretation der Monade in ihrer Beziehung zur Welt geeignet erscheinen.

20

Leibniz

Bezeichnete in seiner Komplexität repräsentieren: "Est aliqua relatio sive ordo in characteribus qui in rebus, imprimis si 52 characteres sint bene inventi" . Diese Entsprechung zwischen Zeichenstruktur und Weltordnung gibt den Zeichen einen ikonisch-natürlichen Charakter: "Nam etsi characteres sint arbitrarli, eorum tarnen usus et connexio habet quiddam quod non est arbitrarium, scilicet proportionem quandam inter characteres et res, et diversorum characterum easdem res experimentium relationem igtjer se. Et haec proportio sive relatio est fundamentum veritatis"

Die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Text und Welt hat ihren Grund in der Beziehung der Zeichen zueinander im Text, weil diese intertextuelle Relation und Struktur in der Lage ist, die extratextuelle Weltstruktur abzubilden. Durch die Verknüpfung der Zeichen im Text und durch den dadurch konstituierten Sinn verlieren die Zeichen ihre bloBe Arbitrarität und bekommen ikonischen Charakter. Die Anwendung der Zeichen, der Text, ist nicht mehr nur willkürlich, sondern steht in einer gewissen natürlich-notwendigen Beziehung zur Welt. Die Monade kann demgemäß ein Text genannt werden, der, weil er aus Zeichen besteht, also aus materiellen Teilen, die ihrerseits durch Monaden bestimmt sind, aber abgesehen von diesen einfachen Substanzen ohne Beziehung zueinander sind, und die zur gegenseitigen Repräsentation dienen, einerseits willkürlichen Charakter hat, der aber andererseits eine natürliche Beziehung zur Welt aufweist, weil die Zeichen, die er verwendet, bzw. die Körper, aus denen er zusammengesetzt ist, durch die Zentralmonade vereinigt werden und das Universum in bestimmter Perspektive repräsentieren.

52 53

Dialogus, in: Gerh. PhS. VII, 192. Dialogus, in: Gerh. PhS. VII, 192.

21

Leibniz

1.1.1.7

Ansatz zu einer Hermeneutik

Der Zeichencharakter und die Textualität der Monade haben zur Folge, daß die Monade zum Gegenstand des Verstehens wird. Leibniz spricht wiederholt davon, daß die Monaden gelesen w e r d e n können. So heißt es in dem Entwurf "Infinité" von 1696, wo Leibniz sagt, "que toute la matiere est organique, et que la moindre portion contient, par l'infinité actuelle de ses parties, d'une infinité de façons, un miroir vivant exprimant tout l'univers infini, de sorte qu'on γ pourroit lire (si on avoit la vue assez perçante aussi bien que l'esprit) non seulement le present etendu à l'infini, mais encor le passé, et tout l'avenir infiniment infini, puisqu'il est infini par chaque moment, et qu'il y a une infinité des momens dans chaque partie du temps, et plus,.^'infinité qu'on ne sçauroit dire dans toute l'eternité future"

Die Lesbarkeit der Monade hat ihren Grund in der Körperlichkeit, da der Körper m i t allen anderen Körpern in Beziehung steht u n d so die Allheit der Körper, das Universum in sich repräsentiert. Die universale Kommunikation der Körper macht die mit ihnen verbundenen Monaden, "dont la nature étant representative"55,

zu Texten, die gelesen werden können.

Jeder Körper ist m i t jedem anderen verbunden, "et par consequent tout corps se ressent de tout ce qui se fait dans l'univers; tellement que celui qui voit tout, pourroit lire dans chacun ce qui se fait partout et même ce qui s'est fait ou se fera; en remarquant dans le present ce qui est éloigné, tant selon les tems, que selon les lieux" Die endliche Monade kann, obwohl jede Monade das ganze Universum darstellt, nur in eingeschränktem Maße dieses Universum erkennen, weil sie selbst Teil des Universiums ist und dieses v o n ihrem begrenzten Standpunkt aus anschaut. Die Lektüre der Texte, die die Monaden ausmachen, ist also immer perspektisch und fragmentarisch, aber gerade so individuell u n d sinnkonstituierend. Denn der Sinn als der 54 55 56

individuelle,

Infinité 1695, in: Leibniz, Kleine Schriften zur Metaphysik, 372-84. 376/78. Monad. § 60. vgl. BARTUSCHAT 1970, 238f. Monad. § 61. vgl. L. an de Voider, Gerh. PhS II, 275-278.

22

Leibniz

absolut bestimmte Inhalt oder vollständige Begriff kann nur entstehen in der Struktur der Vereinigung von Allgemeinem und Individuellem, die in den Monaden geschieht. Die Monade ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie die individuelle Repräsentation des Allgemeinen, die Einheit in der Vielfalt und die Vielfalt in der Einheit bildet. Deshalb entspricht ihr Inhalt, wenn sie als Text betrachtet wird, dem Sinn. Das Verstehen der endlichen Substanzen durch andere endliche Substanzen ist gebunden an den individuellen Körper jeder Monade und vollzieht sich als Kontakt und durch Wechselwirkung zwischen den körperlichen Substanzen. Die eine Monade kann den Text der anderen Monade lesen, indem sie den Körper der anderen Monade auf ihren eigenen Körper vermittelt durch die Repräsentation einwirken läßt und den universalen Zusammenhang aller Monaden mitvollzieht, anders gesagt, indem sie die Zeichen, die die andere Monade aufweist, mit ihren eigenen Zeichen, über die sie verfügt, in Verbindung bringt und so den Text der anderen Monade in einen eigenen Text übersetzt. Das Verstehen ist somit der Prozeß der Wechselwir57 kung der Körper der Monaden untereinander . Der Körper der einen Monade wird durch die andere perzipiert und im Körper der perzipierenden Monade repräsentiert. Die Repräsentationsbeziehung zwischen den Körpern ist die äußere Erscheinung und notwendige Vollzugsweise der intelligiblen Beziehung der Monaden untereinander. Das gegenseitige Verstehen der Monaden ist vermittelt und gestaltet durch ihre Materialität, die ihren Zeichencharakter ausmacht. Der Text, den die Monade bildet, erfährt im Verstehen eine Übersetzung in einen Text 57

HÜBNER 1975a will die Monadenlehre als "Entwurf einer logischen Hermeneutik" verstehen: "an Stelle der traditionellen Disjunktion von erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt (...) ist, durch Einführung der Monaden und die Konstruktion ihrer vollständigen Begriffe, ein Zusammenhang allein von Subjekten artikuliert" (120). Vgl. BOHLE 1978, 259f. Dies trifft insofern zu, als die Wechselbeziehung zwischen den Körpern die Erscheinung der Wechselbeziehung der durch sie repräsentierten einfachen Substanzen, deren Intelligibilität in gewissen Fällen als Subjektcharakter bezeichnet werden kann, ist. Der materielle Aspekt kommt aber bei HÜBNER und BÖHLE zu kurz. Ähnlich LORENZ 1975, 319, der aber die Notwendigkeit der Repräsentation des Intelligiblen durch das Materielle betont (323).

23

Leibniz

der verstehenden Monade, den diese immer schon in sich hat, weil sie von sich aus das ganze All, also auch jede einzelne Monade repräsentiert. Demgemäß besteht für Leibniz kein Unterschied zwischen Erkennen und Verstehen, weil die Gegenstände des Erkennens zugleich ihre eigenen Zeichen sind, die verstanden werden müssen. Diese fehlende Trennung von Erkenntnis und Verstehen hat zur Folge, daß dem Verstehen jede subjektiv kreative und spontane Gestaltungskraft abgeht. Das Verstehen reduziert sich auf die einfache Reproduktion des immer schon objektiv gegebenen, von jedem subjektiv-begrenzten Blick darauf unabhängigen Zustandes der Welt, der selbst das Verstehen determiniert. Die Monadenlehre hat deterministischen Charakter, wenngleich Leibniz betont, daß die potentielle Vorhersagbarkeit und Ableitbarkeit aller Zustände und Geschehnisse aus dem individuellen Begriff der Monade nicht deren Freiheit 58

oder die Freiheit Gottes ausschließe . Weil aber der vollständige Begriff des Individuums der des Universums ist, kann weder der Zeichenkonstitution, also der Ausbildung einer einzelnen körperlichen Monade, noch der Zeicheninterpretation ein echter Freiheitsspielraum zugestanden werden. Noch nicht einmal die individuelle Gestaltung der Perspektive, unter der die Welt gesehen wird, erfolgt frei und spontan, sondern ist als Teil der Welt durch diese bestimmt. Die Erfindung des Weltbildes ist eine nur scheinbare, weil sie durch den jeweiligen Ort, den die Monade in der Welt einnimmt, vorgegeben ist. Auch die Individualität ist durch die Dominanz des Allgemeinen an geschichtlicher Entfaltung gehindert. Das Neue kann nur ein noch nicht berücksichtigter Aspekt der Welt sein, aber keine wirkliche Erfindung. Der Monismus Spinozas scheint bei Leibniz nicht ganz überwunden zu sein, obgleich

58

Systeme nouv. Gerh. PhS IV, 485f. Wegen der Endlichkeit des Menschen und der Determination der Welt gibt es eine objektive Zahl von Wahrheiten, die der Mensch erkennen und sprachlich ausdrücken kann. Darüber hinaus kann er nichts erfinden. Vgl. Leibniz, in: L. Couturat, Opuscules, 532f.

Wolff

24

59 er dies ausdrücklich beteuert

. Die individuellen Unter-

schiede der Monaden treten in ihrem Gewicht zurück gegenüber ihrer Identität, die in der Repräsentation des Universums besteht. Trotz dieser Einschränkungen kann die Monadenlehre von Leibniz angesehen werden als Begründung der

transzendentalen

Funktion der Hermeneutik infolge der transzendentalen Funktion der Semiotik für das Denken und die Erkenntnis. Das Denken kommt nicht ohne Zeichen aus und die Erkenntnis vollzieht sich als Verstehen von Zeichen. Das Verstehen ist insofern eine Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis. Deshalb ist die Monadenlehre für die Geschichte der Hermeneutik von größerer Bedeutung als die eigentliche Zeichentheorie Leibnizens, die auf eine universale Sprache

1.1.2

1.1.2.1

abzielt^.

Wolff

Repräsentation und Sprache

Wolff übernimmt von Leibniz die Lehre von der prästabilierten Harmonie zwischen Leib und Seele, der gemäß der Leib die Akte der Seele und die Seele die Bewegungen des Leibes repräsentiert. Hingegen erscheint bei Wolff nicht mehr die Lehre von

59

60

Leibniz an Bourguet, Dez. 1714, Gerh. PhS III, 572-576. CASSIRERs Feststellung, "die Monadologie bedeutete die Durchführung des Gedankens der Spontaneität des Bewußtseins gegenüber den Dingen" (1902, 458), ist zumindest einseitig. Zum Wert der Monadenlehre für die Transzendentalphilosophie vgl. MITTELSTRASS 1970, 186f. Zur Zeichentheorie Leibnizens, soweit sie die characteristica universalis betrifft, vgl. SCHNELLE 1962; POSER 1979; BURKHARDT 1980; WIDMAIER 1983; SCHEPERS 1969; HEINEKAMP 1975. Zur Diskussion mit Locke über die Sprachtheorie vgl. COSERIU 1975 I, 176-183, ebd. zur Kritik an der Konzeption einer Universalsprache 176. Schleiermacher sah das Projekt der Universalsprache Leibnizens als gescheitert an wegen der Ungeschichtlichkeit dieses Ansatzes. Er versuchte aber Leibnizens Anliegen zu retten in Überlegungen zur Gestaltung der Wissenschaftssprache: vgl. Rede 7. Juli 1831, in: Sämtliche Werke 3. Abt. 3. Bd., 138-149. Zur frühen Auseinandersetzung Schleiermachers mit Leibniz vgl. die Fragmente "Leibniz" in: Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799 (KGA 1/2), 77-103.

Wolff

25

der universalen Harmonie aller Substanzen, weil er die Möglichkeit des Eindrucks der Außenwelt auf die Sinne annimmt, die bei Leibniz ausgeschlossen und ersetzt ist durch die universale prästabilierte Harmonie der Körper, deren jeder kraft seiner ihm einwohnenden immateriellen Substanz die ganze Welt repräsentiert, so daß er auch die Einwirkung der anderen Körper auf ihn schon in sich schließt. Für Wolff hingegen ist der Eindruck der Außenwelt auf die Seele mittels der Sinne der Ausgangspunkt der Erkenntnis^". Wolff betont, "daß nicht allein alle Einbildungen, sondern auch die allgemeinen Begriffe von den Empfindungen ihren Ursprung nehmen. Da nun die Empfindungen zu der anschauenden Erkenntnis gehören; so nimmet alles unter Nachdenken von der anschauenden Erkenntnis 2 ihren Anfang" . Die Empfindungen sind die Repräsentationen der Körper in der Seele, des Zusammengesetzten im Einfachen: "Die gewöhnlichsten Veränderungen, die wir in unserer Seele wahrnehmen, sind die Empfindungen. Diese stellen uns die Körper vor, welche die Gliedmaßen unserer Sinne rühren. Die Körper sind zusammengesetzte Dinge. Und demnach stellen die Empfindungen zusammengesetzte Dinge vor. Die Seele, in welcher diese Vorstellung geschieht, ist ein einfaches Ding. Solchergestalt wird das Zusammengesetzte im Einfachen vorgestellt. Es sind demnach die Empfindungen, Vorstellungen des Zusammengesetzten im Einfachen, so auf Veranlassung der Veränderungen in den äußerlichen Gliedmaßen der Sinnen geschehen" .

Vermittels der 4 Empfindungen hat die Seele die "Kraft die Welt vorzustellen" . Die Empfindungen sind in ihrer Gesamtheit "nichts anderes als Vorstellungen des gegenwärtigen Zustandes der Welt"5, so daß die Seele insofern die ganze Welt vorstellt. Ihre Individualität wird bedingt durch die Perspektivität ihrer Weltsicht, die in ihrer Bindung an den Körper, der einen bestimmten Ort im Weltganzen einnimmt, gründet, wie Wolff im Anschluß an Leibniz sagt:

1 2 3 4 5

vgl. CASULA 1975, 379-414 zum Unterschied zwischen Leibniz und Wolff in der Frage der prästabilierten Harmonie. Ges. W. 1-2, § 846. Hieran knüpft Baumgarten an. ebd. § 749. ebd. § 753. ebd. § 823.

26

Wolff

"Wir treffen in der Seele weiter nichts an als eine Kraft sich die Welt vorzustellen, und diese ist dasjenige, was in ihr fortdauert, und sie zu einem für sich bestehenden Wesen machet. Alle Veränderungen demnach, die man in ihr wahrnimmt, sind nichts denn verschiedene Einschränkungen derselben Kraft, wodurch sie determinieret wird, da sie für und an sich selbst auf die ganze Welt nach allem ihren Räume und ihrer Zeit gehet. Der Grund der Einschränkung besteht in dem Stande des Körpers in der Wglt, und weil er veränderlich ist, in allen seinen Veränderungen" .

Die perspektivische Erkenntnis der Seele schreitet von der einzelnen Empfindung eines Dinges mittels Gedächtnis und Reflexion zu den Ähnlichkeiten und Unterschieden der Dinge und benennt die Ähnlichen mit gleichen Namen: "Wir pflegen den Dingen, in so weit sie einander ähnlich sind, und also entweder von einer Art sein, oder zu einem Geschlechte gehören, einerlei Namen zu geben. Und durch die Hülfe dieses Namens sondern wir gleichsam ab, was sie mit einander gemeinsam haben. Und sind demnach die Wörter oder auch andere Zeichen das Mittel, dadurch wir allgemeine Erkenntnis erlangen" .

Hier kommt nun die prästabilierte Harmonie zwischen Leib und Seele zur Geltung. Was die Seele denkt, repräsentiert der Leib: Die Begriffe stellen sich als Wörter dar. Der Leib produziert parallel zur Seele einerseits die Sinneseindrücke, andererseits diesen zugeordnete Zeichen. Die Seele interpretiert die ersten als Empfindungen, die zweiten als Begriffe. "Diejenigen, welche die Wörter zuerst erfunden, sind durch das Anschauen der Dinge bewogen worden, durch die zur Sprache erforderten Gliedmaßen gewisse Töne zu formieren, dadurch sie die Dinge als durch Zeichen angedeutet. Es ist demnach aus der Bewegung, die in den Gliedmaßen der Sinnen und ferner im Gehirne erreget worden, diejenige Bewegung entstanden, die zur Formierung der Töne in den Gliedmaßen der Sinnen erfordert wird. Den Ton haben sie gehöret, wodurch von neuem eine Bewegung im Ohre und ferner im Gehirne erreget worden, die sich mit den andern, so durch die anderen Sinnen kommen, daselbst vergesellschaftet. Derowegen da das Gehirn dergestalt beschaffen, daß, wenn zweierlei Bewegungen mit einander daselbst zugleich entstanden, nach diesem wiederum aus der einen, die durch die Sinnen erreget worden, die andere erfolget, so siehet man hieraus, wie es möglich ist, daß unser Leib als eine bloße Maschine

6 7

ebd. § 784. ebd. § 834. vgl. § 273. Zur Abstraktion der Genera durch die Namen bei Leibniz vgl. COSERIU 1975 I, 178f.

27

Wolff

diejenigen Worte hervorbringet, die sich jederzeit zurgSache schikken, und die allgemeine Erkenntnis der Seele andeuten" .

Die K o o r d i n a t i o n v o n W o r t u n d S a c h e e r m ö g l i c h t die

figürliche

Erkenntnis, die vermittels der Zeichen verfährt und die das anschauende Erkennen ergänzt. "Nachdem wir der Sprache einmal gewohnet, pflegen wir die Worte an statt der Sachen vorzustellen, und auch damit unsre Urteile von den Dingen auszudrücken. Derowegen kommt bei der figürlichen Erkenntnis weder in den Begriffen, noch in den Urteilen etwas vor, welches nicht im Leibe eine gleich gültige Bewegung haben könnte, ja wirklich hätte. Und ist demnach die figürliche Erkenntnis der Harmonie zwischen dem Leibe und der Seele nicht zuwider" .

D i e S p r a c h e ist s i n n l i c h e R e p r ä s e n t a t i o n d e s D e n k e n s der Seele, die s i c h in i h r e m L e i b d a r s t e l l t . Der L e i b b i l d e t die m a t e r i e l l e n E n t s p r e c h u n g e n des I n t e l l i g i b l e n in d e n

Zeichen.

"Alle Vorstellungen der Seele, es mögen Sachen oder Wörter sein, dadurch die Sachen bedeutet werden, werden im Leibe von besonderen Bewegungen begleitet, oder es werden die Sachen auf eine körperliche Art zugjgich im Leibe vorgestellet, die in der Seele vorgestellt werden"

Der L e i b ist die M a s c h i n e , die k r a f t der

prästabilierten

H a r m o n i e in Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t d e n V o r g ä n g e n der steht. D i e S p r a c h e ist der Teil des

Seele

körperlich-sinnlichen

A u s d r u c k s , d e r d a s B e w u ß t s e i n u n d die v e r n ü n f t i g e

Erkenntnis

d e r S e e l e d a r z u s t e l l e n in der L a g e ist. A l l e r d i n g s ist die S p r a c h e n i c h t nur D a r s t e l l u n g der E r k e n n t n i s , s o n d e r n

auch

ihr V o l l z u g . O h n e d i e S p r a c h e ist k e i n e d e u t l i c h e

Erkenntnis

möglich. Wolff unterscheidet zwischen anschauender

Erkennt-

nis, d i e d a s D i n g s e l b s t v o r s t e l l t d u r c h d e n

Sinneseindruck

u n d d i e E m p f i n d u n g , u n d f i g ü r l i c h e r E r k e n n t n i s , die d a s D i n g

8 9 10

Ges. W. 1-2, § 836. ebd. § 839. vgl. 1-3, § 311. Ges. W. 1-2, § 842. Es trifft nicht zu, wenn ARNDT 1979, 327 behauptet (allerdings bezogen auf die lateinische Logik Wolffs), es bestehe bei Wolff kein Bezug zwischen Zeichen- und Repräsentationsbegriff.

28

Wolff

durch Zeichen vorstellt 1 1 . Die figürliche Erkenntnis bringt die Begriffe hervor, weil sie im Gegensatz zur anschauenden Erkenntnis, die dunkel und undeutlich bleibt, die Merkmale des Gegenstandes deutlich zu unterscheiden in der Lage ist, indem sie diese benennt: "Es hat aber die figürliche Erkenntnis viele Vorteile vor der anschauenden, wenn diese nicht vollständig ist, das ist, alles deutlich gleichsam vor Augen leget, was ein Ding in sich enthält, und wie es mit andern verknüpfet ist, und gegen sie sich verhält. Denn da jetzund Empfindungen größtenteils undeutlich und dunkel sind; so dienen die Wörter und Zeichen zur Deutlichkeit, indem wir durch sie unterscheiden, was wir Verschiedenes in denen Dingen und unter ihnen antreffen. Weil aber hierdurch die Ähnlichkeit erhellet, die zwischen verschiedenen einzelnen Dingen anzutreffen; so gelanget man auf diese Weise zu allgemeinen Begriffen. U n ^ w i r d demnach die allgemeine Erkenntnis durch Wörter deutlich"

Allerdings ist die figürliche Erkenntnis mittels der Zeichen 13

nur sinnvoll, wenn sie sich auf Anschauung bezieht

. Dieser

Bezug ist gewährleistet durch die Struktur der komplexen Zeichen, die zur Struktur der Gegenstände analog sind: "Es ist möglich, daß auch in die figürliche Erkenntnis eine Klarheit und Deutlichkeit gebracht wird, und sie eben dasjenige gleichsam für Augen stellet, was in der Sache anzutreffen ist, und dadurch man sie von andern unterscheidet, dergestalt daß, wenn nach diesem zusammengesetzte Zeichen, die den Begriffen gleichgültig sind, gegen einander gehalten werden, m a n ^ u c h das Verhältnis der Dinge gegen einander daraus ersehen kann"

Die Willkürlichkeit der Zeichen erreicht durch ihre Syntax eine gewisse Notwendigkeit und Natürlichkeit 1 ^.

Durch die

Zusammensetzung der Zeichen wird eine Entsprechung des komplexen Zeichens zur Analyse seines Gegenstandes, den es bezeichnet, hergestellt1**. Für Wolff ist also die Sprache

11 12 13 14 15 16

Ges. W. 1-2, 316. vgl. COSERIU 1972 II, 138. Zur figürlich-symbolischen Erkenntnis vgl. auch UNGEHEUER 1983, 90ff. 102. 1981, 59f. Ges. W. 1-2, § 319. ebd. § 320. 323. ebd. § 324. vgl. COSERIU 1972 II, 132f. vgl. Leibniz, Dialogue, Gerh. PhS VII, 190-193. vgl. COSERIU 1972 II, 133.

29

Wolff

nicht nur Mitteilungsweise der Gedanken, sondern eine notwen17 :

dige Vollzugsweise des Denkens

"Da die Wörter zur Deutlichkeit der allgemeinen Erkenntnis dienen, hingegen aber die Vernunft sich auf die Deutlichkeit der Erkenntnis gründet; so befördert die Sprache oder auch der Gebrauch anderer Zeichen, die den Wörtern gleichgültig sind, oder sie wohl gar öfters übertreffen, den Gebrauch der Vernunft. Ja man wird finden, wie schwer es uns vorkommt, wenn wir durch die anschauende Erkenntnis der Dinge ohne den Gebrauch der Wörter oder anderer gleichgültiger Zeichen ihren Zusammenhang heranbringen sollen, absonderlich wenn Schlüsse dazu erfordert werden"

Daraus wird deutlich, "warum man, ehe man die Sprache geler19

net, nicht recht zum Gebrauche der Vernunft gelanget"

1.1.2.2

Elemente der Hermeneutik

Den Schritt zu einer universalen Hermeneutik, der bei Leibniz naheliegt, tut Wolff nicht, weil er im Gegensatz zu Leibniz keine universale prästabilierte Harmonie annimmt, die den Zeichencharakter jedes Körpers begründet. Wolff hat einen viel spezifischeren Verstehensbegriff. Für ihn ist das Verstehen ein Problem der Kommunikation menschlicher

Individuen,

die beschränkt ist auf die Sprache als Bezeichnung der Gedanken. Wolff hat einen extensional engeren Zeichenbegriff als Leibniz, so daß sein Zeichenbegriff bestimmtere Konturen erhält. Intensional ist der Zeichenbegriff beider sehr ähnlich: Wolff definiert das Zeichen in Anlehnung an Leibniz: "Ein Zeichen ist ein Ding, daraus ich entweder die Gegenwart, oder die Ankunft eines andern Dinges erkennen kann, das ist, daraus ich erkenne, daß entweder etwas würklich an einem Orte vorhand^g ist, oder daselbst gewesen, oder auch daselbst entstehen werde" ' . "Signum dicitur ens, ex^yjo alterius praesentia, vel adventus, vel praeteritio colligitur"

17 18 19 20 21

ebd. Ges. ebd. Ges. Ges.

137f. W. 1-2, § 319. § 868. vgl. 1-9, 63. 1-4, 278. 1-2, 322. W. 1-2 § 292. W. II-3, § 952.

30

Wolff

22

Die Wörter sind willkürliche Zeichen . Deshalb werfen sie das Verstehensproblem auf. Die Verbindung von Wort und Begriff ist nicht natürlich-notwendig, sondern eine willkürliche Setzung und vom Willen des Zeichenbenutzers abhängig. Das Verstehen sprachlicher Äußerungen setzt nun voraus, daß der Verstehende mit den Wörtern dieselben Inhalte verbindet wie der Sprechende: "Wenn also zwei Personen mit einander reden, und einer den andern verstehen soll; so wird gefordert, 1. daß der, so da redet, bei einem jeden Worte sich etwas gedenken könne; 2. daß der, so ihn reden höret, eben dasjenige ij^ch bei einem jeden Worte gedenken kann, was der andere denket"

Die Übereinstimmung in der Zuordnung von Wort und Begriff seitens des Sprechenden und des Verstehenden setzt voraus, daß der Sprechende mit seiner Rede überhaupt etwas ausgedrückt hat. Er muß sich deshalb selbst fragen, welchen Inhalt er durch seine sprachliche Äußerung vermittelt, d.h. er muß seine eigene Rede interpretieren: "Damit nun ein jeder erfahre, ob er wisse, was er redet, oder ob seine Worte nur ein leerer Ton sind; so muß er bei einem jeden Worte, das er r e ^ t , sich selbst fragen, was er für einen Begriff damit verknüpfe"

Die Forderung, mit den Wörtern die ihnen entsprechenden Begriffe zu verbinden, gilt auch für das Lesen schriftlicher Äußerungen: "Absonderlich ist wohl in acht zu nehmen, wenn wir den Urheber eines Buches recht verstehen wollen, daß wir mit seinen Wintern eben dieselben Begriffe verknüpfen, die er damit verbindet"

Die Hermeneutik Wolffs ist einerseits autorbezogen, andererseits bezeichnungsbezogen. Verstehen heißt ihm, den Autor 22 23 24 25

Ges. Ges. ebd. ebd.

W. 1-2, § 295. II-3, § 959. W. 1-1, 151f. 151f. 227. vgl. II-1/3, §§ 903-970.

Baumgarten

31

vermittels seiner Texte verstehen und die Sachen, von denen er spricht und die sein Text bezeichnet, zu erfassen. Das Verstehen des Autors und das Erfassen der Sachen dient aber letztlich doch dem Verstehen des Textes, der demnach Ausgangspunkt und Ziel des Verstehens ist: "Wir lesen Bücher, damit wir erkennen, was darinnen steht. Also wird dazu erfordert, 1) daß wir den Urheb^g recht verstehen, 2) daß wir die vorgetragene Sachen wohl fassen"

Die Hermeneutik Wolffs hat objektiven Charakter, da sie die Identität von Gemeintem und Verstandenem als Ziel des Verstehens voraussetzt. Das Verstehen ist für Wolff kein kreatives Neuschaffen des individuellen Sinns des Textes, sondern die identische Reproduktion des "Begriffs", den der Autor ausdrücken will. Obwohl Wolff Begriff und Bedeutung unter27 scheidet , benützt er diese Unterscheidung nicht für die Hermeneutik. Auch gerät er in Gefahr, den sprachlichen und textuellen Inhalt im Verstehensprozeß zu überspringen, wenn er meint: "Zum Verstehen wird weiter nichts erfordert, als daß wir uns bei dem Namen a^gh die Sache und bei der Sache zugleich den Namen vorstellen können"

1.1.3 1.1.3.1

Baumgarten Sinnliche Erkenntnis und Zeichen

Die von Wolff als Grundlage der Erkenntnis bezeichnete Empfindung behandelt Baumgarten als eigenständige Erkenntnisart^, die er cognitio sensitiva nennt. Die sensitive Erkennt26 27 28 1

Ges. W. 1-1, 226. vgl. COSERIU 1972 II, 136. Ges. W. 1-2, § 299. Es ist wohl SCHMIDT 1982, 180-186 gegen SCHWEIZER 1973, 21f. recht zu geben, wenn SCHMIDT betont, daß bei Baumgarten der cognitio sensitiva nur eine relative Selbständigkeit gegenüber der cognitio

32

Baumgarten

nis ist im Gegensatz zur begrifflichen Erkenntnis undeutlich 2

und gehört dem unteren Erkenntnisvermögen an . Der Unterschied im Grad der Deutlichkeit der Erkenntnis hängt an der endlichen Weltsicht des Bewußtseins, das durch seinen Körper eine bestimmte Stelle im Universum einnimmt"*. Dementsprechend definiert Baumgarten den Ort der Erkenntnis: "Anima mea est 4 vis repraesentativa universi propositu corporis sui" . Das Erkenntnisvermögen repräsentiert das Universum von einem bestimmten Ort aus, den der Körper in der Welt einnimmt. Diese Bestimmtheit der Seele im Raum bedingt die Unterschiede in der Deutlichkeit der Erkenntnis, weil die Räumlichkeit sowohl das Komplex-Einfache als auch das Auseinander, das Getrennte und Vielfache ermöglicht. Die undeutlichen dunklen Empfindungen machen den Grund der Erkenntnis aus, ihren fundus animae^. Das untere Erkenntnisvermögen baut auf diesem fundus auf®. Die sinnlichen Empfindungen werden 7 im unteren Erkenntnisvermögen zu sinnlichen Vorstellungen . Die Wissenschaft, die sich mit der sinnlichen Erkenntnis befaßt, ist nach Baumgarten die Ästhetik: Q "Scientia sensitive cognoscendi et proponendi est AESTHETICA" . Ein Teil dieser Ästhetik ist nun die Semiotik. Denn das Zeichen ist ein sinnlicher Gegenstand, der als solcher durch die sinnliche Erkenntnis erfaßt wird. Deshalb behandelt Baumgarten das Bezeichnungsvermögen als Teilbereich der sinn-

2

3 4 5 6 7 8

rationalis zukommt, weil sie an der letzteren gemessen wird, indem sie ihr als cognitio confusa entgegengesetzt wird. Baumgarten orientiert sich in seiner frühen Schrift Meditationes 1735 und auch später an Leibnizens Klassifizierung der Erkenntnis in cognitio confusa sive distincta, wobei die cognitio confusa unterteilt wird in cognitio confusa obscura et clara (so die Fassung in Leibniz, Discours1métaphysique 1686, anders in: Meditationes 1684). Die cognitio sensitiva ist nach Baumgarten eine cognitio confusa, weil sie den Gegenstand nicht begrifflich-analytisch erfaßt, sondern anschaulich-konkret, in seiner synthetischen Komplexität vor jeder Analyse. Vgl. dazu FRANKE 1979, 353. Die cognitio confusa ist als das konkrete Erfassen ohne Analyse im Blick auf die begriffliche Erkenntnis noch unvollkommen, eine notwendige Vorstufe. Met. § 512. Met. § 513. Met. § 511. Met. § 520. Met. § 521: "Repraesentatio non distincta sensitiva vocatur". Met. § 533. vgl. Aesth. § 1. vgl. dazu: CASSIRER 1973, 453-482.

Baumgarten

33

liehen Erkenntnis. Baumgarten definiert das Zeichen als 9

"medium cognoscendae alterius existentiae" , in Anlehnung an Leibniz und Wolff. Deshalb sei das Zeichen "signati principiunt cognoscendi"^. Das Zeichen hat also die Aufgabe, etwas anderes zu repräsentieren und das Repräsentierte der Erkenntnis zugänglich zu machen, indem es dieses identifiziert. Dabei gehört der sinnliche Teil der Zeichenerkenntnis, der das Zeichen empfindet und die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem undeutlich, weil konkret und noch nicht begrifflich reflektiert, erfaßt, zur sinnlichen Erkenntnis. Der nicht-sinnliche Teil der Zeichenerkenntnis hingegen, der die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem deutlich erfaßt und begrifflich bestimmt, gehört zur rationalen Erkenntnis: "Nexus significativus vel distincte vel indistincte cognoscitür, h i n c ^ a c u l t a s characteristica vel sensitiva erit vel intellectualis"

Das Bezeichnungsvermögen oder die Fähigkeit zur Verwendung 12

von Zeichen nennt Baumgarten facultas characteristica . Die facultas characteristica gründet sich auf die Fähigkeit der Seele, das All zu repräsentieren: "Cumque sit in hoc mundo nexus significativus, facultatis characteristicae ç^rceptiones actuantur per vim animae repraesentativam universi"

Sowohl die Repräsentationskraft der Seele als auch der Zusammenhang oder die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, zwischen Repräsentation und Repräsentiertem werden möglich durch die universale prästabilierte Harmonie aller Substanzen, die Baumgarten im Gegensatz zu Wolff und im Anschluß an Leibniz annimmt 9 10 11 12 13 14

Met. ebd. Met. Met. ebd. Met.

14

. Diese universale Harmonie umgreift auch

§ 347. § 619. § 619. § 357. 448. vgl. dazu: CASULA 1975, 400. 412-414.

Baumgarten

34

die Harmonie zwischen Seele und Körper15, geht aber über diese hinaus und bezieht alle Substanzen in ihrer Relation untereinander und aufs ganze Weltall ein. Diese universale Harmonie ist der Grund, warum die Seele mittels der Zeichen die Welt repräsentieren kann. Die Wissenschaft der Zeichen nennt Baumgarten "characteristica"'16. Als Teil der Ästhetik heißt sie Aesthetica characteristica. Hier ist die Semiotik die "scientia sensitivae cognitionis circa signa occupatae et propositionis eius17 modi"1'.

1.1.3.2

Hermeneutik als Teil der Semiotik

Der Teil der Semiotik, der sich mit der Interpretation der Zeichen befaßt, ist die Hermeneutik. Der Teil hingegen, der die Erfindung der Zeichen behandelt, wird Heuristik genannt: "Scientia signorum est (semiotica, semiologia philosophica, symbolice) CHARACTERISTICS, eaque HEURISTICA de inveniendis signis tarn primitivis, quam derivativis COMBINATORIA, et HERMENEUTICA, de cognoscendis signorum signatis. Haec HERMENEUTICA UNIVERSALIS est" .

Weil also die Semiotik das generelle Problem der Zeicheninterpretation beinhaltet, ist dieses ihr Teil die universale Hermeneutik. Die Fähigkeit der Seele, das Weltall zu repräsentieren, macht einerseits die Zeichenkonstitution, andererseits die Zeicheninterpretation zu einer universalen Aufgabe. Erkenntnis findet demnach nie nur unmittelbar statt, sie ist nie bloße cognitio intuitiva, sondern immer auch cognitio symbolica, also vermittelt durch die Repräsentation des Gegenstandes im Zeichen, die allerdings gebunden bleibt an den sinnlichen Eindruck des Gegenstandes, der gerade durch das Zei35 16 37 18

Met. Met. Met. Met.

§ § § §

736. 349, wie Leibniz. 622. 349.

Baumgarten

35

chen in der Seele und für sie eine sinnliche Darstellung 19

findet . Die Hermeneutik behandelt also kein Spezialproblem, etwa das der Auslegung von schwierigen Texten oder von Texten einer bestimmten Dignität, sondern sie hat einen konstitutiven Schritt im Erkenntnisprozeß zum Gegenstand, nämlich das Verstehen der sinnlichen Repräsentationen der Sinneseindrücke, wodurch diese der deutlichen Erkenntnis zugeführt werden. Weil die Zeichenkonstitution universalen Charakter hat, kommt auch der Zeicheninterpretation Universalität zu, die universale Semiotik hat eine universale Hermeneutik zu Folge. Als Teile der Semiotik sind Zeichenkonstitution und Zeicheninterpretation bzw. ihre Theorie einerseits interdependent, andererseits komplementär. Interdependent sind Heuristik und Hermeneutik, weil sie zwei"notwendige Verfahren im Umgang mit Zeichen betreffen. Komplementär sind sie, weil sie die beiden Hälften des Zeichenprozesses sind, die aufeinander verweisen 2 0 Als Teil der Semiotik, die ihrerseits Teil der Ästhetik ist, gehört die Hermeneutik in den Bereich der sinnlichen Erkenntnis. Die Hermeneutik als Theorie der Zeicheninterpretation muß sich nämlich auf die sinnliche Gestalt der Zeichen beziehen, die der Ausgangspunkt der Interpretation sind. Das Verstehen beginnt also mit sinnlicher Erkenntnis, wenngleich es nicht bei ihr stehen bleibt, sondern zu begrifflicher Erkenntnis fortschreitet. Das Verstehen muß zuerst das Zeichen sinnlich aufnehmen, empfinden, bevor es das Materielle auf das Ideelle, den Ausdruck auf den Inhalt hin überschreiten kann. Die Rückbindung der Hermeneutik an die sinnliche Erkenntnis ist der Schritt, den Baumgarten über die regionale Herme19

20

Zur Unterscheidung von cognitio intuitiva und cognitio symbolica vgl. Met. § 620 und Leibniz, Meditationes de cognitione, veritute et ideis, 1684. Zumindest legt sich dieser Gedanke bei Baumgarten nahe. Ausgeführt ist er in seiner Met. und Aesth. nicht. JÄGER 1980, 82 sagt, die Erfindungskunst sei die Voraussetzung der Auslegungskunst.

36

Baumgarten

neutik Wolffs hinaus tut, in Anlehnung an dessen Begriff der Empfindung und an Leibnizens Idee von der notwendigen Materialität des Ideellen.

1.1.3.3

Text und Dichtung

Das Verstehen sprachlicher Äußerungen im engeren Sinne ist nur ein Sonderfall des Verstehens von Zeichen überhaupt. Die Sprache gehört zu den Zeichen, weil sie Vorstellungen sinnlich ausdrückt. "Signum repraesentationis est TERMINUS. Termini per vocem humanam usitatiores sunt VOCABULA. Series vocabulorum repraesentationes connexas significantium est ORATIO. Complexus vocab^Jorum in certa regione maiori usitatiorum est LINGUA PARTICULARIS"

Die Rede oder der Text ist also ein komplexes Zeichen, das komplexe Vorstellungen repräsentiert: "ORATIONEM cum dicimus, serian; vocum repraesentationes connexas significantium intelligimus"

Die Rede oder der Text ist die sinnliche Darstellung von komplexen Denkinhalten der Seele, die aus dem Text wiederum erkannt werden: "Ex oratione repraesentationes connexas 23 cognoscendae sunt" . Dieses Erkennen der Vorstellungen aus dem Text ist Aufgabe der Textinterpretation, die Thema der sich mit sprachlichen Texten befassenden Texthermeneutik ist. Die Textkonstitution beschreibt Baumgarten am Beispiel des Gedichts als einer vollkommenen 24 sensitiven Rede, die also sinnliche Vorstellungen enthalt : "Poematis varia sunt, 1) epraesentationes sensitivae, 2) earum nexus, 3) voces 21

22 23 24

Met. § 350. Die Wissenschaft, die sich mit der natürlichen Sprache befaßt, ist die Philologie: Met. § 622. vgl. Philosophie generalis § 147. Meditationes § 1. ebd. § 2. ebd. § 3-9.

37

Baumgarten e a r u m signa"

25

. D e r T e x t w i r d s o m i t k o n s t i t u i e r t aus d e n

V o r s t e l l u n g e n , d e n D e n k i n h a l t e n der S e e l e , d i e m i t e i n a n d e r verknüpft eine bestimmte Struktur bilden und die durch ein komplexes Zeichen materiell repräsentiert werden, das die S t r u k t u r d e r V o r s t e l l u n g a n a l o g z u e r k e n n e n gibt. D i e s e s

Zu-

e r k e n n e n g e b e n v o n V o r s t e l l u n g e n d u r c h d e n T e x t ist A b s i c h t des Sprechenden, er intendiert die Mitteilung seiner Vorstel26 lungen . Baumgarten unterscheidet die Vorstellungen in An27 lehnung an Leibniz' Terminologie in confusae und distinctae, w o b e i er d i e r e p r a e s e n t a t i o n e s c o n f u s a e als 28 bezeichnet

sensitivae

. Diese beiden Hauptgattungen der Vorstellungen

b e g r ü n d e n d i e b e i d e n E r k e n n t n i s a r t e n d e r s i n n l i c h e n u n d der i n t e l l e k t u a l e n E r k e n n t n i s . Der s p e z i f i s c h e u n d v o l l k o m m e n e A u s d r u c k der s i n n l i c h e n E r k e n n t n i s n u n ist 29 für B a u m g a r t e n d i e D i c h t u n g b z w . d a s G e d i c h t als d e r e n P r o d u k t . Die Dichtung bringt Texte hervor, die die sinnliche Erkenntnis

repräsen-

t i e r e n , also s e n s i t i v e V o r s t e l l u n g e n . D i e s e k ö n n e n d u n k e l oder k l a r sein, aber nur d i e k l a r e n s i n d e i g e n t l i c h p o e t i s c h , w e i l sie so v i e l e V o r s t e l l u n g e n v o n M e r k m a l e n e n t h a l t e n , w i e a u s r e i c h e n , u m d a s V o r g e s30 t e l l t e w i e d e r z u e r k e n n e n u n d es v o n a n d e r e m zu u n t e r s c h e i d e n

. Die repraesentationes confusae et

c l a r a e m ü s s e n e x t e n s i v klar sein, w e n n e i n H ö c h s t m a ß

an

P o e t i z i t ä t e r r e i c h t w e r d e n soll. D e n n e x t e n s i v klar s i n d d i e V o r s t e l l u n g e n , d i e m e h r v o r s t e l l e n als a n d e r e , also k o m p l e x e r 31 sind

. D i e K o m p l e x i t ä t der V o r s t e l l u n g e n m a c h t d i e s e b e -

stimmt: "Quo magis res determinantur hoc repraesentationes earum plura complectuntur ; quo vero plura in repraesentatione^cjonfusa cumulantur, hoc fit extensive clarior, magisque poetica"

25 26 27 28 29 30 31 32

ebd. § 10. ebd. § 12 nota. Leibniz, Discours métaphysique bzw. Meditationes. Siehe oben Anm. 2. Meditationes § 3. ebd. § 9. ebd. § 13. ebd. § 16f. ebd. § 28.

38

Baumgarten

Γη höchstem Maße bestimmt sind Individuen: "Individua sunt omnimode determinata, ergo repraesentationes singulares sunt 33

admodum poeticae" . Die Darstellung von Individuen mit ihrer Bestimmtheit ist also der eigentliche Zweck des poetischen Textes. Die Dichtung ist als Darstellung der repraesentatio confusa et clara et extensiva eines Individuellen der Prototyp für die sinnliche Erkenntnis und damit für die Ästhetik. An ihr wird auch das Verstehensproblem, wie es sich im Rahmen der sinnlichen Erkenntnis, bei der Interpretation von Zeichen als des sinnlichen Ausdrucks der Vorstellungen, stellt, offensichtlich. Denn die Dichtung zeigt und legt an den Tag, daß jeder Text oder jedes komplexe Zeichen, das zur Anwendung kommt, eine individuelle materielle Gestalt hat, der ein individueller Inhalt entspricht. Dies gilt für jeden Text, weil jeder Text Individualität und Bestimmtheit aufweisen muß, sobald die Zeichen, aus denen er besteht, zum Vollzug kommen. Die Aufgabe des Verstehens eines poetischen Textes müßte es sein, das Individuelle, das er darstellt, zu vernehmen. Dementsprechend müßte es eine poetische Hermeneutik geben oder eine Hermeneutik der Dichtung, die das ästhetische Verstehen behandelt, dessen Gegenstand in reinster Form die Dichtung, aber grundsätzlich die Sinnlichkeit und Materialität des Zeichens ist. Insofern wäre diese Hermeneutik die Grundlage für die Hermeneutik überhaupt, wie auch die sinn34 liehe Erkenntnis die Basis der Erkenntnis ist Mit der.Bestimmung des Textinhalts als eines individuellen geht Baumgarten einen Schritt über die bloße Hermeneutik der Bezeichnung, der Referenz hinaus in Richtung auf eine Hermeneutik des Sinns.

33 34

ebd. § 19. Die Verbindung des Dichtungs- mit dem Verstehensbegriff ist bei Baumgarten nicht expliziert, legt sich aber von seinem System her nahe.

39

Lambert

1.1.4

Lambert

L a m b e r t ist v o n d e r L e i b n i z s c h e n V o r s t e l l u n g e i n e r

Characte-

ristica universalis beeinflußt und knüpft an Wolff und Baumg a r t e n an. D i e T h e o r i e d e r s i n n l i c h e n E r k e n n t n i s als G r u n d lage der E r k e n n t n i s ü b e r h a u p t , w i e sie B a u m g a r t e n

entwickelt,

w i r d für L a m b e r t zur B e g r ü n d u n g d e r S e m i o t i k . Die

Semiotik

ist n i c h t nur e i n e H i l f s w i s s e n s c h a f t d e r P h i l o s o p h i e ,

sondern

sie m a c h t d e r e n M i t t e aus, i n s o f e r n jede E r k e n n t n i s d e r

Zei-

c h e n b e d a r f . Im A n s c h l u ß a n W o l f f s p r i c h t L a m b e r t h i e r v o n symbolischer Erkenntnis, die mittels der Zeichen die

Empfin-

d u n g d e s G e g e n s t a n d e s e i n e s B e g r i f f s e r n e u e r t u n d so d e m Begriff erst Klarheit

verschafft.

Daraus "erhellet, daß die symbolische Erkenntnis uns ein unentbehrliches Hilfsmittel zum Denken ist. Denn da wir, ohne die Empfindung der Sache zu erneuern, den Begriff derselben wachend nicht aufklären können, wie es etwan im Traum geschieht; so würden wir ohne die Zeichen der Begriffe, entweder von jeder gegenwärtigen Empfindung hingerissen werden, und uns höchstens nur der ähnlichen Empfindung dunkel bewußt sein, oder von andern vormals gehabten Empfindungen nur ein dunkles und flüchtiges Bewußtsein haben, welches uns aber wenig dienen würde, wenn wir es nicht an Zeichen binden könnten, deren Empfindung^wir erneuern, und die Aufmerksamkeit ganz darauf richten könnten" .

D i e O r i e n t i e r u n g a n L e i b n i z zeigt s i c h a n der

Forderung

L a m b e r t s , die T h e o r i e d e r S a c h e g e g e n d i e T h e o r i e d e r

Zeichen

a u s t a u s c h e n zu k ö n n e n , w e i l die Z e i c h e n e i n e in jeder H i n s i c h t a d ä q u a t e R e p r ä s e n t a t i o n der S a c h e s e i n m ü s s e n : "Die Zeichen der Begriffe und Dinge sind ferner im engeren Verstände wissenschaftlich, wenn sie nicht nur überhaupt die Begriffe oder Dinge vorstellen, sondern auch solche Verhältnisse anzeigen, daß die Theorie der Sache ugd die Theorie ihrer Zeichen miteinander verwechselt werden können" .

D i e S u b s t i t u t i o n d e r Sache d u r c h d a s Z e i c h e n e r l a u b t e r s t e i n e k l a r e B e s t i m m u n g d e r Sache, w e i l d a s Z e i c h e n d u r c h s e i n e M a t e r i a l i t ä t eine e n d l i c h e b e s t i m m t e G e s t a l t hat. 1 2

Organon II, 11. ebd. 16.

Lambert

40

"Die Theorie der Sache auf die Theorie der Zeichen reduzieren, will sagen, das dunkle Bewußtsein der Begriffe mit der anschauenden Erkenntnis, mit der Empfindung und klaren Vorstellung der Zeichen verwechseln. Die Zeichen sind uns für jede Begriffe, die wir nicht immer durch wirkliche Empfindung aufklären können, ohnehin schlechterdings notwendig. Kann man sie demnach so wählen und zu solcher Vollständigkeit bringen, daß die Theorie, Combination, Verwandlung etc. der Zeichen statt dessen dienen kann, was sonst mit den Begriffen selbst vorgenommen werdenrnüßte;so ist dieses alles, was wir von Zeichen verlangen können^ weil es so viel ist, als wenn die Sache selbst vor Augen läge" .

Die Ontologie müßte demnach in der Semiotik aufgehen. Allerdings ist bei Lambert das Verhältnis von Sache und Begriff nicht ganz klar. Auch für die natürlichen Sprachen gelte dieser Grundsatz der Verwechselung von Theorie der Sache und Theorie der Zeichen, jedoch mit Einschränkungen, da in den Sprachen nicht 4 jeder Struktur auch eine solche der Dinge entspreche

. Trotz

diesem Mangel der natürlichen Sprachen gegenüber der Algebra ist die Sprache für das Denken notwendig, sie hat einen "Einfluß auf die Wahrheit" 5 . "Da die Wörter und ihre Verbindung Zeichen von unseren Begriffen und deren Verbindung sind, so daß wir durch das Bewußtsein und Empfinden der Zeichen das Bewußtsein der Begriffe erneuern, und dadurch die wiederholte Empfindung der Dinge selbst großenteils unentbehrlich machen, so hat die Sprache unstreitig einen vielfachen und merkliehen Einfluß in die Art und Gestalt unserer gesamten Erkenntnis" .

Die Sprache sei deshalb ein bevorzugter Gegenstand der Philosophie, weil deutlich werde, daß "uns die symbolische Erkenntnis und in dieser die Rede unentbehrlich ist, und daß die Sprache als das Behältnis unserer Begriffe und Wahrheiten, aus vielen Gründen die Untersuchung eines Weltweisen verdiene"^. Der Zusammenhang der Erkenntnis mit den Zeichen bringt es mit sich, daß die Verbindung zwischen Zeichen und Begriff

3 4 5 6 7

ebd.; vgl. COSERIU 1972 II, 146. Organon II, 75f. ebd. 8. ebd. 201. ebd. 44.

41

Meier

bzw. Sache gerechtfertigt werden muß. Dies ist die Aufgabe der Hermeneutik, die Lambert nicht ausdrücklich erwähnt, deren Grundproblem er aber so formuliert: "Ein Zeichen ist überhaupt ein principium cognoscendi, und bezieht sich auf ein denkendes Wesen, welches sich die Verbindung zwischen dem Zeichen und der dadurch bedeuteten Sache wenigstens überhaupt vorstellet, um aus jenem auf diese zu schließen. Es dient demnach in so fern zur wissenschaftlichen Erkenntnis, als das Bewußtsein dieser Verbindung jedesmal ein Datum ersparet, und nach dem ordentlichen Lauf der Dinge gghen die Zeichen der wissenschaftlichen Erkenntnis unmittelbar vor" .

Die Relation zwischen dem Zeichen und der Sache wird also 9

hergestellt durch das Subjekt im Akt der Interpretation . Dieses dreistellige Zeichenmodell hat Lambert nicht weiter ausgeführt.

1.1.5 1.1.5.1

Meier Begründung der Semiotik

Meier ist ein Schüler Baumgartens und entwickelt dessen Theorie der sinnlichen Erkenntnis weiter zu einer Theorie des Zeichens, insbesondere des Verstehens von Zeichen. Für Meier ist die Fähigkeit zum Umgang mit Zeichen, das Bezeichnungsvermögen, das höchste Vermögen der unteren Erkenntniskräfte, das zwischen diesen und den höheren Erkenntniskräften steht. Das Bezeichnungsvermögen vermittelt somit zwischen Sinnlichkeit und Verstand, weil es einerseits dem Vermögen der sinnlichen Erkenntnis angehört, andererseits aber für die höhere Erkenntnis des Verstandes notwendig ist. Die Notwendigkeit des Zeichens für die Erkenntnis und für das Denken erfährt bei Meier zunächst eine psychologische Begründung: das höhere Erkenntnisvermögen, das Denken im engeren Sinn, bedarf des Bezeichnungsvermögens. Dies ist zuerst eine Erfahrungstatsache: 8 9

Anlage II, 300. vgl. HUBIG 1979, 340.

42

Meier

"Nun dürfen wir nur auf die bloße Erfahrung Achtung geben, so werden wir überzeugt sein, daß unsere obere Erkenntniskraft, der Verstand und die Vernunft, ohne Worte, und ohne andere Zeichen der Gedanken, nicht wirksam sein können. Andere Vorstellungen, z.E. Empfindungen, können wir ohne Worte erlangen. Wir können schmecken, sehen und fühlen, ohne daß wir uns der Worte bewußt sind, durch welche wir diese Empfindungen auszudrücken pflegen. Allein, wenn wir deutlich denken, und einen Gedanken aus dem andern, durch Vernunftschlüsse, herleiten wollen, so müssen wir dieses allemal, durch Hülfe der Worte oder anderer Zeichen tun. Daher kann man mit Recht sagen, daß man gleichsam sich mit sich selbst in seinen Gedanken unterrede, wenn man einer Sache deutlich uçd vernünftig nachdenkt, und dieselbe bloß in seinem Gemute überlegt" .

Die Deutlichkeit der Erkenntnis fordert ihre Bindung an das Zeichen, weil nur dieses erlaubt, Unterschiede und Merkmale festzuhalten und zu repräsentieren. Ohne die Zeichen zerflösse die Erkenntnis ins Diffuse und Bestimmtheit der Erkenntnis wäre nicht möglich. "So bald die Worte fehlen, so bald fällt gleichsam die Stütze der Bedeutungen weg. Sie können nicht mehr voneinander unterschieden werden, und unsere Erkenntnis gerät in Verwirrung. [...] Bei solchen Gegenständen der menschlichen Erkenntnis, die nicht in unsere Sinne fallen, braucht die Natur [...] die Vorstellungen der Worte und Ausdrücke, an welche wir die verschiedenen Teile eines ganzen Gegenstandes gleichsam heften, sie dadurch gleichsam in unserem Gemüte von einander entfernt halten, und dadurch werden wir in den Stand gesetzt, sie von einander zu unterscheiden, und al^o von dem ganzen Gegenstande eine deutliche Erkenntnis zu erlangen" .

Das Zeichen gibt der Erkenntnis 1. Ordnung und Linearität, 2. Unterscheidungskraft, 3. Abstraktionsfähigkeit. Diese drei Leistungen des Zeichens ermöglichen Bestimmtheit der Erkenntnis. Daneben ist die Sinnlichkeit des Zeichens für den Verstand unverzichtbar, weil er ohne den fundus animae, ohne die sinnliche Erkenntnis leer bliebe. Auch die unsinnlichen Begriffe bedürfen deshalb der sinnlichen Repräsentation durch das Zeichen, die das Bezeichnungsvermögen als Vermögen der sinnlichen Erkenntnis vollbringt:

1 2

Betrachtung 23f. ebd. 28f.

Meier

43

"Unser Verstand kann, ohne Hilfe und Unterstützung der Sinnlichkeit, eine Sache nicht deutlich denken. Wenn nun die Sache selbst nicht empfunden werden kann, so muß eine andere Empfindung da sein, an welche die Vorstellung derselben geheftet wird. Und das ist die Vorstellung des Worts, oder eines anderen willkürlichen Zeichens, mit welchem diese Vorstellung vergesellschaftet wird" .

Das

Denken benützt

finden

liegen

vorwiegend willkürliche

natürliche

Zeichen

Zeichen,

dem

Emp-

zugrunde:

"Selbst alsdenn, wenn wir empfinden, scheint es zwar, als wenn wir die Gegenstände unmittelbar erkenneten; allein ein geringes Nachdenken kann uns überzeugen, daß wir, außer den Veränderungen unserer Seele, deren wir uns alsdenn bewußt sind, alle übrigen Gegenstände unserer Empfindungen, aus gewissen Zeichen erkennen. Wenn wir etwas sehen, so sehen wir dasselbe vermittelst des materiellen Bildes, welches von demselben hervorgebracht wird, und das ist also d a | Zeichen, woran wir die Wirklichkeit des Gegenstandes erkennen" .

Auch die

Empfindung

Gegenstand,

sondern

selben,

das

Bild,

findung

ist nur

eine Vielfalt

ist

also

sie

ist durch

vermittelt.

eine

kein

unmittelbarer natürliche

Die

scheinbare,

von Vermittlungen

Zugang

Zeichen

Unmittelbarkeit die

der

in Wirklichkeit

durch

Zeichen

zum

desEmpsich

in

zerlegt:

"Wenn wir äußerliche Empfindungen haben, so bildet man sich gemeiniglich ein, daß wir die ästhetischen Gegenstände unmittelbar anschauen. Allein man betrügt sich. Wir erkennen durch eine lange Reihe der Wirkungen, als aus natürlichen Zeichen, den äußern Gegenstand. Was ich unmittelbar empfinde und erfahre, ist die Vorstellung meiner Seele. Diese ist ein Zeichen einer Veränderung des Gehirns. Diese ist ein Zeichen einer Veränderung der Nerven. Diese ist ein Zeichen einer äußerlichen Veränderung in meinem Körper. Diese ist ein Zeichen desjenigen Teils des äußerlichen Gegenstandes, der unmittelbar in meinem Körper wirkt. Dieser Teil ist ein Zeichen dieses ganzen Gegenstandes, und dieser ist ein Zeichen aller übrigen außer uns befindlichen Dinge, welche wir mit ihm zugleich empfinden" .

Neben

dieser

psychologischen

sich bei Meier Leibniz'

anlehnt

Erkenntnis

3 4 5

eine

wird

ebd. 29. Met. § 621. Met. § 515.

Begründung

kosmologische,

und diese

die

semiotisch

dementsprechend

als

der sich

Semiotik an die

findet

Metaphysik

weiterentwickelt.

der

Mitvollzug

der

Die uni-

44

Meier

versalen Harmonie der Welt verstanden. Weil die universale Harmonie der Dinge zur Folge hat, daß alles mit allem zusammenhängt und deshalb jedes Ding jedes andere und alles andere repräsentieren kann, ist die Welt ein universaler

Zeichen-

komplex, in dem jedes substantielle Element das natürliche Zeichen aller anderen Substanzen sein kann. "Es gehört auch zur allergrößten Harmonie der Dinge in der besten Welt, daß sie sämtlich wie Zeichen und Bedeutungen mit einander verbunden sind: wenn man nämlich voraussetzt, daß sie sämtlich wie Zwecke und Mittel miteinander verknüpft sind. Eine jedwede Ursache kann ein natürliches Zeichen ihrer Wirkung, und eine jedwede Wirkung kann ein natürliches Zeichen ihrer wirklichen Ursachen sein. [...] Durch diesen Zusammenhang in der besten Welt wird es eben möglich, daß die Geister und andere denkende Substanzen, die in derselben wirklich sind, eins aus dem andern erkennen können; und daß in der Welt, so zu reden, eine allgemeine Sprache ist, durch welche ein jedes Ding das Dasein der übrigen, samt ihrer wirklichen Beschaffenheit, dergestalt verkündiget, daß denkende Wesen diese Sprache verstehen können, und also die Wirklichkeit viel mehrerer^Sachen erkennen können, als ihnen unmittelbar in die Sinne fallen" .

Der Mit- und Nachvollzug dieses universalen

Zeichenzusammen-

hangs ist die Erkenntnis der Welt und geschieht durch das Bezeichnungsvermögen, das die Welt gemäß der Stellung des Körpers des Subjekts in der Welt

repräsentiert:

"Da nun das ganze Bezeichnungsvermögen vornehmlich eine Art der Einbildungskraft ist, so wird es durch die Vorstellungskraft der Welt, welche die Seele besitzt, gewirkt. Und das wird dadurch noch mehr befestiget, wenn wir erwägen, daß in der Welt ein bezeichnender Zusammenhang sei. Wenn also die Seele vermöge der Vorstellungskraft, die sie besitzt, die Welt sich vorstellt; so kann sie sich auch den bezeichnenden Zusammenhang, der in derselben angetroffen wird, ^ vorstellen, und das heißt, sie besitzt ein Bezeichnungsvermögen" .

Ungeklärt bleibt bei dieser Begründung der Semiotik, warum es neben den natürlichen Zeichen der willkürlichen Zeichen bedarf.

6

Met. § 448. vgl. SZONDI 1975, 103f. ("Pansemiotik") (104) vgl. ebd. 116.

7

Met. § 622. vgl. §§ 318. 488. Versuch § 35f.

Meier 1.1.5.2

45

Begründung der Hermeneutik

Sowohl die psychologische als auch die kosmologische Begründung des Bezeichnungsvermögens machen deutlich, daß die Erkenntnis eines Gegenstandes nur durch die Vermittlung eines ihn darstellenden und repräsentierenden Zeichens zustandekommt. Die Zeichendefinition von Meier lautet in Anlehnung an Leibniz : "Ein Zeichen (signum, character) ist ein Mittel, wodurch die Wirklichkeit eines anderen Dinges erkannt werden kagn. [...] Das Zeichen ist der Erkenntnisgrund der bezeichneten Sache" .

Weil das Zeichen Erkenntnisgrund der bezeichneten Sache ist, deshalb ist die Erkenntnis an das Bezeichnungsvermögen gebunden. Dies hat zur Folge, daß Erkennen sich einerseits als Zeichenkonstitution, andererseits als Zeicheninterpretation vollzieht. Denn einerseits muß der Gegenstand durch ein Zeichen repräsentiert werden, andererseits muß das Zeichen auf seinen Bezug zum Gegenstand befragt, also interpretiert werden. Meier unterteilt denn auch das Bezeichnungsvermögen in das Vermögen der Erfindung der Zeichen und das Vermögen der Auslegung der Zeichen: "Das Bezeichnungsvermögen kann sich auf eine doppelte Art äußern. Einmal, wenn man erst die bezeichnete Sache denkt, und alsdenn dieselbe durch ein Zeichen bezeichnet, es sei nun, daß wir das Zeichen ganz von neuem erfinden, oder daß wir uns nur der schon gelernten Zeichen wiedererinnern. Ich will dieses das Erfinden der Zeichen überhaupt nennen. Dieses geschieht, so oft wir reden und einen Vortrag halten, weil wir alsdenn erst die Sachen denken, und darauf fallen uns die Worte ein. Zum andern, wenn man erst die Zeichen denkt, und dadurch veranlaßt wird, auch die bezeichneten Sachen zu denken. Dieses heißt die Zeichen auslegen (interpretari signa) und das tun wir, so ofte wir einem andern, der da redet, zuhören, wenn wir ihn nämlich verstehen. Die Bezeichnungskunst (characteristica) ist die Wissenschaft der Zeichen, sie enthält also die Regeln, das Bezeichnungsvermögen zu verbessern, und dasselbe gehörig zu gebrauchen. Diese Kunst teilt sich in zwei Hauptteile. Der erste handelt von der Erfindung der Zeichen, und das ist die charakteristische Erfindungskunst (characteristica heurística) und

8

Versuch § 7. vgl. Anfangsgründe § 513. Met. § 273.

46

Meier der andere handelt von der Auslegung deç Zeichen, und der wird die Auslegungskunst genannt (hermeneutica)" .

Die Theorie des Erfindungsvermögens ist die Heuristik, die des Auslegungsvermögens ist die Hermeneutik. Die Heuristik als Theorie der Zeichenkonstitution "handelt von der Erfindung der Zeichen, sie untersucht die Natur und die Vollkommenheit und Unvollkommenheit der Zeichen, und gibt die Regeln, die man beobachten muß, wenn man ein Ding bezeichnen will, nicht nur durch einfache, sondern auch durch zusammengesetzte Zeichen, da sie denn lehrt, wie aus einfachen Zeichen die zusammengesetzten hergeleitet werden müssen"10. Die Hermeneutik als Theorie der Zeicheninterpretation behandelt solche Regeln, "die bei der Auslegung aller Zeichen, oder der meisten derselben, beobachtet werden müssen"11. Deutlicher als bei Baumgarten kommt bei Meier die Komplementarität und Interdependenz von Zeichenkonstitution und Zeicheninterpretation zum Ausdruck. Heuristik und Hermeneutik betreffen die beiden Hälften des Bezeichnungsvorgangs, weshalb die eine die andere immer voraussetzt und auf sie verweist. In seiner Abhandlung zur Hermeneutik definiert Meier die Hermeneutik so: "Die Auslegungskunst im weitern Verstände (hermeneutica significatu latiori) ist die Wissenschaft der Regeln, durch deren Beobachtung die Bedeutungen aus ihren Zeichen können erkannt werden; die Auslegungskunst im engern Verstände (hermeneutica significatu strictiori) ist die Wissenschaft der Regeln, die man beobachten muß, wenn man den Sinn aus der Rede erkennen, und denselben andern vortragen will" .

Meier unterscheidet insbesondere beim sprachlichen Zeichen zwei Arten von Inhalt, nämlich Bedeutung und Sinn. Der Terminus Bedeutung wird von Meier nicht einheitlich gebraucht. Er meint damit einerseits den Bezug des Zeichens auf die be9 10 11 12

Anfangsgründe § 516. vgl. Met. §§ 276. 621. Met. § 276. ebd. Versuch § 1. vgl. FRANKE 1979, 349f.

47

Meier zeichnete Sache, andererseits die Vorstellung von der Sa13

che . Der Sinn ist der Inhalt des konkreten komplexen Zeichens, den dieses vermittels der Bedeutungen seiner Einzelzeichen erhält: "Dasjenige, was die Ausdrücke bezeichnen, ist ihre Bedeutung, und was eine Rede bezeichnet, ist der Sinn, oder der Verstand der Rede (sensus orationis). Der Sinn der Rede ist also der Inbegriff aller einzelnen Bedeutungen derjenigen Worte, welche die Rede ausmachen, die miteinander verbunden sind, oder die einander bestimmen. Der Verstand der Rede ist demnach allen ^jesen mit einander verknüpften Bedeutungen zusammengenommen gleich"

Während also die Bedeutung die Möglichkeit des Zeichens zur Bezeichnung einer Sache ist, ist der Sinn der Inhalt, der dem Zeichen zukommt, insofern es konkrete Anwendung findet. Der Sinn ist deshalb meist der Inhalt komplexer Zeichen, wie der Rede, die aus einer "Reihe Worte, welche Vorstellungen bedeuten, die mit einander verbunden sind"15, besteht. Als Gegenstand der Interpretation nennt Meier die Rede "Text": "Der Text (textus) ist die Rede, in so ferne sie als der Gegen16

stand der Auslegung betrachtet wird" . Die Bedeutungen der Einzelzeichen bestimmen und modifizieren einander, wenn sie in den Zusammenhang des 17 Textes gestellt werden und konstituieren so den Sinn mit . Der Sinn ist der Inhalt des ganzen Textes, weshalb es nur einen Sinn geben kann, der durchaus 18

eine innere Vielfalt aufweisen kann Die Interpretation des komplexen Zeichens, des Textes, erfordert eine Analyse der Bedeutungen seiner Einzelzeichen, ihres Zusammenhangs und des Sinns: "Ein Ausleger im engern Verstände muß klar, oder wohl gar deutlich erkennen: 1) die Rede samt allen Worten, woraus sie besteht; 2) den Sinn der Rede, folglich a) die Bedeutungen aller einzelnen Worte, woraus die Rede besteht; b) den Zusammenhang dieser Bedeutungen

13 14 15 16 17 18

Das erste: Versuch § 7. Met. § 275. Das zweite: Met. § 277. Vernunftlehre 654. Versuch § 104. vgl. Vernunftlehre 655. Versuch § 103. Versuch § 105. vgl. FRANKE 1979, 350. Versuch §§ 159. 160. Versuch § 207.

48

Meier unter einaç^er; 3) den Zusammenhang zwischen der Rede und dem Sinne derselben"

Das Verständnis der einzelnen Wörter, aus denen der Text besteht, genügt noch nicht zum Verstehen des Textes. Das Allgemeine der Bedeutung der Wörter muß ergänzt werden durch das Individuelle des Sinns, das sich in der Kombination der Wörter als Text einstellt. Die Individualität des Sinns hängt damit zusammen, daß der Sinn an die Intention eines Autors gebunden ist, er ist der Zweck, den ein Autor durch das Mittel des Zeichens verfolgt: "Der Sinn einer Rede ist die Reihe der Vorstellungen, welche unter und mit einander verbunden sind, die der Zweck der Rede ist. Folglich ist die Rede ein Mittel des Sinnes, oder sie verhält sich zum Sinne, wie ein Mittel zum Zweck.^golglich bedient sich der Autor der Rede, um den Sinn zu bezeichnen"

Dies hat zur Folge, daß die Interpretation einen Zugang zum Autor erhalten kann: "Wenn man die Rede eines Autors auslegt, 21 so sagt man, daß man den Autor selbst auslege" . Wenn von der Beziehung auf den Autor abgesehen wird, so kommt der 22

buchstäbliche Sinn in den Blick . Der volle Sinn des Textes entsteht aber nur durch die Zeichenkonstitution des Autors, weshalb der Autorenwille den letzten Maßstab für die Interpretation bildet. Die Individualität des Autors gibt dem Text und seinem Sinn ein Gepräge, das nicht auf den Sprachgebrauch 23 zurückgeführt werden kann Der Bezug auf den Autor und dessen Konstitutionshandlung bei der Interpretation macht es erforderlich, daß die Hermeneutik auf der Heuristik aufbaut, daß also die Theorie der Textinterpretation die der Textkonstitution voraussetzt: "Niemand kann Zeichen verstehen und auslegen, der nicht selbst die Kunst zu bezeichnen versteht. Wer eine Sprache nicht gelernt hat, der kann auch keine Rede auslegen, die in derselben Sprache gehalten

19 20 21 22 23

Versuch Versuch Versuch Versuch Versuch

§ 106 § 112. § 110. vgl. SZONDI 1975, 116ff. § 143. §§ 95. 96. 99.

49

Meier

wird. Folglich setzt die Auslegungskunst die Theorie der charakteristischen Erfindungskunst voraus, und alle ihre Regeln in der hermeneutischen Billigkeit gegründet und zusammengefaßt"

1.2

Semiotischer

1.2.1

Realismus

Hamann

1.2.1.1

Vernunft und Sprache

Ä h n l i c h w i e H e r d e r u n d s c h o n vor ihm h a t H a m a n n g e g e n K a n t e i n e n s e m i o t i s c h e n R e a l i s m u s g e l t e n d g e m a c h t , der d e n t r a n s z e n d e n t a l e n A n s a t z als d e s t r u k t i v e A b s t r a k t i o n v e r w i r f t u n d a n die k o n k r e t e V e r m i t t l u n g d e s W i s s e n s d u r c h d a s

Zeichen,

b e s o n d e r s d i e S p r a c h e e r i n n e r t . Im R e a l i s m u s weiß s i c h H a m a n n a u c h m i t J a c o b i e i n i g , ü b e r d e n er d u r c h s e i n I n t e r e s s e

an

d e r S p r a c h e h i n a u s g e h t . H a m a n n s c h r e i b t am 30. A p r i l 1787 J a c o b i : "Was in D e i n e r S p r a c h e d a s S e i n ist, m ö c h t e lieber d a s W o r t

an

ich

nennen"1.

W e g e n ihrer u n t r e n n b a r e n V e r k n ü p f u n g m i t der S p r a c h e

als

d e r R e p r ä s e n t a t i o n u n d G e s t a l t u n g d e s S e i n s k a n n die V e r n u n f t n i e r e i n sein, u n d e i n e reine V e r n u n f t w ä r e e i n U n d i n g . H a m a n n w i r f t der "Kritik d e r r e i n e n V e r n u n f t " v o n K a n t v o r , sie z e r s t ö r e d e n o r g a n i s c h e n Z u s a m m e n h a n g d e r V e r n u n f t m i t d e r G e s c h i c h t e , i n d e m sie die V e r n u n f t v o n

Überlieferung,

E r f a h r u n g , S p r a c h e r e i n i g e n w o l l e . Für H a m a n n w i e g t d i e A b s t r a k t i o n v o n der S p r a c h e am s c h w e r s t e n , w e i l die

Sprache

"das e i n z i g e e r s t e u n d letzte O r g a n o n u n d K r i t e r i o n der V e r 2 . H a m a n n b e a n t w o r t e t die F r a g e n a c h der K o n s t i -

n u n f t " sei 24 1

2

Anfangsgründe § 516. Hamann an Jacobi, in: Jacobi, Werke 4-2, 357. Vgl. Hamann an Jacobi, 23. Okt. 1785: "Bei mir ist weder von Physik noch Theologie die Rede, sondern Sprache, die Mutter der Vernunft und Offenbarung, ihr A und 0. Sie ist das zweischneidige Schwert für alle Wahrheiten und Lügen. Lachen Sie also nicht, wenn ich das Ding von dieser Seite angreifen muß. Es ist meine alte Leier, aber durch sie sind alle Dinge gemacht" (in: Jacobi, Werke, 4-3, 90). Schriften zur Sprache 222.

50

Hamann

tution des D e n k v e r m ö g e n s d u r c h d e n H i n w e i s auf d i e hintergehbarkeit

der Sprache für das

Nicht-

Denken:

"Bleibt es aliso ja noch eine Hauptfrage: wie das Vermögen zu denken möglich sei? - Das Vermögen, rechts und links, vor und ohne, mit und über die Erfahrung hinaus zu denken? so braucht es keine Deduction, die genealogische Priorität der Sprache vor den sieben heiligen Funktionen logischer Sätze und Schlüsse und ihre Heraldik zu beweisen" .

Was Hamann hierbei übersieht, Genese,

ist, daß es Kant nicht um

die

sondern um die Geltung der Denkformen geht. Für

das

genetische Grundlage

Interesse Hamanns bilden die Voraussetzung

und

aller Erfahrung allein die Sprache und ihre

Elemen-

te: "Laute und Buchstaben sind also reine Formen a priori, in denen nichts, was zur Empfindung oder zum Begriff eines Gegenstandes gehört, angetroffen wird und die wahren, ästhetischen Elemente aller menschlichen Erkenntnis und Vernunft" . Die Kategorien und die Anschauungsformen,

die Kant

Apriori von Denken und Anschauung deduziert,

als

sind für

R e s u l t a t e der A n w e n d u n g v o n Sprache auf E r f a h r u n g u n d Gestaltung der Erfahrung durch die Sprache.

Statt

Sprache immer

zu lassen,

schon u n d für immer

der

Sinnlich-

keit u n d V e r s t a n d als zwei Stämme der E r k e n n t n i s die der Vernunft gefährden

Hamann

Einheit

sind sie nach H a m a n n in

der

beisammen:

"Wörter haben also ein ästhetisches und logisches Vermögen. Als sichtliche und lautbare Gegenstände gehören sie mit ihren Elementen zur Sinnlichkeit und Anschauung, aber nach dem Geist ihrer Einsetzung und Bedeutung, zum Verstand und Begriffen. Folglich sind Wörter sowohl reine und^.empirische Anschauungen, als auch reine und empirische Begriffe" . Aber auch diese Umdeutung der Kantschen Begrifflichkeit noch ein

3 4 5

ist

Zugeständnis:

ebd. 224. Zur Kant-Kritik Hamanns vgl. HERDE 1971, 21-34. METZKE 1934, 161-166. SEILS 1961, 6f. LIEBRUCKS 1964, 309-317. RICKEN 1981, 42. WOHLFART 1984, 119-166. Schriften zur Sprache 224. ebd. 226. vgl. 224.

Hamann

51

"Was die Transzendentalphilosophie metagrabolosiert, habe ich u m der schwachen Leser willen, auf das Sacrament der Sprache, den Buchstaben ihrer Elemente, den Geist ihrer Einsetzung gedeutet, und überlasse es einem jeden, die geballte Faust in eine flache Hand zu entfalten" .

Die "flache Hand" Hamanns enthält keine Allgemeinbegriffe

und

Systemtermini mehr, sondern öffnet sich für die unendliche Mannigfaltigkeit u n d Tiefe der Sprache u n d des sprachlichen Denkens. Die Sprache als sinnliches Zeichen m i t geistigem Inhalt ist selbst identisch m i t der Vernunft, weil diese ohne Sinne keinen Inhalt hätte. Offenbarung u n d Überlieferung geben der V e r n u n f t vermittels des Organismus d e n Inhalt, der sprachlicher Art ist, weil die Sprache das sinnliche Medium 7 ist, durch das die Außenwelt zur Innenwelt w e r d e n kann . Wie die Sprache einerseits das Sinnliche zum Geistigen macht, so ist sie selbst andererseits eine Versinnlichung des Geistigen, weil in ihr Sinnliches u n d Geistiges eins sind. Die V e r sinnlichung des Geistigen durch Sprache ist für Hamann eine Übersetzung aus einer Sprache in eine andere, die verschieden e n Stufen angehören: "Reden ist übersetzen - aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, dag heißt, Gedanken in Worte, - Sachen in Namen, - Bilder in Zeichen" .

Die Sprache bringt das Ding zur Erscheinung, das vorher im Dunkeln lag u n d keine klaren Konturen hatte: "Der Vortrag macht eben so oft die Sache; als das Kleid den Mann. Jede Sache ist ein unsichtbarer Embryo, dessen Begriff und Inhalt durch den Vortrag erst, gleichsam zur Welt kommen und offenbar werden muß. Da^er jener witzige Einfall des weisen Mannes: Rede, daß ich dich sehe" .

6 7

8 9

ebd. 227. ebd. 151. Hamann an Jacobi, 23. Okt. 1785: "Mit Herder bin ich ganz einig, daß unsere ganze Vernunft und Philosophie auf Tradition und Überlieferung hinauslaufe" (in: Jacobi, Werke 4-3, 89). Vgl. BAUDLER 1970, 293. Schriften zur Sprache 109. Sämtliche Werke IV, 456.

52

Hamann

Die Sprache ist also für Hamann die Kulmination des menschlichen Geistes, von der her sich alles andere wenn nicht erklären, so doch verstehen läßt1®. Infolge dieser Hochschätzung der Sprache kann für Hamann die Philosophie nur Sprachkunde, Grammatik im weitesten Sinne sein: "Verstehst du nun, Herzens-Pollux, mein Sprachprincipium der Vernunft, und daß ich mit Luther die ganze Philosophie zu einer Grammatik mache, zu einem Elementarbuche unserer Erkenntnis, zu einer Algebra und Construction nach Aequationen und abstrakten Zeichen, die per se^çichts, und per analogiam alles mögliche und wirkliche bedeuten?"

1.2.1.2

Zur Hermeneutik

Die konstitutive Rolle der Sprache für das Denken müßte das Problem der Funktion von Verstehen sprachlicher Äußerungen für die Erkenntnis aufwerfen. Über diesen Zusammenhang von Sprechen und Verstehen sagt Hamann explizit nichts. Bei ihm findet sich aber schon die Idee einer Komplementarität von Lesen und Schreiben angedeutet. Einerseits führt das Lesen zum Schreiben, andererseits setzt das Schreiben Lesen voraus: "Schriftsteller und Leser sind zwo Hälften, deren Bedürfnisse sich aufeinander beziehen und ein gemeinschaftliches Ziel 12

ihrer Vereinigung haben" . Antrieb zur Textkonstitution ist die Vorstellung des Autors vom Leser: "Die Idee des Lesers ist die Muse und Gehülfin des Autors"13. Ein zweiter Faktor bei der Textentstehung ist die Leseerfahrung des Autors: "Aus Kindern werden Leute, aus Jungfern werden Bräute, und aus Lesern entstehen Schriftsteller. Die meisten Bücher sind 10

11 12 13

Schriften zur Sprache 201: "Ohne Sprache hätten wir keine Vernunft, ohne Vernunft keine Religion, und ohne diese drei wesentliche Bestandteile unserer Natur weder Geist noch Band der Gesellschaft." Hamann an Jacobi, 27. Apr. 1787, in: Jacobi, Werke 4-3, 351. Sämtliche Werke II, 347. Zur Hermeneutik Hamanns vgl. HOFFMANN 1972, 146-227. ebd. 348.

Herder

53

daher ein treuer Abdruck der Fähigkeiten und Neigungen, mit 14

denen man gelesen hat und lesen kann"

1.2.2 Herder 1.2.2.1 Zusammenhang von Sprache und Denken Herder gehört in den realistischen Zweig der Philosophie des 18. Jahrhunderts, der eine transzendentale oder idealistische Analyse des Erkennens ablehnte und sich auf das Vorgegebensein der Erfahrung berief, das Grundlage und Ausgang aller philosophischen Überlegungen sein müsse. Herder bezieht sich primär auf die Geschichte als den Erfahrungsbereich, der für das Denken unhintergehbar sei. Geschichte ist manifest in literarischen Zeugnissen, weshalb die Erforschung der Literatur und der Sprache als ihrem Medium für Herders Philosophie an erster Stelle steht. Infolge des realistisch-geschichtlichen Ansatzes ist Herders Denken ganzheitlich, synthetisch, organisch. Seine Methode ist nicht-analytisch, organischentfaltend, erfahrungsorientiert. Er geht aus von den komplexen Ganzheiten, die durch Erfahrung zugänglich werden, und versucht, diese Ganzheiten nicht analytisch zu zerlegen, sondern organisch zu rekonstruieren. Was Herder von der Natur sagt, gilt für ihn ebenso von der Geschichte :

"Überhaupt ist in der Natur nichts geschieden, alles fließt durch unmerkliche Übergänge auf- und ineinander; und gewiß, was Leben in der Schöpfung ist, ist jn allen Gestalten, Formen und Kanalen nur Ein Geist, Eine Flamme" .

Diese organische Ganzheit von Natur und Geschichte wird nur vernehmbar, wenn man sich auf die Erfahrung einläßt und den idealistischen Solipsismus aufgibt:

14 1

ebd. 341. vgl. Schriften zur Sprache 127. SW 8, 178.

54

Herder

"Wollen wir nun der Erfahrung folgen, so sehen wir, die Seele spinnet, weiß, erkennet nichts aus sich, sondern was ihr von innen und außen ihr Weltall zuströmt, und der Finger Gottes zuwinket. [..] Der abstrakte Egoismus also, und wenn er auch nur Schulsprache wäre, 2 dünkt mich der Wahrheit und dem offnen Gange der Natur entgegen" .

Das Denken darf sich nicht der Illusion seiner Autonomie hingeben, sondern muß sich der Notwendigkeit der Erfahrung einer von ihm unabhängigen Welt bewußt sein: "Unser Denken 3

hängt ab vom Empfinden" . Der Ansatz beim Komplexen, Ganzheitlichen, Konkreten der Erfahrung veranlaßt Herder dazu, Denken und Sprechen in eine möglichst enge Beziehung zu setzen. Die Erfindung der Sprache, ihr Wirken, geht immer einher mit der Fähigkeit zu denken: "Der Mensch, in den Zustand der Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, diese Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei wirkend, hat 4 Sprache erfunden" . "Also folget die Sprache aus dem ersten Actus der Vernunft ganz natürlich"^. Diese gemeinsame Entstehung von Sprache und Vernunft hat deren Interdependenz zur Folge: "Ohne Sprache hat der Mensch keine Vernunft und ohne Vernunft keine Sprache"^. Den engen Zusammenhang von Sprache und Denken zeigt die Erfahrung der geistigen Entwicklung des Individuums : "Durch die Sprache lernen wir bestimmt denken, und bei bestimmten und lebhaften Gedanken suchen wir deutliche und lebendige Worte; unsere Wärterinne^, die unsere Zunge bilden, sind unsere erste Lehrer der Logik" .

Das Wort verhält sich zum Gedanken infolge ihrer gemeinsamen Entstehung wie der Körper zur Seele, nicht bloß wie das Kleid o

zum Körper oder auch nicht nur wie die Haut zum Körper . Denn die Verbindung ist keine äußerliche, nachträgliche, sondern eine innerliche, ursprüngliche, notwendige. Am offensicht2 3 4 5 6 7 8

ebd. 194. ebd. 207. vgl. Baumgartens cognitio sensitiva. WO II, 115. ebd. 119. ebd. 120. SW 1, 147. vgl. SW 2, 16f. SW 1, 394ff.

Herder

55

lichsten wird dies in der Dichtung, wo die Sprache in ihrer Ursprünglichkeit und Lebendigkeit am besten zum Ausdruck kommt. Will man also das menschliche Denken und Erkennen betrachten, so muß man sich die Sprache zum Gegenstand machen, weil nur in ihr das Denken sich vollzieht und sich darstellt: "Ich würde also die Sprache, als das Werkzeug, den Inhalt und die Form Menschlicher Gedanken ansehen und fragen: Wenn das Menschliche Denken meistens symbolisch ist: ja wenn wir meistens mit, in und oft nach der Sprache denken; was gibt dies d^r Menschlichen Kenntnis überhaupt für UmriS, Gestalt und Schranken?"

Die Wissenschaft, die von der Sprache ausgehend das Denken analysiert, ist für Herder die Semiotik, von der er sagt, sie würde "eine Entzifferung der Menschlichen Seele aus ihrer Sprache"

sein^.

Die Philosophie ist für Herder nur sinnvoll, wenn sie nicht glaubt, von der Vermittlung des Denkens durch die Sprache absehen zu können, sondern wenn sie auf diesem empirisch vorgegebenen Boden bleibt und ihn zu bearbeiten versucht: "Wir haben durch die Sprache denken gelernet: sie ist also ein Schatz von Begriffen, die sinnlich klar an den Worten kleben, und vom gemeinen Verstände nie getrennet werden. Nun kömmt die Weltweisheit, um die Beschaffenheit der Dinge zu erforschen; das ist, sie macht die in der gemeinen Sprache gegebenen Worte deutlich, und mit ihnen werden die Gedanken entwickelt. Wenn also eine Philosophische Methode unsrer Erziehung und Bildung analogisch sein soll: so nimmt sie die Gegenstände, die wir schon durch die Hülfe der Worte sinnlich klar kennen, setzt die bekanntesten Ideen aus einander, die in ihnen liegen, jeder begreifen und niemand leugnen kann, steigt zu denen immer feinern, bis sie endlich zu Definition kömmt: jetzt erkennen wir in dem Begriffe jeden Teilbegriff, und da wir vorher bloß unterschieden, so fern wir mit dem Wort einen klaren Begriff verbanden: so erkennen wir jetzt den Unterschied, weij^wir uns der Merkmale bewußt sind, die beide Sachen unterscheiden"

9

10 11

SW 2, 24. vgl. ebd. 25: "Was muß es der Denkart für Form geben, daß sie sich in, mit und durch eine Sprache bildet, da wir jetzt durch das Sprechen denken lernen?" SW 2, 13. SW 1, 417f. vgl. Leibniz1 Erkenntnisstufen (cognitio clara et distincta).

Herder

56 Herder

zieht das

entwickeln, Grenze

Fazit:

und deutlich machen:

dieses

nicht mehr also

sierbar plexen

B e g r i f f e "1,3

zu trennen die

sind"

Sprache,

ist, wohl Gebilden.

erschöpfliche

aus den das

analytischen Vorgehens

"unzergliederliche

bleibt

"Begriffe

aber Die

Philosophie

Boden

aller

lebendiges

sind

hat

in der weil

die

Wachstum

Worten

Philosophie nicht

Zusammensetzungen

von Begriffen,

ein

der

. Die

"von den einfachsten

· Der

in ihren

Worten 12

ist Philosophie"

in ihren Elementen

Philosophie

Quelle

Geschichtlichkeit

die

die

gegebenen

und

Sprache Sprache

analykom-

eine

un-

in

ihrer

hat:

"Wenn Wörter nicht bloß Zeichen, sondern gleichsam die Hüllen sind, in welchen wir die Gedanken sehen: so betrachte ich eine ganze Sprache als einen großen Umfang von sichtbar gewordenen Gedanken, als ein unermeßliches Land von Begriffen. Jahrhunderte und Reihen von Meç|chenaltern legten in dieses große Behältnis ihre Schätze von Ideen"

Diese

Bausteine

nutze

machen.

der

Sie

Erkenntnis

darf

Quelle

zum Versiegen

fassen

wähnt.

nicht

bringen,

sich die

Philosophie

zu-

in künstlicher

muß

Abstraktion

ihre

indem

sie

das

reine

Denken

zu

"Wir sind Menschen, ehe wir Weltweise wurden: wir haben also schon Denkart und Sprache, ehe wir uns der Philosophie nähern, und beide müssen also zum Grunde liegen, die Sprache des Verstandes, der Vernunft, die Denkart des Lebens, der Spekulation. Und wieviel liegt damit zum Grunde? Muttersprache, der ganze Umfang von Begriffen, die wir mit der Muttermilch einsogen - Muttersprache, cjie ganze Welt von Kenntnissen, die nicht gelehrte Kenntnisse sind - Muttersprache, das Feld, auf welchem alle Schriften des guten Verstandes hervor wuchsen - was ist sie also für eine Menge von Ideen! Ein Berg, gegen welchen die kleine Anzahl Philosophischer Abstraktionen, ein künstlich aufgeworfener Maulwurfshügel - einige Tropfen abgezogenen Geistes gegen das Weltmeer! der Weltweise hat also in seiner Untersuchung unendlich mehr Data, wenn er sich dieser freien Sprache Überlässet. [...] Und wie viel läßt sich aus dem Gebiet der Erfahrungen, der Sprache des Lebens und der Vernunftähnlichen Kräfte mitbringen! Das Land der Kunst ist wie dürrer S a n ^ aber auf dem Boden der Natur blühet das herrlichste Paradies!"

12 13 14 15

SW SW SW SW

1, 1, 2, 2,

421. 419. 12. vgl. SW 1, 6. 98.

Herder

57

Philosophie mit ihrer künstlichen eindeutigen Sprache und Dichtung mit ihrer natürlichen organischen, vieldeutigen Sprache sind die zwei Extreme zwischen denen die Sprache des Alltags sich befindet. Dabei kommt der Dichtung gegenüber der Philosophie Priorität zu, und die Philosophie hat sich an der Dichtung, nicht aber diese an der Philosophie zu orientieren 16 . Die Sprache ist für Herder nicht nur Werkzeug des Denkens, sondern auch dessen Vollzugsweise. Sie ist "die Form der Wissenschaften, nicht bloß in welcher, sondern auch nach 17 welcher sich die Gedanken gestalten" . Die Sprache ist somit eine Bedingung der Möglichkeit des Denkens in seinem konkreten Vollzug. Ohne die Sprache bliebe das Denken haltlos und hätte keine Wirklichkeit. Die Sprache erlaubt es dem Denken, die Erkenntnis an sinnlichem Substrat zu manifestie-

1.2.2.2

Zur Kant-Kritik Herders

Die synthetisch-organische Denkweise Herders macht es verständlich - rechtfertigt es aber nicht -, daß er die "Kritik der reinen Vernunft" Kants einer polemischen Kritik unterzieht, die sich auf die Unhintergehbarkeit der Erfahrung beruft. Herder wirft Kant vor, die Vernunft von den anderen Kräften der Seele in unzulässiger Weise getrennt zu haben und dabei besonders die Verbindung von Sprache und Vernunft übergangen zu haben: "Menschliche Vernunft können wir zwar in Gedanken und Worten zu einem gewissen Zweck von andern Kräften unsrer Natur sondern, nie aber müssen wir vergessen, daß sie 19 in ihr abgesondert von anderen Kräften nicht subsistiré" Eine Kritik der reinen Vernunft dürfe diese nicht von der Sprache trennen, weil die Sprache die konkrete Manifestation der Vernunft sei: 16 17 18 19

SW 2, 102ff. Ähnliches sagt Vico in der Scienza nuova 151f. SW 2, 16. vgl. SW 2, 18. SW 21, 18.

58

Herder

"Die menschliche Seele denkt mit Worten; sie äußert nicht nur, sondern sie bezeichnet sich selbst auch und ordnet ihre Gedanken mittelst der Sprache. Sprache, sagt Leibniz, ist der Spiegel des menschlichen Verstandes, und, wie m a n hinzusetzen darf, ein Fundbuch seiner Begriffe, ein nicht nur gewohntes, sondern unentbehrliches Werkzeug seiner Vernunft. Mittelst der Sprache lernten wir denken, durch sie sondern wir Begriffe ab und knüpfen sie, oft haufenweise, in einander. In Sachen der reinen oder unreinen Vernunft muß also dieser alte, allgemeingültige und notwendige Zeuge abgehört werden, und nie dürfen wir uns, wenn von einem Begriff die Rede ist, seines Heroldes und Stellvertreters, des ihn bezeichnenden Wortes, schämen. Oft zeigt uns dieses, wie wig^zu dem Begriff gelangt sind, was er bedeute, woran es ihm fehle"

Hier zeigt sich, daß Herder keineswegs Begriff und W o r t einfach identifiziert, daß er beide unterscheidet u n d dem W o r t eine Repräsentationsfunktion gegenüber dem Begriff zuschreibt. Das W o r t ist die empirisch-geschichtliche

Erschei-

nungsweise des Begriffs. Dennoch gibt es keinen Begriff hinter oder außerhalb des Wortes, der sich vom W o r t ablösen ließe. Die Bindung des Denkens an die Sprache erlaubt nicht die transzendentale Frage Kants n a c h d e n apriorischen Bedingungen der Möglichkeit v o n Erfahrung. Herder lehnt die Transzendentalphilosophie ab, w e i l er nicht versteht, wie es möglich 21 sein kann, hinter die Erfahrung zu kommen . Herder verwechselt die transzendentale Fragestellung m i t der v o n dieser kritisierten Metaphysik u n d w i r f t ihr vor, leere Begriffe zu prägen: "Außer den Urteilen findet die Kritik auch in Begriffen einen Ursprung a priori, wie z.B. im Begriff des Raums, der Substanz u.f. Ob und wiefern dies von aller Er^ghrung unabhängige Begriffe sein? bleibt gleichergestalt Frage"

Die Apriorität der transzendentalen Begriffe ist für Herder eine Illusion. Diese kann nur vermieden werden, w e n n der Weg zuruck zur Erfahrung gefunden w i r d 20 21 22 23

ebd. ebd. ebd. ebd.

19. 24. 25. 40f

23

. Statt "Kritik der V e r -

Herder

59

nunft" will Herder eine "Physiologie der menschlichen Er24

kenntniskrafte" Die Ablehnung der Transzendentalphilosophie Kants durch Herder hat wohl ihren Grund darin, daß Herder wie Hamann die Frage der Geltung, um die es Kant geht, mit der Frage der Genesis verwechselt· Herder mißversteht die transzendentale Fragestellung als Frage nach der Entstehung von Erfahrung. Herder projiziert sein eigenes genetisch-geschichtliches Interesse auf die "Kritik der reinen Vernunft" Kants und muß sie deshalb mißverstehen. Herder stellt der Transzendentalphilosophie Kants einen sich auf die Erfahrung beziehenden Realismus gegenüber. Für Herder ist der Begriff des Seins der oberste und erste Begriff: "Sein ist der Grund aller Erkenntnis. Wo nichts ist, erkennt nichts und wird nichts erkannt" 25 . Das Sein ist nicht aus dem Denken ableitbar: "Ewig kann ich zu mir sprechen: ich denke, und werde, wenn nichts Erkennbares gegeben ist, nichts 26

erkennen" . Erkennen ist dementsprechend zuerst ein Anerkennen des Gegebenseins des Gegenstandes: "Wir kommen also auf das Principium zurück, das durch die ganze Natur herrscht: kein prius ist ohne ein posterius, kein Verstand ohne ein V e r s t ä n d l i c h e s denkbar, kein Nehmen findet statt ohne ein Geben. Du kannst nicht erkennen, wo nichts zu erkennen ist; du kannst in der nichts verbinden, wo nicht ein von der Natur Verbundenes dasteht. Die Funktion des Verstandes ist: anerkennen, was da ist,2^ofern es dir verständlich ist, d.i. deinem Verstände gehöret"

Wenn die Hauptaufgabe des Verstandes das Anerkennen des Gegebenen ist, dann kann die Philosophie nur ein Realismus sein. Die Kategorien sind deshalb keine Denkformen a priori, sondern in Auseinandersetzung mit der Erfahrung entstandene Begriffe. Hier beruft sich Herder auf Leibniz, der angenommen habe, "daß sinnliche Eindrücke Erkenntnisse veranlassen, daß, 24 25 26 27

ebd. 41. ebd. 62. ebd. 93. vgl. ebd. 94: "Vor allem gegebenem Erkennbaren gibt keinen erkennenden Verstand". ebd. 91.

es

60

Herder 28

wie Leibniz sagt, äußere Gegenstände Begriffe erwecken" Die Kategorien werden nach Herder durch Erfahrung gebildet: "Wie entstanden also diese Kategorien? Etwa priorisch, ohne Gegenstände, von einem andern Wesen dem menschlichen Verstände als eine Tafel angeheftet, damit durch sie Erfahrung möglich würde? Offenbar nicht also. Menschlich sind diese Begriffe gedacht, in einer menschlichen Sprache ausgesprochen; der Actus, durch den sie hervorgebracht wurden, ist die Handlung des Verstandes selbst, und zwar seine einzige, fortwährende Handlung, ohne welcher er kein Verstand ist. Sobald der menschliche Verstand begreift, muß er kategorisieren; er tuts aber weder durch ein Addieren der Begriffe zu einander, noch durch eine Synthesis, die aus dem Gegebnen hinaus schreitet; sondern durch Erfassung, Distribution und Comprehension des Gegebenen; das Eine wird ein Mehreres, das Mehrere wieder zu Einem"

Herder stellt dem Schematismus in der "Kritik der reinen Vernunft" die Sprache gegenüber. Das Schema, das für Kant zwischen Kategorie und Erscheinung vermitteln soll, aber transzendental, d.h. vor aller Erfahrung gegeben sein muß, ist für Herder eine Fiktion:

"Die priorischen Visionen, als Luftwesen, wollen zu uns herabkommen, und können nicht, da sie hienieden nichts Gleichartiges finden, ohne ein transzendentales Schema. Da aber auch dies Schema ohn alles Empirische sein soll, mithin jene zum Empirischen nicht hinabbringen kann, so lehnt die Zijj sehen le iter, auf der sie hinuntermüssen, oben und unten an Nichts"

Herder spricht statt von Schematen von Denkbildern des menschlichen Verstandes, die an der Erfahrung entstehen: "Eindruck des Gegenstandes wird dem Organ, und dadurch dem anerkennenden Sinn sofort ein geistiger Typus. Durch eine Metastasis, die wir nicht begreifen, ist uns der Gegenstand der Gedanke" 3 1 . Herder überspielt das Problem der Vermittlung von Denken und Sinnlichkeit als etwas Unbegreifliches. Die Sinne erzeugen verschiedene Typen der Gegenstände, die sie erfahren und empfinden, so daß ein und derselbe Gegenstand

28 29 30 31

ebd. ebd. ebd. ebd.

23. Ob dieses Leibniz-Verständnis zutrifft, ist fraglich. 112. 113. 117.

Herder

61

durch verschiedene Typen entsprechend den verschiedenen Sinnen repräsentiert werden kann. Auge und Ohr sind die Hauptsinne des Menschen, weil sie die deutlichste Empfindung erlauben. Ihre Verbindung ergibt bei der Typisierung die Sprache, die den optischen Typus des Gegenstandes mit dem akustischen vereint: "Indem das Auge ein Nebeneinander dem innern Sinn metaschematisiert, zwingt das Ohr uns, Dinge die nacheinander sind, in ganz andern, eben so künstlichen Typen aufzunehmen. In gleicher Weise werden wir also fortwährend in zwei Richtungen gezogen, und unwiderstehlich gewöhnt, nicht nur beide zu verbinden, d.i. beiderlei Typen durch einander zu erklären, Erscheinungen des Auges durch Töne des Ohrs und gegenseitig; sondern unser Verstand kann auch nicht anders als in beiderlei Kunstformen seine Begriffe unverrückt und zu gleicher Zeit gestalten. Durchs Nacheinander wird von ihm das Nebeneinander, dies durch jenes zu einer helleren Ordnung bestimmt; entfernte Gegenstände drücken sich durch Töne successiv in uns; dunkle, mit Augenblicken verschwundne Laute bleiben vor uns durch Gestalten. So typisiert der Verstand, und so ward (durch welche Förderung es auch geschehen sein möge) aus Verbindung zweier dem Schein nach einander entgegengesetzter, einander abf^jj unentbehrlicher Sinne, unter Leitung des Verstandes - Sprache"

Das Wort ist der Typus aller anderen Typen der Sinne, weil es diese repräsentiert als "der empfangenen Eindrücke typisie33 render Ausdruck"

. Das Wort als Typus der sinnlichen Typen

ersetzt für Herder die erfahrungslosen Schemata des Verstandes: "Der menschliche Verstand hat eine viel höhere Kraft, als dunkel zu schematisieren; er kann seine erfaßten Merkmale durch Worte aus^jükken, er kann sprechen, daß man die Dinge sehe und ihn vernehme"

Statt des Schematismus benötigt der Verstand den Ausdruck seiner Begriffe in der Sprache. Die Sprache entsteht nicht unabhängig von der Erfahrung, sondern in Auseinandersetzung des Verstandes mit den Empfindungen: "So erscheint dann, wie die Sprache a priori erfunden sei. Vermöge der eigentümlichen Kraft des Verstandes ward sie an Gegenständen, sie anerkennend erfunden; aus sich selbst, ohne diese, bringt der

32 33 34

ebd. 118f. vgl. Wolff, Ges. W. 1-2, §§ 835-837. SW 21, 119. ebd. 125.

62

Herder

Verstand selbst keine Schatten (e'Kis/'T-ü·) hervor. An Gegenständen aber erfreuet der Verstand sich seiner priorischen, d.i. innern ^ Kräfte, und drückt sich selbst ab in jedem Satz, in jedem Worte"

Der Realismus Herders ist somit ein semiotischer Realismus, weil er die Erkenntnis an das Zeichen bindet. Das Zeichen, das Wort ist nicht mit dem Begriff identisch, denn es müssen Sache, Begriff und Wort unterschieden werden: "Unser Begriff macht die Sache nicht, weder möglich noch wirklich; er ist nur eine Kunde derselben wie wir sie haben können, nach unserm Verstände und unsern Organen. Das Wort macht sie noch weniger; es soll nur aufrufen, sie kennen zu lernen, ihren Begriff festzuhalten und zu reproduzieren; Begriff und Wort sind also auch nicht Eins und Dasselbe. Dies soll d^g Andeutung jenes sein, sein Abdruck kann und soll es nie werden"

Eine nähere Klärung des Verhältnisses von Wort und Begriff, von Begriff und Sache läßt Herder vermissen.

1.2.2.3

Verstehen und Anerkennen

Die Erkenntnis als Anerkennen des Gegenstandes der Erfahrung vollzieht und manifestiert sich in der Sprache. Während der Verstand die erkennende Anerkennung der Erfahrung gegenüber vollbringt, ist der Gegenstand der Anerkennung für die Vernunft das Produkt des Anerkennungs- und Erkenntnisprozesses, nämlich der Text. Während also der Verstand das Besondere der Erfahrung vermittels der sinnlichen Typen verallgemeinert und in Sprache faßt, hat die Vernunft die Aufgabe, "ein gegebnes Allgemeines zu partikularisieren, im Unbedingten das Bedingte 37 anerkennend zu finden und festzustellen" . Der Akt des Partikularisierens geschieht durch Interpretation des mit den Mitteln des Verstandes konstituierten Textes: "Wie der Verstand Erfahrung, so hat die Vernunft zu ihrer Sphäre das weite Reich menschlicher Gedanken, mittelst der Rede. Was durch

35 36 37

ebd. 128. ebd. 123. ebd. 253.

Herder

63

irgend ein Zeichen ausgedrückt, festgehalten, verständlich gemacht werden kann, darf sich vor die Vernunft als eine Vernehmerin wagen; auf Angaffungen in Raum und in der Zeit läßt sie sich nicht einschränken. Mittelst der Sprache ist ihr alles gegeben, was sich durch Sprache im weitesten Sigge des Worts ausdrücken läßt; sie selbst ist und heißt Sprache"

Der Gegenstand der Vernunft ist der Text u n d ihre Tätigkeit ist das Verstehen. V e r s t e h e n ist ein Anerkennen der Andersheit des Gegenstandes im Vollzug der Vergegenständlichung dieses Gegenstandes. "Auch ein Zusammensetzen und Hinzufügen, von dem Begriff des Selbstbewußtseins begleitet, macht nicht das Verstehen aus, so wenig wie Worte einer fremden Sprache, wenn wir sie buchstabieren, silbieren und aussprechen, des Buchstabierens wegen von uns verstanden werden, auch wenn wir uns dieses Buchstabierens und Silbierens deutlich bewußt sind. Der Sinn des Wortes 'anerkennen' ist etwas ganz anderes . " "Zur Anerkennung dieses Sinnes gehört ein Zweifaches, Subjekt und Objekt, ein Verstehender und ein Verstandenes; sogar wenn ich m i c h selbst verstehen will, muß ich mein Objekt werden. [...] Durch Auflösen und Verknüpfen also erkennet der Verstand den Sinn ^ s Gegenstandes, den er als ein geistiges Ganzes sich aneignet"

Das V e r s t e h e n darf nicht eine Ableitung des Gegenstandes aus dem Subjekt sein, sondern muß die Objektivität des Gegenstandes anerkennen u n d kann gerade so dem Gegenstand als einer selbständigen Ganzheit gerecht werden. Herders Verstehensbegriff ist der eines objektiven Verstehens, den er m i t dem Rationalismus teilt. Die objektive Hermeneutik schließt für Herder ein produktives Verstehen nicht aus. Ein Text kann nämlich nur verstand e n werden, w e n n sich der Verstehende in den schöpferischen Entstehungsprozeß des Textes hineinstellt und in der Interpretation die Textkonstitution mitvollzieht. Dies setzt voraus, daß m a n über d e n vorliegenden Text zuerst hinausgeht zum Verfasser, denn d e s s e n W i r k e n gilt es zu vernehmen, will m a n sein Produkt verstehen.

38 39

ebd. 293. Zum Schlußsatz vgl. Hamann. ebd. 96.

64

Herder

"Man sollte jedes Buch als den Abdruck einer lebendigen Menschenseele betrachten können. [...] Oft ists ein Rätsel ohne Auflösung, eine Münze ohne Umschrift: die flachsten Leser, und meistens die hohlsten, daher auch die lautesten von allen, die respekt. Kunstrichter, messen nach ihrem unmaßgeblichen wenigen Selbst, schreien und verdammen. Der bescheidnere Weise urteilt, wie Sokrates über Heraklits Schriften, suchte mehr im Geist des Urhebers, als im Buch zu lesen: je mehr er dahin eindringt, je lichter und zusammenhängender wird Alles. D^g Leben eines Autors ist der beste Kommentar seiner Schriften"

Für Herder zielt das Verstehen nicht auf den Text als solchen, sondern auf dessen Urheber, in dessen geschichtliches Wirken sich der Verstehende einordnen solle. "Wo es der Mühe lohnt, ist dies lebendige Lesen, diese Divination in die Seele des Urhebers das einzige Lesen und das tiefste Mittel der Bildung. Es wird eine Art Begeisterung, Vertraulichkeit und Freundschaft, die uns da, wo wir nicht gleich denken und fühlen, oft am lehrreichsten und angenehmsten ist, und die eigentlich das, was man Lieblingsschriftsteller nennt, bezeichnet. Solches Lesen ist Wetteifer, Heuristik: wir klimmen mit auf schöpferische Höhen, oder entdecken den Irrtum und die Abweichung in ihrer Geburtsstätte. Je mehr man den Verfasser lebendi^kennt und mit ihm gelebt hat, desto lebendiger wird dieser Umgang"

Das Ideal für das Verstehen ist hier der Dialog mit einem lebendigen Menschen, der den Blick in sein Inneres erlaubt. Im Verstehen kann dann eine Auseinandersetzung über die Sache stattfinden, um die es dem anderen in seiner

sprachlichen

Äußerung ging. Die Kritik verbindet sich mit einem Verstehen der Genese des Irrtums, weil die geschichtlichen Umstände der Textentstehung offenliegen. Die Gefahr, die darin liegt, wenn man den Autor zum Maßstab für das Textverstehen macht, hat Herder nicht gesehen. Der Text hat bei Herder eine zu geringe Autonomie gegenüber dem Autor, als daß er der eigentliche Gegenstand des Verstehens wäre. Verstanden werden soll nicht der Text, sondern der Autor. Diese Reduktion des Textes auf das Innere des Autors ist ein Mangel der Hermeneutik Herders.

40 41

SW 8, 208. vgl. SW 1, 306. SW 8, 208f. vgl. SW 1, 306. Zum Verhältnis Herder-Schleiermacher vgl. BIANCO 1968. BIRUS 1982. DILTHEY 1966, 656. WEIMAR 1975. COSERIU 1977, 185 Anm. 8.

Jean Paul Friedrich Richter

65

Neu gegenüber der Hermeneutik des Rationalismus ist bei Herder der kreative Aspekt des Verstehens.

1.2.3 1.2.3.1

Jean Paul Friedrich Richter Zur Fichte-Kritik

Jean Paul nimmt - in satirischer Weise - eine kritisch-ablehnende Position gegenüber dem v.a. durch Fichte vertretenen Idealismus ein. Gegen dessen Monismus und Subjektivismus macht Jean Paul das Eigenrecht der Realität geltend, das jedem Monismus zuwiderlaufe und einen dualistischen Realismus erfordere. Für diesen Realismus in Kritik am Idealismus beruft sich Jean Paul auf Herder und Jâcobi, die von ihm sehr hochgeschätzt werden^". Herder wie Jaeobi verwarfen die Unterscheidung zwischen transzendentalem und empirischem Subjekt und beharrten auf der Unhintergehbarkëit der Realität und der 2 Notwendigkeit des Glaubens an sie . Im Anschluß an diese Auffassung kritisierte und karikierte Jean Paul den Subjektivismus Fichtes, der dem Individuellen der realen Gegenstände und empirischen Subjekte nicht gerecht werde: "Nur von der Seite der Individuation, sagt Jacobi, ist in den Spinozismus einzubrechen; dies gilt auch von der Wissenschaftslehre und von jeder Philosophie, insofern sie rein oder absolut wäre"^. Nur eine Philosophie, die eben nicht rein oder absolut ist, die nicht transzendental oder idealistisch verfährt, ist für Jean Paul wahr, weil sie auf realistischem Grunde ruht. Der Idealismus täuscht darüber hinweg, daß er nicht ohne die vorge4 gebene Realitat auskommt . Wenn man das Sein als die höchste 1 2

3 4

Clavis 464. 459f. 472. 475. W 5, 450-456. 514. vgl. Jacobi: "Durch den Glauben wissen wir, daß wir einen Körper haben, und daß außer uns andere Körper und andere denkende Wesen vorhanden sind. Eine wahrhafte, wunderbare Offenbarung! (...) Ohne Du ist das Ich unmöglich!" (Über die Lehre des Spinoza, W 4-1, 211, vgl. ebd. 231) vgl. Jacobi, David Hume ..., in: W 2, 165ff. 262. 299. vgl. MÜLLER 1983, 186. Clavis 460. ebd.

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Kategorie hinter sich lasse und ein absolutes Ich ersinne, das davon frei ist, dann zerfalle dieses Ich in Nichts, in "unendlich weniger als Nichts""'. Der Grund für die realitätsfremde, lebensfeindliche, ungeschichtliche Haltung des Idealismus liegt für Jean Paul in der Sprache, die ursprünglich nur sinnliche Gegenstände bzw. deren Wahrnehmung bezeichnete und erst später auch auf innere Wahrnehmungen Anwendung fand, so daß die Gefahr des Mißbrauchs der Sprache gerade bei nicht-sinnlichen Gegenständen sehr groß ist, weil sie als selbständige erscheinen können. Hier sieht Jean Paul drei Fehlerquellen: Die Verwechslung von Qualitäten mit Quantitäten ("Verwandlung der Seelenlehre in Größenlehre"), die Erhöhung der Quantitäten zu Qualitäten ("den Körper zum Geiste zu destillieren") und die Abstraktion ("das Gold des Wirklichen dünn und breit zu schlagen, um es durchzusehen") . Die Fähigkeit der Sprache zur Abstraktion ist die Hauptquelle für idealistische Illusion: "Die Welten des W i r k l i c h e n (in und außer ihm [dem Philosophen]), die er erklärt durch Einschmelzung in Eine unerklärliche, schatten sich in der Vorstellung nur als Kreise der vorigen Kugeln ab; und diese Kreise oder V o r s t e l l u n g e n werden wieder Punkte oder Zentra in der Sprache. [...] Dann fährt man fort und macht sich Begriffe aus Begriffen, bis man so weit ist, daß das ganze Universum nun mit allen seinen Kräften und Farben bloß durchsichtig als ein weites luftiges Nicht-Ich dasteht - dann braucht man noch einen Schritt, so ist auch sogar dieses Nicht-Ich vom Ich nur im Grade wie 'Finsternis vom Licht' verschieden, das Angeschaute ist die Anschauung und diese das Anschauende oder Ich - und dann ist das weite Karthago, die^unendliche Stadt Gottes, zugeschnitten aus der Haut des Ichs" .

Die Sprache der Abstraktion verführt dazu, den Boden der Wirklichkeit mit ihren Ganzheiten zu verlassen und sich in leeren Begriffsreihen zu ergehen. Weil also Jean Paul nicht zwischen transzendentalem und empirischem Subjekt unterscheidet, muß er den subjektiven Idealismus kritisieren als Versuch, unter Mißbrauch der Sprache dem Subjekt die Schöpfermacht Gottes zuzubilligen. Dagegen beruft er sich auf die 5 6 7

ebd. 461. ebd. 470f. ebd. 471f. vgl. ebd.

482.

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P h i l o s o p h i e H e r d e r s u n d J a c o b i s , d i e s o l c h e r H y b r i s der V e r nunft den Glauben an die Realität und an deren Alterität entgegensetzte : "Aber die richtige Philosophie, wie die Jacobische, weiß und bekennt, daß die Vernunft ein Danaiden-Filtrum sei, das zwar den Trank reinigen, aber nicht schöpfen kann, und daß sie nur, wig Herder sagt, vernehmen und also bekomme, finde, nicht erfinde" .

1-2.3.2

Sprache und Witz

N i c h t in u n m i t t e l b a r e m , w o h l aber in m i t t e l b a r e m V e r h ä l t n i s zur K r i t i k a m s u b j e k t i v e n I d e a l i s m u s s t e h t J e a n P a u l s A u f f a s s u n g v o n der S p r a c h e , w i e sie im B e g r i f f d e s W i t z e s e n t faltet wird. Scheinbar begeht die Sprache des Witzes

den

g l e i c h e n F e h l e r w i e d i e i d e a l i s t i s c h e P h i l o s o p h i e , w e n n sie d i e S p r a c h e z u e i n e r a u t o n o m e n G r ö ß e m a c h t . D i e s s c h e i n t aber n u r so. D i e S p r a c h e k o m m t n ä m l i c h im W i t z zu sich s e l b e r , w ä h r e n d d i e S p r a c h e im I d e a l i s m u s s i c h s e l b s t v e r l i e r t u n d s i n n l o s w i r d . D i e S p r a c h e d e s W i t z e s zeigt, w i e S i n n e n t s t e h t , w i e d i e T r a n s f o r m a t i o n der d u r c h d e n

Sprachgebrauch

f e s t g e l e g t e n B e d e u t u n g der W ö r t e r i n d e n S i n n g e s c h i e h t .

Der

W i t z legt d e n P r o z e ß der S i n n k o n s t i t u t i o n o f f e n , w e i l er d a s s p r a c h l i c h e V e r f a h r e n ist, in d e m s i c h d i e K r e a t i v i t ä t u n d I n n o v a t i o n s k r a f t d e r S p r a c h e , d i e immer n o t w e n d i g ist, soll Sinne entstehen, anschaulich

äußert.

Der W i t z im w e i t e s t e n V e r s t ä n d e ist d i e F ä h i g k e i t ,

durch

d a s V e r g l e i c h e n z w e i e r V o r s t e l l u n g e n e i n e d r i t t e , d i e ihr V e r h ä l t n i s a u s m a c h t u n d r e c h t f e r t i g t , zu e r f i n d e n : "Auf der untersten Stufe, wo der Mensch sich anfängt, ist das erste leichteste Vergleichen zweier Vorstellungen - deren Gegenstände seien nun Empfindungen, oder wieder Vorstellungen, oder gemischt aus Empfindung und Vorstellung - schon Witz, wiewohl im weitesten Sinn; denn die dritte Vorstellung, als der Exponent ihres Verhältnisses, ist nicht ein Schlußkind aus beiden Vorstellungen (sonst wären sie deren Teil und Glied, nicht deren Kind), sondern die Wundergeburt unsers Schöpfer-Ich, zugleich sowohl frei erschaffen - denn wir wollten und strebten - als mit Notwendigkeit - denn sonst hätte der

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ebd. 472

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Schöpfer das Geschöpf früher gesehen als gemacht oder, was hier dasselbe ist, als gesehen" .

Die Erfindung der dritten Vorstellung ist die Konstitution des Sinns, der die z.B. durch zwei Wörter repräsentierten beiden anderen Vorstellungen zur Einheit bringt, indem er die vorgegebenen Bedeutungen einander zuordnet und so aktualisiert. Die Erfindung des Sinns ist sowohl freie Schöpfung als auch Nachvollzug der gewählten Bedeutungskonstellation. Im Gegensatz zum bloßen Scharfsinn und bloßen Tiefsinn bringt der Witz zwei Größen anschaulich zusammen, so daß das Verhältnis angeschaut wird, während der Scharfsinn begrifflich verfährt und ans Wissen grenzt und der Tiefsinn alle Verschiedenheiten ins Sein aufhebt, ist der Witz die Vermittlung von Wissen und Sein, weil er einerseits unterscheidet, andererseits vereint. "Der Witz im engern Sinne findet mehr die ähnlichen Verhältnisse inkommensurabler (unanmeßbarer) Größen, d.h. die Ähnlichkeiten zwischen Körper- und Geisterwelt (z.B. Sonne und Wahrheit)"10. Der Witzbegriff Jean Pauls hat eine gewisse Verwandtschaft mit dem Begriff des ingenium bei Vico. Das ingenium ist für Vico die Fähigkeit, Ähnliches festzustellen und hervorzubringen und dadurch Neues zu schaffen. "Poi, derivando da sì fatti principi la particolar facuità del sapere, dico esser lo ingegno, perché con questa l'uomo compone le cose, le quali, a coloro che pregio d'ingegno non hanno, sembravano non aver tra loro nessun rapporto. Onde l'ingegno umano nel moç