Religion im Wandel: Transformation religiöser Gemeinschaften in Europa durch Migration - Interdisziplinäre Perspektiven 9783737003698, 9783847103691, 9783847003694

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Religion im Wandel: Transformation religiöser Gemeinschaften in Europa durch Migration - Interdisziplinäre Perspektiven
 9783737003698, 9783847103691, 9783847003694

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Religion and Transformation in Contemporary European Society

Band 9

Herausgegeben von Kurt Appel, Christian Danz, Isabella Guanzini, Richard Potz und Sieglinde Rosenberger

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Regina Polak / Wolfram Reiss (Hg.)

Religion im Wandel Transformation religiöser Gemeinschaften in Europa durch Migration – Interdisziplinäre Perspektiven

V& R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0369-1 ISBN 978-3-8470-0369-4 (E-Book) Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Rektorats der Universität Wien. Ó 2015, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: RaT-Logo (Gerfried Kabas, Wien). Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil 1 Theoretische Ansätze zur Bedeutung von Religion im Kontext von Migration aus interdisziplinärer Sicht Tariq Modood Befindet sich der Säkularismus in Westeuropa in der Krise?

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Martin Baumann Religion als Ressource und Konfliktpotential in Europa. Analytische Perspektiven auf Immigration, Gemeinschaft und Gesellschaft . . . . . .

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Alexander-Kenneth Nagel Religion, Migration, Institutionalisierung – Begehung einer Theoriebaustelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Karsten Lehmann Complex Processes of Integration and Segregation. The Local Role of Christian Communities in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Veit Bader Migration, Religion and Secularization . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

Teil 2 Transformation durch Migration in europäischen Religionsgemeinschaften. Herausforderungen und Perspektiven Wolfram Reiss Auswirkungen der religiösen Pluralität auf staatliche Institutionen und die Anstaltsseelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

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Inhalt

Martin Jäggle Herausforderung der religiösen Pluralität für die Schule . . . . . . . . . . 183 Michael Bünker Einheit in versöhnter Verschiedenheit. Evangelische Erfahrungen der Migration und Diaspora als Aufgabe der Kirchen . . . . . . . . . . . . . 205 Regina Polak Migration und Katholizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Arnd Bünker Migration und die Diversifizierung in christlichen Gemeinden . . . . . . 293 Agostino Marchetto Dialogue in Migration and Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Oksana Ivankova-Stetsyuk / Hryhoriy Seleshchuk Deepening the Dialogue with Society and State. Institutionalization of migration work of the Ukrainian Greek-Catholic Church . . . . . . . . . 333 Radu Preda Von der Wende verweht. Die orthodoxen Gemeinden Westeuropas nach 1989 aus sozialtheologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Ednan Aslan Der Wandel der islamischen Theologie im Westen . . . . . . . . . . . . . 375 Alfred Bodenheimer Jüdische Migration nach, in und aus Europa . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397

Einleitung

Die transnationale Migration von Bevölkerungsgruppen ist in den vergangenen Jahren nicht nur in den Medien und in der Politik, sondern auch in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen in Europa ein wichtiges Thema geworden.1 Unter transnationaler Migration verstehen wir den dauerhaften Wechsel von Menschen in neue geographische und soziokulturelle Räume, bei dem Grenzen von Nationalstaaten überschritten werden und zwischen Aufnahme- und Herkunftsländern komplexe (institutionalisierte) Beziehungsnetzwerke entstehen.2 Menschen, die sich auf transnationale Wanderungen begeben, verwandeln sich und die soziokulturellen Räume, in die sie sich hinein bewegen. Der Zusammenhang von Wanderung und Wandel (bzw. Verwandlung) kommt im Deutschen dadurch zum Ausdruck, dass beide Worte etymologisch auf den gleichen Wortstamm zurückgehen.3 Während ethnische, kulturelle, sprachliche sowie soziale und politische Konfliktsituationen, die mit den transnationalen Migrationsbewegungen ein1 Vgl. u.a Baumann 2005, 2009; Faist 2000; Faist / Fauser / Reisenauer 2013; Han 2000; Hunger 2000; Kraft / Tiefensee 2011; Lehmann 2004; Pries 1997, 1999, 2001; Thränhardt / Hunger 2003; Vertovec 2010; Vertovec / Cohen 1999; Basch / Schiller / Blanc-Szanton 1994; Zeitschrift für Geschichte 2005; Journal of Ethnic and Migration Studies 2001; International Migration Review 2003. 2 Im Unterschied zu kurzfristigen touristischen Aufenthalten bzw. zum (vorwiegend historischen) Phänomen des Nomadentums ohne dauerhafte Wohnsitzname einerseits und zu Wanderungsbewegungen innerhalb von Landesgrenzen (Binnenmigration) andererseits. 3 Nach dem etymologischen Wörterbuch von Wolfgang Pfeifer (Pfeifer 2004) gehen die Worte zurück auf das Althochdeutsche wantalo¯n ‘(sich) hin und her wenden, sich mit etwas abgeben, mit jemandem verkehren, handeln, ändern, verwandeln’ bzw. wanto¯n ‘wenden, verwandeln, sich ändern’ (8. Jh.), Mittelhochdeutsch wandeln ‘rückgängig machen, tauschen, wechseln, ändern, wenden, gerichtlich verhandeln, Ersatz leisten, tadeln, strafen’, intrans. ‘wandern, reisen, gehen’. Interessant hierbei ist, dass die Fortbewegung bzw. räumliche Hinwendung zu einem neuen Raum mit ökonomischen Termini (vgl. „Handel und Wandel“) wie auch mit Veränderung in Verbindung gebracht wird. Migration, Ökonomie und Transformation hängen also eng miteinander zusammen, was auch für die Migrationsbewegungen der Gegenwart zutrifft. Im deutschen Terminus „Wandel“ treffen diese Bedeutungsinhalte zusammen.

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Einleitung

hergehen, schon längere Zeit intensiv erforscht werden, sind die religiöse Dimension der Migration und deren Auswirkungen auf die Religionsgemeinschaften und die Gesellschaft vergleichsweise wenig erkundet. Die Wende zur verstärkten wissenschaftlichen Befassung mit der religiösen Dimension geht vor allem auf die Wahrnehmung der religiösen Identität von Migrantinnen und Migranten aus der Türkei und aus arabischen Ländern zurück. Der Islam rückte aufgrund des Erstarkens des politischen Islams und des religiös begründeten Terrors seit den 1990er Jahren immer deutlicher in den Vordergrund des Interesses. Die durch die Einwanderung von MuslimInnen sich verändernde Gesellschaft und die damit einhergehende forcierte Pluralisierung der religiösen Landschaft sowie die Auswirkungen auf scheinbar einlineare Prozesse – wie z. B. Säkularisierung und Modernisierung – wurden zum Gegenstand der Forschung. Allerdings ist im deutschsprachigen Raum die Erforschung des Zusammenhangs von Religion und Migration erst in jüngerer Zeit ins Zentrum kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschung getreten. So konstatieren Andrea Lauser und Cordula Weißköppel eine „neue Aufmerksamkeit für Religion in der Migrations- und Transnationalismusforschung“4. Im Zentrum der Erforschung von Religion im Kontext von Migration stehen dabei vor allem die Veränderungen subjektiver Religiositäten von MigrantInnen sowie der Beitrag von migrantischen communities für Integrationsprozesse. Die Forschung konzentriert sich dabei vornehmlich auf muslimische Migrantinnen und Migranten bzw. den Islam. Christliche Migration und ihre zunehmende Differenzierung blieben weitgehend unterbelichtet. Orthodoxe, orientalische, pfingstlerische Gruppen mit verschiedenem ethnischen und nationalen Hintergrund sind erst in jüngster Zeit in den Blick geraten.5 Gleiches gilt für eingewanderte Religionsgemeinschaften mit afrikanischem, fernöstlichem oder lateinamerikanischem Hintergrund.6 Jüngere Entwicklungen stellen die Thematik in einen breiteren Horizont: Das Paradigma des Transnationalismus lässt Religion im Kontext von Migration als wesentlichen Faktor in der Entstehung transnationaler personaler Räume und Netzwerke wahrnehmbar werden, die u. a. dem Austausch religiöser, sozialer und kultureller Identitäten dienen. Diasporatheorien erschließen religiöse Mobilität und lassen Religion als eigenständiges kulturelles Praxis- und Deu-

4 Weißköppel / Lauser 2008, 7. 5 Eine kritische Analyse der aktuellen Forschung zu Religion und Migration in Europa: vgl: Mur¼o Permoser 2014. 6 Vgl. Arbeitskreis Orthodoxe Kirchen in Hessen und Nassau 2002; Baumann 2000, 2003; Bauman / Luchesi / Wilke 2003; Bergunder 2008; Fischer 2011, 2012; Ingenhorst 1997; Lehmann 2005; Mendoza 2003; Micksch, 1986; Reichelt 2011; Röthlisberger / Wüthrich 2009, Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz 2003, Stolz et al. 2011a.

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tungssystem erkennbar werden, das zugleich untrennbar mit sozialen, ökonomischen und politischen Dimensionen verbunden ist. Die Studie weitet den Fokus und fragt nach den sozioreligiösen Transformationsprozessen, die Europa durch das Phänomen der transnationalen Migration erfährt. Im Zentrum stehen also nicht die Religiosität der MigrantInnen und deren Transformation, sondern die Auswirkungen der Migration auf Religionsgemeinschaften und Gesellschaft in Europa. Migration verändert auch die Aufnahmegesellschaften und deren etablierte Religionsgemeinschaften bzw. das Verhältnis zwischen Staat, Gesellschaft und Religion. Migrationsinduzierte Transformationsprozesse verändern das sozioreligiöse Feld und dessen Kommunikation im Innern wie im Äußeren. Sie verändern den Diskurs über Religion in der Gesellschaft, in Politik, im Rechtswesen ebenso wie den innerreligiösen Diskurs in und zwischen den Religionsgemeinschaften. Religionsgemeinschaften, die Politik, staatliche und religiöse Institutionen wie Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime, staatliche Behörden, kirchliche Gemeinden und Kommunen sind herausgefordert, auf die religiöse, ethnische, soziokulturelle Diversifizierung zu reagieren. Strukturen im säkularen wie im religiösen Bereich müssen angepasst werden. In Europa stellt sich dabei grundsätzlich die Frage nach dem Verhältnis von Säkularisierung bzw. Säkularität und Religion, nach den Grenzziehungen zwischen Politik und Religion neu. Religion, die in Europa auf dem Rückzug gewesen zu sein schien, hat im öffentlichen Diskurs wieder an Bedeutung gewonnen. Migrantische und nicht-migrantische Religionsgemeinschaften sind Akteure dieser Transformationsprozesse. Die Wanderungsbewegungen verwandeln Religion in Europa und führen zu einer Wende, zu einer Veränderung des Verhältnisses zur Religion in Europa. Religion ist im Wandel, transformiert sich und die Gesellschaften Europas. Dies geschieht im Kontext eines säkularen Selbstverständnisses nicht ohne Konflikte und auf unterschiedliche Weise. Die Studie konzentriert sich dabei auf zwei Forschungsfragen, die den AutorInnen zur Bearbeitung vorgegeben waren: Wie verändert Migration (die Bedeutung von) Religion in Theorie und Praxis? Wie verändert sich die Stellung von Kirchen und Religionsgemeinschaften in Politik und Gesellschaft in Europa durch Migration?

Die Publikation zielt darauf ab, durch Einbeziehung von WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen einen Beitrag zur Theoriebildung zu leisten. Daher wurden Vertreterinnen und Vertreter der Politikwissenschaft, Sozialwissenschaft, Religionswissenschaft, der Theologie sowie der katholischen und islamischen Religionspädagogik gebeten, die Fragestellungen aus ihrer jeweiligen Fachperspektive zu reflektieren. Zugleich wurden RepräsentantInnen verschie-

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dener Religionsgemeinschaften aufgefordert, konkrete Transformationen in der Praxis zu beschreiben, sowie Konzepte und Handlungsperspektiven vorzustellen, die aus ihrer Sicht im Zusammenhang mit Migrationsprozessen notwendig bzw. hilfreich sind. Diesem Vorhaben entsprechend teilt sich der Band in zwei Hauptteile auf. Im ersten Teil stehen die politik- und sozialwissenschaftlichen Analysen und Theorien im Vordergrund, im zweiten die Handlungsperspektiven und praktischen Arbeitsfelder, die auch für Meinungs- und EntscheidungsträgerInnen in Gesellschaft, Politik und Kultur von Relevanz sein können. Im ersten Beitrag bestreitet der britisch-pakistanische Sozial- und Politikwissenschaftler Tariq Modood (Bristol, Großbritannien) die These, dass der Säkularismus in Westeuropa generell in die Krise geraten ist. Dies sei durchaus nicht der Fall, wie anhaltende Tendenzen zur Säkularisierung der Gesellschaft zeigten. Zudem bietet der moderate Säkularismus, der die dominante Variante des Säkularismus in Westeuropa darstellt, sogar explizit Ressourcen an, die neue religiöse Diversität zu integrieren, denn die meisten europäischen Länder betrachten Religion nicht nur als privates, sondern als öffentliches Gut. Vielfach werden die Ressourcen der Religionsgemeinschaften durchaus gewürdigt und teilweise sogar gefördert. Prinzipiell hat der moderate Säkularismus das Potential, Multikulturalität und Multireligiosität zu integrieren. Das Problem liegt nach Modood vielmehr im Aufkommen eines neuen radikalen Säkularismus, der in der Realität bisher kaum Anhalt findet, sich aber möglicherweise mit neuen christlich-fundamentalistischen bzw. christlich-kulturalistischen Strömungen zu einem mono-kulturalistischen Nationalismus vereinen könne, der durch Islamophobie geprägt ist. Der Beitrag des Religionswissenschaftlers Martin Baumann (Luzern, Schweiz) weist darauf hin, dass nach langer Vernachlässigung in der Migrationsforschung die Religion zunehmend in den Fokus rückte, aber als hinderlich für die Integration von Zuwanderern betrachtet wurde. Jüngere sozialwissenschaftliche Forschungen haben jedoch gezeigt, dass diese Sicht der tatsächlichen Funktion von Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft nicht gerecht wird. Oftmals ist die Herausbildung von religiösen Gemeinschaftsorten überhaupt erst die Voraussetzung, um Identität zu stiften, soziale, karitative, erzieherische und politische Funktionen wahrzunehmen und so die Religionsgemeinschaften in die Gesellschaft zu integrieren. Baumann verweist hierbei besonders auf Thesen von Alex Stepick, der von drei Formen des Sozialkapitals spricht, die religiöse Gemeinschaften ausbilden. Diese Sicht ermöglicht es nach Baumann weit besser, Leistungen der religiösen Gemeinschaften im Sozial-, Gemeinwohlund Integrationsbereich wahrzunehmen, die maßgeblich zur Integration beitragen können, insbesondere wenn sie mit staatlichen, kommunalen und zivilgesellschaftlichen Eingliederungsaktivitäten verbunden werden. Zudem weist

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Baumann darauf hin, dass sich hinter den gegenwärtigen Konflikten Verteilungskämpfe um den öffentlichen Raum verbergen, die sichtbaren Ausdruck geben, inwieweit gesellschaftliche Partizipation gelungen ist. Es verweist zudem auf historische Beispiele, in denen umstrittenen Religionsgemeinschaften gerade durch den Aufbau von Gemeinschaftsorten und damit verbundenen sozialen Tätigkeiten eine allmähliche Integration gelungen ist. Der Beitrag des Sozialwissenschaftlers Alexander-Kenneth Nagel (Bochum, Deutschland) stellt das von Baumann zugrunde gelegte Theoriemodell der Institutionalisierung in drei Entwicklungsphasen in Frage. Er ist der Auffassung, dass die teleologische Annahme einer zunehmenden Etablierung und Konsolidierung von Migrantengemeinden falsch ist und meint, dass die Erkenntnisse der Institutionenanalyse nach Rainer Lepsius stärker in der Theoriedebatte berücksichtigt werden müssen, weil sich damit die dynamischen Prozesse von Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung besser abbilden lassen. Darüber hinaus weist er darauf hin, dass hinter der kaum hinterfragten Annahme der Institutionalisierung ein fragwürdiger „Strukturdeterminismus“ steckt. Auch der Staat verändert sich gegenwärtig und Religionsgemeinschaften treten als Akteure in den gegenwärtigen Transformationsprozessen auf. Schließlich kritisiert er die starke Orientierung der akademischen Diasporadebatte an biblischen Narrativen, die eine pejorative Verwendung des Begriffs mit sich bringt. Demgegenüber wird in der relationalen Soziologie herausgearbeitet, dass MigrantInnen sehr viel stärker auch als „Transformationsagenten“ wahrgenommen werden können. Wie komplex und konkret das soziale und kulturelle lokale Setting die Rolle von Religion in Integrationsprozessen beeinflusst, zeigt der Religionswissenschaftler und –soziologe Karsten Lehmann (Wien, Österreich) am Beispiel christlicher Zuwanderung in ausgewählte deutsche Städte. Empirische Forschungsergebnisse werden mittels der Konzepte Integration und Segregation reflektiert. Der Beitrag verdeutlicht die Notwendigkeit, Fragestellungen im Themenbereich Religion und Migration nicht nur interdisziplinär, sondern auch auf der lokalen Ebene anzusiedeln. Den Abschluss des ersten Teils bildet der Beitrag von Veit Bader – Soziologe, Sozial- und politischer Philosoph (Amsterdam, Niederlande) – der die Auswirkungen weltweiter Globalisierung- und Migrationsprozesse auf zwei Basisbegriffe der Debatte und deren Verständnis bzw. Verwendung in der Wissenschaft reflektiert: auf das Konzept von Religion sowie das Verständnis von Säkularisierung. Er zeigt, wie Migration und Globalisierung begriffliche, theoretische und praktische Probleme des Religionsbegriffes zuspitzen. Als Alternative votiert er im Anschluss an Niklas Luhmann für ein kritisches, systemtheoretisches sowie transkulturelles Verständnis von Religion, das diese als spezifisches Sinn- und Kommunikationssystem versteht und mit dem binären Code Trans-

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zendenz/Immanenz operiert. Auch das kulturelle, soziale und politische Verständnis von Säkularisierung gerät durch Migration unter Druck. Bader diskutiert die mit ihr in Verbindung gebrachten gängigen Theorien von Privatisierung und Subjektivierung, Individualisierung und Differenzierung von Religion. Er zeigt, dass die klassischen Verwendungsweisen des Begriffes Säkularisierung angesichts empirischer Befunde allesamt in Aporien führen und empfiehlt den Sozialwissenschaften, historische und vergleichende Studien zum empirischen Gebrauch verschiedener Formen des Säkularismus in politischen Diskursen durchzuführen. Entscheidend ist nicht, ob ein Staat säkular ist oder nicht, sondern ob säkulare oder religiöse Argumentationen öffentlich sind und zu einem antagonistischen demokratischen Diskurs in einer liberalen Demokratie beitragen. Das Modell einer „Associational governance of religious diversity”, das er vorstellt, kann den Bedingungen wachsender religiöser Pluralisierung und Fragmentierung organisierter Religion besser entsprechen. Als Auftakt des zweiten Teils des Buches, der sich praktischen Konsequenzen und Handlungsperspektiven der Migration auf Wandlungen und Transformationsprozessen in vorhandenen und migrierten Religionsgemeinschaften widmet, befasst sich der Religionswissenschaftler Wolfram Reiss (Wien, Österreich) mit den Veränderungen, die in der religiösen Betreuung in staatlichen Institutionen stattfinden. Nach einer Darstellung der religiösen Pluralität – exemplarisch für den deutschsprachigen Raum – weist er darauf hin, dass die vorgegebenen Betreuungsstrukturen in vielen Bereichen längst nicht mehr der religiösen Pluralität entsprechen und dass daher in den nächsten Jahrzehnten sowohl für die christliche Seelsorge als auch für die Betreuung durch andere religiöse Gemeinschaften umfangreiche Veränderungen anstehen. Diese betreffen aber auch Institutionen, die neue Rahmenbedingungen für die religiöse Betreuung schaffen müssen sowie den Charakter dessen, was unter religiöser Betreuung verstanden wird. Auch der katholische Religionspädagoge Martin Jäggle (Wien, Österreich) geht von der Situation religiöser Pluralität als Normalität aus und setzt sich auf dieser Basis mit den Herausforderungen für die Schule in Europa auseinander – ein Thema, das auch politisch für das gedeihliche Zusammenleben in einer religiös pluralen Gesellschaft relevant ist, wie man an der Beschäftigung des Europarates und der OSZE mit dieser Thematik erkennen kann. Die Voraussetzungen dafür seien allerdings nicht günstig, da die Fiktion einer homogenen und monolingualen Schule nach wie vor sehr dominant sei. Ausgehend von bildungspolitisch weichenstellenden Stellungnahmen des Europarates sowie religionspolitischen Überlegungen votiert Jäggle für die Anerkennung von Heterogenität als Normalität sowie für die Entdeckung von Diversität als Ressource. Er entwickelt sodann konkrete Perspektiven wie eine „Kultur der Anerkennung“ für die Schule. Ausgehend von der Darstellungen zahlreicher empirischer reli-

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gionspädagogischer Studien bzw. Studien zu Curricula und Schulbücher bietet er einen differenzierten Überblick über „religiöse Bildung als europäischem Projekt“. Er selbst spricht sich im Anschluss an den Religionspädagogen Bert Roebben für ein „“Lernen in der Gegenwart des religiös Anderen“ sowie eine „religionssensible Bildung“ aus, die nicht nur den Religionsunterricht betrifft. Mit dem Beitrag von Michael Bünker, dem Bischof der Evangelischen Kirche in Österreich, wird der Blick auf die Auswirkungen der Migration auf die verschiedenen Religionsgemeinschaften in Europa gerichtet. Zunächst weist Bünker darauf hin, dass seine eigene Kirche in besonderer Weise durch Migration geprägt ist. Im zweiten Teil wirft Bünker sodann die Frage auf, ob das Modell der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“, das erfolgreich das Zusammenwachsen reformierter und lutherischer Kirchen in Europa bewirken konnte, nicht auch auf eine Gesellschaft übertragen werden kann, die von religiöser und kultureller Pluralität geprägt ist und die um Einheit in Identität und Differenz ringt. In ähnlicher Weise bringt die Pastoraltheologin Regina Polak (Wien, Österreich) aus römisch-katholischer Perspektive die Konzeption der Katholizität neu ins Spiel. Migration und Globalisierung bergen neben allen Schwierigkeiten großes Potential, da sie zur Entgrenzung und Konnektivität verhelfen und die Anerkennung von Pluralität und Diversität fördern; Entwicklungen, die auch für die Kirche heilsam sind. Die Pluralisierung forciert die „Enteuropäisierung“ des Christentums ebenso wie das Wiedererstarken der Bedeutung von Religion in der Gesellschaft und regt zu gesellschaftlichen und innerkirchlichen Reformprozessen an. Katholizität wird dabei von ihr nicht innerkonfessionell verstanden, sondern als konfessionsverbindendes und –übergreifendes theologisches Konzept beschrieben. Darin besteht auch die ökumenische Bedeutung der Katholizität. Polak beschreibt vier „Lernfelder“, in denen Katholizität durch Migration neue Impulse bekommen kann. Dies betrifft zum einen den Identitätsdiskurs, zum anderen die konstruktive Auseinandersetzung mit „dem“ Fremden; Migration fördert drittens die Suche nach Gerechtigkeit, was nicht nur eine aktuelle sozialwissenschaftliche, sondern auch eine zentrale theologische Frage ist. Schließlich sieht Polak in der Migration die Chance, „Convivenz“ in Vielfalt und Verschiedenheit einzuüben. Der Pastoralsoziologe Arnd Bünker (St. Gallen, Schweiz) weist in seinem Artikel mit Nachdruck auf das seltsame Phänomen hin, dass in der Migrationsforschung lange vornehmlich der Islam im Vordergrund gestanden ist und erst in jüngerer Zeit auch andere Religionsgemeinschaften und christliche Gemeinschaften in den Fokus geraten. Dabei weisen die Zahlen eindeutig darauf hin, dass sich die Mehrheit der MigrantInnen als ChristInnen versteht. Allerdings kritisiert er, dass auch hier noch eher die Tendenz besteht, den Blick auf „exotische“ Gruppen wie orthodoxe, orientalische oder pfingstlerisch-charismatische Variationen des Christentums zu richten, statt sich jenen Gruppen zu

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widmen, die den weitaus größten Teil der Migration darstellen, die katholischen MigrantInnen. Die vormals als provisorische Sondergemeinden gedachten katholischen Missionen mit verschiedenem ethnischen und sprachlichen Hintergrund haben sich längst in vielen Ländern Europas fest etabliert und es ist keineswegs mehr mit einer kompletten Inkludierung in die Ortskirchen zu rechnen. Zugleich kritisiert Bünker, dass es bisher mehr zu einem Nebeneinander als zu einem Miteinander der einheimischen und Migranten-Gemeinden kommt und Differenz eher zelebriert als echter Austausch angestrebt und gefördert wird. Bünker plädiert stattdessen für eine intensive Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Varianten des Christentums, z. B. bei der EineWelt-Arbeit, bei dem Austausch von Frömmigkeitsformen oder bei interkultureller Bibelarbeit. Die Ausführungen des römisch-katholischen Kurienerzbischofs Agostino Marchetto – emeritierter Sekretär des Päpstlichen Rats der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs (2001 – 2010) – bestätigen diese Sicht. Er verweist auf jüngste Studien, aus denen klar hervorgeht, dass mitnichten Muslime, sondern Christen die stärkste Religionsgemeinschaft unter den MigrantInnen in Europa darstellen. Er stellt Vergleiche mit der Situation in den USA an und bemerkt (ähnlich wie Baumann in seinem Beitrag), dass dort die integrative Funktion von Religionsgemeinschaften viel stärker wahrgenommen und gewürdigt wird als in Europa, wo Religion eher als Hindernis zur Integration in die Gesellschaft interpretiert wird. Schwerpunkt des Beitrags bildet die Darstellung von Stellungnahmen von Papst Johannes Paul II. zur Frage der Migration, der sich insbesondere für den Dialog stark gemacht hat, sowie der ethischen Prinzipien des Dialoges zwischen Christentum und Islam aus der Sicht der katholischen Kirchenleitung. Die Soziologen Oksana Ivankova-Stetsiuk (Kyiv, Ukraine) und Hryhoriy Seleshchuk (Lviv, Ukraine) geben einen exemplarischen Einblick in die Auswirkungen von Migration in einem osteuropäischen Land, in der Ukraine. Sie beschreiben die Migrantenpastoral der griechisch-katholischen Kirche der Ukraine, die sich europaweit in Kooperation mit lokalen und internationalen Organisationen institutionalisiert hat. Am Beispiel der Diasporagemeinden in Italien werden die verschiedenen Phasen und Aufgaben der kirchlichen Betreuung durch die ukrainische griechisch-katholische Kirche beschrieben. Die Pastoral umfasst nicht nur die ArbeitsmigrantInnen, die zurück gebliebenen Familienmitglieder und die Zurückgekehrten, sondern auch die Opfer des Menschenhandels sowie MigrantInnen und Flüchtlinge aus anderen Staaten, für die die Ukraine nur als Transitland fungiert. Einen Einblick in die Entwicklungen der orthodoxen Kirche, die zahlreiche Diasporagemeinden in westeuropäischen Ländern aufgebaut hat, gibt Radu Preda (Cluj, Rumänien). Der Sozialtheologe, der das rumänische Institut für

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interorthodoxe, interkonfessionelle und interreligiöse Studien gegründet hat, stellt zuerst aus der Sicht orthodoxer Theologie den engen historischen, vor allem aber inhaltlichen Zusammenhang zwischen christlichem Glauben, der Entwicklung der frühen Kirche und Migration bzw. Mobilität dar. Sodann beschreibt er anhand der Situation in Rumänien die Auswirkungen des Kommunismus nach der Wende bis in die Gegenwart, zu denen unter anderem die Auswanderung ganzer Generationen von vom politischen und wirtschaftlichen System Enttäuschten gehört. Migration betrifft Länder wie Rumänien in gänzlich anderer Weise als Westeuropa: Sie führt zu massiven Problemen innerer wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Erosion und Verarmung. Der orthodoxen Kirche kommen im Inneren wie in den neuen Heimatländern ganz neue Aufgaben – politische wie religiöse – zu. So gehört die in ihrer theologischen Bedeutung umstrittene Diaspora-Situation der orthodoxen Kirche ebenso zu den Herausforderungen wie europapolitische Fragestellungen. Preda entwickelt aus einer sozialtheologischen Perspektive konkrete theologische, politische und pastorale Perspektiven für die Kirchen der Orthodoxie und gibt damit einen spannenden Einblick in interne Diskussionen. Der islamische Religionspädagoge Ednan Aslan (Wien, Österreich) beschreibt den notwendigen Strukturwandel bzw. Neuaufbau einer islamischen Theologie in Europa. Aslan weist darauf hin, dass es lange Zeit in der islamischen Theologie kaum Konzepte für das Leben in nicht-islamischen Ländern gab, weil vom dauerhaften Aufenthalt in solchen Ländern massiv abgeraten wurde. Erst in der Gegenwart ist es faktisch dazu gekommen, dass Muslime sich mit einer dauerhaften Präsenz in einer religiös pluralen Gesellschaft befassen müssen, in der sie nicht die dominierende Position einnehmen. Dies erfordert jedoch neue theologische Ansätze. Insbesondere muss überprüft werden, ob die historische Darstellung der Verhältnisse zwischen Christen und Muslimen den gegenwärtigen Erfahrungen entspricht. Eine weitere Herausforderung stellt die konstruktive Auseinandersetzung mit der Säkularität in den europäischen Ländern dar, die jedoch von manchen muslimischen Religionsgelehrten als religionsfeindlich beschrieben wird. Europäische Muslime könnten hier andere Erfahrungen einbringen und dazu beitragen, einen europäischen Islam zu entwickeln, in dem das Verhältnis zu anderen Religionen und zur Säkularität neu definiert und dabei eine neue kontextuelle Theologie entwickelt wird. Den Abschluss des Bandes bildet der Beitrag des Leiters des Instituts für Jüdische Studien, Alfred Bodenheimer (Basel, Schweiz). Mehr und anders als bei jenen Religionsgruppen, die in Geschichte und Gegenwart von Migration betroffen sind, ist bei den Juden die religiöse oder ethnische Zugehörigkeit zum Judentum ursächlich mit ihrer Migration verbunden. Am Beispiel Frankreichs und Deutschlands beschreibt Bodenheimer, wie Migration in den vergangenen Jahrzehnten das europäische Judentum vollständig verändert hat. Ungeachtet

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massiver Schübe jüdischer MigrantInnen befindet sich das europäische Judentum aber derzeit in einem Reduktionsprozess, dessen Ursachen Bodenheimer darlegt: Überalterung, niedrige Geburtsraten sowie eine hohe Rate von gemischten Ehen. Auch wenn Emigration derzeit bei den Veränderungen keine entscheidende Rolle spielt, bildet sie dennoch eine denkbare Option für Juden und Jüdinnen – zumal der (insbesondere muslimische) Antisemitismus in Europa ein gravierendes Problem darstellt. Die Zeit der „europäischen Epoche“ des Judentums scheint jedenfalls vorbei zu sein. Natürlich wären noch weit mehr Detailstudien zu Transformationsprozessen im Zusammenhang mit Migration und Religion denkbar. Man könnte weitere gesellschaftliche und religiöse Veränderungen in und durch nicht-christliche Religionsgemeinschaften wie z. B. bei Buddhisten, Hindus, Sikhs u. a. beschreiben oder auch die ganze Variationsvielfalt des Christentums mit orientalischen, pfingstlerisch-charismatischen, evangelikalen Gemeinschaften aus verschiedenen Ländern thematisieren. Auch andere Disziplinen – Rechtswissenschaft, Internationale Entwicklung, Geschichtswissenschaft, Philosophie, Psychologie – sind für die Erforschung der Thematik unverzichtbar. So beansprucht die Studie keineswegs, alle theoretischen Ansätze aller Wissenschaftsdisziplinen vorzustellen, die es gegenwärtig zu dem Thema Migration und Religion gibt. Dies würde den Rahmen und die Möglichkeiten der Publikation sprengen. Wir hoffen dennoch, dass wir mit dieser Studie zu weiteren Forschungsarbeiten in diesem noch vergleichsweise unbearbeiteten Feld anregen können. Die Thematik wird Religionsgemeinschaften, die Gesellschaft und verschiedene Wissenschaftsdisziplinen in den folgenden Jahrzehnten mit Sicherheit noch intensiv beschäftigen. Wien, im Februar 2014

Regina Polak und Wolfram Reiss

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Einleitung

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Teil 1 Theoretische Ansätze zur Bedeutung von Religion im Kontext von Migration aus interdisziplinärer Sicht

Tariq Modood

Befindet sich der Säkularismus in Westeuropa in der Krise?1

1.

Einführung

Der politische Säkularismus in Westeuropa ist durch drei unvorhergesehene Faktoren ins Wanken geraten: 1) die Einwanderung und Niederlassung einer großen Anzahl muslimischer MigrantInnen; 2) eine sensiblere Einstellung gegenüber Multikulturalität, die multikulturelle Differenz respektiert; 3) das Erscheinen eines moderaten Säkularismus, der historische Kompromisse zwischen Staat und Kirche respektive Religionsgemeinschaften weiterhin bestehen lässt und diesen zumindest teilweise eine öffentlich-rechtliche Anerkennung und staatliche Unterstützung einräumt. Der radikale Säkularismus und der Laizismus scheinen unter Druck zu stehen, aber die dominante Variante des Säkularismus befindet sich keinesfalls in einer Krise und bietet sich sogar als Ressource an – in einer angemessenen multikulturellen Form – um der neuen religiösen Pluralität in Europa Rechnung zu tragen. Die sogenannte „Krise des Säkularismus“ ist daher eine Herausforderung für den Multikulturalismus. Unter Säkularismus, genauer unter politischem Säkularismus, verstehe ich institutionelle Vereinbarungen, die religiöse Autorität und religiöse Begründungen von politischer Autorität und politischen Begründungen unterscheiden. Politische Autorität ruht demnach nicht auf religiöser Autorität und wird auch nicht von dieser dominiert. Die Unterstützung dieser institutionellen Trennung kann durchaus auch durch eine Religion oder religiöse Autorität erfolgen, wird mit Sicherheit auch von vielen religiösen Menschen befürwortet und kann auch religiös begründet werden.2 Auf Grundlage dieser sehr breiten Definition von 1 Vgl. Modood, Tariq. 2012. „2011 Paul Hanly Furfey Lecture: Is There a Crisis of Secularism in Western Europe?” In: Sociology of Religion 73 (2), 130 – 149. Der folgende Beitrag ist die vom Verfasser autorisierte deutsche Erstübersetzung. Übersetzung von Martin Stechauner (Wien), mit Unterstützung durch Kommentare von Jan Dobbernack (Bristol) beim Erstentwurf der Übersetzung. 2 „So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!” (vgl. Mt 22,21) ist offensichtlich eine politische Auffassung biblischen Ursprungs.

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politischem Säkularismus lässt sich jedoch keine notwendige und absolute Trennung von Religion und Politik einfordern – oder gar eine feindliche Haltung des Staates gegenüber Religion. Doch auch derart radikale Ansichten zählen zu den Spielarten des politischen Säkularismus. Viele institutionelle Arrangements, politische Anschauungen und Ideologien, egal ob demokratisch oder undemokratisch, liberal oder autoritär, Religion gegenüber grundsätzlich positiv oder negativ eingestellt, stimmen mit dieser minimalen Definition von Säkularismus überein: das Nicht-Dominiert-Werden politischer Autorität durch religiöse Autorität. Dieser Gedanke scheint mir zentral für die Moderne und stellt eine der dominantesten Ideen des 20. Jahrhunderts dar. Ich will damit nicht sagen, dass alle Menschen in modernen Gesellschaften mit dieser Anschauung übereinstimmen. Wie alle politischen Ideen kommt auch diese nicht unter allen realen Bedingungen zum Tragen und außerdem sind niemals alle Menschen in einem konkreten Sachverhalt einer Meinung. Trotzdem ist der politische Säkularismus, ähnlich wie Demokratie, eine hegemoniale Idee, die von den meisten Menschen aktiv wie passiv unterstützt wird und gegen die nur wenige Einwände vorbringen. Immer mehr WissenschaftlerInnen sind sich einig, dass in säkularen Gesellschaften in jüngster Zeit höchst bedeutsame, möglicherweise sogar epochale Umwälzungen stattfinden. In etablierten, modernen Gesellschaften wird Kritik an dieser als selbstverständlich geltenden Idee laut und in aufstrebenden, modernen Gesellschaften scheint man nicht mehr einfach jenen Weg einschlagen zu wollen, der zum historischen Aufstieg des politischen Säkularismus im Westen geführt hat. Im Zentrum meines Interesses steht vor allem Westeuropa. Jürgen Habermas, der sich besonders auf Westeuropa bezieht, hat bekanntermaßen darauf hingewiesen, dass wir gegenwärtig Zeugen des Übergangs von einer säkularen zu einer „post-säkularen“ Gesellschaft sind. In dieser müssen die „säkularen Bürger“ den „religiösen Bürgern“ den lange vorenthaltenen Respekt zollen; auch religiösen Menschen sollte es erlaubt sein – ja, man sollte sie sogar dazu ermutigen – Aspekte der modernen Gesellschaft zu kritisieren und auf der Basis ihrer religiösen Ansichten Lösungen für die anstehenden Schwierigkeiten zu finden.3 Anstatt Religion als ein subrationales Phänomen oder ausschließlich als Privatsache zu betrachten, soll Religion wieder als legitime Basis für öffentliches Engagement und politisches Handeln dienen dürfen. Manche Wissenschaftler sind einen Schritt weiter gegangen und sprechen von einer globalen Krise. Selbst durchaus besonnene unter ihnen sprechen heute von „einer gegenwärtigen Krise des Säkularismus“4 und davon, dass „sich heutzutage poli3 Vgl. Habermas 2006. 4 Scherer 2010, 4.

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tische Säkularismen in nahezu jedem Teil der Welt in der Krise befinden“5. Oliver Roy schreibt in seiner Analyse über Frankreich von „der Krise des säkularen Staates“6 und Rajeev Bhargava7 von der „Krise des säkularen Staates in Europa“8. Selbstverständlich gibt es mittlerweile eine einflussreiche, vor allem soziologisch geprägte These über die weltweite „Desäkularisierung“ und die Entwicklung moderner Ökonomien und Institutionen, ohne dabei einen Rückgang von religiöser Überzeugung und Praxis festzustellen, beziehungsweise sogar einen Umkehrtrend vorangegangener Verfallsprozesse.9 Mein Interesse beschränkt sich auf das Phänomen der öffentlichen Religion und auf die Art und Weise, wie sich Religion aus ihrer politischen Marginalisierung befreit. Überall auf der Welt protestieren religiöse Gruppen gegen ihre offensichtliche Degradierung und Marginalisierung im öffentlichen Raum. Viele fühlen sich tatsächlich oder potentiell an den Rand gedrängt, sowohl in kultureller als auch in politischer Hinsicht, und befürchten den Platz im öffentlichen Raum zu verlieren, der religiösen Gruppen rechtmäßig, wenigstens teilweise, zustehen sollte.10 Dieser Zustand führt nicht selten zu Protesten und zu einer mitunter zornigen Politik der Selbstbehauptung. Während sich die Protestierenden in den meisten Teilen der Welt um die Wiederherstellung einer realen – oder wohl eher imaginierten – Vergangenheit bemühen und versuchen ein „Goldenes Zeitalter“ wiederherzustellen, wie es vor ihrer Marginalisierung vorgeherrscht haben soll, sind derartige Initiativen in Westeuropa nicht zu beobachten.11 Während in vielen Regionen der Welt das Gefühl vorherrscht, dass eine religiöse Mehrheit marginalisiert wurde oder wird, thematisiert in Westeuropa nur eine Minorität ihre Marginalisierung. So kämpfen religiöse Agitatoren in den USA, in der islamischen Welt und in Indien um den Stellenwert und ein Re-Empowerment der religiösen Bevölkerungsmehrheit, um das Land nach den Vorstellungen dieser Mehrheit zu gestalten. Im Gegensatz dazu geht es in Europa vor allem um den Status und die gesellschaftliche Anerkennung religiöser Minderheiten, die auf das Recht pochen, jene Länder mitzugestalten, in denen sie Aufnahme gefunden haben. Insofern stellt auch die dominierende Religion in Europa, das Christentum, eine neue Art der politischen Selbstbehauptung zur Schau. Dies ge5 Jak¦lic 2010, 3. 6 Roy 2007. 7 Bhargava glaubt jedoch nicht, dass sich diese Krise allein auf Europa beschränkt; vgl. auch: Zucca 2009. 8 Bhargava 2010; 2011. 9 Berger 1999. 10 Jurgensmeyer 1994; Marty / Appleby 1994. 11 In der These Peter Bergers über die Desäkularisierung stellt „Europa westlich des ehemaligen eisernen Vorhangs“ eine absolute Ausnahme dar; vgl. Berger 1999, 9.

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schieht jedoch in erster Linie als Reaktion auf die Präsenz neuer religiöser Minoritäten und deren politischer Bestrebungen sowie im Kontext der Erosion christlichen Glaubens und der Kirchenmitgliedschaft. Zwar reagiert die Mehrheit der Bevölkerung durchaus mit Wohlwollen auf multikulturelle und multireligiöse Entwicklungen, doch ist innerhalb der Gesellschaft auch eine verstärkt säkularistische und dem Christentum gegenüber ablehnende Haltung spürbar. Die Mehrheitsgesellschaft beschäftigt sich eher mit der Rolle von Minoritäten. Der wahrgenommene Druck seitens des Säkularismus spielt hingegen kaum eine bis gar keine Rolle. Nicht das Wiedererstarken von Religion stellt also eine Herausforderung dar, sondern das Aufkommen eines ethno-religiösen Multikulturalismus. In der Tat ist die Antwort seitens der Mehrheitsgesellschaft, insbesondere in Frankreich, als Säkularismus oder Neo-Säkularismus zu verstehen, und nicht als „Postsäkularismus“.

2.

Die Integration muslimischer MigrantInnen in Westeuropa

In Westeuropa ist keine Entschleunigung der Säkularisierung in Bezug auf institutionalisierte Religion, Kirchgang und traditionell-christlichen Glauben sowie traditionell-christliche Praxis feststellbar. In Großbritannien fiel so zum Beispiel die regelmäßige Teilnahme an Gottesdiensten bei der weißen Bevölkerung stetig von 20 % (1983) auf 15 % (2008). Dieser Trend zeichnete sich bei jüngeren Personengruppen noch deutlicher ab.12 Dies bedeutet nicht, dass Religion im Begriff ist zu verschwinden oder bereits verschwunden ist, doch für viele ist Religion mittlerweile eine Art von „Glauben ohne Zugehörigkeit“13 („belief without belonging“), Spiritualität14 oder „implizite Religion“15 („implicit religion“). Glaubten Mitte des 20. Jahrhunderts beispielsweise noch 40 % der Bevölkerung an Gott, waren es am Ende des Jahrhunderts nur noch 30 %. Dagegen blieb der Glaube an ein übernatürliches Wesen („spirit“) oder an eine Lebensquelle („life source“) unverändert bei 35 – 40 %. Der Glaube an eine Seele, der in den 1980ern noch bei weniger als 60 % lag, ist bis heute sogar um 5 – 10 % gestiegen.16 Alle diese Veränderungen sind mit dem politischen Säkularismus, wenn nicht sogar mit dem Szientismus oder der rationalistischen Philosophie vereinbar. Gleichwie: Ob nun der Rückgang der traditionellen Religion zu einer Zunahme von Religionslosigkeit oder neuen Formen von Religiosität und Spiritualität führt: Diese Entwicklungen stellen in keinem Fall eine Herausforde12 13 14 15 16

Vgl. Voas / Crockett 2005; BRIN 2011; Kaufmann / Goujon / Skirbekk 2012. Davie 1994. Heelas / Woodhead 2005. Bailey 1997. Vgl. BRIN 2011.

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rung für den politischen Säkularismus dar. Nicht-traditionelle Formen des Christentums oder post-christliche Religionen in Westeuropa suchen zumeist keinen Kontakt zu politischen Institutionen oder der Regierung eines Landes und versuchen erst gar nicht, diese zu reformieren. Sie streben weder nach staatlicher Anerkennung und politischer Einbindung noch nach politischer Macht.17 Nach Jahrzehnten der Einwanderung teilen die urbanen Gesellschaften Europas heute die ethnische Diversität, die lange Zeit charakteristisch für die USA war, mit diesen.18 Gegenwärtig sind etwa 20 – 35 % der EinwohnerInnen der großen urbanen Zentren Nordwesteuropas, vornehmlich in den Hauptstädten, nicht-weißer ethnischer Herkunft (d. h. Menschen außereuropäischer, inkl. türkischer Herkunft). Auch ohne weitere Einwanderungswellen werden diese Bevölkerungsschichten, die statistisch gesehen jünger sind und sich durch eine höhere Geburtenrate auszeichnen, in Zukunft weiter wachsen, zumindest für die Dauer von ein oder zwei Generationen, bevor dieses Wachstum schließlich stagnieren wird. In manchen Städten wird der Anteil der Bevölkerung nichteuropäischer Herkunft binnen weniger Jahrzehnte, oder sogar noch früher, 50 % oder mehr betragen. In einigen urbanen Zentren Südeuropas zeichnet sich ein ähnlicher Trend ab. Dennoch besteht ein gravierender Unterschied zwischen Westeuropa und den USA: im Gegensatz zu den USA sind die meisten außereuropäischen MigrantInnen in europäischen Ländern MuslimInnen.19 Mit schätzungsweise 12 bis 17 Millionen MuslimInnen, die heute in Westeuropa leben, macht die muslimische Bevölkerung, gemessen an der Gesamtbevölkerung, nur etwa 3 – 5 % innerhalb der ehemaligen EU-15 aus. Diese verteilen sich relativ gleichmäßig auf die größeren Staaten.20 In den Großstädten ist der Anteil an MuslimInnen jedoch um ein Vielfaches höher und, im Vergleich zur übrigen Bevölkerung, stark im Steigen.21 Die Ausschreitungen in den banlieues von Paris und in anderen Teilen Frankreichs, die Affäre um die Mohammed-Karikaturen in Dänemark und andere Konflikte, die mit der Verletzung religiöser Befindlichkeiten und der Meinungsfreiheit einhergehen, sowie die sich ausweitenden 17 In manchen Fällen versucht der Staat zwar gewisse soziale Verantwortungen an Dritte weiterzugeben, doch geschieht dies meist nicht vor dem Hintergrund eines Umdenkens in Bezug auf die Säkularisierung oder auf das Christentum, sondern aus wirtschaftlichen oder anderen Überlegungen heraus (z. B. Kürzung von Staatsausgaben). 18 Zwar ist das Vorhandensein einer afroamerikanischen Minderheit in den USA kein Resultat von Migration, sondern eine Folgeerscheinung der Sklaverei, doch ist die urbane Gentrifizierung durchaus mit Phänomenen wie Binnenmigration und der Ankunft weiterer Migrationsgruppen erklärbar. 19 Eine Ausnahme stellt das Vereinigte Königreich dar ; hier bekennt sich nur etwa ein Drittel aller nicht-weißen MigrantInnen bzw. Angehörigen einer ethnischen Minderheit zum Islam. 20 Vgl. Peach 2007; Pew Forum 2010. 21 Vgl. Lutz / Skirbekk / Testa 2007.

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Verbote, die die verschiedenen Kleidungsformen muslimischer Frauen betreffen, sind nur einige Beispiele in einer Serie von Konflikten, die zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Minoritäten bestehen. So spielen Fragen zu Integration, Gleichberechtigung, Rassismus und Islam, besonders in Bezug auf Terrorismus, Sicherheit und Außenpolitik, innerhalb der europäischen Politik eine zentrale Rolle. Das Hauptthema, das das eingangs erwähnte Bewusstsein einer Krise des Säkularismus in Westeuropa antreibt, ist die Frage nach religiösen Identititäten oder solchen, die ethno-religiös sind oder als solche wahrgenommen werden (so werden in Großbritannien Menschen, die ursprünglich aus Pakistan und Bangladesch stammen, als „Muslime“ bezeichnet, in Frankreich hingegen, als „Menschen arabischer Herkunft“). In multikulturellen Gesellschaften steht der Säkularismus vor Herausforderungen, mit welchen die europäische Politik noch länger intensiv zu kämpfen haben wird. Diese stellten sich im Europa der Nachkriegszeit allerdings erst durch die aktive Anwerbung billiger Arbeitskräfte aus dem Ausland und durch den verstärkten Zuzug von MigrantInnen aus den ehemaligen europäischen Kolonien. Jedoch beschränken sich diese Herausforderungen nicht allein auf den Säkularismus, sondern betreffen viele gesellschaftliche Bereiche: die sozioökonomische Benachteiligung von Minoritäten und deren Diskriminierung am Arbeitsmarkt spielen dabei ebenso eine Rolle wie der verfassungsrechtliche Status von Minderheiten und die Arbeitsbeziehung mit dem Staat. Darüber hinaus gibt es aber keine Anzeichen dafür, dass das Bewusstsein für derartige Herausforderungen erst durch den Terrorismus hervorgerufen wurde, denn schon vor den Anschlägen des 11. Septembers 2001 zeichnete sich dieser Trend ab. Auch die Tatsache, dass vor allem MuslimInnen, im Gegensatz zu anderen MigrantInnen-Gruppen, vermehrt mit gewaltsamen Demonstrationen und Ausschreitungen in Verbindung gebracht werden, ist für diese Bewusstseinssteigerung nicht ausschlaggebend, denn auch andere Gruppen werden in der Öffentlichkeit mit diesen Phänomenen assoziiert (wie z. B. afro-karibische EinwanderInnen in Großbritannien). Interessanterweise werfen diese Assoziationen aber keine derart tiefgreifenden, normativen Fragen auf wie im Zusammenhang mit MuslimInnen. Das gesteigerte Bewusstsein hinsichtlich dieser Herausforderungen lässt sich auch kaum mit der verstärkten gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit konservativen (islamistischen) Werten, besonders in Bezug auf Gender und Sexualität, erklären, obwohl hier schon mehr Querverbindungen sichtbar werden. Das zentrale Element dieser Herausforderung ist die Priorität, die der Religion als Basis von Identität, Organisation, politischer Repräsentation und normativer Rechtfertigung zugewiesen wird. Lange Zeit wurde angenommen, dass Religion in Europa im Großen und Ganzen keine Rolle mehr spielen würde (von ein paar Ausnahmefällen, wie z. B. Nordirland, abgesehen), bis Mus-

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limInnen in einigen westeuropäischen Ländern plötzlich begannen, sich öffentlich zu ihrer Identität zu bekennen. In der Wissenschaft hatten manche gedacht, dass Kategorien wie Gender, Ethnizität oder gesellschaftliche Stellung einen besonderen Stellenwert einnehmen sollten; andere wiederum waren der Meinung, dass keine dieser gesellschaftlichen Kategorien in Bezug auf Identität und Selbstbild eine besondere Rolle spielen sollte; aber nur sehr wenige dachten, dass gerade Religion dazu auserkoren sein würde, diese Vorrangstellung einzunehmen.22

3.

Multikulturalismus

Es ist nicht die bloße Anwesenheit von MuslimInnen bzw. die Präsenz des Islam, die Europa vor Herausforderungen stellt. Diese ergeben sich erst in Verbindung mit Werten, die in europäischen Staaten und in der europäischen Politik vorherrschen. Im Besonderen sollten wir – hinsichtlich der politischen Ansichten, Normen und Praktiken – unsere Aufmerksamkeit auf zwei Schlüsselfaktoren lenken, die unabhängig von muslimischer Migration eine gewisse Rolle gespielt haben. Diese Faktoren jedoch eröffneten MuslimInnen in Europa (politische) Möglichkeiten, denen sie sich anpassten und die sie zu nutzen wussten. Heute löst diese Situation bei vielen Menschen innerhalb der säkularen Mehrheitsgesellschaft Ängste aus. Der erste Faktor hat nicht etwa mit Säkularismus, Desäkularisierung oder einem positiven Stellenwert der Religion in der Öffentlichkeit zu tun, sondern mit dem Anspruch auf Anpassung seitens der westlichen Politik an gesellschaftliche Minoritäten sowie mit normativen Standpunkten gegenüber Minoritäten. Diese Debatten und Prozesse lassen sich unter dem Sammelbegriff „Multikulturalismus“ zusammenfassen. All jene Diskurse und Praktiken, die sich mit Themen wie Nicht-Diskriminierung, Rechtsstatus, wechselseitiger Anpassung und gegenseitigem Respekt auseinandersetzen, wurzeln in den maßgebenden Debatten, Normen und Gesetzgebungen Westeuropas – die gleichwohl sehr vom Meinungsklima anglophoner Einwanderungsländer wie den USA, Kanada oder Australien beeinflusst wurden: allesamt Staaten, die auf eine lange Kolonial- oder Migrationsgeschichte zurückblicken. Nach ihrer Ankunft in Europa begannen sich muslimische wie nicht-muslimische MigrantInnen an diesen Diskursen zu beteiligen, was dazu führte, dass sie ihre Stellung und ihren Zugang zu Ressourcen mit jenen anderer gesellschaftlicher Gruppen in Westeuropa zu vergleichen begannen. Davor hatten in erster Linie die Her22 Vgl. Modood 2005; Modood / Triandafyllidou / Zapata-Barrero 2006.

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kunftsländer („homelands“) als wichtige Referenzpunkte gedient.23 Der zweite Faktor, den ich hervorheben möchte, bezieht sich auf die Verbindungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften in westeuropäischen Ländern, also auf das, was ich als moderaten Säkularismus („moderate secularism“) bezeichne. Das Konzept einer multikulturellen (Staats-)Bürgerschaft („multicultural citizenship“) bezieht sich auf jene Ideen, jenes Ethos und jene Politik der Differenz, die eine Artikulation und eine Legitimierung (aber auch Nicht-Legitimierung) spezieller Forderungen zulassen, und zwar auf eine Art und Weise, die als allgemein akzeptabel und befriedigend erachtet wird. Kurz gesagt meine ich damit drei Dinge:24 1) Kritik an jenen Darstellungen politischer Systeme, die auf universellen Normen und Rechten beruhen; dazu zählen auch die liberalen Demokratien Westeuropas. Diese Kritik bezieht sich vor allem auf ihr Verständnis von liberalen Normen und Rechten, die von einzelnen historischen Traditionen und Nationalkulturen beeinflusst wurden, was nur eine sehr einseitige Interpretation bestimmter Ideen, wie z. B. das Verhältnis von Individuum und Gruppe, die Abgrenzung zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre, von Rechten und Pflichten zulässt. Diese engstirnige Interpretation führt de facto zu einer citizenship zweiter Klasse für all jene, die sich mit dieser Kultur nicht identifizieren können, oder die innerhalb dieser keine Privilegien erfahren. 2) Trotz des Ideals der rechtlichen Gleichstellung aller Individuen innerhalb der Gesellschaft sehen sich viele Menschen nicht einfach nur als BürgerInnen (bzw. werden von anderen nicht als solche wahrgenommen), sondern auch als Angehörige einer bestimmten Gruppe: z. B. als Frauen, Menschen mit dunkler Hautfarbe oder als MuslimInnen. Diese Identitäten werden Menschen meist als Kennzeichen sozialer Minderwertigkeit auferlegt. Gleichzeitig können diese identitätsstiftenden Marker aber auch das Selbstbild und den Stolz von Menschen formen und sie zum Widerstand gegen degradierende Zuschreibungen animieren. 3) Wenn wir weiterhin so tun, als würden derartige Gruppenidentitäten nicht (mehr) existieren, kann keine echte Gleichberechtigung zwischen historisch privilegierten und benachteiligten Gruppen innerhalb eines Staates zustande kommen. Hinsichtlich des noch immer weit verbreiteten Rassismus gegenüber Menschen einer anderen Hautfarbe kann man diese Vortäuschung als farbenblinde Politik bezeichnen, und analog dazu auch von Blindheit gegenüber Gender und MuslimInnen sprechen, auch in Bezug auf Bürgerrechte. Es steht außer Frage, dass für eine umfassende Gleichheit nicht nur eine Politik von 23 Dass man innerhalb islamischer Diskurse viele dieser Ansätze weiterzuentwickeln begann bzw. keinen Widerspruch darin sah, westliche Ideale und Errungenschaften (z. B. jene von FeministInnen, VerfechterInnen einer multikulturellen Gesellschaft, Anti-ImperialistInnen etc.) auch zu islamischen Idealen zu erklären, ist ein Faktum, dem in der Vergangenheit leider kaum Aufmerksam geschenkt wurde. Vgl. z. B. Safi 2003. 24 Vgl. ausführlich dazu: Modood 2007.

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Nöten ist, die alle Bürger gleich behandelt, sondern dass zusätzlich Strategien, Institutionen und Diskurse der Anerkennung („recognition”) erforderlich sind.25 Erst so lässt sich erkennen, dass manche gesellschaftliche Gruppen Opfer von Diskriminierung sind und Gruppenidentitäten besitzen, die weder aus unserer Gesellschaft verschwinden noch zum Verschwinden genötigt werden sollen. Der beste Weg hingegen ist eine Politik des Respekts, die es vermag, diese negativ bewerteten Identitäten in positive umzuwandeln, sowie auch eine allgemeine Neujustierung unseres Verständnisses von (Staats-)Bürgerschaft und Nationalität erreicht, um all diese Identitäten mit einbeziehen zu können. Dies ist mein Verständnis von politischem Multikulturalismus, beruhend auf den Ideen politischer TheoretikerInnen wie Charles Taylor, Bhikhu Parekh, Iris Young und Will Kymlicka. Dennoch bin ich mir darüber im Klaren, dass die meisten PolitikerInnen, JournalistInnen und KommentatorInnen sozialer Phänomene in Westeuropa dem Multikulturalismus eher kritisch gegenüber stehen und ein anderes Verständnis dieses Konzepts haben.26 Folgenden Punkt möchte ich herausstreichen: Die Diskussion über die Aufnahme von MuslimInnen in unsere Gesellschaft erhält ihren multikulturellen Charakter erst durch die Art und Weise, wie diese Ideen und Rhetoriken präsentiert, adaptiert und diskutiert werden. Wird also über die Integration von MuslimInnen in Westeuropa gesprochen, wird gleichzeitig auch über Multikulturalismus debattiert. Doch faktisch verhält es sich genau umgekehrt: in Westeuropa über Multikulturalismus zu sprechen, bedeutet heute vor allem über die Vor- und Nachteile der Integration von MuslimInnen zu sprechen.

4.

Der moderate Säkularismus

Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass alle westeuropäischen Länder säkulare Staaten sind und zwar hinsichtlich ihres Vokabulars, ihrer Vorstellungen und ihrer institutionellen Verfahrensweisen; wenngleich jedes Land zugleich sein eigenes Verständnis davon hat, was Säkularismus im Speziellen bedeutet. Nichtsdestotrotz lassen sich allgemein zwei Ausprägungen des Säkularismus beschreiben: 1) eine historische, die ich als moderaten Säkularismus bezeichnen möchte, sowie 2) eine weniger bedeutende Spielart, die sich vor allem im französischen Laizismus zeigt. Dieser versucht einen öffentlichen Raum zu kreieren, in dem Religion im Namen der Vernunft und Emanzipation ausgeschlossen wird, und in dem religiöse Einrichtungen der Aufsicht des Staates unterworfen sind. Der Mainstream der europäischen Länder hingegen betrachtet Religion 25 Vgl. Taylor 1994. 26 Vgl. Modood 2007; 2011.

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keinesfalls als ausschließlich privates, sondern als potentiell öffentliches Gut und als eine Ressource von nationalem Interesse; unter Umständen bemüht sich der Staat auch um die Förderung dieser Ressourcen – sogar durch die Etablierung einer (Staats-)Kirche.27 Eine derartige Kooperation kann einen direkten öffentlichen Nutzen nach sich ziehen, zum Beispiel durch die Arbeit, die autonome kirchliche Organisationen im Erziehungs- und Sozialwesen leisten (finanziert durch den Steuerzahler); oder aber es handelt sich um einen indirekten Nutzen, wie zum Beispiel die Förderung von Einstellungen, die ökonomische Perspektiven oder familiäre Stabilität schaffen. Diese Gesinnungen stehen oft in einem engen Zusammenhang mit der nationalen Identität, dem kulturellen Erbe, den ethischen Standpunkten und Nationalfeierlichkeiten eines Landes. Westeuropa ist seit jeher ein Ort der Auseinandersetzung zwischen Kirchen und AnhängerInnen des politischen Säkularismus. Dennoch haben diese Auseinandersetzungen – insbesondere in Ländern mit protestantischer Bevölkerungsmehrheit – im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert nur selten, wenn überhaupt, zu Konflikten geführt. Vielmehr kam es zu verschiedenartigen und wechselnden Kompromissen zwischen beiden Seiten. Diese wechselseitigen Abkommen beruhen auf einer erfolgreichen Eingliederung christlicher Kirchen in staatliche Prozesse, in ökonomischer wie auch in symbolischer Hinsicht. Zugleich ging diese Eingliederung auch mit einer graduellen, ja sogar einer entscheidenden Schwächung der öffentlichen und politischen Stellung von Kirchen einher. In den 1960er Jahren bis zum Ende des 20. Jahrhunderts erfuhr die meinungsbildende, politische Bewegung des Säkularismus einen besonders großen Aufschwung. Die kulturelle Revolution der 1960er Jahre wurde in Westeuropa weitgehend positiv aufgenommen und von keiner breitangelegten, anhaltenden Gegenbewegung bekämpft. So gelang es dieser Bewegung, ihren Einfluss – ausgehend vom protestantischen Nordwesten Europas – auch in vorwiegend katholischen Ländern auszuweiten. Beispielsweise war das nationalpartikulare System der Niederlande mit seiner „Versäulung” („verzuiling”), das Protestanten und Katholiken einen getrennten Zugang zu staatlichen Ressourcen ermöglichte und im 19. Jahrhundert entstanden war, bereits Mitte des 20. Jahrhunderts im Niedergang begriffen und wurde 1983 formell außer Kraft gesetzt. Die staatskirchliche Stellung der lutherischen Kirche Schwedens wiederum wurde im Jahr 2000 abgeschafft. Im Vereinigten Königreich wurde die Abschaffung der Church of England in den frühen 1990er Jahren von vielen befürwortet. Dies geschah mit Zustimmung der Liberal Democrats, der dritten Kraft des Landes, unter Einflussnahme des Institute of Public Policy Research28,

27 Vgl. Modood 2010. 28 IPPR war der wahrscheinlich einflussreichste Think-Tank Großbritanniens in den 1990er

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wie auch des linken Flügels der Labour Party und mit Unterstützung zweier nationaler links-liberaler Zeitungen.29 In den katholischen Ländern Italien, Spanien, Portugal und Irland waren in den 1980er und 1990er Jahren ähnliche Säkularisierungsprozesse wie in protestantischen Ländern zu beobachten.30 Damit ist Religion im öffentlichen Raum aber keinesfalls vollkommen verschwunden, geschweige denn, dass sie ihre formalen Verbindungen zum Staatsapparat und ihre direkten Zugänge zu Regierungen verloren hat. Mitunter gab es zwar einen Trend hin zu einer geringeren öffentlichen Anerkennung von Religion, jedoch sind Entwicklungen in diese Richtung noch zu keinem Abschluss gekommen; nicht einmal in Frankreich. Genauso wenig wurde die Politik seitens organisierter Religion oder durch religiöse Konflikte ernsthaft herausgefordert (als eine der wenigen Ausnahmen bestätigt Nordirland die Regel). Da Religion in Westeuropa in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts öffentlich kaum sichtbar war, blieb ihr Platz innerhalb der Gesellschaft relativ unumstritten. Im Allgemeinen herrscht die Meinung vor – die womöglich auch von vielen religiösen Menschen und sogar von religiösen Lobbies geteilt wird –, dass die abnehmende Präsenz von Religion im öffentlichen Raum ein irreversibler Trend sei und immer noch besser als politische Auseinandersetzungen, die entweder eine Umkehrung oder eine vehemente Durchsetzung dieses Trends zum Ziel haben. Religion hat nicht aufgehört öffentlich zu sein, aber weil sie heutzutage für viele kaum eine Herausforderung oder eine Gefahr darstellt, erfährt sie weniger Aufmerksamkeit. So schenkten auch die Medien politischen Botschaften mit religiösem Inhalt oder angeführt von religiösen Politikern weniger Aufmerksamkeit als zum Beispiel Protesten gegen Rassismus oder für den Umweltschutz.

5.

Reaktionen auf die öffentliche Selbstbehauptung von MuslimInnen

Dies also ist der Kontext bei der Ankunft und Ansiedlung nicht-christlicher MigrantInnen in Europa. Bereits die erste, aber besonders die darauf folgende Generation begann alsbald eine aktive Rolle in der Gesellschaft einzunehmen und forderte in Folge auch politische Zugeständnisse ein, die ihre Gleichberechtigung und Integration in die Gesellschaft betrafen. Die multikulturellen Herausforderungen und die zunehmende Schwächung des politischen EinflusJahren und einer der Hauptakteure bei der Erneuerung der Labour Party in der PostThatcher-Ära. 29 Nähere Details hierzu: Vgl. Modood 1992, 85; 1994. 30 Vgl. Davie 1999, 69 – 70; Davie 2002, 6 – 7.

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ses von christlichen Kirchen, besonders jener der Staatskirchen, fanden etwa zur selben Zeit statt. Die Überschneidung dieser beiden Entwicklungen wird am besten am Beispiel zweier politischer Initiativen in den Niederlanden im Jahre 1983 deutlich: In jenem Jahr, als das nationale System der „Versäulung”, das aus dem Land einst einen bi-religiösen Staat gemacht hatte, formell außer Kraft trat, wurde ein neues Minderheitenprogramm, die „Nota Minderhedenbeleid”, ins Leben gerufen.31 Dieses Programm schuf für die ethnischen Minderheiten innerhalb der Post-Migrationsgesellschaft (die „Allochthonen”) eine eigene kleine Säule, was diesen den Zugang zu staatlichen Förderungen ermöglichte, um beispielsweise konfessionelle Schulen und ethnisch-religiöse Radio- und Fernsehsender betreiben zu können, aber auch andere Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung der eigenen Kultur.32 Einige Maßnahmen dieser Politik wurden in den 1990er Jahren wieder außer Kraft gesetzt; doch abgesehen davon markierte der Zeitraum zwischen 1988 und 1989 nicht nur in den Niederlanden einen markanten Schlüsselmoment. Dieser Zeitraum wurde, mehr oder weniger zufällig, von zwei Ereignissen in besonderer Weise geprägt. Diese führten zu nationalen wie internationalen Debatten und setzten politische Entwicklungen in Bewegung, die bis heute anhalten und den beiden vorherrschenden Spielarten des Säkularismus in Westeuropa zwei grundsätzlich verschiedene Reaktionen auf die Anwesenheit von MuslimInnen bieten. Bei diesen Ereignissen handelte es sich zum einen um die Proteste gegen Sir Salman Rushdies Roman Die satanischen Verse in Großbritannien und zum anderen um die Entscheidung eines französischen Schulleiters, der drei Mädchen so lange den Zutritt auf das Schulgelände verweigerte, bis diese einwilligten, ihre Kopftücher abzunehmen. Das Buch Die satanischen Verse wurde im Vereinigten Königreich nicht, wie von vielen Protestierenden gefordert, verboten. Im Laufe des Protests zeigten sich immer mehr Menschen schockiert über das Verhalten einiger MuslimInnen, besonders über jene, die das Leben des Autors bedrohten, und distanzierten sich von deren Forderungen. Insofern verfehlte die Kampagne der muslimischen DemonstrantInnen ihr Ziel. Nichtsdestotrotz wurde der Zusammenhalt unter denjenigen gestärkt, die eine demokratische, multikulturelle Gesellschaft forderten, die auch MuslimInnen miteinschließen sollte. Anlässlich der Proteste wurde ein nationales Organ ins Leben gerufen (das UK Action Committee on Islamic Action), das zunächst dazu gedacht war, die islamischen Hauptströmungen im Vereinigten Königreich zu bündeln und zu repräsentieren. Später jedoch wurde dieses Organ auf Betreiben beider Großparteien, insbesondere von New Labour, in eine Lobby umfunktioniert, die die Interessen von Mus31 Vgl. Bader 2011; Lentin / Titley 2011, 107 – 108. 32 Vgl. Bader 2011.

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limInnen gegenüber dem Staat vertreten sollte. Diese neue Dachorganisation, das Muslim Council of Britain (MCB) beriet die regierende Labour Party von 1997 bis zum Ende des darauffolgenden Jahrzehnts, als die Regierung beschloss, sich nach neuen Gesprächspartnern umzusehen. Das MCB war bei der Umsetzung seiner Gründungsagenda sehr erfolgreich.33 Bis 2001 gelang es dieser Dachorganisation eine grundlegende Forderung durchzusetzen, der zufolge Themen mit muslimischen Schwerpunkten und MuslimInnen als religiöser Gruppe separat zu behandeln sind, ohne Fokus auf Ethnizität („ethnicity“) oder Hautfarbe („race“). Von nun an sollte das MCB als alleiniger Repräsentant aller MuslimInnen gegenüber der Regierung, den Medien und der Zivilgesellschaft fungieren. Ein anderes Ziel seiner Bestrebungen war die staatliche Finanzierung islamischer Schulen und zwar in derselben Weise wie bis dato christliche und jüdische Schulen unterstützt worden waren. Darüber hinaus konnte das Inkrafttreten fördernder Maßnahmen für die stark benachteiligten EinwanderInnengruppen aus Pakistan und Bangladesch (die fast alle dem Islam angehören) auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungswesen durchgesetzt werden. Außerdem hatte dieses Gremium entscheidenden Einfluss auf die Politik Tony Blairs, als dieser, ungeachtet der Ratschläge seitens der Ministerien und der Beamtenschaft, die Religionszugehörigkeit bei der Volkszählung im Jahre 2001 mit erfassen ließ.34 Auf dieser Grundlage sollten zukünftig weitere politische Strategien entwickelt und umgesetzt werden können, die die Gleichbehandlung von MuslimInnen als religiöse Gruppe garantieren sollten, in Angleichung an die nicht-diskriminierenden Standards, die bereits für andere Gruppen aufgrund ihrer Herkunft, Ethnizität oder ihres Geschlechts galten. Das MCB musste etwas länger warten, um den rechtlichen Schutz zu erlangen, den es anstrebte. Gesetze gegen religiöse Diskriminierung wurden erst 2007 eingeführt und in den Jahren 2007 und 2010 wiederum verstärkt, bis sie schließlich zu den strengsten Gesetzen dieser Art innerhalb der Europäischen Union zählten. Das Verbot der Anstiftung zum religiösen Hass ist ein Gesetz, das den Protestierenden, die gegen Die satanischen Verse Sturm gelaufen waren, wohl am meisten entgegen kam. Es wurde 2006 eingeführt, jedoch gibt es keine Hinweise darauf, dass auch Rushdies Roman von diesem Verbot betroffen gewesen wäre. In der Tat konnte die ursprüngliche Forderung, das bereits existierende Blasphemiegesetz auch auf den Islam auszudehnen, nicht durchgesetzt werden, da dieses Gesetz bereits 2008 abgeschafft wurde – und zwar kaum begleitet von Gegenprotesten. Des Weiteren nahmen die Konsultationen mit muslimischen Gruppen auf kommunaler wie auch auf nationaler Ebene zu, sogar als das MCB bei der Regierung wegen unterschiedlicher Auffassungen 33 Vgl. Modood 2011. 34 Vgl. Sherif 2011.

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über deren Außen- und Sicherheitspolitik in Misskredit fiel. Konsultationen mit islamischen Organisationen übertreffen mittlerweile sogar die offiziellen Beratungsgespräche, die mit christlichen Gruppen oder mit irgendeiner anderen religiösen Minorität geführt werden. Dies führte zu zeitweiligen Spannungen zwischen ChristInnen und MuslimInnen. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Entwicklungen von der Church of England nicht nur aktiv unterstützt wurden, sondern auch stets auf interreligiösem Respekt beruhten. (Auch wenn viele englische Intellektuelle, PolitikerInnen, JournalistInnen etc. eine kritische Position gegenüber Religion beziehen, hat diese in England auch verbindenden Charakter ; so gibt es kaum Bemühungen, die Ansichten der jeweils anderen Seite als falsch zu entlarven und AnhängerInnen einer anderen Glaubensrichtung zur Konversion zu drängen.) Diese Entwicklungen nehmen seit 1988/89 ihren Lauf. Wie eben beschrieben wurde, kam es zur Mobilmachung einer Minorität und zur Ausweitung von ethnischen auf religiöse Minderheitenrechte, um so den Ansprüchen religiöser Minderheiten besser Genüge leisten zu können. Die andere Entwicklung ging von der sogenannten l’affaire foulard aus und wurde zu einem der wichtigsten Präzedenzfälle, die zum Verbot bestimmter Praktiken einzelner Minoritäten führten. Seit Anbeginn dieser Affäre stellte sich die Mehrheit in Frankreich – Medien, öffentlich agierende Intellektuelle, PolitikerInnen oder die „öffentliche Meinung“ – hinter den Schulleiter, der das Tragen eines Kopftuchs in seiner Schule verbot.35 Entweder wollten oder konnten viele französische MuslimInnen der vorherrschenden Meinung nichts Vergleichbares entgegen setzen, wie es die muslimische Gemeinschaft Großbritanniens im Zuge der Proteste gegen Rushdies Roman mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit, ihrer Organisation, ihrem Nachdruck oder mit Hilfe internationaler Unterstützung getan hatte. Das Conseil d’Etat, Frankreichs höchster Verwaltungsgerichtshof, garantiert Religionsfreiheit nur, solange religiöse Symbole nicht „zur Schau” gestellt werden. Er entschied, dass strittige Fälle, wie auch dieser, im Einzelnen geklärt werden sollten.36 Das darauffolgende Urteil beruhigte die Lage zunächst, bis es 1994 erneut zu einem Zwischenfall an einer anderen staatlichen Schule kam. Diesen nahm der damalige Erziehungsminister zum Anlass, das Tragen jeglicher religiöser Symbole gesetzlich zu verbieten, womit auch explizit das Tragen von Kopftüchern gemeint war. Der Streitfall konnte damit jedoch nicht endgültig ad acta gelegt werden. In Folge berief Präsident Chirac 2003 eine Kommission unter dem Vorsitz von Bernard Stasi ein, um diesen Streitfall erneut zu untersuchen. Diese Kommission empfahl ein generelles Verbot des Tragens auffälliger reli35 Vgl. Bowen 2007; Scott 2007. 36 Vgl. Kastoryano 2006; Bowen 2007.

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giöser Symbole an staatlichen Schulen. Im Februar 2004 wurde ein solches Gesetz mit einer überwältigenden Mehrheit im Parlament verabschiedet. Einige Jahre später wurde das Tragen eines Ganzkörperschleiers, der das gesamte Gesicht bis auf die Augen verhüllt (Niqab; Burqa) und von wenigen hundert Frauen im Alltag getragen wird, mehrheitlich verurteilt. Das Tragen eines solchen Schleiers an öffentlichen Orten wurde in Frankreich schließlich im April 2011 unter Strafe gestellt. Belgien folgte dieser Initiative im Juli 2011. In Italien wird zurzeit an einem derartigen Gesetz gearbeitet.37 Ähnliche Gesetzesentwürfe wurden auch von Parteien und Regierungen in anderen westeuropäischen Ländern diskutiert38, sowie auch von der regierenden Arbeiterpartei in Norwegen39. Sogar in Großbritannien stößt ein solches Verbot auf Unterstützung innerhalb der Bevölkerung, während sich die größten Parteien solchen Initiativen nach wie vor verschließen. Während das radikale säkulare (laizistische) Lager die Debatte um die Verschleierung muslimischer Frauen vorantrieb, kam etwa zur selben Zeit in Ländern wie Frankreich eine weitere Diskussion in Gang, die eine nähere Betrachtung nahelegt, da sie nur schwer mit dem allgemeinen Verständnis der französischen Lacit¦ vereinbar ist. Seit 1990 hat jede französische Regierung, ob links oder rechts, ein muslimisches Gremium ins Leben zu rufen versucht, das alle MuslimInnen Frankreichs repräsentieren und der Regierung offiziell für Beratungsgespräche zur Verfügung stehen sollte. Dem Islam sollte so eine gewisse staatliche Anerkennung zu Teil werden, ähnlich wie dies bereits für die katholische Kirche, die protestantischen Kirchen und die jüdische Gemeinde der Fall war. Nachdem seine Vorgänger bereits drei Mal daran gescheitert waren, gelang es dem damaligen Innenminister Nicholas Sarkozy 2003 endlich, das Conseil Francais du Culte Musulman zu gründen.40 Doch bis heute wird dieses Gremium von einem Großteil der in Frankreich lebenden MuslimInnen nicht als deren legitime Vertretungsbehörde anerkannt und hat darüber hinaus auch wenig Einfluss in den Medien, in der Zivilgesellschaft und bei der Regierung des Landes. Die Bedeutung dieser Tatsache für meine Argumentation liegt nicht am geringen Einfluss dieses Gremiums oder seinem mangelnden Rückhalt in der muslimischen Bevölkerung. Ich erwähne dies, weil selbst in einem laizistischen Staat, der dem Multikulturalismus in der Regel ablehnend gegenüber steht und in dem Angriffe auf fundamentale religiöse Freiheiten von den meisten BürgerInnen befürwortet werden, institutionelle Verbindungen geknüpft werden, um politischen Einfluss auf die im Land lebenden MuslimInnen ausüben zu können. 37 38 39 40

Vgl. The Guardian 2011. Vgl. Nikolas 2011. Vgl. Larsen / Bastard 2011. Vgl. Modood / Kastoryano 2006, 174 – 75.

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Dies widerspricht auf den ersten Blick den Prinzipien des Laizismus. Trotzdem stellt Frankreich im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten, in denen eher ein moderater Säkularismus Tradition hat, keine Ausnahme dar. Auch in Frankreich wird eine Rhetorik an den Tag gelegt, die sich gegen Multikulturalismus richtet und keine Zugeständnisse gegenüber religiösen Ansprüchen zulässt.41 Zugleich jedoch zeigt sich die Bereitschaft, mit MuslimInnen nicht nur als BürgerInnen, sondern auch als religiöser Gruppe zu verhandeln. Die deutsche Regierung versammelte 2006 unter Angela Merkel mehrere MuslimInnen im Rahmen einer Islamkonferenz, die auf höchster Regierungsebene stattfand. Diese Konferenz wird seither jährlich abgehalten. Interessanterweise steht die säkulare Bewegung in Großbritannien, die das französische Modell in der Regel favorisiert, den Plänen der Regierung, muslimischen Organisationen einen speziellen beratenden Status zuzuerkennen, ablehnend gegenüber. Aus deren Sicht sind diese Pläne mit älteren Forderungen nicht in Einklang zu bringen, zum Beispiel mit der Entstaatlichung der Church of England, der Entfernung von Bischöfen aus dem Britischen Oberhaus sowie der Reduktion der Anzahl staatlich finanzierter, konfessioneller Schulen.42

6.

Weitere Reaktionen: Christliche Werte und „muscular liberalism“

Bisher haben sich im Wesentlichen zwei Reaktionsweisen auf die Belange und Forderungen von MuslimInnen gezeigt: Zum einen der Zugang über Akkommodation, das heißt durch Dialog, an Reziprozität orientierten Verhandlungen und wechselseitige Anpassung soll MuslimInnen ein gesellschaftlicher Platz ermöglicht werden; dieser Zugang ist eingebettet in Vorstellungen von Gleichheit und Multikulturalismus. Zum anderen lässt sich ein radikal säkularer Ansatz beobachten. In jüngster Zeit lassen sich zudem zwei weitere Ansichten bemerken, ein christlich-fundamentalistischer und ein intoleranter, auch „muscular“ genannter Liberalismus. Das bedeutet nicht, dass ChristInnen und Liberale keinen Anteil an den ersten beiden Herangehensweisen hätten. Die Kirchen, insbesondere die Church of England, waren maßgeblich daran beteiligt, den Multi41 Eine Weigerung auf nationaler Ebene kann manchmal durch lokale und kommunale Initiativen kompensiert werden. Vgl. dazu: Bowen 2010. 42 Vgl. die Webseiten der National Secular Society. URL: http://www.secularism.org.uk/re form-section-5.html [02. 01. 2014]; und der British Humanist Association. URL: http://humanism.org.uk/ [02. 01. 2014]. Für weitere Informationen über die Ansichten moderat-linker ChristInnen vgl. die Webseite des Think-Tanks Ekklesia. URL: http://www.ekklesia.co. uk/ [02. 01. 2014].

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kulturalismus in Großbritannien zu fördern, den interreligiösen Dialog voranzutreiben und Netzwerke und politische Bündnisse mit MuslimInnen und anderen Minoritäten zu bilden. Ähnlichkeiten, wie die zwischen den Kirchen und dem Multikulturalismus, gibt es auch zwischen Liberalen und Säkularisten, denn die Intoleranz vieler Liberaler deckt sich in vielen Fällen mit der schon angesprochenen Intoleranz der Säkularisten. Der Unterschied zwischen den beiden folgenden Reaktionen auf muslimische Präsenz besteht darin, dass sich die einen explizit auf das Christentum berufen, und die anderen explizit an die Grenzen der im Allgemeinen hochgeschätzten Toleranz appellieren. Die Bezugnahme auf das Christentum hat mit politischen Belangen oft wenig zu tun. Beispielsweise scheinen die Präsenz und die gesellschaftlich deutlichere Sichtbarkeit von MuslimInnen wichtige Faktoren für das Erstarken einer christlichen Identität zu sein. Eine Analyse der freiwilligen Angabe der Religionszugehörigkeit, die im Rahmen des britischen Zensus von 2001 erhoben wurde, ergab eine stärkere Identifikation mit dem Christentum in Regionen mit einem großen Anteil an muslimischer Bevölkerung.43 Das Aufkommen einer neuen, mitunter politisch motivierten, kulturellen Identifikation mit dem Christentum konnte auch in Dänemark festgestellt werden44 und in Deutschland meinte Kanzlerin Angela Merkel erst kürzlich, dass „jene, die christliche Werte nicht akzeptieren, keinen Platz hier haben”45. Einige bayrische SpitzenpolitikerInnen strichen die Verbindungen zwischen deutschem Nationalismus und Christentum sogar noch deutlicher hervor.46 Ähnliche Ansichten wurden im Zuge der Debatte um die europäische Verfassung geäußert und offenbaren sich auch in der anhaltenden Diskussion über einen zukünftigen EU-Beitritt der Türkei.47 Solche Bekenntnisse zum Christentum beziehungsweise zu christlichen Werten korrelieren nicht unbedingt mit einem Anstieg von Glaubensbekundungen oder Kirchenbesuchen, die nach wie vor in Europa abnehmen. Hier findet nicht etwa eine Zurückweisung eines Status-Quo-Säkularismus zugunsten des Christentums statt, sondern die Entwicklungen lassen sich als eine Antwort auf die Herausforderungen innerhalb einer multikulturellen Gesellschaft verstehen.48 Der ehemalige französische Staatspräsident Giscard d’Estaing, der auch dem Europäischen Konvent vorsaß, jenem Gremium, das die (gescheiterte) EU-Verfassung entwarf, bringt das Phänomen, das ich hier be43 Vgl. Voas / Bruce 2004. 44 Vgl. Mouritsen 2006. 45 Zitat aus: Presseurop 2010, mit dem Titel “Muslims in her country should adopt Christian values”. 46 Vgl. Fekete 2011, 46. 47 Vgl. Casanova 2009. 48 Vgl. Angela Merkel, die klar machte, dass “multi-kulti” gescheitert und auch nicht mehr erwünscht sei.

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schreibe, folgendermaßen auf den Punkt: „Ich gehe niemals zur Kirche, aber Europa ist ein christlicher Kontinent.” Auch christliche Organisationen äußerten sich wiederholt zu solch politisch brisanten Themen, im Speziellen die Katholische Kirche. So behauptete Benedikt XVI. kurz nach seiner Wahl zum Papst in seiner Rede an der Universität Regensburg Folgendes: Während die Vernunft im Zentrum der christlichen Theologie stünde, sei dies im Islam nicht der Fall, da sich diese Religion nur mit der Macht des Schwertes auszubreiten vermochte, was der europäischen Tradition der Vernunft diametral entgegenstünde.49 Caldwell meint, Papst Johannes Paul II. habe die wesentliche Kluft in der Welt zwischen Religion und Unglaube verortet. „Tiefgläubige Christen, Muslime und Buddhisten hätten untereinander mehr gemein als mit Atheisten.“50 Papst Benedikt hingegen, so hält Caldwell weiter fest, „denkt, dass Gläubige und Ungläubige innerhalb von Gesellschaften in Symbiose miteinander verbunden sind. Er legt nahe, dass säkulare Menschen im Westen mit ihren gläubigen Mitmenschen sehr viel gemeinsam haben.”51 Damit wird unterstellt, dass Säkulare mit ChristInnen in Europa mehr gemein hätten als mit MuslimInnen. Dass viele Säkulare die Ansicht Papst Benedikts nicht teilen, ist evident, schon allein aufgrund der Tatsache, dass die vorgeschlagene Klausel über christliche Werte nicht in die Endversion der gescheiterten EU-Verfassung aufgenommen wurde. Darüber hinaus nimmt das Christentum in der Debatte um den radikalen Säkularismus den dritten, nicht den ersten oder zweiten Platz ein. Es war nicht von Anfang an in dieser Diskussion vertreten, sondern stimmte erst spät in die Debatte mit ein, die zuvor hauptsächlich von Anhängern eines integrierenden Multikulturalismus und eines exklusiven, nationalistisch geprägten Säkularismus geführt wurde. Zwar gibt es kaum Anzeichen eines Erstarkens der christlichen Rechten in Europa, wie dies in den USA der Fall ist; nichtsdestotrotz gewinnt die Vorstellung eines „säkularchristlichen” Europas gerade in letzter Zeit an Auftrieb. Der Begriff „säkulares Christentum“ verhält sich analog zu Bezeichnungen wie „säkularer Jude”, das heißt ein Mensch jüdischer Abstammung sowie einer gewissen jüdischen Identität, der seine Religion jedoch nicht praktiziert und sich mitunter sogar als Atheist bezeichnet. Die vierte Herangehensweise beziehungsweise Argumentationslinie fokussiert sich auf die konservativen und illiberalen moralischen Werte und Praktiken von MuslimInnen. In diesem Zusammenhang werden meist Themen wie Gender und Sexualität diskutiert, die auch in der Diskussion rund um das Verbot von Haar- und Gesichtsschleiern eine Rolle spielen. Obwohl es viele Querverbin49 Vgl. URL: http://www.zenit.org/article-16955?l=english [02. 01. 2014]. 50 Caldwell 2009, 151. 51 Ebd.

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dungen zu anderen Themen und Diskussionen gibt, sollte man auf diese Argumentationslinie jedoch separat eingehen, da sie viel weitreichender ist und oft unabhängig von Fragen zum Verhältnis zwischen Staat und Kirche verläuft. Beispielsweise wird gefordert, der Staat müsse auf eine spezielle Art und Weise auf MuslimInnen ein- bzw. gegen diese vorgehen, da Themen, wie z. B. die Gleichbehandlung der Geschlechter oder die sexuelle Orientierung bei MuslimInnen, einen oft anderen oder weniger hohen Stellenwert einnehmen, sodass unter Umständen die Gefahr bestehe, bereits erkämpfte Errungenschaften westlich-liberalen Fortschritts wieder zurücknehmen zu müssen. Diese Argumente finden sich in ganz Europa und in allen politischen und intellektuellen Spektren wieder, werden aber besonders vehement in den Niederlanden vorgebracht. So erzielte Pim Fortuyn vor mehr als zehn Jahren große Erfolge bei den Parlamentswahlen, nachdem er zu einem Immigrationsstopp von MuslimInnen, aufgrund ihrer Einstellung zu Sexualität und individuellen Freiheiten aufgerufen hatte.52 Die niederländische Regierung produzierte darüber hinaus ein Video, in dem unter anderem die Nahaufnahme einer Frau, oben-ohne, an einem Strand und zwei sich küssende, schwule Männer in einem Park zu sehen waren. Dieses Video sollte ImmigrantInnen im Zuge ihrer Antragstellung für ein Visum beziehungsweise noch vor ihrer Einreise in die Niederlande vorgespielt werden.53 In Dänemark veröffentlichte die Zeitung Jyllands-Posten die satirischen und zunächst unbedeutenden Mohammed-Karikaturen, die mittlerweile jedoch große Berühmtheit erlangt haben. Der Herausgeber des Kulturteils der Zeitung war der Ansicht, diese Karikaturen könnten MuslimInnen dabei unterstützen, sich besser in die öffentliche Kultur Dänemarks zu integrieren.54 Ayaan Hirsi Ali, eine ehemalige muslimische Abgeordnete im niederländischen Parlament mit somalischer Herkunft, erlangte international Bekanntheit, als sie meinte, die Unterordnung der Frau sei eines der Hauptmerkmale des orthodoxen Islam. Diese Positionen, auf die ich mich hier beziehe, könnten als eine Spielart des „liberalen Perfektionismus“ gedeutet werden, das heißt Ansichten, die im Kontrast zu Rawls Neutralismus stehen. Demnach hat der liberale Staat die Aufgabe, liberale Individuen zu produzieren und muss darüber hinaus auch eine liberale Art zu leben propagieren.55 Wahrscheinlich ist dies eine jener Spielarten des Liberalismus, die Charles Taylor einst als „ein Bekenntnis zu kämpfen” („a fighting creed“) oder der britische Premierminister David Cameron als „muscular liberalism“ bezeichneten. Die aktuelle Dynamik führte bei vielen zu einer 52 Vgl. The Economist 2002. 53 Vgl. Monshipouri 2010, 51. 54 Trotzdem waren er bzw. seine Zeitung unterschiedlicher Meinung, als es zu einem früheren Zeitpunkt um die Veröffentlichung einer anti-christlichen Karikatur ging. Vgl. Fouch¦ 2006; Levey / Modood 2009, 227. 55 Vgl. Mouritsen / Olsen, 2012.

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ausgeprägten Islamfeindlichkeit, die Geert Wilders beispielsweise dazu verleitete, den Koran mit Hitlers Mein Kampf zu vergleichen, und dafür zu plädieren, dass der Koran ebenso auf die Liste verbotener Bücher gesetzt werde. Seine Kampagne gegen die „Islamisierung Europas” stieß in ganz Westeuropa auf große Resonanz; nicht nur in den Niederlanden, wo Wilders seine Partij voor de Vrijheid (Partei für die Freiheit) 2005 gegründet hatte. Nach den Wahlen im Jahr 2010 wurde sie zur drittstärksten Partei des Landes und erhielt somit auch eine Einladung zu Koalitionsgesprächen für eine zukünftige Regierungsbildung.

7.

Islamfeindlichkeit

In Bezug auf das Thema dieses Artikels steht diese aggressive Variante liberaler Argumentation möglicherweise in direktem Zusammenhang mit dem Aufruf zu einem Hijab- und Burka-Verbot seitens AnhängerInnen eines radikalen Säkularismus56 ; dennoch will ich diese Spielart des Liberalismus hier separat behandeln.57 Sie unterscheidet sich von anderen Themen vor allem in intellektueller Hinsicht. Ihre Wichtigkeit und Dringlichkeit übersteigt womöglich sogar die anderer Themen, da hier die Dynamiken, denen der politische Säkularismus – und auch der Liberalismus – unterliegt beziehungsweise ausgeliefert ist, offen zutage treten. Sie beruhen vorrangig auf der Präsenz von MuslimInnen in der Gesellschaft und einem islamfeindlichen Klima innerhalb intellektueller und politischer Kreise. Ein anderes Beispiel für eine breit angelegte, anti-muslimische Koalition ist das per Referendum und 2009 mit Erfolg durchgesetzte Minarettverbot in der Schweiz. Eine Analyse ergab, dass sich viele Menschen an dem Referendum beteiligten, deren hauptsächliches Anliegen der Schutz von Frauenrechten war, die aber auch „den Islam als etwas ‘Fremdes’ wahrnehmen“. Jene Menschen haben nicht per se ein Problem mit MuslimInnen, sie sind aber dennoch nicht bereit zu akzeptieren, dass „der Islam an Sichtbarkeit im öffentlichen Raum gewinnt”58. Sie gaben ihre Stimme nicht „aufgrund eines Wunsches, andere Menschen zu unterdrücken, sondern aufgrund des Gefühls, Zeuge einer islamischen Invasion zu werden”59 ab. Vorurteile oder eine angst56 So interpretiert es zumindest Christian Joppke. Vgl. Joppke 2009. 57 „Der perfektionistische Liberalismus ist nicht per se intolerant […] Intoleranz (und der Konflikt mit dem traditionellen liberalen Pluralismus) manifestiert sich erst dort, wo die propagierten Ideale in Bezug auf allgemeine liberale Bürgerrechte als so wichtig und so gefährdet erachtet werden und so sehr in Konflikt mit bestimmten un-bürgerlichen (religiösen) Praktiken und Einstellungen klar umrissener und definierter Fremd-Gruppen geraten, dass Bestrebungen sie zu manipulieren, zu bestrafen oder sogar sie zu verbannen legitim werden.“ (Mouritsen / Olsen 2012). 58 Mayer 2009, 6. 59 Ebd., 8.

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erfüllte Wahrnehmung des Islam sind demnach dazu im Stande, ganz unterschiedliche Meinungen zu einer mehrheitsfähigen Meinung zu bündeln, und auch diejenigen mit einzuschließen, die keine ausgeprägte Meinung zum Verhältnis zwischen Staat und Religion haben. Meist bilden sich derartige Koalitionen in dem Moment, da Forderungen von muslimischer Seite gestellt und kontroversiell diskutiert werden. Dies bedeutet, dass die aktuellen Herausforderungen in Bezug auf den Säkularismus in Westeuropa nicht nur im größeren Kontext der Integration und des Multikulturalismus diskutiert werden, sondern auch hinsichtlich einer stärker werdenden, ablehnenden Haltung gegenüber dem Islam und MuslimInnen, die meist auf den Klischees und Schauergeschichten in den Medien beruht. Am ehesten ist dieses Phänomen als eine spezifische Form des kulturellen Rassismus zu verstehen, die als Islamfeindlichkeit („Islamophobia“60) zu bezeichnen ist und mit Fragestellungen des Säkularismus recht wenig gemein hat. Eine, zwischen 1998 und 2006 in Großbritannien durchgeführte Metaanalyse von Meinungsumfragen kam zu dem Ergebnis, dass „heute etwa jeder vierte bzw. fünfte Brite eine starke Abneigung gegenüber dem Islam und MuslimInnen empfindet und ihnen gegenüber große Vorurteile hat”61. Eine Pew-Studie aus dem Jahre 2008 bestätigte diesen Trend, der zufolge die Zahl der islamophoben Menschen in Frankreich bei 38 % und in Deutschland sogar bei etwas über 50 % liegt.62 Derartige Ansichten nehmen innerhalb der Bevölkerung zu, was vor allem am Aufstieg rechtsextremer Parteien erkennbar ist. Terroristische Anschläge, wie jener von Oslo und auf der Utøya-Insel im Juli 2011, bestätigen diesen Trend.63 All das sind, um es milde auszudrücken, keine vorteilhaften Voraussetzungen, um MuslimInnen in die Gesellschaft zu integrieren. Es unterstreicht die Tatsache, dass die sogenannte Krise, in der sich der Säkularismus befinden soll, in Wirklichkeit ein Phänomen ist, das mit der Präsenz und der Integration von MuslimInnen zu tun hat. Selbstverständlich hat die ablehnende Haltung der Bevölkerung auch mit dem Verhalten einzelner MuslimInnen zu tun, z. B. Terroranschläge oder Deklarationen der Illoyalität gegenüber dem Land, in dem sie leben. Betrachtet man also alle vier Trends, beziehungsweise Faktoren und das umgebende islamophobe Meinungsklima, sieht es aus, als könnten sich der Trend des radikalen Säkularismus und der christlich-fundamentalistische Trend zu einem kulturalistischen Nationalismus und einem kulturalistischen Europäertum, gespeist von Islamophobie, vereinen. 60 61 62 63

Vgl. Meer / Modood 2010; Sayyid / Vakil 2010. Field 2007, 465. Vgl. Pew Research Center 2008. Vgl. Bangstad 2011.

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Ich hoffe, dass dieses populistische, rechtsextreme, um nicht zu sagen, rassistische Schreckgespenst genügend Leute motiviert, für einen moderaten Säkularismus zu demonstrieren und anzuerkennen, dass dieser der Pluralisierung bedarf. Wie dem auch sei, legen meine Analysen eine dringliche Wahl zwischen einem pluralistischen, multireligiösen, nationalen und europäischen Bewusstsein einerseits oder einem monokulturellen Nationalismus und Europäertum andererseits nahe. Anders ausgedrückt kann die Krise des Säkularismus am besten in einem multikulturellen Kontext verstanden werden. Leider hat der Multikulturalismus gegenwärtig nur wenige FürsprecherInnen, denn dieser Terminus ist bereits schwer in Mitleidenschaft gezogen worden.64 Dennoch sind die oft wiederholten Beteuerungen vieler europäischer SpitzenpolitikerInnen, dass der „Multikulturalismus tot ist“65, eine Reaktion auf die anhaltende Wirksamkeit des Multikulturalismus. Das fordert überholte liberale Vorstellungen von Assimilation und Integration heraus, auch angesichts neuer Formen der Öffentlichkeit von Geschlecht und Ethnizität – und betrifft nunmehr auch die Öffentlichkeit von Religion. MuslimInnen wurden erst spät Teil dieser Bewegung, doch als sie schließlich daran Anteil hatten, wurde sichtbar, dass der säkulare Status Quo, der AnhängerInnen des Christentums bis dato einige verbleibende Privilegien eingeräumt hatte, unter diesen Umständen nicht weiter Bestand haben kann. Man kann dies eher als eine Herausforderung der Integration betrachten denn als eine des Multikulturalismus. Allerdings muss dabei klar sein, dass es bei Integration nicht bloß um das gesellschaftliche Alltagsleben geht, sondern vor allem um die Integration in institutionelle Strukturen, große Narrative und gesellschaftliche Makrosymbolik. Wenn all diese brennenden Themen – wie angeblich auch der Multikulturalismus – wirklich schon gestorben wären, könnten wir wohl kaum eine Debatte über die Rolle der Religion im öffentlichen Raum führen oder Vorschläge für einen Dialog mit MuslimInnen und für die Berücksichtigung des Islam einbringen. Diese dynamischen Veränderungen haben weder direkt mit der historischen Religion zu tun noch mit dem historischen Säkularismus in Westeuropa. Neu ist das Auftreten eines selbstbewussten Multikulturalismus, was Implikationen für ChristInnen und Säkulare hat; worauf diese auch reagieren: Die Forderungen des Multikultura64 Dies bestätigt jedoch nicht die These, dass sich der Multikulturalismus bereits auf dem Rückzug befindet. Erstens hat die Analyse von politischen Strategien in 21 Ländern gezeigt, dass der Ausbau und die Entwicklung multikultureller Strategien zwischen 1980 und 2000 eher bescheiden vonstatten gingen, jedoch nie zum Stillstand kamen und zwischen 2000 und 2010 eine rapide Förderung erfahren haben; nur in drei Ländern gab es im Jahr 2010 geringere Entwicklungen in diesem Bereich als 2000. URL: http://www.queensu.ca/mcp/ immigrant/table/Immigrant_Minorities_Table_2.pdf [02. 01. 2014]. Zweitens können viele Aspekte des Anti-Multikuluralismus nicht mit Maßnahmen wie Assimilation oder individueller Integration gerechtfertigt werden. 65 Fekete 2011.

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lismus können nicht ohne weiteres in die Matrix individueller Rechte, von Gewissens- und Religionsfreiheit etc., eingebettet werden. Verhielte es sich anders, wären wohl auch die Probleme anders gelagert. Auch Feminismus und „Gay Rights“ werden gegenwärtig nicht nur in ihrem rechtlichen Kontext behandelt, sondern auch in Bezug auf das politische Umfeld, das stark von diesen Bewegungen geprägt worden ist. Eingebettet in ein soziopolitisch-intellektuelles Umfeld spielen Faktoren wie die „Bejahung positiver Differenz“ oder „Identität” eine gestaltende und mächtige Rolle. Das bedeutet nicht, dass heute jede/r ein/e FeministIn ist, aber es hat sich ein geschärftes Bewusstsein und eine neue Sensibilität für Gender und für die Gleichberechtigung der Geschlechter entwickelt. Ähnlich verhält es sich meiner Meinung nach mit der multikulturellen Sensibilität, wie wir sie heute in Westeuropa antreffen. Diese auf die Integration von MuslimInnen zu beziehen, fällt jedoch nach wie vor schwer, zumal sich kaum Gründe finden lassen, MuslimInnen auszuschließen, ohne sich dabei in Widersprüche zu verstricken.

8.

Schlussfolgerungen

Der politische Säkularismus ist ins Wanken geraten. Insbesondere ist der historische Säkularismus von einem moderaten in einen radikalen übergegangen – Erwartungen über seine kontinuierliche Fortdauer wurden erschüttert. Dieser Bruch hat nicht etwa mit einer Desäkularisierung des Christentums zu tun oder mit einer „Rückkehr der Unterdrückten”. Vielmehr wurde diese Entwicklung durch drei Ereignisse hervorgerufen: 1) die Einwanderung und Niederlassung einer großen Anzahl muslimischer MigrantInnen; 2) eine sensiblere Einstellung gegenüber Multikulturalität, die multikulturelle Differenz respektiert; 3) das Erscheinen eines moderaten Säkularismus, der historische Kompromisse zwischen Staat und Kirche respektive Religionsgemeinschaften weiterhin bestehen lässt und diesen zumindest teilweise eine öffentlich-rechtliche Anerkennung und staatliche Unterstützung einräumt. Von einer „Krise des Säkularismus” zu sprechen, wäre übertrieben, speziell wenn es um das Verhältnis zum Staat geht. Wahr ist allerdings, dass der Laizismus und der radikale Säkularismus vor sehr großen ideologischen Herausforderungen stehen. Viele SoziologInnen und PolitikwissenschaftlerInnen hegen heute große Sympathie für diese Ideologien. Aufgrund ihrer Vorliebe für abstrakte Ideen nehmen viele Menschen den real existierenden Säkularismus in Westeuropa, wie er in den meisten westeuropäischen Gesellschaften praktiziert wird, gar nicht mehr richtig wahr. Die Inkompatibilität zwischen ihren Vorstellungen und der Integration von MuslimInnen wird fälschlicherweise auf die westeuropäischen Staaten projiziert. In

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der Tat ist die Vorstellung einer „Krise des Säkularismus” besonders im westeuropäischen Kontext nicht nur übertrieben, sondern auch irreführend. Ich hoffe, ich konnte zeigen, dass das vorliegende Problem stärker in Zusammenhang mit der Integration von Minoritäten zu sehen ist, als dass es vom Verhältnis zwischen Staat und Religion per se bestimmt ist. Bei der „Krise des Säkularismus” handelt es sich um eine Herausforderung, vor der vor allem der Multikulturalismus steht. Ganz im Gegensatz zu dem propagierten Szenario, das angeblich das Ende des Säkularismus, so wie wir ihn kannten, nach sich zieht, bietet der moderate Säkularismus tatsächlich einige Ressourcen für die Einbindung von MuslimInnen an. BefürworterInnen des politischen Säkularismus sollten pragmatisch darüber nachdenken, wie man sich dieser Ressourcen bedienen könnte: Wie man den moderaten Säkularismus multikultureller gestalten könnte, ohne dabei die Krise zu verschärfen, ohne Handlungsspielräume einzugrenzen und ohne dem radikalen Säkularismus Auftrieb zu verleihen.

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Befindet sich der Säkularismus in Westeuropa in der Krise?

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Religion als Ressource und Konfliktpotential in Europa. Analytische Perspektiven auf Immigration, Gemeinschaft und Gesellschaft

1.

Einführung

Migrationen und dauerhafte Niederlassungen neuer kultureller und religiöser Gruppen haben in den Religionsgeschichten beinahe aller Kontinente entscheidend zu Veränderungen lokaler und regionaler Religionslandschaften beigetragen.1 Dieses gilt in gleichem Maße für die Vormoderne und die Moderne.2 Für die Länder Westeuropas lassen sich solche Veränderungen in der Periode der kulturellen und religiösen Pluralisierung nach dem Zweiten Weltkrieg eindrücklich festhalten: Während in Großbritannien Immigrationen aus den ehemaligen Kolonien seit den 1950er Jahren die Religionslandschaft gerade in den großen Industriestädten nachdrücklich veränderten3, setzten ähnliche Prozesse in den 1960er und 1970er Jahren mit Zuwanderungen von Muslimen, Hindus, Buddhisten und weiteren nichtchristlichen wie auch christlichen Religionstraditionen in Ländern Kontinentaleuropas ein. Für Deutschland oder die Schweiz beispielsweise sind solche Prozesse religiöser Pluralisierung eingehend dokumentiert und verweisen darauf, dass der zahlenbezogene Umfang immigrierter Religionen zumeist weit geringer ist als das zum Teil große mediale Interesse suggeriert.4 Gerade die neue mediale und öffentliche Aufmerksamkeit für Religion in einem Europa, in dem vielfach Prozesse fortschreitender Säkularisierung und Individualisierung festzuhalten sind5, hat Religion – und hier insbesondere zugewanderte, als „fremd“ etikettierte Religionen – verdächtig werden lassen. Sprecher und Parteien des sozial-konservativen Milieus, aber auch Intellektuelle, in Ländern wie den Niederlanden, Deutschland, Österreich, Italien oder der 1 2 3 4

Vgl. Cohen 1995. Vgl. Vertovec / Cohen 1999; Castles / Miller 2003. Vgl. Parsons 1993; Ballard 1994; Knott 2005a. Vgl. unter anderem Henkel 2001; Baumann 2007; Baumann / Stolz 2007; Hero / Krech 2010; Bochinger 2012. 5 Vgl. Davie 1994; Pollack 2009.

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Schweiz warnen mit Bedrohungsszenarien vor Separierungs- und Abschottungstendenzen immigrierter Religionen, insbesondere mit Blick auf „den Islam“: Moscheen und Beträume als Kristallisationspunkte religiöser Vergemeinschaftung werden unter Pauschalverdacht gestellt und vielfach Ängste, Unsicherheiten und Bedrohungsgefühle heraufbeschworen. Der Feind stehe nicht mehr außen vor, sondern sei schon längst im Lande selbst und unterminiere von innen Errungenschaften des demokratischen Verfassungsstaates, warnen rechtsnationale Scharfmacher und Kritiker des Multikulturalismus. Sichtbares Zeichen der Integrationsunwilligkeit vieler Migranten sei die Beibehaltung der „fremden“ Religion, die sich gar noch durch neue, öffentlich sichtbare Bauten breit mache und unangemessene Ansprüche stelle.6 Die Zentralität von Religion im Themenbereich „Migration und Zuwanderung“ überrascht angesichts der Tatsache, dass bis vor zirka einem Jahrzehnt etwa immigrierte Türken und Bosnier nicht primär als Muslime und MoscheeErbauer wahrgenommen wurden, sondern als Gastarbeiter und künftige Rückkehrer.7 Exemplarisch für die politische wie auch sozialwissenschaftliche Wahrnehmung einer Marginalität von Religion bis in die ausgehenden 1990er Jahre steht beispielsweise das 1995 – 2002 durchgeführte, groß angelegte nationale Forschungsprogramm „Migration und interkulturelle Beziehungen“ des Schweizer Nationalfonds: Mit acht Millionen Franken wurden Forschungen zu Gesundheit, Sozialem, Beruf, Bildung, Arbeitsmarkt, Recht und Politik im Zusammenhang von Migration in der Schweiz gefördert. Die religiöse Zugehörigkeit von Migranten und Migrantinnen thematisierte das Programm nur am Rande, und wenn dann auffallend unter negativem Vorzeichen: Die „neue religiöse und sprachliche Vielfalt“, die durch die Zuwanderung insbesondere seit den 1980er Jahren entstanden sei, stelle ein „beunruhigende(s) Anzeichen dafür (dar), dass das ,Schweizerische Integrationsmodell’ an Grenzen stößt“, so der Vorsitzende Werner Haug im Abschlussbericht.8 Hingegen: Nach islamistischen Attentaten und der zusehenden Sichtbarkeit und Öffentlichkeit insbesondere muslimischer Zuwanderer und Institutionen in Ländern Westeuropas rückte das Thema „Migration und Religion“ von einer Randerscheinung gesellschaftlicher Aufmerksamkeit ins Zentrum politischer Debatten. Journalisten, Kommentatoren und Politiker fragten, inwiefern die so bezeichnete „fremde“ religiöse Zugehörigkeit von Migranten einer gelingenden 6 Vgl. Giordano 2008; Freysinger 2009; Wilders 2012. 7 Die terroristisch-islamistischen Attacken in den USA 2001, die Anschläge in Madrid und London 2004/2005 und die Ermordung des Regisseurs Theo van Gogh 2004 rückten das Thema Religion und Islam nachdrücklich in den Vordergrund der Wahrnehmung von Politikern und Medienschaffenden und wandelten den „Ausländer“ zum „Homo Islamicus“. Tezcan 2007, 71; siehe zur Wahrnehmungsänderung u. a. Behloul 2010, Ettinger / Imhof 2011. 8 Vgl. Haug 2003, 9, Erg. MB.

Religion als Ressource und Konfliktpotential in Europa

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gesellschaftlichen Eingliederung im Wege stehe. Die religiöse Unterschiedlichkeit zu dem Mehrheitsglauben der Aufnahmegesellschaft würde eine Integration der Zuwanderer und Flüchtlinge behindern, wenn nicht kategorisch ausschließen. Der Behinderungscharakter fremd-religiösen Glaubens zeige sich paradigmatisch an muslimischen Immigranten und Immigrantinnen und ihrem Festhalten an islamischen Traditionen und Rollenverständnis von Mann und Frau sowie der Orientierung am Herkunftsland. Interessanterweise führte vielfach das Hinaustreten in die Öffentlichkeit, in den gemeinsam geteilten Raum des Öffentlichen zu lokalen Kontroversen und nationalen gesellschaftspolitischen Konflikten.9 Der Beitrag fokussiert im Kontext des Themenfeldes „Migration und Religion in Europa“ in analytischer Perspektive auf den Ressourcen- und Konfliktcharakter von Religion für Immigranten und ihre Gemeinschaften auf der einen und für die Gesellschaft auf der anderen Seite. These des Beitrags ist, dass religiöse Identitätsbildung und Gemeinschaften für viele Immigranten und ihre Nachfahren im vielschichtigen Prozess gesellschaftlicher Eingliederung und Teilhabe eine wichtige Ressource darstellen können – nicht lediglich residuale und abzulegende Traditionsbestände. Dieses behandelt der erste Teil mit Klärung des Begriffs der „Ressource“, Überlegungen zur individuellen und kollektiven Selbstvergewisserung durch Religion sowie der Bezugnahme auf die Sozialkapitaltheorie. Zugleich ist zu betonen, so die These in Teil zwei, dass Religion aufgrund ihres Bindungs- und Vergemeinschaftungscharakters ebenso das Potential für Konflikt und Kontroversen in gesellschaftlichen Neuaushandlungsprozessen innehat. Daher werden Themen von Religion als Gefahr für das Individuum und religiöse Traditionen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie als Gefahr und Störung des öffentlichen Raums dargestellt. Ziel des Beitrags ist, mit Hilfe der theoretisch-analytischen Perspektiven nicht nur distanziert-reflektierte Einblicke aus religionswissenschaftlicher Perspektive zu gewinnen. Vielmehr benennt er theoriebegründet mögliche Faktoren und Optionen für ein gelingendes Zusammenleben in pluralen Gesellschaften Europas. Darauf verweisen die Schlussfolgerungen mit Überlegungen zu sozialen und politischen Handlungsperspektiven.

9 Vgl. Hüttermann 2006; Häusler 2008; Sommerfeld 2008; Beinhauer-Köhler / Leggewie 2009.

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2.

Religion als Ressource

2.1

Begriffsklärungen

Bevor eingehender in die Thematik eingestiegen wird, gilt es, grundlegende Begriffe wie Migrant und Immigrant, Gemeinschaft und Vergemeinschaftung sowie Ressource zu klären. Migrant und Immigrant: Nordamerikanische und westeuropäische Studien und politische Stellungnahmen verwenden die zwei Begriffe auffällig unterschiedlich: Nordamerikanische wie auch etwa australische Studien sprechen von „immigrants“ – Einwanderern –, während westeuropäische Studien fast ausschließlich von Migranten, Gastarbeitern und Ausländern reden. Während bei ersterem der Verbleib auf Dauer begrifflich deutlich ausgedrückt ist, unterstellt der europäische Gebrauch, dass sich die Personen nur zeitweise und nicht langfristig im Aufnahmeland aufhalten. Schon begrifflich werden die staatsbürgerliche Distanz, die Fremdheit und das eigentliche Nicht-Dazugehören betont. Für Europa lässt sich festhalten, dass ein Großteil der „Migranten“, nach Aufgabe des Mythos der Rückkehr und Nachzug von Frauen und Kindern, einen Verbleib auf Dauer im jeweiligen Residenzland beabsichtigt.10 In steigendem Umfang wird die Staatsbürgerschaft des jeweiligen Landes angenommen. Der Beitrag wird insofern adäquaterweise von Immigranten bzw. Neubürgern sprechen. Gemeinschaft und Vergemeinschaftung: Die Bildung der sozialen Einheit „Gruppe und Gemeinschaft“ erfolgt über freiwillige Zusammenschlüsse von Individuen mit gleichen Interessen und Überzeugungen. Gruppen, hier verwendet als soziale Einheit mit eher losen Bezügen unter den Zugehörigen (z. B. bei Hindus, die sich einen Tempel aufsuchen) und Gemeinschaften (s. u.) werden gebildet, um bestimmte Zwecke zu verfolgen und umzusetzen. Der Begriff der „Vergemeinschaftung“ soll genau diesen Prozess bezeichnen, in dem Individuen mit bisher keinem Kontakt und Kenntnis voneinander, eine Gemeinschaft mit aktiver Interaktion untereinander und sich entwickelndem Zusammenhörigkeitsgefühl, z. T. vorgestellt oder idealisiert, ins Leben rufen. Die Zugehörigen schaffen „Gemeinschaftsbande“11, welche Solidarität, Rechte, oft auch Verpflichtungen nach innen und Grenzen gegen außen setzen. Zugezogene und Immigranten können Gruppen und Gemeinschaften aufgrund sprachlich-kul10 Vgl. Anwar 1979; Ballard 1994; Knott 1997; Behloul 2010. 11 Willaime 2000, 635.

Religion als Ressource und Konfliktpotential in Europa

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tureller, nationaler, politischer und religiöser Motive bzw. aus einem Mix von diesen bilden. Lange Zeit betonten Migrationsstudien die Wichtigkeit von nationaler und sprachlich-kultureller Zugehörigkeit für Vergemeinschaftungsprozesse. Die Sozialanthropologin Nina Glick Schiller verweist jedoch auf die Überstrapazierung dieser Faktoren und betont dem gegenüber die Bedeutung religiös begründeter Gruppenbildungen.12 Wie eben ausgeführt, soll der Begriff der Gemeinschaft das Gefühl der Zusammenhörigkeit und vorgestellter gleicher Interessen und Zielsetzungen umfassen. Die Gemeinschaft ist eine konstruierte und vielfach fragile. Der Begriff schließt insofern in keiner Weise interne Spannungen um Ehre, Macht und Prestige aus. Auch in punkto Formen des Mitgliedschaftsstatus, Bindungsgrades, Organisations- und Finanzierungsmodus zeigt sich eine breite Varianz und Unterschiedlichkeit. Zudem ist eine Gemeinschaft in keiner Weise autonom, sondern wie im Falle von Immigranten hochgradig eingebunden in nationale Inkorporationsbedingungen und transnationale Netzwerke (etwa familiär, ökonomisch und religiös). Ressource13 : Eine Ressource ist allgemein verstanden ein Mittel oder eine Quelle. Volkswirtschaftlich gesehen sind Ressourcen Produktionsfaktoren wie Arbeit und Kapital; ebenso auch natürliche Mittel wie Land und Bodenschätze sowie immaterielle Güter, wie etwa Bildung, Know-how und Beziehungen. In Analogie zum ökonomischen Verständnis, ohne dies hier zugrunde zu legen, soll der Begriff der „Ressource“ in allgemeinem Sinn als unterstützendes und ermöglichendes Mittel verwendet werden.

2.2

Religion als Ressource für die Gesellschaft

Schon die frühen religionssoziologischen Studien von Emile Durkheim14 verwiesen auf das integrative Leistungsvermögen von Religion in kleinen, religiös einheitlichen Gesellschaften. Über Religion würden die Mitglieder einer Gesellschaft bzw. eines Sozialverbandes integriert: Religion schaffe Kohäsion und stärke den gesellschaftlichen Zusammenhalt. In diese Richtung hin prägte Robert Bellah15 den Begriff der „Zivilreligion“– als übergeordnet über jeweilige partikulare religiöse Orientierungen schaffe die civil religion eine Bindekraft 12 Vgl. Glick Schiller / Caglar / Guldbrandsen 2006. 13 Altfranzösisch: resourdre; bzw. Latein: resurgere. Es bedeutet: wieder aufstehen, wieder erwachen. 14 Durkheim 1912. 15 Bellah 1966.

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und Idee der Zusammengehörigkeit, welche die US-amerikanische Gesellschaft über Gegensätze und Interessen hinweg integrieren würde.16 Während diese und weitere Autoren wie J. Milton Yinger17, Talcott Parsons18 und Rolf Schieder19 auf das Potential gesamtgesellschaftlicher Kohäsion durch Religion bzw. möglicher Ersatzformen verweisen, gehen jüngere Studien dazu über, den Ressourcencharakter durch soziale und karitative Tätigkeiten verschiedener religiöser Gemeinschaften und Kirchen zu betonen. In dem 2007 – 2010 durchgeführten Projekt „Religiosität in der modernen Welt“ am Beispiel der Schweiz kommen die Projektverantwortlichen Jörg Stolz und Judith Könemann zu eindeutigen Ergebnissen: Von den 1229 „face-to-face“ Befragten und 73 Tiefeninterviews (damit repräsentativ für die Schweiz) sprechen sich mehr als zwei Drittel für eine große soziale Bedeutung der christlichen Kirchen für sozial Benachteiligte aus. Gerade in diesem Bereich erkennen alle, von christlich Gebundenen bis Konfessionslosen, die hohe gesellschaftliche Bedeutung christlicher Kirchen an.20 Immigrationen haben hier die Bedeutung und den Stellenwert der institutionell verfassten Religion in Form der christlichen Kirchen nicht verändert. Vielmehr, so kann wie nachfolgend argumentiert werden, gleichen sich Immigrantenreligionen mit ihrem Dienstleistungsangebot an dominante Vorbilder und ihre Funktionen an.

2.3

Religion als individuelle und gemeinschaftliche Ressource für Immigranten

Viele Immigranten und Immigrantinnen vergewissern sich durch die in der Familie und Gemeinschaft tradierten religiösen Orientierungen. Diese geben Halt, Orientierung und leisten Selbstvergewisserung. In der fremd-kulturellen Umwelt nehmen Immigranten oftmals neu und geschärft die eigene religiöse Zugehörigkeit wahr. Anders als im Herkunftsland bildet Religion ein Kennzeichen der Differenz – „religion has become a defining characteristic“, wie Kim Knott mit Blick auf südasiatische Zuwanderer in Großbritannien festhielt.21 Gleiches trifft auf christliche Immigranten aus Afrika, Asien oder Europa zu, die 16 Zur möglichen Übertragung des Ansatzes auf Europa siehe: Kleger / Müller 1986, zu Deutschland: Vögele 1994. 17 Yinger 1946, 1963. 18 Parsons 1951, 1966. 19 Schieder 1987. 20 Die Studie erhob leider aus „methodischen Gründen“ nicht die Religiosität von Angehörigen nichtchristlicher Religionen, siehe Stolz / Könemann 2011, 4. Siehe dazu jedoch Martens 2010 zu Muslimen in der Schweiz. 21 Vgl. Knott 1997, 756.

Religion als Ressource und Konfliktpotential in Europa

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sich zumeist nicht den etablierten Kirchen anschließen.22 Man unterscheidet sich nicht mehr ggf. durch Sprache, Kleidung, Hautfarbe und Aussehen von der Mehrheitsbevölkerung. Auch die religiösen Praktiken und Anschauungen markieren Unterschiede. Diese Sonderheit wirft erneut den Blick auf die eigene Religion, auf das, womit man sich identifiziert und was nicht aufgegeben werden soll. Die gemeinsame Religion führt die Zugezogenen in der Fremde zusammen, lässt sie Gemeinschaften bilden und im Laufe der Zeit kleine wie große Andachtsstätten errichten. Diese Gemeinschaften bieten dem bzw. der Einzelnen emotional-psychologische Unterstützung, Hilfe und Beistand. Durch gleiche Sprache und Verhaltensformen ist ein Gefühl von Vertrautheit und Heimatverbundenheit gegeben. Netzwerkanalytisch bilden Gemeinschaften soziale Zusammenhänge und Beziehungen, die soziale Sicherheit und Stabilität hervorbringen und „individuelles und kollektives Handeln und Entscheiden fundier(en)“23, so Dieterich Thränhardt und Karin Weiss. Ein spezifisches Netzwerk ist die religiöse Gemeinschaft. Diese ist nur eine unter vielen migrationsbegründeten Institutionen. Die religiöse Gemeinschaft oder Vereinigung ist meist von Dauer und weist im Unterschied zu anderen Gemeinschaftsbildungen ein großes Beharrungsvermögen auf. Die Bildung religiöser Gemeinschaften, gerade auch in der Diaspora, stellt den Regel-, nicht den Ausnahmefall dar, wie zahlreiche Beispiele rascher Gemeinschaftsgründungen aus der älteren und jüngeren Geschichte von Migrationen verdeutlichen.24 Es lässt sich daher die These formulieren, dass keine religiöse Gemeinschaft zu bilden erklärungsbedürftig ist, nicht jedoch die Tatsache, dass eine solche gegründet wird. Die religiöse Gemeinschaft von Migranten konstituiert sich im Aufnahmeland aufgrund ritueller, religiöser und biografiezyklischer Bedürfnisse. Die Ausübung der religiösen Vollzüge erhält in besonderem Maße die Verbindung zur zurückgelassenen Heimat aufrecht – auch wenn das Bild dieser Heimat oft in einer idealen Form erstarrt, den Wandel der Verhältnisse im Herkunftsland nicht reflektiert und so schrittweise an Realitätsbezug einbüßt. Hier führen sie die gleichen rituellen Handlungen durch, sprechen die gleiche Sprache, und Personen gleicher kulturell-sprachlicher Herkunft treffen sich. Hochzeiten und Totenrituale werden zelebriert, und Kinder und Jugendliche werden an die religiösen Inhalte und Handlungen, wie sie in der zurückgelassenen Heimat üblich sind, herangeführt. 22 Vgl. Simon 2003; Lehmann 2006; Jäggi / Schär 2009; Hainard / Hämmerli 2011. 23 Thränhardt / Weiss 2005, 8. Erg. MB. 24 Unter anderem: Altermatt 1986; Brandenburg / Brandenburg 1990; Ballard 1994; Bouma 1996; Baumann 2003, 92 – 109.

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Dieses zeigt sich in jüngerer Vergangenheit und Gegenwart hinlänglich etwa bei türkischen, pakistanischen oder bosnischen Muslimen, bei buddhistischen Vietnamesen oder hinduistischen Tamilen in Westeuropa.25 Aber auch in antiken und vormodernen Zeiten, etwa bei Diasporajuden in Ägypten und Kleinasien oder bei den Hugenottenflüchtlingen im 18. Jahrhundert in der alten und neuen Welt, erfolgte charakteristischerweise der Bau von Gemeinschaftsstätten, von Synagogen und Kirchen. Die religiösen Stätten bildeten und bilden einen integralen und identitätsstiftenden Bestandteil, ein Leben in den kulturell-religiös pluralen Gesellschaften aufzubauen und ein Teil der Gesellschaft zu werden.26 Mehr noch, wie aktuell bei zahlreichen Andachtsstätten, Moscheen und Tempeln beobachtbar, nehmen die Gemeinschaftsorte in vielen Fällen zusätzlich zu ihren religiösen Aufgaben auch soziale, karitative, edukatorische und mitunter politische Funktionen ein. In nicht wenigen Moscheen werden neben der Ausübung des Gebets beispielsweise Sportangebote und Computerkurse für Jugendliche angeboten, ebenso Deutschunterricht für Frauen und Hilfen für die Führerscheinprüfung. Wichtig sind ebenso der Fernsehempfang aus dem Herkunftsland und das soziale Zusammensein. Religionswissenschaftler wie Samuel Behloul sprechen diesbezüglich von poly- bzw. multifunktionalen Dienstleistungszentren, die weit über die üblichen Funktionen einer Moschee hinausgehen.27 Diese Ausweitung von Aufgaben und Zuständigkeiten religiöser Stätten über die sakrale Dimension hinaus kann als geradezu typisch für diese religiös begründeten Gemeinschaftsorte angesehen werden. Oftmals fungieren religiöse Stätten bzw. ihre Leiter als Repräsentanten der Zuwanderergruppe. Ihnen kommt die Bedeutung eines konkret fassbaren wie auch symbolischen Referenzpunktes für „Außenstehende“ zu, etwa für Behörden und andere gesellschaftliche Gruppen.28 Dieses trifft gleichermaßen für Moscheen und Imame in Europa wie für Kirchen und Pastoren bzw. Priester etwa im Nahen Osten zu. Religion bildet für den Großteil von Migranten und Immigranten, sicherlich nicht für alle, auf individueller Ebene eine Ressource der Selbstvergewisserung und des emotionalen und identifikatorischen Rückhalts. Auf kollektiver Ebene fördern die gleichen religiösen Bezüge Vergemeinschaftungsprozesse, überfamiliäre Beziehungen und Netzwerkbildungen mit verwertbarem, sozialem Kapital.29 Die Gemeinschaften sind „sowohl Rückzugsorte als auch Orte der Selbstbehauptung (und) Selbstvergewisserung“, die neuen Sakralstätten bilden 25 Unter anderem: Anwar 1979; Baumann 2000; Spuler-Stegemann 2002; Weigelt 2011; Behloul 2012. 26 Vgl. Baumann 2004. 27 Vgl. Behloul / Lathion 2007, 201; Martens 2010. 28 Vgl. Vertovec 1996. 29 Vgl. Bourdieu 1983.

Religion als Ressource und Konfliktpotential in Europa

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„symbolisch hoch besetzte Orte, wo die Herkunftskultur in der Residenzgesellschaft inszeniert und gelebt wird“30. Zugleich ist festzuhalten, dass eine religiöse Gemeinschaft nicht nur eine Ressource für das Individuum darstellt: Sie kann die im Herkunftsland gängigen Formen von Sozialkontrolle, Machtstrukturen und Rollenverhalten fortsetzen und bestärken. Neue Optionen und Freiheiten der Diaspora können damit zurückgedrängt werden.31

2.4

Analytische Perspektive: bürgerschaftliches Sozialkapital

Prozesse der Vergemeinschaftung können netzwerkanalytisch als Steigerung der Sozialbeziehungen und „Knoten“ von Akteuren untersucht werden.32 In Bourdieu’scher Sozialkapitalperspektive lassen sich so der erworbene Nutzen und die „Kreditwürdigkeit“33 eines Einzelnen analysieren, die er oder sie durch Zugehörigkeit zu einer spezifischen Gruppe und durch Beziehungen innehat. Dazu Bourdieu: „Der Umfang des Sozialkapitals, das der Einzelne besitzt, hängt demnach sowohl von den Ausdehnungen des Netzes von Beziehungen ab, die er tatsächlich mobilisieren kann, als auch von dem Umfang des (ökonomischen, kulturellen oder symbolischen) Kapitals, das diejenigen besitzen, mit denen er in Beziehungen steht.“34

Im Folgenden soll hier jedoch weniger das fortwährend zu pflegende und institutionalisierte soziale Kapital des bzw. der Einzelnen interessieren (z. B. durch bestimmte Zugehörigkeiten). Vielmehr geht es mir um die Analyse des sozialen Kapitals einer Gruppe bzw. Organisation. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Robert Putnam übernahm den Sozialkapitalbegriff in den 1990er Jahren und betonte die Leistungen und Errungenschaften, die gemeinschaftliche Freiwilligenorganisationen wie Gewerkschaften, Kirchen, Denominationen oder Nachbarschaftskomitees für ihre Mitglieder und den gesellschaftlichen Zusammenhalt erbringen würden. In solchen organisierten Strukturen werde gegenseitiges Vertrauen gebildet, für Dritte fänden sich Unterstützungsleistungen und Sozialnetzwerke. Es seien dies Leistungen, die den Zusammenhalt eines Stadtteils fördern, Gewalt verringern und letztlich die Lebensqualität erhöhen würden. Kein „bowling alone“, sondern ein Wiedererwecken des amerikani-

30 31 32 33 34

Rech 2003, 19 f. Unter anderem: Neumann 1994; Schiffauer 2000, 2005. Vgl. Schweizer 1989; Scheng / Lang 2002. Bourdieu 1983, 191. Ebd.

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schen community spirit werde in solchen gemeinschaftlichen Bezügen gefördert.35 Der US-amerikanische Soziologe und Ethnologe Alex Stepick übernahm Putnams Konzept des gemeinschaftlichen Sozialkapitals und bezog es auf religiöse Gemeinschaften von Immigranten (religious immigrant communities). Stepick und seine Forschergruppe untersuchten am Beispiel von immigrant communities in Miami (Florida), welche Formen von bürgerschaftlichem Sozialkapital, von „civic social capital“, religiös begründete Gemeinschaften hervorbringen würden. In seiner Studie Churches and Charity (2009) unterschied er drei Formen von Sozialkapital36 : – bonding social capital – dieses geht aus Beziehungen von Personen hervor, die ähnliche Interessen haben und beispielsweise der gleichen religiösen Gemeinschaft angehören. Sie haben Vertrauen zueinander und unterstützen sich gegenseitig. „Bonding social capital provides emotional support and the solidarity produced by religion that Emile Durkheim associated with group rituals.”37 – bridging social capital – dieses verbindet Personen, die in unterschiedlichen Gruppen und Milieus beheimatet sind. Die Sozialbezüge bauen Brücken zwischen unterschiedlichen Gemeinschaften und Personen; sie fördern Kooperation, Toleranz und gegenseitige Anerkennung. Gemeinsam in einem übergreifenden Zusammenschluss und im Sinne des Gemeinwohls kann man übergeordnete Ziele verfolgen, etwa gegen Diskriminierung ankämpfen, Stadtteilkriminalität entgegentreten u. a.m. – linking social capital – dies von Robert Wuthnow auch „status-bridging social capital“38 benannte Kapital verbindet Personen, die nicht nur unterschiedlichen Gruppen zugehörig sind, sondern ungleiche Zugänge zu Macht und gesellschaftlichen Ressourcen haben. Es ist eine vertikale Beziehung. „Linking social capital spans vertical arrangements of power, influence, wealth, and prestige. Those with less power acquire influence and other resources through linking social capital“39. Einzelne Mitglieder können Bezüge zu Statusprivilegierten haben, zu Personen mit Macht und Einfluss. Dies kann wiederum vorteilhaft für die Gemeinschaft und ihre gesellschaftliche Positionierung sein.

35 Vgl. Putnam 1995, 2000; Putnam / Campbell 2010; siehe als Überblick: Franzen / Freitag 2007. 36 Stepick / Rey / Mahler 2009, 15 – 16; Stepick / Rey 2011. 37 Stepick et al. 2009, 15. 38 Wuthnow 2002. 39 Stepick et al. 2009, 16.

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Bonding bzw. verbindendes Sozialkapital stellt noch kein „civic“ bzw. bürgerschaftliches Kapital dar, bildet jedoch durch Formen der Binnensolidarität die Voraussetzung für dieses. Offensichtliche Beispiele in religiösen Gemeinschaften sind gegenseitige Unterstützungsleistungen und Freiwilligenarbeit. Hohe bonding Beziehungen können, durch gesellschaftliche Vorgänge des Ausschlusses und der Diskriminierung, auch segregierend und absondernd wirken. Insofern kann Religion durch Schaffung von Binnenkohäsion auch separierende Leistungen erbringen. Bridging bzw. gruppenübergreifendes Sozialkapital verbindet unterschiedliche Immigrantengruppen, seien es verschiedene muslimische oder afrikanische Gruppierungen in einer Stadt oder Region, um mit einer Stimme zu sprechen, Zusammenarbeit zu fördern und für sich und andere gemeinschaftlich etwas zu erreichen. Beispielsweise bringt die Organisation eines „Tags des Flüchtlings“ durch Immigranten gänzlich unterschiedliche Gruppen zusammen, schafft Vertrauen und lässt sie durch den gemeinsamen Auftritt in der Öffentlichkeit auf die Situation vieler hinweisen. Linking bzw. statusüberbrückendes Sozialkapital können etwa gute Beziehungen von einzelnen Leitern, Gruppierungen oder Dachverbänden zu einflussreichen Personen in Behörden, Parteien und Sozialinstitutionen darstellen, ebenso zu Wissenschaftlern und Forschungsinstitutionen. Hier können ggf. Unterstützung für Anliegen erbeten werden und das eigene Renommee gefördert und verbessert werden. Die Perspektive auf religiöse Immigrantengruppen als „Produzenten“ von Solidarität und bürgerschaftlichem Sozialkapital ermöglicht, Religion sowohl als individuumsbezogene als auch als gesellschaftliche Ressource zu analysieren. Die Ergebnisse des Nationalen Forschungsprogramms „Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft“ des Schweizer Nationalfonds 2007 – 2010 (NFP 58) unterstreichen die Multifunktionalität und den oftmals hohen Dienstleistungsund bonding-Charakter von Institutionen immigrierter Religionen.40 Zugleich ist der Blick weit weniger als bislang auf mögliche Problemlagen und Defizite gerichtet. Vielmehr ermöglicht er, Leistungen der Gemeinschaften im Sozial-, Gemeinwohl- und Integrationsbereich wahrzunehmen sowie etwaige „Gefahrenpotenziale“ aus dieser Perspektive besser zu analysieren und ggf. zu relativieren. Der Ansatz des bürgerschaftlichen Sozialkapitals bietet eine analytische Perspektive, die unterschiedlichen Ressourcenleistungen zu systematisieren und strukturierte Vergleiche zu ermöglichen. Für Westeuropa ist gegenwärtig festzuhalten, dass solch bürgerschaftliches Sozialkapital in Form von bridging und linking sich aufgrund der vergleichsweise erst kurzen Immigrations- und Etablierungsgeschichte bei wenigen Im40 Vgl. Bochinger 2012, 45 ff.

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migrantengemeinschaften findet, da gerade in den ersten ca. zwei Jahrzehnten die Aktivitäten vielfach durch Bedürfnisse und Nöte der Erstimmigranten bestimmt sind. Es wird sich zeigen, inwiefern in der zweiten und dritten Immigrantengeneration solches civic Sozialkapital, wie es Stepick für die USA festhielt, hervorgebracht werden wird. Ein künftig verstärktes bridging und linking wird die Bedeutung integrativer Dienstleistungsangebote von Immigrantenreligionen deutlicher sichtbar machen und sie verstärkt an der je nationalen Religionslandschaft und Gesellschaft partizipieren lassen. Politische Strukturen, die Optionen zur gesellschaftlichen Teilhabe und Mitsprache für Immigranten und deren Nachfahren, die die verfassungsrechtlichen Regeln respektieren, bereitstellen, dürften hier ausschlaggebende Rahmenbedingungen sein.41

3.

Religion als Konfliktpotential

Wie am Beginn angedeutet, wird Religion in Westeuropa jedoch nicht nur als positiv förderliche Ressource wahrgenommen. Für das Individuum können religiöse Orientierungen zur Belastung werden, zwischen religiösen Traditionen ist es oft genug zum Konflikt um das „religiöse Erbe“ gekommen, und gesellschaftliche Akteure können die Religion anderer als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ansehen. Nachfolgend sei lediglich kurz auf das Gefahren- und Konfliktpotential für Einzelne und zwischen Religionen eingegangen; ausführlicher soll hingegen das als bedrohlich wahrgenommene Potential von Religionen, und hier erneut durch Migrationsprozesse in westeuropäischen Ländern konstituierter Religionen, behandelt werden.

3.1

Religion als Gefahr für das Individuum und religiöse Traditionen

Auf individueller Ebene wird seit Sigmund Freuds Abhandlungen, populärwissenschaftlich gewendet in Tilmann Mosers Anklageschrift Gottesvergiftung (1976), die religiöse Bindung des Einzelnen kritisch diskutiert. Religion habe das Vermögen, durch die starken emotionalen Bindungen und die als unstrittig ausgegebenen Glaubensinhalte zur Bedrückung und Fessel zu werden. In der Anti-Sekten-Debatte der 1970er und 1980er Jahre war rasch und medienwirksam initiiert die Rede vom destruktiven Charakter sogenannter „Jugendreligionen“, von unfreiwilligen Abhängigkeiten und finanzieller Ausbeutung.42 Der Vorwurf ist schon weit älter, wie sich gleich zeigen wird. 41 Vgl. Vertovec 1996; Vortkamp 2008; Nolte 2009. 42 Vgl. Haack 1979; kritisch: Introvigne 1998; Murken 1998, 2009.

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Auch zwischen Religionen sowie zwischen religiösen Traditionen innerhalb einer sogenannten „Weltreligion“ finden sich, so zeigt die Religionsgeschichte eindringlich auf, vielfach Kontroversen bis hin zu gewaltsamen Konflikten. Insbesondere der Streit um das „religiöse Erbe“, um die vermeintlich rechtmäßige und angemessene Interpretation und Auslegung der Worte des Gründers bzw. der Gründerin, führten zu Abgrenzungen, Polemiken, Geringschätzungen bis hin zu Kriegen. Reformatorische Aufbrüche wurden in Europa z. T. unnachgiebig verfolgt. Die Mehrzahl von Religionen bzw. Konfessionen in einem Territorium galt im frühneuzeitlichen Europa als Gefahr für die staatliche Stabilität.43 Im 20. Jahrhundert sehen gesellschaftliche Akteure und einzelne Interessensgruppen aufgrund zugewanderter Religionen ähnliche Bedrohungen und Gefahrenpotenziale gesellschaftlich-staatlichen Zusammenhalts.

3.2

Religion als Gefahr gesellschaftlicher Kohäsion

In sozial-konservativen Milieus Westeuropas werden gegenwärtig vielerorts Zugezogene und Immigranten als Gefahr für den Status quo interpretiert, als gefühlte Bedrohung der Errungenschaften von Staat und „Sozialgemeinschaft“44. Die Orientierung an „fremden“ Glaubenssystemen, die Organisation in eigenen Gemeinschaften und die fortdauernde Identifikation mit der Kultur und Religion einstiger Herkunft lasse auf eine mangelnde Loyalität gegenüber dem Aufnahmeland und auf mangelnden „Integrationswillen“ schließen, so der Vorwurf. Zuwanderer und Immigranten sind oftmals als „Ausländer“ und damit als „Randgruppe“, als „sozialer Sprengstoff“, „Belastung“ und „Problem“ eingruppiert. Generell werde „ein defizitäres Bild beschworen, in dem Zuwanderer entweder als gefährlich oder als hilfsbedürftig erschienen“45, so zusammenfassend Thränhardt und Weiss. Im Bourdieu’schen Vokabular wird die soziale „Kreditwürdigkeit“ der Immigranten und ihrer Gemeinschaften als gering und nicht verlässlich eingestuft. Solche und verwandte Abwehrdiskurse sind alles andere als neu, sie finden sich in vormoderner wie in moderner Zeit. Religionswissenschaftlich interessant ist, dass sich in Europa vielfach, bei weitem nicht stets, gerade an der errungenen Sichtbarkeit von zugezogenen religiösen Gemeinschaften Kontro43 Wie bekannt, galt in europäischen Fürstentümern, Königs- und Kaiserreichen ab dem Augsburger Frieden 1555 das Prinzip des cuius regio eius religio, nach dem der Landesfürst die Konfession der Untertanen bestimmte. Das Prinzip blieb bis zur verfassungsrechtlichen Etablierung der Religionsfreiheit im 19. und frühen 20. Jahrhundert prägend (van Dülmen 1989; Bielefeldt et al. 2008). 44 Giordano 2007; Wilders 2012; darstellend: Buschkowsky 2012. 45 Thränhardt / Weiss 2005, 15.

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versen und Konflikte entzündeten. Die neue Öffentlichkeit und Visibilität interpretierten selbsternannte Hüter des Status quo als Angriff auf Bewährtes durch Eindringlinge, als drohenden Beginn einer raschen Ausbreitung und klandestinen Unterwanderung.46 Der Beitrag führt im Folgenden zwei Beispiele für das Konfliktpotential immigrierter Religionen an, so wie es von Interessensgruppen und selbsternannten Sprechern der Aufnahmegesellschaft gesehen bzw. heraufbeschworen wurde. Migration und importierte Religion wurde als Gefahr für die soziale Kohäsion eines Landes gesehen. Anlass des Konfliktes war das öffentliche Auftreten der „fremden“ Religion, sei es durch Aufmärsche oder religiöse Bauwerke. 3.2.1 Gefahr durch „Geheimlehren“ 1913 verließ Rudolf Steiner München und zog mit der von ihm gegründeten Anthroposophie in die Schweiz, nach Dornach. Die Anthroposophie war im gleichen Jahr durch Abspaltung von der Theosophie hervorgegangen und ihr spiritus rector warb für seine spirituell-esoterischen Anschauungen in Vorträgen und Publikationen.47 Zahlreiche Anhänger folgten Steiner und rasch begann man den Bau des „Johannisbaus“, eines nach Steinerschen Vorstellungen konzipierten charakteristischen Kuppelbaus. Daraufhin formierte sich unter Anführung lokaler Pfarrer eine Gegenbewegung. Sie warfen Steiner vor, dass er seine Anhänger in eine psychische Abhängigkeit bringe und die Anthroposophie eine sich verstellende „Geheimlehre“ sei. Ihr gehe es nur um das „Geschäft“48. Die als Theosophie bezeichnete Lehre und ihr pompöses Bauwerk passen weder zur Schweiz noch zum Christentum. Der protestantische Pfarrer Kully wetterte: „So wenig der orientalisch gehaltene Kuppelbau in unsere Gegend passt, so wenig passt die theosophische Geheimlehre zum schweizerischen Denken und Fühlen […]. Gesunder Schweizersinn ist gegen die Steinersche, von Berlin importierte Theosophie […]. Was uns in Arlesheim und Dornach begegnet, sind meistens Ausländer […]. Wir betrachten die Theosophie als einen Eindringling und ein Unglück für weiteste Volkskreise. Daher raus mit ihr.“49

Der Konflikt zwischen Bevölkerung und Anthroposophie wurde zwar vor allem in Zeitungsartikeln ausgetragen. Es kam jedoch auch zu öffentlichen Kundgebungen und Beschimpfungen. Die Anfeindungen eskalierten, als 1922 Brandstiftung das Gebäude in Flammen aufgehen ließ (nach Zander ist die genaue 46 47 48 49

Vgl. Baumann 1999. Vgl. Zander 2011. Nägeli 2003, 51. Kully 1921, 9, zitiert nach Nägeli 2003, 51.

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Brandursache jedoch nicht abschließend geklärt).50 Insgesamt gelang es der Volksbewegung jedoch nicht, die Behörden zum Verbot der Anthroposophie zu bringen. Die Anthroposophen erbauten das Gebäude mit der neuen Bezeichnung als „Goetheanum“ 1928 erneut und noch pompöser. Die Ängste legten sich im Laufe der Jahrzehnte, da sich die Befürchtungen und Unterstellungen nicht bewahrheiteten und sich die Mitglieder beruflich und sozial weitgehend integrierten. Die durch Immigration in der Schweiz sesshaft gewordene Anthroposophie hatte sich nach und nach durch ihre schulischen, medizinischen, sozialtherapeutischen und künstlerischen Angebote ihrer „Kreditwürdigkeit“ erwiesen und verfügt heutzutage neben hohem bonding über vielfältiges bridging und linking Sozialkapital.51 3.2.2 Bedrohung durch Islam und Minarette Nicht solch gewalttätige Brandsätze wie bei der Anthroposophie, jedoch verbale Attacken dominieren seit 9/11 und den terroristischen Anschlägen in Europa 2004/05 weite Teile der öffentlichen Wahrnehmung mit Blick auf muslimische Minderheiten und „den Islam“. In verschiedenen Städten Westeuropas kam es zu erheblichen Auseinandersetzungen mit nationalem Aufmerksamkeitsgrad um den Bau sichtbarer, repräsentativer Moscheen.52 Der Verlauf der Schweizer Stopp-Minarett-Debatte 2009 kann als bisheriger Kulminationspunkt auf diese Weise wahrgenommener und konstruierter Konflikte gesehen werden. Die Kampagne der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und der Ausgang des Referendums Ende November 2009 unterstreichen, dass Religion, zumal „fremde“ und stereotypisierte Religion, zu erheblichen gesellschaftlichen Verwerfungen und Abgrenzungspolitiken in Europa führen kann. Nur kurz soll hier Wichtigstes rekapituliert sein: In der Kleinstadt Wangen (Kanton Solothurn) hatte 2005 der Türkische Kulturverein bei der Gemeinde den Antrag zur Errichtung eines Minaretts gestellt. Das als Kultur- und Betraum genutzte Fabrikgebäude sollte durch ein sechs Meter hohes symbolisches Minarett als Moschee nach außen hin kenntlich gemacht werden, ein sichtbares Zeichen der eigenen Religion. Das Vorhaben führte zu leidenschaftlichen Diskussionen und zahlreichen privaten Einsprachen und einer Sammeleinsprache. Minarett-Gegner klagten, das Minarett sei nichts „Schweizerisches“, passe nicht ins Dorfbild und gefährde den Religionsfrieden. Der Turm verstoße gegen die maximale Bauhöhe, eine „Berieselung 50 Vgl. Zander 2001, 422. 51 Das Beispiel der Anthroposophie wurde in Anlehnung an Passagen aus Baumann / Stolz 2007, 355 – 356 dargestellt. 52 Vgl. Schmitt 2003; Saint-Blancat / Schmidt di Friedberg 2005; Sommerfeld 2008; Tanner et al. 2009; Allievi 2009. Zur Situation in Österreich vgl. Schuller 2013 und Fürlinger 2013.

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mit moslemischen Gebeten“ und eine „schleichende Unterwanderung durch den Islam“ seien zu befürchten, so die Kritiker. Anwohner beklagten Lärm und ungeordnetes Parken (Parkieren) bei größeren Anlässen in der Moschee. Es folgte ein Rechtsstreit bis zum Bundesgericht, das den Bau schließlich im Sommer 2008 genehmigte.53 Das Bauvorhaben und die Gerichtsverfahren wurden in der zusehends antimuslimischen Atmosphäre 2007/08 von einer Unterschriftensammlung begleitet. Ziel war, mittels eines Referendums den Bau neuer Minarette gesetzlich zu verbieten. Nach einer sehr emotional geführten Debatte, die mit anderen Themen wie Druck der EU zur Abschaffung des Schweizerischen Bankgeheimnisses und libyscher Geiselaffäre zu einer Situation allgemeiner Verunsicherung führte, votierte der Schweizer Souverän im November 2009 bekanntermaßen für ein Verbot: 57 % der abstimmenden Schweizer Bürger (die Stimmbeteiligung betrug 53,8 %) bejahten, dass in die Bundesverfassung mit sofortiger Gültigkeit der Satz für alle neu beantragten Minarettbauten aufgenommen werde: „Der Bau von Minaretten ist verboten.“ (§ 72,3 BV).54

3.3

Analytische Perspektive: Öffentlicher Raum

Die Debatte um den Bau von Minaretten, ebenso auch die Auseinandersetzung um den Bau des Goetheanums, entzündeten sich auffallend an der Sichtbarkeit und damit Öffentlichkeit der als „fremd“ kategorisierten Religion. Sicherlich ist die Anti-Minarett-Kontroverse von rechtskonservativen Kreisen und Parteien politisch geschickt lanciert worden: Sie problematisierten das Auftreten zugezogener bzw. „fremder“ Religionen im öffentlich Raum und vertraten die Ansicht, dass der Islam als angeblich totalitär veranlagte Religion sich deshalb nicht präsentieren und repräsentieren dürfe. Zur Analyse der Konflikte soll die theoretische Perspektive des öffentlichen Raums herangezogen werden. Jürgen Habermas’ Schrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“55 prägte lange Zeit das Verständnis der demokratischen Öffentlichkeit als Raum rational-kritischer Debatte mit einem Zugang für alle. Seit einigen Jahren ist Habermas bemüht, auch Religion – zumal in Europa – einen Platz und Legitimität als Quelle möglicher Erneuerung zuzugestehen.56 53 Vgl. Baumann / Stolz 2007, 358 – 359; Bilder und eine Kurzbeschreibung des Konflikts unter „Kuppel – Tempel – Minarett“: Türkischer Kulturverein Wangen, URL: www.religionenschweiz.ch/bauten/tuerk.html [02. 01. 2014]; und allgemein dazu: Tanner / Müller et al. 2009. 54 Zur Analyse der politischen Entwicklung und Auswertung des Abstimmungsergebnisses vgl. Mayer 2011. 55 Habermas 1962. 56 Vgl. Habermas 2005. Andere analytische Zugänge bietet etwa ein diskurstheoretischer

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Hier sollen jedoch, gerade vor der Folie der Konfliktträchtigkeit von Religion durch angestrebte Öffentlichkeit, Überlegungen des französischen Sozialtheoretikers, Philosophen und Historikers Henry Lefebvre zugrunde gelegt werden. Lefebvre zufolge sind alle Sozialbeziehungen räumlich und der Raum ist vor allem ein gesellschaftlicher Raum und damit ein gesellschaftliches Produkt.57 Kim Knott hat Lefebvres Ansatz religionswissenschaftlich ausgearbeitet und in ihrer Raumtheorie die Konfigurationen und Eigenschaften des „public space” mit Blick auf den Symbolgehalt von Kirchen und religiösen Gebäuden analysiert: „Churches and other places of worship, as symbolic places, are one means by which religious ideas about the divine, the human community, and the ritual process of producing sacred space are given a material presence.”58

Jedoch, so betont Knott, ist diese materielle Präsenz mitunter stark in Frage gestellt. Sie kann auf der Grundlage sozialer und politischer Macht verboten oder an periphere Orte und Räume verbannt werden. Insofern ist der öffentliche Raum alles andere als leer, neutral oder bedeutungslos. Vielmehr ist er sozial definiert und die Teilhabe an Öffentlichkeit unterliegt einer gesellschaftlichen Deutung. Gerade in den skizzierten Konfliktfällen erweist sich der öffentliche Raum als normatives und verteidigtes Terrain. Akteure, die neu als „Teilnehmer“ im stets sozial gedeuteten öffentlichen Raum einen Platz einnehmen wollen, werden je nach Interpretation ihres Daseins als Bedrohung oder auch Bereicherung platziert. Die bereits länger präsenten Bevölkerungsgruppen haben die Nutzung und Gestaltung des öffentlichen Raums längst mittels Regularien unter sich geregelt und die Ansprüche untereinander ausgehandelt. Dem öffentlichen Raum und dessen Eigenschaften, den „properties of space“59, erwächst so „implizite Normativität“. Neue Einflüsse durch gesellschaftliche Veränderungen wie Immigrationen stellen diese Normativität bzw. dieses als Gemeingut Verstandene fortwährend auf die Probe. Meist geschieht dies unspektakulär und gewissermaßen fließend. Sind die Einflüsse jedoch massiv, z. B. durch schnellen gesellschaftlichen Wandel oder durch Zuwanderung und Einfordern von gesellschaftlicher Teilhabe, kann der Aushandlungsprozess krisenhaft verlaufen. Erst dadurch rückt der öffentliche Raum ins BeAnsatz nach Glasze / Mattissek 2009 oder Casanovas Konzept der „public religion“ und Deprivatisierung von Religion, vgl. Casanova 1994, 1991. Für eine historische Einordnung des Begriffs der „Öffentlichkeit“, seit dem 18. Jahrhundert ein Begriff des Prozessrechts, und dessen Entwicklung wissenschaftlicher Verwendung vgl. Schulze 2009, 141 – 151. 57 Vgl. Lefebvre 1974; Elden 2004. 58 Knott 2005b, 162. 59 Knott 2005b, 160.

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wusstsein weiter Teile der Bevölkerung und wird als sensibel und als „verteidigungswertes Terrain“ wahrgenommen. Es gelte, Vorhandenes zu bewahren und dem bedrohenden Fremden Einhalt zu gebieten. Die Soziologin Chantal Saint-Blancat unterstreicht in dieser Perspektive, dass der öffentliche Raum in Europa im Kontext von Immigrationen „(has become) a testing and training ground of sorts for multicultural coexistence. We are witnessing a difficult acceptance and management of contemporary religious and cultural plurality in European urban space”60.

In der Tat lassen sich aktuelle wie jüngste Konfliktkonstellationen, sei es in Köln und anderswo, als Kampf um Teilhabe, Hoheit und Repräsentanz im öffentlichen Raum analysieren: Verteidiger des Status quo reklamieren für sich, Verteidiger des „christlichen Abendlandes“ zu sein, in dem auf religiösem Feld nur Kirchen öffentliche Repräsentanz zustehe.61 Einschränkend ist festzuhalten, dass nicht alle neuen religiösen Bauten umkämpft bzw. bekämpft waren: Faktoren sind u. a. das gesellschaftliche Image der immigrierten Religion („Kreditwürdigkeit“), das Prestige und die Anzahl der Zuwanderer, die lokale Situation und mögliche Politisierungen von Interessengruppen. Anhand des Projekts des Zentrums Religionsforschung (Universität Luzern) „Kuppel – Tempel – Minarett“, das alle sichtbaren Religionsbauten von Immigranten seit 1945 in der Schweiz dokumentierte, lassen sich diese Faktoren instruktiv benennen sowie vorausschauende Strategien der Vermittlung formulieren. Wie an unterschiedlichen Beispielen erkennbar, erscheint eine frühzeitige Information und Kommunikation über das geplante Bauprojekt ein grundlegender Teil der Lösungs- und Umsetzungsstrategie zu sein.62

4.

Schlussfolgerungen und Perspektiven

Der Beitrag versuchte anhand ausgewählter theoretischer Perspektiven das Wechselverhältnis von (Im)Migration und Religion in Westeuropa mit dem Fokus des Ressourcen- und Konfliktpotentials zu analysieren. Dargestellt wurde zum einen, dass die religiöse Bindung und Gemeinschaft für viele Immigranten einen wichtigen persönlichen Rückhalt, eine Selbstvergewisserung und nicht aufzugebende Identifizierung bildet.63 Die Gemeinschaft bietet Zusammenhalt, Beistand und ein Netzwerk Gleichgesinnter mit gegenseitiger Unterstützung. Als 60 61 62 63

Saint-Blancat 2008, 99. Vgl. Baumann / Tunger 2011a. Vgl. Baumann / Tunger 2011b. Unter anderem Ballard 1994; Knott 1997; Jansen / Keval 2003; Baumann 2004; Hainard / Hämmerli 2011, siehe Teil 1.2)

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spezifisch religiöse Gemeinschaft ist sie ein Ort geteilten Glaubens und gemeinsamer Praxis, schafft Vertrautheit und hält eine Verbindung zur früheren Heimat aufrecht. Als Fazit lässt sich ableiten, dass ein Großteil von Immigranten und Immigrantinnen, insbesondere Mitglieder der Erstgeneration, Religion und die religiösen Gemeinschaftsorte als grundlegend bedeutend und wichtig für sich einstufen. Es fragt sich daher, ob die in Ländern Westeuropa vielfach anzutreffende Reserviertheit und Distanz gegenüber „fremden“ religiösen Praktiken und Religionsstätten, die oft auf mangelnden Kenntnissen und Illiteralität in Sachen Religion basiert, nicht wohlmöglich das für Immigranten wichtige Ressourcen- und Bindungskapital von Religion außer Acht lässt und damit mögliche Integrationshilfen verkennt. Die theoretische Perspektive des civic social capital (siehe 1.4) verwies zum anderen darauf, dass religiöse Gemeinschaften über ihre starke bonding-Beziehung hinaus auch größere gesellschaftliche Zusammenhänge mitgestalten und hier Bedeutung annehmen können. Immigrantengemeinschaften können, je nach eigenen Interessen und Motiven, Brücken bauen und damit Gemeinwohlaktivitäten entfalten. Sie können, so Stepick, Rey und Mahler, Kooperation, Gemeinschaftssinn und gegenseitige Anerkennung fördern und zum Zusammenhalt auf lokaler Ebene beitragen.64 Andererseits sind durch bonding-Beziehungen jedoch auch absondernde Entwicklungen mit hohem Gruppendruck bei vielerlei Verpflichtungsanforderungen nach innen und wertenden Grenzen nach außen möglich.65 Der Rechtsstaat und die Politik stehen hier vor wichtigen Aufgaben, solche Entwicklungen nicht zu verharmlosen und tatenlos zuzusehen.66 Bridging, mehr aber noch linking social capital wertet marginalisierte Gruppen durch ihren Kontakt zu Personen oder Institutionen mit Status, Einfluss und Macht auf und führt sie dadurch näher an die gesellschaftliche Mitte heran. In dieser Richtung hin ließe sich überlegen, inwiefern ein genauerer Blick auf das Dienstleistungsangebot von Immigrantenvereinen und dort erbrachter Leistungen im sozialen, sprachlichen und oft auch bildungsbezogenen Bereich sich als hilfreich für integrative Maßnahmen mitnutzen ließe. Könnte wohlmöglich eine stärkere Wahrnehmung und eine Koppelung mit staatlichen, kommunalen und zivilgesellschaftlichen Eingliederungsaktivitäten entsprechende Synergien, eine höhere Akzeptanz und damit besser zugeschnittene Integrationsaktivitäten für Neuankömmlinge und Kinder der Erstgeneration entfalten?

64 Vgl. Stepick / Rey / Mahler 2009. 65 Vgl. Schiffauer 2000; Kippenberg 2011, 116. 66 Vgl. Buschkowsky 2012, 73, 101 – 103, 110 f.

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Legt man diese Perspektive von Dienstleistungs- und im weiteren Sinne Gemeinwohlaktivitäten zugrunde, so verweist das Potential von religiösen Immigrantengemeinschaften zugleich auch darauf, dass die beeinflussenden rechtlichen, politischen, sozialen und kulturellen Inkorporationsbedingungen der Aufnahmegesellschaft von grundlegender Bedeutung sind. Es legt sich nahe darüber nachzudenken, welche Bedingungen das Hervorbringen von Gemeinwohlaktivitäten eher fördern und welche sie eher hindern und zurückdrängen. Faktoren wie Staatsbürgerschaft, Akzeptanz und gesellschaftliche Anerkennung sowie Teilhabe an beruflichen Optionen, nicht zuletzt an Prestige, Macht und Ehre, dürften entscheidende Größen sein. Sie binden individuell Immigranten und kollektiv Gemeinschaften zur Förderung gesellschaftlicher Kohäsion ein. Steven Vertovec hat am Beispiel der britischen Stadt Leicester und dortigen starken muslimischen und hinduistischen Minderheiten aufgezeigt, wie Prozesse solcher „public incorporation“ gelingen können und eine Stadt soziale „Kreditwürdigkeit“ unter den Immigranten gewinnen kann.67 Es lässt sich daher fragen, ob Formen sozialer, politischer und rechtlicher Anerkennung eine Identifikation von Immigranten mit dem Aufnahmeland möglicherweise beschleunigen und eine gesellschaftliche Eingliederung nachdrücklich fördern könnten. Ebenso erscheint es lohnend darüber nachzudenken, inwiefern ausgrenzende Maßnahmen und Ungleichbehandlungen gegenüber Immigranten und Nachfahren bei ihnen begründete Zweifel an politisch landläufig betonten Vorzügen westeuropäischer Demokratien als berechtigt erscheinen lassen und damit Formen der Identifikation und Integration verlangsamen, wenn nicht gänzlich blockieren. Im Weiteren scheint es wichtig, Prozesse des öffentlichen Sichtbarwerdens von Immigrantengemeinschaften und damit einhergehender etwaiger gesellschaftlicher Konfliktpotentiale um Religion in den Blick zu nehmen (siehe 2.3). Gerade das Hinaustreten in den öffentlichen Raum durch Sakralbauten hatte in den vergangenen Jahren, aber auch schon ein Jahrhundert zuvor, zu Kontroversen geführt. Der hier vorgeschlagene analytische Blick des öffentlichen Raums als normatives und umkämpftes Terrain verweist darauf, dass es aus Sicht von Gegnern religiöser Bauvorhaben um mehr als nur ein Gebäude geht. Ihrer Auffassung nach ist die angestammte, als normativ verstandene Ordnung, die zugleich auch eine hierarchisierte Rangordnung ist, in Frage gestellt. Liegen hier möglicherweise politische Versäumnisse von Untätigkeit und fehlender Vermittlung vor? Immigrierte Religionen und Gemeinschaften ihrerseits haben über das säkulare Recht die verfassungsrechtlich garantierten Rechte genutzt und ihre Interessen öffentlicher Repräsentanz durchgesetzt. Der öffentliche Raum, so zeigt die Analyse, wird bestimmten Immigrantengruppen von Ver67 Vgl. Vertovec 1996.

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teidigern des Hergebrachten verwehrt, während er anderen mit anerkannter sozialer „Kreditwürdigkeit“ gewährt wird. Diese Perspektive verweist damit auf die Bedeutung und den Wert einer möglichen Teilhabe am und prestigeträchtigen Platzierung im öffentlichen Raum für alle Sozialgruppen. Der öffentliche Raum ist damit auch ein Terrain und „Kapital“, durch den gesellschaftlicher Status, Anerkennung und „Kreditierung“ oder andererseits Marginalisierung und Ausschluss an gesellschaftlichem Prestige verliehen wird. Insofern könnte die gewährte Möglichkeit für immigrierte religiöse Gemeinschaften zu einer dauerhaften religiösen Selbstrepräsentation im öffentlichen Raum ein erhärteter Hinweis auf Formen gesellschaftlicher Anerkennung und Partizipation sein. Folge hiervon, und dazu liegen noch kaum Kenntnisse vor, könnte eine lokale Integration sein und verstärkte Kontakte zu zivilgesellschaftlichen Gruppen wie Kirchen und Vereinen befördern.68 Die hier vorgelegten Überlegungen deuten darauf hin, dass eine Gewährung von Akzeptanz, Anerkennung und Teilhabe an gesellschaftlich umkämpften Ressourcen wichtige Faktoren bilden, um Formen bürgerschaftlichen Engagements (civic social capital) in religiösen Immigrantengemeinschaften zu stimulieren und zu stärken. Sorge um das Gemeinwohl setzt eine gesellschaftliche Teilhabe und Mitgestaltungsmöglichkeiten voraus, auf lokaler wie nationaler Ebene. Zugleich fördert hohes horizontales und vertikales Sozialkapital einer Gemeinschaft eine mögliche Zulassung zu Darstellung im Raum des Öffentlichen. In ihrer Koppelung verweisen die Theorieperspektiven des Civic Social Capital und des öffentlichen Raums damit auf mögliche Optionen und Aktivitätsfelder sowohl religiöser Immigrantengemeinschaften als auch einflussreicher gesellschaftlicher Gruppen (Parteien, Kirchen, Behörden etc.), um durch ihr Handeln Beiträge zu einem gelingenden Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft leisten zu können.

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Alexander-Kenneth Nagel

Religion, Migration, Institutionalisierung – Begehung einer Theoriebaustelle

1.

Einführung: Von der Metapher zur Theorie mittlerer Reichweite

In der Fatwa-Sektion eines deutschsprachigen islamischen Online-Portals wurde im Mai 2010 folgende Frage gestellt: „Warum gibt es in der muslimischen Gesellschaft kein Oberhaupt, dem sich alle unterordnen, wie dies bei den katholischen Christen üblich ist, deren Oberhaupt der Papst ist?“.1 Die Antwort des Fatwa-Komitees lautete: „Ein Beweis für die Großartigkeit des Isl–m […] ist der Umstand, dass es im Isl–m keine absolute Quelle gibt, die sich in einer Person widerspiegelt, die fehlbar ist und heute etwas sagt, was sie morgen revidiert, wie dies bei den Christen der Fall ist.“

Ganz gleich, ob die Anfrage „authentisch“ ist oder von der Redaktion lanciert wurde, scheint die Angelegenheit „Muslime in Europa“ grundsätzlich zu beschäftigen und führt mitten in den Zusammenhang von Migration, Religion und institutioneller Dynamik hinein. Im Unterschied zu Diagnosen einer zunehmenden Privatisierung und Individualisierung von Religion stehen hier eindeutig die Struktur und innere Kohärenz religiöser Gemeinschaften im Vordergrund. Zugleich macht die Frage deutlich, wie religiöse Pluralisierung interreligiöse Lernprozesse – und apologetische und polemische Reaktionen ins Werk setzt. Auch wenn es nicht ausdrücklich formuliert wird, enthält die Anfrage eine klare Problembeschreibung, die in der Antwort explizit gemacht wird: „Die Spaltung der muslimischen Gemeinde heutzutage beruht nicht darauf, dass es keine Autoritätsperson gibt, die sie vereint und die für sie urteilt und Normen erlässt.“2 Die Klage über die Spaltung und der Wunsch nach Einheit unter-

1 URL: http://www.islamweb.net/grn/index.php?page=showfatwa& FatwaId=135304 [02. 01. 2014]. 2 Ebd.

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streichen, dass es hier um das gemeinschaftliche Moment von Religion und weniger um religiöse Identitäten, Glaubenssätze oder Rituale geht. Entsprechend ist dieser Beitrag schwerpunktmäßig der zweiten, institutionellen Leitfrage des Bandes gewidmet: „Wie verändert sich die Stellung von Kirchen und Religionsgemeinschaften in Politik und Gesellschaft in Europa durch Migration?“. In der deutschen Debatte wird diese Frage v. a. mit Blick auf den Körperschaftsstatus des Islam diskutiert. Dabei geht es in der Regel um die strukturellen Veränderungen, die erforderlich sind (besser : wären), damit sich Muslime in Deutschland körperschaftlich organisieren; – und auf diese Weise Teil des öffentlichen Institutionengefüges werden können. Dahinter stehen allgemeinere Fragen von Vertreterschaft und Repräsentation. Ich möchte in diesem Beitrag eine allgemeinere Perspektive auf religiöse Migrantengemeinden richten. Darunter verstehe ich im Folgenden alle formellen und informellen Zusammenschlüsse von Menschen mit Migrationshintergrund, die ihrem Selbstverständnis nach einen primär religiösen Charakter haben. Der augenfälligste Hinweis dafür ist sicher der Name oder die Bezeichnung, unter der eine solche Gemeinschaft nach außen hin firmiert. In diesem Sinne wären etwa ein „Tempel“ oder ein „Gebetskreis“ Religionsgemeinschaften, nicht aber ein deutsch-türkischer Kulturverein.3 Die folgenden Ausführungen beziehen sich in erster Linie auf nichtchristliche Gemeinden, also Muslime, Hindus, Buddhisten, Yeziden und Sikhs. Christliche Migrantengemeinden finden dagegen oft grundsätzlich andere Bedingungen vor, da sie sowohl auf die Infrastruktur als auch auf die Plausibilitätsstrukturen (Legitimität) der etablierten Kirchen zurückgreifen können. In dem Maße, wie sich Religionsgemeinschaften als besonders dauerhafte Form der Migrantenselbstorganisation erwiesen haben, wurden sie als Ansprechpartner für staatliche Akteure interessant und werden en passent von vermeintlichen Parallelgesellschaften zur migrantischen Zivilgesellschaft. Der Dialog mit staatlichen Behörden kann indes nur in einer Sprache stattfinden, und das ist nicht etwa deutsch oder türkisch (in der Tat sind Integrationsbüros fast schon notorisch polyglott), sondern die ebenso universelle wie spezielle Sprache der Bürokratie. Sie setzt nach innen hin Stratifikation voraus und nach außen hin die Vertretung der vielen mit einer Stimme. Genau hier aber liegt das Problem: Religiöse Migrantengemeinden sind in den seltensten Fällen als Sprachrohre oder Organe politischer Einflussnahme gegründet worden, sondern gewissermaßen als religiöse Gemeinschaften im empathischen Sinne des Wortes, mit dem Ziel, gemeinsame religiöse Betätigung und Sozialisation in der Diaspora zu ermöglichen. Entsprechend bemüht sind staatliche Stellen, derzeit 3 Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass Migrantenselbstorganisationen unabhängig von ihrer primären Ausrichtung immer multifunktional sind. Vgl. Pries 2010, 15 – 60.

Religion, Migration, Institutionalisierung

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aber auch die Kirchen, die Transformation von der Gemeinde zur Minderheitenorganisation zu moderieren. Dabei liegt das Augenmerk so sehr auf den als erforderlich erachteten strukturellen Veränderungen, dass die tatsächlichen inhaltlichen und organisatorischen Transformationsprozesse dahinter zurücktreten. Grund genug, in diesem Beitrag einen Schritt zurückzutreten und einige konzeptionelle Diskussionen zur institutionellen Dimension von Migration und religiöser Pluralisierung in Augenschein zu nehmen. Den Ausgangspunkt bildet die These, dass das theoretische Räsonnement über religiöse Migrantengemeinden über die o. a. futurische bzw. sozialtechnologische Stoßrichtung hinaus eine Tendenz hat, zugleich untertheoretisch und übermetaphorisch zu sein: Ein gutes Beispiel dafür ist die Rede von der „Parallelgesellschaft“. Parallel zu was? Parallelen, so lernen wir im Mathematik-Unterricht, sind Geraden, die nebeneinander liegen und sich nie, oder allenfalls in der Unendlichkeit schneiden. Die geometrische Metapher ist stark und bestimmt Migrantengemeinden durch ihre dauerhafte (und selbstverschuldete) Inkommensurabilität zu den Gepflogenheiten des Aufnahmelandes.4 Auf diese Weise werden sowohl die MigrantenCommunity als auch die Aufnahmegesellschaft als veränderungsresistente Monolithen porträtiert. Eine weitere Organisationsmetapher ist die „ethnische Kolonie“5. Sie lebt begrifflich von der Vorstellung einer allmählichen Expansion migrantischer Kolonialisten, die populistisch auch gern als „Überfremdung“ bezeichnet wird. Dabei wendet sie – fast schon perfide – einen bestehenden antiimperialistischen Diskurs gegen Zuwanderer, die doch selbst teilweise aus ehemaligen Kolonien Europas stammen. Die ideologiekritische Analyse dieser metaphorischen Beladenheit wäre eine Aufgabe eigener Art und soll hier nicht im Mittelpunkt stehen. Ganz sicher ist sie auch Ausdruck einer zunehmenden Politisierung der Debatte über religiöse Vielfalt, vermutlich aber auch ein Resultat der an sich begrüßenswerten Empirienähe und Materialbezogenheit religions- und sozialwissenschaftlicher Studien. Im Folgenden möchte ich daher drei Theoriebaustellen zur institutionellen Dimension von Migration und religiöser Pluralisierung besichtigen. Dazu gehören 1) Phasenmodelle der zunehmenden Institutionalisierung religiöser Migrantengemeinden, 2) das ambivalente Verhältnis zwischen öffentlichen Migrantenreligionen und den politischen Strukturen der Aufnahmeländer sowie 3) die defensive Bestimmung religiöser Diaspora-Gemeinden als Rückzugs- und Trostorte. Dabei ist es ausdrücklich nicht mein Ziel, einer einseitigen Schulenbildung das Wort zu reden und eine bestimmte Theorierichtung als holistisches

4 Sauer 2006. 5 Heckmann 1992, 115 ff.

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Integral für alle Fragen von Religion und Migration zu empfehlen.6 Stattdessen möchte ich thematische Anschlussstellen zu jüngeren sozialwissenschaftlichen Theoriedebatten aufzeigen, namentlich zu neoinstitutionalistischen Ansätzen, zu Debatten über Postsäkularität und religiöse Deprivatisierung sowie zur Netzwerkforschung, die sich derzeit als relationale Soziologie neu erfindet. Es geht also nicht um eine wissenssoziologische Theorienschau als Selbstzweck, sondern um konkrete Impulse zur Übersetzung akademischer Metaphern und Faustregeln in Bausteine einer Theorie mittlerer Reichweite.

2.

Keine Einbahnstraße: Zur institutionellen Dynamik religiöser Migrantengemeinden

Religionswissenschaftliche Beiträge zur Selbstorganisation von Migranten unterscheiden häufig zwischen drei typischen Phasen religiöser Institutionalisierung7: Die erste Phase ist gekennzeichnet durch lose Zusammenkünfte religiöser Laien mit einer allenfalls rudimentären Infrastruktur. Man trifft sich entweder in Privatwohnungen oder in Gemeinschaftsräumen von Bürgerhäusern oder Kirchengemeinden. In der zweiten Phase werden einfache Organisationsstrukturen aufgebaut, z. B. durch die Gründung eines Vereins. Durch Mitgliedsbeiträge, Spenden und eine strukturierte Arbeitsteilung wird es möglich, günstige Räumlichkeiten anzumieten, auszustatten und die religiösen Abläufe zu professionalisieren. In der dritten Phase schließlich setzt sich dieser Trend weiter fort, und es werden beispielsweise hauptamtliche Funktionsträger angestellt. Zuweilen ist damit auch eine Arbeitsteilung zwischen einer weltlichen Geschäftsführung und einer spirituellen Leitung verbunden, wie sie etwa für die Moscheevereine der Türkisch-Islamischen Union DITIB typisch ist. Der zunehmende Wohlstand in der Gemeinde, aber auch erloschene Rückkehrhoffnungen führen dazu, dass die einfachen Kulträume zunehmend als unangemessen und beengt empfunden werden und der Wunsch nach größeren und repräsentativen Gebäuden mit traditionellen Stilelementen an Gewicht gewinnt. Ein unausgesprochenes Modell dieser Entwicklung, so meine These, sind die großen Kirchen mit ihren klaren Hierarchien und der expressiven Sakralarchitektur. Dieses Phasenmodell ist verdienstvoll, insoweit es die Institutionalisierungsdynamik so unterschiedlicher Migrantengemeinden wie türkischer Muslime, vietnamesischer Buddhisten und tamilischer Hindus bis zum Beobach6 Dass auch dies ein fruchtbarer Ansatz sein kann, illustriert der Beitrag von Veit Bader in diesem Band, der für eine systemtheoretische Globalperspektive votiert. 7 Vgl. Baumann 2004, 21; Lehmann 2004, 33.

Religion, Migration, Institutionalisierung

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tungszeitpunkt adäquat beschreibt. Es wäre indes voreilig, aus der Regelmäßigkeit die universelle Regel abzuleiten, dass die religiöse Vergemeinschaftung von Migranten stets durch kontinuierliche Formalisierung, Professionalisierung, Stratifikation und Sichtbarkeit gekennzeichnet sei. Im Unterschied dazu gehen Sozialwissenschaftler wie Friedrich Heckmann und Georg Elwert davon aus, dass Migrantenorganisationen nur ein Meilenstein auf dem Weg zur Integration in die Aufnahmegesellschaft sind, eine Art Identitätsquarantäne, die Anpassungsschwierigkeiten abfedert.8 Was das für religiöse Migrantengemeinden bedeutet, bleibt indes unklar : Besteht erfolgreiche Integration darin, sich zur Mehrheitsreligion zu bekehren? Oder genügt es, wenn die eigene Religion ins Privatissimum der persönlichen Glaubensüberzeugung verlagert wird? Auf dem Weg zu einer Theorie mittlerer Reichweite wäre zunächst nach weiteren Szenarien zwischen den genannten Polen einer fortschreitenden Selbstorganisation nach amtskirchlichem Vorbild und einer Selbstauflösung nach erbrachter Integrationsleistung zu fragen. Eine Überlegung drängt sich von der Religionsgeschichte her auf: Schismata waren und sind die Kehrseite religiöser Institutionalisierung, die Herausbildung einer Orthodoxie und ihrer priesterlichen Sachwalter bringt zugleich abweichende Meinungen ans Licht. Dies gilt verstärkt für religiöse Migrantengemeinden, die in ihren Anfangstagen oft genug Kompromisse eingehen mussten: Unterschiedliche Lesarten einer Tradition fanden sich in dieser Notgemeinschaft auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner hin vereint, von der multiethnischen Moscheegemeinde bis hin zu multireligiösen Andachtsorten von Hindus und Sikhs.9 Es liegt auf der Hand, dass der Institutionalisierungsvorgang diese Bruchlinien herausfordert. Aus welcher Schule soll der zu bestellende Funktionsträger stammen? Nach welcher Tradition sollen der Innen- und Außenraum des neuen Gebäudes gestaltet werden? Dann passiert, was Max Weber mit dem klassischen Kirchen-SektenZyklus beschrieben hat10 : Sobald sich genug Anhänger einer heterodoxen Richtung gefunden haben, gründen sie ihre eigene Gemeinde, und das geht personell und finanziell zulasten der Muttergemeinde. Diese gewinnt dadurch zwar inhaltliche Konturen, verliert aber zugleich sozioökonomische Handlungsspielräume. Kurzum: Die Institutionalisierung religiöser Migrantengemeinden ist kein geradliniger Prozess mit dem Ziel einer zunehmenden organisatorischen Verdichtung. Sie ist vielmehr geprägt durch ein Spannungsfeld zwischen Konsolidierung und Differenzierung. Ein weiterer Theorie-Baustein ist die Frage nach den Antriebskräften für religiöse Institutionalisierung, Deinstitutionalisierung oder Schismata. Innere 8 Vgl. Elwert 1982, 718ff; Heckmann 1992a, 98. 9 Vgl. Nagel 2012c, 232 f. 10 Vgl. Weber 2002 (1906).

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Antriebskräfte sind neben theologisch-inhaltlichen Differenzen v. a. der Generationswechsel und erloschene Rückkehrhoffnungen. Die Lebenswelten der ersten und der zweiten Migrantengeneration unterscheiden sich oft erheblich11 und so nimmt es nicht wunder, dass auch die Vorstellungen von Religion und einer guten Gemeinde massiv auseinandergehen12. Mögliche Reaktionsweisen sind die Abspaltung einer eigenen (Jugend-)Gemeinde, die Übernahme der Ursprungsgemeinde oder aber die resignierte Abkehr von der Religion der Väter und Mütter. Ein weiterer Faktor, der z. T. eng mit dem Generationswechsel verbunden ist, sind erloschene Rückkehrhoffnungen. Die Perspektive, dauerhaft im Aufnahmeland zu bleiben, fördert das spirituelle ebenso wie das monetäre Investment in die Gemeinde vor Ort und trägt auf diese Weise unmittelbar zur religiösen Institutionalisierung bei. Als externe Antriebskräfte sind die Unterstützung – und Kontrollversuche – der Amtskirchen und die Einbindung in lokale Governance-Strukturen zu nennen. Anders als etwa muslimische, hinduistische oder buddhistische Migranten konnten christliche Zuwanderer von Anfang an auf die umfassende Unterstützung der Kirchen zurückgreifen.13 Diese reicht von der zeitweisen oder dauerhaften Überlassung von Räumen oder Gebäuden bis hin zur Alimentierung von Funktionsträgern. Sich solcherart „ins gemachte Nest zu setzen“, fördert einerseits die religiöse Institutionalisierung, kann sich aber auch lähmend auf das sonst für religiöse Migrantengemeinden typische Commitment auswirken. Umgekehrt kann diese Konstellation auch zum Zusammenbruch von Gemeinden führen; wenn Kirchen die Zuschüsse aufgrund von Sparzwängen nicht mehr aufrechterhalten können (oder wollen). Ein ähnlicher Mechanismus greift bei der Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen: Einerseits kann die öffentliche Anerkennung und Unterstützung im Rahmen integrationspolitischer Maßnahmen einen Institutionalisierungsschub bewirken, andererseits aber auch zum Schisma führen, um der vermeintlichen Fremdkontrolle zu entgehen. Die beschriebene institutionelle Dynamik berührt das Verhältnis von Institution und Freiheit und damit ein gesellschaftstheoretisches Grundproblem, das Helmut Schelsky in einem frühen Aufsatz mit dem Titel „Ist die Dauerreflektion institutionalisierbar?“ kirchensoziologisch illustriert hat.14 Abseits der ganz großen Debatten wäre für eine Theorie mittlerer Reichweite einiges gewonnen, wenn sich aus der bestehenden Diskussion institutionentheoretische Dimensionen zur Analyse der genannten Prozesse gewinnen ließen. Dazu möchte ich den Ansatz der Institutionenanalyse von Rainer Lepsius aufgreifen, der dem 11 12 13 14

Klassisch: Thomas und Znaniecki 1958. Vgl. Marla 2012, 179 ff. Vgl. Lehmann 2004, 35. Vgl. Schelsky 1957.

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Neuen Institutionalismus zugeordnet werden kann.15 Über den Aspekt der bloßen Dauerhaftigkeit hinaus definiert Lepsius Institutionen als „soziale Strukturierungen, die einen Wertbezug handlungsrelevant werden lassen“. Entsprechend hat die Institutionenanalyse danach zu fragen, wie sich Kultur (Ideen) in Verhaltensstrukturierungen (Interessen) und schließlich in Handeln vermittelt, oder konkreter : „Welche Leitideen wirken in welchen Handlungskontexten bis zu welchem Grade verhaltensstrukturierend?“16. Lepsius‘ Modell umfasst sechs institutionelle Dimensionen: 1) Leitideen, 2) Rationalitätskriterien, 3) Handlungskontexte, 4) Sanktionsmittel, 5) Mittel der Kontingenzbewältigung und 6) die Beziehungen zu anderen Institutionen. Leitideen sind die zentralen Wertbezüge einer Institution. Im Fall religiöser Migrantengemeinden könnten diese ekklesiologisch oder solidarethisch, sozialethisch begründete Gemeinschaftsideale sein: „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mt 18,20) Wohlgemerkt: Hier geht es nicht um irgendeine Zweckgemeinschaft, sondern um ein Heilskollektiv, auch wenn sogenannte Religionsökonomen dies anders sehen mögen. Rationalitätskriterien sind Handlungsmaximen, deren Befolgung im Hinblick auf die Leitidee als rational gilt.17 So kann die Leitidee religiöser Gemeinschaftlichkeit gleichermaßen durch Bewahrung oder durch Verbreitung der eigenen Tradition realisiert werden. Ein gutes Beispiel sind abermals die Fatwa-Foren islamischer Online-Portale. Hier finden sich regelmäßig Ermahnungen, nicht an christlichen Festen wie Weihnachten teilzunehmen. Diese Hinweise werden ausdrücklich mit der Bewahrung der muslimischen Identität in der Diaspora begründet.18 Andererseits sieht man in Fußgängerzonen immer wieder koreanische Chöre, die stimmgewaltig zur Zwiesprache mit Jesus Christus einladen. Hier ist die Evangelisierung das Mittel zum Zweck einer universellen christlichen Gemeinschaft. Handlungsmaximen können unterschiedlich konkret oder abstrakt sein. Wo Verbreitung und Bewahrung vom Mittel zum (Selbst-)Zweck werden, avancieren sie von Rationalitätskriterien zu Leitideen. Generell dürften aber bei den Rationalitätskriterien religiöser Migrantengemeinden die Institutionen der Aufnahmegesellschaft eine wichtige Rolle spielen. Hier kann es durchaus zu internen Dissensen kommen, wenn es etwa um die Frage geht, ob man am interreligiösen Dialog teilnehmen, beim Tag der offenen Tür mitmachen oder der Einladung des Integrationsbeauftragten ins Rathaus folgen soll. 15 16 17 18

Vgl. Lepsius 1995. Ebd., 395. Vgl. Lepsius 1997, 58. Vgl. Nagel 2012d, 95 f.

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Der Handlungskontext einer Institution umfasst all jene Situationen, in denen ihre Rationalitätskriterien gelten sollen. Diese Handlungs- oder Geltungskontexte sind in der gesellschaftlichen Wirklichkeit selten isoliert. Wo sich die Handlungskontexte von Institutionen überlappen, gelten auch ihre jeweiligen Rationalitäten nur unvollständig oder abgeschwächt.19 Diese Vorstellung eines „Synkretismus“ von Leitideen und Handlungsmaximen macht Lepsius Modell für eine Institutionenanalyse pluralistischer und sozial differenzierter moderner Gesellschaften meines Erachtens nach besonders fruchtbar. Folgt man Lepsius, so lassen sich Beziehungen zu anderen Institutionen durch die wechselseitige Produktion und Auslagerung von Kontingenzen und die Anwendung von Sanktionsmitteln charakterisieren. Kontingenzen sind in seinem Modell Probleme, die durch die Befolgung der Handlungsmaximen einer Institution entstehen, in ihrem Gefüge aber nicht verarbeitet werden können und daher externalisiert werden.20 So betrachtet ist etwa religiöse Pluralisierung eine Kontingenz der Anwerbepolitik der 60erJahre, die einer Leitidee unbedingten Wirtschaftswachstums folgte. In diesem Sinne können religiöse Migrantengemeinden zur Kontingenzbewältigung bestehender Integrationsregime beitragen, indem sie beispielsweise Sprachkurse und Sozialberatungen für ihre Mitglieder anbieten. Umgekehrt bündeln die Gemeinden Ansprüche, die sie aus eigener Kraft nicht verwirklichen können, etwa die Errichtung eines Gräberfeldes, und die an die entsprechenden Behörden der Aufnahmegesellschaft externalisiert werden (müssen). Doch gibt es nicht nur Komplementaritäten, sondern auch überlappende Geltungsansprüche, z. B. im Bereich der sozialen Dienste und der Jurisdiktion. Während die Übernahme wohlfahrtsstaatlicher Aufgaben häufig als willkommenes zivilgesellschaftliches Engagement begrüßt wird21, gilt die Rechtsprechung allenfalls subsidiär zur Ordentlichen Gerichtsbarkeit. Die Beziehungen zwischen religiösen Migrantengemeinden und staatlichen Institutionen sind insoweit klar geregelt, die Sanktionsmittel ergeben sich auf der einen Seite aus den Rechtsfolgen und ihrer Durchsetzung und auf der anderen Seite aus dem Mobilisierungspotential und der Aufkündigung der o. a. integrationspolitischen Zusammenarbeit. Lepsius Analyseschema legt das Augenmerk v. a. auf die Interaktion und den Konfliktaustrag zwischen Institutionen, seine Konzepte könnten aber auch zur Untersuchung der institutionellen Dynamik innerhalb religiöser Migrantengemeinden nützlich sein. So wäre etwa zu fragen, wie sich der Generationswechsel und der demographische Wandel der Gemeinden auf ihre Rationalitätskriterien und ggf. Leitideen auswirken. Ein Beispiel dafür ist die oft angesprochene 19 Vgl. Lepsius 1997, 59. 20 Vgl. Lepsius 1995, 399 ff. 21 Vgl. Suder 2012, 81 ff.

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Multifunktionalität religiöser Migrantenorganisationen22 : War sie für die erste Generation noch ein „rationales“ Mittel zum Zweck der Heilsgemeinschaft, könnte sich sie für die zweite Generation als Verwässerung des religiösen Kernanliegens darstellen. Aber auch der umgekehrte Fall ist denkbar, dass nämlich die zweite Generation die Gemeinde als eine Art Jugendtreff begreift und sich an religiösen Zumutungen stört, etwa einer als zu restriktiv empfundenen Geschlechtertrennung. In diesem Fall wäre auch die Ebene der Leitideen berührt. Der zentrale Wertbezug ist nicht mehr das Ideal der religiösen Gemeinschaft als Heilskollektiv, sondern beispielsweise die gegenseitige Unterstützung angesichts einer vermeintlichen Ausgrenzung durch die Aufnahmegesellschaft. Analog dazu kann das politische Eintreten für religiöse Belange zu einer allgemeinen Sozialanwaltschaft im Namen der Religion ausgeweitet und auf diese Weise das Rationalitätskriterium zur neuen Leitidee werden. Die Grenzen von Lepsius Konzept liegen in einem gewissen idealistischen Bias: Wie bereits die o. a. Illustrationen deutlich machen, ist die Übersetzung von Leitideen in Rationalitätskriterien keine schlichte Deduktion, sondern eine Interpretationsleistung, die im Lichte konkurrierender Ideen und Interessen erbracht wird. Gerade im Migrationskontext ist dabei zu erwarten, dass die vorgefundenen Handlungskontexte die religiösen Maximen und Leitideen maßgeblich mitgestalten. In der Folge soll eine Analyse der institutionellen Dynamik religiöser Migrantengemeinden die Terminologie von Lepsius zum Ausgangspunkt nehmen und um einen wissenssoziologischen Blick auf die Trägerschichten bzw. „Realfaktoren“ ergänzen.23 Damit ist die Brücke geschlagen zum Verhältnis religiöser Migrantengemeinden und moderner Nationalstaaten.

3.

Zerfasernde Staaten und die Governance religiöser Vielfalt

Wie im vorangegangenen Abschnitt dargestellt, können (national-)staatliche Migrationsregime und lokale Religionspolitiken die Institutionalisierung religiöser Migrantengemeinden ganz entscheidend mitbestimmen. Eine zentrale Rolle in diesem Prozess spielen rechtlich verankerte Religionsdefinitionen, etwa die Voraussetzungen zur Erlangungen des Körperschaftsstatus (s. o.) oder aber der grundrechtlich abgesicherte Schutzbereich der Religionsfreiheit.24 Religion kann rechtlich sowohl organisatorisch (Mitgliederzahl, Dauer, Hierarchie) als auch inhaltlich bestimmt werden, z. B. durch „eine gewisse Umfänglichkeit des 22 Vgl. Baumann 2004, 23; Pries 2010, 21 ff. 23 Vgl. Scheler 1960, 51. 24 Vgl. Morlok 2003.

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Sinnsystems“ oder durch „Gewissheit über bestimmte Aussagen des Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel des menschlichen Lebens“25. Dadurch entsteht das komplexe Modell einer religio licita, auf das sich religiöse Migrantengemeinden hin entwickeln müssen, wenn sie in den Genuss der entsprechenden Rechtsvorteile kommen möchten. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist dabei besonders interessant, dass moderne Staaten den Anspruch erheben, Religionsgemeinschaften aktiv bei der o. a. Konvergenz auf das religiöse Modell des Aufnahmelandes zu begleiten. Dies geschieht auf kommunaler Ebene durch rührige Integrationsbeauftragte und runde Tische26, und wird auf nationaler Ebene prominent in Foren wie der Deutschen Islam Konferenz oder Obamas Advisory Council on Faith Based and Neighborhood Partnerships betrieben.27 Spätestens hier wird deutlich, dass die Transformation von Religion im Migrationskontext mit einem Wandel von Staatlichkeit Hand in Hand geht. Religionspolitik ist nicht (mehr) das Setzen abstrakter Normen und das Warten auf ihre Erfüllung, sondern ein konkretes Aushandlungs- und Überzeugungsgeschäft. In der politischen Soziologie wird ein solches partizipatives Entscheidungs- und Steuerungshandeln, das sowohl staatliche Stellen als auch gesellschaftliche Interessensgruppen miteinschließt, als Governance bezeichnet.28 Daraus ergeben sich zwei Folgefragen für religiöse Migrantengemeinden, nämlich: Was sind die Hintergründe dieser Kooperation von staatlichen und religiösen Akteuren? Und: Welche Folgen hat die neue Nähe zum „Establishment“ für die Struktur und das Selbstverständnis der Gemeinden? Hinweise dazu liefern politikwissenschaftliche Debatten zur Zerfaserung von Staatlichkeit29 und die religionssoziologischen Überlegungen zur neuen Öffentlichkeit von Religion30 sowie die normative Diskussion zur Oligarchisierung religiöser Bewegungen.31 Das Kernargument der Zerfaserungsthese lautet, dass moderne Nationalstaaten die Organisations- und Entscheidungsverantwortung für öffentliche Güter an internationale oder gesellschaftliche Organisationen abgeben, dabei aber stets die Letztverantwortung behalten. Der Staat wird vom „Herrschaftsmonopolisten zum Herrschaftsmanager“, er unterzieht sich einer „Selbsttransformation“, um mit den neuen Bedingungen Schritt halten zu können.32 Dieser geordnete Rückzug betrifft prinzipiell alle öffentlichen Güter, für die 25 26 27 28 29 30 31 32

Ebd., 779. Vgl. Schubert 2012, 229 ff. Vgl. Nagel 2013. Vgl. Mayntz / Scharpf 1995, 9. Vgl. Genschel / Zangl 2008. Vgl. Casanova 1994. Vgl. Michels 2001; Nagel 2012b. Vgl. Genschel et al. 2006.

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Nationalstaaten eine Alleinzuständigkeit beanspruchen: Recht, Prozeduren legitimer Entscheidungsfindung, Wohlfahrt und sogar innere und äußere Sicherheit. In dieser Perspektive laden Staaten also zivilgesellschaftliche und internationale Akteure ein, öffentliche Aufgaben wahrzunehmen, die sie selbst aus einem Mangel an Ressourcen oder Kompetenz nicht übernehmen können. Interessanterweise werden Religionsgemeinschaften dabei nicht explizit bedacht, obgleich sie als gesellschaftliche Akteure mit einem transnationalen Horizont und einer glaubwürdigen Gemeinwohlorientierung als Partner des Staates im Rahmen der Zerfaserungsdebatte geradezu prädestiniert erscheinen. Trotz dieser Leerstelle liegt hier eine mögliche Antwort auf die o. a. Frage nach den Hintergründen der Zusammenarbeit des Staates mit religiösen Migrantengemeinden: Die Gemeinden werden eingeladen, weil sie gleich zwei Probleme moderner Nationalstaaten zu lösen versprechen, das Ressourcenproblem und das Integrationsproblem. Einerseits stellen sie als dichte Netzwerke mit hohem Commitment eine zivilgesellschaftliche Ressource dar und bieten sich als Verantwortungsträger z. B. im Bereich sozialer Dienste an, andererseits bieten sie die Möglichkeit, Migrantengruppen politisch adressierbar und „regierbar“ zu machen. Die Zerfaserungsthese mag die Bereitschaft staatlicher Stellen erklären, überhaupt auf religiöse Migrantengemeinden zuzugehen und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Allerdings liegt der Akzent hier etwas einseitig auf der Selbsttransformation des Staates, der zwar Verantwortung abgeben muss, dabei aber das sprichwörtliche Heft stets in der Hand behält. Im Unterschied dazu haben Religionssoziologen auf die aktive Rolle von Religionsgemeinschaften in diesem Prozess hingewiesen: Folgt man Casanova33, so erobert sich Religion den öffentlichen Raum zurück, den sie infolge von Säkularisation und nationaler Expansion verloren hatte. Diese Deprivatisierung erfolgt freilich nicht auf Einladung des heroisch sich selbst umgestaltenden Staates, sondern entspringt einem genuin religiösen Antrieb zur Öffentlichkeit.34 Religion, so Casanova, kehrt nicht im Abstrakten zurück, sondern in Gestalt konkreter politischer Mobilisierung, sei es zur Verteidigung der traditionellen religiösen Lebenswelt oder zur öffentlichen Verankerung religiöser Werte und Normen in der sittlichen Verfassung des Gemeinwesens.35 Religionsgemeinschaften sind in dieser Perspektive nicht passive Profiteure, sondern aktive Agenten religiösen und staatlichen Wandels. Migration und religiöse Pluralisierung spielen bei Casanova eine untergeordnete Rolle, dabei steht zu vermuten, dass die Intensität und Dynamik der Deprivatisierung in diesem Bereich besonders stark ist. Zum einen 33 Casanova 1994. 34 Vgl. ebd., 224 – 225. 35 Vgl. ebd., 228 f.

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haben religiöse Migrantengemeinden ein hohes Mobilisierungspotential (s. o.), und zum anderen fallen die „Wege aus der Unsichtbarkeit“36, die sie beschritten haben, mit dem von Casanova beschriebenen größeren Trend zur neuen Öffentlichkeit der Religion produktiv zusammen. Während die Zerfaserungs- und die Deprivatisierungsthese Antworten auf die Frage nach den Hintergründen der Kooperation zwischen Nationalstaaten und Religionsgemeinschaften anbieten, gilt es auch die möglichen Folgen dieser Konstellation zu bedenken. In der bisherigen Debatte lassen sich dazu grob drei Positionen unterscheiden: 1) Da sind zunächst die Governance-Optimisten.Für sie ist die politische Partnerschaft zwischen staatlichen Akteuren und interreligiösen Initiativen grundsätzlich eine Win-Win-Situation. Religionsgemeinschaften nehmen dem Staat Arbeit ab, für die er ohnehin nicht kompetent gewesen wäre, und erhalten dafür eine kommunalpolitische Stimme.37 2) Der Gegenpol dazu ist eine herrschaftskritische Grundsatzkritik an der integrationspolitischen Instrumentalisierung interreligiöser Aktivitäten, wie sie der Religionssoziologie Levent Tezcan vertritt: „Religion avanciert zum Vehikel, mit dem die multikulturelle Gesellschaft regierbar gemacht werden soll. Diese wird gegenwärtig, gekoppelt an die Integrationspolitik, in zunehmendem Maße über den interreligiösen Dialog kommuniziert.“38

3) Religionswissenschaftliche Studien changieren zwischen diesen Polen und zeigen sich abwägend. Sie verweisen einerseits auf die „Spannungen“, die sich aus der Beteiligung staatlicher Akteure ergeben mögen, und sehen andererseits „ein erhebliches Potenzial, durch unterschiedliche Perspektiven neue Einsichten zu gewinnen“39. Hinter den beiden Polen Affirmation und Zurückweisung stehen jeweils unterschiedliche Theorietraditionen: Griera und Forteza berufen sich auf Theorien sozialer Bewegungen und identifizieren eine globale interreligiöse Bewegung, die nun gegen die Gestade prekärer Staatlichkeit anbrandet.40 Diese Perspektive könnte für die Analyse religiöser Migrantengemeinden durchaus fruchtbar sein, insoweit sie das Augenmerk auf charismatische Führung, holistische Programme, hohe Vitalität und religiöse Innovationen lenkt. Zugleich – und diese Überlegung fehlt bei Griera und Forteza – sollten allerdings auch die kritischen Potentiale von Theorien sozialer Bewegungen genutzt werden, etwa mit Blick auf die Oligarchisierung religiöser Gemeinschaften41 oder auf die 36 37 38 39 40 41

Luchesi 2003. Vgl. Griera / Forteza 2011, 114. Tezcan 2006, 26. Klinkhammer et al. 2011, 59. Vgl. ebd., 116 – 118. Vgl. Michels 2001.

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Kolonisierung des Gemeinwesens durch religiöse Partikularinteressen.42 Bei Tezcan liegt dagegen eine diskurstheoretische Perspektive im Hintergrund, die Public-Private Partnerships zwischen religiösen Migrantengemeinden und staatlichen Akteuren unter Gesichtspunkten von politischer Vereinnahmung, Asymmetrie und Hegemonie betrachtet. Dabei besteht die besondere Perfidie der staatlichen Machtentfaltung darin, dass sie von den Religionsgemeinschaften als Ausdruck von Anerkennung und Wertschätzung sogar begrüßt wird. Diese letzte, im weiteren Sinne ideologiekritische Stoßrichtung ist auch für die folgenden abschließenden Überlegungen zu Diaspora-Communities im Spannungsfeld zwischen religiöser Ideengeschichte und akademischer Erkenntnisdimension leitend.

4.

Diesseits der Leidensgeschichte: Diaspora als relationales Konzept

Zur Imagekampagne des Ruhrgebiets als Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2010 gehörte ein Plakat, das eine Gruppe tamilischer Hindus bei ihrer jährlichen Prozession durch die nordrhein-westfälische Stadt Hamm zeigte. Darüber warb ein Banner mit den Worten „Zukunft braucht Herkunft. Bei uns kommt sie aus 170 Nationen“. Darunter war ein Slogan der Kampagne zu lesen, der wohl innovativ und visionär klingen sollte, sich in diesem Zusammenhang aber etwas ungelenk und exotistisch ausnahm: „Wo das geht, geht alles“. Diese Szenerie verweist auf eine prinzipielle Ambivalenz im Umgang mit religiöser Vielfalt im Allgemeinen und mit religiösen Migrantengemeinden im Besonderen: Zum einen wird religiöse Vielfalt als ein Standortfaktor im Stadt- und Regionalmarketing genutzt, zum anderen kommt hier ein bestimmtes Verständnis von Integration zum Tragen: Weshalb und inwiefern braucht Zukunft Herkunft? Hinter diesem Satz scheint die Vorstellung zu stehen, dass Migranten einen religiösen oder landsmannschaftlichen Rückzugsort benötigen, an dem sie ihre heimatlichen Gebräuche pflegen, um sich produktiv in die Aufnahmegesellschaft einbringen zu können und dort eine Zukunft zu haben. Die kompensatorische Funktion, die religiösen Migrantengemeinden in diesen Überlegungen zukommt, kann ihrerseits als Ausdruck eines eigenartigen defensiven Verständnisses von Diaspora als Opfermythos43 bzw. Leidensgeschichte betrachtet werden44. 42 Vgl. Noelke 2004, 3. 43 Vgl. Cohen 2008, 31. 44 Vgl. Nagel 2012d, 75 ff.

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Der Begriff „Diaspora“ hat seinen Weg von der religiösen Ideengeschichte in akademische Debatten gefunden, ohne dass dieser Transfer besonders gründlich thematisiert worden wäre.45 Die religiöse Rede von der Diaspora geht auf die Deportation und Verstreuung des jüdischen Volkes nach der Eroberung durch die Babylonier im sechsten vorchristlichen Jahrhundert zurück. Als analytischer Begriff beschreibt Diaspora nunmehr eine Konstellation religiöser oder ethnischer Minderheiten, die gekennzeichnet ist durch die Entfernung einer Gruppe von ihrem ethnischen oder religiösen Zentrum und ihre Ansiedlung an verschiedenen peripheren Orten; die Wahrnehmung, in der Aufnahmegesellschaft nicht voll akzeptiert zu sein; die Kultivierung einer kollektiven Identität über den gemeinsamen Ursprung sowie die Pflege eines Heimatmythos, verbunden mit der Hoffnung auf Rückkehr und tätigem Engagement für diese Heimat.46 Der einseitige Fokus auf Verstreuung, Ausgrenzung und die Idealisierung der eigenen Herkunft macht deutlich, wie stark das akademische Verständnis von Diaspora an der religiösen Leidensgeschichte gebildet ist. Als Argument für eine solche, eng am religionsgeschichtlichen Material orientierte Definition hat der Religionssoziologe Manuel Vasquez ihren heuristischen Mehrwert angeführt und vor einer Zerdehnung des Konzepts zulasten seiner Analysekraft gewarnt.47 Zugleich sieht er allerdings die Gefahr einer Verdinglichung der historischen Fälle und schlägt daher im Anschluss an James Clifford ein „polythetisches“ Verständnis vor, das auf die „Familienähnlichkeiten“ zwischen historischen und gegenwärtigen Erfahrungen von Diaspora abhebt.48 Wichtiger als die Grundsatzfrage, wie viel religionsgeschichtliche Bodenhaftung unsere Konzepte benötigen, scheint mir an dieser Stelle allerdings die Experimentierfreude, das o. a. Verständnis von Diaspora einmal bewusst gegen seinen leidensgeschichtlichen Strich zu lesen. Einen guten Anknüpfungspunkt dafür bieten neuere Debatten zur relationalen Soziologie. Dies ist nicht der Ort, um die verschiedenen Verästelungen und Abgrenzungsbemühungen des neuen Relationalismus nachzuzeichnen oder seinen Hang zur paradigmatischen Selbststilisierung kritisch zu hinterfragen.49 Stattdessen möchte ich auf einige Kerngedanken hinweisen und zu einer relationalen Lesart des religiös grundierten Diaspora-Diskurses einladen. Die Quintessenz der aktuellen Diskussion über relationale Soziologie ist die Kritik an der Reifizierung sozialer Akteure als Träger und Urheber allen sozialen Handelns50, der „variablensoziologischen“

45 46 47 48 49 50

Vgl. aber Cohen 2008, 21 ff. Vgl. Mayer 2005, 9 – 10. Vgl. Vasquez 2008, 160. Vgl. ebd., 161. Vgl. Schützeichel / Lau 2012; Nagel 2012a. Vgl. Emirbayer 1997, 285.

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Zerlegung der Analyseeinheiten51 und dem statischen Analysehorizont, die sich daraus ergibt. Im Unterschied dazu geht es den Relationalisten um die Herstellung von Identitäten in Interaktionen und Netzwerken, die kulturelle Einbettung dieser Netzwerke als Sinnzusammenhänge und die prinzipielle Dynamik sozialer Prozesse.52 Aus diesen Überlegungen lässt sich für eine ideologiekritische Neubesichtigung unseres Diaspora-Verständnisses einiges gewinnen: Die o.g. Kriterien – Verstreuung, Heimatorientierung und Abschottung – können als „substantialistisch“ gelten, insoweit sie religiöse Migrantengemeinden bzw. die Dyade aus Diaspora-Gemeinde und Herkunftsland als abgeschlossene Einheiten betrachten. Im Unterschied dazu liegt das relationale Augenmerk auf der Gleichzeitigkeit von Beziehungen (strukturell) und Bezugnahmen (Semantik) zur Aufnahmegesellschaft, zum Herkunftsland und zu anderen Diaspora-Standorten. So betrachtet, sind religiöse Migrantengemeinden nicht randständig (im Aufnahmeland) und abhängig (vom Herkunftsland), sondern Broker bzw. Entrepreneure eines interkulturellen Wissenstransfers. Der Religionswissenschaftler Martin Baumann hat darauf hingewiesen, dass Diaspora-Gemeinden durch eine eigenartige Spannung zwischen dem Wunsch zur Bewahrung und dem Drang zur Veränderung gekennzeichnet sind.53 Das bedeutet nicht weniger, als dass religiöse Migrantengemeinden zu Transformationsagenten wider Willen werden können, indem sie ihre „invention of traditions“ ins Gewand einer althergebrachten, authentischen Tradition kleiden.54 Diese religiöse Innovationsleistung kann im Aufnahme- und im Herkunftsland in gleichem Maße wirksam werden.55 In der Aufnahmegesellschaft können Diaspora-Gemeinden zum Ferment religiösen Wandels werden, indem sie den religiösen Markt erweitern und die etablierten Religionsgemeinschaften zu theologischen und praktischen Positionierungen herausfordern. Hier kommt religiöse Revitalisierung ins Spiel und zwar nicht als Abwehrreaktion einer bedrängten Minderheit, sondern als Transformationsprozess des gesamten religiösen Feldes. Das einfachste theoretische Argument dafür stammt aus der sogenannten Religionsökonomie: Pluralisierung führt zu Wettbewerb und mithin zu religiöser Vitalisierung.56 Insoweit Migration zu religiöser Vielfalt beiträgt, wirkt sie also belebend auf dem Vgl. Häußling 2010, 76 f. Vgl. Emirbayer 1997, 305. Vgl. Baumann 2000, 17. Vgl. Hobsbawm / Ranger 1992. Diese Innovationen müssen im Ergebnis durchaus nicht progressiv sein, lassen sich aber auch nicht als schlichte Revitalisierungs- oder Radikalisierungsgeschichte dingfest machen. Häufig stellen sie einen Versuch dar, kollektive religiöse Identität zu formieren und zu bewahren und zugleich die eigene Religion pragmatisch in die Alltagswirklichkeit der Aufnahmegesellschaft einzufügen. 56 Vgl. Stark / Finke 2000; kritisch: Bruce 1999. 51 52 53 54 55

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religiösen Markt. Aber auch abseits der religionsökonomischen Überlegungen gilt: Wo religiöse Vielfalt sichtbar wird, da nimmt auch religiöse Kommunikation (im weiten systemtheoretischen Sinne) zu. Das betrifft sowohl den Austausch innerhalb des religiösen Feldes, z. B. in Gestalt interreligiöser Dialoge, als auch die Aufmerksamkeit für Religion im Allgemeinen in anderen gesellschaftlichen Feldern. Zugleich können Diaspora-Gemeinden zu Transformationsagenten in ihren Herkunftsländern werden. Ein religionsgeschichtliches Paradebeispiel dafür ist sicher die Entwicklung des babylonischen Talmuds in der jüdischen Diaspora, der den klassischen Tempelkult nicht nur zeitweilig ersetzte, sondern auch nach dem Bau des zweiten Tempels im sechsten Jahrhundert ein wichtiges und eigenständiges Forum religiöser Gelehrsamkeit blieb. Ähnliche Prozesse lassen sich heute für transnationale islamische Organisationen beobachten. So beansprucht etwa der European Council for Fatwa and Research die Deutungshoheit für eine muslimische „Jurisprudenz (fikh) der Minderheiten“, um islamische Lebensführung unter den Bedingungen der Diaspora handhabbar zu machen57, kann aber nicht verhindern, dass entsprechende Auslegungen ihrerseits in die islamische Welt zurückwirken und dort für „Zündstoff“ sorgen.58 Das klassische Verständnis einer „victim-diaspora“59 muss das innovative Potential religiöser Migranten-Gemeinden verkennen, da es auf einer starken Zentrum – Peripherie – Annahme beruht. Die Diaspora hängt gleichsam am identitätsbildenden Tropf der „Heimat“ und bleibt ihr ewiger Trabant. So folgerichtig diese Annahme vor dem Hintergrund der religiösen Leidensgeschichte von Diaspora auch sein mag, so wenig hält sie einer empirischen Überprüfung stand: Nachdem Ökonomen schon seit Jahren auf die bedeutende Rolle von Remittances, also Geldtransfers von Migranten in ihr Herkunftsland, als nationalem Wirtschaftsfaktor hingewiesen haben60, haben sich sozialanthropologische Autoren der Untersuchung von sogenannten „social remittances“ zugewandt.61 Gemeint sind Ströme bzw. das Zirkulieren von Normen, Praktiken, Identitäten und sozialem Kapital über nationale Grenzen hinweg. Eine hervorragende Fallstudie dazu haben Singh et al.62 vorgelegt. Am Beispiel grenzüberschreitender religiöser Entwicklungsarbeit machen sie deutlich, dass das Verhältnis zwischen der Diaspora-Gemeinde und dem Homeland nicht durch Asymmetrie, sondern durch Reziprozität geprägt ist und zeichnen nach, wie

57 58 59 60 61 62

Vgl. Nagel 2012d, 89 f. Vgl. Klinkhammer 2005, 328. Cohen 1997, 31 ff. Taylor 1999. Vgl. Levitt / Lambda-Nieves 2011. Singh et al. 2010.

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westliche Vorstellungen von effektiver und nachhaltiger Entwicklung im religiösen Hilfehandeln im Herkunftsland verankert werden.63

5.

Fazit: Dauerreflexion, Co-Transformation, Transnationalismus

„Wie verändert sich die Stellung von Kirchen und Religionsgemeinschaften in Politik und Gesellschaft in Europa durch Migration?“, so lautet eine der Leitfragen des vorliegenden Bandes. In diesem Beitrag habe ich einen Blick auf die theoretisch-konzeptionellen Herausforderungen geworfen, die mit dieser Frage verbunden sind. Dabei habe ich mich von der kritischen Beobachtung leiten lassen, dass die Theoriedebatte zur Institutionalisierung religiöser Migrantengemeinden im Schatten politischer Erwägungen einen Hang zu vorschnellen Evidenzen hat und in der Folge dazu neigt, zugleich übermetaphorisch und untertheoretisch zu sein. Vor diesem Hintergrund ging es mir darum, einige der drängenden Theoriebaustellen in Augenschein zu nehmen und jeweils Anschlussstellen zu aktuellen sozial- und kulturwissenschaftlichen Debatten herauszustellen. Die erste Baustelle waren Phasenmodelle der organisatorischen Verdichtung religiöser Migrantengemeinden. Diese Modelle operieren nicht selten mit einer teleologischen Annahme der zunehmenden Etablierung und Konsolidierung und verstellen dadurch den Blick auf die prinzipielle institutionelle Dynamik religiöser Migrantengemeinden. Ihre Evidenz beruht zum einen auf einer leicht nachvollziehbaren Induktion aus empirischen Fallstudien und zum anderen auf politischem Wunschdenken und einem starken Dispositiv zunehmender „Beheimatung“ in der Fremde. Weiterführend könnten an dieser Stelle sogenannte neoinstitutionalistische Überlegungen sein, die sich von einer strukturalistischen Verengung des Institutionsbegriffes absetzen und stattdessen den Wertbzw. Sinngehalt von Institutionen betonen. Als Beispiel habe ich Lepsius Modell der Institutionenanalyse herangezogen, mit dem sich die spezifische Spannung religiöser Migrantengemeinden zwischen Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung, Orthodoxie und Heterodoxie sowie den Lebenswelten der ersten und zweiten Generation dynamisch beschreiben lässt. Dabei gilt es, den starken „idealistischen“ Fokus neoinstitutionalistischer Ansätze durch eine wissenssoziologische Perspektive zu temperieren, die neben den Leitideen und Rationa63 Darauf, dass der Begriff Diaspora nicht unbedingt mit einem traumatischen Leidensnarrativ verbunden sein muss, sondern auch positiv besetzt sein kann und bereits historisch anders verwendet wurde, macht Michael Bünker in seinem Beitrag aufmerksam. (Anm. der Hg.).

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litätskriterien auch die Trägerschichten und äußeren Bedingungen des institutionellen Wandels berücksichtigt. Die zweite Baustelle betrifft das Verhältnis von religiösen Migrantengemeinden und den religionsrechtlichen und politischen Strukturen der Aufnahmeländer. Dabei neigen gegenwärtige Debatten zu einem gewissen Strukturdeterminismus und erörtern beispielsweise, ob und unter welchen Umständen Muslime sich als Körperschaft öffentlichen Rechts organisieren können. Dahinter steht die weitgehend unhinterfragte Annahme, dass die Migrationsund Religionsregime des Aufnahmelandes die Institutionalisierung religiöser Migrantengemeinden maßgeblich strukturieren, sich selbst dabei aber nicht oder nur graduell verändern. Unterdessen zeichnen aktuelle staatswissenschaftliche und religionssoziologische Debatten ein anderes Bild: Moderne Nationalstaaten stehen unter Transformationsdruck und sind zunehmend auf gesellschaftliche und internationale Akteure angewiesen, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Parallel dazu verlassen Religionsgemeinschaften die private Nische, die ihnen im sogenannten Goldenen Zeitalter des Nationalstaats zugedacht war, und reklamieren selbstbewusst ihre öffentliche Rolle und Verantwortung. Aus dieser Ausweitung des Blickwinkels ergeben sich weiterführende Fragen nach der Ausgestaltung und Wirkung einer staatlichen Zusammenarbeit mit religiösen Migrantengemeinden – und zwar in beide Richtungen. Die dritte Baustelle betrifft die Diaspora als Leidensgeschichte. Die starke Orientierung der akademischen Diaspora-Debatte an biblischen Narrationen von der Versklavung des Volkes Israel und dem ungeliebten babylonischen Exil ist eine normative Hypothek für die Analyse religiöser Migrantengemeinden. Sie impliziert in der Tendenz eine resignative oder aggressive Haltung dieser Gemeinden gegenüber der Aufnahmegesellschaft, eine Idealisierung der fernen Heimat sowie eine Tendenz zur Abschließung und Bewahrung der Herkunftskultur. Demgegenüber habe ich im Anschluss an die neuere Netzwerkforschung für eine relationale Lesart von Diaspora64 plädiert. Im Vordergrund stehen dabei die zahlreichen Beziehungen und Bezugnahmen, die religiöse Migrantengemeinden – bei aller denkbaren Abgrenzungsrhetorik – zur Aufnahmegesellschaft unterhalten und die beträchtliche Innovationsleistung, die sie als Broker zwischen Aufnahme- und Herkunftsländern, Mehrheits- und Minderheitssituation – mitunter nolens volens – erbringen. Und was fängt man nun damit an? Es liegt auf der Hand, dass ein theoretischkonzeptioneller Beitrag wie dieser nicht mit einem zentralen Ergebnis oder fulminanten Handlungsempfehlungen schließen kann. Stattdessen möchte ich 64 Eine solche gibt es allerdings auch bereits in der Bibel, vgl. z. B. den Propheten Jesaja im Alten Testament, den ersten Petrusbrief im Neuen Testament, vgl. dazu den Beitrag von Michael Bünker in diesem Band (Anm. der Hg.).

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die präsentierten Überlegungen als Einladung verstehen, die Theoriedebatte über religiöse Migrantengemeinden ein wenig aus dem Windschatten des integrationspolitischen Tagesgeschäfts herauszunehmen. Auf diese Weise können analytische Freiräume entstehen, um aus dem Sammelsurium empirisch bewährter Metaphern zu einer Theorie mittlerer Reichweite zu gelangen. In diesem Beitrag biete ich im Anschluss an aktuelle Debatten aus dem Umfeld des Neoinstitutionalismus, der staatswissenschaftlichen Transformationsforschung und der relationalen Soziologie einige Bausteine dafür an: Institutionalisierung als Dauerreflektion (statt teleologischer Phasenmodelle organisatorischer Verdichtung), Co-Transformation von öffentlichen Religionsgemeinschaften und zerfasernden Nationalstaaten (statt einseitigem Strukturdeterminismus) und eine relationale Perspektive auf Diaspora als transnationale Innovationsplattform (statt bedrängte Leidensgemeinschaft).

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Karsten Lehmann

Complex Processes of Integration and Segregation. The Local Role of Christian Communities in Berlin

1.

Introduction

For around 50 years, the notions of integration and segregation are among the most productive as well as controversial terms in migration research. The respective debates bring together two different discussions:1 On the one hand, the notion of integration is a political term with a strong normative connotation.2 In Germany, Hartmut Esser has made it quite clear that in this strand the notion of integration is primarily used as a metaphor covering up structural frictions that emerge out of migration processes.3 On the other hand, there is also a more general tradition of theorizing about integration that runs from Emile Durkheim over Talcott Parsons up to Robert N. Bellah, and perceives integration as an inevitable – yet ambivalent – aspect of every society.4 When it comes to the role of religion in migration processes, this underlying ambiguity becomes even more prevalent. At the moment, the respective discussions are dominated by two contradicting lines of thought: Scholars such as Jos¦ Casanova or Werner Schiffauer argue that religious affiliations play a crucial role in integration processes in as far as religious associations provide resources to live in new social environments. On the other side of the spectrum, authors such as Bassam Tibi make the point that religious affiliation tends to lead to segregation, because it provides immigrants – at least in the case of what these authors describe as “fundamentalism” – with social spaces that are isolated from other parts of the wider society.5 In the midst of these opposing discussions, the following text uses integration and segregation as heuristic concepts that help to focus empirical research. Accordingly, the first section will present research results, based upon fieldwork 1 2 3 4 5

Imbusch / Heitmeyer 2008. Friedrichs / Jagodzinski 1999. Esser 2001, 64 – 91. Durkheim 2007; Parsons / Shils 2001; Bellah 1992. Tibi 2002; Lehmann 2003, 24 – 37; Ceylan 2006; Schiffauer 2010; Casanova 2013.

98

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undertaken by the author6 as well as an increasing number of local projects on the religious landscape in Germany. On this basis, the first section will highlight four aspects of the development of local Christian immigrant-groups in Berlin.7 In the second section, the author will use the results of these analyses, in order to come back to the concept of integration and to reflect upon the social and cultural setting of integration processes in German cities.8

2.

Four aspects of the development of local Christian immigrant-groups in Berlin

As has already been insinuated in the previous paragraph, the following analyses focus upon Christian immigrant associations. As the author has argued before, this particular focus helps to close two significant gaps in the existing literature on the role of religions in migration processes, by broadening the scope of the analyses. So far, the vast majority of the literature is focusing on the individual aspects of Muslim, Buddhist, or Hindu immigration. Up to now, only a comparatively small number of analyses has dealt with the much older tradition of immigration with a Christian background, and the different forms of religious associations that developed in the course of these processes.9 This bias becomes most obvious with regard to the first of the four aspects that will be discussed in the next paragraphs. Even though – historically speaking – Germany frequently serves as a typical case of an emigration country, it actually looks back upon a long history of Christian immigration.

6 Lehmann 2001; Lehmann 2004b, 169 – 188 (Identitäten und Alteritäten). 7 In particular I will refer to the comprehensive handbook: Grübel / Rademacher 2003; Moreover I would like to mention well-balanced analyses such as: Amt für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt am Main (ed.), Bernasko / Rech 2003; Baumann 2000, and the respective articles published in first volume of the ,Religion in Austria’ Series: Hödl / Pokorny 2012. 8 These considerations are restricted to the level of intermediate religious institutions. They cannot be “translated” into theses, concerning the individual level or the level of the wider society (let alone global developments). Migration research too often neglects the differentiation between micro-, meso- and macro phenomena. Even though these three levels of analysis are dialectically interwoven, they have to be distinguished analytically : Lehmann, Karsten 2004c, 31 – 46. 9 Lehmann 2006, 25 – 52.

Complex Processes of Integration and Segregation

2.1

99

A long history of Christian immigration

As far as the situation in Berlin is concerned, the early history of Christian immigration was dominated by two very different groups of immigrants that were closely associated with distinct strands of Christianity : – The Protestant immigration of Hugenots that tried to escape French prosecution during the age of religious discord10 as well as – The Catholic immigration from Poland, triggered by a need for new workers during the industrial revolution.11 Even though these two groups of immigrants were of very distinct character, the arrival of the respective groups triggered comparable processes of religious association: In the beginning, the two groups tried to establish their own parishes and the existing Protestant as well as the Catholic institutions tried to oppose to these efforts. One or two generations later, the immigrants became a distinct part of those major religious institutions by establishing their own parishes within the Protestant Landeskirche or the Catholic dioceses. And these forms of association are still in existence. It is still possible to identify the respective religious groups in the context of the Landeskirche and the diocese. In order to adequately understand this development, one has to add one significant component to the analysis: The history of those two groups of immigrants in Berlin suggests that the above pattern is highly dependent upon constant immigration. The developments highlight to what an extent the first wave of immigrants tried almost immediately to establish religious associations. As soon as this immigration stopped, this initial impetus stopped, too, and the newly established associations became a part of existing German institutions. Later on, this second generation of religious groups supported new Protestant or Catholic immigrants from France and Poland. The arrival of these new immigrants actually led to a re-foundation of the older associations. And these processes are neither limited to Berlin nor to the immigrants from France or Poland: Comparable developments can be identified in further major German cities such as Leipzig or Frankfurt. At the same time, religious groups such as Anglicans, Scandinavian Protestants, Waldensians from Italy or immigrants from different Orthodox traditions look back upon a long history of religious associations in Germany, that follows a similar pattern. Having said all this, Berlin can, however, serve as the almost paradigmatic case for the second feature of the history of Christian immigrants in German cities – the upheavals of the World Wars and the division of Germany : 10 Birnstiel 1986, 115 – 126; Eschmann 2001, 35 – 52; Cameron / Greengrass / Roberts 2000. 11 Hartmann 1990, 663 – 792; Murphy 1982.

100 2.2

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The upheavals of the World Wars and the division of Germany

As soon as one has a closer look at the history of Christian immigrants in Berlin, it becomes very clear that the Second World War has caused the breakdown of nearly all the respective religious associations. And this shouldn’t sound like a euphemism: Some of the churches were sold, others confiscated or destroyed either by the German Nazis or during the allied bombings. In the course of these disastrous processes, almost all church-members left their former associations, some of them became refugees and some others were killed. In other words, after the Second World War, most of the Christian immigrant-groups were totally destroyed. This is, however, only the first part of the story. In some cases the remains of the older associations served as nucleus for new foundations, based on surviving buildings or core-members of the old parishes. In the western parts of Berlin, this led to the re-establishment of a number of religious associations. In the eastern parts, the early immigration- as well as the religion-policy of the GDR restricted, however, the re-establishment of religious groups of immigrants almost completely.12 Consequently, the following paragraphs will concentrate on the developments in what was at the time West-Berlin. From the 1950s up to the 1980s, the migration history into those parts of Berlin was dominated by three major trends: – Different waves of immigration into Berlin, – The socio-political changes of 1960s and 1970s, and – The establishment of a 2nd and 3rd generation of immigrants.13 All these major trends have – in one way or the other – influenced the post-war developments of Christian immigrant-groups that can be characterized along the lines of two subsequent features:

2.3

First feature: Two-fold differentiation inside the Communities

After the Second World War the first local associations of Christian immigrants were founded between the end of the 1950s and the early 1960s. – These foundations were dominated by Catholic immigrants from the Medi-

12 At the moment the situation in the eastern parts of Germany is extremely fascinating. Unfortunately, these developments have not been analysed systematically : re.form leipzig 2003; Cyranka / Obst 2001; Lehmann 2004a, 46 – 53. 13 Cyprian 2001, 433 – 444; Häußermann / Oswald 1997; Krummacher / Waltz 1996.

Complex Processes of Integration and Segregation

101

terranean region, organized for example inside the Italian or the Spanish “missions”. – There were, however, also Orthodox and Protestant groups that established local associations during those two decades. With regard to religious beliefs, national or ethnic memberships as well as the organizational links inside the German society, these early post-war groups differed significantly from each other. On the one hand, the immigrants from the Mediterranean region constituted for example a relatively large group that was – in terms of their religious affiliation – able to establish links with the RomanCatholic church. On the other hand, Russian Orthodox immigrants from Eastern Europe provide us with an example for a small group that could not rely upon similar existing organizational structures. Despite these differences, all these groups of immigrants had, however, one important feature in common. Their activities were primarily oriented towards the respective ethnic or national community. In other words: Every community of Christian immigrants established its own Christian association. To give but a few examples: Around 1960, Berlin saw the establishment of an Italian-Catholic church, a Greek-Orthodox one, and a Finnish church. Even members of the American and British military forces established their own churches. All respective associations offered a wide range of different services to their members – such as religious rituals, sports activities or social meetings. There were, however, no substantial mission activities aiming towards the members of other communities or established religious institutions with a German constituency. In order to characterize this particular situation (as well as the underlying dynamics), it is helpful to refer to Max Weber’s classical typology of religious institutions (distinguishing between “sect” and “church”) with the addition of the “denomination” (H. Richard Niebuhr) as an intermediate type, and to modify this typology.14 Among other things, these traditional ideal types highlight the relationship of the respective associations to what the authors perceived as “society”. On this basis, slight modifications of this classical typology help to highlight one significant characteristic of these early associations – they were primarily linked to their respective communities (rather than the wider society). Along those lines, it is helpful to describe the above associations as “Community-Churches” in order to underline two significant aspects: On the one hand, the notion of the Community Church highlights the extensive claims of these groups towards their respective community. As indicated by the notion of the “church”, they were related to the whole community. On the other hand, the 14 Weber 1956; Niebuhr 1929.

102

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concept of the Community Church helps to identify a first dimension of differentiation among the Christian immigrant associations – along the lines of the communities. This differentiation in terms of the community was, however, only a temporary development. The 1980s and 1990s witnessed a second dimension of differentiation, taking place inside the communities. During these two decades, Christian immigrants started to establish a whole set of new organizations. Some of them developed out of older ones, organized by the second generation of immigrants. Other groups came out of distinct religious traditions, that hadn’t been established in Berlin before. To name but a few examples that illustrate this new form of differentiation15 : – From 1980 onwards, a wide range of Korean churches was founded. (Such as the Song-Kyol Koreanische Ev. Heilskirche/1980s, the Korean Presbyterian Somang Gemeinde/1990s, the Koreanisch-Methodistische Gemeinde Han Bit/ 1994, the Ev. Yungseng Kirche/2000) – Around the same time, the number of African churches started to increase. (Such as the Deeper Christian Life/1973, the Assembl¦e de Dieu/1984, the Bethel Faith Temple/1988, The International Triumphant Church/1996) As far as the present argument is concerned, the reference to Weber and Niebuhr helps to indicate a fundamental change in the setup of the respective associations. While the associations of the 1950s and 1960s targeted the whole community, the foundations of the 1980s and 1990s started to address different groups inside the community. In this respect, it seems more appropriate to talk about the establishment of Community-Denominations or even –Sects that added a totally new dimension to the development of Christian immigrant associations in German cities. This second dimension of differentiation finally sets the stage for another post-war development of Christian immigrants’ associations that can be characterized as a new orientation towards the wider society.

2.4

Second feature: New orientation towards the wider society

Since the end of the 1990s two new developments started to influence the Christian associations in Berlin:16 On the one hand, Charismatic and Evangelical groups began to reach out beyond a specific community. While these new associations were de facto more or less restricted to immigrants, they tried to 15 These passages refer to: Grübel / Rademacher 2003. 16 Once again I refer to: Grübel / Rademacher 2003.

Complex Processes of Integration and Segregation

103

include all members of the German society into their effort.17 On the other hand, there was an increasing number of international and interfaith groups (or informal meetings), heading towards the wider public that were not restricted to a particular community. Once again, the notion of the Community Church helps to understand these developments more clearly : First of all, the following three decades saw a significant loosening of the formerly exclusive links between the religious associations and the immigrants’ community. Between the end of the 1990s and the beginning of the 2010s an increasing number of immigrants started to see the wider city as the frame of reference for their activities. And this trend strongly affected the Community Churches. As soon as these associations started to lose their links to the community, it became more and more difficult to maintain church-structures. With this shift of their orientation towards the wider society, they inevitably developed into the direction of denominations or sects – in the Weberian and Niebuhrian sense. Under the conditions of increasing globalization and transnationalization, it is most plausible that these developments will have a much more general influence on the religious affiliations of immigrants. At the moment the impetus of these changes is, however, not clear yet: Will these new groups rest in a fundamentalist milieu? Will they develop towards the church or the sect type of religious institution? Will they establish themselves as new denominations? All these questions have to be considered in order to assess the present-day situation. At the moment, it is only clear that the orientation towards the wider society stands for a new feature in the long history of Christian immigrant associations. This observation leads to the final section of the present paper that discusses the social and cultural setting of integration-processes in German cities more broadly.18

3.

The social and cultural setting of integration-processes in German cities

Thus coming back to the general notion of integration that served as a startingpoint for the present discussions, it is at first possible to make the point that the developments of Christian immigrant associations in Berlin can be interpreted as a general process of integration. At least as far as the general social orientation of the associations is concerned, the previous paragraphs should have made it 17 Adogame 2002, 33 – 49. Hunt / Lightly 2001, 104 – 124. 18 Ebaugh / Chafetz 2000.

104

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quite clear that this orientation has moved towards the wider society. In other words: The associations tend to become associations of the wider German society – at least on the local level. Along those general lines, it is, however, necessary to introduce a number of specifications that can be summarized in three hypotheses:

3.1

First Hypothesis: There is no linear development, neither to integration nor to segregation

The main point of reference, supporting this initial hypothesis is the complex process of organizational establishment, described in this paper. Even limiting oneself to the time after the Second World War, the developments of religious associations in Berlin highlight the vast variety of Christian groups that have been established in the city, coming from different religious and cultural settings and organizing themselves in distinct ways. In this respect, the above analyses should have made it quite clear that we are actually dealing with a variety of very different organizational set-ups. And these processes have not come to an end yet. There are still further groups coming to Berlin, and these groups are still undergoing fundamental changes. As far as the question of integration or segregation is concerned, these developments have triggered a wide array of relationships towards society : First, the respective processes are highly complex – in terms of an increasing differentiation, a shift of the orientation from the community towards the wider society, or different waves of immigration in time. Second, there are different modes of integration – into existing religious organizations as well as into the respective immigrant communities, and the wider society.19 In both respects, it would be misleading to talk about mono-directional developments. This has significant consequences for the wider society that can be summarized in the second hypothesis.

3.2

Second Hypothesis: The wider society inevitably has to cope with religious plurality

This second hypothesis shifts the perspective of the present debate in as far as it emphasizes on the effects in the wider society.20 Integration is not a one-sided process. The history of the Christian immigrant associations in Berlin is also a 19 Knott 2004, 67 – 89; Heckmann 1992, 97 f. 20 Machacek 2003, 145 – 161; Repstad 2003, 161 – 173; Kallscheuer 1996.

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105

history of their relationships to other Christian organizations, the respective immigrant communities, and the city as a whole. The immigrant associations presented themselves in different ways and this triggered different types of perception. This is where the notion of the Community Church can serve as a point of reference for further considerations. The above analyses indicate that at least some associations of Christian immigrants have started to establish their groups in the wider context of the city. In doing so, they step onto the wider sociopolitical arena, and affect a variety of segments of the society – such as the mainstream religious institutions, the legal system, or the political debate. In developing beyond the boundaries of the communities, the religious associations start to increase the religious plurality in a new way. These processes must, however, not be idealized – conflicts form a necessary part of this development.

3.3

Third Hypothesis: Conflicts form a necessary part of this development

As has been put forward in the previous paragraphs, the shift away from the ideal type of the Community Church triggers a number of fundamental changes and this inevitably leads to conflicts. This process shouldn’t be labelled as good or bad, it rather describes an empirical development. Basically, it can be argued that the whole history of democratic theory deals with the question of how to cope with this type of changes in pluralist settings. As far as the present argument is concerned, it should be sufficient to highlight that the debate on the role of religion in the integration of migrants has to take this very complex social context into account – including a variety of different religious groups stepping into the public arena, the multilayered response of different parts of the wider society, and moreover the existence of groups still limited to their community. All these aspects are necessary parts of integration processes.

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Complex Processes of Integration and Segregation

107

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Veit Bader

Migration, Religion and Secularization

1.

Introduction

For times immemorial people have been on the move and their cultural and religious ways of life with them. In this regard our “global age” is not qualitatively different. “God needs no passport”1, then and now, and this has been demonstrated in many excellent studies e. g. for early-modern and modern European history.2 Hence, the “methodological nationalism”, so deeply rooted in many social sciences and in political theory is particularly inappropriate for dealing with the relationship between migration and religion. In the process of migration, on the one hand, the religions of migrants change the religious landscape and the modes of governance of religious diversity of the receiving countries. On the other hand, and maybe even more so: the religious beliefs and practices and the ways of associating and organizing of immigrants are changed by the socio-political opportunity structure of the receiving societies, by their relations with culturally or politically established majority and minority religion(s) and there is quite some literature dealing with these processes in general in a more theoretical way.3 These complex processes also have been studied historically and comparatively for specific ethno-religious migrants such as the various groups of Christians, Jews or Muslims in different European countries,4 Americas and Australia. Any detailed analysis of these processes is way beyond the limits of this brief article. Against such a background, my intent here is very modest. I want to analyze the impact of these processes on some of our basic conceptual tools, specifically on the concept of “religion” (section 2) and our understanding of “secularization” (section 3) before trying to spell out

1 2 3 4

Levitt 2007. For example by Page Moch 1992, Bade et al. 2007; Kaplan 2007 and many others. See Bader 2007a. See Connor 2013.

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some basic requirements for a minimally adequate treatment of recent religious “super-diversity” by liberal-democratic states (section 4).

2.

Migration and a critical trans-cultural concept of Religion: “Euro-centric myth” or practical and theoretical work in progress?

By migration I understand the geographical movement, whether more or less voluntarily or forced, of people in order to work or settle in other places both within and across state borders for longer periods of time. International migration, the crossing of state-borders, is known to have many forms (circular or permanent; short-distance, regional or transcontinental, etc.) involving different categories of immigrants: 1) refugees, asylum applicants; 2) “economic migrants” of all sorts: both seasonal and temporary (with or without temporary work permits) as well as permanent; recruited (e. g. in guest-worker schemes or green- and blue-card regimes; unskilled, semi-skilled to highly skilled) as well as non-recruited: legal admission or irregular entry and stay (e. g. overstaying visa, trafficking and other ways of “illegal” entry and stay); 3) “family re-unification”; 4) “cultural” (e. g. national minorities) and/or “religious migrants”5. As always amongst scholars, there is some disagreement in migration-studies also with regard to the basic concept of migration itself and, obviously, regarding more appropriate ways of governance of international migration.6 Yet, if compared with the concept of religion, the degree of consensus amongst scholars as well as in practical talk, on what migration is (something like the above) is rather astonishing.

2.1

Problematising current concepts of Religion7

“Religion” is not only a complex, historically and socio-culturally embedded, but also a deeply or essentially contested concept and processes of migration have contributed to these contests and continue to do so. Two widely known characteristics of religions make it nearly impossible to find a common and “objective” core of a meaningful term: 1) the huge variety of types of religions very much stimulated by old and recent processes of migration, and 2) the increasing acknowledgment that definitions or “observations” of religions are 5 See Bader 2012c. 6 See Bader 2012c. 7 See Bader 2011a.

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111

inevitably rooted in competing religious and cultural traditions themselves. This seems to exclude any possibility of “independent”, “neutral”, “transcultural” or “universal” definitions or second-order observations of religions. Historical as well as contemporaneous types of religions differ widely with regard to many interrelated and overlapping dimensions: 1) do they distinguish between an immanent and a transcendent world, and if so, with which semantics (e. g. unfamiliar versus familiar, far versus near, invisible/unobservable versus visible/observable, otherworldly versus this-worldly, infinity versus finiteness, heaven versus earth, sacred versus profane)? 2) How is the transcendent – spirits, powers, gods, God, nirvana, self, Brahman – described and how is it evaluated (good, bad, indifferent or horrible)? 3) How are the borders between the transcendent and the immanent marked and what places, times, events, objects or actions are considered sacred? 4) How is the transcendent shown and how does it show itself and make itself known in this world? Are there any special “mediators” or specialized roles needed to transgress these borders – magicians, shamans, witches, seers, storytellers (mytho-poietÀs), priests, prophets, holy men, monks or preachers – and if so, how is the relationship between the various kinds of religious elites and lay people structured? 5) Are they belief-centred and/or centred on practices – cults, rites and rituals but also habits, ethos, virtues and the different bodily or spiritual techniques used (trances, dancing, singing, asceticism, meditation, praying, etc.) – and how are the beliefs and practices related to each other, evaluated, transmitted and learned? 6) Is religious belief orally transmitted (e. g. as mythos) or by written text, and if the latter, are there any attempts by experts (e. g. rabbis, theologians, sheiks or ayatollahs) to make these “holy” books and texts consistent and systematic (dogmatizing canons, rules and regulations)? 7) Is the community of practitioners bound together solely by shared practices and/or beliefs, or are they complemented by more or less formalized and hierarchically structured organizations (orders, temples, monasteries, mosques, “churches”, congregations) and authoritative rulers (bishops, popes, patriarchs)?

2.2

Migration and globalization accentuate conceptual, theoretical and practical problems8

Under recent conditions of “globalization”, both the awareness of the huge diversity of competing types of religions and the critical sensitivity against contested evolutionary “civilization” and the (implicit or explicit) imperialist or “Eurocentric” definitions and descriptions of religion is mounting. On a global 8 See Bader 2012d.

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scale, the following simultaneous processes can be discerned: monotheistic religions are competing with each other globally, engaging in aggressive missionary and proselytizing campaigns and/or trying to convince by good examples (care for the poor, social work, education); at the same time they are caught in progressive competition with polytheistic and non-theistic world religions and their export/import to “the West”.9 Increasingly, animistic, spiritualist “tribal” religions are also “going global” and religious syncretism is rising, particularly in Latin America and Africa. This situation of a more or less peaceful coexistence of internally divergent types of religions makes the expansion in religious diversity visible and tangible. The process may be summarized as a development “from hegemony to pluralism”10. Within “Western”, “Christian” or “Judeo–Christian”11 state societies, one also finds competing monotheisms, intensified, “reactive” Protestant fundamentalisms within Christianity, Islam as the old foreign “enemy” and the new “enemy” from within. There has also been the import of all types of Eastern world religions (Hinduism, Buddhism and Zen), new age sects and spirituality12, an increased visibility of native peoples and their religions, and a massive growth of all possible forms of syncretism or bricolage. The cultural and religious borderlines separating developments within and outside state societies are becoming increasingly porous or are breaking down.13 The increasing religious diversity or pluralization of the religious landscape globally and within Western states seems to be accompanied by ever more fragmentation of organized “high” religions, putting pressure on existing forms of institutionalization of religions and their “management” by the state14, especially on the rigid or entrenched version of religious “corporatism” in some European countries (see below Section 3). These developments have massively contributed to a reconsideration of traditional concepts of religion – embedded in the Christian tradition – in the social sciences as well as in normative disciplines, particularly law and jurisprudence. Let us start with the latter by indicating some of the practical challenges. The development of the jurisdiction of the US Supreme Court in famous religious cases – polygamy, the flag salute, conscientious objections and other exemp9 Whether religions perceive this “competition” from their own perspective (as I belief they increasingly (are forced to) do) and, if so, in which hermeneutics, is obviously a different, important, and open question. 10 Bouma 1999, Martin 1990, 293ff, Luhmann 2000, 141 ff, 341 ff. 11 All these shorthand characterizations are inherently misleading. “Judeo-Christian” obviously neglects important distinctions between these monotheistic traditions such as universalist vs. particularist understandings, presence or absence of missionary projects as well as the long history of violence. 12 See Woodhead 2005, 2010. 13 See Levitt 2007. 14 See Bouma 1999, 2004.

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tions, as well as the use of drugs – may exemplify this.15 Originally, the Court’s decisions showed an unreflective and unrestricted bias in favour of the majority religion of (Protestant) Christianity. This concept, even when broadened to include Catholicism and Judaism, has been monotheistic or at least theistic (God, supreme being), dogmatic (favouring “derivative theological articulation” over “religious activity”), belief-centred (discriminating against ritual-centred religions) and content-centred (favoring so-called “high” or “civilized” religions over “low” or “barbarian” ones). The perspective of the dominant religious majority, implicitly or explicitly endorsed by the Court, has been disguised as an objective standard. During a long and still ongoing process of learning – stimulated by conscientious objection cases – most of the essential parts of this definition have been dropped. In recent cases, the Court has used very broad, ecumenical, permissive and subjective definitions of the religious, focusing on the perspective of the claimant. Yet, the practical dangers of such an all-inclusive and subjective definition are so obvious that the Court applies an uneasy mix of criteria, such as sincerity, centrality (not to all religions but to the particular religion in question), time and some measure of shared public understanding, to prevent the paradoxical results of the new latitudinarianism, especially in exemption cases.16 Attempts to avoid “legal” definitions of religion (by explicit legislation or jurisdiction) are counterproductive from a liberal rule-of-law standpoint because they would only increase the fairly unlimited and uncontrolled discretion of administrations.

2.3

A critical and transcultural concept of religion: some requirements and guidelines

The same difficulties of finding a defensible balance between extremely broad “cultural” definitions of “religion” that seem to exclude nearly nothing, and more specific (e. g. “ethnicized”) definitions that seem to be too narrowly linked to specific religions, are characteristic of recent scientific discussions. It seems fairly safe to say that all attempts to press the enormous diversity of religions into the Procrustes bed of one ontological, epistemological, anthropological or psy15 The Supreme Court’s mounting difficulties in finding defensible definitions of “religion” under conditions of greater and manifestly visible religious diversity are excellently analyzed by Galanter 1966, 235ff and 260ff and in HLR Note 1987, 1622 – 1631; 1647 ff. On similar difficulties in other countries and international covenants: See Bader 2007, 301 (note 3). 16 Galanter 1966, 271: “The One and the Many”. For Canada see Syndicat Northcrest v. Amselem 2004 SCC 47, (2004) 2 S.C.R. 551. See Dutch Constitution, Art. 6: “actions that are part of a religious or ideological practice in a generally known form”.

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chological17 concept of the “essence” of religion have failed. Alternative attempts by sociologists of religion are, inevitably, more abstract and promising but are also confronted by considerable difficulties. Firstly, they have to start from reflections on the factual “poly-contextuality of descriptions of religions”18. Competing religions observe and describe each other, and the “external” descriptions by social scientists are neither just neutral nor objective (the observations of sociology are observed by others, religions among them), nor can they try to replace them, as “Criticism of Religion” and the non-reflective comparative science of religions has attempted for so long. Secondly, sociologists who are trying to give “functional” definitions of religion also have to answer the demanding questions: “Wer ist der Beobachter, wenn nach der Funktion der Religion gefragt wird? Wessen Interesse reguliert die Reichweite des beabsichtigten Vergleichs? Wer unterscheidet welches Bezugsproblem?”19 Thirdly : “Offenbar gibt es gegenwärtig im Religionssystem der Weltgesellschaft keinen ‘zivilisatorischen’ Fortschritt, wie ihn das 18. Jahrhundert erwartet hatte – weder in Richtung auf zunehmende Durchdringung der Religion mit säkularen Elementen, noch in Richtung auf eine moralische und kulturelle Ökumene. Dies […] waren Vorstellungen gewesen, die es sich zutrauten, die Gesamtheit der religiösen Formen aus dem Blickwinkel einer Beobachtung zweiter Ordnung einzuteilen in primitiv und zivilisiert, barbarisch, traditional und modern […]. Diese ‘Historisierung’ der Komplexität war aber ihrerseits bereits eine Antwort auf die sich abzeichnende Polykontexturalität religiöser Beschreibungen […]. Selbst das ist aber heute nicht mehr möglich bzw. allzu leicht als ‘Eurozentrismus’ zu entlarven.”20 Finally, concepts of evolution and the functional differentiation of societies, which are trying to avoid implicit or explicit assumptions of civilizatory progress, have to analyze historically and religion-specific semantic elaborations of the religious code. In addition, the function of religion has to be compatible with different degrees of “Ausdifferenzierung von Gesellschaften”. I believe that Luhmann’s concept of religion provides the most reflective, systematic and satisfactory approach for the following reasons: 1) Contrary to the typical reaction of sociologists like Luckmann (1967), who have tried to weaken the demands on the concept of religion by either completely “subjectivizing” it – religion then dissolves into “religious experience or religious intents” or the arbitrary claims of believers and prac17 See David Martin’s response to “Primordialists and Constructionists: A Typology of Theories of Religion” by Eric Kaufmann (LSE Forum on Religion Lecture), March 2012. 18 Luhmann 2000, 352. 19 Luhmann 2000, 118. 20 Luhmann 2000, 351 f.

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titioners – or by completely historicizing or particularizing it (as Asad or Balagangadhara like all genealogists do), a meaningful scientific concept requires limitations. It has to exclude something, it has to spell out the perspective of the first- or second-order observers, and it has to define the specific reference problem religions try to answer, as well as the specific function religion fulfils. Genealogists like Asad or Robertson also have to answer the question: Genealogy of what? If the “idea of religion” is exported/ imposed by “the West” and adapted/transformed by “the East”, some “family resemblance”21 is still required. Robertson’s own concept of religion is clearly inadequate in this regard. The attempt to circumvent any theoretical definition of religion and to concentrate on (historical, structural and cultural) conditions of changing genealogies of everyday and scientific concepts22 can avoid subjectivism, but obviously fails to demarcate the object of such changes. For example the claim that religion has recently changed from belief and practice to “identity” makes this quite clear because, apart from substantive disagreements, one has still to explain what is “religious” about identity definitions. For fear of “essentialism” one loses sight of distinctions and may end up with weird comparisons. A related alternative would be to use a Wittgensteinian framework and see religions as language games (suggested to this author by Bobby Sayyid).23 Such an approach would also allow for a non-subjectivist or collective definition of “shared” religious practices, it would focus on contexts and it would help to avoid not only any “essentialist” definitions but also any search for “higher” or “deeper” meta-rules.24 It would, however, run into the same trouble as a purely genealogical view. 2) It explicitly avoids the evolutionary assumptions that all religions in modernity become exclusively belief-centred and subjective, following a mythical, descriptively completely misleading idea of radical Protestantism as an evolutionary end-state of religion in (post-) modernity, implying if not soliciting a Protestantization of Catholicism, Orthodox Christianity (and Lutheranism and Anglicanism), Islam and Hinduism.25

21 22 23 24

Robertson 1987, 15. See Koenig 2003, 67 ff. Balangadhara 1994, 20 also briefly but inconsequentially refers to Wittgenstein. As in the case of “secularization” (see below), one can engage in stimulating historical and comparative research of (changes in) religious practices without trying to clarify distinctions between, e. g. “political” or “ethno-national” and “religious” practices in a more general way. See Roy 2012. (ReligioWest) for a critical discussion of recent shifts from religion to culture (see the infamous “cross” in class-rooms rulings by the German BverfG and the two rulings of the ECtHR in the Lautsi case) and from religion to identity. 25 See my clarification of the manifold meaning of the phrase “liberalization of religions” in a critical reaction to Raymond Plant: Bader 2012. See March 2012 for a sharp criticism of the

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3) Even belief-centred conceptions should not lose the specificity of religious symbolism, meaning, sense and identity, instead of being dissolved into cultural symbolism (Geertz, Luckmann) or (more or less dogmatically articulated) ideologies or symbolic universes (such as “Marxism–Leninism” as a “religion”) as is the case in Balagangadhara’s full-scale attack26 which, ironically, reproduces the dogmatic concept of religion of the early rulings of the US Supreme Court. 4) Practice-centred concepts (in the tradition of Pascal) are also often in danger of losing the specificity of religious practices, as is the case with many definitions of religion in cultural anthropology that focus on rites and cults (Durkheim), on attitudes and habits (Mauss, Asad), on illusio27 on commitments of “ultimate concern” (Tillich), or on “functional equivalents” like “civil religion”.28 The extremely broad concept of religion in the research tradition of “political theology” runs into the same objections. The fact, for instance, that highly practice- or ritual-centred religions (such as Hinduism) do not allow a clear-cut distinction between “religious” and other cultural practices, so much highlighted by Balagangadhara, is a bad reason to dissolve “religion” into “culture” (by the way, we could play the same game with definitions of “culture”, and in the end would lose all concepts). That we cannot clearly distinguish between “religion” and “ethnicity” in all “ethnic religions” (such as Hinduism and Judaism) does not mean that we should drop our distinctions between “ethnicity” (broadly understood) and “religion”. If we did so we would be unable to describe and analyze “ethnoreligious practices” and processes of “ethnicisation of religions” (e. g. making various religious groups into “Asians” in the UK) or, vice versa of “religionizing ethnicity” (e. g. making Berbers into Moroccans into “Muslims” in the Netherlands). As in the case of all boundary-drawings – e. g. between the immanent and transcendent – the demarcations are fuzzy and the boundaries between “religious” and “ethnic” or even broader “cultural” practices can best be clarified by discussing cases in which the boundaries are challenged, e. g. by discussing the reasons when courts do not grant

dichotomic use of “practice” (“Islam”) versus “belief-centered” (Christianity) by Mahmood, Asad and many others. 26 See Balangadhara 1994, 345 ff. 27 Bourdieu 1987. 28 Durkheim’s influential proposal – religions have the function of building/stabilizing solidarity and of morally integrating societies – has the obvious disadvantage that it neglects the fact that religions are “erstrangige Konfliktquellen” (Luhmann 2000, 121); it is untenable for functionally differentiated modern societies and more plausible for tribal societies. Its extensions to “civic religions” would also have to discuss possible processes of “desacralization” of civic “religions”.

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exemptions or privileges to claimants by declaring them not to be “religions” and the reasons groups claim to be religions. 5) Finally, it allows avoiding too historical and religion-specific semantics of the religious code in order to distinguish between the religious and the nonreligious.29 In Luhmann’s The Religion of Society30, religion is seen as a specific system of meaning and communication. “Religion ist keineswegs zuständig für Sinn schlechthin.”31 Religious communications – beliefs, discourses and practices – are distinguished from other communications by the use of a specific binary code: transcendent/immanent. Compared with earlier signifiers, this account allows for a variety of alternative ways in which the transcendence/immanence distinction is recognized and signified among and within divergent religions, i. e. from the (possibly and actually often diverging) perspectives of specific religions, other religions, non-religious people and scientific observers.32 His analysis is clearly perspectivist: sociologists (and others) observe the observations of religions and their observations can be observed by religions again. “Unbestimmbarkeit, selbstreferentielle Rekursivität, Unbeobachtbarkeit der Welt und des Beobachters in der Welt” – is answered by religion in a way that guarantees “die Bestimmbarkeit allen Sinns gegen die miterlebte Verweisung ins Unbestimmbare”33. This role or “work” of religion is seen to be highly sensitive to societal structures, evolution and diverging semantics34. The fact that all 29 Luhmann’s criticism of the basic distinction “sacred/profane” (Durkheim) is convincing. It is a simple distinction to demarcate “spheres”. As such, it is – like Weber’s “außeralltäglich/ alltäglich” – unable to comprehend the re-entry of the distinction in “das durch sie Unterschiedene” (Luhmann 2000, 83 f). For Luhmann the “re-entry of the difference between the Immanent and Transcendent in the Immanent (that is the Sacred)” (Luhmann 2000, 127) is only one option that increasingly has to compete with the “Vorstellung einer gänzlich differenzlosen Transzendenz” eines “formlosen Letztsinns” der gegenwärtig zunehmend zu einer “Desakralisierung der Religion” führt (Luhmann 2000, 127, see 146). See for example the Dutch NWO-funded project “Horizontal Transcendence: A Humanistic Perspective on the Future of the Religious Past”: URL: http://www.nwo.nl/en/research-and-results/research-projects/92/1800115292.html [20. 02. 2014]. 30 Luhmann 2000. 31 Luhmann 2000, 137. 32 What lies before this distinction “würden wir nicht als Religion bezeichnen” (Luhmann 2000, 88; 322; see also Luhmann 1977, 194). This implies difficulties with traditions that do not clearly distinguish between the immanent and transcendent, such as Confucianism (but see Bellah 2011 versus Weber), but it is not biased in the direction of a belief-centred definition of religion. The difficulty that not all traditions we are used to calling “religions” do distinguish the immanent/transcendent does not make this distinction worthless. See for problems of differentiation and the conceptual consequences: Bader / Benschop 1989, chapters III.3 and III.4). 33 Luhmann 2000, 127, 141 et pass. 34 Luhmann 2000, 128.

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observations and perspectives, including scientific ones, presuppose observers, interests and problems, and that they are embedded in history, societal and cultural structures, does not prevent or relativize scientific truth.35 It is more questionable, however, whether his theory of evolution and of modern society is able to avoid implicit evaluative biases (see section 3). Here I take it for granted that Luhmann’s concept of religion enables us to capture the full diversity of historical and contemporary types of religions. It also avoids the numerous misguided and biased exclusions inherent in monotheistic or theistic (belief-centred, dogmatic, civilizational, pure, etc.) conceptions without falling prey to dissolving religion into “culture”, cultural practices, discourse, meaning, communication or identity as such. It fully takes into account polycontextuality and criticizes unreflective attempts to privilege specific religious perspectives or the observations of religions or of science. In all these regards, it is fully appropriate for recent conditions of religious diversity in a globalizing world. Its considered perspectivism also opens up new avenues for discussing the processes and myths of secularization.

3.

Secularization, Migration and “Post-Secularism”36

“Secularization” has a triple, overlapping but also diverging meaning. 1) Culturally, it designates the secularization of general cognitive and normative cultural frames: views of world, society and man. 2) Socially, it designates a decline of religious beliefs and practices in modern societies. 3) Politically, it refers to a secularization of state and politics. All these contested processes are, as I try to show in the following, under pressure by recent migrations.

3.1

Cultural Secularization

The construction of a “double dualist system of classification”37 of the world in pre-modern European Christendom is a good starting-point to understand cultural secularization. On the one hand, the world was divided between “this world” and “the other world”. On the other hand, “this world” was divided into two heterogeneous realms, “the religious” and “the secular” (re-entry), and this “spatio-structural” dualism was institutionalised throughout society. Cultural 35 “Methodological a-theism” or better, “a-religiosity”, see Luhmann 2000, 278; see Bader 2007, chapter 2 for my concept of embedded impartiality and relational objectivity. 36 See Bader 2011a. 37 Casanova 1994, 15.

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secularization presupposes the validity of the historical meaning of the original concept of “saecularisatio” in canonical law38. From the early 19th century on, “secularization” was increasingly used to designate the progressive breakdown of the dualist system of categorisation.39 The following implicit biases and ambiguities characterising the debate40 have influenced the sociological research on social and political secularization: 1) Concepts, processes and debates show a clear but not always acknowledged Christian and “Western” bias. They clearly do not cover all religions of the world. 2) Even within this tradition, they show a clear Church bias and either neglect or seriously underestimate folk religions or “paganism” in the Christian-dominated world. 3) The original Catholic, explicitly anti-Protestant bias has eventually been countered by an explicit bias in favour of Protestant or protestantized, “subjectivized” or “individualized” religions. 4) The evaluation of secularization has been ambivalent: its original pejorative meaning is increasingly but not consistently being replaced by positive evaluations. 5) “Secularization” seduces us into thinking about all concepts, phenomena and processes from their (real or nostalgically constructed) origins and this origin bias also characterizes terms of decline, loss, demise and erosion instead of differentiation and gain, and attempts to conceptualize “history” from the present or the future. 6) “Secularization” has been focused on state – church relationships and this original state bias has been characteristic of later discussions of religions in the “nation-state”, impeding comparative perspectives in “the world-as-awhole”41. 7) In the process of a meaning change from a legal (in canonical law, in churchstate law) to a broad, metaphorical, free-floating, cultural and philosophical meaning, the term no longer has clear boundaries and distinction. It has become a vague, ambivalent, multi-dimensional term with many and often incompatible meanings and this spills over into recent discussions of “postsecularism”.42

38 39 40 41 42

See Strätz in GG, Bd. 5, 782ff and Marramao 1992, 1133 f. See Zabel in GG, Bd. 5, 809 – 29 and Marramao 1992, 1135 – 1151. See Casanova 1994; Robertson 1987, 1992; Rooden 1996; Asad 2003. Robertson 1987, 1992. See Bader 2012d for a brief criticism.

120 3.2

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Sociology of Secularization

Against this background, sociologists had a hard time to live up to their claims to formulate concepts and theories of secularization which, as scientific ones, had to be “secular” (in the sense of not being bound to religion and being methodologically a-religious) without being “secularist”. With a few exceptions (de Tocqueville, William James), social scientists have long taken secularization for granted as a commonsense and plain truth. From the 1960s on, the thesis met with scepticism. The concept turned out to be fuzzy and polyvalent, its descriptive content vague and the explanatory theories weak. The empirical evidence hinted a religious change (e. g. individualization or subjectivisation), not at decline43, loss of significance or of function. The majority of sociologists of religion declared the thesis useless, rejected it and opted for abandoning it44, to replace it by studies of religious change or by historical and comparative “genealogies” of religion45. If there is a need to retain a concept of secularization46, one has to specify its meaning and its dimensions, and to analyze these in an analytically separable way. Casanova’s distinctions between three different theses and understandings are a useful point of departure: “secularization” 1) as decline of religious beliefs and practices, 2) as individualisation or privatisation of religion, 3) as functional, institutional, organisational and role differentiation. It is argued here that we indeed had better drop the decline-thesis, we should carefully distinguish among the usually combined claims of individualization/ privatisation/subjectivization and have good theoretical, empirical and normative reasons to reject both privatisation and subjectivisation and qualify the individualisation thesis. We also have to carefully circumscribe the differentiation thesis. 3.2.1 Decline of religion(s)? Some political philosophers, Habermas47 amongst them, often erroneously believe that the social secularization of societies in this sense would also require a completely “secularized” state and politics, but they are at least as misguided when they believe at face value that “modern” societies would be secularized or secular societies. Sociologists like Foster, defending the thesis of an inevitable decline of religion in “modern” societies have usually focused on Western societies and on (broadly speaking) Christian churches, denominations and sects. 43 44 45 46 47

See Luckmann 1967. For example Martin 1965. See also Robertson, Asad, Veer. See Martin 1978, Luhmann 1977, Casanova 1994. Habermas 2007.

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They have developed more or less extensive lists of indicators to measure and test the assumed decline, ranging from “belief” (in God, dogmas) to “beliefs and practices” (Christian baptism, weddings and funerals (collective rites of passage); attendance at services and other collective cults and rituals; praying, grace at meals and other religious practices at home) and to “institutions” (membership, adherence and identification with an organisation; financial support, relative number of religious professionals, etc.)48. In addition, they have studied variations in all these regards according to independent variables, such as generation, class, income, education, gender, ethnicity and cities/countryside. Whether subordinate “folk religions” – animistic, magic, polytheistic beliefs and practices, like the veneration of saints and holy Mary that are seen as “paganism” from the standpoint of Protestantism – declined or continued to prosper is usually not analyzed either because it is completely neglected or because of difficulties in measurement, assessment and comparison. Judaism, Islam, Hinduism, Buddhism and other “high religions” within Western states are often lumped together as “other religions”. Even strong defenders of the decline thesis admit that their development does not fit the picture – as a consequence of immigration and not so much of fairly marginal conversions – but they rescue the thesis by claiming these immigrant religions are “pre-modern” or “traditional”. This move is clearly more difficult regarding the newly developing “invisible religions”, the“‘new age of spirituality” and strong evangelical revivals within the “West” that are at odds with the original decline thesis.49 On a global scale, the decline thesis is so obviously at odds with all evidence that its defenders have to resort to the most simplified version of “modernization” theory declaring the “Rest” as pre-modern or “modernizing”. Even if one confines the thesis to mean the decline of Christian church religions in the West, defenders have to deal with the anomaly of the US, the country that seems to be the most “modern” of all Western societies, and paradoxically also the most Christian and the most religiously diverse. The decline thesis, prima facie at least, does not seem to cover the “West” but only Europe. American exceptionalism has been traditionally explained by the 48 See Crouch, Hervieu-Leg¦r, Madeley and Bouma. (Western) European societies are characterized by comparatively high degrees of “decline” in “belief/practice” and belonging but vary significantly from the pole of East Germany (formerly the GDR), followed by the Czech Republic and Scandinavian countries to the other extreme of Ireland and Poland. In addition, we see comparatively higher levels of individual religious beliefs: “unchurching” or “believing without belonging” (Davie and Hervieu-L¦ger 1996; Willaime, 2004, 334 f) rather than secularization (Casanova 2005). 49 The less organized and the more informal, spontaneous and “subjectivized” these religions are, the less visible they are also for sociologists even trying hard (but see Woodhead / Helaas 2005; Woodhead 2010). Their empirical importance, however, should certainly not be overestimated (see the criticism of Kendal by Bruce 2002).

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absence of an established church50 and fierce competition among all denominations51, though social and cultural factors may be as important. Bruce52 has discussed the tension between two competing views of the consequences of religious diversity for the plausibility of religion, to wit the thesis 1) that religious pluralism threatens the plausibility of religious belief systems by exposing its human origins and that it makes religious belief a matter of personal choice rather than fate (Peter Berger and others); and the competing thesis 2) that it “strengthens the appeal of religion by a) ensuring that there is at least one version to suit every taste; b) preventing the institution from being compromised by associations with ruling elites (opponents of “establishment” tend to “generalize their rejection of the politics of the establishment from the dominant Church to religion in general”53); and c) forcing suppliers to be more responsive to potential customers”54. Instead of trying to reconcile the two views, like Martin and Wilson, Bruce contents that “they too readily accept that the USA is a major anomaly”.55 If one makes “legitimate comparisons”– taking smaller regions or states within federal republics or supra-state polities as units – one can show “that the contrast of (a) stagnant and bankrupt establishment in the old world and vibrant lively dissent in the new is an unhelpful caricature”.56 Legitimate or appropriate comparisons are important also in two other regards. First, what is the point of departure of the assumed “decline” of religion? The implicit assumption of a golden age of (Christian) religiosity in the Middle Ages57 or in “past ages”58 is forcefully criticized.59 Second, if one compares organized religions not with a nostalgically idealized past, but with contemporary competitors like “humanist” organisations and secularist counterorganisations, with political parties in particular, the decline of the latter 50 See Casanova 1994, 29; 214; Robertson 1987, 5ff; and Kalyvas 1996, 6 f; vs. Rooden 1996, Eisenach 2000 and Keane 2000. 51 See Stark / Iannaccone 1994; Iannacconne 1990; Stark / Iannacconne / Finke 1996; Gill 2001 from a neo-institutionalist economic perspective (the free market governance of religious diversity), but also Martin 1978; 1990, 21, and others. 52 Bruce 1992. 53 Bruce 1992, 171. 54 Bruce 1992, 172. 55 Crouch adds a further paradox: “We must also note that the two European countries which seem to provide most diversity, the Netherlands and the UK, are those with the lowest levels of adherence.” (Crouch 2000, 279). 56 See Bruce 1992, 173 – 188 for the four important reasons. 57 See Hornsby-Smith. 58 Wilson 1992, 207. 59 Martin, Luhmann and Rooden have good reasons to make institutionalized structures and power asymmetries responsible for ‘high religiosity’. For exactly opposite reasons, see Gill 2001, 123.

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“has been far more severe than anything suffered by the churches. If the contest between religion and secularization is one between organisations and articulated systems of belief, then religion rules undisturbed. Its ‘enemy’ is not aggressive laicism but indifference”.60

In the face of so much counter-evidence and so many counter-arguments, a generalized decline thesis is indefensible. Then, the two obvious defense strategies are either to immunize the thesis against evidence by granting lots of “exemptions” – around the globe, in the West, within Europe – or by insisting on “long-term tendencies” of modernity against so-called “short-term” countertendencies. A simplistic and evidently normativized modernization theory then has to bear all the burdens of proof. Instead of replacing the decline thesis with a generalized counter-thesis that religions, like migrants, are here to stay or even that they have “more rather than less significance”61, it seems more productive to drop the thesis and focus on the changing forms and types of religions and of religiosity under specific institutional conditions and in specific contexts. Many defenders of the other three understandings of the secularization thesis seem to accept this. 3.2.2 Changes of religions in “modernity”? An essential part of the sweeping and general statements on complex structural change by the neo-classical sociology of religion – the cultural rationalization of world and self-concepts, the pluralization of religious frames, and functional differentiation, individualization of religious orientations and ways of life – has been the privatization thesis.62 The thesis is compatible with the decline thesis and with its anti-thesis, the revival thesis. Its central claim is not that all religious beliefs, practices and institutions are inevitably declining with modernization. Rather, they are being “privatized” or (often uneasily synonymous) “individualized” or “subjectivized”. The thesis seems to have a double meaning, with each sense being analytically separate but practically connected. First, it refers to the kind of religious belief and practice appropriate under conditions of modernity (or of “late” or “post-modernity”): the core of the individualization thesis. Second, it claims that organized religions give up or have lost their “public” roles (the most appropriate meaning of privatization).

60 Crouch 2000, 273. 61 Robertson 1987, 7 and 1992, 4; or the late Peter Berger. 62 See Dobbelaere 1992.

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3.2.2.1 Individualization or subjectivization? Concepts and content of the presumed changes are ambiguous; they actually cover many overlapping processes that are related but are analytically and also practically different. It is important to distinguish them in order to obtain clear descriptions of such debated developments as a global “neo-Islam” of the young, even before we enter into normative debates of appropriate forms of governance. First, it is said that all religions under conditions of “modernity” or “postmodernity” eventually lose their “collective” (or “cultural”, “ritual”) dimensions and would become “individualized” in the sense that they all shift from practicecentered to belief-centered religiosity.63 Second, it is said that they become increasingly subjectivized “religions of the heart”, focused on “expression” and “authenticity” (and this is related to the often claimed shifts from practice and belief to identity).64 Third, it is said that religious belonging (belief and practice) is becoming ever more voluntary, a matter of choice and not of fate.65 And, finally, it is said that religious belonging is increasingly seen as a contingent individual choice. Indications of such shifts are seen in the so-called “Protestantization” of all old Catholic and Orthodox religions (partly as a result of the impact of migrants from Eastern to Western-Europe on their home churches) as well as in the changes of other “old” religions like Islam, Judaism and Hinduism under “modern conditions” or “in the West”, on the one hand, and on the other hand, in the revival of old (e. g. Pietism, Methodism and particularly Pentecostalism66) and the rise of new “invisible religions of the heart” and post-conventional “new age” spirituality of all sorts.

63 The core of Olivier Roy’s version of “global Islam” (2002) is that the “neo-Islam des jeunes” is completely “de-culturalized” and disconnected from all common, ritual practices, not just from ethno-national and territorial ones (see critique by Salvatore 2004, 1021 – 1024); see also Kepel’s (1996) version of a “French” or “European Islam” and the criticism in Bader 2011 and 2012d. With regard to Judaism, in the process of an ambiguous “emancipation/assimilation”, ritualism and traditional cultural practices have been seen as a burden, with the “true religion” being an “affair of sentiment, not of practices” (Reinach 1900, quoted in Jansen 2006). 64 See the short summary of the famous Berger and Luckmann thesis in: Casanova 1994, 35 ff. In its “expressivist” variety (self-expression, self-realization, narcissism and individual authenticity in the private sphere, in free time) it is also fully endorsed by : Taylor 2002, 2007. The eventual absorption of practices and beliefs in identity-claims is the distinguishing mark of most “post-modernist” literature. 65 Eventually, it is said, all religious believers would be “born again”, but here too it is crucial to distinguish between the impositions of such “(post-) modernist” definitions (e. g. Smith’s (1998) version of Hinduism, see criticism by Galanter 1998, 246 f; 259) and the processes of religious change (e. g. Hindu congregations in New York and the possible impact of these changes on the civilizational homes of religions – see Casanova 2005). 66 See Martin 1990.

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Some sobering remarks seem in order here. Although selling Protestantism as “the” modern Christian religion has a long history, it is clearly misguided, because Lutheranism and other Episcopal Protestantisms such as Anglicanism, Presbyterianism patently do not fit. Only an idealized version of Radical Protestantism could serve as a model. Furthermore, the idea of a religion that has lost all its collective, social and practical dimensions is an absurdity, because all human linguistic and cultural practices are inherently social (all meaning is social, after all, fully “private” or “subjective” languages are non-starters), and because belief without a certain minimum of shared attitudes and practices is a shame.67 In addition, important as it is, voluntarism is always a matter of degree even under “ (post-) modern” conditions, and the idea that religious beliefs could be completely disentangled not only from ascriptive (racial, ethnic, national) practices but also from all cultural (e. g. linguistic) practices is a nonrealist utopia even for the most universalist of all religions. The hard core of the thesis then seems to be that religious belief and belonging is increasingly seen from the perspective of both believers and non-believers as a contingent, individual decision (the fourth meaning) mainly for two structural reasons. One is that the increasing (awareness of) religious diversity shows that belief, practice and belonging is not a matter of natural or supernatural fate, but a matter of personal choice, “une affaire d’option individuelle et non plus ¦vidence collective” (a matter of individual option, no longer of collective evidence68).69 Another reason is that as a consequence of the functional differentiation of systems and related role differentiation in modern societies, all individual inclusion decisions are seen as contingent. Eventually, Luhmann self-critically increases his distance from the “modern semantics” of the “Privatisierung religiösen Entscheidens”70 and also of the ‘subjective’, “individual”, or “authentic”, clarifying that this structural relevance has to be understood as a principled recognition of the contingency of all decisions. This contingency of religious decisions has at least two important consequences. For a start, it creates new problems of consistency. It also seems to 67 Asad rightly made this point. Even the informal communities of “new age religiosity” are communities and non-direct interactions on the worldwide web form “Internet communities” (see Benschop 2012). Yet, Asad, Mahmood and others reproduce the other side of this myth in their construction of a purely practice-centered “Islam” (see above for March’s 2012 criticism). 68 Hervieu-L¦ger 1986, 59. 69 The intensified commodification of religion and competition among suppliers on “God’s biggest supermarket” in American denominationalism may make this plain. It also may stimulate a mentality of “pick and choose”, of practicing religion — la carte and converting even all second-order preferences into private predilections (Wilson 1992, 2000; Dobbelaere 1992, 23ff) but this obviously need not be the case. 70 Luhmann 1977, 232; 236 – 239.

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favour de-institutionalized – or at least more weakly institutionalized – and more informal, spontaneous, less hierarchical forms of religions71, which cannot and need not rely on existing, shared local communal forms of life but need new forms of “community” such as global web-communities. If and to the degree in which this were actually to happen, religions would lose the traditional organizational capacity to be represented in public and in selective systems of cooperation between governments and organized religions. The interesting and controversial question is whether organized religions, such as churches, can adapt to these new forms of religiosity or will only survive as a part of modern fundamentalisms.72 Luhmann is fairly open in this regard and specifies some of the conditions of the former option. Organized religions “müssten dann die Differenz von Glaubenden, von Andersglaubenden und von Nichtglaubenden akzeptieren können und gerade aus der Differenz, aus dem Anderssein, Möglichkeiten der Stärkung des Glaubens gewinnen”73.74 Like Casanova, Bouma, Taylor, Willaime and others, I believe that at least some churches are beginning to learn this lesson. In addition, they self-reflectively resist the temptations of “privatized” and “invisible” religions. They are public and go public. 3.2.2.2 Privatization? The thesis that organized religions have been forced to withdraw into the “private sphere” or, like Methodists or Pentecostalists, to voluntarily give up any “public”, direct “political roles”, is partly based on the former claim that they (have to) respond to the structural change in individual religiosity in their internal structure and their external relations to society and the state. In addition, it refers to the differentiation thesis. If one understands the thesis as a generalized empirical description, there are five counter-tendencies: 1) The cultural defense thesis refers to majority–minority relations within states75 : “Where culture, identity, and sense of worth are challenged by a 71 “Entkirchlichung”, “Rückgang des organisierten Zugriffs auf religiöses Verhalten”. “Postmodernists” like Robertson and Castells and “late-modernists” like Connolly praise these trends without any hesitation. Luhmann is more ironic and careful. See also Müller 2005, 49 – 53 following Gauchet. 72 Luhmann 2000, 295, 315 f: “In der Form des religiösen Fundamentalismus wendet sich der moderne Individualismus (in paradoxer Weise – V. B.) gegen sich selbst.” Gill highlights the theoretical irony in this statement: “The primary explanatory variable proposed to account for decreasing levels of religions in society, is the same variable pointer for the increase of religious activism: modernization.” (Gill 2001, 125 for a sharp criticism of the conundrums of “non-falsifiable ‘grand theorizing’”). 73 Luhmann 2000, 317. 74 “Die Frage, ob die Vorstellung, Gott sei eine ’Kontingenzformel’ religiös akzeptabel ist oder nicht” (Luhmann 2000, 316) is left as open as the possible future of churches. 75 Wallis / Bruce 1992, 17 f Page 17 shows Polish, Irish and American examples.

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source promoting either an alien religion or rampant secularism and that source is negatively valued, secularization will be inhibited. Religion can provide resources for the defense of a national, local, ethnic, or status-group culture”.76 2) The closely related cultural transition thesis refers to some immigrant groups from rural areas and to disruptions of the way of life of traditional groups through industrialization and urbanization: “Where identity is threatened in the course of major cultural transitions, religion may provide resources for negotiating such transitions or asserting a new claim to a sense of worth”77. In both cases, religious beliefs and practices may not decline but be intensified (against the decline thesis), and they are certainly not “privatized”. Collective religious identities serve as markers of cultural difference, and less acknowledged, also as resources for organization and mobilization.78 Here, religious organizations are eminently “public” and insist on their “public visibility”. The two cases also demonstrate that, under conditions of structural asymmetries of power between (religious or secular) majorities and minorities, individualization and privatization can be deciphered as strategies of predominant majorities to assimilate minorities under the guise of “neutrality” and “modernity”. This “socio-logic” of power asymmetries is blatantly absent from most sociology of secularization.79 3) The cases can also be extended to cover international relations between states and religious majorities and minorities under conditions of structural asymmetries of power in the global arena (religions and colonialism, imperialism, post-colonialism) where “individualization” and “privatization” fulfill the same or similar functions.80 4) In the former cases, the privatization thesis may be defended by declaring the empirical phenomena as “exceptions”81 and the tendencies as “countervailing factors, sometimes generated by the same process of moderniza76 77 78 79

See also Martin 1978, 1990, 275 f; Casanova 2005 and many others. Wallis / Bruce 1992, 18. See Bader 2007, 190 – 193. Also in Luhmann’s discussion; Martin 1978; 1990, 275ff; 1993, 118 – 120 is a laudable exception. The “socio-logic” of power asymmetries (see Guillaumin 1995; Juteau 1999) is most visible in recent studies on “Islam in the West”. 80 See Asad 1993; Robertson 1987; v. d. Veer 1997. See Mandaville for “Pan-Islam” as an attempt to reimagine the umma from an international minority position (Mandaville 2001, 74ff) and for “living and revising Islam and the umma in diaspora” (Mandaville 2001, 114ff) in nonMuslim majority countries. 81 On the “transformation” of Eastern European societies and the role of different varieties of Orthodox Christian Churches, see Offe 1994, and critical remarks in: Spohn 2003, 336 ff. This strategy can be easily countered by the question of “when cultural defense and transition would not be an issue” (Rooden 1996; Baumann 1996).

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tion”82 but still related to “pre-modern” people or areas, or to problems connected with “modernization” absent “in the long term”83 in fully modernized societies.84 As a result, the privatization thesis is again in danger of turning from a descriptive and explanatory into a strongly predictive and (implicitly or explicitly) prescriptive thesis. This is more obvious in the next case: “American exceptionalism” defies not only the decline thesis but also the privatization thesis. Organized religions in the US are massively public and play an enormous role in politics in both the conservative and fundamentalist varieties so prominent in the “moral majority”, the “neo-con” communitarianism of the Reagan and Bush administrations and the recent campaigns of Republican candidates for president as well as in the more decent variety of “public religions”, e. g. Murray’s version of American Catholicism. The right-wing variety marks “a break from recent trends in European Christianity” that has clearly not been anticipated by secularization theorists. 5) Conservative and fundamentalist Christianity can be seen as “anti-modern” reactions against “modern contingency” in order to rescue the privatization thesis, but this strategy fails with regard to trends among some non-fundamentalist churches that accept contingency and still play important public roles in the US, in Europe85 and on a global scale. Fragile as such trends may be, they have not been foreseen and are clearly at odds with the privatization thesis, as it is traditionally understood. To uphold the thesis then implies that the turn of a “testable and falsifiable empirical theory […] into a prescriptive normative theory of how religious institutions ought to behave in the modern world”86 grows even stronger. In review, religious believers and practitioners may learn that their decisions are contingent, that they could practice other religions or none, without privatizing their religion. They may learn to react to “commodification” by reflexively stabilizing their second-order preferences instead of falling prey to “consumerism”, “hedonism” and continuous preference change. Organized religions may learn to develop as modern and public religions. Privatization is not a 82 83 84 85

Wallis / Bruce 1992, 9 as a “multiply contingent process”. Wallis / Bruce 1992, 19. See also Habermas 2007. Where this public role is legally or even constitutionally acknowledged in different forms of “public recognition” in some countries see Robbers for Germany 1995, 66; Potz for Austria 1995, 261 f: “Heute bringt die öffentlich-rechtliche Stellung weniger positiv-rechtliche Substanz als die Klarstellung, dass der Staat Religion nicht als Privatsache ansieht und der Privatisierung des Religiösen einen Riegel vorschieben möchte.”; Ferrari 2002 and Bader 2007, § 1.3. 86 Casanova 1994, 38.

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structural trend, dictated by “modernity” but a historical option87 preferred internally by pietistic trends and religious individuation, and externally by liberal and, particularly, republican conceptions of the public sphere. “De-privatization” may be a viable, modern historical option as well. The processes of modernization are more contingent than modernization theory traditionally admits, and modern state societies show more contingency and institutional variety than structuralist and functionalist sociology allow for. The differentiation thesis often stimulates a counterfactual and maximalist interpretation of “strict” or “complete separation” of state/politics from religion, which also has quite unwelcome normative implications.

3.2.3 Minimal or complete differentiation? Some minimal threshold of functional, institutional, organizational and role differentiation among religions or between “the religious system” and the other systems, and between organized religions and other organizations (particularly the state) is functionally required for modern societies (the hard core of the secularization thesis). Religions have “lost” direct political control over state, society and culture,88 “the” economy, science, arts, law, politics, etc., and have gained “internal and lawful autonomy” in those parts of the world where they once exercised these powers. States are and should be at least relatively “autonomous” from “churches” and churches from state control, the twin tolerations89 or two autonomies90. The labels signifying this differentiation – autonomy, control, freedom, non-interference and separation – may differ. As in other cases, however, differentiation, autonomy, control or non-interference is a matter of degrees on a scale from the pole of full or complete through “some” to “minimal” and to no “separation”. The least demanding and most minimalist interpretation requires a threshold of institutional, organizational and role differentiation between “worldly”powers, states, politics and leaders/politicians, and “spiritual” powers, organized religions and religious leaders/specialists co-emerging with the historical development of these institutions and roles. This differentiation was characteristic for the West long before modernization or “secularization” as, e. g. the protracted Investiturstreit in the Holy Roman Empire of German Nations 87 Casanova 1994, 39, 215, 222. 88 David Martin’s term “culturalization” of religions as a consequence of the loss of direct political clout is a much better term to capture these changes than “privatization”. It is an important insight of his analysis that even “depoliticization” of religion does not imply any loss of “social significance”. 89 Stepan 2000. 90 Ferrari 2005.

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clearly shows. It also characterized non-Western states like the Ottoman, Mughal and Chinese empires.91 Two broad comparative remarks seem appropriate. First, religious toleration – minimally implying limits to the attempted/actual control over religion(s) by states and by religions over states – is not a Western invention. Christianity has been historically certainly not among the tolerant religions but it has eventually learned from its mistakes wherever protracted warfare between intolerant religions/polities could not be won decisively.92 Second, state–church problems as well as the urgent need to resolve them only emerge in specific traditions, in particular in the Christian one, and this comparative insight is crucial for a sober discussion of recent, highly polemical accusations that Islam knows no “separation between church and state”.93 Achieving the minimal or threshold differentiation has been mainly a problem for states in the Christian West.94 If one wants to call a state that is not controlled by religion a “secular” state, then “secularism” (or better, “secularity”) is certainly not confined to the West but it had to be, rather painfully, learned in the West. A “secular” state would then mean a state that is increasingly “indifferent” or (perhaps better) “agnostic” with regard to competing and incompatible religious, metaphysical and densely moral worldviews: a “non-religious”, not an “anti-religious”, “atheistic” state or a state that is “hostile” to religions. The minimalist version of the thesis is almost universally accepted. The link of the thesis to “secularization” and “modern society”, however, suggests two more demanding interpretations: either fully autonomous functional systems (or “spheres”, “fields”) like the religious and the political system and/or fully autonomous organizations (the famous thesis of a “complete separation” of states and churches) and professionalized roles/activities. Many sociologists, particularly in the functionalist tradition, tend to seriously overestimate the autonomy of “functional systems” and “organizations” and to seriously underestimate the institutional variety of these “systems”. In this regard, it is quite unfortunate that Niklas Luhmann’s theory of functional differentiation of social systems also tends to misdescribe actual fields, organizations and activities in general, notably the relationship between the political and the religious system, the state 91 See Hirst 2001; Eisenstadt 2000; Asad 2003 and Bhargava 1998, 497 f, 511. See also Bader 2011 for “Islam”. 92 See Bhargava’s criticism of the cultural inadaptability thesis: Bhargava 1998, 522 – 525. 93 In this regard, Robertson’s theoretically guided construction to world religions (Robertson 1987, 155ff) is extremely useful. 94 See Hunter 2009 and Saunders 2005 for the explicit statement of the legal and political framework of this minimalist threshold by lawyers and state-makers in Western Europe in the 16th century : the sovereignty of an increasingly religiously indifferent state to achieve civic peace in internal religious wars.

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and organized religions, though the general approach of an autopoetic system theory would allow otherwise.95 The huge legal, institutional, political and sociocultural diversity in the relations between states and “churches” is blatantly absent from his sociology of religion.96 On review, the differentiation thesis often favours a counterfactual maximalist interpretation of “complete separation” and contributes to a neglect of the path dependency and institutional variety of the relationship between states and organized religions. Ideologized American separationalism here, contrary to the first two meanings of the thesis, serves as the model of institutional secularization and of a fully modernized society. The “idealized” institutional model, not the actual muddle of the US, seems to be the inevitable future for all modern state societies. Even authors who clearly recognize that institutional differentiation is not a unilinear, universal process with a known and fixed outcome are tempted to see “complete separation of church and state” in the long run as an “irresistible, structural trend”97 in modern societies.98

3.3

Making sense of the Secularization-Thesis

What are we to make of the secularization thesis after all this? Do we have to abandon the concept or can and should we retain it, and if so, in which meaning? From the perspective of religion, it is perfectly legitimate to ask the question of “how religion itself sees its other side”99 and to describe it as a “secular” or “secularized world” based on “secular” communications, neglecting or (eventually) recognizing that “other observers may describe the same states of affairs differently”. Religion and secularization form an opposition only in a religious context.100 The distinction between “religious” and “secular” opinions, for instance, is important for religions but much less so or even not at all for democratic politics. From the perspective of sociology, the positive use of the concept in theory and research seems to be rather counterproductive and could be better replaced by a

95 See Teubner 2002. See also the detailed criticism of Luhmann’s theory in: Bader 2001, 142 – 148; Mayntz and Scharpf 2005. 96 See Luhmann 1997, 282 f and Luhmann 2000, chapter 6. 97 Casanova 1994, 213. 98 See Minkenberg 2000, 11, 15 and even though more carefully, Martin himself. See also critically Marquand / Nettler 2000, 2 and Fox 2006, 563. 99 Luhmann 2000, 282 – 284. 100 See Luhmann 200, 283.

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historical and comparative analysis of the empirical use of “varieties” or “modes of secularism” in political discourse and politics.101 From the perspective of liberal democratic politics and normative theory (including constitutional law and jurisprudence), the important question is clearly not whether society and the state are fully “secularized” or “secular” and completely “separated” from religions. For a start, we know that the emerging “secular” state has not been a “liberal”, let alone a “democratic” state.102 In addition, this minimalist secular state certainly did not require or even presuppose any social or cultural secularization of beliefs and practices, it only required the taming of absolutist claims of religions regarding the state and the law. We all know many examples of recent secular states that have grossly violated not only minimal standards of liberal democracy but also of any minimal morality. Moreover, a more or less fully culturally secularized society certainly does not require a “secularist” state but a state that is “secular” only in the minimalist sense of the two autonomies of state from church(es) and churches from state. Rather we should inquire which forms and degrees of differentiation are compatible with or most conducive to the principles and practices of liberal democracy. From this viewpoint, the meta-narrative of secularization is deeply misleading.103 It should be de-linked from ‘liberalism and democracy’104 and it should be replaced by “priority for liberal democracy” or by “liberal–democratic constitutionalism”105. It is not decisive whether a state is “secular”, but what matters is whether it is decent and/or liberal-democratic. It is not decisive whether communications, arguments and opinions are “secular” or “religious” but whether they are “public” and conducive to an agonistic democratic dialogue.

101 See already Matthes, Tenbruck, Koenig 2003, 70ff, Casanova 2005, Wohlrab and many others for attempts to describe, compare and explain the historical emergence and structural conditions of different cognitive and normative uses of “secularism” in different countries. 102 See Hunter 2009; Kaplan 2009. 103 In the context of Western state and nation building, it has been linked to the following conceptual dichotomies: religious/secular, religious/politics, private/public, heteronomy/ autonomy and religion/reason (see Koenig 2003, 59 – 75) reproduced in liberal political philosophy (see Bader 1999). 104 Casanova 2005. 105 Bader 2010.

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4.

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How should liberal-democratic states deal with recent religious “super-diversity”?106

As already indicated, my claim is that associational governance of religious diversity is more appropriate under these conditions of increased religious pluralism and fragmentation of organised high religions, and hence preferable to the two other prominent but idealized models: American denominationalism and selective cooperation regimes in some European states. We have more options, and should avoid being trapped into a simplistic choice between either a fully secularized state based on an idealized version of American denominationalism or French republicanism (with strict separation of state and politics from privatised religions), or existing neo-corporatist or pillarised European regimes of selective cooperation between states and organised religions, even if stylised as models of moderate secularism (Modood). Contrary to strict separation-ideologies, all states, including the U.S. and France, recognize organised religions either legally or administratively, finance them either directly or indirectly (tax-exemptions), and privilege freedoms of religion by granting them, and not others, many exemptions. They also finance faith-based organisations in all sorts of care and social services and also in education, either directly or indirectly. As already stated above, strict separation of state/politics and religion is an undesirable myth. Corporatist regimes officially recognize these relationships between governments on all levels and organised religions, but do so in an unfair, exclusivist and rigid way, privileging old majority religions, whether established or not, and disadvantaging new minority religions. Their inbuilt majority-bias and their institutional inertia prevent a smooth and adequate accommodation of the morally and legally legitimate institutional and policy-claims by new minority religions. Corporatist regimes are unfair, and not the only alternative. Associational Governance of Religious Diversity – a moderately agonistic and libertarian, flexible version of democratic institutional pluralism107 – 106 See Bader 2008. 107 Associative Democracy is a specific variety of liberal-democratic institutional pluralism, which combines two core characteristics as power-sharing systems: 1) the existing plurality of groups, organisations or political units are formally recognized and integrated into the political process, and 2) a fair amount of actual decentralization and self-determination. The most well-known variety is political/territorial pluralism: consensus-democracies and federalism in multi-level polities. The second variety is social or functional pluralism: the representation of classes, professions, elites, producers, consumers and clients in the political process in different societal fields and organisations such as firms, schools and hospitals at different levels (e. g., sectoral, regional, national and supra-national neo-corporatist councils). The third variety is ethno-religious minority pluralism. Associative democracy is a flexible, moderately libertarian variety of democratic institutional pluralism

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Veit Bader

proposes a realistic third way of overcoming the inherent deficiencies of today’s predominant normative institutional models. It shares with American denominationalism its preference for non-establishment and the fact that it is clearly much more friendly towards (new, small) religious minorities, as well as showing a much greater degree of religious diversity (both are considerable achievements!) than French secularist republicanism and corporatist European regimes. Yet, American denominationalism has its well-known downsides: 1) The guarantee of exit rights is not accompanied by the provision of meaningful exit options, particularly not for vulnerable minorities. The absence of a minimally decent welfare system contrasts starkly with many European regimes; 2) American Denominationalism is known for the huge but informal impact on politics of socially and culturally established (Protestant) religions. Systems that restrict interest representation to informal ways of influencing governments through network building and lobbying de facto privilege old, big, established religions because they have huge, unchecked advantages in terms of power, resources and strategies. The counterproductive consequences of a strict legal public/private split, and the relegation of religions to the private sphere of civil society, are also evident from the American treatment of political parties as purely private organisations without any public funding; 3) This rigid public/private split is also counterproductive when it comes to a wide variety of welfare and social services108, and to new experiments in education.109 (see Bader 2011, 31 – 37; Bader 2007, 185 – 200 and Hirst 1994), combining these three dimensions. It is meant not to replace, but to supplement, representative democracy. Compared with other types of democracy, it is driven by the conviction that all those relevantly affected by collective political decisions are stakeholders, and thus should have a say, both for reasons of meaningful democratic representation and, in particular, for reasons of governmental effectiveness and efficiency. It attempts to keep central government strong and minimal, and restrict government to its core tasks. The implied shifts from government to governance are stimulated by the institutional design of social pluralism. Social services should primarily be provided by self-governing-associations, and different contents and styles of provision of social services should (be allowed to) go along with different versions of the good life. Services should be public and publicly funded, open to all, but largely non-governmental. Therefore, far from there being one welfare state (one bureaucratic formula fits all), there would be as many as citizens wanted to organize, catering to the various lifestyles of individuals and groups, but based on common entitlements. Associational service provision is a new format for ethnic and religious groups wanting to set up their own schools, hospitals and institutions in order to care for children, elderly, handicapped and poor people. In this way, it stimulates minority pluralism, guaranteed by a strong interpretation of associational freedoms and the proposals to represent the interests of different minority groups in the political process. In the same vein, it provides meaningful exit options for minorities within minorities, thus contributing to voluntarism and plural, crosscutting membership in associations. 108 Minow 2000, 1060 – 1094. 109 Liebmann/Sabel 2003.

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Associational governance (AG) is a realist utopia that, in principle, could build on existing regimes of governance in various countries. Institutionally pluralist regimes may, prima facie, provide better opportunities for transitions to AG because important modes of institutional learning exist in their experiences with broad and established selective cooperation, and could be combined with stronger interpretations of equal treatment, relational neutrality and fairness as even-handedness towards new minority religions. The irony of the Dutch case seems to be that these chances of moving from pillarised systems to an open, inclusive and flexible system of institutional pluralism (such as AG), paradoxically seem to have been sacrificed on the altars of an increasingly fashionable secularist-republican or nationalist-communitarian rhetoric of assimilation.110 Countries, such as the US, that lack developed systems of institutional pluralism, will have more difficulties in this regard – though quite similar experiments can be found on state and municipal levels.111

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Teil 2 Transformation durch Migration in europäischen Religionsgemeinschaften. Herausforderungen und Perspektiven

Wolfram Reiss

Auswirkungen der religiösen Pluralität auf staatliche Institutionen und die Anstaltsseelsorge

1.

Religiöse Pluralität als Faktum, das bisher unzureichend wahrgenommen wurde

„Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“ sagte der frühere Bundespräsident Christian Wulff bei seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. 10. 2010.1 Obwohl diese Feststellung angesichts von ca. 4 % der Bevölkerung und der Präsenz von MuslimInnen in allen Bereichen der Gesellschaft eigentlich eine triviale Feststellung war, die jeder Bürgerin und jedem Bürger dieses Landes einleuchten müsste, löste er damit eine umfangreiche politische und mediale Debatte über die religiös-kulturelle Prägung Deutschlands aus, die mit zeitlichem Abstand immer wieder aufflammte.2 Das Problem, das damit zum Ausdruck kommt, besteht darin, inwieweit von offizieller politischer Seite eine vorgegebene, mehr oder weniger unveränderliche religiöskulturelle Prägung von Deutschland postuliert wird, in die sich andere Religionen und Kulturen einfügen müssen, oder inwieweit sich die deutsche Kultur schon immer durch Migrations- und Transformationsprozesse konstituiert und verändert hat, und inwieweit eine religiös-kulturelle Pluralität Deutschlands (und europäischer Staaten) politisch bejaht und anerkannt wird.3 In den Medien und der politischen Diskussion über die Integration von MuslimInnen wurde häufig die jüdisch-christliche Leitkultur beschworen. Man 1 Die Originalrede ist in Deutsch und in verschiedenen Übersetzungen auf der Homepage des Bundespräsidentialamtes nachzulesen (Wulff 2010). 2 Vgl. die Artikel „Islam gehört für Kauder nicht zu Deutschland“ in der ZEIT vom 19. 4. 2012 und „Merkel widerspricht CDU-Konservativen in Islam-Frage“ in der ZEIT vom 14. 05. 2012. 3 Auch in der Schweiz oder in Österreich lässt sich solches Gedankengut einer statischen religiösen Zuordnung eines Landes antreffen, wie sich z. B. in der Debatte um sichtbare Moscheen in der Schweiz oder um das Wahlplakat der FPÖ gezeigt hat, wobei interessanterweise christliche Vertreter oftmals gegen diese Vereinnahmung von Religion für eine Nation protestiert haben. Vgl. der Standard, 6. 5. 2009 (URL: http://derstandard.at/ 1240550598731/Kirchenrat-und-Islamische-Glaubensgemeinschaft-Kritik-an-FPOe-SloganAbendland-in-Christenhand [08. 02. 2014]); Tanner 2009.

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könne zwar sagen, dass das Judentum und das Christentum Deutschland und Europa geprägt hätten, dies gelte jedoch nicht für den Islam.4 Zu Recht haben Muslime darauf hingewiesen, dass solche Sätze Ausdruck einer unglaublichen Geschichtsvergessenheit sind,5 denn es ist nun einmal ein Faktum, dass Europa über Jahrhunderte auch von der arabisch-islamischen Zivilisation geprägt wurde, und dass die modernen Wissenschaften Mathematik, Chemie, Physik, Medizin, die ab dem 12. Jh. in Europa entwickelt wurden, allesamt auf den Erkenntnissen arabischer Wissenschaftler basierten, deren Lehrbücher in lateinischer Übersetzung teilweise noch bis ins 17. und 18. Jahrhundert an europäischen Hochschulen benutzt wurden.6 Bei der Rede von der jüdisch-christlichen Leitkultur wird des Weiteren vergessen, dass Juden und Jüdinnen über Jahrhunderte weitgehend von der gesellschaftlichen und politischen Partizipation ausgeschlossen wurden,7 und dass sie erst im Rahmen der jüdischen Emanzipation Bürgerrechte bekamen, die 4 Vgl. Horst Seehofers 2010 vorgelegter Sieben-Punkte-Plan, nach dem Deutschland kein Zuwanderungsland sei und Muslime selbst bei Erhalten der Staatsangehörigkeit nur eingeschränkte Rechte hätten vgl. Focus Online, 16. 10. 2010 (URL: http://www.focus.de/politik/ deutschland/integration-seehofer-legt-sieben-punkte-plan-nach_aid_562723.html [02. 01. 2014]). Kritisch dazu Thomas Assheuer und Ulrich Preuß, die auf die große Gefahr aufmerksam machen, wenn Rechtsgleichheit von der kulturellen und religiösen Zugehörigkeit abhängig gemacht wird. Vgl. Assheuer 2010; Preuß 2010 sowie die kritische Analyse des Sozialwissenschaftlers Nowak 2006. 5 Vgl. den Artikel „Muslime werfen Gauck Geschichtsfälschung vor“ in der ZEIT vom 1. 6. 2012. 6 Vgl. Schipperges 1964; Watt 2001; Reiss 2010. 7 In Frankreich wurde die Gleichberechtigung der Juden kurz nach der Französischen Revolution von 1789 ausgerufen. Davon waren dann auch die unter französischem Einfluss stehenden Gebiete im „Königreich Westphalen“ betroffen, das Gebiete von sieben heutigen Bundesländern Deutschlands umfasste. Vgl. Berding 1973. Juden wurden in Preußen erst mit dem Judenedikt vom 11. 3. 1812 zu anerkannten Staatsbürgern, die nicht mehr als Fremde angesehen wurden. Erst mit diesem Erlass konnten sie sich im gesamten preußischen Gebiet frei bewegen, ein Gewerbe frei wählen und nach eigenem Gutdünken ohne weitere Kontrolle Grundbesitz erwerben. Zum Militärdienst wurden sie zugelassen und Sonderabgaben wurden nicht mehr erhoben. Vgl. Brammer 1987. Vgl. a. Meier 2013, 58: „Selbst bei einer oberflächlichen Betrachtung der Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland wird rasch deutlich, dass es nie eine christlich-jüdische Symbiose gab. Eine jahrhundertelange Tradition der Verfolgung, Diskriminierung und Pogrome in Deutschland und anderen europäischen Staaten gegen Juden bestimmt vielmehr das historische Bild des christlich-jüdischen Verhältnisses. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts stand rabbinisches Denken unter Verdacht, sich abzuschotten, grundsätzlich fremd zu sein und die christliche Kultur zu unterminieren. Es dominierte die Vorstellung vom ’Juden’ als verschlagenem Ausbeuter, der als Antipode zu ’den Deutschen’ stigmatisiert wurde. Bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich vor allem die Identitätsbestimmung der ’Deutschen’ als Gegenbild zu allem Jüdischen fest. Der deutschen Innerlichkeit und Kultur wurde das ’zersetzende und vagabundierende’ Jüdische gegenübergestellt, was dann im Nationalsozialismus zur alles bestimmenden Maxime erhoben wurde. Selbst im 19. Jahrhundert, als es zur jüdischen Emanzipation und formalen Gleichstellung kam, waren Juden Außenseiter und nie Teil der europäischen Mehrheitsgesellschaften.“

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jedoch schon bald wieder in Frage gestellt wurden. Dass man heute von einer jüdisch-christlichen Prägung spricht, die erhalten bleiben müsse, ist zwar insoweit erfreulich, dass man eine rein christliche Prägung nicht mehr postuliert; dass man dies jedoch erst sagt, nachdem man Juden und Jüdinnen sowie die jüdische Kultur in Deutschland und Europa in der Schoah fast vollständig vernichtete, auch ein wenig zynisch. Europa wurde selbstverständlich vom Christentum, Judentum und Islam geprägt. Aber selbst wenn dieses Faktum irgendwann allgemein gesellschaftlich und politisch anerkannt werden sollte, greift es doch viel zu kurz, denn Europa wurde noch durch weit mehr Religionen und Kulturen geprägt. Europa wurde historisch durch die germanische und keltische Religion und Kultur mindestens ebenso geprägt wie durch die römische und griechische. Migrations- und Transformationsprozesse der Gesellschaft sind kein Phänomen der Neuzeit, sondern haben schon immer in Europa stattgefunden und die religiösen und kulturellen Landschaften verändert.8 Sie fanden bei der Ausbreitung des Christentums in Europa statt, bei denen vieles an Traditionen bekämpft, zugleich aber vieles von den vorhandenen Religionen und Kulturen Europas auch adaptiert und ins Christentum integriert wurde. Die christliche Mission veränderte die Religionslandschaft Europas nachhaltig, allerdings veränderte sich dabei auch sehr stark das Christentum.9 Transformationsprozesse fanden auch bei der Ansiedlung von jüdischen Gemeinden in Nordeuropa statt, die durch Migrationsströme auf Grund von Verfolgungen in Süd- und Osteuropa bedingt waren. Sie ergaben sich durch die Begegnung mit der arabisch-islamischen Zivilisation in Spanien, Frankreich und Italien.10 Sie kamen durch die Migrationsbewegungen im Rahmen der Religionskriege ebenso zustande wie durch die preußische Politik der Toleranz, die zur Ansiedlung von Hugenotten und Juden in ehemals lutherischen Gebieten führte.11 Sie vollzogen sich durch die Begegnung von osmanisch-islamischer mit europäischer Kultur in Südosteuropa und auf dem Balkan, im Zeitalter der Industrialisierung, während des ersten Weltkriegs und in neuerer Zeit insbesondere durch die Flüchtlingsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg.12 Die Transformationen der Gesellschaft, die im Rahmen der Arbeitsmigration und der Flüchtlingsbewegungen ab Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgten und heute im Mittelpunkt der politischen Diskussion stehen, stellen insoweit nur einen jüngsten Punkt in der Entwicklung dar, die mit Sicherheit auch noch nicht abgeschlossen ist. Europa befindet sich im kultu8 9 10 11 12

Vgl. Cohen 1995; Gotzmann et al. 2001; Elsas 2002; Kippenberg / Rüpke / von Stuckrad 2009. Vgl. Stiegemann / Kroker / Walter 2013. Watt 2001. Miketta 2012. Eine Übersicht über die Einwanderungsbewegungen nach Deutschland von 1500 bis in die Gegenwart bietet DHM 2005.

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rellen und religiösen Wandel: nicht nur heute, sondern auch in der Vergangenheit und vermutlich auch in der Zukunft. Europa ist eine Migrations- bzw. Zuwanderungsgesellschaft.13 Dieses Faktum politisch und gesellschaftlich anzuerkennen und daraus die entsprechenden politischen Konsequenzen zu ziehen, ist eines der wichtigsten Desiderata der Gegenwart, denn im Unterschied zu Einwanderungsgesellschaften wie den USA und Kanada wird in vielen europäischen Gesellschaften noch immer die Illusion einer Mehrheitsgesellschaft mit einer dominierenden Kultur gepflegt, in die sich andere einzuordnen hätten.14 Nicht nur das katholische und evangelische Christentum, das Judentum und der Islam, sondern auch noch andere Konfessionen, Religionen und Kulturen gehören zu Deutschland. Orthodoxe ChristInnen zum Beispiel, die ebenfalls seit den 60er Jahren verstärkt aufgrund der Anwerbung nach Deutschland kamen, gehören zu Deutschland. Russische, serbische, griechische, rumänische ChristInnen haben in vielen westeuropäischen Staaten orthodoxe Gemeinden gegründet und Kirchen gebaut und mittlerweile auch eine Dachorganisation begründet. Sie machen einen nicht unerheblichen Teil der Gesellschaft aus. Auch aus den altorientalischen Kirchen kamen zahlreiche ChristInnen nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz. Unter ihnen finden sich starke armenische, syrisch-orthodoxe, eritreische Gemeinden, aber auch koptische, äthiopische und einige indische Gemeinden.15 Freikirchliche Gemeinden wie auch charismatisch-pfingstlerische Gemeinden europäischen und außereuropäischen Ursprungs sind fast in allen urbanen Zentren vertreten.16 Darüber hinaus gibt es Gruppen, die an christliche Traditionen anknüpfen, aber von den traditionellen Kirchen als „Sekten“ angesehen werden, wie z. B. die Zeugen Jehovas oder die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen) oder religiöse Gruppen indischer bzw. fernöstlicher Herkunft wie zum Beispiel verschiedene buddhistische und hinduistische Gemeinschaften17, Sikhs,18 Bahais19 u. a. Auch sie haben mittlerweile Gemeinden, Tempel, Gurudwaras und Klöster in Europa begründet und sind – was nur wenigen bekannt ist – zum Teil bereits wie die Traditionskirchen als Körperschaft des öffentlichen Ähnlich Tariq Modood in diesem Band. Vgl. Schultze 2009; SVR 2010. Vgl. oben FN 337. Vgl. Thöle 1997; Thon 2000; AOK-EKHN 2011; Reichelt 2011; Merten 1997; Hofmann 2005. Vgl. Scheerer 1997; Jung 2001; Sallmann / Gäbler 2000; Bauer 2012; Peter 2007; Eisenlöffel 2006. 17 Vgl. Baumann 2000. 18 Singh 2010; Stukenberg 1995. 19 NGR 2005; Käfer 2005. Die Bahais haben in Deutschland 2012 sogar den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erwerben können. Vgl. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts BVerwG 6 C 8.12 (URL: http://www.bverwg.de/entscheidungen/verwandte_dokumente.php?az=BVerwG+6+C+8.12 [02. 01. 2014]).

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Rechts anerkannt. Manche sind längst, durch offiziell-rechtliche Anerkennung, ein Teil Deutschlands, Österreichs oder anderer europäischer Staaten geworden. Darunter befindet sich in Deutschland seit kurzem auch zumindest eine islamische Gruppierung; in Österreich ist sowieso bereits seit langem der Islam anerkannt und in vielerlei Hinsicht den Kirchen gleichgestellt.20 Sie sind im interreligiösen Dialog in unterschiedlichem Maße aktiv und es gibt vielfältige Bezüge zu den etablierten Religionsgemeinschaften. Nicht wenige ihrer Mitglieder haben die Staatsbürgerschaft des Landes erworben, in das sie eingewandert sind. Alle diese Gemeinschaften gehören längst zu der religiösen Diversität, die die meisten europäischen Staaten prägen.21 Eine Erhebung in Berlin hat z. B. gezeigt, dass neben der traditionellen Römisch-Katholischen und der Evangelisch-Lutherischen Kirche diverse reformierte und historische Freikirchen, evangelikale Gemeinschaften, pfingstlerische Gemeinschaften, messianisch-jüdische Gruppen, orthodoxe, orientalische, transkonfessionelle christliche Gemeinden präsent sind, neben Gemeinschaften 20 Neben den evangelischen Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland und den Diözesen der Römisch-Katholischen Kirche, haben in Deutschland mittlerweile eine Vielzahl kleinerer religiöser Gemeinschaften den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erringen können, wie zum Beispiel die Israelitischen Kultusgemeinden, die Altkatholische Kirche, zahlreiche evangelische Freikirchen, die Christengemeinschaft, die Gemeinde Gottes (Urbach), die Neuapostolische Kirche, die Zeugen Jehovas, die Christian Science, die Baha’i. 2013 konnte erstmals auch eine muslimische Gemeinschaft die Anerkennung gewinnen, die Ahmadiyya Muslim Jamaat, die allerdings ihrerseits nicht von der sunnitischen Majorität als Muslime betrachtet werden. Vgl. Peters 2013. In Österreich sind gegenwärtig neben der Katholischen und Evangelischen Kirche (A.B. und H.B) zwölf Religionsgemeinschaften offiziell anerkannt, die das Recht auf Errichtung von Privatschulen und Religionsunterricht in öffentlichen Schulen und religiöse Betreuung in Anstalten (Krankenhaus, Justizanstalten etc.) haben: die Altkatholische Kirche, die orientalisch-orthodoxen Kirchen, mehrere (byzantinisch-)orthodoxe Kirchen, die Evang.-Methodistische Kirche, mehrere Freikirchen in Österreich, die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen), die Zeugen Jehovas, die Neuapostolische Kirche, die Israelitische Kultusgemeinde, die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich, die Islamische Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich, die Österreichische Buddhistische Religionsgemeinschaft. In der Schweiz ist es ein wenig komplizierter. Da die Kantone für die Anerkennung zuständig sind, gibt es regional unterschiedliche Regelungen. In den Westschweizer Kantonen Genf und Neuenburg gibt es keine Landeskirchen, weil dort Kirche und Staat völlig getrennt sind, allerdings werden evangelische und katholische Kirche als „Organisationen von öffentlichem Interesse“ eingestuft. In den meisten Kantonen sind die römisch-katholische und die evangelisch-reformierte Kirche anerkannt, in manchen daneben auch die jüdischen Gemeinden und die christkatholische Kirche. Vgl. Famos 1999; Nolte 2002. 21 Vgl. Henkel 2001; Hero / Krech 2010; vgl. a. den Beitrag von Modood in diesem Band. Zu verschiedenen Migrationsgruppen in Berlin vgl. die Veröffentlichungen der Beauftragten des Senats für Integration und Migration der Stadt Berlin (BSIM 2013). Die aufgezählten Gruppierungen sind beileibe nicht alle existierenden, sondern stellen auch nur eine Auswahl an religiösen Gruppierungen dar. Um eine Statistik der Religionen in Deutschland bemüht sich REMID 2013.

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in christlicher Tradition, Juden/Jüdinnen, MuslimInnen der verschiedensten Richtungen und Strömungen und kulturellen Herkunft, Aleviten, Sufis, Ahmadiyya, Hindus und BuddhistInnen verschiedener Richtungen und Schulen, Jainas, Sikhs, neue religiöse Gemeinschaften indischer Tradition, Parsen, Jeziden sowie neoreligiöse Gruppierungen der verschiedensten Art (von neugnostischen Gemeinschaften über Neuheidentum, Okkultismus, Rosenkreuzer, Spiritismus, Theosophie bis UFO-Bewegung).22 Die aktuellen Zahlen des deutschen Statistischen Bundesamtes unterscheiden zwischen der ausländischen Bevölkerung (mit ausländischem Pass) und Personen mit Migrationshintergrund. Ende 2010 lebten 81,75 Mio. Menschen in Deutschland, davon 6,75 Mio. AusländerInnen, doch insgesamt 15,74 Mio. Personen mit Migrationshintergrund.23 In Österreich haben nach dem Mikrozensus von 2012 insgesamt 18,9 % der Bevölkerung einen Migrationshintergrund; 18 % sind ausländischer Herkunft (AusländerInnen oder im Ausland Geborene).24 In der Schweiz hatten im Jahr 2012 34,7 % der Bevölkerung Migrationshintergrund. Davon haben 12,7 % die Staatsbürgerschaft, 11,4 sind eingebürgert und 22 % sind ausländische Staatsangehörige der 1. und 2. Generation.25 Die religiöse Landschaft in der Schweiz, die im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 58 erforscht wurde, ist in kaum einem anderen europäischen Land so gut dokumentiert.26 In der Schweiz gibt es insgesamt 5.734 religiöse Gemeinschaften, wovon nur etwa die Hälfte den etablierten öffentlich-rechtlich anerkannten Kirchen zugerechnet wird. Die andere Hälfte gehört zu den nicht anerkannten ChristInnen oder den nicht christlichen Gemeinschaften.27 Die Vielfalt der nicht-christlichen Gruppierungen, aber auch der innerchristlichen ist mit der in Deutschland oder Österreich vergleichbar.28 22 Vgl. Grübel / Rademacher 2003. Ein ähnliches Bild größter religiöser Pluralität ist das Ergebnis des Kartografieprojekts der Universität Wien, das 800 Orte der verschiedensten religiösen Gruppen in Wien dokumentierte. Vgl. URL: http://kartrel.univie.ac.at/ [02. 01. 2014]. 23 Vgl. die Angaben in: URL: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Be voelkerung/MigrationIntegration/AuslaendBevoelkerung2010200117004.pdf ?__blob=pu blicationFile [02. 01. 2014], S. 23; URL: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thema tisch/Bevoelkerung/MigrationIntegration/Migrationshintergrund2010220107004.pdf ?__ blob=publicationFile [02. 02. 2014], S. 108. 24 Statistik Austria 2013, 23. 25 Schweizer Bundesamt für Statistik (URL: http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/ themen/01/07/blank/key/04.html [02. 01. 2014]). 26 Vgl. www.nfp58.ch [02. 01. 2014]. 27 Stolz et al. 2011, 12. 28 Vgl. Baumann / Stolz 2007 sowie die Forschungsprojekte „Religionen der Schweiz“ und „Religionspluralismus im Kanton Luzern“ des Religionswissenschaftlichen Seminars der Universität Luzern (URL: http://www.religionenschweiz.ch/religionen.html und URL: http://www.religionenlu.ch/ [02. 02. 2014]).

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Diese Untersuchungen zeigen, dass nicht nur in Deutschland, sondern in vielen europäischen Ländern – in diesem Kontext wurde aus Raumgründen nur auf die Pluralität in den deutschsprachigen Ländern hingewiesen – eine weit stärkere religiöse und kulturelle Pluralität existiert, als von politischer Seite oftmals wahrgenommen wird. Diese Pluralität, die europäische Gesellschaften auf Dauer prägen wird, birgt Konfliktpotential, aber auch Chancen der Entwicklung. Allerdings müssen Konzepte entwickelt werden, wie Menschen, die durch verschiedene Religionen und Kulturen geprägt sind, in den europäischen Ländern, die schon immer einen Schmelztiegel von Religionen und Kulturen darstellten, so integriert werden können, dass sie an der Gesellschaft und Politik partizipieren können und dass die damit verbundene Pluralität als gesellschaftliche Bereicherung wahrgenommen und dargestellt wird. Zugleich ist segregierenden Tendenzen zu wehren, um den Zusammenhalt der Gesellschaft trotz Diversität zu gewährleisten.

2.

Religiöse Pluralität in staatlichen Institutionen

Die eingangs beschriebene religiöse und kulturelle Pluralität unserer Gesellschaften spiegelt sich längst auch in öffentlichen und staatlichen Institutionen wider. In Kindergärten, Tagesstätten, Schulen, Krankenhäusern, Pflege- und Altenheimen, in psychiatrischen Einrichtungen, in den Gefängnissen, in der Armee und vielen anderen staatlichen Institutionen sind zahlreiche Menschen mit jeweils verschiedenem kulturellen und religiösen Hintergrund anzutreffen. Menschen aller Berufsgruppen werden mittlerweile mit interkulturellen und interreligiösen Fragestellungen konfrontiert, weil europäische Gesellschaften nun einmal pluralistische Gesellschaften geworden sind. In staatlichen Kindergärten und Tagesstätten tritt z. B. die Frage auf, inwieweit jahreszeitliche Feste, die christlich geprägt sind (Advent, St. Martin, Nikolaus, Weihnachten, Fastnacht, Ostern), weiterhin beachtet und im Jahresrhythmus berücksichtigt werden können – angesichts dessen, dass viele Kinder einer nicht-christlichen Religion angehören. Schulen sind vor die Frage gestellt, wie sie religiöse Feiern zum Schuljahresanfang und -ende, die an vielen Schulen bisher ausschließlich von katholischen Priestern und evangelischen PfarrerInnen gestaltet wurden, nun gestalten sollen, wenn eine große Schülerzahl muslimisch ist. In staatlichen Institutionen, in die Menschen mehr oder weniger zwangsweise untergebracht werden bzw. wo sich Menschen verschiedener Kulturen und Religionen aufhalten müssen (Krankenhaus, Pflege- und Altenheime, psychiatrische Anstalten, Justizvollzugsanstalten, Armee) stellt sich insbesondere die Frage nach der Einhaltung der Speisegebote, der Ermöglichung der Einhaltung von Gebets-und Reinigungsvorschriften, des Umgangs

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mit Fastenzeiten und der religiösen Betreuung neu. Leiter und Leiterinnen von Einrichtungen, AbteilungsleiterInnen, das Pflegepersonal, die verschiedenen Bediensteten, ÄrztInnen, PsychologInnen, SozialarbeiterInnen und ErzieherInnen, Verwaltungsbeamte und das Küchenpersonal sind gleichermaßen gefordert, neue praktische Lösungen zu finden, um die religiösen und kulturellen Prägungen zu berücksichtigen, denn die Religionsfreiheit endet nicht mit dem Aufenthalt in einer staatlichen Institution.29 Der Staat ist auch aufgrund seiner religiösen Neutralität dazu verpflichtet, VertreterInnen von Religionsgemeinschaften Zugang zu staatlichen Organisationen zu verschaffen und darüber zu entscheiden, inwieweit er die Tätigkeit von religiösen BetreuerInnen finanziell und materiell unterstützt. Gegenwärtig werden diese Fragen vornehmlich durch die Diskussion um den Islam ausgelöst. Es wird vordringlich nach Lösungen gesucht, um den religiösen Bedürfnissen von MuslimInnen entgegenzukommen. Dies ist auch verständlich, angesichts der relativ großen Zahl der AnhängerInnen dieser Religion in den Institutionen, allerdings kann dies nicht darauf beschränkt werden, denn ein orthodoxer Christ aus Serbien, eine Gläubige der Rumänisch- oder RussischOrthodoxen Kirche, ein charismatisch-pfingstlerischer Christ aus Afrika, ein Mitglied der Zeugen Jehovas oder der Mormonen, eine Buddhistin oder ein Hindu haben nicht weniger Anrecht darauf, dass ihre religiösen und kulturellen Bedürfnisse berücksichtigt werden.30 Ohne Zweifel gibt es auch in den verschiedenen Institutionen durchaus Bemühungen, diesen vielfältigen Bedürfnisse gerecht zu werden. Allerdings sind die daraus entstandenen Regelungen oft begrenzter Art; es handelt sich oft nur um innerbetriebliche Regelungen. Diese werden meist nicht als Gesamtkonzept in den Institutionen diskutiert und schon gar nicht bestehen Kontakte zwischen den verschiedenen staatlichen Institutionen, obwohl das oft nahe liegen würde, weil die praktischen Probleme oftmals sehr ähnlich sind.31

29 Vgl. Unterberger 2013. 30 Ein besonderer Bedarf besteht m. E. hinsichtlich der Berücksichtigung der religiösen und kulturellen Bedürfnisse der Angehörigen orthodoxer Kirchen aus verschiedenen Ethnien sowie der katholischen MigrantInnen aus verschiedenen Ländern, die insgesamt eine kaum kleinere Anzahl als Muslime ausmachen, ebenso schon in der zweiten und dritten Generation in Deutschland oder Österreich beheimatet sind, aber ganz ähnliche Probleme haben wie Muslime. Ihre religiösen und kulturellen Bedürfnisse werden seit Jahrzehnten in der Öffentlichkeit und in den Institutionen nur wenig berücksichtigt. Zu christlichen MigrantInnen vgl. die Beiträge von Michael und Arndt Bünker, Regina Polak, Bischof Agostino Marchetto sowie Okasana Ivankova- Stetsiuk / Hryhoriy Seleshchuk in diesem Band. 31 Würden sich sämtliche staatliche Einrichtungen z. B. zusammensetzen, um einmal über die Frage der Verpflegung von Muslimen und Juden zu sprechen, die in allen staatlichen Institutionen ein Problem darstellt, so könnten möglicherweise gemeinsame Lösungen gefunden werden, die auch finanziell und organisatorisch besser zu bewerkstelligen sind.

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Im Folgenden werden die Veränderungsprozesse in zwei öffentlichen bzw. staatlichen Institutionen kurz skizziert. Konkret soll hier die Problemlage im Krankenhaus, Altenheimen bzw. Pflegeeinrichtungen und im Gefängnis beispielhaft geschildert werden, wobei jedoch darauf hinzuweisen ist, dass auch andere Institutionen (z. B. Schule, Notfallseelsorge, Sozialarbeit, Jugendarbeit, Bestattungswesen, Psychiatrie u. a.) ausgewählt hätten werden können.32 Die Beschränkung erfolgte nicht aus inhaltlichen, sondern aus räumlichen Gründen. Die demographischen Veränderungen betreffen die etablierten christlichen SeelsorgerInnen in den Institutionen ebenso wie die LeiterInnen und MitarbeiterInnen in den Anstalten; sie betreffen die Religionsgemeinschaften, die sich oft erstmals diesen Aufgaben stellen und Konzepte entwerfen müssen, die an ihre spezifischen religiösen Traditionen anknüpfen, wie auch die jeweils betroffenen Gläubigen bzw. KlientInnen und InsassInnen.

2.1

Krankenhaus, Altenheim und Pflegeeinrichtungen

In Krankenhäusern, Altenheimen und Pflegeeinrichtungen wächst die Zahl der PatientInnen und BewohnerInnen kontinuierlich, die aus anderen Kulturkreisen kommen und einer anderen Religion als den „etablierten“ evangelischen und katholischen Traditionskirchen angehören, und es ist damit zu rechnen, dass sich die Zahl gerade in den nächsten Jahren auch noch erheblich vergrößern wird.33 Dies liegt daran, dass viele Migranten, die im Zug der Anwerbung als „Gastarbeiter“ in den 60er und 70er Jahren nach Deutschland, nach Österreich oder andere europäische Industrieländer geholt wurden, nunmehr in ein Alter kommen, in dem vermehrt Krankheiten auftreten und in dem sie und ihre Angehörigen – Frauen und Kinder wurden oftmals erst ab den 90er Jahren nachgeholt – vermehrt der Pflege bedürfen. Die Pflege von Kranken und Älteren innerhalb der Großfamilie, die in vielen Migrantenfamilien traditionell üblich war, ist im Kontext von Europa kaum durchzuführen, weil die Familien oftmals räumlich zerrissen sind, und weil es teilweise auch zu einer Individualisierung der Migrantenfamilien gekommen ist, in der der Zusammenhalt in der Großfamilie aufgebrochen ist. Die Pflege dieser Menschen stellt das Pflegepersonal und die Institutionen wie auch die christliche Seelsorge vor große Herausforderungen. Es gibt sprachliche Probleme zwischen PatientInnen und ÄrztInnen; es gibt soziale Probleme zwischen Pflegenden, PatientInnen und BesucherInnen, die mit den unter32 Vgl. Weiß / Federschmidt / Themme 2010, 229 – 315; zur Armee: Krainz 2012; Menke / Langer 2011. 33 Vgl. Vock 2009, 29.

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schiedlichen kulturellen Gewohnheiten zusammenhängen; es gibt Probleme mit den Essgewohnheiten und mit den religiös begründeten Speiseverboten; es gibt religiös begründete Verweigerungshaltungen gegenüber Behandlungen, die für ÄrztInnen und Pflegepersonal oftmals unverständlich sind; es gibt religiösspirituelle Wünsche und Bedürfnisse, auf die weder die Institutionen und christlichen SeelsorgerInnen noch die VertreterInnen der Religionsgemeinschaften ausreichend vorbereitet sind. Erst zaghaft bilden sich erste Ansätze einer transkulturellen bzw. kultursensiblen Pflege heraus34, die insbesondere Anleihen macht bei amerikanischen Konzepten des Transcultural Nursing.35 Auch die religiöse Dimension kommt mit der wissenschaftlichen Disziplin des Spiritual Care erst in jüngster Zeit stärker in den Blick, wobei man versucht auch der Spiritualität und Religiosität kirchenferner bzw. nichtchristlicher Religionen gerecht zu werden.36 Aber auch bei den Pflegekräften ist seit einigen Jahrzehnten eine Internationalisierung zu beobachten. Bereits 1996 stellte die Weltgesundheitsorganisation fest, dass Pflegende eine der Berufsgruppen mit der größten Mobilität weltweit sind.37 So wurden auf Grund des Pflegekräftemangels in Deutschland und Österreich immer wieder Pflegekräfte aus dem Ausland, z. B. aus Asien in den 70er Jahren oder aus dem ehemaligen Jugoslawien und Ungarn Anfang der 90er Jahre, angeworben.38 Rumäninnen und Polinnen tragen gegenwärtig einen Großteil der privat organisierten Pflege. Dadurch begegnen nicht nur MigrantInnen als PatientInnen im Krankenhaus „einheimischen“ PflegerInnen und ÄrztInnen. Auch „Einheimische“ werden mit Pflegepersonen konfrontiert, die eine andere religiöse und kulturelle Sozialisation mitbringen. Ebenso bringt der multinationale, multikulturelle und multireligiöse Mitarbeiterstab in Krankenhäusern es mit sich, dass interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen notwendig sind, um den internen Ablauf und die Kommunikation in den Institutionen zu gewährleisten.39 Diese komplexen interkulturellen Pflegewirklichkeiten wurden bisher jedoch ungenügend in ihrer Bedeutung für das Alltagshandeln wahrgenommen, und es wurden kaum umfassende Handlungsperspektiven entworfen.40 Die Veränderungen werden in der Pflege – wie auch in anderen Bereichen der Gesellschaft – nur zögernd zur Kenntnis genommen. Ein Grund 34 35 36 37 38 39 40

Vgl. Domenig 2007; Domenig 2001; Habermann 2002; Alban / Leininger / Reynolds 2000. Vgl. Leininger 1991; Ray 2010; Jeffreys 2010; Sagar 2011; Purnell 2013. Roser 2007; Körtner 2009; Heller 2012. WHO 1996. Beneker / Wichtmann 1994. Vgl. Körtner 2012, 93; 144. Ein wenig besser sieht es im Bereich des Palliative Care aus. Hier wurden schon seit geraumer Zeit organisationsethische Konzepte entwickelt, die die religiöse und kulturelle Prägung von Menschen berücksichtigen. Vgl. die Publikationsliste des Instituts für Palliative Care und OrganisationsEthik (URL: www.uni-klu.ac.at [02. 01. 2014]).

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dafür liegt vermutlich in der lange fehlenden politischen und gesellschaftlichen Anerkennung der Migration und ihrer Bedeutung für alle gesellschaftlichen Bereiche. Gegenwärtig beginnt man aber zunehmend zu erkennen, dass Religion und Spiritualität, religiöse Betreuung und religiöse Sprachfähigkeit wichtige Ressourcen für kranke und ältere Menschen, für Pflegebedürftige und Menschen, die dem Tod entgegensehen, sein können. Es besteht in Krisensituationen ein elementares Bedürfnis danach, über existentielle Fragen, den Lebenssinn und religiöse Inhalte zu sprechen. Dies kann wesentlich zur Genesung und Gesundheit bzw. zum Wohlbefinden selbst im Angesicht des Todes beitragen. Das Personal muss deshalb sprachfähig sein und zumindest Grundkenntnisse über verschiedene religiöse Grundkonzepte haben. Es wird auch immer mehr bei der Konzeption von Krankenhäusern, Altenheimen und Pflegeeinrichtungen darauf geachtet, dass Örtlichkeiten vorhanden sind, die zu Andacht, Gebet und einem religiösen Gemeinschaftsleben einladen.41 Dies wird zwar teilweise beim Bau von neuen Institutionen berücksichtigt, aber meist handelt es sich nur um Kapellen für katholische und evangelische Christen. Das Allgemeine Krankenhaus der Stadt Wien (AKH) ist insoweit in Österreich einen neuen Weg gegangen, als es erstmals vier Räume für die abrahamitischen Religionen nebeneinander an zentraler Stelle konzipierte (katholische und evangelische Kapelle, Synagoge und Moschee). Dies ist zweifellos ein Fortschritt, der auch eine beispielhafte intensive interreligiöse Zusammenarbeit bei der Seelsorge zur Folge hatte. Allerdings stellt sich die Frage, warum hier die beiden westlichen christlichen Konfessionen getrennt wurden, für die orthodoxen ChristInnen aber nur „in der katholischen Kapelle (einige) Ikonen angebracht“ wurden.42 Die Kriterien für die Aufteilung sind bei aller Anerkennung des Neuansatzes und der konkreten guten Zusammenarbeit m. E. fragwürdig. Würde man sich an den reinen Zahlen der religiösen Hintergründe von Patienten orientieren, so wäre wohl die Errichtung einer eigenen orthodoxen Kapelle vordringlich gewesen. Wenn man schon erfreulicherweise an eine jüdische Synagoge gedacht hat bei der Planung, obwohl diese nur selten genutzt wird43, so hätte jedenfalls erst recht eine orthodoxe Kapelle geplant werden sollen angesichts vieler PatientInnen mit serbisch-, rumänisch-, griechisch- oder russisch41 So die Empfehlungen des Schweizer Forschungsprojektes über Religion und Gesundheitsverhalten im Alter. Martin 2011. 42 Vock 2009, 20. 43 Vgl. Willy Weisz zur Nutzung der Synagoge im AKH: „Da es kaum möglich ist, das für das Gemeinschaftsgebet notwendige Quorum von zehn jüdischen Männern zusammenzubringen, findet fast nie ein G’ttesdienst statt. Die Aktivitäten beschränken sich daher auf die Aktualisierung der Schaukästen mit Informationen zu den Feiertagen im Jahreslauf.“ In: Körtner 2009, 36.

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orthodoxem Migrationshintergrund. Auch Armenier, Syrer, Kopten, Eritreer und Äthiopier, d. h. Gläubige der Orientalisch-Orthodoxen Kirchen waren nicht im Blick. Zudem ist zu fragen, warum nicht evangelische und katholische Christen eine gemeinsame Kapelle benutzen können und wo Angehörige anderer nicht-abrahamitischer Religionen einen Versammlungs- bzw. Anbetungsund Meditationsort finden. Hat eine Buddhistin, ein Sikh, eine Mormonin, ein Bahai, ein Mitglied der Zeugen Jehovas etc. kein Anrecht auf einen solchen Ort im Krankenhaus? Es sind wohl eher historische Gründe, dass man eigene Kapellen für die evangelische und katholische ChristInnen errichtet, orthodoxe aber in den katholischen Gebetsraum inkludiert hat, Juden und Jüdinnen einen eigenen Raum trotz geringer Patientenzahlen zugestanden hat, während man andere kleine Gruppierungen einfach übergangen hat. Natürlich kann ein Spital nicht für jede kleinste religiöse Gruppierung einen eigenständigen Raum einrichten. Daher wird es wohl in der Zukunft notwendig werden, für mindestens einen, wenn nicht mehrere, multifunktionale Räume in Spitälern, Altenheimen und Pflegeeinrichtungen zu sorgen, die jedoch nicht eindeutig einer Religionsgemeinschaft zugewiesen werden. Es könnten Räume der Institution sein, die nach dem Kriterium der Anzahl der PatientInnen sowie nach praktischen Gesichtspunkten (inwieweit sind Umbauten bzw. Herrichtungen des Raumes stärker erforderlich und welche Religionsgemeinschaften passen von der Gestaltung des Raumes und der Zusammenarbeit am besten zusammen) flexibel zur Verfügung gestellt werden könnten. Die Einbeziehung von religionswissenschaftlichen Kenntnissen in die Ausbildung von ÄrztInnen und PflegerInnen, die Konzeption von Räumen und Büros für verschiedene Religionsgemeinschaften zeigt, dass die Ausübung von Religiosität nicht nur eine Angelegenheit zwischen PatientInnen und der Religionsgemeinschaft ist, der sie angehören, sondern auch ein wichtiges Thema für die säkulare Institution und den Staat. Es müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit PatientInnen ihren religiösen Bedürfnissen nachkommen können.44 Zudem muss VertreterInnen verschiedener Religionen Zugang gegeben werden, bei der die staatliche Neutralität gewahrt bleibt und keine Privilegierung noch Diskriminierung von bestimmten Religionsgemeinschaften erfolgen darf.45 Dies gilt nicht nur für die gesetzlich anerkannten Religionsge44 Die Träger von Krankenanstalten sind in Österreich gemäß dem Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetz des Bundes von 1993 (KAG) dazu verpflichtet, „dass ,auf Wunsch des Pfleglings eine seelsorgliche Betreuung möglich ist’ (§ 5a Pkt. 5 KAG). In diesem Sinne enthalten die Landeskrankenanstaltengesetze eine entsprechende Regelung, z. B. § 17a Abs. 2 lit 1 Wr KAG ,das Recht auf religiöse Betreuung und psychische Unterstützung.’ Auch die Patientencharta sieht vor, dass ,die religiöse Betreuung stationär aufgenommener Patienten und Patientinnen […] auf deren Wunsch zu ermöglichen’ ist.“ Potz 2009, 113. 45 Vgl. Potz 2009, 109.

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meinschaften (und eingetragenen Bekenntnisgemeinschaften in Österreich), sondern z. B. auch für Hindus, Sikhs, Bahai, Aleviten oder neoreligiöse Religionsgemeinschaften, die von den etablierten Religionsgemeinschaften vielleicht als „Sekten“ oder „Häretiker“ abgetan werden.46 Insbesondere im Fall einer nachhaltigen Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist die Anstalt gemäß Art. 14 der Patientencharta nämlich explizit bereits jetzt dazu verpflichtet, Patientinnen und Patienten den Kontakt zu SeelsorgerInnen ihres Wunsches zu ermöglichen, sofern dies ihr Wille ist.47 Allerdings gibt es explizite gesetzliche Regelungen für die seelsorgerlichen Besuche in österreichischen Krankenhausanstalten bisher nur mit der katholischen, evangelischen und orthodoxen Kirche.48 Die in vielen Anstalten gängige Praxis, dass die hauptamtlichen evangelischen und katholischen SeelsorgerInnen die Kontakte im Bedarfsfall zu kleineren Religionsgruppen herstellen, ist rechtlich fragwürdig, denn nicht jeder Pfarrer bringt die Offenheit und Neutralität mit, zum Beispiel auch Kontakte zu Betreuern von den Zeugen Jehovas, Mormonen oder anderer religiöser Gruppen herzustellen und Betreuer einzuladen, deren religiöse Lehren und Praxis man aus einer konfessionellen Perspektive eventuell ablehnt.49 Es bedarf insoweit entweder einer eigenständigen religionswissenschaftlichen Expertise in Krankenhäusern, Altenheimen und Pflegeeinrichtungen, die die Kontaktaufnahme zu kleineren Gruppen herstellt, oder es sollten nationale und regionale religionswissenschaftliche Kompetenzzentren geschaffen werden, die sich zur Äquidistanz und Neutralität gegenüber religiösen Gemeinschaften verpflichten und ggf. den Anstalten Adressen und Ansprechpartner nennen bzw. beratend tätig werden können. Auf solche Stellen könnten im Bedarfsfall auch die etablierten Seelsorger zurückgreifen, denn die religiöse Vielfalt ist mittlerweile einfach zu groß, als dass man nicht Spezialisten bräuchte, die beratend tätig werden und ggf. Kontakte zu religiösen Betreuern herstellen können. Allerdings können Religionswissenschaftler nicht selbst religiöse Betreuung bzw. Seelsorge übernehmen, denn gerade ihre Zurückhaltung im Blick auf eine persönliche Stellungnahme in religiösen Dingen macht sie als Gesprächspartner über einen 46 Vgl. Potz 2009, 111. 47 Es gibt natürlich aber auch das Recht des Patienten, Seelsorgebesuche von bestimmten Seelsorgern oder generell zu verweigern. 48 Vgl. Konkordat mit der Katholischen Kirche in: Gampl / Potz / Schinkele 1990, 160ff; Protestantengesetz von 1961 in: a. a. O., 331 ff.; Orthodoxengesetz von 1967 in: a. a. O., 292 ff. 49 Ein ähnliches Problem ergibt sich auch bei anderen Religionen. Falls eine orthodoxe jüdische oder muslimisch-sunnitische Seelsorge etabliert ist, kann die Entscheidung über die Kontaktherstellung bei Nachfrage nach einem alevitischen, schiitischen oder Bahai-Seelsorger nicht den sunnitischen Seelsorgern überlassen werden, genauso wie dem orthodoxen jüdischen Seelsorger nicht das Recht zusteht, evtl. die Kontaktaufnahme zu einem liberalen jüdischen Seelsorger zu verhindern.

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letzten Sinn des Lebens, Deutung von Krise und Krankheit, Tod, Gott etc. ungeeignet. Sehr wohl können sie aber z. B. als BeraterInnen bei Teams von Seelsorgerinnen oder Plegekräften hinzugezogen werden, um bestimmtes Verhalten von PatientInnen mit einem bestimmten kulturellen und religiösen Hintergrund besser verständlich zu machen. Tendenziell lässt sich beobachten, dass Seelsorge in Anstalten immer weniger nur als ein individuelles Recht des Patienten auf Betreuung oder als ein Recht der Religionsgemeinschaften auf Zugang zu Spitälern verstanden wird,50 sondern dass zunehmend auch die Verpflichtung der Institution zur konkreten Ermöglichung der Religionsfreiheit nach den Kriterien des Qualitätsmanagements und der Äquidistanz der Institution zu Religionsgemeinschaften berücksichtigt wird, um die subjektive Zufriedenheit und Lebensqualität von PatientInnen von Krankenhäusern und BewohnerInnen von Altenheimen und Pflegeinrichtungen zu gewährleisten.51 Auch die christlichen SeelsorgerInnen in den Anstalten, die ihre Arbeit in der Regel nicht streng konfessionell aufteilen, sondern prinzipiell für alle Kranken und Pflegebedürftigen ansprechbar sind, brauchen aufgrund der vielfältigen religiösen und kulturellen Hintergründe der PatientInnen und Pflegekräfte vermehrt interkulturelle und interreligiöse Kenntnisse. Es kommt zu Begegnungen, die Unsicherheiten auslösen, die eigene Identität in Frage stellen, religionshistorische und kultursensible Fragen aufwerfen.52 Sicherlich muss nicht jede Seelsorgerin und jeder Seelsorger, wie Ulrike Mummenhoff zurecht resümiert, „in Gesprächen mit Menschen anderer Religionen […] die umfassenden Kenntnisse eines Religionswissenschaftlers haben“53 ; allerdings zeigen gerade ihre eigenen Überlegungen zur Frage nach der Identität des christlichen Gottes mit dem muslimischen Gott Allah54 oder Mummenhoffs Erstaunen über die Ablehnung eines arabischen Muslims gegenüber dem „türkischen“ Gebetsraum im Krankenhaus55, dass solche grundsätzlichen Fragen zu theologischen Grundkonzeptionen und zu Diversität und kultureller Ausprägung von Religionsgemeinschaften wie auch einführende Veranstaltungen zur allgemeinen Religionsgeschichte, unbedingt Bestandteil des Theologiestudiums, der Seelsorgeausbildung bzw. der Fortbildungen werden sollten. Zudem wäre es sicherlich auch für die SeelsorgerInnen eine große Hilfe, wenn sie religionswissenschaftliche Kompetenzzentren bei konkreten Anlässen nach Informationen 50 Vgl Potz 2009, 108. 51 Vgl. Roser 2007, 264. 52 Einen kleinen Einblick in die Praxis bietet Ulrike Mummenhoff mit Fallbeispielen zu Gesprächen mit MuslimInnen und Bahai in: Weiß / Federschmidt / Themme 2010, 245 – 254. 53 Mummenhoff 2010, 249. Auslassung WR. 54 Mummenhoff 2010, 247; 249. 55 Mummenhoff 2010, 248.

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fragen könnten. Auch die Religionswissenschaft beginnt sich auf solche anwendungsorientierten Fragestellungen einzustellen und ihre religionshistorische und systematisch-vergleichende Betrachtungsweise von Religionen durch Forschung und Lehre zu praktischen Fragestellungen zu erweitern, wie sie in Institutionen auftreten.56 Es geht jedoch nicht nur um Erweiterung von religionswissenschaftlichem Wissen in der Ausbildung der MitarbeiterInnen der Krankenhäuser oder der Seelsorgeausbildung. Die Zusammenarbeit verschiedener religiöser Betreuer kann möglicherweise auch zu ganz neuen Formen der Seelsorge führen, die aus der Enge individueller Betreuung durch einzelne konfessionell geprägte SeelsorgerInnen herausführt zu einem multireligiösen Seelsorgeteam, das religiöse Betreuung in einer Anstalt als gemeinsame Aufgabe ansieht und gemeinsam gestaltet. Ansätze sind dazu im AKH in Wien deutlich zu erkennen: Die Nähe und ungefähr gleiche Ressourcenverteilung (zumindest Raum und Büro an zentralem Ort) zwischen evangelischen und katholischen, jüdischen und muslimischen Betreuern hat dazu geführt, dass es zu regelmäßigen interreligiösen Treffen kommt; dass eine gemeinsame Webseite erstellt wurde, die über das Seelsorgeangebot insgesamt informiert; dass Fort- und Weiterbildungen sowie Veranstaltungen für Patienten wie Personal gemeinsam geplant und durchgeführt werden; dass gemeinsame Statements und Veröffentlichungen die Anstaltsseelsorge als nicht konfessionelles, sondern als gemeinsames Anliegen eines interreligiösen Betreuerteams in einer Einrichtung präsentieren.57 Diese konkrete Zusammenarbeit in einem speziellen Bereich der Gesellschaft kann wiederum ein deutliches „sichtbares Zeichen [für die Gesellschaft und die Religionsgemeinschaften sein,] dass Juden, Christen und Muslime miteinander leben und arbeiten können.“58 Ob solche Zusammenarbeit zustande kommt und gelingen kann, hängt sicherlich auch an den Einzelpersonen, die mit der Seelsorge jeweils betraut sind. Strukturelle Maßnahmen wie die gleichberechtigte Schaffung von Andachts- und Versammlungsräumen, von nahe beieinander liegenden Büros, die Verteilung von Ressourcen nach dem Anteil von Patienten sowie die Vorgabe, ein multireligiöses Team zu bilden, können jedoch die Zusammenarbeit wesentlich stärken und fördern, wie das Beispiel des AKH deutlich zeigt.59

56 Der Verf. ist Vertreter einer „Anwendungsorientierten Religionswissenschaft“ und Herausgeber einer gleichnamigen Buchreihe, in der genau solche Fragestellungen erforscht und Lösungsansätze vorgestellt und diskutiert werden sollen. Reiss 2007; Reiss 2012. 57 Vgl. Vock 2009, 22 – 26; Willy Weisz bestätigt dies für die jüdische Seelsorge im AKH. Vgl. Körtner 2009, 37. 58 Vock 2009, 25. Erg. WR. 59 Vgl. Vock 2009, 20.

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Ein sehr viel weitergehendes Modell, das möglicherweise zukunftsweisend für die religiöse Betreuung in vielen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen in europäischen Staaten werden könnte, ist das holländische Modell der „Spirituellen Begleitung“ (Geestelijke Verzorging), das seit 1996 im niederländischen Gesundheitswesen verankert ist. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass die Krankenhausseelsorge in den Niederlanden keine Angelegenheit bestimmter Kirchen und Religionsgemeinschaften (mehr) ist, sondern dass sie in der Verantwortung der Institutionen selbst liegt, die im Zuge des Gesetzes zur Qualitätssicherung im Gesundheitswesen (Kwaliteitswet Zorginstellingen) auch für die religiös-spirituelle Betreuung bei einem Krankenhausaufenthalt garantieren.60 Zum anderen besteht der Unterschied darin, dass die konfessionelle bzw. durch eine bestimmte Religion geprägte Seelsorge aufgelöst wurde zugunsten einer multireligiösen und multikulturellen Seelsorge, in der die jeweilige Repräsentantin/der jeweilige Repräsentant einer Religion nicht mehr hauptsächlich Angehörige seiner eigenen Konfession/Religion betreut, sondern Stationen oder Abteilungen mit Angehörigen verschiedenster Religionszugehörigkeit. So kommt es zum organisatorisch notwendigen, kontinuierlichen kollegialen Austausch, zu Kooperation und gegenseitiger Supervision zwischen den verschiedenen SeelsorgerInnen.61 Diese Konzeption trägt der Entwicklung Rechnung, dass auch heute schon christliche SeelsorgerInnen Angehörige anderer Religionsgemeinschaften und Konfessionen betreuen und in der Zukunft mit Sicherheit noch SeelsorgerInnen anderer religiöser Gruppierungen angestellt werden müssen, für die wahrscheinlich ähnliches gelten wird. Alle SeelsorgerInnen arbeiten nach diesem Modell also organisatorisch integriert sowohl mit ihren KollegInnen als auch mit den medizinischen und sozialen Disziplinen zusammen.62 Dies hat aber keineswegs zur Folge, dass die religiöse Identität des Seelsorgers/der Seelsorgerin in einem multireligiösen Team keine Rolle mehr spielen dürfte. Vielmehr ist es sogar von zentraler Bedeutung, diese Identität bei jedem Gespräch deutlich zu machen. Darauf weist die liberale Rabbinerin Melinda Michaelson-Carr hin, die in einem multireligiösen Team in Großbritannien Krankenhausseelsorge betreibt.63 Auch wenn sie ihre Hilfe Menschen anbietet, die einer anderen Religionsgemeinschaft oder einer anderen Glaubensrichtung

60 Vgl. URL: http://www.st-ab.nl/wetten/0174_Kwaliteitswet_zorginstellingen.htm [02. 01. 2014]. 61 Vgl. Doolard 2009. 62 Vgl. Buuren 2010, 391. 63 In Großbritannien ist die Diversität der Seelsorgeteams noch größer als in Holland. Neben Christen, Juden und Muslimen gibt es bereits Seelsorger der Hindus, Buddhisten, Jains, Sikhs, Bahai, Zoroastrier. Vgl. URL: www.mfghc.com [02. 01. 2014].

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als ihrer eigenen angehören oder auch gar nicht glauben, so heißt das noch lange nicht, dass sie ihre Identität als liberale Rabbinerin und Jüdin verstecken sollte. „Auch wenn ich für andere offen bin, bin ich nicht für alle alles. Kann Pater Mulcahy aufgeben, wer er ist, nur weil er jemandem hilft, der nicht Katholik ist? Kann er heute ein Rabbi Mulcahy werden, ein Imam Mulcahy am nächsten Tag, und schließlich ein Pandit Mulcahy am Wochenende? Bestimmt nicht, denn sonst wäre der gute Pater ein Kandidat für eine ernste Identitätsverwirrung. Wenn ich eine christliche Person besuche, gehe ich nicht als Pfarrerin, Priesterin oder Vikarin dorthin, denn das bin ich nicht. Ich bin eine Seelsorgerin, eine Jüdin und eine Rabbinerin. Wenn ich für Menschen mit anderem Glauben oder ohne Glauben da bin, dann nehme ich alle meine Fähigkeiten, meine Identitäten und meine Authentizität mit. Ich stelle mich vor als ,Mitglied des Teams der Seelsorge – und ich bin auch eine Rabbinerin. Das gibt einen Rahmen vor und zeigt, dass ich nicht allen alles sein kann. Es macht meine Authentizität deutlich und verhindert, dass andere in mich falsche Erwartungen setzen oder irgendwelche Fantasien anstellen darüber, wer ich sein könnte. Ich will nicht die Seelsorger und Seelsorgerinnen aus den eigenen Konfessionen ersetzen oder einen anderen Glauben annehmen.“64

Die Annahme, dass Angehörige der eigenen Religionsgemeinschaft immer am besten als Gesprächspartner dienen können, widerspricht der Erfahrung. ChristInnen können durchaus auch seelsorgerlichen Beistand z. B. für MuslimInnen leisten, wie dies ja auch vielfach geschieht, und eine evangelische Patientin kann vielleicht mit einem katholischen Priester oder einer buddhistischen Betreuerin intensivere Gespräche führen als mit dem offiziellen Vertreter ihrer eigenen Religionsgemeinschaft – vielleicht, weil es eine persönliche Sympathie gibt, vielleicht weil die Patientin einmal eine existentielle Erfahrung in einer katholischen Gemeinde gemacht hat oder bei einem längeren Auslandsaufenthalt sich intensiver mit dem Buddhismus auseinandergesetzt hat. Viele Menschen unserer Zeit leben nicht mehr in konfessioneller und religiöser Isolation, sondern bringen durch Ausbildung und Beruf, Urlaub, Dienstreisen und Auslandsaufenthalte religiös-kulturelle Erfahrungen mit, an die auch in Krisenzeiten angeknüpft werden kann. Falsch und kurios wird es nur dann, wenn religiöse BetreuerInnen sich anmaßen würden, die Rolle eines anderen Glaubensvertreters zu übernehmen, oder gar versuchen, die religiösen Rituale einer fremden Religionsgemeinschaft zu übernehmen. Multireligiöse Seelsorge kann nicht heißen, dass der Seelsorger vorspiegelt, was er nicht ist, oder tut, was er nicht kann. Deshalb ist die enge Zusammenarbeit zwischen den SeelsorgerInnen mit verschiedener Prägung unabdingbar. Selbstverständlich ist auf Wunsch der Seelsorger/die Seelsorgerin der gewünschten Konfession zu rufen, wenn dies der Wille des Patienten ist. 64 Michelson-Carr 2010.

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Aber die automatische Zuordnung von Gläubigen zu den Vertretern bestimmter Konfessionen und Religionen wird bei dieser Konzeption unterlassen. Um eine solche Konzeption durchzuführen, bedarf es jedoch auch einer intensiven Vorbereitung und Ausbildung. Nicht nur für die christlichen SeelsorgerInnen, sondern auch für die RepräsentantInnen anderer Religionen sollte gelten, dass sie ihre persönliche Identität intensiv reflektiert haben und dass sie Kernkompetenzen entwickeln, die sie zu Gesprächen in Krisensituationen befähigen. Dazu gehören – völlig ungeachtet der religiösen Prägung – nach Carl Rogers: Akzeptanz, Wärme, Würdigung, Empathie und Kongruenz.65 Des Weiteren sollten religiöse BetreuerInnen ihre Persönlichkeit dahingehend entwickeln, dass sie ihre Wahrnehmung schulen, Gespräche reflektiert durchführen können, sich in ihrer Religion eine theologische und rituelle Fachkompetenz aneignen und grundlegende psychologische Kenntnisse erwerben. Auch gewisse Kompetenzen der symbolischen Deutung, insbesondere in der nonverbalen Kommunikation sind grundlegend66 – wobei hier allerdings auch kultur- und religionsspezifische Kenntnisse bzw. der Austausch zwischen den verschiedenen religiösen BetreuerInnen hilfreich sind. Es wäre sinnvoll, eigenständige Konzeptionen von „Seelsorge“ bzw. religiöser Betreuung zu entwickeln, die deutlich an die jeweiligen religiösen und kulturellen Traditionen anknüpfen. Insoweit geht es mitnichten nur darum, einigen weiteren VertreterInnen Zugang zu Institutionen zu verschaffen. Falls tatsächlich die religiöse Betreuung als Aufgabe in den Institutionen verankert wird, wäre es sinnvoll, auch Überlegungen zur Entwicklung von allgemeinen Qualitätsstandards zu entwickeln, die für alle Religionsgemeinschaften gleichermaßen gelten. Dabei könnten konkrete Hilfestellungen gegeben werden für ReligionsvertreterInnen, die noch keine eigene Seelsorgeausbildung geschaffen haben, um sie für diese Tätigkeit zu qualifizieren. Zum Beispiel wäre es sehr sinnvoll, wenn katholische oder evangelische Einrichtungen, die Aus- und Fortbildungen im Bereich der Seelsorge anbieten, diese für interessierte Muslime und Musliminnen, orthodoxe ChristInnen, Juden und Jüdinnen oder andere Religionsgruppen zu öffnen. Ebenso könnten andere ReligionsvertreterInnen zur Teilnahme an Supervisionsgruppen nach Aufgreifen ihrer Tätigkeit eingeladen werden. Dies könnte den kollegialen „Dialog auf Augenhöhe“ maßgeblich fördern, eine gute Grundlage für die spätere praktische Arbeit darstellen und sogar Rückwirkung auf die interreligiösen Beziehungen und die Gesellschaft haben.67 Schritte in diese Richtung werden bereits an vielen 65 Rogers 1965, 19 – 64. Die Reflexion der persönlichen kulturellen und religiösen Prägung ist auch für die transkulturelle Kompetenz von entscheidender Bedeutung. Vgl. Körtner et al. 2009, 145. 66 Vgl. Klessmann 2008, 325 – 328. 67 Vgl. Reiss 2009, 183.

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Stellen unternommen. Insoweit geht es nicht um Vorschläge eines Religionswissenschaftlers, wie interreligiöse Betreuung zu handhaben wäre, sondern um etwas, das in vielen Bereichen bereits von PraktikerInnen umgesetzt wird.68

2.2

Justizvollzugsanstalten des Straf- und Maßnahmenvollzugs

Ein zweiter Bereich, der hier betrachtet werden soll, ist der der multireligiösen und multikulturellen Herausforderungen in den Justizvollzugsanstalten (im Folgenden in der Regel mit JVA abgekürzt). In ihnen spiegelt sich ebenso wie in anderen staatlichen und öffentlichen Einrichtungen die Veränderung der Bevölkerungsstruktur wider. In vielen Gefängnissen ist die Zahl der Gefangenen mit Migrationshintergrund sogar größer als die in der Bevölkerung. Dies liegt nicht daran, dass MigrantInnen krimineller sind als Einheimische, sondern an ihrem soziologischen Profil. Viele MigrantInnen machen wegen fehlender Integrationspolitik in der Gesellschaft oftmals einen größeren Anteil an unteren Bevölkerungsschichten aus und sind wegen mangelnder Ausbildung perspektivenlos. In dieser Schicht ist wiederum allgemein die Kriminalität höher.69 Die Zahlen der religiösen und kulturellen Prägung der InsassInnen sind allerdings schwer zu erheben, weil die Kategorisierungen in den meisten Gefängnissen willkürlich und widersprüchlich sind.70

68 S. unten 3.3. 69 Vgl. das Interview mit der Kriminologin JoÚlle Vuille: „Kein Zusammenhang zwischen Konfession und Kriminalität“. In: Bochinger 2011, 10 – 11. Vgl. a. Maier 2002. 70 In der JA Josefstadt in Wien muss ein Gefangener zum Beispiel bei der Aufnahme entscheiden, ob er „Mohammedaner Sunnit“, „Mohammedaner Schiit“ oder (!) „Moslem“ ist. Christen können sich entscheiden zwischen „Adventist“, „Baptist“, „Evangelisch AB und HB“, „alt-katholisch“,“ römisch-katholisch“, „griechisch-katholisch“, „griechisch-orthodox“, „serbisch-orthodox“, „russisch-orthodox“ oder (!) „orthodox“. Daneben sind als Kategorien noch „Hindu“, „Kali Maa“ (!), „Buddhist“, „Mosaisch“, „Sikh“, „Sintu“ (!), „Zeuge Jehova“, „ohne Bekenntnis“ oder „Unbekannt“ vorhanden. Die Auflistung zeigt, dass diese Bezeichnungen vermutlich völlig willkürlich entstanden sind. Viele Insassen in Österreich werden oftmals, sofern sie zu erkennen geben, dass sie christlich sind, automatisch bei den katholischen Christen subsumiert. Seltsam ist z. B. dass Rumänen, Bulgaren, Kopten, Äthiopier, Eritreer, Armenier überhaupt nicht aufscheinen, die sicherlich eine größere Gruppe darstellen. Alle, die kein Schweinefleisch essen wollen (z. B. auch orientalische Christen), werden zu „Moslems“. Insassen, die die Fragen nicht genau verstehen, werden automatisch „ohne Bekenntnis“ oder „unbekannt“ eingetragen. Die Kategorisierungen der religiösen Zuordnung variieren, sind mehr oder weniger durch Zufall durch Angaben der Insassen und Kenntnisstand der aufnehmenden Justizvollzugsbeamten entstanden und entbehren einer religionswissenschaftlichen bzw. konfessionskundlichen Grundlage. Vgl. Unterberger 2013, 32 – 35. Ein ähnliches Problem mit der Statistik besteht auch in der Schweiz und in Deutschland, vgl. Reiss 2010a, 299; Bochinger 2011, 11.

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Nicht Muslime, sondern Russen, russisch-sprachige Personen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Russlanddeutsche gelten aktuell im Justizvollzug in Deutschland als die am schwersten zu integrierende ethnische Gruppe, die auch für die Sicherheit das größte Problem darstellt. Sie beherrschen in vielen Anstalten den Handel mit Drogen und Handys, bauen mafiöse Strukturen der Abhängigkeit auf und vertreten einen Ehrenkodex des Schweigens, auf dessen Einhaltung rigide geachtet wird. Das Russische schafft eine Sprachbarriere, die einen nicht Dazugehörigen kaum in diese Welt eindringen lässt. Nicht zuletzt verschafft die recht große Zahl der Russisch-Sprachigen eine gewisse Dominanz dieser ethnischen Gruppe in den Haftanstalten.71 Die Gruppe der Russlanddeutschen wird größtenteils statistisch überhaupt nicht erfasst, da sie in der Regel bei der Einwanderung sofort die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben. Dies heißt jedoch nicht, dass sie keine Sprachprobleme haben und dass sie im Justizvollzug sowohl von Mitgefangenen als auch von den Bediensteten nicht als „Ausländer“ angesehen werden.72 Besondere soziokulturelle und religiöse Bemühungen um sie sind bisher kaum festzustellen. Ähnliches gilt für einen kultursensiblen Umgang mit katholischen MigrantInnen mit afrikanischem oder lateinamerikanischem Hintergrund, die normalerweise in die Aktivitäten der katholischen Seelsorge inkludiert werden. Hinsichtlich der Gefangenenkost gibt es nach wie vor in vielen Justizvollzugsanstalten bei MuslimInnen Unzufriedenheit. Es gibt zwar die Möglichkeit, Essen ohne Schweinefleisch zu erhalten, aber eine Garantie, dass auch nicht in kleinsten Mengen Schweinefett oder Gelatine enthalten ist, kann in der Regel nicht gegeben werden. Der Verzehr solcher Speisen ist jedoch genauso wie für Juden strengstens verboten.73 Für Juden wurde aus ähnlichen Gründen (aber auch wegen der religiös gebotenen Trennung von Milch und Fleisch) in vielen Anstalten die Möglichkeit geschaffen, dass die jüdischen Gemeinden die Versorgung der jüdischen Gefangenen organisieren. So wird z. B. in der JVA Josefstadt in Wien das Essen aus dem jüdischen Zentrum geliefert und auch bezahlt, obwohl es wesentlich teurer ist als das Anstaltsessen.74 Darüber hinaus gibt es koschere Artikel auf der Einkaufsliste. Es gibt einen eigenen jüdischen Gebetsraum an zentraler Stelle, obwohl auch hier in der Regel wegen des notwendigen Minjans ein rituelles Gemeinschaftsgebet nie praktiziert werden kann.75 Zu den 71 Vgl. Schmidt 2002; Hollenstein 2012; Heynisch / Verheyen 2010. 72 Vgl. Reiss 2010a, 299. Ähnliches gilt auch für Muslime, die auch als Ausländer betrachtet werden, selbst wenn sie seit langer Zeit einen deutschen Pass besitzen und in Deutschland aufgewachsen sind. 73 Reiss 2010a. 74 Unterberger 2013, 49. 75 Um einen jüdischen Gottesdienst abzuhalten, bedarf es in der orthodoxen Richtung eines Minimums von zehn männlichen religionsmündigen Betern, bei konservativen und libe-

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großen Festen Pessach und Rosch HaSchana (jüdisches Neujahr) werden die Gefangenen aus verschiedenen Haftanstalten Österreichs zusammengeführt, um gemeinsam die Feste feiern zu können. Drei Rabbiner wechselten sich 2008 in der religiösen Betreuung in der JVA Josefstadt ab für zwei jüdische Gefangene (20 in ganz Österreich 2008).76 In der JVA Diez (Rheinland-Pfalz) wurde in einem konkreten Fall gestattet, dass Essen und Bekleidung von Verwandten aus Israel regelmäßig eingeflogen wurden, weil so schnell keine Regelung für koscheres Essen gefunden werden konnte. Orientalische Gewürze, Flüssigkeiten und Glasbehältnisse wurden – entgegen zahlreicher Sicherheitsbestimmungen – auf die Zelle ausgeteilt. Ein solch religions- und kultursensibler Umgang mit muslimischen oder orthodoxen Gefangenen ist nicht festzustellen. Auch die Betreuung von orthodoxen Gefangenen77 ist nur sehr wenig ausgeprägt. Es kommen zwar orthodoxe Priester in viele Anstalten, aber sie haben meist kein Büro, keine eigene Kapelle und sie arbeiten zumeist als Ehrenamtliche oder im Besucherstatus, deren Fahrtkosten und Auslagen nicht immer erstattet werden. Da die Priester in vielen Haftanstalten nicht die erforderlichen räumlichen und liturgischen Voraussetzungen vorfinden, werden meist auch keine eucharistischen Gottesdienste gefeiert, sondern nur Vespern, obwohl die Teilnahme an der Eucharistie nach orthodoxem Verständnis von zentraler Bedeutung ist.78 Die seit Jahren unbefriedigende Situation ist derzeit Gegenstand der Diskussion in der orthodoxen Bischofskonferenz Österreichs, die eine eigenständige orthodoxe Gefängnisseelsorge analog zur orthodoxen Militärseelsorge aufbauen will.79 Ebenso beginnt man auf internationaler Ebene stärker über den Beitrag der orthodoxen Kirchen in der Gefängnisseelsorge nachzudenken.80

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ralen Juden können auch Frauen mitgezählt werden, was allerdings für die JVA irrelevant ist, da Männer und Frauen getrennt untergebracht sind. Vgl. Unterberger 2013, 79 – 81. In Österreich gehörten nach der (sehr ungenauen) Statistik von 2008, bei der vermutlich auch manche orthodoxe und orientalische Christen der katholischen Kirche zugeschlagen wurden, knapp 12 % der InsassInnen in österreichischen Vollzugsanstalten einer orthodoxen Konfession an. Vgl. Unterberger 2013, 40. Diverse Gespräche mit Pfr. Johannes Nothaas, 2005 – 2007. Vgl. URL: http://www.orthodoxe-kirche.at/site/home/nachrichten/article/106.html [02. 01. 2014]. Eine Kommission zur Neukonzeption und Regelung der Krankenhaus- und Gefängnisseelsorge wurde eingesetzt. Vgl. URL: http://www.pro-oriente.at/?site= ne20120305184039 [02. 01. 2014]. Deutliches Zeichen dafür ist, dass die Rumänisch-Orthodoxe Kirche, die ca. 40 Seelsorger in rumänische Gefängnisse entsendet, 2012 erstmals die paneuropäische Konferenz der „International Prison Chaplains Association – Europe“ nach Rumänien eingeladen hat – das erste Mal, dass diese Konferenz in einem orthodoxen Land stattgefunden hat. Vgl. URL: http://www.kirchen.ch/g2w/index.php?option=com_content& view=article& id=195 %3Ainternationale-gefaengnisseelsorger-im-patriarchat-bukarest& catid=1 %3Anews& Itemid=28 [02. 01. 2014].

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Muslimischen Gefangenen wird in den meisten Justizvollzugsanstalten zugemutet, dass sie sich damit begnügen, dass bei der Essensausgabe auf Schweinefleisch verzichtet wird oder dass das Fleisch durch anderes ersetzt wird81, obwohl dies religionsrechtlich nicht ausreichend82 und juristisch anfechtbar ist. Der deutsche Jurist Vigor Frömcke meint hierzu: „Ein Eingriff in die Religionsfreiheit liegt vor, wenn ein Zwang zur Aufnahme einer den religiösen Speisevorschriften widersprechenden Nahrung ausgeübt wird. Ein solcher Zwang kann nicht mit der Begründung verneint werden, dass der Gefangene aus § 21 S. 3 StVollzG einen Anspruch auf Selbstverpflegung hat, denn der Gefangene kann rein tatsächlich daran gehindert sein, diesen Anspruch wahrnehmen [sic!]. So ist die Verfügungsbefugnis über eigenes Geld und damit die Möglichkeit des Erwerbs von Lebensmitteln auf eigene Kosten im Gefängnis stark eingeschränkt […] Der Gefangene kann auch nicht darauf verwiesen werden, gegebenenfalls Fleisch nicht rituell geschächteter Tiere oder Schweinefleisch aus der Verpflegung nach der Zubereitung herauszusortieren. Die Zubereitung der Speisen mit diesem Fleisch führt dazu, daß durch Vermischung auch der Genuß der restlichen Mahlzeit gegen islamische Speisegebote verstößt. […] Entgegen der h. M. in der Literatur und Rechtsprechung besteht damit ein Anspruch des muslimischen Gefangenen auf Verpflegung gemäß den islamischen Speisegeboten.“83

Probleme bestehen für Muslime und Musliminnen auch im Blick auf die Unterbringung und Waschmöglichkeiten, die die Einhaltung von religiösen Reinheitsregeln faktisch nicht möglich machen.84 Schließlich gibt es ein Problem hinsichtlich der religiösen Betreuung. Zwar werden türkische Imame mittlerweile in viele Seelsorgeanstalten entsandt. Die von DITIB bzw. ATIB entsandten Imame handeln jedoch dabei als Konsularvertreter des türkischen Staates,85 81 Vgl. Unterberger 2013, 49. 82 Genauso wie es Juden verboten ist, Speisen zu sich zu nehmen, die auch nur in geringsten Mengen aus Schweinefleisch bestehen, ist es auch für Muslime religiös verboten, z. B. Saucen oder Suppen, Gelatine in Pudding oder Süßspeisen oder Speisen mit den Zusätzen E 471 und E472 mit geringstem Schweinefleischanteil zu konsumieren. 83 Frömcke 2005, 140 – 143 passim. Vgl. Unterberger 2013, 49. 84 Vgl. Reiss 2010a, 301 – 302. 85 Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Diyanet ˙I¸sleri Türk ˙Islam Birlig˘ i, abgekürzt DI˙TI˙B) untersteht der Leitung, Kontrolle und Aufsicht des staatlichen Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten der Türkei. Die Organisation arbeitet als Dachverband für die Koordinierung der religiösen, sozialen und kulturellen Tätigkeiten der angeschlossenen türkisch-islamischen Moscheegemeinden und entsendet regelmäßig Imame nach Deutschland und Österreich. Wie in Österreich ist es der mitgliederstärkste Dachverband, der die meisten Moscheen angehören. In Österreich ist die Organisation als „Türkisch Islamische Union für Kulturelle und Soziale Zusammenarbeit in Österreich“ mit dem Kürzel „ATIB“ (Avusturya Türkiye ˙Islam Birlig˘ i) bekannt. Dieser darf nicht mit dem Verband ATIB (Avrupa Türk-I˙slam Birlig˘ i – Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa) verwechselt werden, der in Deutschland einen anderen Moscheenverband bezeichnet. Vgl. Wunn 2007, 26 – 37; 65 – 70.

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sprechen aufgrund befristeter Präsenzzeit in Deutschland oder Österreich nur wenig deutsch und werden deshalb von manchen türkischen Muslimen und erst recht von Muslimen mit arabischem, persischem oder pakistanischem Hintergrund abgelehnt. Nicht zuletzt besitzen sie keinerlei Ausbildung in Gesprächsführung oder in Seelsorge/Psychologie, kennen kaum die sozio-kulturellen Verhältnisse und haben nur eine minimale Vorbereitung auf ihren ehrenamtlichen Dienst im Justizvollzug. Sie sind in der Regel nicht eingebunden in die seelsorgerliche Tätigkeit der christlichen Gefängnisseelsorger, obwohl diese mit muslimischen Gefangenen sehr oft Kontakt haben. Stattdessen werden Koranrezitationen und Gemeinschaftsgebete durchgeführt, die sicherlich eine Anknüpfung an die Tradition darstellen, aber oftmals an den wirklichen Bedürfnissen der Insassen vorbeigehen.86 Andererseits wird in den meisten Haftanstalten das fünfmalige Gebet ermöglicht und es gibt spezielle Regelungen für den Ramadan und das Opferfest.87 In jüngerer Zeit gibt es allerdings vielfache Bemühungen um eine bessere Organisation und Ausgestaltung der islamischen Seelsorge im Justizvollzug. 2010 wurde von der österreichischen Justizministerin Bandion-Ortner ein Vertrag mit der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich geschlossen, der auch eine gewisse Aufwandsentschädigung enthält und einen Arbeitsplatz in Aussicht stellt.88 Auch Regelungen für den Zusammenschluss und die spätere Essensausteilung im Ramadan werden angesprochen, die jedoch in vielen JVAs längst anstaltsintern geregelt sind. An vielen Orten ist man auch dabei, ein Konzept einer „islamischen Seelsorge“ zu entwickeln, die einerseits an christlichen Seelsorgekonzepten, andererseits an islamischen Traditionen anknüpft.89 Ebenso ist darauf hinzuweisen, dass nicht nur Imame mit einer theologischreligionsrechtlichen Ausbildung, sondern auch Muslime mit ganz verschiedenem persönlichen Hintergrund sich ehrenamtlich in verschiedenen Justizvollzugsanstalten einbringen und ihre Tätigkeit ganz verschieden verstehen. Manche beschränken sich gänzlich auf die religiöse Dimension, andere betonen nicht die religiöse Dimension, sondern verstehen sich mehr als kulturelle oder soziale Vermittler zur Anstaltsleitung oder einfach nur als Besucher, die sich um einzelne Personen oder um eine Gruppe von Gefangenen aus ihrem eigenen Kultur86 Reiss 2010a, 301 – 303. 87 Tellenbach 2003. 88 Allerdings sind die im § 3 des Vertrages genannten Zulassungsvoraussetzungen m. E. nicht ausreichend: Deutsch- und Maturakenntnisse sowie eine Beauftragung durch die IGGiÖ alleine befähigen noch lange nicht zu einem qualifizierten seelsorgerlichen Dienst in einer JVA. 89 Vgl. das Seminar 490064 “Islamische Seelsorge in Österreich“, das von Prof. Ednan Aslan und Dana Tamara Charkasi an der Universität Wien im Wintersemester 2013/14 angeboten wurde. Islamische Seelsorge ist auch Bestandteil der meisten Curricula für islamische Theologie, die aktuell entworfen werden.

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und Religionskontext kümmern.90 Insoweit bedürfte es dringend der innerislamischen Verständigung darüber, was eigentlich „islamische Seelsorge“ im Gefängnis sein soll, welche Qualifikation man mitbringen muss und welche Konzepte man verfolgt. In der Schweiz ist die Situation insoweit etwas anders, als dort Muslime mit ca. 30 – 60 % innerhalb der Gefängnisse eine weit größere Gruppe darstellen.91 Bereits 2008 wurde eine Studie zur Lage der muslimischen Gefangenen in Schweizer Haftanstalten erstellt, die Empfehlungen erarbeitete, die teilweise mittlerweile auch umgesetzt wurden. So wurden Imame angestellt, die islamische Seelsorge wurde im Internetauftritt der christlichen Seelsorge gleichgestellt. Es gab Verbesserungen bei der Organisation des Fastenmonats und der Durchführung der Gebetszeiten.92 Drei Imame verschiedener Richtungen sind z. B. alleine in der JVA Pöschwies tätig und halten regelmäßig das Freitagsgebet, führen Koranrezitationen und -interpretationen durch, stehen mehrere Stunden pro Woche für seelsorgerliche Einzel- und Gruppengespräche mit InsassInnen zur Verfügung und kooperieren mit der Anstaltsleitung und den christlichen SeelsorgerInnen.93 Auf die islamischen Speisevorschriften versucht man Rücksicht zu nehmen, und es gibt, ähnlich wie in Deutschland und Österreich, Sonderregelungen für den Fastenmonat Ramadan.94 Kritisch vermerkt der Bericht des Nationalen Forschungsprojektes von 2011 jedoch, dass „die kantonalen Gesetzgebungen äußerst heterogen sind. Zudem regelt jede Strafvollzuganstalt die religiöse Frage gemäß ihrem jeweiligen Auftrag und der Zusammensetzung ihrer Insassen.“95 Zudem sind die muslimischen Seelsorger nicht den christlichen gleichgestellt, da sie als Besucher nur eingeschränkte Besuchszeiten haben

90 Um diese Vielfalt zu erfassen hat die Forschungsgruppe „Religiöse Vielfalt in Schweizer Gefängnissen“ eine fünfgliedrige Typologie von religiösen Begleitern aufgestellt: Der Typus des Imam, der religiöses Wissen vermittelt und das Freitagsgebet in manchen Einrichtungen leitet; „Seelsorger“, die die individuelle Betreuung der Gefangenen übernehmen und die Organisation des Freitagsgebets übernehmen, ohne selbst ausgebildete Imame zu sein; der Typus des „großen Bruders“, für den Austausch mit den Gefangenen im Mittelpunkt steht; der „Vermittler“, der sich nur als sozial-kulturelle Vermittler versteht; und schließlich der Typus des „Besuchers“, der vorwiegend individuelle Besuche abstattet. Vgl. Becci et al. 2011, 6 und Bochinger 2011, 12. 91 Vgl. Becci et al. 2011, 2. Um die Milleniumswende lag die Zahl der muslimischen Gefangenen sogar bei 60 – 75 %. Vgl. Baechtold 2000 und Gschwend / Maier 2001. So auch Ivo Graf in einem Vortrag in Wien im WS 2010/11. 92 Endrass 2008. 93 So der katholische Seelsorger Ivo Graf in einem Vortrag in Wien im WS 2010/11; Endrass 2008, 147 – 150. Information der JVA Pöschwies im Internet: URL: http://www.zh.ch/internet/justiz_inneres/juv/de/ueber_uns/organisation/jva/bereiche/sozialwesen/seelsorge.html [02. 01. 2014]. 94 Vgl. Endrass 2008, 149. 95 Bochinger 2011, 8.

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(maximal 2,5 Stunden), ihre Besuche vorher offiziell anmelden müssen und kein Büro im Gefängnis haben.96 Neben christlichen, jüdischen und muslimischen SeelsorgerInnen sind jedoch noch weitere religiöse BetreuerInnen in Haftanstalten aktiv. Insbesondere evangelikale Gruppen haben in vielen Anstalten einen festen Platz und bieten sowohl individuelle Gespräche als auch Gruppengespräche, bisweilen auch spezielle Gottesdienste in evangelikaler Tradition an. Sie haben oft einen größeren Handlungsspielraum als gewöhnliche BesucherInnen, verfügen aber nicht über die gleichen Rechte wie die SeelsorgerInnen der etablierten christlichen Kirchen. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass sie oftmals nicht von Gefangenen angefragt werden, sondern auf eigene Initiative an die Anstaltsleitungen oder die christlichen SeelsorgerInnen herantreten. Sie verstehen das Gefängnis als einen Ort, um ihre Religiosität und Frömmigkeit zu verbreiten.97 Während bei den SeelsorgerInnen der katholischen und evangelischen Kirche mehr die individuellen Gespräche und die soziale Tätigkeit im Vordergrund stehen, ist die Arbeit der evangelikalen BetreuerInnen oftmals von intensiver Bibelarbeit und Gebetsgemeinschaften geprägt. In der Regel haben sie keine psychologische oder soziale Qualifizierung für ihre Tätigkeit vorzuweisen. Hier stellt sich für den religionsneutralen Staat die Frage, wie die Zulassung solcher SeelsorgerInnen oder Gruppen geregelt werden soll, wie man aber auch die Gefangenen vor offensichtlichen missionarischen Ambitionen schützt. Oftmals sind hier die Einstellungen der jeweils in der Anstalt tätigen evangelischen und katholischen SeelsorgerInnen entscheidend, was jedoch problematisch ist, da eventuell bei den PfarrerInnen konfessionelle Vorbehalte gegenüber den genannten Gruppen vorhanden sein können.98 Ähnliche Fragen treten bei der Zulassung und Tätigkeit von Jehovas Zeugen auf, die in vielen Anstalten längst ihre Aktivitäten entfalten. Weitere Protagonisten in der religiösen Betreuung sind BuddhistInnen, die in Österreich bereits eine flächendeckende Gefangenenbetreuung aufgebaut haben. Seit 2005 haben z. B. InsassInnen der JVA Stein die Möglichkeit, dreimal im Monat eine Meditationsgruppe aufzusuchen, die von der buddhistischen Gesellschaft organisiert wird. Mehrere Personen machen darüber hinaus bereits seit den 1990er Jahren regelmäßig auf Anfrage Besuche in verschiedenen Gefängnissen.99 Hier von „Seelsorge“ zu sprechen ist jedoch sehr fragwürdig, weil es eine der Grundannahmen des Buddhismus ist, dass es keine Seele gibt, und weil die religiöse Betreuung in eine ganz andere Richtung geht als bei den 96 97 98 99

Bochinger 2011, 16; Becci et al. 2011a, 2. Vgl. Bochinger 2011, 16. Reiss 2010a, 303. Unterberger 2013, 75 – 76.

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christlichen SeelsorgerInnen: Es handelt sich um Anweisungen und Beratung zur Meditation sowie zum ethischen Verhalten. Die Frage der „Schuld“ oder Aufarbeitung von Straftaten, die bei den abrahamitischen Religionen eine große Rolle spielt, wird nur minimal oder gar nicht angesprochen, da an karmischen Folgen von schlechten Taten sowieso nichts geändert werden kann.100 Im Unterschied zu evangelikalen Gruppen, zu Muslimen und Jehovas Zeugen kann die buddhistische Gefangenenbetreuung im internationalen Kontext auf sehr große Erfahrungen zurückgreifen. In vielen Staaten Asiens hat insbesondere die Vipassana-Meditation in JVAs Einzug gefunden und wird als religiöse Betreuung von vielen Staaten akzeptiert und gefördert, was bis zu Massenmeditationen mit mehreren tausend Gefangenen gehen kann.101 Die Erfordernisse für die religiöse Betreuung sind völlig andere als für die abrahamitischen BetreuerInnen. Hier bedürfte es mehr eines Raumes der Stille, in dem über mehrere Stunden ungestört meditiert werden kann. Dies ist aber in den meisten Gefängnissen nicht gegeben. Desweiteren ist die in Japan entwickelte Methode des „Naikan“ in den letzten Jahren in den deutschen und österreichischen Justizvollzug eingezogen. Dabei meditieren Gefangene tagesweise oder eine ganze Woche lang bei völligem Rückzug von der Gemeinschaft über lediglich drei Fragen: a) Was hat N.N. für mich getan? b) Was habe ich für N.N. getan? c) Welche Schwierigkeiten habe ich N.N. bereitet? Diese Fragen werden im Blick auf verschiedene Personen und Zyklen der eigenen Biographie in Stille durchdacht und die Naikan-LeiterInnen übernehmen nur die Funktion, die Rückmeldungen wertfrei anzuhören und anzunehmen. Naikan wird zwar von den ProtagonistInnen nicht als eine Form religiöser Betreuung oder Seelsorgearbeit verstanden, sondern eher als psychologische „Methode“, die ungeachtet der religiösen Zugehörigkeit benutzt werden könne, allerdings weist sie schon sehr starke Bezüge zum Buddhismus auf, da sie im buddhistisch-schintoistischen Kontext Japans entstanden ist.102 Am 11./12. 9. 2012 fand in Celle das zweite bundesweite Forum zu Naikan im Justizvollzug statt, an der der Verfasser teilnahm. Es zeigte sich, dass Naikan bereits in zahlreichen Justizanstalten in Niedersachsen, Sachsen, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen praktiziert und teilweise auch von den Justizministerien dieser Länder unterstützt wird, obwohl diese Form der Meditation den normalen Alltag einer JVA vollständig auf den Kopf stellt. Auch in Österreich gab es Modellprojekte, Naikan in den Justizvollzug einzuführen,103 allerdings wird dies momentan nur sehr eingeschränkt weitergeführt.104 100 Reiss 2010b. 101 Chandiramani / Verma / Dhar 1998; Kela 2003; Khurana / Dhar 2000. 102 Ozawa-De Silva 2006; Szawa-De Silva 2010; Bölter 2004; Ishii / Artl 2000; Steinke / MüllerEbeling 2004. 103 Saimeh 2011; Patelkau 2011; Reiss 2014; Hartl / Schuh 1989, 134 – 139; 158 – 183.

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Die Feststellung des evangelischen Oberkirchenrats Karl Schiefermair, dass sich die Seelsorge in Gefängnissen nicht mehr nur auf die traditionell etablierten Kirchen beschränken könne, sondern dass es verstärkt der ökumenischen und interreligiösen Zusammenarbeit bedürfe, um der multikulturellen und multireligiösen Realität in Justizvollzugsanstalten gerecht zu werden,105 entspricht den faktischen Notwendigkeiten. Nicht nur die islamische Gemeinschaft, sondern auch evangelische und orthodoxe ChristInnen, Juden und Jüdinnen, Evangelikale, Jehovas Zeugen, BuddhistInnenen und Hindus und ProtagonistInnen anderer Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen sind längst im Feld aktiv. Dabei werden sich vermutlich mittelfristig auch Formen neuer religiöser Betreuung institutionalisieren, was auch durchaus der multikulturellen und multireligiösen Zusammensetzung der Justizvollzugsanstalten und dem Bedarf entspricht. Allerdings gibt es noch keinerlei Gesamtkonzeption der religiösen Betreuung. Die Voraussetzungen hinsichtlich der Ausbildung für die verschiedenen Akteure sind höchst unterschiedlich, desgleichen die finanziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen. Ebenso gibt es bisher keine allgemeinen Standards und Vorbereitung für die religiöse Betreuung, die für alle religiösen BetreuerInnen gleichermaßen gelten. Es fehlt die Offenlegung der unterschiedlichen Konzepte religiöser Betreuung. Katholische und evangelische ChristInnen sind in dieser Hinsicht sicherlich schon viele Schritte voraus. Aber Qualitätsstandards sollten auch von anderen religiösen Betreuern erfüllt werden.106 Dazu bedürfen sie allerdings vermutlich organisatorischer Unterstützung und der Kooperationsbereitschaft der etablierten Kirchen. Wenn katholische und evangelische Christen tatsächlich an den Bedürfnissen der Gefangenen und nicht nur an der Erhaltung der „Pfründe“ ihrer eigenen Konfession im Bereich des Justizwesens interessiert sind, dann wäre vermutlich die Zusammenarbeit mit anderen religiösen Gemeinschaften, die sich im gleichen Bereich engagieren, das Gebot der Stunde. Das kann durchaus auch befruchtend für die eigene Tätigkeit sein, wie Beispiele aus England oder den Niederlanden107 zeigen.

104 Eine Dokumentation der Anwendung des Naikan im Strafvollzug deutscher und österreichischer Gefängnisse erfolgt in einem Band, der von dem Verfasser im Rahmen der Reihe „Anwendungsorientierte Religionswissenschaft“ im Herbst 2014 herausgegeben wird (Reiss 2014). 105 Vgl. URL: http://www.oekumene.at/site/home/article/480.html [02. 01. 2014]. 106 Eine ökumenische und interreligiöse Positionsbestimmung zu Qualitätsstandards wurde bereits in der Schweiz unter Einbeziehung der Römisch-Katholischen Kirche, der Reformierten Kirchen, der Christkatholischen und Jüdischen Gemeinden in Bern vereinbart. IKK 2009. 107 Vgl. Ajouau 2010.

170

3.

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Resümee, Herausforderungen und Handlungsperspektiven

Blickt man zusammenfassend auf die Herausforderungen, die in den Bereichen des Krankenhauses bzw. der Alten- und Pflegeeinrichtungen sowie des Justizvollzugs durch Multikulturalität und Multireligiosität auftauchen, so kann man bei aller Verschiedenheit einige Parallelen feststellen: In allen diesen Institutionen sind drei Akteure beteiligt, die sich allmählich auf die veränderte Situation einstellen, die sich teilweise auch bereits darauf eingestellt, diese Herausforderungen angenommen und erste Lösungsansätze entwickelt haben: Der Staat, die Institutionen, die Religionsgemeinschaften. Zudem ist die Forschung davon betroffen, die sich in verschiedenen Disziplinen zunehmend mit den gesellschaftlichen Veränderungen in Institutionen beschäftigt. Ein Grundproblem der bisherigen Lösungsansätze besteht darin, dass es sich dabei oft um institutionell und regional isolierte bzw. nur auf ganz bestimmte Religionsgemeinschaften reduzierte Versuche handelt, die der Vielfalt der religiösen und kulturellen Prägung der Menschen, die sich in diesen Institutionen aufhalten, nicht gerecht werden. Es genügt nicht, noch die eine oder andere Religionsgruppe mit zu berücksichtigen und es ist nicht damit getan, für einige wenige Institutionen praktische Lösungen zu finden. Vielmehr bedarf es nationaler Strategien und Gesamtkonzepte, die die Diversität der Religions- und Kulturgruppen wie auch die gesamten Institutionen umfassend in den Blick nehmen, um bewusste oder unbewusste Diskriminierungen, positiver oder negativer Art zu vermeiden.

3.1

Staat

Der Staat kann Rahmenbedingungen setzen, um der Multireligiosität und Multikulturalität zu begegnen. Um zu wissen, welche Maßnahmen erforderlich sind, wären zunächst einmal verlässliche Statistiken in den verschiedenen staatlichen Einrichtungen erforderlich, um das quantitative Ausmaß der kulturellen und religiösen Diversität und die verschiedenen Gruppen zu identifizieren. Ein zweiter Schritt könnte die Ausweitung der Verträge mit speziellen Religionsgruppen sein, wie dies teilweise bereits geschehen ist bzw. aktuell geschieht, wenn z. B. neue Verträge mit jüdischen, muslimischen oder orthodoxen Religionsgemeinschaften bzw. SeelsorgerInnen geschlossen werden. Allerdings wäre es vermutlich sinnvoll, dies nicht auf den Islam beschränken, nur weil dieser aktuell besondere mediale und politische Aufmerksamkeit genießt. Vielmehr könnten nach sorgfältiger Analyse des Bedarfs ähnliche Regelungen für alle relevanten religiös-kulturellen Migrantengruppen abgeschlossen werden. Vermutlich wäre es auch sinnvoll, dass nicht jedes Bundesland eigene Wege

Auswirkungen der religiösen Pluralität

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geht, sondern dass die vertraglichen Regelungen zumindest bekannt sind, um bewährte Regelungen auch in anderen Ländern aufzugreifen. Auch wäre es hilfreich, die Entwicklung in anderen Ländern zu verfolgen, um ggf. Modelle, die sich bewähren, aufzugreifen, bzw. Fehler zu vermeiden, die anderswo gemacht wurden. Dabei wäre es hilfreich, wenn der Staat auf die Offenlegung der Charakteristika der geplanten religiös-kulturellen Betreuung und die Entwicklung von allgemeinen Qualitätsstandards der religiös-kulturellen Betreuung drängt, die von allen Akteuren gemeinsam zu entwickeln und einzuhalten sind. Übertragungen aus der christlichen Terminologie sollten vermieden werden, da diese vielen religiösen Gruppierungen nicht entspricht. Weil es in den meisten außerchristlichen Religionsgruppen keinen eigenständigen Klerus bzw. geistlichen Stand gibt und die Betreuung sehr unterschiedlichen Charakter haben kann (Gespräche, Bibelarbeit, Mission, Koranrezitation und –memoration, Meditation, Körperarbeit, Beratung im Blick auf Riten und auf Ernährung), ist es z. B. nur wenig sinnvoll, dies alles unter den christlichen Begriff der „Seelsorge“ zu subsumieren. Der Begriff der „religiös-kulturellen Betreuung“ wäre offener und angebrachter, weil er nicht falsche Assoziationen weckt. Christliche Seelsorge wäre darin nur eine Form der religiös-kulturellen Betreuung. Der Staat sollte auch darauf drängen, dass die religiös-kulturelle Betreuung von Individuen und Gruppen in Institutionen nicht isoliert voneinander geschieht, sondern in einem Team, das untereinander kooperiert und zugleich in die sozialen, psychologischen und anderen Dienste eingebunden ist. Es wäre gut, wenn nationale und internationale Foren eingerichtet würden, wo Fragen der religiös-kulturellen Betreuung in verschiedenen Institutionen besprochen werden, und wo Gesamtkonzepte in Kooperation mit verschiedenen Religionsgemeinschaften und Vertretern der Institutionen besprochen werden können. Zudem wäre der Aufbau von nationalen und eventuell auch regionalen religionswissenschaftlichen Kompetenzzentren hilfreich. Diese könnten sowohl vom Staat, als auch von Institutionen und verschiedenen Religionsgemeinschaften aus speziellen Anlässen, zu speziellen Themen und wegen spezieller Religionsgruppen befragt werden. Sie sollten das praktische Umgehen mit speziellen Religionsgruppen in verschiedenen Institutionen erforschen und dokumentieren und zugleich Beratung und Hilfestellung leisten, wenn konkrete Fragen auftauchen. Wenn z. B. in einer Institution AnhängerInnen einer religiösen Gruppe auftauchen, die bestimmte religiöse oder soziale Themen aufwerfen, so sollten der Staat, die Institution oder auch die etablierten Religionsgemeinschaften die Möglichkeit haben, neben der direkten Kontaktaufnahme mit VertreterInnen der jeweiligen religiösen Gruppe eine Institution zur Beratung hinzuzuziehen, die auf eine neutrale, unparteiische Beratung verpflichtet ist.

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Es ist das gute Recht von Konfessionen, Abgrenzungen zu anderen religiösen Gruppen vorzunehmen. Allerdings ist der Staat zur religiösen Neutralität verpflichtet und muss daher ggf. auch für Menschen, die nicht von den dominierenden Religionsgruppen anerkannt werden, eine religiöse Betreuung gewährleisten. Es kann z. B. nicht sein, dass ein sunnitischer Imam darüber entscheidet, ob und wie die religiösen Bedürfnisse eines Schiiten, Aleviten, Ahmadis, Jeziden, Bahai oder Sikhs berücksichtigt werden, oder dass ein evangelischer oder katholischer Pfarrer darüber entscheidet, ob charismatisch-pfingstlerische oder evangelikale Gruppen, Mormonen, Jehovas Zeugen oder Adventisten Zugang zu Institutionen erhalten. Auch kann der Staat sich nicht immer bei Informationen auf VertreterInnen der Religionen selbst verlassen, denn es kann sein, dass die Religionsgemeinschaft kaum organisierte Institutionen oder „AmtsträgerInnen“ besitzt, oder dass auch bewusst Falschinformationen weitergegeben werden. Wie soll man z. B. mit Satanisten oder mit Anhängern,des Sahaja Yoga oder von Scientology umgehen, die eine religiöse Betreuung einfordern oder Zugang zu öffentlichen Institutionen fordern? Mit Sicherheit sind hier neben konfessionellen Zugängen auch Informationen von Institutionen erforderlich, die aus einer Außenperspektive auf Religionsgemeinschaften blicken und auf Neutralität verpflichtend sind und weder als Angehörige der Religion sprechen, über die Informationen eingeholt wird, noch sich bewusst als Vertreter einer anderen Konfession verstehen, die möglicherweise gegen die Religionsgruppe polemisiert. Desweiteren wäre es hilfreich, wenn der Staat die Forschung zu praktischen religionswissenschaftlichen Themenfeldern in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen fördert.

3.2

Institutionen

Während der Staat die nationalen juristischen und organisatorischen Rahmenbedingungen schafft, können Institutionen innerhalb der jeweiligen Einrichtungen die Rahmenbedingungen schaffen, die es möglich machen, dass die Betreuung der religiösen und kulturellen Diversität gerecht wird. Der Bedarf und die Nachfrage der Insassen sollten auch hier Grundlage und Orientierungspunkt zur Gestaltung der religiös-kulturellen Betreuung sein. Insoweit bedarf es auch vor Ort der genauen statistischen Erhebung der religiösen und kulturellen Prägung der Menschen in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Kindertagesstätten, Schulen etc. Eine Erweiterung der Zulassung von BetreuerInnen, die religiös-kulturelle Betreuung anbieten, wird in vielen Fällen nötig sein. Sie sollten mit Ressourcen ausgestattet werden, die dem zahlenmäßigen Anteil der PatientInnen/Bewoh-

Auswirkungen der religiösen Pluralität

173

nerInnen entsprechen. D.h. dass Räume, Büros, Erstattung von Sachkosten etc. von Seiten der Institution entsprechend der tatsächlichen Nachfrage zur Verfügung gestellt werden. Ähnlich wie in Holland könnten multireligiöse Teams gefördert werden, die sich in ihrer Aufgabe kontinuierlich absprechen, einander Supervision anbieten, und ihre Arbeit nach außen als gemeinsame Tätigkeit präsentieren. Innerhalb von Einrichtungen könnten die Teams gemeinsame Standards und Leitlinien der religiös-kulturellen Betreuung entwickeln, die alle religiösen BetreuerInnen zu erfüllen haben. Integration der religiös-kulturellen Betreuung in die Institution und kontinuierliche enge Kooperation mit SozialarbeiterInnen, PsychologInnen und anderen Diensten der Institution ist anzustreben. Die vor Ort wirkenden religiösen BetreuerInnen könnten mitwirken, religionswissenschaftliche und kulturelle Kenntnisse in der Ausbildung von Bediensteten aller Berufsgruppen zu verankern. In Institutionen, in denen es größere Zahlen von PatientInnen oder BewohnerInnen mit einem speziellen Migrationshintergrund gibt, ist die Anstellung von MitarbeiterInnen mit dem gleichen religiös-kulturellen und sprachlichen Migrationshintergrund vermutlich hilfreich.

3.3

Religionsgemeinschaften

Auch die einzelnen Religionsgemeinschaften sind sowohl intern als auch untereinander durch die neue Situation gefordert. Einerseits beginnen sich konfessionell bzw. religionsspezifisch geprägte eigenständige Ansätze der Betreuung in den jeweiligen Religionsgemeinschaften (z. B. Konzeption evangelischer, katholischer, islamischer, jüdischer, buddhistischer, evangelikaler Betreuung) zu entwickeln,108 die die religiöse Diversität in der Anstaltsseelsorge berücksichtigen.109 Diese Konzepte sollten gegenüber dem Staat, den Institutionen und den Kollegen offengelegt werden. Zugleich bedarf es des intensiven Austauschs zwischen den konfessionell bzw. religionsspezifisch geprägten Betreuern und 108 Die katholische Kirche verabschiedete 1998 Leitlinien für die Sorge um die Kranken. (SBK 1998). Die Evangelische Kirche in Deutschland verabschiedete 2004 Leitlinien für die evangelische Seelsorge (EKD 2004). In Württemberg wurden 2004 in evangelisch-katholischer Kooperation gemeinsame Qualitätsstandards in der Krankenhausseelsorge entwickelt (KHSW 2004). Die Erzdiözese München hat Qualitätsstandards für die Krankenhausseelsorge 2007 entwickelt (BOM 2007); Aktuell gibt es ein Forschungsprojekt „Qualitätsstandards für die Ausbildung der islamischen SeelsorgerInnen in Österreich“ an der Universität Wien, dessen Ergebnisse im Frühjahr 2014 auf einer internationalen Fachtagung präsentiert wurden (Charkasi / Modler-El-Abdaoui 2013). Zur islamischen Gefangenenseelsorge vgl. Forum am Freitag, 25. 05. 2012. Zur katholischen Gefängnisseelsorge vgl. die Veröffentlichung der deutschen Bischofskonferenz von 2006 (DBK 2006). 109 Vgl. Weiß / Federschmidt / Themme 2010; Kayales 2013.

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der Entwicklung von allgemeinen Standards der religiösen Betreuung. Vermutlich wird man dabei in vielerlei Hinsicht an die bewährten Modelle der christlichen Anstaltsseelsorge in ökumenischer und interreligiöser Kooperation anknüpfen können. Konkret geschieht dies z. B. dadurch, dass Vertretern anderer religiöser Gruppen (Juden, Muslimen, Mitgliedern von Freikirchen oder anderen Gruppierungen) erlaubt wird, an speziellen Ausbildungsformen teilzunehmen, z. B. Klinische Seelsorgeausbildung, Gefängnisseelsorgeausbildung oder Anstaltsseelsorge. Oder es werden Kurse von christlichen Seelsorgern für Angehörige anderer Religionsgruppen organisiert. Dies ist nicht nur eine Herausforderung, sondern wird verschiedentlich auch bereits praktiziert.110 Einzelne christliche Seelsorger beginnen auch Interesse zu entwickeln für ganz andere Formen der religiös-kulturellen Betreuung (z. B. Naikan oder VipassanaMeditation). Viel stärker als darum, bestimmte Formen aufzugreifen oder selbst zu übernehmen,111 wäre die zentrale Aufgabe, sich zunächst über die Vielfalt der Möglichkeit der religiösen Betreuung zu informieren und aus eigener Anschauung Kenntnis zu haben. Eventuell müssen auch Grenzen gesetzt werden, wo ein anderer konfessioneller Zugang vorhanden ist. In den Institutionen wäre es dann wichtig, multireligiöse Teams zu bilden, die auf Augenhöhe agieren und eng mit einander kooperieren.

3.4

Universität

Auf der Ebene der Forschung wäre es wichtig, zu praxisrelevanten Themen zu forschen, in denen religiöse und kulturelle Prägungen relevant sind und insge110 Georg Wenz, Islambeauftragter der Evangelischen Kirche in der Pfalz, organisierte z. B. gemeinsam mit Talat Kamran Ausbildungskurse für Muslime, in denen sie mit der Klinischen Seelsorge und der Systemischen Seelsorge vertraut gemacht wurden (Wenz 2012 und Wenz / Kamran 2013). Die Gesellschaft für interkulturelle Seelsorge und Beratung organisierte am 24. 1. 2014 eine Tagung zum Thema Christliche und Islamische Seelsorge in Bern (SIPCC 2014). Dieselbe Organisation organisierte bereits 2013 eine Tagung zur Gefängnisseelsorge aus der Perspektive von Muslimen, Christen und Juden in Mainz (SIPCC 2013). Das Zentrum für Seelsorge und Beratung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, die katholische Klinikseelsorge und der Grüne Halbmond bieten seit 2011 einen Kurs für islamische Krankenhausseelsorge an, der sich an den Ausbildungsrichtlinien der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie orientiert und bei dem die Kursteilnehmer von erfahrenen evangelischen und katholischen Krankenhausseelsorgerinnen unterstützt werden (Grüner Halbmond 2011). Die Römisch-Katholische Kirche hat gemeinsam mit der reformierten Kirche, der Christkatholischen Kirche und der Interessengemeinschaft jüdischer Gemeinden Qualitätsstandards für die Seelsorge im Kanton Bern 2002 verabschiedet und 2009 überarbeitet (IKK 2009). 111 Der evangelische Gefängnispfarrer Lothar Finkbeiner hat z. B. bereits 1976 erste NaikanKurse in der Strafanstalt Vechta angeboten.

Auswirkungen der religiösen Pluralität

175

samt das Feld zu beobachten und Transformationsprozesse wissenschaftlich zu dokumentieren. Zudem könnte insbesondere bei religiös-kulturellen und sozialen Konfliktfeldern in inter- und transdisziplinärer Weise nach Lösungsansätzen im Feld gesucht werden. Dazu bedarf es, bestehende Ansätze zu dokumentieren, in das Gespräch mit PraktikerInnen zu kommen und Evaluationen der verschiedenen Akteure festzuhalten. Dabei sollte davon ausgegangen werden, dass die Generierung der Forschungsfragen nicht ausschließlich wissenschaftsinternen Diskursen entspringt, sondern wissenschaftliches Wissen mit praktischem Wissen verbunden wird und dass entsprechend den Forderungen transdisziplinärer Methodik die Bearbeitung von Forschungsfragen in engem wechselseitigen Bezug aufeinander geschieht.112 Es geht um problemorientiertes Arbeiten und Forschen, das sich an außerwissenschaftlichen, d. h. lebensweltlichen und gesellschaftlich relevanten Problemen orientiert und nicht versucht, theoretische Erkenntnisse zu applizieren, sondern auch offen dafür ist, sich durch empirische Erkenntnisse zu verändern und normative Wissenschaften in den Forschungsprozess mit einzubeziehen.113 Dies kann zum einen in der anwendungsorientierten Religionswissenschaft, den verschiedenen christlichen Theologien und verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, die sich auch mit der religiösen und kulturellen Prägung von Menschen beschäftigen, wie z. B. der Religionspsychologie, Anthropologie, Sozialwissenschaft, Pflegewissenschaft und anderen Wissenschaftsdisziplinen geschehen. Wichtig wäre dabei insbesondere die Dokumentation des Umgangs mit religions- und kultursensibler Betreuung in Institutionen und ihre Präsentation in Fachkreisen, Medien und Politik, die Analyse der Faktoren, die zu Konflikten bzw. zu einem gedeihlichen Miteinander in Institutionen führen und eine enge Zusammenarbeit mit PraktikerInnen sowie die Evaluation von Dialogprozessen zwischen den Religionsgemeinschaften, die neue Formen der Kooperation erproben.

4.

Fazit

Die religiöse und kulturelle Pluralität der Gesellschaft ist in vielen staatlichen Institutionen auch der deutsch-sprachigen Nationalstaaten angekommen. Für den Staat und Institutionen heißt es strukturelle Rahmenbedingungen zu schaffen, die dieser Situation gerecht werden. Dieser Prozess ist bereits mitten im Gange und verändert dabei auch das Verhältnis zu Religionsgemeinschaften insgesamt, denn jeder Vertrag mit jüdischen, islamischen, orthodoxen, bud112 Vgl. Jaeger / Scheringer 1998. 113 Vgl. Mittelstraß 1998.

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dhistischen BetreuerInnen in Anstalten befördert auch deren gesellschaftliche Anerkennung. Für die etablierten Religionsgemeinschaften bedeutet es, sich auf neue KlientInnen und neue seelsorgerliche Bezugspersonen einzustellen und ggf. auch veränderte Konzepte der Seelsorge zu entwickeln, die den veränderten Bedingungen gerecht werden. Für neue Religionsgemeinschaften bedeutet es, Konzepte der religiösen Betreuung zu entwickeln, diese offen zu legen und in Dialog zu bringen mit den Konzepten anderer Religionsgemeinschaften. Für die Forschung bedeutet es, diese Transformationsprozesse zu dokumentieren und zu analysieren, ggf. auch kritisch zu evaluieren.

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Martin Jäggle

Herausforderung der religiösen Pluralität für die Schule

1.

Vorbemerkungen

Die religiöse (und weltanschauliche) Landkarte Europas und jedes einzelnen europäischen Staates ist plural. Teil des Phänomens religiöser Pluralität sind auch die Pluralität innerhalb der jeweiligen religiösen Traditionen, die Option „believing without belonging“, „multiple religiöse Identitäten“1 und gewissermaßen auch weltanschauliche Pluralität. Die Entwicklung der religiösen Pluralität, die durch Migration vielfältig dynamisiert worden ist, dokumentieren Longitudinalstudien wie die Europäische Wertestudie2. Vorliegende Forschungsergebnisse zu religiöser Pluralität in Europa werten Pollack / Tucci / Ziebertz in ihrer Metastudie nach folgenden Fragen aus: „Was ist religiöser Pluralismus?“, „Unter welchen sozialen und politisch-rechtlichen Bedingungen ist die Emergenz religiösen Pluralismus wahrscheinlich?“, „Worin bestehen die sozialen Folgen religiösen Pluralismus in der Zivilgesellschaft und auf dem religiösen Feld?“, und „Wie wird gesellschaftlich mit Phänomenen religiöser Pluralität umgegangen?“3 Hier besteht nur die Möglichkeit, das Phänomen als solches zu konstatieren. Religion – wie auch Bildung – wäre politisch kein europäisches, sondern ein nationales Thema, abgesehen u. a. vom international verankerten Recht auf Religionsfreiheit4 und vom Diskriminierungsverbot5. Und doch haben sich im Gefolge von 9/11 zwei der gewichtigsten europäischen Organisationen, der Europarat und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, 1 2 3 4

Bernhardt / Schmidt-Leukel 2008. Vgl. URL: http://www.europeanvaluesstudy.eu/ [11. 06. 2014]; für Österreich Polak 2011. Pollack / Tucci / Ziebertz 2012. U.a. Art. 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Art. 14 der Kinderrechtskonvention. 5 Declaration on the Elimination of All Forms of Intolerance and of Discrimination Based on Religion or Belief, 1981 vgl. URL: http://www.un.org/documents/ga/res/36/a36r055.htm [11. 06. 2014]; Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

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Martin Jäggle

damit befasst, wie die Schule mit religiöser Pluralität umgehen sollte, weil dies politisch als entscheidend für ein gedeihliches Zusammenleben in religiös pluralen Gesellschaften eingeschätzt wird.6 Nimmt die Schule diese Herausforderung nicht angemessen an, wird dies als Gefährdung von Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa eingeschätzt. Doch die Schule hat zur Erfüllung dieser Aufgabe ungünstige Voraussetzungen, die durch die Auswirkungen von Migration sichtbar werden und für Menschen mit Migrationserfahrung, denen Religion besonders viel bedeutet, negative Folgen haben.

2.

Die homogene (und monolinguale) Schule

Die Schule in Europa ist in der Regel aber auf die Herausforderung durch (religiöse) Diversität wegen ihrer Orientierung an der Fiktion (monolingualer und monoreligiöser) Homogenität kaum vorbereitet. Sie geht nämlich von einer durch die diagnostizierte „Schulreife“ der Kinder gesicherten Normalität und Homogenität aus, in der Verschiedenheit grundsätzlich übersehen wird. Falls dies aber angesichts etwa der Vielfalt an Erstsprachen in einer Schule oder in einer Klasse nicht mehr möglich ist, wird die auftretende Diversität primär als Störung interpretiert. Dabei ist die entscheidende Grundlage jeden Lernens und von Bildung die Sprache, weshalb dem Spracherwerb der Erst- und der Zweitsprachen in allen Bildungseinrichtungen (vom Kindergarten bis zur Matura) größte Aufmerksamkeit zu widmen wäre.7 Gerade die Intelligenzentwicklung hängt eng mit der Förderung der Erstsprache zusammen. Anstatt die Chancen zu nutzen, die sich aus der Pluralität von Erstsprachen für alle ergeben (erweitertes Sprachrepertoire, größere Sprachkompetenz, Beitrag zur Heilung von Einsprachigkeit), werden jene Erstsprachen, die nicht Unterrichtssprache sind, zur Privatsache erklärt („Zu Hause sprechen die Kinder die Fremdsprache.“ Volksschullehrerin in Wien). Deren damit verbundene Bedeutungs- und Funktionslosigkeit an der Schule, auch erkennbar an ihrer öffentlichen Unsichtbarkeit, bewirkt eine Missachtung der entsprechenden Kinder und trägt wesentlich zu ihrer strukturellen Benachteiligung bei.8 Auch deshalb gelingt es dem österreichischen Bildungssystem Schüler und Schülerinnen mit Migrationsgeschichte zu benachteiligen.9 Die Benachteiligung erfolgt durch Gleichbe6 Jackson 2008. 7 Plutzar / Kerschofer-Puhalo 2009. 8 Mit der Geringschätzung der Erstsprache ist in der Regel auch eine Geringschätzung der religiösen Tradition, an der sich die betreffenden jungen Menschen orientieren, verbunden. 9 Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), ein Organ des Europarates, im 4. Bericht über Österreich. URL: http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/ecri/Country-by-country/Austria/Austria_CBC_en.asp [11. 06. 2014].

Herausforderung der religiösen Pluralität für die Schule

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handlung trotz unterschiedlicher Voraussetzungen und durch Ungleichbehandlung, nämlich durch strukturelle Diskriminierung.10 Die Etablierung von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert und danach hatte den Verlust von Mehrsprachigkeit zur Folge und war mit der politischen Durchsetzung einer Nationalsprache verbunden. Als Schule des Nationalstaates steht die Schule im Dienste der – mehr oder weniger – homogen gedachten Nation, die nun eine verbindende und verbindliche Sprache spricht. Was rechtlich als Unterrichtssprache gilt, in der Praxis als Verkehrssprache dient, ist gesellschaftlich und politisch mit dem Anspruch einer Nationalsprache als zu erbringender kultureller Norm verbunden. Gogolin11 hat bereits 1994 auf das damit verbundene Problem des „monolingualen Habitus“ der Schule hingewiesen, die deshalb der gesellschaftlichen Realität der Mehrsprachigkeit nicht entsprechen kann. Ihre Studie hinterfragt die Fiktion, die Schule müsse „natürlich“ einsprachig organisiert sein, und stellt Sicht- und Handlungsweisen von Lehrerinnen und Lehrern vor, die eine vielsprachige, kulturell heterogene Schülerschaft unterrichten und teilweise dabei versuchen, monolinguale Routinen zu durchbrechen. Von monolingualen Routinen geht ein – oft sogar auch wohlmeinender – Assimilierungsdruck aus, der Differenz ausblendet, zum Verschwinden bringt oder als Buntheit „vorführt“. Die politische Auseinandersetzung in Österreich um Türkisch als Maturafach kann als Konflikt um die Sicherung des monolingualen Habitus der Schule verstanden werden. Dass Bildungssysteme soziale Gruppen strukturell benachteiligen, ist längstens seit den PISA-Studien auch für die breite Öffentlichkeit erkennbar geworden. Gomolla / Radtke haben für die Schule die Mechanismen institutioneller direkter und indirekter Diskriminierung12 beschrieben und machen auf die – von den jeweiligen Personen unabhängige – organisationspezifische Dynamik der Herstellung bzw. Sicherung von Homogenität aufmerksam. Ein erster Schritt wäre, Homogenitätsroutinen bewusst zu machen und (kulturelle, religiöse, konfessionelle, linquale, …) Heterogenität als Normalität zu erkennen13, Diversität als Ressource zu entdecken.

10 11 12 13

Zur „Schlechterstellung Migrationsanderer“: Dirim / Mecheril 2010. Gogolin 1994. Gomolla / Radtke 2009. Hagedorn 2010.

186

3.

Martin Jäggle

Pluralismus ein Wert, Vielfalt ein Reichtum

Die humane Qualität einer Gesellschaft wird an ihrem Umgang mit Vielfalt gemessen. Die rechtlichen und politischen Regelungen einer „Politik der Anerkennung“14 (Ch. Taylor) sind ein Qualitätskriterium europäischer Demokratie geworden, womit die Probleme der Umsetzung und die gesellschaftlichen sowie politischen Gegenbewegungen nicht ausgeblendet werden sollen. Im EU-Vertrag von Lissabon werden Gemeinsamkeit und Vielfalt Europas als grundlegend anerkannt. Die Werte, auf denen sich die Europäische Union gründet, „sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet“15. Die Union „wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas“. Dies findet auch im Slogan europäischer Einigung seinen Ausdruck: „In Vielfalt geeint“.16 Pluralität ist in Europa ein Wert und Vielfalt ein Reichtum geworden17. Mit Pluralität sind notwendigerweise und unvermeidlich auch Konflikte verbunden. Zur Wertschätzung von Pluralität gehört nicht die Vermeidung von Konflikten, sondern die Entwicklung von Formen eines angemessenen Umgangs mit Konflikten. Im religiösen Bereich ist die Trennung von Kirche und Staat ein weitverbreiteter europäischer Standard geworden, womit keine Religion über staatliche Machtmittel zur Durchsetzung ihres Wahrheitsanspruchs verfügen kann, es aber eine Vielfalt in der Gestaltung des Verhältnisses von Kirchen, Religionsgemeinschaften und Staat in Europa gibt. Die Gestaltung dieses Verhältnisses hat auch Auswirkungen auf Bildungseinrichtungen und deren Aufgaben. Der angemessene Umgang mit Vielfalt gilt als eine der Zukunftsfragen Europas, das nur insoweit eine friedliche Zukunft haben kann, wenn „wir den

14 Taylor 1993. 15 Der vollständige Wortlaut des Art. 2 lautet: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ 16 Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union (2010), Amtsblatt der Europäischen Union, C 83/17. URL: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2010:083:0013:0046:DE:PDF [24. 02. 2014]. 17 Das Ergebnis der Europawahlen 2014 macht deutlich, wie stark dieses Projekt zugleich gefährdet ist, wobei die sozialen Disparitäten (Arbeitslosigkeit, besonders der Jugend; prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse, Einkommens- und Vermögensgegensätze, etc.) eine maßgebliche Rolle spielen.

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besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann“18. Die gesellschaftliche Einschätzung religiöser Pluralität und des Umgangs mit ihr ist in Europa kontrovers. Im laizistischen Modell gilt Religion strikt als Privatsache, die im öffentlichen Raum keinen Platz erhält, auch um zu verhindern, dass Religion Ursache für gesellschaftliche Konflikte wird. Doch auch außerhalb dieses Modells werden Religion und religiöse Vielfalt gesellschaftlich eher als Problem bzw. als Quelle von Problemen angesehen, weshalb vielfach der religionsfrei gehaltene öffentliche Raum – und somit auch die „religionsfreie“ Schule – als Lösung gelten. Religiöse Pluralität kann dabei nicht als Reichtum oder Chance erkannt und deren Potential zur Lösung von Konflikten nicht genutzt werden.19 In einer Zeit, in der es politische und rechtliche Auseinandersetzung in ganz unterschiedlichen Ländern Europas (u. a. Deutschland, Frankreich, Italien) um die Präsenz religiöser Symbole (und religiös konnotierter Kleidung) an Schulen gibt, sind z. B. „integrated schools“ in Nordirland20, die für katholische und protestantische Schülerinnen und Schülern konzipiert sind, bemüht, ein gutes Zusammenleben religiös Verschiedener unter Einbeziehung der unterschiedlichen religiösen Symbole zu fördern.

4.

Kultur der Anerkennung21

Die Schule ist grundsätzlich herausgefordert, das Zusammenleben einer größer werdenden inneren und äußeren Heterogenität zu gestalten. Das „braucht neue Formen des Miteinanders verschiedener kultureller und religiöser Beheimatungen und sozialer Herkünfte. Nicht das Vereinheitlichen fördert eine gute Schulkultur, sondern Diversität als Ressource wahrzunehmen, (…) besonders auch religiöse Diversität. (…) Jenseits aller Postulate einer abstrakten Gleichheit entscheidet sich die Demokratiefähigkeit einer Gesellschaft am konkreten Umgang mit Verschiedenheit und mit Minderheiten. Wir brauchen eine Schule des gemeinsamen Lernens an Unterschieden.“22 Es geht um eine „Kultur der Anerkennung“. Religiöse Differenz ist gewissermaßen die schwierigste Differenz. Nach Martin Luther ist „Religion woran mein Herz hängt“. Religion betrifft Menschen zuinnerst, damit machen sich Menschen in der öffentlichen Kommunikation vielfältig verletzbar. Eine religionsablehnende oder gar religionsfeindliche 18 19 20 21 22

Adorno 1997. Weiße / Gutmann 2010. Richardson 2014. Ausführlich dazu: Jäggle / Krobath 2013; Krobath / Lehner-Hartmann / Polak 2013. Jäggle / Krobath 2009, 27 f.

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Schulkultur, die sich besonders gegen Diversität richtet, hat gravierende Auswirkungen. Eine Hopi-Mutter machte Robert Collins, der die religiöse Bilderwelt der Kinder erforschte, in einer Schule aufmerksam: „Hier in diesem Gebäude werden sie nie darüber reden, was in ihrem privaten Bereich läuft. (…) Das, wonach Sie sie fragen, sind Gedanken, die sie draußen lassen, wenn sie hier hereinkommen.“23 Bei ihnen zuhause erzählten ihm die Kinder von ihren religiösen Vorstellungen. Auf seine Frage, warum sie darüber nicht mit ihrer Lehrerin spricht, antwortete ein Hopi-Mädchen, dann „hätte sie wieder mal so komisch gelächelt.“24 Kinder wissen sehr genau, welchen Platz ihre innersten Gefühle und Gedanken an der Schule haben, womit sie sich verletzbar machen, was bei allem Toleranzpathos tatsächlich Respekt und Würdigung findet. Die von Avishai Margalit konstatierte „Menschenblindheit“ hat eine weiterreichende Brisanz. Er schreibt sie Institutionen zu, die Menschen aus identitätsstiftenden Gruppen ausschließen.25 Margalits Sozialphilosophie zielt auf eine „anständige Gesellschaft“, in der ihre Institutionen die Menschen nicht demütigen. Demütigend sind „alle Verhaltensformen und Verhältnisse, die einer Person einen rationalen Grund geben, sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu sehen“26. Er selbst hält aber fest, dass schon viel erreicht wäre, die demütigende Wirkung von Institutionen zu reduzieren. Es geht um die institutionelle Verweigerung von Anerkennung. Eine solche Kultur der Anerkennung religiöser Diversität dürfte auch der Europarat vor Augen haben, der sich im Gefolge von 9/11 sowie seinen Bemühungen um die Förderung des interkulturellen Dialogs seit 2002 in unterschiedlichen Beratungen27 und mehreren Dokumenten28 der religiösen Dimension des interkulturellen Dialogs widmet. Dabei richtet er seine besondere Aufmerksamkeit auf den Umgang mit religiöser Diversität an Schulen. Er würdigt religiöse Diversität positiv, verlangt, ihr angemessen Raum zu geben, lehnt eine Beschränkung von Religion auf die Privatsphäre oder gar eine „religionsfreie“ Schule ab, legt konkrete Anregungen vor – etwa zum Umgang mit religiösen Festen – und stellt u. a. eine Checkliste zur Verfügung, die deutlich macht, in welch umfassender Weise hier die gesamte Schule gefordert ist. „This checklist for key issues and questions for self-reflection is meant to help different partners to identify their role in creating the right environment for teaching and learning”29. Diese Checklist enthält Fragen wie: „What is the values base of the 23 24 25 26 27 28 29

Collins 1992, 321. A.a.O., 323. Margalit 1997, 166 ff. A.a.O., 23. Z.B. Council of Europe 2007. Z.B. Council of Europe 2008a; Council of Europe 2008b. Keast 2007.

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school or college? Does it reflect the religious dimension of intercultural education?”, „How far does the school calendar reflect religious diversity?”, „Has the school conducted an audit of its provision of intercultural education, and its religious dimension?”, „Is interreligious dialogue based in respect for differences?” „To what extent have teachers been trained to provide a religious dimension in intercultural education?”

5.

Religiöse Bildung – ein europäisches Projekt

Religiöse Bildung als Aufgabe der öffentlichen Schule in Form eines eigenen Faches ist ein spezifisch europäisches Phänomen. Die Reformation hat als große Bildungsbewegung zum Ausbau des Schulwesen beigetragen und religiöse Bildung gefördert. Etwa zeitgleich mit der Übertragung der Schulaufsicht durch die Reformatoren von den kirchlichen zu den politischen Autoritäten wird das neue Fach Religion eingeführt, das bereits nach kurzer Zeit auf den Zeugnissen den ersten Platz erhielt. Religionsunterricht sollte dabei von Anfang an der religiösen Bildung dienen, wobei im 16. Jahrhundert Religion ein Synonym für christliche Religion war. Im 21. Jahrhundert gibt es mittlerweile in fast allen 48 europäischen Staaten30 ein Fach, das die Aufgabe religiöser Bildung hat, von wenigen Ausnahmen abgesehen.31 Durch die Einführung der Schulpflicht im 18. Jahrhundert wurde im abendländischen Europa der Religionsunterricht ein Pflichtfach für alle – orientiert an der jeweiligen Konfession, in deren Namen oder Tradition er erteilt worden ist. In diesem Sinn war jeder Religionsunterricht konfessionell und leistete – auch als Kind seiner Zeit – keinen Beitrag zum respektvollen Zusammenleben konfessionell Verschiedener. Der Umgang mit religiöser Verschiedenheit aber zählt zu den dunklen Kapiteln europäischer Geschichte, die eine Geschichte der Exklusion der religiös und konfessionell Anderen ist, eine Geschichte der Diskriminierung, der Vertreibung und der Vernichtung. Die Herstellung und Sicherung religiöser Homogenität ist ein blutiger Teil der europäischen Geschichte, deren Kennzeichen weitgehend die 30 Die Mitgliedsstaaten des Europarates und Weißrussland. 31 U.a. Albanien, Mazedonien, Slowenien, Frankreich (ausgenommen Elsass/Lothringen). Das Forschungsprojekt „Religious Education at Schools in Europe“ (URL: http://www.rel-edu.eu [11. 06. 2014] ) stellt erstmals die Situation der religiösen Bildung an Schulen in jedem der 48 europäischen Staaten mit dem Ziel dar, u. a. einen internationalen Vergleich der verschiedenen Organisationsformen religiöser Bildung in Europa zu ermöglichen und eine Grundlage für weiterführende Bildungsmaßnahmen insbesondere für interreligiöse Kompetenz zu schaffen. Die Ergebnisse werden in der von der Katholisch-Theologischen und der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien herausgegebenen Reihe „Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft“ in englischer und deutscher Sprache in jeweils sechs Teilbänden publiziert.

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Unmöglichkeit ist, als religiös und konfessionell Verschiedene miteinander leben zu können bzw. zu dürfen. Mögliche Gründe dafür zu analysieren fehlt hier der Platz, ebenso den „Lernweg“ Europas nachzuzeichnen, an dessen Ende das Bemühen um Anerkennung der kulturellen und religiösen Vielfalt Europas steht. Aus historischen, rechtlichen, religiösen/konfessionellen, gesellschaftlichen und politischen Gründen ist die Bezeichnung des Faches, die Rechtsform, der Träger, die Aufgabe und das Selbstverständnis des Faches, aber auch dessen Ziele und Zielgruppe je nach Land verschieden. Schon bisher gab es Länder, in denen der Religionsunterricht in der Verantwortung des Staates gelegen ist, wie z. B. in England, Griechenland32 oder Norwegen. Das verstärkte öffentliche Interesse an Fragen religiöser Bildung trifft sogar im laizistischen Frankreich zu, das das Tragen religiöser Symbole in der Schule verbietet. Hier verlangte der „DebrayReport“33 bereits 2002 eine Verbesserung des Unterrichts über Religion an den staatlichen Schulen und legte dafür konkrete Vorschläge vor, besonders für die Lehreraus- und -fortbildung. Der Schweizer Kanton Zürich wiederum etablierte das neue Fach „Religion und Kultur“34, der Kanton Luzern das neue Fach „Ethik und Religionen“, Bosnien und Herzegowina wiederum entwickelten – in Zusammenarbeit mit dem deutschen Goethe-Institut – das Fach „Kultur der Religionen“ für die 10. bis 12. Schulstufe. Die Motive dafür sind verschieden. Während die Schweizer Kantone der religiösen Pluralität im Schulbereich mit einem neuen Pflichtfach Rechnung tragen wollen, geht es Bosnien und Herzegowina in gewissem Sinne um ein Friedensprojekt in einer auch religiösen Konfliktsituation.

6.

Empirische religionspädagogische Forschung35

Einblick in das Verständnis und die Praxis religiöser Bildung an Schulen in (West-)Europa angesichts religiöser Pluralität bieten zwei europäische Forschungsprojekte. „Religion in Education. A contribution to Dialogue or a factor 32 Wobei hier für Nichtorthodoxe die Möglichkeit der Abmeldung vom orthodoxen Religionsunterricht besteht. 33 Debray 2002. Zur Situation der religiösen Bildung in Frankreich sehr differenziert und informativ Schröder 2005. 34 Anstelle von „Biblische Geschichte“ (Primarstufe) und „Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht (KOKORU)“ (Sekundarstufe). URL: http://www.zh.ch/internet/bildungsdirektion/vsa/de/schulbetrieb_und_unterricht/faecher_lehrplaene_lehrmittel0/mensch_umwelt.html [14. 04. 2014]. 35 Um den Diskurs über religiöse Bildung an Schulen in (West-)Europa haben sich besonders evangelische Religionspädagogen verdient gemacht. Der schon viele Jahre zuständige Referent des Comenius Instituts, Münster, hat dazu seine Dissertation vorgelegt: Schreiner 2012; s. a.: Schweitzer 2013.

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of Conflict in transforming societies of European Countries (REDCo)” (2006 – 2009)36 ist das erste aus EU-Forschungsmitteln finanzierte religionspädagogische Projekt. Mit dessen Genehmigung wurde die Frage, inwieweit Religionen und Werte in Europa zu Dialog oder zu Spannungen beitragen können, als gesellschaftlich und politisch wichtige europäische Frage eingestuft. Zu diesem Projekt liegen umfangreiche Publikationen vor.37 Das ebenfalls aus EU-Mitteln finanzierte Thematische Netzwerk „Teaching Religion in a multicultural European Society (TRES)“38 (2005 – 2008) konzentrierte seine Arbeit auf drei Themen: „1. Multicultural situations and religious education in school”; „2.Religion in conflict”; „3. Religion and social welfare”. Daraus ist die erste empirische Studie39 hervorgegangen, an der 3.500 Religionslehrer und -lehrerinnen aus 16 Ländern beteiligt waren und deren Konzeption von Religionsunterricht dokumentiert und analysiert. Zu „Religion in conflict“ wurde ein Manual40 erstellt und zum dritten Themenbereich zwei Werke41 publiziert, die der Verbindung von „religion and welfare“ in acht europäischen Ländern nachgehen.

7.

Curricula und Schulbücher

Entspricht der konkrete Schulunterricht der Herausforderung religiöser Pluralität? Diese Frage ist grundsätzlich an alle Fächer zu stellen, nicht nur an den Religionsunterricht. Was im Schulunterricht tatsächlich geschieht, ist jedoch empirisch schwer zu erheben. Curricula als normative Vorgaben für den Unterricht und Schulbücher als die Unterrichtspraxis normierenden Interpretationen von Curricula bilden nicht die Unterrichtswirklichkeit ab, liefern aber wichtige Informationen über anerkannte oder jedenfalls akzeptierte Standards. Deshalb geben Curricula- und Schulbuchanalysen42 gute Hinweise, inwieweit junge Menschen durch den Schulunterricht Unterstützung für einen angemessenen Umgang mit religiöser Pluralität erhalten. Ein in Europa besonders wichtiger Indikator für einen pluralitätsgerechten Unterricht ist die Thematisierung des Judentums. In welchem Ausmaß die 36 Nähere Informationen unter URL: http://www.redco.uni-hamburg.de/web/3480/3481/index.html [11. 06. 2014]. 37 Die Ergebnisse in deutscher Sprache sind enthalten in: Josza 2009. 38 Nähere Informationen sind zu finden unter URL: http://www.tres-network.eu/tres-i/ [11. 06. 2014]. 39 Ziebertz / Riegel 2009. 40 Eynikel / Ziaki 2011. 41 Bäckström / Davie 2010; Bäckström / Davie 2011. 42 Eine umfangreiche Übersicht bietet Biener 2005.

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Schule die Herausforderung religiöser Pluralität nicht meistert, wird deutlich angesichts wachsender antisemitischer Handlungen in Europa43 in Verbindung damit, dass Jugendliche als fragmentarische Stereotype u. a. auch von der Schule vermitteltes „antisemitisches Wissen“ verwenden, ohne sich der Problematik bewusst zu sein, diese weit verbreiteten Vorurteile wiederzugeben.44 Als Quelle ihres „Wissens“ geben die Jugendlichen den Religions-, den Geschichts- und den Ethikunterricht an.45 Auch nach der jüngsten Studie ist das „Problem der ungewollten Tradierung antijüdischer Vorurteile (…) im christlichen Religionsunterricht nämlich noch keinesfalls gelöst“46. Ein ebenfalls wichtiger Indikator ist gerade angesichts von Islamophobie in Europa47 der Umgang mit dem Thema Islam. Für Judentum und Islam gibt es – jedenfalls im deutschen Sprachraum – seit Jahrzehnten zahlreiche Studien. Dazu zählt beim Thema Judentum besonders das Freiburger Projekt „Lernprozess Christen Juden“48 und beim Thema Islam das Kölner Projekt „Islam in den Schulbüchern der Bundesrepublik Deutschland“49. Sie machen aufmerksam, wie sachlich unangemessen und mit negativen Stereotypen verbunden diese beiden religiösen Traditionen in verschiedenen Fächern behandelt werden, bieten aber auch Kriterien für eine sachgemäße Thematisierung50 an, die hilft, verbreitete negative Stereotypen abzubauen. Zu Recht verlangte der Interreligiöse Arbeitskreis beim Interkulturellen Rat in Deutschland im Jahre 2003 die Überprüfung von Schulbüchern, „ob sie auf wissenschaftlicher Basis entwickelt worden sind, ob sie frei sind von Vorurteilen und Stereotypen und ob sie ein authentisches Verständnis der Religionen und Kulturen vermitteln.“51 Bei „Schulbüchern des konfessionellen Religionsunterrichts sollten die Kapitel, die andere Konfessionen und Religionen behandeln, von kompetenten Angehörigen dieser Konfessionen bzw. Religionen gegengelesen werden.“52 Schließlich ist in Geschichtsbüchern „darauf zu achten, dass

43 44 45 46 47 48 49 50 51

FRA 2013. Schäuble 2012, 385. A.a.O., 392; vgl. Spichal 2014, 31. Spichal 2014, 300. EUMC 2006. Biemer / Ehrlich 1980 – 1994. Falaturi 1986 – 1990. Falaturi / Tworuschka 1996. URL: http://www.interkultureller-rat.de/wp-content/uploads/Schulpapier-Mai2003.pdf [11. 06. 2014]. 52 Ebd. In der neuen Schulbuchreihe Islamstunde für den islamischen Religionsunterricht an Volksschulen in Österreich wird das Judentum von Rabbiner Schlomo Hofmeister und das Christentum von der evangelischen Theologin Susanne Heine vorgestellt: Shakir 2013, 52 – 55.

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nicht nur die Geschichte der Konflikte und Kriege, sondern auch die wechselseitige kulturelle Befruchtung zum Zuge kommt.“53 Die im Auftrag der Herbert Quandt Stiftung an der Universität Birmingham durchgeführte Curricula-Analyse mehrerer europäischer Länder54 deckte die gravierenden Mängel auf: In den Curricula für Sprache und Literatur wird Stoffen zu den abrahamischen Religionen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Der Präsenz von Juden und Muslimen in der Geschichte Europas wird zu wenig Rechnung getragen, weshalb diese an sich schon als fremd und problematisch betrachtet werden, deren Erwähnung im Laufe der europäischen Geschichte großteils in Konfliktsituation erfolgt. Aber auch der fortdauernden Präsenz von Christen wird zu wenig Rechnung getragen, ihre Erwähnung beschränkt sich großteils auf das Mittelalter. Beschränkt ist die Aufmerksamkeit auf den wechselseitigen Einfluss, den die drei Religionen in unterschiedlichen Bereichen hatten. Nur selten gibt es Hilfen, um Vorurteile gegen Juden, Christen oder Muslime zu untersuchen, klischeehafte Darstellung zu hinterfragen oder anzuzweifeln. Diese Analyse bietet u. a. Empfehlungen55 für die Lehrerausbildung und für die Erstellung von Unterrichtsmaterial56. Dabei geht es darum, grundlegendes und kritisches Wissen über die drei abrahamischen Glaubenstraditionen zu vermitteln. Schülerinnen und Schüler sollen ermuntert werden, simplifizierende und stereotype Darstellung von Identitäten in diesem Zusammenhang in Frage zu stellen, da Identitäten stets „konstruiert“, „situativ“ und „relational“ sind, und dabei auch über sich selbst lernen. Ziel ist, „ein kritisches Selbstbewusstsein zu entwickeln und imstande zu sein, mögliche Unterschiede nicht als Gegensatz zu begreifen.“57 Um einer religiösen Tradition angemessen zu entsprechen, ist auch deren innere Pluralität zu thematisieren, womit zugleich eine Stereotypisierung vermieden wird. Ergänzend wäre noch anzumerken: Erst wenn die literarischen Werke der MigrantInnen, einst abwertend Migrationsliteratur genannt, Eingang in die Schul-Literatur gefunden haben, sind diese in der Gesellschaft angekommen sowie von ihr angenommen und wird deren besondere Perspektive eröffnet. Dies gilt auch im religiösen Bereich. Die Aufnahme von z. B. deutsch-jüdischer und deutsch-muslimischer Gegenwartsliteratur, von Gellner / Langenhorst hervor53 URL: http://www.interkultureller-rat.de/wp-content/uploads/Schulpapier-Mai2003.pdf [11. 06. 2014]. 54 Erstmals wurde im Rahmen des Projektes „European identity and cultural pluralism“ der Herbert Quandt Stiftung Grundkenntnisse über „Islam and Muslims“, „Christians and Christanity“ und „Jews, Judaism und Jewish History“ beschrieben, zu denen auch die Diversität innerhalb der drei religiösen Traditionen gehört. Kaul-Seidman / Nielsen / Vinzent 2003a. 55 Kaul-Seidman / Nielsen / Vinzent 2003b. 56 Diese gelten grundsätzlich über die drei abrahamischen Religionen hinaus. 57 Kaul-Seidman 2007, 711.

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ragend gesichtet,58 wäre ein wichtiger Indikator für eine angemessene Wahrnehmung religiöser Pluralität im Raum der Schule.

8.

„Lernen in der Gegenwart des religiös Anderen“59

Einen angesichts religiöser Pluralität bedenkenswerten religionspädagogischen Ansatz hat Bert Roebben60 entwickelt, der als Herausforderungen, vor denen junge Menschen in der pluralen Gesellschaft stehen, Identität entwickeln und mit Diversität umgehen zu müssen („identity management“ und „diversity management“)61 identifiziert. Gesellschaftlich kommt Religion bei der Arbeit zur Identitätsentwicklung und Diversitätsbewältigung eine große Bedeutung in zweierlei Hinsicht zu: in „subjektiver Form“ als Religiosität, und in „objektiver Form“ als geschichtlich-institutionelle Größe. Der Lehrplan „Godsdienst/Levensbeschouwing“ in den Niederlanden etwa sieht folglich als Aufgabe des Religionsunterrichts, „die Eigenart von Religiosität in der Kommunikation mit institutionellen Religionen durch die Begegnung mit religiösen Menschen wahrnehmen, kennen und aneignen lernen“. Für Bert Roebben ist es ein europäisches Projekt, als Schicksalsgemeinschaft („fellowship of fate“) dialogisch mit religiöser Diversität umgehen zu lernen („fellowship of faiths“)62, und eine Aufgabe der Schule, junge Menschen bei der Auseinandersetzung mit diesen Herausforderungen zu unterstützen. Für die Behandlung religiöser Vielfalt in der Schule stehen drei Lernmodelle zur Verfügung:63 1) Das mono-religiöse Modell („learning in religion“), das darauf abzielt, junge Menschen in eine bestimmte religiöse Tradition einzuführen, dem aber ein eher sehr statisches Konzept dieser Tradition zugrunde liegt, deren Krisen sowie Ambivalenzen ausgeblendet bleiben. In der Regel sind die „Anderen“ dabei kein Thema.

58 Gellner / Langenhorst 2013. 59 Roebben 2011, 151. Zur Bedeutung der „Anderen“ s.a.: Jäggle 2006. 60 In besonderer Weise ist Bert Roebben ein europäischer Religionspädagoge: In drei europäischen Ländern lehrend (Leuven, B; Tilburg, NL; Dortmund, D), in drei europäischen Sprachen forschend und publizierend, als Experte des Europarates im Einsatz und viele Jahre Mitgestalter von Erasmus-Intensivprogrammen mit katholischen, evangelischen sowie orthodoxen Lehrenden und Studierenden aus sechs europäischen Ländern. 61 Siehe dazu: Roebben 2011, 139 f. 62 Roebben 2008. Europa als Reflexionshorizont einer „nationalen” Religionspädagogik ist im Ansatz realisiert in: Heimbrock 2004. In der religionspädagogischen Ausbildung war Europa der Reflexionshorizont bei der Seminarreihe „Comparative Religious Education in Europe“, die auf Initiative und unter Leitung von Alfred Gleißner, München, zehn Jahre lang an der Venice International University stattfand und bilanziert wird in: Bock 2007. 63 Roebben 2011, 141 – 144.

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2) Das multi-religiöse Modell („learning about religion“), das darauf abzielt, junge Menschen über verschiedene religiöse Traditionen zu informieren, aus der Beobachterperspektive mit dem Anspruch der „Objektivität“, was eine gewisse Gleich-Gültigkeit nahe legt und Religion als persönlich herausfordernde Lernchance verhindert. 3) Das inter-religiöse Modell („learning from religion“), das darauf abzielt, jungen Menschen einen perspektivischen Austausch über die unterschiedlichen Antworten der Religionen auf die Lebensfragen zu ermöglichen, wobei offen bleibt, „ob das spätmoderne multi-vokale Selbst“64 diese Vielfalt aushalten kann. Im Anschluss an eine kritische Analyse dieser Modelle greift Bert Roebben die programmatische Formulierung der US-amerikanischen Religionspädagogin Mary C. Boys auf: „Learning in the presence of the other“ und plädiert für interspirituelles Lernen, das auf Lernen durch Begegnung und Dialog angelegt ist. So wird die Fähigkeit verstärkt, „tiefer in das eigene sinngebende System zu blicken und die existentielle Unverwüstlichkeit, die es bietet, weiter zu erforschen.“ Außerdem führe dies zur Herausforderung, sich „selbst neu zu definieren und neu zu ,dignifieren‘ (also würdigen)“ zu müssen. Der belgische Religionspädagoge plädiert zu Recht dafür, die intra-religiöse Dimension als „learning in/ through religion“ in das Konzept des inter-religiöses Lernens neu einzubeziehen.65 Zusammenfassend charakterisiert Roebben sein integratives Modell66 : „Learning about religion“ zielt auf Kennen des Anderen auf der Basis von Information durch Dokumentation und fördert heuristische Kompetenz. „Learning from religion“ zielt auf Respektieren des Anderen auf der Basis von Interpretation durch Kommunikation und fördert soziale Kompetenz. „Learning in/through religion“ zielt auf „Mich selbst (aufs Neue) kennen und respektieren“ auf der Basis Konfrontation durch Begegnung und fördert existentielle Kompetenz. Bei den ersten beiden Lernformen geht es um „Unterschiedlichkeit (diff¦rence)“, bei der dritten Lernform um „Anderssein (alt¦rit¦)“. Es geht darum, Differenzen nicht zu nivellieren, sondern auszuhalten. Sie sind Zeichen für die Einzigartigkeit des Menschen, für seine Alterität und gerade deswegen für seine nicht-hintergehbare Teilnahme am Projekt „Humanität“ entscheidend. Eine Begegnung der Differenz benötigt Zeit und verträgt keine Idealisierung oder einen vorschnellen Perspektivwechsel. Die interkulturelle und interreligiöse Begegnung fordert heraus, sich selbst mehr zu respektieren als eine menschliche Person mit Würde, eine die different ist und Differenz in einem 64 A.a.O., 143. 65 A.a.O., 152 f. 66 A.a.O., 154.

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Dialog thematisieren kann, „‘to re-define and re-dignify oneself‘ in the encounter with the other.“67

9.

Religiöse Bildung – zwei Aufgaben und zwei Sprachen

Wird religiöse Bildung primär als Glaubensunterweisung (religious instruction) verstanden, ist sie ein Recht jedes Einzelnen68 und ein Recht der Eltern für ihr Kind69. Dem entspricht ein konfessioneller Religionsunterricht, der von den Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Regel auch gefordert und verantwortet wird.70 Das Recht auf Religionsfreiheit verlangt allerdings für einen an eine Konfession gebundenen Religionsunterricht entweder das Prinzip der Anmeldung (z. B. Italien) oder die Möglichkeit der Abmeldung (z. B. Deutschland und Österreich). Folgt man der Theorie von Gabriel Moran71, dann erwerben Kinder in Familie und Gemeinde ihre religiöse Muttersprache. Wird religiöse Bildung aber primär als Beitrag „zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft gegenüber allen (…) religiösen Gruppen“ verstanden72, dann wäre der Staat dafür verantwortlich, dies sicher zu stellen, in welcher Form auch immer. Folgt man auch hier der Theorie von Gabriel Moran, dann erwerben die jungen Menschen in der Schule die „religiöse Hochsprache“, die der Verständigung angesichts verschiedener religiöser Muttersprachen und dem Verständnis der eigenen religiösen Muttersprache dient.73

67 Roebben 2009, 146 – 148. 68 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 10, Abs. 1: „…die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen.“ URL: http://www.europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf [24. 02. 2014]. 69 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 16, Abs. 3: „… das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen, […]“. URL: http:// www.europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf [24. 02. 2014]. 70 Den Kirchen und Religionsgesellschaften steht natürlich die Möglichkeit der Kooperation offen. 71 Moran 1989. 72 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 26, Abs. 2. „Die Bildung muß auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muß zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein.“ URL: http://www.un.org/depts/german/grunddok/ar217a3.html [14. 04. 2014]. 73 Vgl. Sajak 2005, 166 – 171.

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10.

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Der Konflikt um religiöse Bildung

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die einen wesentlichen Anteil am Fall des Eisernen Vorhangs hatte, befasste sich im Rahmen ihres Programms „Toleranz und Nichtdiskriminierung“ mit der Frage der religiösen Bildung. In ihren 2007 von einer Expertengruppe des OHDR74 der OSZE vorgelegten Leitlinien „Toledo guiding principles on teaching about religions and beliefs in public schools“ sieht die OSZE religiöse Bildung als Teil eines qualitativ hochwertigen sowie den Horizont erweiternden Bildungssystems, die Religionen und Weltanschauungen in ihrer Komplexität interdisziplinär begreiflich macht und sachgerechte Information unter dem Anspruch der „Objektivität”, also unparteiisch, bietet, sowie die Religions- und Meinungsfreiheit fördert. In der Erarbeitung dieser Leitlinien war die Frage entscheidend, wie die als notwendig eingestufte religiöse Bildung für alle mit dem Grundsatz der Religionsfreiheit in Einklang gebracht werden kann. In Zusammenhang mit diesem Dokument wird der grundlegende Konflikt über die Rolle des Staates in der religiösen Bildung, die Aufgabe von Kirchen und Religionsgesellschaften sowie die Stellung eines konfessionellen Religionsunterrichts an der Schule sichtbar. So hat der Vatikan bereits vor der Präsentation große Bedenken geäußert: „The Document contains a reductive view of religion and a conception of the secular nature of States and their neutrality that obfuscates the positive role of religion, its specific nature and contribution to society. In doing so, the document contradicts what has always marked the OSCE’s understanding of religion.”75 In weiterer Folge wies die vatikanische Bildungskongregation die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen auf die Bedeutung der katholischen Erziehung und eines katholischen, konfessionellen Religionsunterrichts hin.76 Die vatikanische Stellungnahme war auch von der Sorge bestimmt, mit Hilfe des OSZE-Dokuments könnten die Bemühungen, den konfessionellen Religionsunterricht überhaupt aus der Schule zu entfernen, Unterstützung erhalten. Dass diese Sorge berechtigt war, zeigen mehrere Beispiele.77 In der Sorge wegen einer möglichen „Verstaatlichung“ des Religionsunterrichts 74 Office for Democratic Institutions and Human Rights (OHDR) der OSZE. 75 Monsignor Michael W. Banach: Permanent Representative of the Holy See, statement at the 685th Meeting of the OSCE Permanent Council, 1. November 2007. URL: http://www.osce.org/pc/28557 [24. 02. 2014]. 76 Congregation for Catholic Education: Circular Letter to the Presidents of Bishop’ Conferences on Religious Education in Schools, Rom 2009. URL: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/ccatheduc/documents/rc_con_ccatheduc_doc_20090505_circinsegn-relig_en.html [24. 02. 2014]. 77 Z.B. URL: http://www.teachdontpreach.ie/2013/03/toledo-guiding-principles/ [24. 02. 2014]. In dieser polemischen Zuspitzung wird dem konfessionellen Religionsunterricht jeglicher Bildungsauftrag abgesprochen, wenn er mit „preach“ charakterisiert wird.

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wird aber der wesentliche Fortschritt zu wenig gewürdigt, dass die öffentliche Schule in Europa grundsätzlich einen religiösen Bildungsauftrag hat, dessen Ziel Dialogfähigkeit ist und es in der Verantwortung des Staates liegt, allen einen Zugang zur religiösen Bildung zu ermöglichen. Der Anspruch, diese auf eine „objektive“ Information beschränken zu können oder zu müssen, begrenzt jedoch den Horizont von Bildung, schätzt etwa die Bedeutung von Religion, die sie für Schüler und Schülerinnen hat, zu gering ein und ist sachlich nicht einlösbar. Da Kultur, Bildung und Religion in der EU nationale Angelegenheiten sind, wird es kein europäisches Modell geben, das für religiöse Bildung an öffentlichen Schulen maßgeblich wäre, sondern bei einer Vielfalt bleiben. Doch die Frage nach der Sicherung einer religiösen Bildung für alle sollte in allen Staaten auf der Tagesordnung sein. Dabei muss auch das Zusammenwirken von Staat, Kirche und Religionsgesellschaften geklärt werden.

11.

Ausblick: (Religiöse) Differenz als Ressource

Gerade die durch Migration geförderte religiöse Pluralität kann eine Ressource sein, auch wenn sie für manche mit dem schmerzlichen Verlust von Hegemonie oder Dominanz verbunden ist. Diese Ressource öffnet sich aber nur in dem Ausmaß, in dem religiöse Pluralität Anerkennung findet, was grundsätzlich jeder der großen religiösen Traditionen möglich ist, – als von Gott eröffnete Chance. Vielfalt ist grundsätzlich nicht ein Problem, das vielleicht zu lösen wäre, sondern Kennzeichen einer Situation, in der es zu handeln gilt. Die Erfahrung von Differenz, eine Erfahrung durch die Bekanntes und Vertrautes fremd, fragwürdig, ja frag-würdig werden, gilt als Ermöglichungsgrund von Denken. Erwächst nicht Denken gerade aus Differenzerfahrungen? Denn die Normalität gibt aus sich heraus nicht zu denken. Differenz ermöglicht Selbsterkenntnis. Die (eigene) Fremdheit (und jene der anderen) wäre als Voraussetzung jeglicher Lernprozesse zu begreifen. Der erkenntnistheoretische Grundsatz „Anderes wird nur von Anderen erkannt“ tritt an die Stelle von „Gleiches wird nur von Gleichen erkannt“ und der gesellschaftstheoretische Grundsatz „Die Annahme der Anderen schafft Gemeinschaft in der Verschiedenheit“ tritt an die Stelle von „Gleich und Gleich gesellt sich gern.“78 Pluralität als Lernchance wird erschwert oder verhindert, wenn Differenz nicht sichtbar wird oder werden darf, wenn Differenz keine (öffentliche) Anerkennung hat, wenn alles gleich-gültig, Differenz also wert-los ist. Assimilierungszwang und Normalisierungsdruck verhindern Lernchancen; gefördert 78 Schlüter 2001, 285.

Herausforderung der religiösen Pluralität für die Schule

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werden diese, wenn z. B. die Frage und Suche nach Wahrheit als gemeinsame Frage und Suche verstanden und behandelt wird. Wäre nicht der Prozess religiöser Verständigung selbst manchmal eine Form spirituellen Lernens, besonders wenn er getragen ist vom grundlegenden Dialog des Lebens und dem Bemühen, „einander bei der Erforschung der Wahrheit zu Hilfe kommen“79 ? „Zu harmlos“ bliebe nicht nur für Zirker „die Wahrnehmung fremder Religionen – in einer von Aufklärung und Säkularisierung geprägten Welt“, wenn es nur „um einen harmonischen Zuwachs an Einsicht und einen versöhnlichen Abbau von Vorurteilen“ geht, nicht aber auch um „mögliche Anstöße zu weiterreichenden, manchmal vielleicht beunruhigenden Revisionen des eigenen religiösen Selbstverständnisses“80.

Es gilt zu bedenken, dass – was immer man unter religiöser Identität verstehen mag – für das Selbstverständnis von Menschen u. a. auch Kultur, Alter, Geschlecht, Bildung, soziale und gesellschaftliche Situation bzw. Stellung entscheidend sind.81 Die von E. Jouhny angeregte „kulturelle Selbstreflexion“ könnte auch „religiöse Selbstreflexion“, in der die Licht- aber auch die Schattenseiten der jeweiligen Bezugsreligion und „religiösen Identität“ zugelassen wären, ermöglichen, um einen Zugang zu finden, der die eigenen Begrenztheiten anerkennt und die eigenen Ressourcen stärkt. Die Aufgabe von Bildung sollte die problematische Realität von Phobie und Euphorie gegenüber (religiös) Anderen und Fremden bedenken und die Fähigkeit der Empathie fördern. Angemessen wäre jedenfalls eine religionssensible Bildung82 in und für spezifische, religiös heterogene Kontexte, die nicht primär auf ein völliges Verstehen von Religionen oder Menschen anzielt. Nicht die „Entfremdung“ des Fremden und der Fremden ist das Ziel, sondern eher einander in der Fremdheit zu begleiten. Religionssensible Bildung fördert die Fähigkeit, sich infrage stellen zu lassen, ohne sich selbst aufgeben zu müssen oder permanent verunsichert zu sein, fördert die Fähigkeit, Verschiedenheit wahrnehmen und anerkennen zu können und erschließt ein Verständnis von Religion jenseits der Kategorien „eigene Religion“ und „fremde Religion“. Bemühungen um religiöse Bildung in religiös heterogenen Kontexten benötigen stets eine große Sensibilität für die Macht- und Ohnmachtverhältnisse, für die Realität von Exklusion und Inklusion, für den gesellschaftlichen Zwang, vielleicht nur die Wahl einer Existenz zu haben zwischen Paria oder Parvenu, zwischen AußenseiterIn oder Emporkömmling, zwischen Absonderung oder Anpassung. 79 80 81 82

Dignitates Humanae 3. Zirker 1993, 309. Emmerich / Hommel 2013. Vgl. dazu Jäggle 2008.

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Martin Jäggle

Die Voraussetzungen, die Herausforderung religiöser Pluralität annehmen zu können, sind nicht sehr günstig. Das Bedürfnis nach Homogenität und Normalität ist gesellschaftlich zu groß und im kulturellen Gedächtnis tief verankert. Es ist eben nicht normal, verschieden zu sein. Dass in einer solchen Situation Dynamiken von Rückzug aus der Pluralität und damit verbunden der Ausschluss der Anderen einerseits und andererseits von Beliebigkeit und Gleich-Gültigkeit wirksam werden, liegt nahe. Im Horizont Europas sind dies keine zukunftsweisenden Wege.

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Herausforderung der religiösen Pluralität für die Schule

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Michael Bünker

Einheit in versöhnter Verschiedenheit. Evangelische Erfahrungen der Migration und Diaspora als Aufgabe der Kirchen

1.

Herkunft für die Zukunft

„Ich bin ein armer Exulant, also muss ich mich schreiben.“ Mit diesen Worten beginnt das Lied1 des Josef Schaitberger (geboren 1658 am Dürrnberg bei Hallein, gestorben 1733 in Nürnberg), der wegen seines evangelischen Glaubens gemeinsam mit rund 70 weiteren Personen während der Jahre 1686 und 1691 emigrieren musste2 : „Man tut mich aus dem Vaterland um Gottes Wort vertreiben.“ Die Emigration der Dürrnberger gehört in eine ganze Reihe solcher Vertreibungen. 1653 waren es rund 250 Personen aus dem oberösterreichischen Hausruckviertel, 1684 an die 600 Evangelische aus dem Defereggental in Ostirol bis zu den rund 15.000, die im Zuge der Salzburger Protestantenausweisung der Jahre 1731/32 das Land verlassen mussten. Ab 1734 folgten dann die planmäßig durchgeführten Transmigrationen, in deren Verlauf mehrere tausend Evangelische aus dem Salzkammergut, der Obersteiermark und Kärnten vor allem nach Siebenbürgen deportiert wurden.3 Gewissermaßen als Schlusspunkt ist an die im Jahr 1837 erfolgte Vertreibung der Zillertaler Protestanten zu erinnern.4 „Als Kind in Tirolens Bergesluft, als Jungfrau in Schlesiens Blütenduft/unter Kindern und Enkeln am stillen See/fand sie Ruh im Land Llanqichue.“ Dies ist die Grabsteininschrift von Therese Klocker, die 1818 in Mayerhofen im Zillertal geboren wurde und 1837, also mit 19 Jahren, auswandern musste. Gemeinsam mit den 427 anderen Evangelischen ließen sie sich im schlesischen Erdmannsdorf (heute Myslakowice) nieder. Die Nachkommen wurden von dort am Ende des Zweiten Weltkrieges wieder vertrieben. 1838 kam Therese Klocker mit rund 50 weiteren Personen nach Chile, wo sie sich im Ort Punta de los Bajos am See Llanqihue niederließen. Die Vertreibung der Zillertaler Protestanten 56 Jahre 1 2 3 4

Evangelisches Gesangbuch 1994, Nr. 625. Leeb 2003, 288. Buchinger 1980; Steiner 2007; Knall 2002. Kühnert 1975, 7 – 19; Liebmann 2003, 364.

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Michael Bünker

nach dem Toleranzpatent Kaiser Joseph‘ II. gilt als die letzte Zwangsemigration aus Glaubensgründen in Mitteleuropa. Aber die Migrationserfahrungen der evangelischen Kirche sind auch geprägt von den tausenden Evangelischen, die in den letzten Monaten oder nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aus dem Sudentenland, aus der Batschka, der Bukowina und vor allem aus Siebenbürgen umgesiedelt wurden oder geflüchtet sind bzw. vertrieben wurden und sich in Österreich ansiedelten.5 Die kulturellen und ethnisch geprägten Unterschiede machten es nicht leicht, gemeinsam Kirche zu sein. Dass aber zu guter Letzt dieses Ziel erreicht werden konnte, setzte auf beiden Seiten – bei den Zugewanderten und bei den ansässigen Evangelischen – eine hohe Integrationsbereitschaft und Integrationsfähigkeit voraus. Leitend für die Arbeit der Kirche waren Grundsätze, die der erste Bischof der evangelischen Kirche in Österreich, Gerhard May (1898 – 1980), in seinem Bericht anlässlich des Flüchtlingskongresses, der vom Weltkirchenrat, Vertretern der Besatzungsmächte, den österreichischen Kirchen und der österreichischen Regierung vom 17. – 19. Jänner 1950 in Salzburg durchgeführt wurde, gegeben hat. Der Bischof hält fest: „Die evangelische Kirche kennt keinen Unterschied zwischen Österreichern und Flüchtlingen. Die evangelische Kirche macht keinen Unterschied zwischen ’Displaced Persons’ und Volksdeutschen. Da die erhoffte Rückkehr in die Heimat gar nicht möglich sein werde und nicht alle in Deutschland unterkommen oder nach Übersee auswandern können, würden sehr viele ihre neue Heimat in Österreich finden müssen. Die Kirche müsse hier aktiv werden und dabei helfen.“6

Freilich fügt Bischof May gleich hinzu, dass diese Grundsätze keineswegs überall und völlig durchgeführt wurden, und zwar weder von Seiten der Österreicher noch von Seiten der Flüchtlinge. Die evangelische Kirche Österreichs ist eine Kirche mit Emigrations-, Transmigrations-, Deportationserfahrung und zugleich eine Kirche mit der Erfahrung der Schwierigkeit der Aufnahme von Zuwandernden. Migration und Vertreibungen gehören also zur Geschichte der evangelischen Kirche und sind in deren kollektivem Gedächtnis fest verankert.7 Um der Vollständigkeit dieses Befundes willen sei angemerkt, dass alle diese Erfahrungen allerdings nicht dazu geführt haben, dass die Evangelischen in der Zeit des Nationalsozialismus den von der Vertreibung und letztlich der Vernichtung bedrohten und betroffenen Jüdinnen und Juden zur Seite gestanden wären.8 Neben einigen Ausnahmen, wie etwa der Schwedischen Mission in der

5 6 7 8

Leeb 2010, 167 – 201. May 1950, Nr. 5,4. Hanisch-Wolfram / Wadl 2011. Schweighofer 2009, 22 – 36.

Einheit in versöhnter Verschiedenheit

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Seegasse im 9. Wiener Bezirk,9 überwog auch unter Evangelischen ein weit verbreiteter und tief verwurzelter Antisemitismus. Letztlich hat erst die Erklärung der Generalsynode der evangelischen Kirchen „Zeit zur Umkehr“ aus dem Jahr 199810 den Prozess des Umdenkens zum Abschluss gebracht und eine Grundlage für ein neues Miteinander von Evangelischen und Jüdinnen und Juden in Österreich ermöglicht. Mit dem Thema der Migration wird auch die europäische Gewaltgeschichte sichtbar. Europa ist nach Joschka Fischer „der aus Blut geborene Kontinent“, der sich dadurch definiert, wie sich seine Zukunft von seiner Vergangenheit unterscheidet. Die konfessionelle Situation hat sich dank der ökumenischen Bewegung, die gerade in Österreich sehr positiv verlaufen ist und bemerkenswerte Früchte bringen konnte, von einem abgrenzenden Nebeneinander oder gar polemischen Gegeneinander zu einem vertrauensvollen Miteinander entwickelt.11 Religionsvielfalt ist zum bestimmenden Faktor geworden. In Österreich gibt es heute mehr Muslime und Orthodoxe als Evangelische, das Land ist religiös längst nicht mehr – wie früher – von einer evangelisch-katholischen Zweipoligkeit bestimmt. Dazu kommt, dass sich alle Religionsgemeinschaften mit Ausnahme der römisch-katholischen Kirche zudem in einer zahlenmäßigen Minderheitssituation befinden. Aber selbst zur durch Jahrhunderte „dominanten“ römisch-katholischen Kirche gehören in Wien nur noch rund 46 % der Bevölkerung. Zur Religionsvielfalt kommt die fortschreitende Säkularisierung. Die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe ist in Österreich die der Menschen, die gar keiner Kirche oder Religionsgemeinschaft angehören, sogenannte Alltagsatheisten, Agnostiker und andere, die vielleicht schon vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben, unter ihnen auch viele, die dem modernen Geist der Individualisierung entsprechend ihre Religion selbst komponieren. Auf diesem Hintergrund ist die Veränderung von gesellschaftlicher und religiöser Landschaft durch die Migration zu sehen. Migration ist eine (nicht die einzige) der Ursachen der Religionsvielfalt, von der alle Kirchen Europas betroffen sind, und zwar die zahlenmäßig kleineren Kirchen vor den größeren und die städtischen Siedlungsgebiete vor den ländlichen. Im Blick auf Österreich lässt sich sagen, dass neben den Zuwandernden aus ferneren Ländern, unter denen die Evangelischen immer mehr eigene (migrantische) Gemeinden bilden, es vor allem Zuwandernde aus Deutschland sind, die auch für die evangelische Kirche von Bedeutung sind. Die Statistik zählt derzeit rund 200 000 Deutsche, die in Österreich leben; sie stellen damit die 9 Trinks 2001, 12 – 18; Adunka 2007, 8 – 13. 10 Bünker 2009, 9 – 18. 11 Ökumenischer Rat der Kirchen in Österreich 2008.

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Michael Bünker

größte Migrantengruppe.12 Wenn – wie in Deutschland – rund 30 % davon evangelisch sind, dann ist das die beachtliche Zahl von 70 000 Evangelischen, die zu Mitgliedern der hiesigen evangelischen Kirche geworden sind. Auch wenn in Betracht gezogen wird, dass die meisten der in Österreich aus Deutschland Zuwandernden aus den hochgradig entkirchlichten neuen Bundesländern kommen und daher die Zahl nach unten korrigiert werden muss, ist dies ein – gemessen an der Gesamtzahl der Mitglieder der evangelischen Kirche (nach eigener Zählung Anfang 2013 etwa 320.000) – mehr als beachtlicher Anteil. Es sind also nicht nur die historischen Erfahrungen mit Migration, die die evangelischen Kirchen geprägt haben, sondern die aktuellen Herausforderungen, die danach rufen, eine „migrationssensible“ (Regina Polak) Theologie und ein „migrationssensibles“ Kirchenverständnis zu entwickeln. Im Folgenden sollen dazu zwei Anregungen gegeben werden. Zuerst geht es um die Frage, ob sich für das Verhältnis von Migrationskirchen und Kirchen im Residenzland das evangelische Ökumenemodell der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ als Verständnisrahmen eignet. In einem zweiten Schritt wird versucht, die Aufgabe der Kirchen in der aktuellen Situation theologisch unter dem Stichwort der „Diaspora“ zu beschreiben.

2.

Einheit in versöhnter Verschiedenheit

Hinter dem Sammelbegriff „Migrationskirchen“ verbirgt sich eine große kulturelle, ekklesiologische und spirituelle Vielfalt. Zu den neuen Gemeinden in Österreich gehören solche, die in die gängigen und hierzulande vertrauten konfessionellen Gegebenheiten einzuordnen sind, wie die römisch-katholischen anderssprachigen Gemeinden, die orthodoxen und orientalisch-orthodoxen Kirchen und jene, die lutherisch, reformiert, methodistisch, anglikanisch oder baptistisch sind. Dazu kommen als zweite große und wachsende Gruppe jene Gemeinden, die überwiegend pfingstlich-charismatisch geprägt sind, es sind dies Gemeinden vornehmlich afrikanischen und asiatischen Ursprungs. Nicht wenige von ihnen verfolgen das Konzept einer „reverse mission“, d. h., sie betrachten Europa als Missionsgebiet und verstehen sich als gesandt, um die dem Christentum weitgehend entfremdeten Menschen im Residenzland für den Glauben (neu) zu gewinnen.13 Gerade für die protestantisch geprägten Kirchen und Gemeinden stellt sich die Herausforderung, „gemeinsam Kirche zu sein“. Dabei treten die bekenntnismäßigen Unterschiede gegenüber den ethnischen und kulturellen Diversitäten oft in den Hintergrund. Nach Theo Sundermeier 12 Statistik Austria. 13 Harfst 2011, 29 – 40.

Einheit in versöhnter Verschiedenheit

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gilt als Prinzip dieses gemeinsamen Kirche-Seins die „Konvivenz“, die er als Hilfs-, Lern- und Festgemeinschaft beschreibt.14 Dabei ist es hilfreich, die unterschiedlichen Entstehungsbedingungen der Migrationskirchen („Ekklesiogenesen“) zu unterscheiden. Benjamin Simon führt dies am Beispiel der afrikanischen Kirchen durch und stellt dabei drei Typen von „Ekkelsiogenesen“ heraus15 : Zum ersten Typ gehören jene Kirchen, die sich bereits seit dem frühen 20. Jahrhundert von den Missionskirchen gelöst haben und nun Gemeinden in europäischen Ländern gründen. Als zweites sind die – so die Terminologie von Simon – „diasporalen“ Kirchen zu nennen, die ihren Ursprung nicht in Afrika, sondern im Residenzland haben. Ihre Mitglieder gehören nicht zur selben Herkunftskirche, sondern finden sich erst in der neuen Heimat zusammen, indem sie sich aus kleinen, zuerst meist auch ethnisch identifizierbaren und sprachlich homogenen Hauskreisen entwickeln. Mit der strukturellen Verfestigung geht oft auch die Namensgebung einher, diese Kirchen heißen zum Beispiel „All Christian Believers Fellowship“, „International Triumphant Church of Christ“ oder ähnlich. Die dritte Gruppe umfasst die Kirchen, die sich einer transkulturalen Ekklesiogenese verdanken. Das sind jene Kirchen, die ihren Ursprung in der Diaspora des Residenzlandes haben, aber bereits Gemeinden in den Herkunftsländern und anderswo gegründet haben. Als Beispiel nennt Simon die „Christian Church Outreach Mission“, die 1982 in Hamburg entstand und mittlerweile Gemeinden in Ghana, Togo, Nigeria, Washington D.C. und Amsterdam gegründet hat. Für das Miteinander von Migrationskirchen und Kirchen im Residenzland ist nicht nur die Ekklesiogenese wichtig, sondern auch die in Phasen gegliederte Entwicklung der Migrationskirchen. Martin Baumann hat aus seiner Analyse von buddhistischen Vietnamesen und hinduistischen Tamilen ein fünfphasiges Entwicklungsmodell erarbeitet.16 In einer ersten Phase nach der oft traumatisch nachwirkenden Migration steht das Interesse an der eigenen Gruppe bzw. Familie im Vordergrund. Die Beziehungen zur Aufnahmeoder Residenzgesellschaft werden in erster Linie über die Arbeit definiert. Die zweite Phase ist gekennzeichnet durch den Wunsch, in der neuen Umgebung zu bleiben, meist bestärkt durch das Heranwachsen einer Nachfolgegeneration. Erst jetzt wird die Situation der Diaspora in vollem Umfang bewusst, vor allem durch den Assimilations- bzw. Konversionsdruck. Als Reaktion darauf werden die hergebrachten Traditionen und die Beziehungen zum Herkunftsland gestärkt. In einer dritten Phase tritt das Interesse am Land der ursprünglichen Emigration gegenüber dem der aktuellen Residenz zurück. Die bislang marginalisierte Gruppe sucht gesellschaftliche Gestaltungsräume zu erobern. Dabei 14 Sundermeier 1996, 154ff; dazu: Dümling 2011, 260 – 262. 15 Simon 2011, 86 – 98. 16 Baumann 2000.

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gerät sie nicht selten ins Dilemma zwischen der Treue zur Herkunftsgesellschaft und der Annäherung an die Residenzgesellschaft. Innere Differenzierungen sind die Folge. Sie sollten nicht durch ein kulturalistisches Verständnis der Religionszugehörigkeit unmöglich gemacht werden. Die vierte Phase ist in hohem Maße davon geprägt, welche Möglichkeiten die Residenzgesellschaft in rechtlicher, politischer, soziokultureller und ökonomischer Hinsicht eröffnet. Werden – vor allem durch Bildung und Arbeit – gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten gewährt, setzt sich der Prozess struktureller Anpassung fort. Ist dies aber nicht der Fall, kann es zum Rückzug in kulturell-religiöse Nischen kommen, die dann als „Parallelgesellschaften“ denunziert werden. In dieser besonders kritischen Phase kann es zu Konflikten und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen kommen, die sich besonders gut als „religiös“ klassifizieren lassen, denn sie werden meist über den Streit um religiöse Symbole und Rituale (als Stichworte seien Minarettbau, Kopftuch, Kruzifix, Beschneidung, Schächten u. a.m. genannt) ausgedrückt. Kommt es also in der vierten Phase zur Gewährung gesellschaftlicher Teilhaberechte und Teilhabemöglichkeiten, setzt sich in der fünften Phase die strukturelle Anpassung fort. Als Beispiele werden von Baumann die jüdischen Gemeinden im antiken Alexandrien und für heute die hinduistischen Gemeinschaften auf Trinidad genannt. Sie identifizieren sich in hohem Grad mit dem Residenzland, sprechen dessen Sprache, tragen die landesübliche Kleidung und orientieren sich in ihren Haltungen und Erwartungen weitgehend an denen der Gesellschaft, in der sie leben. Gleichzeitig nimmt diese Diasporagruppe im öffentlichen Raum einen gleichwertigen Platz ein, sie wird sichtbar durch große öffentliche Feste und sichtbare religiöse und kulturelle Gebäude nach Möglichkeit in den Zentren der Städte.17 Bezogen auf das Verhältnis der Migrationskirchen zu den Kirchen der Residenzgesellschaft hat Benjamin Simon ein in der Sache sehr ähnliches, aber vereinfachtes dreiphasiges Entwicklungsmodell vorgeschlagen.18 In der ersten Phase sind die Migrationskirchen vorwiegend mit inneren Findungsprozessen beschäftigt. Sie sind monoethnisch und monokulturell zusammengesetzt und unterhalten so gut wie keine ökumenischen Kontakte und entfalten keine (missionarische) Wirkung nach außen. Simon nennt das die „Phase der Seklusion“. In einer zweiten Phase („Phase der Öffnung“) führen die Migrationskirchen eine europäische Sprache als Gottesdienstsprache ein und öffnen sich für Mitglieder gleich welcher ethnischen Herkunft. Sie werden vielsprachig und multikulturell und beginnen mit aktiver Missionsarbeit. In der dritten Phase („Phase der Interkulturation“) haben Europäer Zugang zur migrantischen Gemeinde gefunden und in ihr auch leitende Funktionen übernommen. Es kommt 17 Baumann 2003, 302 – 304; Baumann 2005. 18 Simon 2011, 92 – 94.

Einheit in versöhnter Verschiedenheit

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zu einem regen gegenseitigen Austausch im Sinn einer „Interkulturalität“19, die ökumenischen Verbindungen sind gefestigt. Die Beachtung dieser in Phasen verlaufenden Entwicklung, die noch dazu nicht linear verläuft, kann den Kirchen des Residenzlandes helfen, ihre Beziehungen zu den Migrationskirchen in Wahrnehmung des jeweiligen Identitätsbewusstseins und sensibel gegenüber dem „Prozess des ständigen Balancierens“20, den die Migrationskirchen zu bewältigen haben, zu gestalten. Die Migrationskirchen stellen die ansässigen Kirchen vor neue Herausforderungen. Klassische Wahrnehmungsmuster und konfessionelle Zuordnungen werden in Frage gestellt. Dabei geht es nicht um „Integration“ in dem Sinn, dass sich die Migrationskirchen ein- und anzupassen hätten, sondern um ein gegenseitiges Geben und Nehmen auf der Grundlage des Respekts und der Anerkennung. In diesem Prozess kommt es zu Veränderungen auf beiden Seiten, das ökumenische Miteinander verlangt nach Neuanpassung, nach einer Rekonfiguration. Dafür bietet sich das Leitbild der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ an. Dieses Leitbild wurde im Rahmen des Lutherischen Weltbundes in den 1970er Jahren für die communio der lutherischen Kirchen weltweit entwickelt. Es ist geeignet, das Miteinander von Kirchen als Kirchengemeinschaft zu beschreiben. Kirchengemeinschaft besteht aus Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft, aus der gegenseitigen Anerkennung der Ämter und der möglichst großen Gemeinsamkeit in Zeugnis und Dienst in der Welt. Das Modell der Kirchengemeinschaft als „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ ist durch die Leuenberger Konkordie (1973)21 in der „Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE)“ umgesetzt worden. Die Absicht hinter dem Text der Leuenberger Konkordie war, die mehr als 450-jährige Kirchenspaltung im Protestantismus Europas, also speziell zwischen den lutherischen, reformierten und unierten Kirchen, zu überwinden. Dazu mussten die gegenseitigen Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts daraufhin überprüft werden, ob sie den gegenwärtigen Stand der Lehre in der jeweiligen Kirche (noch) treffen. Dieses Verfahren hat sich auch in anderen ökumenischen Verständigungskontexten bewährt, etwa bei der Erstellung der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ zwischen dem Lutherischen Weltbund und dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen aus dem Jahr 1999. Der Leuenberg-Prozess ist aber darüber hinausgegangen und hat auch danach gefragt, ob diesen gegenseitigen Lehrverurteilungen der Vergangenheit heute noch eine kirchentrennende Wirkung zukommt. Wo dies verneint werden kann und ein gemeinsames Verständnis des 19 Zu diesem Begriff: Simon 2011, 94. 20 Krappmann 2000, 32 ff. 21 Der Text wurde dreisprachig neu aufgelegt: Bünker / Friedrich 2013.

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Evangeliums als der befreienden und frohmachenden Botschaft von der Gnade Gottes gegeben ist, kann gegenseitige Kirchengemeinschaft erklärt und verwirklicht werden. Heute sind es 107 Kirchen, die zur GEKE (Gemeinschaft Evangelischer Kirchen Europas) gehören. Zu den schon genannten Konfessionen kamen die Waldenser und Böhmischen Brüder, die Hussiten und Methodisten. Das Besondere dieses Ökumenemodells liegt darin, dass bei bleibender Bekenntnisverschiedenheit Kirchengemeinschaft realisiert werden kann. Die Konkordie formuliert das so: „Kirchengemeinschaft im Sinne dieser Konkordie bedeutet, dass Kirchen verschiedenen Bekenntnisstandes aufgrund der gewonnenen Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums einander Gemeinschaft an Wort und Sakrament gewähren und eine möglichst große Gemeinsamkeit in Zeugnis und Dienst an der Welt anstreben“ (LK 29).

Dahinter steht ein ganz bestimmtes Verständnis dessen, was „Kirchengemeinschaft“ bedeutet. Unter Rückgriff auf Artikel 7 der Confessio Augustana, der maßgeblichen Bekenntnisschrift evangelischer Kirchen aus dem Jahr 1530, heißt es in der Konkordie: „Nach reformatorischer Einsicht ist darum zur wahren Einheit der Kirche die Übereinstimmung in der rechten Lehre des Evangeliums und in der rechten Verwaltung der Sakramente notwendig und ausreichend“ (LK 2).

Dieses gemeinsame Verständnis des Evangeliums wird in der Rechtfertigungsbotschaft als der „Botschaft von der freien Gnade Gottes“ gesehen. Auf der Basis dieser Botschaft kommt es zu Lehrausprägungen und Bekenntnisbildungen, die unterschiedlich sein können. Diese Unterschiede betreffen nicht den Glaubensgrund, wohl aber die kirchliche lehrhafte Reflexion des Glaubensgrundes. Weil sie auf dieser gegenüber dem Glaubensgrund abgeleiteten Ebene angesiedelt sind, stellen sie keine Ursache dar, die Kirchengemeinschaft zu verweigern. So ist es möglich, dass bekenntnisverschiedene Kirchen miteinander in Kirchengemeinschaft stehen. Mit dieser Einsicht wurde der Weg frei, die Kirchengemeinschaft zwischen den Kirchen zu erklären. Wichtig ist freilich auch der Hinweis, dass eine „Vereinheitlichung, die die lebendige Vielfalt der Verkündigungsweisen, des gottesdienstlichen Lebens, der kirchlichen Ordnung und der diakonischen wie gesellschaftlichen Tätigkeit beeinträchtigt, […] dem Wesen der mit dieser Erklärung eingegangenen Kirchengemeinschaft widersprechen“

würde (LK 45). Vor allem dieser Satz gibt den Anhalt dafür, dass man später das Modell der Kirchengemeinschaft nach der Leuenberger Konkordie mit der Formel „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ umschrieben hat. Heute könnte man dieses

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Modell auch als Einheit in Identität und Differenz bzw. Einheit von Identität und Differenz bezeichnen. Dieses Modell ist nicht nur zukunftsweisend für das ökumenische Miteinander der christlichen Kirchen auf dem Weg zu mehr Gemeinschaft, es kann auch im Sinne der Analogie für das Zusammenleben in Gesellschaften, die von Pluralität gekennzeichnet sind, von Relevanz sein. In der Charta Oecumenica (2001) heißt es: „Die Vielfalt der regionalen, nationalen, kulturellen und religiösen Traditionen betrachten wir als Reichtum Europas. Angesichts zahlreicher Konflikte ist es Aufgabe der Kirchen, miteinander den Dienst der Versöhnung auch für die Völker und Kulturen wahrzunehmen. Wir wissen, dass der Friede zwischen den Kirchen dafür eine ebenso wichtige Voraussetzung ist […]. Zur Versöhnung gehört es, die soziale Gerechtigkeit in und unter allen Völkern zu fördern, vor allem die Kluft zwischen Arm und Reich, sowie die Arbeitslosigkeit zu überwinden. Gemeinsam wollen wir dazu beitragen, dass Migranten und Migrantinnen, Flüchtlinge und Asylsuchende in Europa menschenwürdig aufgenommen werden.“22

Gemeinsam Kirche sein nach dem Modell der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ würde also die jeweilige Identität nicht in Frage stellen, aber gleichzeitig für den Prozess des zusammen Wachsens und des Zusammenwachsens einen Deutungsrahmen in hoher ekklesiologischer Reflexivität bieten.

3.

Diaspora als Begriff der Theologie Ave Diaspora mit reverentia! Du bist das Salz der Erd‘, Ave! Du bist es wert! (Offbg. 3,4)23

Das sind die Anfangsworte aus einem Hymnus, den der erste „Bischof“ der Herrnhuter Brüdergemeinde, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700 – 1760), verfasst hat. Er hatte auf seinem Gut in Berthelsdorf in der Lausitz die aus Böhmen und Mähren vertriebenen oder ausgewanderten Evangelischen zur „Brüdergemeine“ gesammelt. Bald fand seine Gemeinschaft Anhänger, die weit verstreut in ganz Europa lebten und ihre Form des christlichen Glaubens in anderen, bereits existierenden Kirchen umzusetzen versuchten. Diese waren für Zinzendorf die Diaspora, eben im Unterschied zu denen, die in der Gemeinde am Ort beieinander waren. Sie sollten nicht eigene Gemeinschaften bilden, sondern ihren von Gott gegebenen Auftrag erfüllen, wie das von Jesus in der 22 Charta Oecumenica 2001, Abschnitt 8. 23 Bettermann 1936, 408 – 415 (413).

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Bergpredigt erwähnte Salz (Mt 5,13) in der Christenheit zu wirken. Hier sind die Wurzeln der Herrnhuter und speziell Zinzendorfs im Pietismus deutlich zu spüren. Zinzendorfs Diaspora ähnelt der ecclesiola in ecclesia seines Taufpaten Philipp Jakob Spener (1635 – 1705): Sie sind als Freiwilligengemeinden innerhalb der bestehenden Volkskirchen die „Zeugen der Wahrheit“ (Matthias Flacius Illyricus, 1520 – 1575). Später, als sich gegen den Willen Zinzendorfs die „Brüdergemeine“ als eigene Kirche etablierte, bildeten die Diaspora jene Anhänger, die vereinzelt und verstreut „in der Welt“ lebten. Es ist hier nicht notwendig, auf Details der Kirchengeschichte näher einzugehen; festzuhalten ist allerdings, dass bei Zinzendorf etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts der Begriff der Diaspora in einem positiven Sinn verwendet wird: Ave Diaspora mit reverentia. Du bist das Salz der Erd‘, Ave! Du bist es wert! Das ist deshalb bedeutsam, weil ja die biblischen Grundlagen des Begriffs das gar nicht sofort erwarten lassen.24 Dazu eine kurze Erinnerung:25 Der Begriff Diaspora ist griechisch und bedeutet zuerst einmal „Zerstreuung“. In diesem Sinn verwendet diesen Begriff die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die sogenannte Septuaginta, wenn von der Zerstreuung der Juden unter alle Völker geredet wird. Die bekanntesten Stellen, an denen dies der Fall ist, stehen in Jesaja 15,7; Deuteronomium 30,3ff; Nehemia 1,9 oder Psalm 147,2. Diaspora – das waren jene Jüdinnen und Juden und jüdische Gemeinden, die nicht oder nicht mehr im verheißenen Land leben konnten. Es war ein beklagenswertes Schicksal, das zumeist als Folge eines Gottesgerichts gedeutet wurde. Freilich finden wir starke Aufrufe, auch dieses Schicksal aus der Hand Gottes anzunehmen und positiv zu deuten. Auch in der Diaspora – wie im Exil – war Gott gegenwärtig und hörte seine Zuwendung und schützende Begleitung des Volkes nicht auf. Aber im Grunde war die Diaspora immer überstrahlt von der Hoffnung auf Sammlung und Rückkehr. Diese Hoffnung – das sahen die Betroffenen – würde sich wohl erst am Ende der Zeiten endgültig erfüllen. Einen markanten Wendepunkt nimmt das Jahr 70 nach Christus ein, in dem der jüdische Aufstand von den römischen Legionen niedergeschlagen und der Tempel in Jerusalem mitsamt der Stadt zerstört wurde. Nach dem sogenannten BarKochba Aufstand am Anfang des zweiten Jahrhunderts (132 – 135 n. Chr.) wurde es dann den Jüdinnen und Juden überhaupt verboten, in Israel/Palästina zu leben. Die Diaspora war zum aufgezwungenen Normalfall geworden und nicht mehr eine Ausnahmesituation, deren Ende man sehnlich herbeiwünschte. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war es also für Jüdinnen und Juden der Normalzustand, Diaspora zu sein. Erst mit dem Zionismus sollte sich das ändern.26 Nun 24 Grundlegend zur theologischen Reflexion von Diaspora: Krüger 2011. 25 Dazu: Schnackenburg 1971, 321 – 336. 26 Morgenstern 2010, 33 – 57; Brenner 2010 / 2011, 11 – 13; Loewy 2012, 195 – 206.

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wurde die Rückkehr ins „Gelobte Land“ zu einem politischen Programm und die zionistische Bewegung – zuerst noch ohne jede religiöse Fundierung – begann, dieses Programm umzusetzen. Das Menschheitsverbrechen des Holocaust und die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 bestätigten für viele die Richtigkeit dieses Weges. Von den biblischen, vor allem den alttestamentlichen Wurzeln her, ist Diaspora also ein negativ empfundener Zustand. Sie ist zwar Realität und diese Realität entspringt manchmal sogar dem Willen Gottes, der auch in der Zerstreuung sein Volk nicht verlässt, aber dennoch bleibt die Hoffnung auf endzeitliche Sammlung der Erwählten von allen Enden der Erde und damit die Überwindung und das Ende der Diaspora. Im Neuen Testament kommt das Wort Diaspora nur an drei Stellen vor, nämlich Johannes 7,35; 1 Petrus 1,1 und Jakobus 1,127. Dabei bezieht sich die Stelle im Johannesevangelium auf die Juden, kann also für die Selbstbeschreibung der ersten Christinnen und Christen unberücksichtigt bleiben. In den beiden Apostelbriefen beschreibt „Diaspora“ die Situation der Adressaten der Briefe. 1 Petrus 1,1: „Petrus, ein Apostel Jesu Christi, an die auserwählten Fremdlinge, die verstreut wohnen in Pontus, Galatien, Kappadozien, der Provinz Asien und Bithynien, die Gott der Vater ausersehen hat durch die Heiligung des Geistes zum Gehorsam und zur Besprengung mit dem Blut Christi: Gott gebe euch viel Gnade und Frieden!“

Grundsätzlich werden die Christinnen und Christen als Fremde in der Welt angeredet, die durch die Erwählung Gottes hier – unter den Bedingungen dieser Welt und dieser Zeit – nicht mehr ganz und auch nicht recht beheimatet sind. Die Gemeinschaft der Zerstreuten ist das Haus in unbehauster Zeit, die Heimat für die Heimatlosen. Das Grundgefühl der Heimatlosigkeit der ersten Gemeinden begegnet auch an anderen Stellen des Neuen Testaments, am bekanntesten wohl bei Paulus, wenn er im Brief an die Philipper schreibt, dass die Christen ihr Bürgerrecht – ihre Heimat – im Himmel haben (Phil 3,20). Im Brief des Jakobus heißt es: „Jakobus, ein Knecht Gottes und des Herrn Jesus Christus, an die zwölf Stämme in der Zerstreuung: Gruß zuvor!“ (Jak 1,1). Es ist klar, dass hier mit den zwölf Stämmen nicht die in der Zerstreuung lebenden Juden gemeint sind, sondern dass diese Bezeichnung auf die christliche Gemeinde übertragen wird. Jakobus fährt gleich fort, in dem er auf die Anfechtungen zu sprechen kommt, denen die Glaubenden ständig und überall ausgesetzt sind. Ihr Glaube bewirkt die Geduld, die notwendig ist, um bis ans Ende unversehrt und ohne Makel bestehen zu können. Zusammenfassend ist zu sagen, dass es in den biblischen Texten keine breite Basis gibt, auf der von der Kirche als Diaspora gesprochen werden könnte. Zudem begegnet der Begriff zumeist nicht in einem positiven 27 Niederwimmer 1998, 102 – 112.

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Sinn, sondern beschreibt eher eine Übergangszeit, deren Ende herbeigesehnt wird. Erst wenn wir auf andere Stellen, wie etwa den Missionsauftrag bei Matthäus (Mt 28,18ff) zurückgreifen, kann der „Zerstreuung“ auch ein positiver Sinn zugesprochen werden. Diaspora steht dann unter dem Spannungsfeld von Sammlung und Sendung. Rüdiger Lux hat den Unterschied zwischen dem jüdischen und dem christlichen Verständnis von „Diaspora“ kurz zusammengefasst. Er meint, das jüdische Verständnis von Diaspora sei durch zentripetale Kräfte bestimmt, nämlich die ständige Hoffnung auf endgültige Rückkehr nach Jerusalem, zum Zion oder ins verheißene Land, während das Diasporaverständnis der ersten christlichen Gemeinden eher zentrifugal zu verstehen ist, nämlich vom Gedanken der Sendung von Jerusalem aus zu allen Völkern und bis an die Enden der Welt. Aber auch das ist eingebettet in das Hoffnungsbild der endgültigen Sammlung bei Gott.28 In späterer Zeit ging man im Verständnis von Diaspora über die ausdrücklichen Nennungen des Wortes in den biblischen Schriften hinaus und bezog andere Stellen ein, um die Stellung der Kirche in der Welt zu deuten. Dabei wurde nicht nur auf den schon erwähnten Missionsauftrag zurückgegriffen, sondern vor allem auf Aussagen Jesu in der Bergpredigt. Diaspora – das ist die Stadt auf dem Berge29 ; Christinnen und Christen sind berufen, Salz der Erde und Licht der Welt zu sein. Bei Zinzendorf hat diese Verbindung – wohl zum ersten Mal – ihren Ausdruck gefunden. Diaspora wäre dann nicht ein mehr oder weniger negativ verstandener Übergangszustand, eine Ausnahme von der Regel, sondern der Normalfall der Existenz der Kirche in der Welt. Sie hätte dann als theologische Beschreibung auch nichts zu tun mit der soziologischen Frage, ob eine Kirche in der jeweiligen Bevölkerung eine zahlenmäßige Mehrheit oder Minderheit darstellt, sondern würde für alle Kirchen gelten, unabhängig von der jeweiligen konfessionellen oder gesellschaftlichen Situation. Diaspora wird so nicht mehr vornehmlich (negativ) verstanden als die Zerstreuung, sondern (positiv) als die Aussaat, das „Ausgestreut-Sein“ im Ackerfeld der Welt. Der katholische Theologe Karl Rahner (1904 – 1984) hat ganz in diesem Sinn Diaspora auf die Situation der Kirche heute angewandt: „Die christliche Situation der Gegenwart ist, soweit sie wirklich von heute und für morgen gilt, charakterisierbar als Diaspora, welche ein heilsgeschichtliches Muss bedeutet, aus dem wir für unser christliches Verhalten Konsequenzen ziehen dürfen und müssen.“30

Kirche kann gar nicht anders sein als ausgestreutes Saatgut, dem die Verheißung der hundertfachen Frucht gilt, auch wenn es immer die Erfahrung von Dornen, 28 Lux 2010, 9. 29 Dantine 2001, 48 – 89. 30 Rahner 1988, 24; dazu: Röhrig 1993, 91 – 100.

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Hecken, felsigem Boden und Misserfolg gibt, wie unter Aufnahme des Gleichnisses vom Sämann, vom vierfachen Ackerfeld formuliert werden kann (Mk 4). Diese Spannung prägt den Diasporabegriff bis heute.

4.

Die evangelische Kirche in Österreich als Diasporakirche

Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung im heutigen Österreich war in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts evangelisch. Ein blühendes Kirchenwesen mit Schulen, Universitäten, Gemeinden und Druckereien war entstanden. Mit dem Einsetzen der Gegenreformation verschwand die evangelische Kirche fast vollständig. Es folgten sechs Generationen des sogenannten Geheim- oder Untergrundprotestantismus, wo der Glaube in der bäuerlichen Bevölkerung von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Dies war eine Kirche ohne Pfarrer und ohne Organisation, die Frömmigkeit speiste sich aus dem Lesen von Andachts- und Predigtbüchern und natürlich der Heiligen Schrift. Nach dem Toleranzpatent von Kaiser Joseph II. im Jahr 1781 bildeten sich aus der bäuerlichen Bevölkerung die sogenannten „Toleranzgemeinden“, vorwiegend in eher abgelegenen inneralpinen Tälern. In vielen von ihnen stellen die Evangelischen bis heute die Mehrheit der Bevölkerung, etwa in Ramsau am Dachstein, Gosau, Techendorf am Weissensee und anderen. Diese Toleranzgemeinden leben in der Diaspora, insofern sie Angehörige der zahlenmäßigen Minderheitskirche in Österreich sind, aber ihre Mitglieder würden sich nicht als Diasporakirche verstehen. Sie verstehen sich als die „rechte, alte Kirche“, die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche Jesu Christi, wie wir sie im Glauben bekennen.31 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs die evangelische Kirche durch Übertritte aus dem Katholizismus. Die sogenannte Los-von-Rom Bewegung32 brachte ein starkes Wachstum, vor allem in den Städten. Das waren nun keine Bauern mehr, sondern Lehrer, Rechtsanwälte, Ärzte und andere Angehörige des mittleren und gehobenen Bürgertums. Bildeten sie eine Diaspora? Wenn ja, war sie viel stärker vom Gegensatz zum Katholizismus, der großen Mehrheitskirche, geprägt als die der Evangelischen in den Toleranzgemeinden. Einen weiteren Wachstumsschub erfuhr die österreichische Kirche am Ende des Zweiten Weltkrieges, als eine große Zahl von Evangelischen aus dem Sudetenland, aus der Batschka, der Bukowina und vor allem aus Siebenbürgen ihre Heimat verlassen mussten bzw. aus ihr vertrieben wurden und sich auch in Österreich ansiedelten.33 In welcher Weise lassen sie sich als Diaspora be31 Leeb / Scheutz / Weikl 2009. 32 Trauner 1997. 33 Leeb 2010, 167 – 201; May 1950, Nr. 5,4.

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schreiben? Zuhause waren sie ja – etwa in Siebenbürgen – Angehörige einer Mehrheitskirche gewesen und hatten sich jetzt als Minderheit neu einzurichten. Ihre Situation war nicht so sehr durch die Konfession geprägt, als vielmehr durch kulturelle und ethnische Faktoren. Es ist ja ein Kennzeichen der evangelischen Kirchen im gesamten südostmitteleuropäischen Raum, dass sie oft zugleich ethnisch bestimmt waren. Seit dem 19. Jahrhundert sprach man daher von einer „doppelten Diaspora“, nämlich der kirchlichen und der ethnisch-kulturellen. Seit dem späten 19. Jahrhundert und als Folge des Nationalismus erhielt dieses ekklesiologische Selbstverständnis als Diaspora einen stark ethnisch geprägten Beiklang. Die Unterstützung evangelischer Gemeinden und Kirchen war oft zugleich mit politischen Absichten verbunden und diente zur Stärkung des Deutschtums. Der eingangs erwähnte erste Bischof der evangelischen Kirche dieser Region, Gerhard May, kann als ein prominenter Vertreter dieser doppelten Diaspora gelten. Er war Pfarrer in Cilli/Celje im heutigen Slowenien und verstand seine pastorale Tätigkeit anfangs auch als Stärkung des deutschen Volkstums in der Grenzsituation angesichts der katholischen und slowenischen Mehrheitsbevölkerung.34 1934 gab er seiner Heidelberger Dissertation den Titel: „Von der volksdeutschen Sendung der Kirche“35. Später, nachdem offenkundig geworden war, dass sich die evangelische Kirche für ideologische Zwecke hat instrumentalisieren und missbrauchen lassen, begann Gerhard May ein differenzierteres Bild zu entwickeln und distanzierte sich von der bis dahin weithin üblichen Ineinssetzung von Diasporahilfe und Volkstumspolitik.36 Franz Lau hat in diesem Zusammenhang von der „schweren Versuchung“ der doppelten Diaspora gesprochen.37 Wilhelm Dantine (1911 – 1981), Theologieprofessor in Wien, hat das Thema der Diaspora zeitlebens beschäftigt. Für ihn war das „Ausgestreut-Sein“ der Kirche im Ackerfeld der Welt biblisch, ja durch seine Verwendung der Weizenkorn-Metaphorik aus dem Johannesevangelium (Joh 12,24) sogar kreuzestheologisch zugespitzt begründet und damit kein zu bedauerndes Geschick, sondern eine mutig anzupackende Herausforderung für die Kirche.38 Hinsichtlich der Rolle der ethnischen Zugehörigkeit und im Blick auf die „doppelte Diaspora“ sprach er lieber abgrenzend von den „außertheologischen Faktoren“ im Leben einer Diasporakirche, die immer nur ein begrenztes Recht haben.39 Wenn also die evangelische Kirche in Österreich als Diasporakirche bezeichnet wird, muss man genau hinschauen und wird feststellen, dass es mehrere Deutungsvarianten von Diaspora gibt, die diese Kirche 34 35 36 37 38 39

May 1935, 107 – 123; dazu: Schwarz 2006, 9 – 40; Röhrig 1991. May 1934. May 1940, 459 – 480. Lau 1953, 3 f. Dantine 1967, 37 – 56. Dantine 2001a, 222 – 229.

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prägen. Es kann damit einmal ganz allgemein die Minderheitensituation gemeint sein, dann als zweites die konfessionelle Situation und schließlich drittens die kulturell-ethnischen Unterschiede beschreiben. Es gibt also mehrere und verschiedene „Diasporas“ in der Diaspora. Heute stellt sich im Blick auf die migrantischen Gemeinden die überholt geglaubte Frage der „doppelten Diaspora“ neu. Was sind diese Gemeinden in erster Linie? Sind sie evangelisch oder erst einmal deutsch, schwedisch, finnisch, ghanaisch, koreanisch oder ungarisch? Die Evangelische Kirche in Österreich ist bestrebt, die migrantischen Gemeinden in die Kirche zu integrieren, ihnen denselben Status zuzuerkennen wie den Gemeinden der ansässigen Kirche und ihnen selbstverständlich ihre kulturelle Eigenart zu lassen. Vielsprachigkeit und Interkulturalität sind in dieser Sicht nicht in erster Linie als Gefahr zu sehen, sondern als eine Bereicherung durch Vielfalt. Dies gilt auch für das gemeindliche Leben und die Vielfalt des gottesdienstlichen Lebens. Die migrantischen Gemeinden machen etwas vom weltumspannenden Leib Christi sichtbar und sie ermöglichen es auch der Kirche in der Residenzgesellschaft, die weltumfassende Kirche erlebbar und erfahrbar zu machen. Mit ihnen gemeinsam wird etwas von der Katholizität der evangelischen Kirche sichtbar. Rüdiger Lux hat das „die Gnade der Diaspora“ genannt.40 In seiner Auslegung der Geschichte vom Turmbau zu Babel kommt er zu der Einsicht, dass es nichts als Angst war, was die Menschen zum gigantischen Projekt des Turmbaus angetrieben hat. Die Angst vor der Vielfalt der Welt führte zum vermeintlich einigenden Projekt eines himmelhohen Turmes und damit letztlich dazu, sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen. Gottes Zerstreuung der Menschen und Begründung der ethnischen Vielfalt ist nicht bloß eine Strafe, sondern auch eine Rettungstat für die Vielfalt des Lebendigen, die schon in der Schöpfung angelegt ist. So gelesen ist die Turmbaugeschichte ein Plädoyer gegen Vereinheitlichung und für die Vielfalt. Nicht die Einheit, für die das Andere, das Fremde, das Unterschiedene assimiliert oder ausgestoßen werden muss, ist das Fundament des menschlichen Lebens und der Gemeinschaft, sondern die Vielfalt, die freilich immer nur Stückwerk und Fragment bleibt, solange Menschen endlich und begrenzt sind. So verwirklichen die in die Zerstreuung geschickten Menschen den Schöpfungssegen Gottes auf der Erde und Diaspora wird damit in der Tat zur Gnade Gottes.

40 Lux 2011, 6 – 20 (20).

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5.

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Diaspora in der Kultur- und Sozialwissenschaft

Es ist erstaunlich, dass der Begriff „Diaspora“ in den letzten Jahren (seit den 1980er Jahren) eine unerwartete Renaissance vor allem in den Kultur- und Sozialwissenschaften erfahren hat.41 Nicht selten wird dabei auf die jüdischen Erfahrungen zurückgegriffen, unter anderem auf Deuteronomium 28,64, wo es heißt: „Denn der Herr wird dich zerstreuen unter alle Völker von einem Ende der Erde bis ans andere.“ Neben den Erfahrungen des Judentums wird in der zeitgenössischen Sozialwissenschaft auch das Geschick der Armenier gerne als Beispiel für die moderne Verwendung von Diaspora herangezogen. Die Übernahme des biblisch geprägten Diasporabegriffs hat sich auf der einen Seite als hilfreich erwiesen, auf der anderen Seite ist es beinahe zu einer inflationären Verwendung von Diaspora gekommen, sodass bald beinahe jede Gruppe von MigrantInnen so bezeichnet wurde. Kritisch hat Roger Brubaker angemerkt, dass es schon so etwas wie eine „Diaspora Diaspora“ gäbe. Der Begriff selbst ist in die Zerstreuung geraten, sodass man beinahe nicht mehr sagen kann, was er denn nun spezifisch meint.42 Wenn nun Diaspora auf das Phänomen der Migration angewendet wird, dann geht es um die komplexe Dreiecksbeziehung zwischen dem Herkunftsland, der Aufnahmegesellschaft und der Gruppe der MigrantInnen43. Von daher wird zumindest einmal klar, nicht jede Minderheit ist eine Diaspora (etwa die Basken in Spanien oder die Sorben in Deutschland), aber jede Diaspora ist eine Minderheit. Weiters ist Diaspora in diesem Sinn – vor allem wenn die Auswanderung nicht freiwillig geschieht – immer mit negativen Stimmungen begleitet und von einer Sehnsucht nach Heimkehr, nicht selten auch von einer Verklärung der verlorenen Heimat geprägt. Im kollektiven Gedächtnis der Diaspora wird die Erinnerung gepflegt, werden gemeinsame Geschichten erzählt und vielfältige Deutungen für das Verständnis der neuen Situation entwickelt, die gemeinsam mit Leben erfüllt werden, etwa bei Festen und Feiern. Diese Fähigkeit, die eigenen Merkmale zu betonen und im Unterschied zu den Merkmalen der Residenzgesellschaft auch zu profilieren, nennt die Soziologie Identitätsmanagement. Dabei steht jede Diaspora in der Gefahr, zu einem „Verteidigungsbündnis“ zu werden. Das führt manchmal zu einer mythischen Verklärung der eigenen Geschichte, zu einer Überbetonung der vermeintlichen Unterschiede als identitätsstiftende Merkmale. Hier kommt der Residenzgesellschaft eine große Verantwortung zu, denn diese unerwünschten Reaktionen der Diaspora werden umso stärker, je mehr sie in die Defensive 41 Dazu z. B.: Davis-Sulikowski / Khittel / Slama 2009, 93 – 109; Cohen 1997; Dabag / Sökefeld / Morgenstern 2010. 42 Brubaker 2005, 1 – 19 zitiert nach: Sökefeld 2010, 19. 43 Hettlage 1991, 4 – 24; Six-Hohenbalken 2009, 247.

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gedrängt wird und vor Assimilationsforderungen steht, die ein Aufgeben der eigenen Identität bedeuten würden. Generell sollte die Chance nicht vertan werden, die sich auch für das Aufnahmeland durch kulturelle Vielfalt bietet. Für den Bereich der Religionsvielfalt hat etwa Martin Baumann schon vor Jahren nachgewiesen, dass Gesellschaften davon in jeder Hinsicht profitieren, wenn sie religiöse Vielfalt nicht nur zulassen, sondern aktiv fördern.44 Differenz bzw. Diversität ist eine Chance. Tom‚sˇ Garrigue Masaryk (1850 – 1937) hat einmal gesagt: „So viele Sprachen man spricht, so viel Mal ist man Mensch. Mit so vielen Menschen man kommuniziert, so viel Mal hat man sein Leben.“45 Der Diasporabegriff wird also in den modernen Wissenschaften überwiegend positiv verwendet. Zugleich wird er durch einen inflationären Gebrauch geschwächt und getrübt. Wird das wirklich zu Recht als Diaspora bezeichnet, was es an ethnischer Vielfalt in einem Wiener Gemeindebau gibt?46 Peter Antes hat ganz grundsätzlich davor gewarnt, den Begriff Diaspora generell auf das Phänomen der Migration anzuwenden. Die Subsummierung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Herausforderungen unter den religiösen Begriff „Diaspora“ würde dazu führen, dass die Religion zum bestimmenden Faktor der Migration wird. Der Blick verschiebt sich von den Menschen, die migrieren, auf die Religionen, die angeblich auf Wanderschaft bzw. in Migration sind. Peter Antes: „Ein solcher Deutungsversuch wirft viele Fragen auf und hilft nicht bei der Lösung der tatsächlich auftretenden Probleme.“47 Es ist daher notwendig, wieder auf den Boden von Bibel und Theologie zurückzukehren, um zu erkunden, was Kirche als Diaspora heute bedeuten kann und wie das Selbstverständnis als Diaspora Kirchen helfen kann, miteinander Gemeinschaft zu leben48.

6.

Öffentliche Theologie als Theologie der Diaspora

Kirche als Diaspora zielt also auf eine offene und öffentliche Kirche.49 Die Redeweise von der offenen und öffentlichen Kirche geht auf Wolfgang Huber zurück:

44 45 46 47 48 49

Baumann 2000; ders. 2000a; ders. 2003, ders. 2005. Zitiert nach: Lux 2011, 20. Weiss 2010/2011, 124 – 128. Antes 2006, 58. Beispielhaft dazu: Epting 2010; ders. 2011, 6 – 9. Hüffmeier 2010,12 – 26.

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„Mit dem Begriff der ,offenen und öffentlichen Kirche‘ werden die Konturen einer Kirche gezeichnet, die sich den Herausforderungen der Gegenwart stellt und die ihr anvertrauten Überzeugungen öffentlich zur Geltung bringt.“50

Die evangelischen Kirchen in Europa sind in ihrer großen Mehrheit zahlenmäßige Minderheitskirchen. In der „Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa“ (GEKE) hat daher das Bedenken des Verhältnisses von Mehrheits- und Minderheitskirchen stets eine große Rolle gespielt. Die Kirchenstudie „Die Kirche Jesu Christi“, mit der die Kirchengemeinschaft auf der Grundlage der Leuenberger Konkordie ihre gemeinsame Ekklesiologie vorgelegt hat, spricht von der Weite der Bestimmung evangelischer Kirchen und von der Deutlichkeit ihres Zeugnisses und ihres Dienstes. Dabei erörtert die Studie den Unterschied zwischen Mehrheits- und Minderheitskirchen. In Bezug auf die Minderheitskirchen hält sie fest: „Wo reformatorische Kirchen als Minderheitskirche existieren, hat die reformatorische Einsicht vom Anspruch des Evangeliums auf das Ganze des Lebens zur Unterscheidung von der gesellschaftlichen Mehrheit geführt. Eine solche Abgrenzung kann dem Zeugnis zugutekommen und als Befreiung erfahren werden. Sie führt dann zu einer ,nonkonformistischen‘ Lebensform, die Zeugnischarakter beansprucht. Freilich ergibt sich dabei oft die Notwendigkeit, diese ,nonkonformistische‘ Zeugnispraxis zu unterscheiden von unreformatorischem Sektierertum, das sich dem konstruktiven Einsatz für das Ganze entziehen kann.“51

In der Regionalgruppe Südosteuropa der GEKE, in der sich seit dem Jahr 1975 VertreterInnen von evangelischen Kirchen aus mehr als 14 Ländern zusammenfinden, ist eine Standortbestimmung erarbeitet worden, die diesem Umstand nachgeht52. Dort heißt es: „Es wird von der zukünftigen Fähigkeit zur Gestaltung von Kirche abhängen, welche Folgerungen aus der Tatsache der Minderheit gezogen werden. Viele der Minderheitskirchen im Bereich der Regionalgruppe vertreten zudem ethnische Minderheiten. Das ist eine Bereicherung der jeweiligen kulturellen Vielfalt wie auch eine potentielle Bedrohung als Konfliktpotential. Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit zeigen, dass unter gesellschaftlichem Veränderungsdruck die Orientierung an Volk und Nation die gelebte Kirchengemeinschaft nach wie vor in Frage stellen kann. Die fortschreitende Säkularisierung und zunehmende Pluralisierung auf dem Markt der religiösen Sinnanbieter kann mittelfristig dazu führen, dass sich Kirchen undReligionsgemeinschaften in den jeweiligen Gesellschaften zahlenmäßig in der Minderheit befinden werden. Es bildet sich eine vielgestaltige und zunehmend unübersichtliche Diaspora, die es den Kirchen schwer macht, sich zu orientieren und den Ort in der jeweiligen Gesellschaft einzunehmen, der ihrem Auftrag entspricht und ihr Zeugnis und ihren Dienst sinnvoll 50 Huber 1999, 37; dazu umfassend: Losansky 2010. 51 Bünker / Friedrich 2012, 38 f. 52 Hüffmeier 2002.

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macht. Es bleibt die Aufgabe der Kirchen, für die ungeteilte Geltung der Menschenrechte einzutreten und für eine tragfähige Zivilgesellschaft zu arbeiten, in der gesellschaftliche Pluralität als Bereicherung erfahren wird. Der Einsatz für die Rechte aller Minderheiten, ein gemeinsamer Dienst an den Schwachen und die im Gebet, im Gottesdienst und im diakonischen Handeln gelebte Gemeinschaft der Kirchen ermöglichen es, die soziologische Tatsache der Minderheit positiv aufzunehmen und zur theologischen Aufgabe einer Diasporakirche zu wandeln.“53

Kirche als Diaspora ist also sowohl ein Hort der Tradition wie auch ein Ort der Veränderung, der die Chance zur Innovation in sich trägt. Gerade eine Minderheitskirche, die die reformatorische Einsicht vom Anspruch des Evangeliums auf das Ganze des Lebens zur Unterscheidung von der gesellschaftlichen Mehrheit geführt hat, kann da freier in ihrem Zeugnis sein, wenn sie sich nicht in ein unreformatorisches selbstgenügsames und sektiererisches Ghetto zurückzieht. Wilhelm Dantine hat diese Gefahr klar gesehen und davor gewarnt, dass sich die Kirche, die sich als ein „religiöser Trachtenverein“ geriert, ihren Auftrag verfehlen muss.54 Für das Miteinander der Kirchen lässt sich das Verständnis von Diaspora als öffentlicher Kirche umlegen auf vier Lernbereiche: Die Kirchen Europas lernen als erstes, dass sie nicht mehr allein und auch nicht länger in der vertrauten ökumenischen Konstellation das Christentum repräsentieren. Sie verabschieden sich – zweitens – von der Konzeption der diakonischen Hilfsbeziehung, in der die Migrationskirchen als bloße Empfänger gesehen und damit zu Objekten der Zuwendung werden. Gerade die zahlenmäßig kleinen Diasporakirchen in Europa haben sich selbst allzu oft und allzu lange als bloße Empfänger von Hilfe und Unterstützung gesehen. Diaspora wurde in dieser asymmetrischen Konstellation zum „ärgerlichen“ Wort.55 Deshalb braucht es drittens: Gemeinsam Kirche sein bedeutet auch, die Gaben in ökumenischer Weise zu teilen („ecumenical resource sharing“). Und viertens muss die Theologie der Sendung durch eine Theologie des Empfangens („theology of recieving“) ergänzt werden. In diesen vier Lernfeldern können Migrations- und Residenzkirchen in „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ miteinander ihrem Auftrag nachkommen und gemeinsam die eine Kirche Jesu Christi sichtbar machen. Gerade die Minderheit ist immer wieder in der Gefahr, sich selbst abzuschotten und sich als Kontrastgesellschaft zu verstehen. Aber dieser Weg ist der Kirche verwehrt. Es ist der Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums, der den Öffentlichkeitsauftrag der Kirche begründet. Kirchen sind dieser Welt etwas schuldig, das ist das Evangelium. Es bedeutet im Kern die befreiende Botschaft 53 Hüffmeier / Friedrich 2007, 76 – 152 (119). 54 Dantine 2001b, 37 – 47 (39). 55 Klapper 1997, 125 – 146.

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von der unbedingten Gnade Gottes, die wir in Jesus Christus erfahren. Aus dieser Botschaft bitten Kirchen wie der Apostel (2 Kor 5,20)56 : „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Wie jede Kirche ist auch die Diasporakirche nicht eine fordernde, nicht eine verlangende und befehlende Kirche, sondern eine bittende Kirche, eine dienende Kirche. Zeugnis und Dienst umschreiben die Aufgabe. Darauf liegt die Verheißung Gottes, auch für die Kirche, die ausgestreut ist im Ackerfeld der Welt. Rene Krüger formuliert zusammenfassend: „Es geht nicht mehr darum, in der Diaspora zu leben, sondern Diaspora zu sein […] Samen, Aussaat und Saat zu sein – kurzum: Menschen zu sein, die das Evangelium aussäen. Kirche in der Diaspora zu sein, bedeutet, eine Minderheit mit einer Mission zu sein.“57

Zum Schluss noch einmal eine Strophe aus Zinzendorfs Hymnus an die Diaspora: Diaspora in seiner Freud, geh tue seine Hauptarbeit und scheine als ein Licht der Welt. Er hat dich so dahingestellt.58

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Einheit in versöhnter Verschiedenheit

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Michael Bünker

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Regina Polak

Migration und Katholizität

1.

Horizont und Zugang, Fragen und Aufbau

1.1

Globalisierung als Kontext

Interne und externe Gründe führen in der römisch-katholischen Theologie seit einigen Jahren zu einer neuen Aufmerksamkeit für das Konzept der Katholizität.1 Spätestens mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil entwickelt die Katholische Kirche ein reflektiertes Verständnis ihrer Weltkirchlichkeit und damit ein Selbstverständnis als „Einheit in Vielfalt“. Das Konzil stellt damit auch einen „entscheidenden Moment für die Seelsorge der Emigranten und der Menschen unterwegs dar, indem es besonderes Gewicht auf die Bedeutung der Mobilität und der Katholizität legt“2. Gegenwärtig konfrontiert die Globalisierung die Katholische Kirche mit den Herausforderungen neuartiger Pluralisierungsprozesse. Im Inneren führt dies zur Entwicklung einer „kulturell polyzentrischen Weltkirche“3. Die Globalisierung intensiviert weltweit zugleich das Wachstum4 und die Bildung pluraler und polyzentrischer Christentümer5. Zudem konfrontiert sie Kirche(n) und Christentümer im Inneren wie im Äußeren mit globaler Armut und Ungerechtigkeit sowie einer ebenso zusammenwachsenden wie zerrissenen Menschheit. Migration spielt eine Schlüsselrolle in der Dynamisierung außer- wie innerchristlicher Globalisierung.6 Diese Prozesse wecken den Bedarf nach einer theologischen Hermeneutik.7

1 Vgl. Schreiter 1997; 2008; Tomasi 2008; Gmainer-Pranzl 2013; Communio (2012); TPQ 161 (2013). 2 Erga migrantes 2004, 22. 3 Metz 1985, 221; Metz 1992, 150 f; vgl. auch Allen 2011 (2009). 4 Vgl. Joas 2012, 192 f; Jenkins 2006 (2002). 5 Vgl. Hock 2010. 6 Vgl. die Beiträge in Bünker u. a. 2010. 7 Vgl. Schreiter 1997.

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Katholizität bietet angesichts dieser Herausforderungen als genuin theologisches Modell die Möglichkeit für deren tieferes Verständnis sowie eine angemessenere Praxis. Das Konzept ist zugleich nicht nur ein römisch-katholisches; es gehört als zentrales Element zu jedem christlichen Selbstverständnis. Umgekehrt ermöglichen die zeitgenössischen Migrationsphänomene eine Weiterentwicklung dieses Konzeptes. Migration animiert und motiviert Theologie(n), Kirche(n) und Christentümer dazu, Katholizität neu verstehen und leben zu lernen.

1.2

Katholizität im ökumenischen Kontext

Katholizität ist hinsichtlich seiner Bedeutungsvielfalt und Reichweite ein komplexer Begriff.8 Entlang einer ökumenischen9 Perspektive könnte man z. B. mindestens vier Verstehensweisen unterscheiden: 1) die intrakonfessionelle Katholizität, die das Zusammenleben von Christen einer Konfession, aber verschiedender kultureller Traditionen als „Einheit in Vielfalt“ beschreibt und im Regelfall mit der römisch-katholischen Kirche in Verbindung gebracht wird; die römisch-katholische Katholizität ist als Selbstanspruch jene, mit der die anderen christlichen Kirchen konfrontiert sind, und ist nicht selten mit einem normativen Anspruch verbunden. Als Fragestellung nach dem intrakonfessionellen Zusammenleben in kultureller Verschiedenheit ist sie freilich Thema aller christlichen Kirchen. 2) die Katholizität der jeweiligen katholischen, evangelischen, orthodoxen und anderen christlichen Kirchen, sodass man allgemein von einer christlichen Katholizität sprechen kann, die als ekklesiologisches Selbstverständnis jeder Form des Christentums eignet und eine Eigenschaft von Kirche beschreibt. 8 Ausführlich vgl. Abschnitt 2.4 in diesem Beitrag. 9 Der Begriff Ökumene hat mehrere Dimensionen und beschreibt 1) das Ringen einer Kirche um ihre innere Einheit („intrakonfessionelle Ökumene“); 2) die Beziehungen zwischen den Kirchen und das Streben nach der weltweiten Einheit der Christen bzw. der Wiederherstellung ihrer sichtbaren Einheit („interkonfessionelle Ökumene“); 3) die Beziehung zwischen Kirche (n) und Welt im Horizont gemeinsamer Weltverantwortung, damit verbunden den Dienst der Kirche(n) an und in der Welt im Bemühen um die Einheit der Menschheit („Ökumene der Welt“); 4) die Beziehungen der Kirche(n) zu anderen Religionen, die nicht Einheit, wohl aber ein Zusammenleben in Frieden im Horizont der Verantwortung für die eine Welt zum Ziel haben („Ökumene der Religionen“). Hierbei müsste man noch gesondert unterscheiden zwischen den Beziehungen des Christentums zum Judentum, der Ökumene der abrahamitischen Religionen und der Ökumene mit allen anderen Religionen. – Die Frage nach der Einheit stellt sich heute im Horizont des Zusammenlebens in Verschiedenheit. Ökumene ist untrennbar mit Katholizität verbunden und beschreibt den Versuch, immer schon unvollkommene und verletzte Katholizität zu fördern. Dieses Verständnis verdankt sich der Auseinandersetzung mit Goßmann 2000; Klein 1996.

Migration und Katholizität

231

Da sich diese aber in Theorie und Praxis konfessionell höchst verschieden realisiert, birgt sie die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit einer interkonfessionellen Katholizität. 3) die Katholizität, die das Verhältnis der christlichen Kirchen zur Welt beschreibt und über die Religionsgrenze des Christentums hinausgehend – universal – gedacht und verwirklicht wird. Insofern Gottes Heil allen Menschen zugesagt ist, ist diese Katholizität ein konstitutives Element jeder christlichen Konfession und Kirche.10 4) die „Katholizitäten“, die dem Christentum in anderen Religionen begegnen11, insofern diese ihrerseits nach dem Verhältnis zwischen Einheit und Vielfalt bzw. dem Zusammenleben in Verschiedenheit innerhalb ihrer Religion und mit ihrer Umwelt fragen; der Begriff ist dabei aus einer christlichen Perspektive abgeleitet und beschreibt nicht deren Selbstverständnis. Ohne diesen Ordnungsversuch und die damit verbundenen (theologischen) Fragen im Detail ausführen zu können, wird deutlich, dass Katholizität kein römisch-katholisches Spezifikum oder Monopol ist. Die gemeinsame Frage, die mit dem Begriff Katholizität verhandelt wird, ist die nach der Universalität des religiösen Selbstverständnisses und der Partikularität seiner historischen Verwirklichungsformen sowie die daraus folgende Frage nach dem Zueinander von Einheit und Vielfalt dieser Partikularitäten. Als Frage nach der Einheit und Zusammengehörigkeit der Menschheit in ihrer Vielfalt und Verschiedenheit stellt sie sich heute weltweit religiösen wie nicht religiösen Menschen.

1.3

Orthodoxe und Evangelische Katholizität12

Die römisch-katholische, die orthodoxe sowie die evangelische Tradition beziehen Katholizität primär auf die Kirche und ihre Rolle in der Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen. Katholizität ist zunächst ein ekklesiologischer Begriff. Aber bereits in diesem Verständnis sind die Antworten der verschiedenen christlichen Konfessionen äußerst verschieden.Während die römisch-katholische Kirche Katholizität im Laufe der Geschichte zunehmend stärker in der Hierarchie und im Papstamt verankert, also in der sichtbaren Struktur der Kirche, betont die Orthodoxie vor allem die qualitative Seite: Gott handelt 10 Die damit verbundene Universalität hat sich im Kolonialismus als imperialer Zugriff konkretisiert – eine Interpretation des Weltverhältnisses, die sich selbst desavouiert hat. Gewaltförmige Interpretationen des universalen Weltbezugs sind ebenso wenig „katholisch“ wie Abschottungsphänomene. 11 Vgl. Steinacker 1989, 78. 12 Vgl. zum Folgenden Steinacker 1989, 75 ff.

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„katholisch“ und dies verwirklicht sich in der Katholizität der Kirche. Die Kirche setzt die Schöpfung, Erlösung (Erfüllung) und Vollendung fort und alle dabei entstehenden Gestalten der Kirche sind Abbilder einer Schöpfung, die immer mehr eins wird. In der Katholizität der Kirche spiegelt sich deshalb die Fülle des Lebens der heiligen Trinität wider. Katholizität ist daher für die Ostkirche ein pneumatisches und empirisches Geschehen, das weniger rechtlich als sakramental qualifiziert ist. Die Eucharistie ist die gelebte Gemeinschaft Gottes mit den Menschen, durch die der ganze Kosmos in das Geschehen des Geistes integriert wird. Die Bischöfe stellen die katholische Realität her, indem sie der Ortskirche und jedem einzelnen Gläubigen Teilhabe an der Einheit der Kirche ermöglichen. In modernen orthodox-theologischen Ansätzen wird Katholizität z. B. sogar als „Grenzenlosigkeit der möglichen Vereinigung des Menschlichen mit dem Göttlichen“13 beschrieben. Ein enges konfessionalistisches Verständnis verträgt sich mit einem solchen Zugang ebenso schwer wie das römische Primatsprinzip, denn die „Einheit in Vielfalt“ wird in der Orthodoxie über die Prinzipien der Autokephalie und Synodalität repräsentiert und garantiert. Die praktische Antwort auf die Frage nach Einheit und Vielfalt kann also ganz verschieden erfolgen. Wieder anders ist die Entwicklung bei den evangelischen Kirchen. Diese haben sich stets in Kontinuität zur katholischen Kirche des Anfangs verstanden. Für Luther ist die Gemeinschaft der Heiligen selbstverständlich die sancta Catholica Christiana. Der Konflikt entfacht sich u. a. am Papsttum, das laut Luther die Vielheit der Kirchen nicht mehr zulässt und alles der römischen Norm unterwirft. Katholizität wird bei ihm sodann nicht mehr als nota ecclesiae (konstitutives Wesensmerkmal der Kirche) anerkannt, gehört aber nach wie vor zum Selbstverständnis der Kirche. Sie bezeichnet eine geistliche Größe, die jeder Kirche zukommt, wenn diese das Evangelium glaubt und verkündet sowie das Bekenntnis zum Glauben sichtbar macht. Calvin betont stärker die Rechtgläubigkeit: „katholisch“ bedeutet für ihn ein Attribut der unsichtbaren Kirche. Noch im 17. Jahrhundert nannten sich evangelische Gemeinden „katholischevangelisch“. Erst im Zuge der Gegenreformation wird „katholisch“ zum Konfessions- und darin Kampfbegriff. Der Begriff Katholizismus entsteht überhaupt erst in dieser Zeit und bezeichnet aus protestantischer Sicht die papsttreu gebliebenen Altgläubigen.14 Mit der Reformation15 beginnen die Weichenstellungen für ein konfessionalistisch verengtes Verständnis des Begriffs.

13 Steinacker 1989, 75. 14 Maier 1996, 1368. 15 Steinacker 1989, 77.

Migration und Katholizität

1.4

233

„Katholizität der einen Welt“?

Aber ist es überhaupt angemessen, Katholizität nur auf die Kirche(n) zu beziehen? Die römisch-katholische Kirche hat nach dem Zweiten Vatikanum und seiner Wiederentdeckung des universalen Heilswillens Gottes in jüngeren Ansätzen die Welt-Dimension und die damit verbundene Einheit der Menschheit im Horizont von Katholizität zur Sprache gebracht. Dies ermöglicht ein Verständnis von Katholizität, das die Grenzen der Kirche und des Christentums übersteigt. Hätte Katholizität dann nicht auch eine schöpfungs- und heilsgeschichtliche Dimension – als Aussage und Verheißung über das Zusammenleben der Menschheit in Einheit und Vielfalt? Aber droht dabei nicht die Gefahr der Vereinnahmung? Wie ist Katholizität in einer religiös und weltanschaulich pluralen Welt zu denken und zu leben? Eine so geweitete Zugangsweise ermöglicht es, Katholizitätskonzeptionen auch in anderen Religionen zu erkennen. So hat das Judentum über die Jahrhunderte hinweg – z. B. durch die Aufnahme von Flüchtlingsgruppen – immer wieder transkulturelle „Integrationsleistungen“ vollbracht. Auch für den Islam ist die Überwindung von ethnischen und Stammesgrenzen sowie die Aufnahme anderer monotheistischer Gruppen eine Grunderfahrung von Anfang an. Der Buddhismus kennt ähnliche Phänomene. Das Spannungsfeld zwischen Universalität und Partikularität, das Verhältnis zwischen einem „Ganzen“ und dessen Teilen ist religionsübergreifend. In diesem Sinn kann man genau genommen von Katholizität nur im Plural sprechen und ebenso plural sind die Begründungen und Praxisformen.

1.5

Fragen und Aufbau

Aus der Fülle der möglichen Zugänge zum Thema beschränke ich mich in meinem Beitrag auf Katholizität aus einer römisch-katholischen Perspektive. Ich verbinde dies aber zugleich mit dem Anliegen, Katholizität als eine transkonfessionelle, christliche Wahrnehmungs- und Handlungsperspektive erkennbar zu machen, die Konfessionen verbinden kann und vielleicht auch für die anstehenden globalen Fragen nach Einheit und Vielfalt anregende Aspekte birgt. Diese zu entfalten obliegt den systematischen Theologen der christlichen Konfessionen. Ich nähere mich dem Thema aus einer praktisch-theologischen Perspektive: 1) Wie verändert Migration die Bedeutung von Katholizität in Europa in Theorie und Praxis? 2) Welche Möglichkeiten, Migration zu verstehen, birgt das Modell der Katholizität? 3) Welche Lernfelder lassen sich identifizieren, die Katholizität fördern?

234

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Ich gehe von folgenden Thesen aus: 1) Migration erinnert daran, was es bedeutet, als ChristIn, als christliche Gemeinde und Kirche „katholisch“ zu sein. 2) Migration eröffnet ein vertieftes Verständnis von Katholizität und erschließt neue Konkretisierungen des „Katholischen“ in einem globalen Kontext.16 3) Migration stärkt die Katholizität der Kirche, d. h. sie unterstützt diese dabei, ihr Wesen und ihren Auftrag zu realisieren: ein friedliches, humanes und gerechtes Zusammenleben in Vielfalt und Einheit, Verschiedenheit und Versöhntheit, mit Gott und den Menschen, innerhalb und zwischen den Kirchen und im Horizont der ganzen Welt zu fördern.17 4) Migration und Katholizität bergen ein zutiefst ökumenisches Potential, weil dies nur gemeinsam mit den anderen Kirchen und Religionen und im Horizont der einen Welt möglich ist. 5) Schließlich eröffnet Katholizität eine genuin theologische Perspektive auf Migration. Dies kann ein Beitrag zum sozialwissenschaftlichen Migrationsdiskurs sein, der – z. B. in den Forderungen nach Gerechtigkeit und Anerkennung von Diversität – verstärkt hermeneutische und ethische Fragen formuliert. Die Ausführung erfolgt in zwei Schritten: 1) Zeitgenössischer Kontext und Herausforderungen für Katholizität: Zunächst beschreibe ich exemplarisch den globalen Kontext, innerhalb dessen sich die Frage nach Katholizität in Europa stellt: Wir leben in einem Zeitalter der Migration, der Religion und der Humanophobien. Dies birgt Potential zur Horizonterweiterung von Katholizität. 2) Theologische Begründung und Lernfelder für Katholizität: Weil Migration als „Zeichen der Zeit“ auch locus theologicus ist, beschäftigt sich Theologie mit diesem Phänomen. Katholizität eröffnet dabei eine theologische Sicht auf Migration und die damit verbundenen Fragen nach dem Verhältnis von Vielfalt, Verschiedenheit und Einheit. Ich skizziere vier Lernfelder, in denen Katholizität in der Kirche neu gelernt werden kann.

2.

Zeitgenössischer Kontext und Herausforderungen für Katholizität

2.1

Das Zeitalter der Migration

Migration gehört untrennbar zur Geschichte der Menschheit. Von jeher hat sie demographisches und ökonomisches Wachstum, technologischen, sozialen und 16 Vgl. Erga migrantes 22; 98. 17 Vgl. Lumen Gentium 1: Die Katholische Kirche versteht sich selbst in Christus als Sakrament für die Vereinigung (unio) der Menschen mit Gott und die Einheit (unitas) der Menschen untereinander.

Migration und Katholizität

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kulturellen Wandel, politische Konflikte und Krieg mit sich geführt. Sie ist keine Abirrung, sondern eine Konstante der Geschichte.18 Gleichwohl weist die zeitgenössische Migration Merkmale auf, die in Quantität und Qualität historisch so neuartig sind, dass man von einem „Zeitalter der Migration“ („Age of Migration“19) sprechen kann. 2.1.1 Migration fördert Entgrenzung und Konnektivität Mehr Menschen als jemals zuvor in der Geschichte migrieren.20 Nach Schätzungen der UN ist seit der Jahrtausendwende die Zahl der internationalen Migranten von ca. 150 Millionen auf 214 Millionen weltweit gestiegen.21 42,5 Millionen Flüchtlinge (2011)22 sind in dieser Statistik ebenso wenig berücksichtigt wie die geschätzten 42 Millionen (2010)23 Umweltflüchtlinge. Hinzu kommen die unzähligen Saison- und Binnenmigranten, die nicht legal registrierten Migranten oder die Nachkommen von Migranten. Eine kritische Auseinandersetzung mit Migrations-Statistiken24 zeigt, dass das Phänomen längst die Grenzen demographischer Erfassung gesprengt hat. Die traditionellen Vorstellungen von Staat, Nation, Ethnie sowie Recht werden dadurch erschüttert. Auch die Qualität von Migration hat sich in den vergangenen Jahren verändert: Die „Super-Diversifizierung“25 globaler Migration führt zu einem nicht mehr überschaubaren Ausmaß an Pluralisierung. Zeitgenössische Mobilitäts- und Kommunikationsmöglichkeiten fördern „transnationale Migration“ und lassen Mehrfachzugehörigkeiten entstehen, die nicht mehr in die klassischen Formate von „Heimat“ und „Fremde“ passen. Rund um den Globus findet eine „transnationale Revolution“ statt, die Gesellschaften und Politiken neu formt.26 Migration fördert Entgrenzungsprozesse, die übergreifende Tendenzen aufweisen:27 1) Globalisierung: Zunehmend mehr Länder sind zu gleicher Zeit von Migration betroffen. Einwanderungsländer empfangen Migranten aus immer mehr 18 Castles / Miller 2009, 299; Bade 2007. 19 Castles / Miller 2009. Die folgende Darstellung folgt weitgehend deren Studie. 20 International Organization for Migration: Facts and figures, URL: http://www.iom.int/cms/ en/sites/iom/home/about-migration/facts–figures-1.html [02. 01. 2014]. 21 Human Development Report, 2009. Als internationale Flüchtlinge gelten Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt mindestens ein Jahr außerhalb ihres Herkunftslandes haben. 22 The UN Refugee Agency (UNHCR): Weltflüchtlingszahlen 2011, URL: http://www.unhcr.at/ presse/nachrichten/artikel/8775b3f6eaa48f3093bdda3f17c94b1e/unhcr-veroeffentlichtweltfluechtlingszahlen-2011 – 1.html?L=0 [02. 01. 2014]. 23 Dazu gibt es nur Schätzungen, vgl. IDMC 2011. 24 Vgl. Castles / Miller 2009, XVIII. 25 Vgl. Max Planck Institute for the Study of Religious and Ethnic Diversity. URL: http:// media.mmg.mpg.de/ [02. 01. 2014]. 26 Vgl. Castles / Miller 2009, 7. 27 Vgl. Castles / Miller 2009, 10 – 12.

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Herkunftsländern. Die meisten Einwanderungsländer haben Zuwanderer aus einem breiten Spektrum ökonomischer, sozialer und kultureller Herkunft. Akzeleration: Alle großen Weltregionen sind zu gleicher Zeit von einem quantitativen Wachstum internationaler Migration betroffen. Die Regierungen kommen so immer mehr unter Druck. Sie können Migration jedoch reduzieren, wie man am Rückgang globaler Flüchtlingszahlen sieht. Differenzierung: In den meisten Ländern gibt es eine Vielfalt an Migrationstypen: Arbeitsmigration, Flüchtlinge, dauerhaft Ansässige, nicht dokumentierte Migration. Diese Ausdifferenzierung zählt zu den größten Problemen für nationale oder internationale politische Maßnahmen. Feminisierung: In allen Regionen und Migrationsformen sind vorwiegend Frauen Betroffene. Seit den 1960er Jahren übernehmen sie weltweit die Hauptrolle in der Arbeitsmigration; in manchen Flüchtlingsbewegungen und im organisierten Menschenhandel machen sie die Mehrheit aus. Wachsende Politisierung: Internationale Migration fordert nationale Politik, bilaterale und regionale Beziehungen zwischen Staaten und nationalen Sicherheitspolitiken heraus. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Kooperation zwischen Aufnahme-, Transit- und Herkunftsländern sowie für global governance wächst. Proliferation von „Übergangsländern“28 : Zunehmend mehr traditionelle Auswanderungsländer werden zu Übergangsländern – zumeist ein Vorspiel am Weg zum Einwanderungsland (in Europa z. B. Polen und Spanien).

Castles und Miller stellen fest:29 Massenmigrationen haben in den vergangenen 500 Jahren eine Hauptrolle im Kolonialismus, in der Industrialisierung, in der Bildung von Nationalstaaten und in der Entwicklung des kapitalistischen Weltmarktes gespielt. Damit verbunden waren Vertreibung, Deportationen, Gewalt, Unrecht und Ungerechtigkeit – aber auch der Austausch von Ideen und Werten, kulturellen und religiösen Traditionen, die trotz allen Widerstands zur humanen Weiterentwicklung beigetragen haben. Neu an der gegenwärtigen Situation ist der durchdringende und globale Charakter von Migration. Migration ist ein komplexes System aus sozialen Interaktionen mit einer umfassenden Reichweite an institutionellen Strukturen und informellen Netzwerken zwischen entsendenden, aufnehmenden und Übergangsländern. So führt die Entgrenzung durch Migration zugleich zu größerer Konnektivität. Migration ist deshalb sozioökonomisch und politisch bedeutsam wie nie zuvor. Neu ist die Aufmerk28 Das sind Länder, in denen die Zuwanderung schrittweise größer wird als die Auswanderung (Transitionsländer). 29 Castles / Miller 2009, 299.

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samkeit, die Politiker diesem Phänomen zollen; allerdings ist auch der politische Widerstand gegen Migration so heftig wie nie zuvor. Noch nie war er so eng mit nationalen Sicherheitsdiskursen, mit politischem Konflikt und Unordnung auf globaler Ebene verbunden. Europa ist im 20. Jahrhundert – nach 1945 – zum Einwanderungskontinent geworden und hat sich in eine Migrationsgesellschaft gewandelt. Die massenhaften Flüchtlingsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Einwanderungen im Zuge der Dekolonialisierungsprozesse sowie die Binnenmigration haben dazu wesentlich beigetragen. Migration nach und in Europa ist seit den 70er-Jahren primär ökonomisch motiviert.30 So dominierte zunächst die Arbeitsmigration. Danach hatten Familienzuzug und Flüchtlings- sowie Asylbewegungen nachhaltige Auswirkungen auf Arbeitsmärkte und Volkswirtschaften, auf demographische und soziale Strukturen, auf Kultur und politische Institutionen sowohl der Sende- als auch der Aufnahmeländer. Westeuropa reagierte in den 1990er Jahren auf diese Entwicklungen mit „massiver Angst vor unkontrollierbaren Zuströmen“31 der Armen aus dem Osten und dem Süden. Grenzkontrollen und Einwanderungsgesetze wurden restriktiver. Migration wurde zur Sicherheitsfrage erklärt, die Zuwanderung nahm zunächst ab. Seit 1997 nimmt sie wieder zu – vor allem durch die forcierte Zuwanderung gut ausgebildeter Migranten, aber auch durch Asyl und illegale Zuwanderung. Obwohl Migration weltweit gesehen die Ausnahme menschlichen Verhaltens ist – drei Prozent der Weltbevölkerung migrieren –, beschleunigt sie Entgrenzung und Konnektivität. Dies verlangt nach Konsequenzen: Sozialwissenschaftler votieren für mehr internationale Kooperation und governance, für Entwicklungspolitik, politische Maßnahmen für irreguläre Migration, Regulierung legaler Einwanderung, Integrationsprozesse ansässiger Migranten sowie einen gerechteren Umgang mit den Auswirkungen ethnischer Diversität auf den soziokulturellen Wandel. Aus theologischer Sicht ist bemerkenswert, dass in diesem Zusammenhang immer wieder implizit und explizit die Frage nach der Gerechtigkeit auftaucht. Denn Migration entlarvt globale Ungerechtigkeit: In der Mehrzahl der Fälle ist Migration erzwungen – durch Armut, Gewalt und Not. Migration offenbart die Armut in der Welt, an die viele Reiche nicht erinnert werden wollen, weil damit die Frage nach deren Verantwortung auftaucht. Dabei sind es gar nicht die Ärmsten, die das Risiko der Migration auf sich nehmen: Migration muss man sich auch leisten können. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise sowie der Klimawandel werden diese Situation in den kommenden 30 Vgl. zum Folgenden Castles / Miller 2009, 122 f. 31 So Castles / Miller 2009, 122. Ich würde diese Reaktionsweise ergänzen um Aggression, Neid, Hass und die daraus resultierende Fremdenfeindlichkeit als durch den politischen Diskurs induzierte Reaktivierung tiefsitzender Muster im Umgang mit den sogenannten „Fremden“, wie sie im kollektiven Gedächtnis Europas nach wie vor abgelagert sind.

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Jahren vermutlich noch verschärfen.32 So stellen Sozialwissenschaftler angesichts des Zusammenhangs von Migration und internationaler Entwicklung z. B. die Frage: „Warum sollen entwickelte Staaten souveräne Rechte zugunsten internationaler Regulation von Migration aufgeben?“33 Anstelle von Migrationsreduktion verlangen sie verstärkten Einsatz für größere ökonomische und soziale Gleichheit zwischen Nord und Süd, damit Migration unter besseren Bedingungen stattfinden kann und die Erfahrungen und Fähigkeiten von Migranten Gemeinschaften bereichern können.34 Offen bleiben dabei aber doch Fragen: Warum sollen sich reiche Staaten überhaupt für arme Staaten einsetzen? Wie kann man Migration anders als Bedrohung und sogar als Bereicherung wahrnehmen? Wie lassen sich die Forderungen nach Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität, nach Anerkennung von Diversität begründen? Diese Fragen betreffen auch35 die Theologie. Denn aus biblischer Perspektive gibt es ohne das Engagement für eine gerechte Gesellschaft kein religiöses Heil. Maßstab eines theologisch verantworteten Verständnisses von Gerechtigkeit sind die Armen und Ausgeschlossenen. Der sozialwissenschaftliche Befund verdeutlicht, das sich Katholizität gegenwärtig im Kontext einer Menschheit verstehen lernen kann, die ihre traditionellen Grenzen verliert, verändert und übersteigt und die sich zugleich vielfältig verbindet und vernetzt. Das Bewusstsein für die Zusammengehörigkeit der Menschheit als auch die politische Verantwortung für eine gerechte Welt gehören zu einem zeitgerechten Begriff von Katholizität. Herausfordernd für die Katholische Kirche ist dabei sicherlich die Transformation von Werten und soziopolitischen Ordnungen, womit sie sich von jeher schwer getan hat. Die besondere Aufgabe besteht darin, das entgrenzende und verbindende Innovationspotential von Migration zu fördern, damit es sich nicht wie bisher inmitten von Konflikt und Gewalt durchsetzen muss, sondern in Frieden entfalten kann. Diese Aufgabe stellt sich übrigens auch im Inneren der Katholischen Kirche, in der zwei Drittel der Katholiken arm und jung sind und im Süden der Welt leben.36 Was bedeutet das Potential von Migration in diesem Horizont für die reiche Kirche Europas und ihr Verständnis von Gleichheit und Gerechtigkeit? 2.1.2 Migration fördert Pluralisierung und Diversität Wenn auch nur wenige Staaten jemals ethnisch homogen waren, hat der Nationalismus der vergangenen zwei Jahrhunderte doch massiv zum Mythos des 32 33 34 35 36

Vgl. Details dazu URL: http://www.age-of-migration.com/ [02. 01. 2014]. Vgl. Castles / Miller 2009, 303. Vgl. Castles / Miller 2009, 304. Sie betreffen auch die Philosophie, die ich im Migrationsdiskurs schmerzlich vermisse. Vgl. Allen 2011 (2009).

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homogenen Nationalstaates beigetragen. Viele Staaten weisen gegenwärtig jedoch infolge von Migration ein höheres Ausmaß an Diversität auf als noch vor einer Generation. Diversität zeigt sich in der Entstehung zahlreicher ethnischer Gemeinschaften.37 Selbst wenn Zuwanderung morgen radikal gestoppt würde, hat die derzeitige Situation Auswirkungen38 über Generationen. Ethnische Gemeinschaften können sich in bestimmten soziopolitischen Kontexten zu Minoritäten verwandeln, die sich entschieden von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen. Sie entstehen durch das Ineinander von rassistischen, diskriminierenden und exkludierenden Zuschreibungsprozessen durch die Umwelt und reaktiven Selbstdefinitionen. Je stärker die erfahrene Ab/Ausgrenzung, umso intensiver erfolgt die Zustimmung und Pflege der jeweiligen ethnischen Identität, ihrer Symbole und Praktiken vor der Migration. Diese dient dann zur Mobilisierung gegen Diskriminierung und Exklusion. Eine der Ursachen39 für die Entstehung ethnischer Minoritäten in Europa liegt im Zusammenfall der Arbeitsmigration mit dem Übergang zu postindustrialisierten Gesellschaften und der ersten Modernitätskrise in den 90er-Jahren. Kapitalakkumulation, wachsende internationale Mobilität, die elektronische Revolution sowie der Niedergang klassischer Industriezweige hatten die Erosion der Arbeiterklasse und die Polarisierung auf dem Arbeitsmarkt zur Folge. Arbeitsmigranten waren davon zweifach betroffen, denn sie litten unter Arbeitslosigkeit und sozialer Diskriminierung. Zugleich wurden sie von der Politik als Ursache des Problems dargestellt. In vielen Ländern wurde Migration für politische Interessen instrumentalisiert. Ghettoisierung und das rasante Wachstum von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit waren die Folge. Die sozioökonomischen Auswirkungen dieser Entwicklung kann man insbes. in den „Mega-Cities“ bzw. global cities – in Europa z. B. die Millionenmetropolen in Paris und London – wahrnehmen: Sie sind die Schmelztiegel sozialer Veränderung, politischer Konflikte, aber auch kulturellen Wandels.40 Sie lassen soziale Kluften erkennen: zwischen geschlossenen Eliten und informellen Teilzeitarbeitern, zwischen reichen, gut bewachten Wohnvierteln und Innenstädten mit hoher Kriminalitätsrate, zwischen demokratischen Bürgern und nicht dokumentierten Nichtbürgern, zwischen dominanten und minoritären Kulturen. Migranten gehören 37 Castles / Miller 2009, 309. Diversität zeigt sich allerdings auch im Bereich von Religion, Lebensform, Geschlecht und sexueller Orientierung usw. 38 Welche sozialen Folgen die politische Ignoranz der spezifischen Lebenssituation junger Menschen mit Migrationshintergrund hat, konnte man z. B. 2005 an den Aufständen junger Franzosen mit nordafrikanischem Hintergrund in Paris sehen, die sich gegen Diskriminierung und Arbeitslosigkeit zur Wehr gesetzt haben. Vgl. Castles / Miller 2009, 1. 39 Vgl. zum Folgenden Castles / Miller 2009, 310. 40 Vgl. Saunders 2011: Er bezeichnet diese Städte als Arrival Cities, und zeigt an vielen Beispielen, unter welchen Bedingungen Migration zum Potential werden kann, aber auch sozialen Sprengstoff birgt.

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zu beiden Gruppen, sind aber mehrheitlich bei den Ausgeschlossenen zu finden. Die Gruppen benötigen einander. Ihr Zusammentreffen kann zu kultureller Innovationsdynamik führen, birgt aber auch das Potential für soziale Zusammenbrüche, Konflikte, Unterdrückung und Gewalt. Diese Situation lässt die Inklusions- und Exklusionsprozesse41 einer Gesellschaft erkennen und enthüllt damit Strukturen der Ungleichheit, der Benachteiligung, von Unrecht und Ungerechtigkeit einer Gesellschaft, die alle betreffen. Die ethnische Segregation ist maßgeblich deren Folge – nicht deren Ursache.42 Die gegenwärtige Situation konfrontiert die Gesellschaften mit den Fragen nach politischer Partizipation, kultureller Pluralität und nationaler Identität und verlangt nach der Entwicklung universaler Konzepte von citizenship. Wenn es nicht gelingt, Migranten politisch teilhaben zu lassen und citizenship von Vorstellungen ethnischer Homogenität und kultureller Assimilierung zu entkoppeln, werden Demokratien destabilisiert.43 „Kultur“ und Ethnizität sind zu einem Marker für gesellschaftlichen Ausschluss und infolgedessen auch zum Mechanismus des Widerstands von Minoritäten geworden. Wenn Partizipation verweigert und stattdessen auf Abgrenzung und Eindeutigkeit gesetzt wird, ist mit sozialen Konflikten und Gewalt zu rechnen. Insbesondere eine sozial marginalisierte zweite und dritte Generation kann für politische Strukturen eine massive Herausforderung werden. Nationalstaaten sind demnach gut beraten, ihre nach wie vor unersetzlichen Aufgaben im Horizont einer „Migrations-Welt“ zu reformulieren. Mehrheitsgesellschaften könnten so ihre Vorstellungen von sozialer Konformität verändern und mit Pluralität leben lernen. Denn Unterschiede in Sprache, Kultur und Religion sind auch dann Realität, wenn alle Rassismen und Diskriminierungen beseitigt wären44 und stellen die Frage nach dem Zusammenleben in Verschiedenheit. Wenn Sozialwissenschaftler fragen: „Wie kann eine Nation definiert werden, wenn nicht in Begriffen einer geteilten oder einzigen ethnischen Identität? Wie kann man sich im Angesicht einer Pluralität von Kulturen und Traditionen auf gemeinsame Werte (core values) und Verhaltensnormen einigen?“45, sind das zugleich „katholische“ Fragen: nach dem Zusammenspiel zwischen Partikularität und Universalität, zwischen Diversität und Zusammengehörigkeit. Diese Fragen spitzen sich durch Migration nur zu, sind aber nicht von ihr verursacht und betreffen das Zusammenleben aller. Das Entstehen von ethnischen Gemeinschaften ist außerdem der soziologische Normalfall. Das rigideste Migrationsregime kann nicht verhindern, dass 41 42 43 44 45

Vgl. Kronauer 2013; AtaÅ / Rosenberger 2013. Vgl. Wilkinson / Pickett 2012 (2009), 204 f. In Wien z. B. sind derzeit bereits 20 % der Einwohner nicht wahlberechtigt. Castles / Miller 2009, 311. Castles / Miller 2009, 43.

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sich signifikante Anteile von Migranten niederlassen und ethnische Gemeinschaften bilden. Denn Migration baut auf sozialen Netzwerken auf und birgt eine unkontrollierbare Dynamik. Die Entwicklung ethnisch diverser Gesellschaften ist ein unvermeidbares Resultat.46 Neu ist infolge vermehrter Mobilitäts- und Kommunikationsmöglichkeiten das Ausmaß der Bildung transnationaler Gemeinschaften, sogenannter Diasporagemeinden. Deren Mitglieder können zwischen mehreren Orten hin- und herreisen und Verbindungen zu ihrer Heimat aufrechterhalten. Damit haben sie sowohl im Herkunfts- als auch im Einwanderungsland Einfluss auf soziale Identitäten und politische Institutionen. Nationalstaaten sind infolgedessen mit der Frage nach Mehrfachidentitäten und –zugehörigkeiten konfrontiert. Transnationale Netzwerke verbinden Ein- und Auswanderungsgesellschaften und stiften neue Formen transnationaler Konnektivität und Kooperation. Der innovative kulturelle Austausch wird sich solcherart beschleunigen und Neues entstehen lassen.47 Trotz zahlreicher Widerstände – Abgrenzungs-, Sicherheits- und Identitätspolitiken – differenziert sich die Menschheit aus und wächst zugleich in ihrer Verschiedenheit zusammen. Ethnische und kulturelle Diversität wird in den meisten Ländern der Erde zunehmen. Vernetzung und Pluralisierung bedingen und fördern einander. Die sozialwissenschaftliche Erforschung dieser Phänomene ermöglicht der Theologie, Katholizität – als Verhältnis zwischen Pluralität und Einheit – besser zu verstehen. So ist eine Kultur umso dynamischer, je angemessener es ihr gelingt, die Geschichte und Tradition einer Gruppe mit der je aktuellen Situation im Migrationsprozess zu verbinden. Bedürfnisse, Erfahrungen und Interaktionen mit der sozialen Umgebung bestimmen die Qualität ethnischer Kulturen. Regressionsphänomene wie z. B. der Fundamentalismus sind aus empirischer Sicht das Resultat von Diskriminierung, Ausbeutung und Zerstörung von Identität. Die Entstehung ethnischer Gemeinschaften, die Stabilisierung von Personen- und Gruppenidentitäten und die Formierung ethnischer Minoritäten sind ein einziger Prozess, der nicht naturgesetzmäßig abläuft. Vielmehr hängt er maßgeblich von der Qualität der Interaktion mit Staat, Institutionen und der Gesellschaft sowohl des Einwanderungs- als auch des Herkunftslandes ab. Die Auswirkungen ethnischer Diversität können demnach durch vielerlei (politische, rechtliche, soziale, ökonomische) Maßnahmen gefördert oder blockiert werden. Sie werden zum Innovationspotential oder zur Bedrohung einer Gesellschaft gemacht. Ethnische Gemeinschaften sind gleichsam „normal“, ihre Verwandlung in sich abgrenzende Minoritäten eine Reaktion auf mangelnde Partizipationsmöglichkeiten in der und Ausschluss aus der Mehrheitsgesellschaft. Was bedeuten diese Erkenntnisse für die Rolle der Kirche und Gemein46 Castles / Miller 2009, 47. 47 Castles / Miller 2009, 312.

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den in einer ethnisch pluralen Gesellschaft? Was bedeuten sie für das Zusammenleben (nicht nur ethnisch) verschiedener Gruppen innerhalb der Kirche oder in der christlichen Ökumene? Ethnische Pluralisierung unterminiert den Mythos der Homogenität. Ohne Maßnahmen, die Partizipation sowie die Anerkennung von Diversität von Migranten in allen Gesellschaftsbereichen fördern, werden soziale Ungleichheit, Spaltungen und Konflikte zunehmen. Umgekehrt kann ethnische Pluralisierung durch solche Maßnahmen zu einer Quelle gesellschaftlicher Erneuerung und sogar Humanisierung werden. Ein angemessenes Verständnis von Katholizität wird so der Frage nach Partizipation und Anerkennung von Diversität und den damit verbundenen sozialen, politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen mehr Aufmerksamkeit schenken: Welches sind ihre theologischen Gründe? Was bedeuten die empirischen Befunde für das Innenleben der Kirche? Wenn strukturelle Anerkennung von Diversität oder rechtliche Rahmenbedingungen nachweislich darüber entscheiden, ob Pluralität Einheit und Gemeinschaft fördert oder zerstört, haben Uniformitäts- und Homogenitätsvorstellungen weder in politischen Stellungnahmen noch im Innenleben der Kirche Platz. Könnte eine migrationssensible Katholizität, die ethnische Diversität im Außen und Innen anerkennt, nicht auch mit der Vielfalt christlicher Identitäten und Zugehörigkeitsformen zum Christentum differenzierter umgehen?

2.2

Das Zeitalter der Religion

2.2.1 Globale Perspektive Wie Migration gehört auch Religion48 untrennbar zur Geschichte der Menschheit. Von ihrem Verschwinden ist mit Blick auf das 21. Jahrhundert keine Rede. Nach der Studie „The Global Religious Landscape“ des PewResearchCenter49 (2012) gehören 83,5 % der Menschen (5,8 Milliarden) weltweit einer religiösen Gruppe bzw. Religionsgemeinschaft an. 31,5 % sind Christen, 23,2 % Muslime, 15 % Hindus, 7,1 % Buddhisten, 5,9 % gehören Stammesreligionen und 0,8 % anderen Religionen an. 16,3 % gehören keiner religiösen Gemeinschaft an.50 48 Ich verwende diesen Begriff als Sammelnamen für alle Formen institutionalisierter Religionen und nicht- institutionalisierter Religiosität. „Religion“ ist ein analytischer Begriff, der je nach Definition heuristische Funktion hat. Religion „an sich“ gibt es genau genommen gar nicht, sondern nur konkrete Religionen oder Phänomene, die aus verschiedenen Perspektiven so bezeichnet werden. 49 The PEW Forum on Religion and Public Life 2012a. Die Studie wurde in über 230 Ländern und Regionen durchgeführt und basiert auf mehr als 2500 Volkszählungen, Melderegistern und Umfragen auf der Basis von Selbsteinschätzung. 50 Etwas andere Ergebnisse hat die World Religion Data Base 2010: 33 % Christen, 22,5 %

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Bereits 1999 hat Peter L. Berger mit seiner These einer weltweiten „Desecularization“ Phänomene eines Wiedererstarkens von Religion diagnostiziert.51 Westeuropa erschien als der globale Ausnahmefall.52 Gegenwärtig gibt es weltweit Anzeichen religiöser Vitalisierung oder zumindest einer gesteigerten Aufmerksamkeit für und Bezugnahme auf Religion.53 Die Säkularisierungsthese, der zufolge mit zunehmender Modernisierung Religion verschwinden würde, wird im Sinne einer monolinearen, geschichtsphilosophisch zwingenden Metaerzählung nur mehr von wenigen Religionssoziologen (z. B. Detlef Pollack, Steve Bruce, Ronald Inglehart) vertreten. Säkularisierung wird differenzierter gedacht und mittels Theorien der Pluralisierung (Robert Wuthnow), Individualisierung (Grace Davie, DaniÀle Hervieu-L¦ger) oder Kontingenz (Hans Joas) korrigiert oder ersetzt.54 Historische und globale Vergleiche zeigen, dass Säkularisierungsprozesse plurale Formen aufweisen und sich kontingent – entlang politischer, gesellschaftlicher, sozialer und kultureller Bedingungen – auf vielfältige Art mit Religion verbinden können und einander keinesfalls ausschließen müssen.55 Säkularisierung hat verschiedene Dimensionen: Sie kann die Ausdifferenzierung und Trennung zwischen Politik und Religion, den Niedergang religiöser Überzeugungen und Praxisformen und die Privatisierung von Religion meinen.56 Alle diese Prozesse gründen in konkreten historischen Konstellationen und müssen keinesfalls vollkommenen Religionsoder Gottesverlust nach sich ziehen. Säkularität kann eine spezifisch neuzeitliche Weltsicht bezeichnen, in der der Glaube legitimationspflichtig geworden und nur mehr eine von vielen Optionen ist.57 In diesem Sinn müssen Religion und Säkularität einander keinesfalls ausschließen. Vielmehr lassen sich in zeitgenössischen modernen Gesellschaften auf individueller wie kollektiver

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Muslime, 13,6 % Hindus, 9,6 % Nicht-Religiöse (Agnostiker), 6,7 % Buddhisten, 0,2 % Juden; der Rest Stammes- und andere Religionen. Berger bezeichnet damit v. a. das Erstarken konservativer, orthodoxer, traditionalistischer Strömungen in Christentum, Islam und Judentum, das sich nicht nur auf politische Ursachen, sondern auf wachsendes religiöses Commitment zurückführen lasse und als Bewegung gegen Modernisierungs- und Säkularisierungsprozesse zu verstehen sei. Insbesondere der Islam und das evangelikale Christentum stehen dabei im Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Berger 1999, 6 – 7. Berger 1999, 9. 2005 habe ich die damit verbundenen Phänomene noch „Wiederkehr der Religion“ genannt, was problematisch ist, da diese Bezeichnung Linearität insinuiert und die Veränderungen nicht angemessen beschreibt, vgl. Polak 2005. Aus der Fülle der Literatur : Gabriel / Gärtner / Pollack 2012; Pollack 2003, 2009; Bruce 2011; Inglehart 2011; Wuthnow 2005; Davie 2010, 2011; Hervieu-L¦ger 2004 (1999); Joas 2012. Joas / Wiegandt 2007. Vgl. auch den Beitrag von Veit Bader in diesem Band. Casanova 1994. Taylor 2009.

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Ebene „nicht-vollständige“, „partikular säkularisierte“58 Identitäten erkennen: Selbstverständnisse, die sich durch Brüche, Widersprüche, Nicht-Totalität ebenso auszeichnen wie durch die Verbindung religiöser und säkularer Elemente. Europa ist somit zwar als säkularisiert, aber keinesfalls als religionslos zu bezeichnen.59 Es ist vielmehr von zahlreichen pluralen religiösen Traditionen gekennzeichnet. Freilich zeigt sich in einzelnen Regionen – Skandinavien, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Tschechien und Ostdeutschland – ein radikaler Zusammenbruch traditioneller religiöser Praxis und ein kontinuierliches Wachstum a-religiöser und atheistischer Selbstverständnisse. Aber selbst in diesen Ländern gibt es Menschen, die einer Religionsgemeinschaft angehören oder zumindest gelegentlich, individuell und kollektiv, an religiösen Praktiken teilnehmen. Relativ konstant über 20 Jahre bezeichnen sich zwei Drittel der europäischen Bevölkerung als „religiös“. Auch wenn sich damit verschiedene Bedeutungen verbinden, kann von einem radikalen Bedeutungsverlust von Religion nicht gesprochen werden. Traditionelle Formen religiöser Praxis wie Kirchgang und Gebet nehmen konstant ab, der Rückzug aus den christlichen Kirchen nimmt zu. Religiosität und Gottesglaube sind davon betroffen, bleiben aber auf vergleichsweise stabilem Niveau. Dies gilt auch für konfessionelle Selbstverständnisse, die nach wie vor einen dominanten Einfluss auf Werteinstellungen in allen anderen Bereichen haben. Säkularismus als radikale Ablehnung jeglicher Form von Religion scheint jedenfalls das Phänomen einer gesellschaftlichen Elite60 zu sein. Migration wird diese religiöse Landschaft nachhaltig verändern, was sich freilich in den Studien bis dato zu wenig widerspiegelt, weil Migranten nicht repräsentativ erfasst werden. Mit einem signifikanten Wachstum des Christentums in Europa ist allerdings nicht zu rechnen.61 Ob Menschen in einem theologischen Sinn glauben, lässt sich mittels soziologischer Studien ohnedies nicht überprüfen. Religion in Europa ist von gravierenden Transformationsprozessen betroffen, mit einem rasanten Umbruch im institutionellen-strukturellen Bereich sowie mit einem empirisch kaum erforschten Bedeutungswandel. Die Globalisierung fördert auch Entgrenzung und Konnektivität, Pluralisierung und Diversifizierung von Religion. Kirchen, Religionsgemeinschaften und religiöse Menschen können und müssen sich im Horizont globaler Transformationsprozesse in 58 Diese Theorie verdanke ich dem Vortrag von Isolde Charim „Die nicht-volle Identität. Jüdischer Beitrag zu einem Projekt Europa“, 22. Februar 2013, im Rahmen des Kongresses „Rethinking Europe (without) Religion“ an der Universität Wien, URL: http://www.rethinkingeurope.at/ [20. 02. 2013]. 59 Vgl. zum Folgenden Polak / Schachinger 2011. 60 Berger 1999, 10; Casanova 2006, 184. 61 Joas 2012, 185 ff.

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Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, Gesellschaft und Bildung selbst neu verstehen und institutionalisieren lernen. So lassen sich in allen Kirchen und Religionsgemeinschaften und deren Institutionen innovative Reformprozesse62 wahrnehmen. Wo die kreative Weiterentwicklung im Kontext der Gegenwart nicht gelingt, führen Verunsicherungen und Ängste, Kämpfe um Macht und Orientierungskrisen zum Erstarken traditionalistischer sowie fundamentalistischer Strömungen in allen Religionen. Weltweit wachsen diese derzeit in weitaus stärkerem Ausmaß63 als es den Religionen gelingt, sich zu transformieren. Als Reaktion auf die Herausforderungen lässt sich die Forcierung von Identitätspolitiken beobachten, die das jeweilige eigene Profil durch Ab- und Ausgrenzung von den „Anderen“ stärker betonen. So entstehen neue Konfliktzonen zwischen Religionen, aber auch zwischen Religion und Gesellschaft. Religion, v. a. der Islam, wird zudem politisiert und benützt, um soziale Probleme und deren politische Ursachen zu verschleiern. Auch die Restaurations-Politik64 der katholischen Kirchenleitung kann verstanden werden als Reaktion auf gesellschaftliche Transformation und als Verweigerung, diese theologisch zu würdigen. Religion hat nach wie vor einen maßgeblichen Einfluss im und auf das Leben der Menschen in Europa. Religiöse Erfahrungsweisen und Denkformen entwickeln sich, die Säkularität und Religionskritik, Mehrfachzugehörigkeiten oder Integration verschiedener Traditionen in die eigene Religion keinesfalls ausschließen. Menschen experimentieren mit Praxisformen verschiedener religiöser Traditionen. Sie lassen sich nicht mehr von religiösen Institutionen formatieren, sondern erheben den Anspruch auf authentische Erfahrung. So kann man im religiösen Feld auch einen ungeheuer „vitalen Glauben“ wahrnehmen, der sich der „symbolischen Bevormundung durch die großen religiösen Institutionen“65 entzieht. Diese Phänomene sind quantitativ zwar nicht zu über62 Z.B. in den Orden, in kirchlichen Bildungs- und Krankenhäusern, im Religionsunterricht und den Ausbildungsstätten aller Konfessionen und Religionen, in der Institutionalisierung islamischer Theologie an europäischen Universitäten, uvm. Im öffentlichen Diskurs und in der Wissenschaft sind diese Entwicklungen aber viel zu wenig präsent und erforscht. Es dominiert der Problemdiskurs. 63 Vgl. Riesebrodt 2001. 64 Vgl. Gmainer-Pranzl 2013, 113ff beschreibt diese als Tendenz, auf gesellschaftliche Veränderung durch kulturkritische Apologetik und Stärkung der Binnenidentität zu reagieren, die mit dem Katholizismus des 19. Jahrhunderts gleichgesetzt wird. Erkennbar wird sie u. a. im Streit um die Konzilshermeneutik, in liturgischen Veränderungen (z. B. die Veränderung im eucharistischen Hochgebet: „für viele“, nicht mehr „für alle“ hingegeben), in Ernennung von Bischöfen, die diözesan „Ordnung schaffen“ sollen, im wieder aufgenommenen Dialog mit den Pius-Brüdern usw. Es bleibt abzuwarten, ob sich dies mit dem im März 2013 gewählten Papst Franziskus verändern wird. Seine Option für die Armen ist jedenfalls nicht restaurativ. 65 Hervieu-L¦ger 2007, 83.

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schätzen, aber verdichteter Ausdruck einer tiefgreifenden qualitativen Veränderung des religiösen Feldes. Welche Bedeutung haben diese Transformationen von Religion für Katholizität, die davon ausgeht, dass sich Gott immer im Konkreten und dies auf vielfältige Weise zeigt? Wie lässt sich in dieser Vielfalt der „wahre Gott“ wahrnehmen und erkennen? Welche Rolle kann bei diesen Prozessen die Kirche als Institution spielen? Wäre eine katholische Kirche nicht eine, die sich als Lerngemeinschaft dieser Transformation aussetzt und sie mit der Tradition ins Gespräch bringt? Eine Institution, in der Vielfalt anerkannt und gemeinsam nach der Wahrheit in dieser Vielfalt gefragt wird? Mit 9/11 ist Religion auch als weltpolitischer Faktor wieder in Erinnerung gerufen worden. So gilt Religion (spätestens) seither in Europa, genauer : in der Europäischen Union, primär als politisches und gesellschaftliches Problem. Insbesondere die Religion, die (v. a. muslimische) Migranten mitbringen, wird als Bedrohung eines lokal begrenzten religiösen Pluralismus und vor allem der Säkularisierung wahrgenommen.66 Übersehen wird dabei allerdings (noch), dass die aktuellen Rebellionen im arabischen Raum diese eindimensionale Sicht auf Religion konterkarieren. Kann in diesem komplexen und widersprüchlichen sozioreligiösen Horizont ein zeitgerechtes Verständnis von Katholizität durch Restauration, Abgrenzung und Profilbildung entstehen? Selbst durch Skandale (Missbrauch, Korruption) belastet, steht es der Katholischen Kirche wohl nicht gut an, die Probleme der Gesellschaft zu benennen, ohne ihre eigenen zu bearbeiten. Als Problem wahrgenommen zu werden, mag schmerzen, ermöglicht der Kirche aber auch eine selbstkritische Reflexion traditioneller Katholizität: Was ist theologisch unverzichtbar? Was ist zeitbedingt? Was kann zurückgelassen werden? Was lässt sich im religiösen Feld Europas für zeitgerechte Katholizität lernen?

2.2.2 Religion und Migration Migration spielt in der Transformation von Religion eine zentrale Rolle. Sie verändert lokal, regional und global religiöse Landschaften.67 Die Mehrheit der internationalen Migranten trägt Religion im Gepäck: 49 % sind Christen, 27 % Muslime, die übrigen 14 % sind Hindus, Buddhisten, Juden sowie Angehörige anderer Religionen; nur 9 % sind ohne religiöse Zugehörigkeit.68 Vier von zehn Migranten wandern in ein Land aus, in dem die Mehrheitsreligion des Auf66 Zum Vergleich des Religions-Diskurses in der EU und in den USA vgl. Casanova 2006. 67 Baumann 2009. 68 The PEW-Forum on Religion and Public Life 2012b.

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nahmelandes eine andere ist als die des Geburtslandes.69 Für religiöse Durchmischung ist so gesorgt – auch in Europa. Innerhalb der Europäischen Union sind 56 % der Migranten Christen (26 Mio. Menschen), 27 % Muslime (13 Mio. Menschen), 2 % Buddhisten und Hindus, 1 % Juden, 4 % gehören einer anderen und 10 % keiner Religion an. Exkludiert man die Binnenmigration in der EU, sind immer noch 42 % der Einwanderer Christen, 39 % Muslime, 3 % Buddhisten, 2 % Hindus, 2 % Juden, 4 % gehören anderen Religionen und nur 8 % gar keiner Religion an.70 Christen unterschiedlichster Konfessionen und Denominationen machen jedenfalls in jeder Hinsicht die Mehrheit aus. Robert Schreiter formuliert drei spezifische Herausforderungen71, die sich mit der Migration von Religion verbinden: 1) Neue religiöse Strukturen entwickeln sich innerhalb der Länder. Spätestens die Kinder der Zuwanderer beginnen, religiöse Communities, Vereine, Gebäude, Institutionen zu gründen und beanspruchen öffentlichen Raum und Anerkennung. Das Religionsrecht ist herausgefordert. Neuartige Formen von Interreligiosität und –kulturalität entstehen. Aber vielerorts reagieren Einheimische mit religiös „argumentierender“ Fremdenfeindlichkeit bzw. Rassismus. Am deutlichsten sichtbar wird dies im Umgang mit dem Islam in Europa, der als „nicht europäisch“ benannt wird. Dabei war der Islam auf der iberischen Halbinsel sieben Jahrhunderte in Europa präsent und ist im Südosten Europas seit 600 Jahren bis in die Gegenwart anzutreffen. In Nordund Westeuropa wird er gegenwärtig zur Herausforderung. 2) Migration konfrontiert mit Formen von Religiosität und Praktiken, die man v. a. in Westeuropa für vergangen hielt. Einwanderer praktizieren ihre Religiosität im Aufnahmeland meistens intensiver als im Herkunftsland. Religion erweist sich für viele als stabilisierendes Element im Migrationsprozess; der Rückgriff auf sie ist aber auch Reaktion auf Exklusionserfahrungen zum Schutz der eigenen Identität. Insbesondere Pfingstkirchen und Kirchen afrikanischen Ursprungs – ob in Birmingham, Rotterdam oder Kopenhagen – lösen bei der ansässigen Bevölkerung ambivalente Gefühle aus weil diese dadurch nicht nur an die eigene religiöse Vergangenheit, sondern auch an die koloniale Vergangenheit72 erinnert werden, die man zu vergessen trachtet. Flüchtlinge und arme Zuwanderer erinnern die Europäer an „einen unappetitlichen Teil ihrer Vergangenheit“73. Vielfach erzeugt dies Abwehr.

69 70 71 72

Vgl. Human Development Report 2009, 21 – 22. The PEW-Forum on Religion and Public Life 2012b. Vgl. Schreiter 2008, 538 – 539, Ergänzungen RP. Gilt das analog nicht auch für Wien, wenn es mit polnischen Katholiken konfrontiert ist und dabei an den Habsburger „Kolonialismus“ erinnert wird? 73 Schreiter 2008, 539.

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3) Migration lässt neue, hybride Formen von Religiosität entstehen. So leiten europaweit ausländische Priester Gottesdienste in einheimischen Gemeinden, neue Praxisformen entstehen74, Migrantenreligion wird von unterdrückten oder elitären ansässigen Minoritäten zur Ausbildung neuer Identitäten übernommen. Migration macht es notwendig, Religion im globalen Kontext wahrzunehmen und zu reflektieren. Religion und Migration teilen ein Schicksal: Sie werden in Europa primär als „Fremde“, als Störung, als Konfliktpotential und Problem wahrgenommen. Im besten Fall sollen sie daher „integriert“ werden, schlimmstenfalls grenzt man sie aus.75 In diesem Kontext ist die Versuchung groß, Katholizität qua Abgrenzung zu definieren. Demgegenüber plädiere ich dafür, offensiv und selbstkritisch das Potential von Migration und Religion freizulegen und zu fördern. Damit meine ich keine einseitige Instrumentalisierung von Migranten, um ungläubige Europäer wieder zu bekehren. Es geht um die Inszenierung wechselseitiger Lernprozesse zwischen Gläubigen mit und ohne Migrationsgeschichte.76 Schließlich wäre auch die Rolle zu reflektieren, die Kirche und Christentum im Zuge der Kolonialisierung gespielt haben. Weil der Frage nach dem Zusammenleben mit Muslimen in Europa eine Schüsselstellung zukommt, bedeutet zeitgerechte Katholizität weiters Solidarität mit diesen. Auffällig ist übrigens, wie sehr der anti-islamische Diskurs dem anti-katholischen Diskurs des 19. Jahrhunderts ähnelt.77 In beiden Fällen geht bzw. ging es um die Verhältnisbestimmung zwischen Religion und Moderne. So gehört zur Entwicklung einer zeitgerechten Katholizität auch die Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis von Zeit und Gesellschaft.78

2.2.3 Globales Diaspora-Christentum Aus globaler Perspektive besteht kein Grund, am Überleben des Christentums zu zweifeln. Mit 2,2 Milliarden Menschen (mehr als die Hälfte davon konfessionell-katholisch) im Jahr 2010 ist es nicht nur die größte aller Weltreligionen, es hat sich seit 1910 mit 600 Millionen Menschen sogar fast vervierfacht. Derzeit 74 Kranemann 2012; Baumann 2009, 2000. 75 Casanova 2009, 12: Laut ISSP 1998 halten zwei Drittel der Europäer Religion für „intolerant“; außer in Norwegen und Schweden gilt für eine Mehrheit, dass „Religion Konflikte erzeugt“. 76 Modelle dafür z. B. Gabriel 2011, Scheidler 2002. 77 Casanova 2009, 32 – 99. 78 Die Katholische Kirche hat im 19. Jahrhundert abwehrend reagiert, aber spätestens mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil von diesem Konflikt profitiert und ihr Verhältnis zur Welt neu geklärt (vgl. Gaudium et Spes).

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wächst es insbesondere in Afrika und Asien. Gleichzeitig lassen sich weltweit umfassende Transformationsprozesse wahrnehmen.79 Man kann von „Christentümern in Zeiten der Globalisierung“80 sprechen. Die „Tertiaterranität“81 ist eines der wesentlichen zeitgenössischen Merkmale des Christentums. Machten die Europäer um die Jahrhundertwende noch in etwa die Hälfte des Weltchristentums aus, so liegt ihr Anteil derzeit bei knapp 26 %.82 Der prozentual größere Anteil lebt in Afrika, Asien und Lateinamerika und wächst kontinuierlich, wenn auch kontinental und regional sehr verschieden. Diese Entwicklung erklärt sich zum einen demographisch, aber insbesondere in Afrika durch ErwachsenenKonversionen.83 Vor allem lässt sie sich auf die rasante Zunahme der Pfingstkirchen und charismatischen Bewegungen zurückführen, die rascher wachsen als die etablierten Kirchen.84 Auch innerhalb der Großkirchen gewinnen diese Gruppen an Bedeutung.85 Die Mehrheit der Christen weltweit lebt in der südlichen Hemisphäre. In der Katholischen Kirche zeigt sich dieselbe Entwicklung.86 Damit aber stellt sich die Frage nach Katholizität im Horizont von Armut. Ökonomische, soziale, generationale und mit Blick auf den Klimawandel auch ökologische Gerechtigkeit sind somit wesentliche Dimensionen von Katholizität. Dem europäischen Christentum kommt aus historischen Gründen in dieser Situation eine besondere Rolle zu, zumal die Großkirchen immer noch reich sind. Da diese aber mit massiven Erosionsprozessen konfrontiert sind, neigen sie zu Migrationsblindheit und ignorieren die globalen Entwicklungen des Weltchristentums – oft auch innerhalb der eigenen Kirche.87 In Europa spricht man vom Ende der Konstantinischen Ära der Kirchen. Dieser Abschied ist mit Widerstand und Schmerz verbunden. Ob und welche Zukunft das Christentum in Europa hat, hängt maßgeblich von seiner Fähigkeit zur Erneuerung und zum Gestaltwandel ab: wie es im Horizont der Gegenwart seine Traditionen aus dem Glauben neu erschließen kann. Im offiziellen Diskurs der Katholischen Kirche in Europa dominiert derzeit ein defizitorientierter Diskurs, der für sich selbst und Europa keine gute Zukunft erkennt. Dieser Rückzug wird zum Teil aktiv zelebriert und theologisch überhöht – z. B. mit Vorstellungen der kleinen, elitären Herde oder dem biblischen „heiligen“ Rest inmitten einer gottfernen Welt. 79 80 81 82 83 84 85 86 87

Vgl. Mette 2010; Jenkins 2006 (2002); Joas 2012; Arens 2009. Collet 2010b, 244. Collet 2010a, 223. Der Begriff stammt von Hans Margull. Collet 2010a, 223. Collet 2010a, 223. Mette 2010a, 199. Mette 2010a, 200. Allen 2001 (2009). Mette 2010, 200.

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Demgegenüber könnte das Modell der Diaspora Anknüpfungspunkte88 bieten, das Potential einer soziologisch minoritäten Situation angemessener wahrzunehmen. „Diaspora“ – ein genuin jüdisch-theologischer Begriff, mittlerweile auch ein religionswissenschaftliches und soziologisches Konzept89 – birgt für Katholizität viele Anregungen. Diaspora ist eng mit Migrationserfahrung verbunden. Migration transformiert die christliche Landschaft in Europa. So leben große Gruppen evangelischer Christen in Italien oder Irland, Katholiken in Schweden, Orthodoxe in Frankreich und Österreich.90 Brachen im 19. Jahrhundert zahlreiche Christen vom Norden der Welt in deren Süden auf, um dort missionarisch zu wirken, dynamisieren gegenwärtig Menschen aus dem Süden die Pluralisierung der christlichen Landschaft in Europa. Christliche Migrationsgemeinden, die sich zum katholischen, evangelischen, orthodoxen, methodistischen oder adventistischen Glauben bekennen91, finden sich heute in allen großen europäischen Städten. In London und Hamburg bilden Christen mit Migrationshintergrund mittlerweile sogar die Mehrheit.92 Diese Gemeinden können multioder monokonfessionell sein.93 Auch innerhalb ein und derselben Kirche sind Migrationschristen zwischenzeitlich in vielen Städten eine zwar vielfach übersehene, aber quantitativ und qualitativ relevante Minorität. Parallel zur Struktur der Mehrheitskirche und großteils unverbunden im Abseits – so z. B. in der Katholischen Kirche Mitteleuropas – gibt es eine Fülle anderssprachiger Migrationsgemeinden – für binneneuropäische Sprachgruppen, für Menschen aus Afrika, Lateinamerika und Asien, Ukrainer und Rumänen des byzantinischen Ritus, Russen des slawischen Ritus, Inder des syromalabarischen und syromalankarischen Ritus, syrisch-unierte Katholiken oder chaldäische Katholiken aus dem Irak.94 Christliche Migration verändert so sowohl Auswanderungs- als auch Einwanderungsländer. Man kann von einer „Enteuropäisierung“95des europäischen Christentums sprechen. Das unverbundene Nebeneinander dieser Gruppen, die mangelnde Kommunikation sowie Kooperation der Gruppen untereinander und mit der Mehrheitskirche vor Ort sowie die angemessene Repräsentanz und Partizipation in dieser sind besondere Herausforderungen für Katholizität96 und Ökumene. 88 Wie es die Evangelische Kirche bereits tut, vgl. Dantine 2001 oder in diesem Band der Beitrag von Michael Bünker. 89 Dehn / Hock 2005, 104 – 107; Baumann 2009, 350 ff. 90 Collet 2010b, 246. 91 Collet, 2010b, 246; Währisch-Oblau 2005. 92 Vgl. Bünker 2011. 93 Collet 2010b, 247. 94 Bünker 2011, 85 ff. 95 Collet 2010b, 243 – 266. 96 Delgado 2000, 597. Er beklagt dieses Nebeneinander zu Recht als „unkatholisch“ und kri-

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Ungezählte neue „postkonfessionell geprägte Migrationskirchen“97, weitgehend pentekostaler und charismatischer Provenienz, tragen ebenfalls zur Transformation der religiösen Landschaft Europas bei. Diese organisieren sich großteils selbständig und distanziert von den etablierten Kirchen.98 Angesichts der zunehmenden Pluralität bleibt die Frage offen, ob es inmitten dieser vielen Minoritäten überhaupt noch ein Mehrheitschristentum gibt.99 Die Tatsache, dass nicht alle Migrationschristen „gleich“ sind, forciert die Komplexität. Sie haben verschiedene Bildungsgrade oder soziale Herkunft – wie eben auch die Mehrheitsbevölkerung. Sie finden sich quer durch Kirchen und Christentümer in allen Milieus wieder. Zeitgerechte Katholizität verlangt nach ausgeprägter Kontextsensibilität und Differenz(ierungs)fähigkeit. Die „katholische“ Kernfrage scheint aber die nach der theologischen Bedeutung der Pluriformität des Christentums zu sein: Wie sind all diese Unterschiede zu interpretieren, mit denen Christen einander konfrontieren? Wird diese Frage nach innen nicht reflektiert, wird sie auch außen kaum zu klären sein. Migration forciert die Frage nach den „anderen Christentümern“ und deren theologischer Relevanz: Für das Christentum in allen Spielarten ist das ein „katholischer“ Testfall. Im 21. Jahrhundert kann keine einzige Region mehr von sich behaupten, „das Zentrum“ des Christentums zu sein. So leben in Europa geschätzte 25,7 %, in Nordamerika 12,3 %, in Lateinamerika 24,4 %, in Afrika 23,8 % und in Asien 13,2 % der Christen weltweit.100 Nur das Judentum weist eine solche globale Zerstreuung – Diaspora – auf wie das Christentum.101 Diasporal wird dessen Situation auch in Europa. Für Katholizität birgt diese Situation neue Aufgaben. Nach innen, d. h. für die Christenheit, formuliert sie Collet theologisch folgendermaßen: „Die Kirchen werden damit vor ökumenische Herausforderungen

97 98

99 100 101

tisiert vor allem die Abgeschlossenheit der ethnischen katholischen Gemeinden, insbes. in deren Auswirkung auf die zweite und dritte Generation. Er übersieht aber die Ursachen für deren Entstehung: Eine Minderheit kann sich immer nur soweit integrieren, als die Mehrheit ihr Teilhabe ermöglicht. Und die Mehrheitskirche ist in der Regel blind für ihre Binnenpluralität. Muttersprachliche Gemeinden oder nationale Missionen müssen per se kein Problem sein, entscheidend ist die Frage der Partizipation in der Gesamtkirche. Bünker 2011, 86. Zu ihrer Beschreibung: Bünker 2011, 88. So glauben sie an Mächte und Dämonen, haben andere Vorstellungen von Gott und Welt und stehen oft im diametralen Gegensatz zu aufgeklärter Religiosität. Empirisch und theologisch sind sie kaum erforscht. „Gemeinsamer Nenner“ dieser Christentümer ist oftmals nur die Bibel bzw. die „Jesus-Story“, vgl. Bünker 2011, 88. Bünker 2011, 89. The PEW-Forum on Religion and Public Life 2012a: URL: http://www.pewforum.org/ global-religious-landscape-christians.aspx [02. 01. 2014]. Wobei das Judentum auch mehrheitlich als gesellschaftliche Minorität lebt: 74 % der Christen, 41 % der Juden leben als gesellschaftliche Mehrheit. Vgl. ebd.

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gestellt, wie sie es denn mit der Vision von der einen Gemeinschaft in Christus, mit der ’Einheit in versöhnter Verschiedenheit’ und der ’Bewohnbarmachung der ganzen Erde für alle Menschen’ halten.“102 Was die globale christliche Diaspora theologisch nach außen für die Ökumene der Welt und der Religionen bedeutet, ist als Frage wahrscheinlich noch nicht einmal formulierbar. Das Phänomen Migration radikalisiert diese Herausforderungen und enthüllt eine grassierende „ökumenische Amnesie“103. Dabei gehört die Pluralität von Christentümern von Beginn an zur Geschichte des Christentums. Eine „interkulturelle Geschichte des Christentums“104 zeigt dessen polyzentrische Entfaltung. Es hat sich nicht im Rahmen einer linearen Expansionsgeschichte über die ganze Welt ausgedehnt, sondern ist eine „Geschichte vielfach ineinander verstrickter Kontexte, deren gemeinsamer Bezugspunkt nur über Brüche und Ungleichzeitigkeiten hinweg erkannt werden kann.“105 „Ökumenische Amnesie“ gehört allerdings ebenso von Anfang an zur Geschichte des Christentums106 – und damit auch vergessene Christentümer wie einst das palästinensische oder äthiopische Christentum oder gegenwärtig die evangelikalen, pentekostalen, charismatischen Bewegungen, die per se als religiös bzw. politisch reaktionär gelten. Neu ist allerdings die Globalität der Situation. Der katholische Theologe Karl Rahner hat dies bereits 1961 vorhergesehen und von der „planetarischen Diaspora“ als „heilsgeschichtlichem Muss“107 gesprochen. Worin dieses „Muss“ besteht, wird sich u. a. im Kontext von Migration erweisen.

2.3

Zeitalter der Humanophobien?

Migration kann Innovation und Kreativität in allen menschlichen Bereichen fördern. Dieses Potential erschließt sich allerdings nicht automatisch. Menschen, Gesellschaften und Staaten greifen gegenwärtig auf Denk- und Verhaltensweisen zurück, die ich als Humanophobien108 bezeichne, weil sie sich gegen Menschen richten: Antisemitismus und Islamophobie, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit109 sind zwar verschiedene Phänomene, lassen ihre Gemein102 Collet 2010b, 248. 103 Hock 2010, 29. Er meint die innerchristliche Ökumene, aber auch die Ökumene der Welt und der Religionen ist m. E. fragil. 104 Hock 2010, 19. 105 Hock 2010, 31. 106 Hock 2010, 32. 107 Rahner 1961, 13 – 47. 108 Ähnlich auch Heitmeyer 2002 – 2011: Er spricht von „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“. 109 In der amerikanischen Sozialwissenschaft subsumiert man diese Phänomene unter dem

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samkeit aber darin erkennen, dass Menschen in Zeiten krisenhafter Transformationsprozesse dazu tendieren, die Ursachen für die damit verbundenen Probleme, jeweils „anderen“ Menschen zuzuschreiben und diese mit Aggression und Hass auszugrenzen. Für die Rolle dieser „Anderen“ – oftmals „Fremde“ genannt – werden vorzugsweise Minoritäten ausgewählt, die sich aufgrund erhöhter Vulnerabilität (Armut, prekärer Rechtsstatus, niedriger Bildungsgrad) weniger wehren können oder aufgrund von Unterschieden zur Mehrheit110 Projektionsflächen bieten, denen man alles, was im Eigenen abgelehnt wird, zuschreiben und sich so entlasten kann. Diese „Problemlösungsstrategie“ hat historisch zu millionenfachem Genozid geführt, am erschreckendsten in der Shoa, und sich und ihre Protagonisten desavouiert. Aber ihre Denk- und Verhaltensweisen liegen nach wie vor in den kollektiven Gedächtnissen bereit. Sie können durch politische Instrumentalisierung jederzeit abgerufen und aktiviert werden, insbesondere wenn sie mit der nach wie vor weit verbreiteten Scham- und Schuldabwehr111 der unbearbeiteten Gewaltgeschichte von Kolonialismus, Faschismus oder Totalitarismus112 verbunden sind: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch.“113 Sozialwissenschaftliche Studien zeigen, dass Humanophobien aller Art weltweit weit verbreitet, mitunter sogar im Wachsen sind: vor allem in Einwanderungs- und Übergangsländern sowie im reichen Westen der Welt.114 Soziale Gruppen kategorisieren andere Gruppen auf der Basis phänotypischer oder kultureller Merkmale als „anders“ oder „inferior“. Biologische Merkmale, Kultur, Religion, Sprache werden zu stigmatisierenden Differenzmarkern – und dies insbesondere dann, wenn diese mit Armut115 gekoppelt auftreten. Ist es die eigene Angst vor Armut, die ausgegrenzt wird, weil deren Anblick an Fragilität und Ohnmacht, Bedürftigkeit und Verwiesenheit aller Menschen aufeinander erinnert?

110 111 112 113 114 115

Begriff „Rassismus“ und konstatiert für Europa die Weigerung diesen Begriff zu verwenden, insbesondere in Deutschland und Frankreich. Rassismus bedeutet, dass Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft, neuerdings ihrer „Kultur“ bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zugeschrieben werden. Vgl. Castles / Miller 2009, 37. Die Politikwissenschaftlerin Castro Varela spricht von der Abweichung von der „mythischen Norm“ des erfolgreichen, wohlhabenden, weißen Mannes, die sozial vulnerabel macht, vgl. Castro Varela 2007, 268. Vgl. Gottschlich 2012; Marks 2007. Dass sie sich auch bei von Ausgrenzung Betroffenen finden, lässt sich psychologisch und soziologisch erklären: Identifikation mit dem Aggressor, Übernahme von Zuschreibungen zur Identitätsabgrenzung u. a. Dies zeigt, wie tief verankert diese Muster sind. Zitat aus dem Drama von Bertold Brecht: „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“, Brecht 2004. Z.B. EUMC 2001; Castles / Miller 2009, 37; Gottschlich 2012; Rosenberger / Seeber 2011. Vgl. Wilkinson / Pickett 2012 (2009), 204 f.

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Ökonomische, soziale oder politische Macht (Gesetz, Politik, Administration) wird dazu benützt, um Ausbeutung und Exklusion zu legitimieren. So gibt es neben dem individuell-informellen und eng mit diesem verbunden auch einen institutionalisierten und strukturellen Rassismus.116 Sozialpsychologisch bzw. evolutionsgeschichtlich basieren Humanophobien u.a auf dem Phänomen des „parochialen Altruismus“117, d. h. dass sich Menschen evolutionsgeschichtlich am ehesten dann solidarisch verhalten, wenn sie als geschlossene Gruppe gegen andere auftreten.118 Parochialer Altruismus ist eine „Kombination aus Sippenliebe und Fremdenfeindlichkeit“119. Solidarität als Fähigkeit des Verzichts zugunsten anderer bezieht sich demnach dann bloß auf den Zusammenhalt innerhalb der eigenen Gruppe und bezieht ihre Stärke aus der gemeinsamen Feindschaft nach außen. Zwischen urtümlichen Stammesgesellschaften und dem neuzeitlichen Sozialstaat ist diesbezüglich wenig Unterschied.120 Demgegenüber stehen jüngere neurobiologische Studien, die die zentrale Bedeutung der Kooperation für das Zusammenleben betonen.121 Diese belegen, dass Humanophobien keinesfalls naturgesetzlich „normale“ Reaktionen sein müssen. Vielmehr wird deutlich, welche entscheidende Rolle Politik und Geschichte bei der Aktivierung menschenfeindlichen Verhaltens spielen. So haben die je konkreten Formen der Menschenfeindlichkeit auch historische Wurzeln – in Westeuropa, den USA oder Australien z. B. in Traditionen, Ideologien und kulturellen Praktiken, die sich im Zuge der Nationenbildung und des Kolonialismus ausgebildet haben.122 Gesellschaftliche Transformationsprozesse können diese Muster reaktivieren und der politische Diskurs sowie dessen Maßnahmen spielen die entscheidende Rolle123, ob diese inhumanen Reaktionsweisen forciert oder humane und für alle gerechte Lösungen für soziale Probleme gefunden werden. Migration und Religion als das irritierende „Fremde“ westlicher Gesellschaften erinnern an das verdrängte Phänomen der „Anderen“ sowie „das Fremde“, das sich bleibend entzieht.124 Sie stellen gesellschaftliche und kulturelle Selbstverständlichkeiten in Frage und irritieren den Mythos der Homogenität. Die Europäische Wertestudie 2008 – 2010125 zeigt z. B., dass sich in der Abwehr 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125

Castles / Miller 2009, 37. Palaver 2012, 121. Vgl. Bowles 2008. Palaver 2012, 123. (Zit. Schmitt, Stefan. 2009. „Die Wurzeln des Bösen“. In: Die Zeit (44), 22. Oktober.) Palaver 2012, 123. Bauer 2009; Nowak / Highfield 2011. Miles 1991 (1989). Rosenberger / Seeber 2011 für Westeuropa. Eine ausführliche Phänomenologie dafür bietet Gmainer-Pranzl 2012. Rosenberger / Seeber 2011, 183.

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von Migranten eine allgemeine Antipathie gegen alle Menschen verdichtet, die „anders“ zu sein scheinen. So ist der in dieser Studie für reiche, demokratisch stabile westeuropäische Länder errechnete „Antipathie-Index“ den Migranten gegenüber keinesfalls am stärksten: Am meisten werden soziale Randgruppen abgelehnt – Familien mit vielen Kindern, Drogensüchtige, Menschen mit psychischen Problemen, gefolgt von „Links- und Rechtsextremen“ sowie Minoritäten wie Muslime, Juden oder Roma und Sinti. Dieser „Antipathie-Index“ ist seit 1999 in Westeuropa zwar konstant geblieben, hat sich aber verlagert. Menschenfeindlichkeit hat sich organisiert, parteipolitisch formiert und fremdenfeindliche politische Einstellungen finden sich keinesfalls nur mehr in abstiegsgefährdeten sozialen Gruppen, sondern zunehmend stärker in der Mittelschicht. In Europa werden Migration und Religion mit „dem Islam“ verknüpft. Der religiös, der ethnisch und der sozio-ökonomisch Arme fallen dabei in eins und „der Islam“ wird zum „Fremden“ erklärt: „Immigranten- und fremdenfeindlicher Nativismus, die konservative Verteidigung der christlichen Kultur und Zivilisation, säkularistische und anti-religiöse Vorurteile, liberal-feministische Kritik am patriarchalischen Fundamentalismus, die Furcht vor islamistischen Terrornetzwerken – all dies wird überall in Europa zu einem anti-muslimischen Diskurs verschmolzen“.126

Auch die Kirchen in Europa sind von diesen Entwicklungen betroffen. Xenophobe Einstellungen hängen signifikant mit traditionellen religiösen Selbstverständnissen zusammen: Je religiös konservativer eine Person ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese „Fremde“ ablehnt.127 Ab- und Ausgrenzungstendenzen gegenüber Migranten lassen sich in den Kirchen ebenso finden wie eine Tendenz zum „integralistischen Rückzug“128. Säkularisierungs- und Pluralisierungsprozesse in der Gesellschaft und der kirchliche Bedeutungsverlust werden in der Katholischen Kirche so z. B. mit der Forderung nach Mission und Re-Evangelisierung beantwortet. Damit ist aber nicht immer das theologisch notwendige Fruchtbarmachen des christlichen Glaubens im Horizont der Gegenwart gemeint als vielmehr die Identitäts- und Vorrangsicherung in Europa.129 Migration wird dabei als Bedrohung (durch den Islam), als Mittel zur Re-Evangelisierung eines gottfernen Europa oder – im Inneren – gar nicht wahrgenommen. Migrationsgemeinden werden bestenfalls zur Integration in die ortskirchlichen Strukturen aufgefordert, ohne dass sich die einheimischen Gemeinden dabei selbst ändern wollen oder ökumenisch öffnen.130 Die Chance 126 127 128 129 130

Casanova 2009, 27. Vgl. Arts / Halman 2011, 85 ff. Huber 1993, 11. Vgl. Polak 2012. Collet 2010b, 356.

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der Migration, sich mit innerkirchlichen Ab- und Ausschließungsmechanismen, internen fremden(menschen)feindlichen Einstellungen und Strukturen oder euro- und ethnozentrischen Superioritätsvorstellungen auseinanderzusetzen, wird nur sehr zögerlich aufgegriffen. Dabei birgt Migration die Chance, vor Ort Weltkirche – also „katholisch“ – zu werden. Statt im Inneren multikulturell „ein Leib“ zu werden, werden die Migrationsgemeinden argwöhnisch beäugt und, wenn nicht zur eigenen Kirche gehörig, manchmal sogar als „Sekten“ bezeichnet.131 Deren ekklesiologische Relevanz, als Kirche „katholischer“ werden zu können, wird kaum wahrgenommen. So wiederholen sich im innerkirchlichen Raum vielfach jene Exklusions- und Marginalisierungsprozesse, die Migrationschristen auch in der Gesellschaft erfahren.132 Migrationsgemeinden greifen dann umgekehrt auf Schutzmechanismen der Abgrenzung und Profilierung der eigenen Identität zurück.133 Mehrheits- und Minderheitsgruppen in der Kirche entwickeln ihre je eigenen, theologisch und biblisch überhöhten Narrative zur Erklärung ihrer Situation als Minoritäten („Heiliger Rest“, „erwähltes Volk“, Diaspora).134 Der Minoritätsstatus wird zu einem „ästhetischen und programmatischen Projekt der eigenen Identitätsabsicherung“135. Migration birgt die Chance, das Verständnis von Katholizität zu weiten. Die Katholische Kirche konterkariert dieses Potential gegenwärtig durch Tendenzen einer konfessionalistisch verengten Re-Katholisierung. Bei vielen Menschen in Europa steht sie für Autoritarismus, Sexualfeindlichkeit, Missbrauch, Homosexuellenfeindlichkeit und gilt als kulturell reaktionär und gesellschaftlich veraltet.136 Wie sollen ihre großartigen Stellungnahmen137 zu Migration dann glaubwürdig erscheinen? Könnte sich eine zeitgerechte Katholizität nicht auch mit den internen Humanophobien, den eigenen strukturellen Exklusionsmechanismen und der Versuchung zum parochialen Altruismus selbstkritisch auseinandersetzen?

131 Collet 2010b, 256. 132 Mette 2010, 203. 133 Humanophobie ist selbstverständlich nicht nur ein Problem der Einheimischen; auch bei Migranten lassen sich parochialer Altruismus oder Xenophobie finden. Migrantische Identitätspolitik kann aber durch die Ablehnung der Umwelt verstärkt werden. 134 Bünker 2011, 91. 135 Bünker 2011, 91. (Vgl. auch Jacobs 2010). 136 Vgl. Gmainer-Pranzl 2013. 137 Vgl. Abschnitt 3.3 in diesem Beitrag.

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3.

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Theologische Begründung und Lernfelder für Katholizität

Das Christentum versteht sich als geschichtliche Religion. Deshalb betreffen alle gesellschaftlichen Veränderungen immer auch den Glauben, die Theologie und die Kirche in Selbstverständnis und Praxis. Weltbezug und Weltverantwortung des christlichen Glaubens sind so die zunächst naheliegenden Gründe, sich mit Migration auseinanderzusetzen. Migration ist mit dem Christentum auch historisch seit jeher aufs engste verbunden. Die Transformationen des christlichen Glaubens lassen sich ohne Migration gar nicht verstehen:138 So hat sich die christliche Antike mit Migrationen aus Zentralasien in den Mittelmeerraum und zum indischen Subkontinent verbunden; der Übergang von der Antike ins Mittelalter geschah gemeinsam mit den sogenannten „Völkerwanderungen“; zeitgleich zum Beginn der Moderne migrierten Menschen vom Osten in den Westen und die großen Seefahrtsunternehmungen sowie die Kolonisierung Amerikas begannen. Die Kirche hat in diesen Prozessen immer eine – ambivalente – Rolle gespielt. Christlicher Glaube und Theologie haben sich maßgeblich in diesen Migrationskontexten entwickelt. Gegenwärtig treten „nationale Grenzen, Patriotismus, Bindungen an ein Heimatland und seine Symbole hinter transnationale Kulturen und Gemeinschaftssymbole zurück, die sich über die Demarkationslinien offizieller Territorien hinwegsetzen“139. Demokratie und moderne Nationalstaatspolitik geraten in die Krise und „politische Macht manifestiert sich in neuen kulturellen, symbolischen und religiösen Formen“140. Durch Migration kommen Menschen und Gruppen anderer ethnischer und kultureller Prägung in die Nationalstaaten und verändern in deren Gesellschaften Werte, Lebensweisen und Religion. Christlicher Glaube und Theologie sind so erneut herausgefordert, Selbstverständnis und Praxis in diesem Kontext zu reformulieren. Dies betrifft zunächst wesentlich die Frage nach der Gerechtigkeit und dem Zusammenleben in Verschiedenheit. Der sozialwissenschaftliche Befund zeigt, dass weder Migration noch Religion Ursache der damit verbundenen Probleme ist. Vielmehr können Migration und Religion tiefliegende individuelle und strukturelle Schwierigkeiten menschlichen Zusammenlebens aufdecken, die alle Menschen betreffen. Das Christentum als ethischer Monotheismus ist von daher verpflichtet, sich mit den sozialen, ökonomischen und politischen Dimensionen von Migration zu beschäftigen. Das soziale und politische Engagement im Horizont von Migration ist Ausdruck des Glaubens. Denn aus theologischer Sicht sind die Fragen nach Gerechtigkeit und Zusammenleben immer zugleich Fragen 138 Vgl. Lefebvre / Susin 2008, 518. 139 Lefebvre / Susin 2008, 518. 140 Lefebvre / Susin 2008, 518.

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nach Gott.141 Welt und Geschichte sind nicht allein Orte, in denen sich Glaube „umsetzt“ oder „bewährt“. Aus der Sicht des Glaubens sind sie Orte der Anwesenheit, des Handelns und Wirkens Gottes. Sie sind theologiegenerative Orte der je tieferen Gotteserkenntnis, sogenannte loci theologici. Wenn die Wahrheit Gottes in die Schöpfung eingegangen und immer schon inkarniert anzutreffen ist, muss sie sich daher auch im Phänomen Migration wahrnehmen lassen. Insofern ist Migration auch nicht bloß ein Applikationsort für Theologie. Sie ist eine Wirklichkeit, in der sich die Frage nach Gott stellt. So frage ich nun: Was ist Migration aus theologischer Sicht? Was kann Katholizität zu ihrem Verständnis beitragen?

3.1

Migration ist ein „Zeichen der Zeit“

Aus der Sicht des Glaubens ist Migration ein „Zeichen der Zeit“142. Sie verändert das Bewusstsein der Menschheit über sich selbst und kann darin Gottes Präsenz auf neue Weise erschließen – in der Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen der Schöpfung, aber auch im Aufruf zu mehr Gerechtigkeit. Sie kann Situationen und Orte eröffnen, in und an denen Gläubige die geoffenbarte Wahrheit „tiefer erfassen, besser verstehen und angemessener verkündigen können“143. Basierend auf der Verbundenheit und Solidarität der Gläubigen mit allen Menschen können Gläubige in diesem „Zeichen der Zeit“ nach Gott suchen und ihn finden. Dies geschieht, indem Gläubige z. B. gemeinsam mit den Migranten um deren Würde und Anerkennung kämpfen, weil sie den Mangel an Gerechtigkeit als menschliche Gottesferne interpretieren. Migration lässt sich freilich nicht automatisch als „Zeichen der Zeit“ erkennen. Es braucht sowohl gläubige Gemeinden, die die Gegenwart im Licht des Evangeliums deuten, als auch eine kritische sozialwissenschaftliche, historische und theologische Reflexion. Vor allem bedarf es konstitutiv der Perspektive der Wahrheit der Migranten, seien diese gläubig oder nicht gläubig.144 Nur mit ihnen kann Migration zum Ort der Gotteserkenntnis werden. Erst in diesem Zusammenwirken kann Gottes Offenbarung im „Zeichen der Zeit“ Migration wahrgenommen werden. 141 Biblisch ist Gerechtigkeit eine Offenbarungsform Gottes. Die ethische Forderung nach Gerechtigkeit ist Ausdruck und Folge der Glaubenserfahrung, dass Gott gerecht ist und sein Volk aus ungerechten Lebensverhältnissen gerettet hat (Exodus aus Ägypten, Exil in Babylon). 142 Vgl. Gaudium et Spes 4; 11. Ausführlich vgl. Polak / Jäggle 2012. “Zeichen der Zeit” sind nicht per se ident mit historischen Wirklichkeiten, sondern sind geschichtliche Ereignisse, die aus der Perspektive gläubiger Gemeinden kritisch reflektiert werden und in denen man Gottes Anwesenheit erkennen kann. 143 Gaudium et Spes 44. 144 Vgl. Gaudium et Spes 44.

Migration und Katholizität

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Das Lehramt der Katholischen Kirche hat diese Sicht auf Migration bereits 2005 in seiner Instruktion Erga migrantes Caritas Christi formuliert: „Wir können also das gegenwärtige Migrationsphänomen als ein sehr bedeutsames ’Zeichen der Zeit’ betrachten, als eine Herausforderung, die es beim Aufbau einer erneuerten Menschheit und in der Verkündigung des Evangeliums des Friedens zu entdecken und zu schätzen gilt.“145

„Zeichen der Zeit“ bedeutet Gabe und Aufgabe in einem. Migration ist deshalb auch ein locus theologicus: ein Ort, an dem Gläubige Glaube und Theologie neu leben und vertieft verstehen lernen können. In diesem Prozess können sie Gott anders oder neu wahrnehmen.

3.2

Migration ist ein locus theologicus proprius146

3.2.1 Migration als Horizont biblischer Glaubenserfahrung Migration gehört elementar zum Selbstverständnis des Glaubens. Die biblischen Bücher sind zu einem Großteil im Kontext von Migration entstanden.147 Im Alten Testament ereignet sich in der Geschichte von Exil, Vertreibung, Wanderung, Fremd-sein und Diaspora die Offenbarung Gottes. Diese Geschichte148 beginnt mit der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies (Gen 3), führt von der Neuansiedlung Noahs und seiner Nachkommen nach der Sintflut (Gen 8), dem Aufbruch von Abraham und Sarah aus Haran (Gen 12), Jakobs Flucht vor Esau nach Haran (Gen 28), Josephs Verschleppung nach Ägypten (Gen 37) bis zur Übersiedlung der ganzen Sippe Jakobs nach Ägypten (Gen 46). Sie gipfelt im Auszug der Israeliten aus Ägypten und den Durchzug nach Palästina (ab Ex 12), reicht von den Exilserfahrungen nach dem Untergang Israels im 8. und 6. Jahrhundert v. Chr. bis zur endgültigen Vertreibung der Juden aus Judäa mit der zweiten Zerstörung des Tempels um 135 n. Chr. Diese Ereignisse wurden als „Lernerfahrung und Erfahrungsschatz genutzt und verarbeitet“149 und biblische Theologie wird zu einer „Theologie der Migration“. Migranten-Identität wird zum Bestandteil des Glaubensbekenntnisses.150 Die eigene Leidenserfahrung wird zu einer „empathischen Xenologie“151, die sich im Gebot der Gastfreund145 Erga migrantes 14. 146 Ein glaubens- und theologiegenerativer Ort, der aus dem Inneren des Glaubens selbst stammt und aus inneren Gründen notwendig ist. 147 Lohfink 1987, 223 spricht von „Exilliteratur“. Vgl. auch Müllner 2011. 148 Vgl. zum Folgenden Dehn / Hock 2005, 111 ff. 149 Dehn / Hock 2005, 111. 150 Vgl. Dtn 26,5 – 9: „Mein Vater war ein heimatloser Aramäer.“ 151 Dehn / Hock 2005, 111.

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schaft und einer differenzierten Gesetzgebung für Fremde verdichtet. Diese findet ihren Höhepunkt im Gebot, den Fremden zu lieben wie sich selbst. So hat das im Alten Testament singuläre Gebot der Nächstenliebe zwei Gestalten. In Lev 19,18 bezieht sie sich auf den Nächsten, in Lev 19,34 auf den Fremden: „Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei dir aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.“

Dieses Gebot wurde auch im deuteronomistischen Gesetzeswerk aufgenommen: „Er (= Gott) verschafft Waisen und Witwen ihr Recht. Er liebt die Fremden und gibt ihnen Nahrung und Kleidung – auch ihr sollt die Fremden lieben, denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen.“ (Dtn 10,18 f)152

Auch der Umgang mit Diversität ist (im Dekalog) geregelt: Die Fremden können an den Festen teilnehmen, ohne die religiösen Pflichten übernehmen zu müssen (Ex 20,10; Dtn 5,14). Migration bildet demnach den Erfahrungsraum, der das ethische, spirituelle und theologische Selbstverständnis von Juden und Christen – wenn auch in verschiedener Weise interpretiert – von Anfang an prägt. Dabei hat Migration weder einen per se religiösen Eigenwert noch wird sie theologisch überhöht. Im Zentrum stehen vielmehr „Wohl und Würde“ des Migranten sowie sein Recht auf einen „Zielort, eine Bestimmung, die nicht sein ’Heimatland’ sein muss, die ihn aber zu sich kommen lässt.“153 Migration ist bereits im Alten Testament eng mit der Frage nach Recht und Gerechtigkeit verbunden. Sie gründet in der schöpfungstheologischen Erkenntnis, dass jeder Mensch, unabhängig von Ethnie, Farbe, Geschlecht, Religion das Ebenbild Gottes ist und daher alle Menschen von gleicher Würde sind. Daher ist religiöses Heil ohne Gerechtigkeit in der irdischen Welt nicht möglich. Migrationserfahrung ist für diese theologischen Erkenntnisse der genuine „Sitz im Leben“. Sensibilisiert sie in besonderer Weise für spezifische Glaubenserkenntnisse?154 Auch das Neue Testament ist von Migrationserfahrung geprägt. Jesus ist als Wanderprediger in Galiläa unterwegs, sein Leben beginnt mit der Flucht nach Ägypten und ist von Heimatlosigkeit geprägt. Diese Heimatlosigkeit wird auch für seine Jünger zur Verpflichtung, damit sie das Reich Gottes verkünden können. Das Selbstverständnis als „Fremde“ und „Gäste“ auf Erden (Hebr 11,13; 1 Petr 2,11) gehört zum Selbstverständnis der ersten Christen. Jungen Christengemeinden wurden „Anhänger des Weges“ (Apg 9,2), „die den Weg des Frie152 Vgl. Braulik 2005. 153 Dehn / Hock 2005, 112. 154 Bergant 2003 arbeitet z. B. die Vulnerabilität als Bedingung der Möglichkeit für Gotteserfahrung heraus, wie sie Migranten in besonderer Weise aufweisen.

Migration und Katholizität

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dens“ (Lk 1,79) und „den Weg der Wahrheit“ (2 Petr 2,2) gehen, genannt. Paulus, der erste „international“ wandernde Apostel betont die unhintergehbare Einheit der Menschen in ihrer Verschiedenheit in Christus (z. B. Gal 3,28; Kol 3,10 – 11). Die Verantwortung für den Fremden wird zum ethischen Gebot und darin zum spirituellen Begegnungsort mit Christus selbst (Mt 25). Das missionarische Selbstverständnis des Christentums hängt ebenso wie seine Verbreitung untrennbar mit Migrationserfahrungen zusammen. Diese wurden im Sinne der Verwirklichung des universalen Sendungsauftrages der Kirche gedeutet, sind also locus theologicus für christliche Missionstheologie.155 Bis in die Patristik hinein kennt die junge Kirche eine Spiritualität der Migration:156 Sie versteht sich als universale Kirche, die immer nur provisorisch inkarniert in eine pilgernde Kirche eingebettet ist und darin ein Zeichen der Hoffnung darstellt. Sie ist bereit zur Aufnahme unterschiedlichster Menschen und Völker in deren Vielfalt und ist bei allen Differenzen gemeinschaftsbildend. Im Zuge der Sesshaftwerdung und Machtakkumulation ist dieses Erbe freilich in Vergessenheit geraten. Das Christentum ist diesem Selbstverständnis nicht immer treu geblieben und hat es als Verfolgerin bisweilen sogar verraten. Der christliche Antijudaismus über Jahrhunderte gibt dafür ebenso Zeugnis wie die Tatsache, dass Religionsfreiheit und Anerkennung der religiös Anderen erst sehr spät im Christentum rezipiert wurden.

3.2.2 Migration und Katholische Kirche In der Katholischen Kirche kommt Migration als genuin theologisches Thema erst wieder im Zuge der Auswanderungsbewegungen des 18. Jahrhunderts in das „offizielle“ kirchliche Bewusstsein.157 Dies geschieht im Kontext von Mission „als Auftrag und als innerem Moment des Glaubens selbst“158. Einer der Pioniere in dieser Frage war Giovanni Battista Scalabrini, der bereits im 19. Jahrhundert Migration als religiöse, politische und soziale Frage wahrgenommen hat. Insofern Migration damals im Kontext von Armut und Ausbeutung angesiedelt war, hatte Migrationspastoral und -theologie einen zunächst primär „assistentialistischen Charakter“: Im Fokus stehen Nächstenliebe, Fürsorge und Dienst an den 155 Bünker 2011, 7. 156 Lussi 2008, 557, zitiert die brasilianische Theologin Analita Candaten. 157 Lussi 2008, 551. – Immer wieder haben sich vereinzelt Christen, insbes. Mystiker, Ordensgründer und Heilige dieser Tradition besonnen und Spiritualitäten der Pilgerschaft gelebt. Christliche Gemeinden haben „Fremde“ unterstützt. Aber als konstitutiv christliche Frage – auch nach Gerechtigkeit – war Migration kein offizielles kirchliches oder theologisches Thema. 158 Lussi 551.

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Migranten. Fast hundert Jahre lang dominierte so eine „pauperistische“ Perspektive auf Migration, trotz bedeutsamer Publikationen wie Exsul Familia 1952. Es lag außerhalb des Blickwinkels, Migranten als Zugehörige der Kirche oder gar als Bereicherung wahrzunehmen. Auch die Frage nach der Gerechtigkeit wurde nicht gestellt. Dies hat sich – vorläufig primär in Lateinamerika – in den vergangenen Jahrzehnten geändert. Ausgangsort einer Theologie der Migration sind nun die Migranten selbst. Migration wird zum „Ort, von dem her die theologische Reflexion entwickelt wird“, wodurch Migration zu einer „Quelle der Inspiration und der theologischen Arbeit“ wird – und nicht mehr nur „Gelegenheit für Nächstenliebe und Mission“.159 So kann Migration auch zum locus theologicus für die Frage nach der Gerechtigkeit werden: „Fremde willkommen zu heißen ist nicht nur eine Option der Nächstenliebe, sondern sowohl für die Kirche als auch für die Gesellschaft eine Frage der Gerechtigkeit.“160 Die lateinamerikanische Migrationstheologie zeigt, dass Migration auch locus theologicus für vertiefte spirituelle Erfahrungen sein und trotz tragischer Schicksale neues Leben eröffnen kann. Migration eröffnet die Möglichkeit, Gott als Wegbegleiter, als Gott unterwegs zu erfahren, der „nicht auf der anderen Seite der Grenze bleibt“161 und in Zeiten des Überlebenskampfes zur „Quelle der Hoffnung“162 werden kann. Die Verletzlichkeit des Migranten kann eine Gotteserfahrung besonderer Art ermöglichen. Der Glaube kann sich verändern. Die Grenzüberquerungen ermöglichen neue Inkulturationen des Glaubens. Auch die Ansässigen können im Kontakt mit Migranten dabei Neues über den Glauben lernen. Dies setzt freilich voraus, dass die Gläubigen „Migranten mit den Migranten“ werden und Leben mit ihnen teilen. Migranten sind nicht primär Opfer, für die man zu sorgen hat: Sie sind zuerst Mit-Menschen. Armut und Not sind zu bekämpfen. Aber nur wenn Migranten als Gesprächspartner, Vermittler, Lehrer und Propheten ernstgenommen werden, kann Migration zum locus theologicus werden.163 Migration ist deshalb auch unabdingbar für die Gestalt, die innere Struktur der Gemeinschaft und die Lebensdynamik der Kirche. Deshalb ist es nicht die Gemeinde bzw. Pfarre, die Migranten aufnimmt. Es verhält sich umgekehrt: „Die Aufnahme des Migranten, des Reisenden, des Pilgers auf ihren Straßen macht die Pfarrei erst zu einer solchen.“164 Wenn die Kirche also migrationsblind ist und ihren migrantischen Glaubensbrüdern und -schwestern (nicht einmal) im 159 160 161 162 163 164

Lussi 2008, 551. Tomasi 2008, 532. Lussi 2008, 558. Lussi 2008, 558. Lussi 2008, 554. Lussi 2008, 552.

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Inneren Teilhabe ermöglicht, ist das ein spirituelles Alarmsignal. Migration ist kein kontingentes Problem der Kirche, das es intern und extern sozial und politisch zu lösen gilt. Sie gehört zur inneren Dynamik der Kirche selbst. Die Aufnahme von Migranten ist nicht bloß ein gutes Werk der Kirche, sondern gehört zu ihrem Selbstvollzug. Erga migrantes formuliert dies so: „Die Aufnahme des Fremden, die der frühen Kirche eignet, bleibt also ein dauerhaftes Siegel der Kirche Gottes. Sie bleibt gleichsam gekennzeichnet von einer Berufung zum Exil, zur Diaspora, zur Zerstreuung unter die Kulturen und Volksgruppen, ohne sich je völlig mit einer von ihnen zu identifizieren, denn andernfalls würde sie aufhören, eben Angeld und Zeichen, Sauerteig und Verheißung des universalen Reiches zu sein als auch eine Gemeinschaft, die jeden Menschen ohne Vorzug von Personen und Völkern aufnimmt. Die Aufnahme des Fremden gehört also zum Wesen selbst der Kirche und bezeugt ihre Treue zum Evangelium.“165

Migration hat eine ekklesiologische Bedeutung: Sie dient dem Aufbau der Kirche. Wenn es um das Zusammenleben mit den Migranten in der eigenen Kirche geht, ist dies ein locus theologicus proprius: „Die Migrationen bieten den einzelnen Ortskirchen die Gelegenheit, ihre Katholizität zu überprüfen, die nicht nur darin besteht, verschiedene Volksgruppen aufzunehmen, sondern vor allem darin, unter diesen ethnischen Gruppen eine Gemeinschaft herzustellen. Der ethnische und kulturelle Pluralismus in der Kirche stellt keine Situation dar, die geduldet werden muss, weil sie vorübergehend ist, sondern eine ihr eigene strukturelle Dimension. Die Einheit der Kirche ist nicht durch den gemeinsamen Ursprung und die gemeinsame Sprache gegeben, sondern vielmehr durch den Pfingstgeist, der Menschen aus unterschiedlichen Nationen und verschiedener Sprache zu einem einzigen Volk zusammenfasst und so allen den Glauben an denselben Herrn verleiht und aufruft zur selben Hoffnung.“166

Das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte eröffnet der Kirche ein kreatives „Experimentierfeld für Innovationen“167: Die Gläubigen, die ihre eigenen kulturellen Traditionen mitbringen, ermöglichen der Kirche neue Erfahrungen, neue pastorale Konzepte, die die Kirche jung halten und die Gesellschaft verändern, neue theologische Ideen. Die Vielfalt der religiösen und kulturellen Ausdrucksformen und Gaben bereichert Katholizität. Dabei werden Konflikte, Vorurteile und Wunden auf allen Seiten aufbrechen. Aber dies ist notwendig, denn nur so werden Prozesse der Heilung, der Versöhnung und eines Einswerdens in Verschiedenheit überhaupt möglich.

165 Erga migrantes 22. 166 Erga migrantes 103. 167 Tomasi 2008, 533.

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Entspricht Katholizität als Gabe und Aufgabe damit dem Phänomen Migration nicht angemessener als integralistische Vorstellungen? Migranten werden nicht in eine größere Einheit hinein aufgenommen: Sie sind unverzichtbare Mitgestalter neuer Lebens- und Glaubensweisen, die nur gemeinsam zu entdecken sind. Migrationsgemeinden helfen der Kirche, die eigene Universalität wieder zu entdecken und die ökumenische Dimension zu vertiefen. Zugleich zwingt Migration dazu, die je eigenen, konfessionalistisch verengten Vorstellungen von Orthodoxie und Uniformität168 zu überprüfen. Migrationsgemeinden fordern dazu auf, die Grenzen alter Existenzweisen und überkommener Lebensformen169 zu überschreiten und darin den Ruf Gottes zu erkennen. Migration ist ein Lernfeld für die Kirche, das diese unterstützt, mehr sie selbst zu werden. Migranten sind kein „Sozialprojekt“, sie haben vielmehr „fundamentaltheologischen Charakter“170. Sie erinnern die Gläubigen daran, wer sie selbst sind: Migranten – „Fremdlinge“ – in der Welt. Migration ist der Aufruf zu jenem Universalismus, der nur in einer vielfältigen Praxis an konkreten Orten wirklich werden kann. Er zeigt sich in einer multikulturellen Kirche, einem „Volk Gottes aus den Völkern“, einer wahrhaft katholischen Kirche. Diese Vision ist keinesfalls neu: Das Christentum hat sich von Anfang an als multikulturelles Projekt verstanden. Historisch lassen sich dabei zwei Phasen beobachten:171 Multikulturalität wird in der ersten Phase unter dem gemeinsamen Dach einer übernationalen Kultur gelebt – in der Ostkirche griechisch, in der Westkirche lateinisch geprägt. Nahe an der urchristlichen Vision versteht sich das Volk Gottes als ein Volk aus Völkern. In der zweiten Phase steht mehr die Inkulturation im Zentrum: Auf dem Boden verschiedener Nationalkulturen entwickeln sich Christentümer, ein Volk in vielen Völkern und Kulturen. Mit dem Zweiten Vatikanum erhält dieses Modell neue Brisanz; an der „Einheit der Menschheitsfamilie“ und dem „Einswerden der Welt“ hält die Kirche aber nachdrücklich fest.172 So beschreibt Lumen Gentium173 die Kirche als Volk Gottes, das in allen Völkern der Erde wohnt. Die ihm Zugehörigen entstammen der ganzen Welt. In diesem Volk gibt es zwar die Unterschiede der Völker, aber in Christus sind sie eins, d. h. verbunden und zusammengehörig. Katholizität wird dabei als jene Kraft verstanden, die es ermöglicht, dass die einzelnen Teile ihre je eigenen Gaben den übrigen Teilen und der ganzen Kirche hinbringen, „so dass das Ganze und die einzelnen Teile zu-

168 169 170 171 172 173

Collet 2010b, 258, Vgl. Dehn / Hock 2005, 114. Gmainer-Pranzl 2013, 123. Vgl. Delgado 1996, 223. Vgl. Delgado 1996, 223. Lumen Gentium 13, 32.

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nehmen aus allen, die Gemeinschaft miteinander halten und zur Fülle der Einheit zusammenwirken.“174 Wenn in Europas Großstädten heute katholische Christen aus verschiedensten Kulturen zusammenkommen, ist die Kirche bereits im Inneren mit neuartigen Grenzüberschreitungen konfrontiert. Das gesellschaftliche Zusammenleben mit Christen aus aller Welt und aller Konfessionen forciert diese Grenzüberschreitung und verweist auf die ökumenische Dimension von Katholizität. Diese Situation kann nationalstaatlich-kulturalistische Vorstellungen von Kirche und Christentum ebenso irritieren wie sie der zunehmenden „Tribalisierung der Welt“175 entgegenwirken und das urchristliche Projekt einer „Welt-Kirche“ weiterführen kann. In einer solchen werden kollektive Identitäten von Nation, Rasse oder Klasse nachrangig zu Gunsten einer Kirche, in der alle mit ihren Unterschieden Platz finden und niemand mehr ein Fremder ist. Wie einst in Rom, Korinth oder Kolossä, wo die „üblichen Berufsvereinigungen, Kultverbände, Begräbnisvereine etc. zur sozialen Homogenität tendierten“176, während in den christlichen Gemeinden ethnische, soziale und geschlechtliche Schranken relativiert waren, könnten Christen in Berlin, Frankfurt, Paris oder Wien die Vision verwirklichen, ein Volk unter Völkern zu sein. Die Kirche könnte sich erinnern, dass sie sich von jeher als transnationale Kirche verstand.

3.3

Migration ist ein locus theologicus alienus

3.3.1 Wer sind die (migrierenden) Anderen der Kirche für die Kirche? Die bisherigen Überlegungen haben Migration vor allem als Herausforderung für das Innere der Katholischen Kirche und die christliche Ökumene thematisiert und auf christliche bzw. katholische Migranten fokussiert. Der besondere Beitrag römisch-katholischer Theologie besteht dabei in der Betonung der universalen Dimension des christlichen Glaubens, die auf die Einheit der Menschheit mit Gott und der Menschen untereinander zielt. Mit Blick auf die damit verbundene universale Rede vom Volk Gottes stellen sich im Horizont einer religiös pluralen Welt aber schwierige Fragen: Wer ist dieses Volk Gottes? Wenn das jüdische Volk das erste erwählte Volk Gottes ist, ist dies die Kirche dann nur in einem analogen Sinn, indem sie an dieser Erwählung teilhat?177 Wie verhält es sich überdies mit den religiös Anderen, den Muslimen, den Angehörigen anderer Religionen, den Nicht-Glaubenden? Zudem kennen auch an174 175 176 177

Lumen Gentium 13. Delgado 1996, 224. Delgado 1996, 224. Vgl. Zerfaß 2000, 173.

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dere Religionen wie Judentum und Islam Glaubenserfahrungen transnationaler und universaler Ausrichtung. Was bedeuten diese für die Kirche? Migration macht die Dringlichkeit theologischer Fragen deutlich sichtbar : Was bedeutet die globale Migration jener, die nicht zur Kirche gehören bzw. keine Christen sind, für den Glauben, die Theologie, die Kirche? Die Migration der religiös und kulturell „Anderen“ ist ein locus theologicus alienus178und als solcher eine epochal neuartige praktische und theologische Herausforderung. Migration verweist in diesem Kontext auf die „Außenseite“ der Katholizität: Wie lässt sich die Universalität in Bezug auf die „Anderen“ der Kirche und des Christentums denken und leben, wenn sich monodirektionale, imperiale Formen als Irrweg erwiesen haben und auch eine „sanfte“ theologische Vereinnahmung keine Option ist? In dieser Hinsicht stehen Reflexion und Praxis wohl erst am Anfang. So lassen sich derzeit in der Katholischen Kirche zwei dominante Verständnisweisen von Katholizität erkennen.179 Sie unterscheiden sich in der Frage, wie sich die Kirche im Verhältnis zur Welt sieht: als Teil der Welt und mit dieser verbunden oder als Gegenüber. Schreiter ortet zwei Faktoren für die verschiedenen Zugänge. 1) Der externe Faktor hängt von den Antworten auf die Frage ab, „wie man die Welt in Bezug auf Gott, die Heilsgeschichte und die Rolle der Kirche in ihr sieht.“180 2) Der interne Faktor betrifft die Interpretation des Zweiten Vatikanischen Konzils und die Bestimmung seiner Rolle in der Kirchengeschichte: Wendet es sich nach zwei Jahrhunderten der Abwendung nun radikal der Welt zu und bricht mit der Vergangenheit, um der Komplexität der modernen Welt besser zu entsprechen? Oder möchte es die Kirche im Inneren besser ausrichten, damit diese ihre Wahrheit besser in die Welt tragen kann? Je nach Antwort wird Katholizität dann 1) im ersten Konzept verstanden als „Ausdehnung der Kirche über die ganze Welt und zwar im geographischen wie theologischen Sinne“181. Die Kirche überbringt das Evangelium von Jesus Christus und führt die missio Dei aus, den Auftrag des dreieinen Gottes in der Welt. Dieser besteht in der Verkündigung von Heilung, Erlösung und Versöhnung für alle Menschen. Diese Verkündigung vollzieht die Kirche, indem sie weniger auf sich selbst als vielmehr auf die Welt sieht, sich dieser zuwendet (d. h. wie Christus entäußert) und an ihren Freuden und Leiden, Hoffnungen und Ängsten teilhat. Sie muss dazu die „Zeichen der Zeit“ lesen und sich in den Dienst der Welt stellen. 2) Das zweite Konzept geht demgegenüber vom Geschenk der Fülle des Glaubens aus, die der Kirche als Offenbarung geschenkt 178 Ein glaubens- und theologiegenerativer Ort, der nicht unmittelbar zur Kirche gehört, auf den sie aber zur Gotteserkenntnis verwiesen ist. 179 Vgl. zum Folgenden Schreiter 2008, 542 ff. 180 Schreiter 2008, 542. 181 Schreiter 2008, 543.

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und von dieser bewahrt und vermittelt wird. Die Kirche ist daher Garantin des ganzen und lebendigen Glaubens. Sie stellt sich so der Welt gegenüber und eröffnet ihr im Lichte der Offenbarungswahrheit eine alternative Sicht auf sich selbst. Sie bringt die Wahrheit in eine sündige und gefallene Welt. Die Hoffnung der Welt besteht darin, auf die Kirche zu hören und mit ihr das Reich Gottes zu betreten. „Zeichen der Zeit“ sind in diesem Ansatz apokalyptische Zeichen, die beweisen, dass Gott in die Welt einbricht und sie in Gericht und Erlösung radikal säubern und reinigen muss. Während im ersten Ansatz dem Menschen zugetraut bzw. zugemutet wird, selbst etwas beizutragen für eine bessere Welt, wird die Erlösung im zweiten Ansatz primär Gott zugetraut. Das Verständnis von Katholizität hängt eng mit dem Verständnis von Heilsgeschichte, Gottes- und Menschenbild zusammen. Beide Zugänge beantworten die Frage nach der Bedeutung der (migrierenden) Anderen nicht zureichend. In beiden Modellen sind diese keine für die Heilsgeschichte relevanten Subjekte. Die Erinnerung an die Gewalt- und Leidensgeschichte der Menschheit und die ambivalente Rolle der Kirche darin zwingt jedoch zum Umdenken. Die Anderen sind nicht nur die – bestenfalls – Subjekte christlicher Mission, die man für den eigenen Glauben und die Kirche zu gewinnen versucht. Expansionsmodelle sowie Säuberungsvorstellungen aller Art haben sich historisch als unchristlich widerlegt. Aber ist nicht jedes eindirektionale, noch so sanfte Evangelisierungsverständnis zu eng? Fordert die Frage nach den Anderen das Verständnis und die Praxis von Katholizität nicht weitaus radikaler heraus? „Katholisch“ kann in diesem Horizont nur mehr bedeuten, vom „Bund zwischen dem einzigen Gott und der Pluralität menschlicher Erfahrungen“ auszugehen, sich immer wieder zu Gott zu bekehren und sich so aus Liebe, nicht aus Besitzstreben, den Anderen – Kulturen, Traditionen, Geschichten, Menschen – im Bewusstsein zuzuwenden, „dass sie der Offenbarung Gottes fehlen.“182 Das bedeutet nicht, dass Gottes Offenbarung unvollständig wäre. Aber die Gläubigen können diese niemals verstehen und verwirklichen, ohne die Anderen zu hören, gleich ob sie zur Kirche gehören oder nicht, ob sie gläubig sind oder nicht.183 Das aber bedeutet: Die Kirche braucht die Anderen, um wahrhaft katholisch werden zu können, auch dann, wenn diese nicht zu ihr gehören. Sie kann und muss von ihnen – in diesem Fall: von den Migranten – lernen, wer sie selbst ist. Dies bedeutet nicht, die Anderen zu idealisieren oder sie als „fremdes Exoticum“ zu nützen, in dem sich Kirche spiegelt, und sei es im Mitleid für diese. So 182 Diese Gedanken verdanke ich De Certeau 2009, 105. 183 Gaudium et Spes 44 bietet für diese Überlegungen den theologischen Ausgangspunkt.

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sind Migranten weder die besseren Christen noch die besseren Menschen. Sie sind auch nicht die „radikal Anderen“. Jeder Mensch ist für den Anderen ein Anderer. Aber Migration erinnert an diese menschliche Wirklichkeit. Migranten können der Kirche ermöglichen, an Unterschieden zu lernen. Dazu ist es nötig, die Glaubenserfahrungen aller zur Sprache zu bringen und anzuerkennen. Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte werden sich dabei verändern. Die Anerkennung der Anderen ist notwendig für die Heilsgeschichte von Welt und Kirche. Diese Anerkennung der Anderen forciert Pluralität und verlangt nach neuen Lebens- und Verstehensweisen von Einheit. Auch in dieser Frage zeigen die beiden dominierenden Modelle von Katholizität ihre Unterschiede.184 Während 1) im ersten Ansatz die Vielfalt der Ausgangspunkt ist und die Frage nach der Einheit sich erst im Anschluss daran stellt, betont 2) der zweite Ansatz zuerst die Universalität des Glaubens, verkörpert in der Einheit der Kirche, und wendet sich erst danach der Pluralität zu. Das erste Modell respektiert Vielfalt sehr viel klarer als das zweite, allerdings bleibt oft die Frage offen, wie Einheit dann konkret aussehen könne. Beim zweiten Modell ist dieses klarer, dafür können Zweifel aufkommen, ob Vielfalt tatsächlich ernst genommen wird. Die Antworten auf diese offenen Probleme werden nicht am Schreibtisch entworfen werden. Sie entstehen in der Praxis der Kirche und werden die Theologie verändern. Ihre evangeliumsgemäße Qualität entscheidet sich wesentlich an der Wahrnehmung und am Umgang mit den Anderen. Deren Erfahrungen werden ein wesentliches Kriterium sein, ob und wie es gelingt, Katholizität zu realisieren. Die Möglichkeiten interkulturellen, interreligiösen und ökumenischen Lernens, die Migration derzeit eröffnen, sind jedenfalls das zentrale Laboratorium einer Katholizität der Zukunft. 3.3.2 Kirchen als Akteure Die christlichen Kirchen sind in diesem Zukunftslaboratorium schon länger Akteure.185 Aus der Fülle einige Beispiele: Die Evangelische Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz haben 1997 in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen ein „Gemeinsames Wort zu den Herausforderungen von Migration und Flucht“186 herausgegeben: Der Text „[…] 184 Vgl. Schreiter 2008, 547. 185 An der Universität Mainz entsteht dzt. eine Dissertation, die die kirchlichen Stellungnahmen zur Europäischen Asyl- und Migrationspolitik von 1974 – 2004 erforscht, vgl. Ludwig 2013. 186 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland / Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland 1997.

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und der Fremdling, der in Deinen Toren ist“ bietet historische, biblische, ethische, theologische und politische Überlegungen und Praxisvorschläge. Der Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf legte 2005 in seinem Papier zur „Praxis der Gastfreundschaft in einer Zeit neuer Migrationsformen“187 eine Analyse der Situation und konkrete Handlungsvorschläge vor. Darin bekennen sich die christlichen Kirchen zu einer Kultur der Begegnung, der Gastfreundschaft und herzlichen Aufnahme von Migranten. Konkrete Maßnahmen innerhalb der kirchlichen Gemeinden (Begegnungsräume, Ausbildungsprogramme, multikulturelle Dienste, […] werden ebenso aufgezählt wie gesellschaftliche und politische Forderungen benannt: Interreligiöser Dialog, Grundrechte, Integration, Asylrecht usw.). 2010 starteten die Konferenz Europäischer Kirchen188 und die Churches’ Commission for Migrants in Europe189 das „Jahr der Europäischen Kirchen für Migration“190 mit zahlreichen Aktionen. Die CCME publizierte auch eine Studie, die die Migrationssituation für alle Staaten Europas kompakt darstellt und die Antworten christlicher Kirchen auf Migration dokumentiert.191 Die Katholische Kirche gehört zu den ersten internationalen Organisationen, die sich mit der Frage der Migranten befasst hat. Der Päpstliche Rat für die Seelsorge für Migranten und Menschen unterwegs192 publiziert jährlich Schreiben zu Fragen der Migration. Papst Johannes Paul II. hat sich vehement für die Verhinderung illegaler Immigration ausgesprochen, zugleich aber auch gefordert, deren Ursachen – globale soziale Ungerechtigkeit und politische Instabilität – durch forcierte internationale Zusammenarbeit zu bekämpfen.193 Der Vatikan hat sich an der Ausarbeitung der internationalen Konvention der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen beteiligt und fordert deren Einhaltung. Er unterstützt die Ratifizierung internationaler Rechtsmittel, die Migranten, Flüchtlinge und derer Familien verteidigen und hat verschiedene Einrichtungen zur advocacy dieser Menschen gegründet.194 Die Katholische Soziallehre sieht Migration vor allem als eine Chance für die Entwicklung gerechter internationaler Beziehungen innerhalb der Menschheitsfamilie. Die bereits erwähnte Instruktion Erga migrantes bietet sozialwissenschaftliche und politische Analysen und widmet sich ÖKR 2005. CEC-KEK: URL: http://www.ceceurope.org/ [02. 01. 2014]. CCME: URL: http://www.ccme.be/ [02. 01. 2014]. Migration2010: http://migration2010.eu/ [02. 01. 2014]. CCME 2008. Vgl. URL: http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/migrants/index_ge. htm [02. 01. 2014]. 193 Tomasi 2008, 532. 194 Tomasi 2008, 528.

187 188 189 190 191 192

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neben den katholischen Migranten auch dem Verhältnis zu Migranten anderer Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften, zu muslimischen Migranten sowie der Notwendigkeit des interreligiösen Dialogs. Wegweisend ist in dieser Instruktion die Theologie der Migration. Sie wird in den Kontext der Heilsgeschichte gestellt: „Der Übergang von monokulturellen zu multikulturellen Gesellschaften kann sich so als Zeichen der lebendigen Gegenwart Gottes in der Geschichte und in der Gemeinschaft der Menschen erweisen, da er eine günstige Gelegenheit bietet, den Plan Gottes einer universalen Gemeinschaft zu verwirklichen. Der neue geschichtliche Kontext ist in der Tat gekennzeichnet von Tausenden Gesichtern des Anderen, und im Unterschied zur Vergangenheit wird die Vielfalt in den meisten Ländern zu einer Selbstverständlichkeit. Die Christen sind daher aufgerufen, […] die Achtung vor der Identität des Anderen zu bezeugen und zu praktizieren.“ […] Wir sind deshalb alle zur Kultur der Solidarität aufgerufen, […] um gemeinsam zu einer wahren Gemeinschaft der Menschen zu gelangen.“195

Migration wird weiters christologisch, ekklesiologisch, pneumatologisch und eschatologisch interpretiert. Im Migranten ist das Bild des fremden Christus (Mt 25) zu entdecken. Migration setzt das Pfingstereignis fort: Menschen aus verschiedenen Völkern und Rassen verstehen einander durch die Gabe des Heiligen Geistes in der je eigenen Sprache und können einen immer vielfältigeren „Gesellschaftskörper“ aufbauen. Die Pluralisierung, die damit einhergeht, gehört zum Heilsplan Gottes. Die Migrationen werden als „Geburtswehen einer neuen Menschheit“ betrachtet. Die Leiden, die Migration begleiten, machen den Riss, der durch die Sünde in die Menschheitsfamilie kam, sichtbar. Migration ist demnach ein Aufruf zu Solidarität und Gerechtigkeit. Migration lässt die endgültige Begegnung der gesamten Menschheit mit und in Gott erahnen (Lk 13,29; Offb 7,9). Migration ist ein „Hoffnungszeichen“, das die „Umwandlung der Welt in der Liebe“ beschleunigen kann. Auch die lateinamerikanische Kirche widmet sich seit einigen Jahren der Migration.196 Das Schlussdokument der 5. Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats, die 2007 in Aparecida do Norte in Brasilien stattfand, bezeichnet die Mobilität von Millionen Menschen in der Doppelgestalt von Migration und Wanderungsbewegungen als eines der bedeutsamsten Phänomene in diesen Ländern.197 Insbesondere die „Emigranten, Vertriebenen und Flüchtlinge, die aus wirtschaftlichen und politischen Gründen oder aus Gründen der Gewalt unterwegs sind“198, bedürfen der besonderen Aufmerksamkeit der 195 196 197 198

Erga migrantes 9. Vgl. Suess 2011. Aparecida 2007, 73. Aparecida 2007, 411.

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Kirche, zu deren Aufgabe es gehört, „die Diskriminierung der Migranten prophetisch anzuklagen“199. Das Dokument formuliert dabei verwegene Optionen wie z. B. den Einsatz der Kirche für eine „universal gültige Staatsbürgerschaft, die keine Unterschiede zwischen den Personen macht.“200 In Lateinamerika erscheint Migration, die dort Entwurzelung, Individualisierung und Isolation bedeutet, allerdings nicht als Weg aus prekären Lebenssituationen hin zu einem Reich des „guten Lebens“201. Theologie der Migration ist in diesem Kontext eine radikale Kritik am Kapitalismus und legt den Finger auf die Wunden eines inhumanen Wirtschaftssystems.

3.4

Katholizität als Hermeneutik für Migration

Begriff, Geschichte und Praxis der Katholizität bergen weiteres reiches Potential zu einem vertieften Verständnis von Migration. Welche Fragen, welche Erfahrungen, welche Anliegen und Visionen, welches Selbstverständnis von Christentum und Kirche bündeln sich in diesem schillernden Konzept? 3.4.1 Zur Geschichte des Begriffes202 Der Begriff Katholizität entstammt der Ekklesiologie und bezeichnet als Adjektiv eine der vier traditionellen Kennzeichen – der nota ecclesiae – der Kirche. Seit dem Nicaenoconstantinopolitanum von 381 gehören Einheit, Heiligkeit, Apostolizität und Katholizität zum kirchlichen Selbstverständnis. Die meisten der im Ökumenischen Rat der Kirchen vertretenen Kirchen teilen mit der römisch-katholischen Kirche diese Auffassung. Verschieden und umstritten ist allerdings, was mit „katholisch“ gemeint ist. In dieser Uneinigkeit spiegeln sich sowohl die Geschichte des Begriffes als auch die Verschiedenheit der christlichen Selbstverständnisse.203 Das Adverb, aus dem später das Wort katholikos204 gebildet wurde, ist zunächst kein theologischer Begriff. Bei Aristoteles bezeichnet es die Universalien gegenüber den Individuen: Es geht also um die Frage, wie sich das Einzelne und 199 200 201 202

Aparecida 2007, 414. Aparecida 2007, 414. Suess 2011, 311. Vgl. zum Folgenden Merklein / Beinert 1996; Wenzel 1996; Maier 1996; Steinacker 1989; Schreiter 2008. 203 Steinacker 1989, 72. 204 Der „Katholikos“ ist der Titel des Steuereinnehmers, der im Unterschied zu den privaten Steuereinnehmern die Steuern einnimmt, die für die Allgemeinheit bestimmt waren, vgl. Wenzel 1996, 1346.

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das Allgemeine, die Teile und das Ganze im Sinne einer organischen Einheit zueinander verhalten. Kat-holou beschreibt das Einzelne sowie den Teil, insofern diese auf das Ganze zugeordnet sind und umgekehrt. Im Profangriechischen hat es drei Grundbedeutungen: 1) raum-zeitlich „vollständig“ und „allgemeingültig“; 2) logisch und rhetorisch „allgemein“ und „generell“; 3) „vollkommen“, „in Fülle“, „richtig, d. h. so, wie es sein soll“.205 Das Neue Testament kennt den Begriff nur als Hapaxlegomenon in Apg 4,18: katholou meint dort „gänzlich“ bzw. „überhaupt“ und ist nicht auf die Kirche bezogen. Auch die Bezeichnung „katholische Briefe“, seit dem 2. Jahrhundert gebräuchlich, bezeichnet nur die Gesamtheit und Gemeinschaft der Christen, die die Adressaten dieser Briefe sind. Der Sache nach findet sich das Thema der Katholizität freilich quer durch das ganze Neue Testament: die Universalität und Fülle des Heils für alle, insofern es in der um Jesus Christus versammelten Gemeinde präsent ist. Zu dieser universalen Kirche gehören Juden und Heiden. Dabei hat sich in vielen Konflikten die Erkenntnis durchgesetzt, dass es für die Aufnahme in die Gemeinden keine ethnischen, rassischen, geographischen, soziologischen oder biologischen Schranken geben kann, weil sich das Evangelium Jesu Christi an alle Menschen richtet. Gott möchte in Christus allen Menschen sein Heil zukommen lassen. Die pleroma-Theologie spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Fülle des Heils erscheint in Christus. Der Epheser- und der Kolosserbrief verstehen die Universalität kosmologisch, d. h. die Kirche wird in den Bereich dieser Fülle Christi gezogen. So wird Katholizität bereits früh der Kirche zugeschrieben: und zwar sowohl der Ortskirche als auch dem überregionalen Zusammenhang der Gesamtkirche. In der Kirche wird das universale Heil in Christus für alle sichtbar. Dabei taucht die Frage auf, wie die einzelnen Teile der Kirche und die ganze Kirche zusammenhängen. Als Erkenntnis schält sich der Glaube heraus, dass die Fülle des Heils auch in den Teilen ganz präsent ist. Zwischen dem Ganzen und seinen Teilen besteht eine untrennbare Zusammengehörigkeit und unauflösbare Spannung. Die Teile lösen sich nicht im Ganzen auf. Das Ganze der Kirche bedarf der Erfahrungen und Einzigartigkeit ihrer Teile. Diese können ihre Gaben wiederum nur entfalten, wenn sie sie ins Ganze einbringen. Ignatius von Antiochia verwendet den Begriff „katholisch“ dann erstmals in einem ekklesiologischen Sinn. In seinem Brief an die Smyrnäer (8,2) schreibt er : „Wo der Bischof erscheint, dort soll auch die Gemeinde sein, wie da, wo Jesus Christus ist, auch die katholische Kirche ist.“206 „Katholisch“ bezeichnet hier die Gesamtheit der Kirche und meint, dass jede konkrete Gemeinschaft von Gläubigen, die um ihren Bischof versammelt die Eucharistie feiert, die universale 205 Steinacker 1989, 72. 206 Zit. nach Schreiter 2008, 540.

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Gemeinschaft der Kirche zugleich vergegenwärtigt und Anteil an ihr hat.207 Katholizität meint hier noch primär die Fülle an Erlösung, die ein Geschenk Christi an die Kirche ist und die diese der Welt vermittelt. Die Kirche selbst wird als transzendente Wirklichkeit verstanden, an der die empirische Kirche partizipiert. Bischof und Gemeinde repräsentieren den Anteil an der „himmlischen Kirche“. Im Zuge des Wachstums der Kirche bekommt der Begriff Katholizität eine geographische Dimension: Kirche wird als Gemeinschaft von Glaubensgemeinschaften in aller Welt verstanden, die aufeinander bezogen und füreinander verantwortlich sind. Bereits sehr früh ist Katholizität mit Migrationserfahrungen verbunden: die Weise, wie die damit verbundenen Herausforderungen – das Verhältnis von Ortskirche und Universalkirche, von Einheit und Vielfalt – praktisch beantwortet werden, entscheidet über das Verständnis des Wortes. So ist das Konzept der Katholizität zunächst von irenischer Absicht geprägt. Erst gegen Ende des dritten Jahrhunderts beginnt die Dimension der Einzigartigkeit zu dominieren: Der Begriff wird polemisch und dient dazu, zwischen der wahren Kirche und häretischen sowie schismatischen Sekten zu unterscheiden. „Katholisch“ zu sein, bedeutet nunmehr rechtgläubig zu sein und die Fülle der Wahrheit anzunehmen, die Christus der Kirche geschenkt hat. In der westlichen Kirche wird der Begriff zur Bezeichnung für Orts- und Teilkirchen, die Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom haben. „Katholisch“ beschreibt die geographische Universalität der Kirche und die Fülle der Wahrheit, die diese vermittelt. In der Kontroverse mit den Donatisten ergänzt Augustinus dieses Verständnis dann um zwei weitere Dimensionen: 1) Das Festhalten an der rechtmäßigen Autorität, die die Universalität und die Rechtgläubigkeit der Kirche garantiert, wird zum weiteren Merkmal des Katholischen; die Autorität macht er an den Bischöfen, vereint mit dem Bischof von Rom, fest; 2) Katholizität hat eine eschatologische Dimension, denn mit der geographischen Fülle ist das Ende der Welt nahegekommen. Mit Vinzenz von Lerin wird Katholizität sodann mit dem Kontinuitätsgedanken verkoppelt: „festzuhalten ist, was überall, immer und von allen geglaubt worden ist“208. Katholizität meint eine Identität durch die Zeiten hindurch. In der konkreten Wirklichkeit der Kirche sind demnach Universalität, Rechtgläubigkeit und Festhalten an der Autorität durch die Kontinuität der Zeit verbunden. Die Bedeutung von Katholizität hängt von jeher eng mit konkreten historischen Erfahrungen zusammen und stellt eine Reaktion auf zeitgenössische Probleme dar. In der jungen Kirche stand dabei die Frage im Zentrum, wer die Einheit in der Vielfalt garantiert und wie dies repräsentiert wird und durch die 207 Schreiter 2008, 540. 208 Zit. nach Steinacker 1989, 75.

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Zeit hindurch zu sichern ist. Damit verbinden sich von Anfang an heftige Konflikte. In der römisch-katholischen Kirche wird Katholizität im Zuge dieser Konfliktgeschichte immer stärker in der romanitas – im Papsttum – verankert und mit ihr identifiziert. Papst, Bischöfe und deren Lehramt sichern Katholizität. Die Fülle der Vollmacht über Kirche und Gesellschaft obliegt dem Papstamt. Die horizontale Katholizität wird in die Vertikale verschoben. Die kirchliche Hierarchie garantiert die Katholizität der Kirche und der Begriff wird zum Synonym für Einheit. Es entsteht in der Auseinandersetzung mit dem Protestantismus das, was man Katholizismus nennt – im 19. Jahrhundert ein abgeschlossenes Milieu und Bollwerk im Kampf gegen die Moderne.209 Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verliert der Katholizismus diesen Abgrenzungscharakter. Im Zuge der ökumenischen Bewegung und mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil beginnen sich die konfessionalistischen Verengungen wieder zu weiten. Die katholischen Milieus öffnen sich gegenüber anderen Konfessionen, anderen Religionen und Kulturen und nehmen ihre Weltverantwortung mit anderen wahr. Im Zuge dieser Öffnungsbewegungen wird auch die Weite und Universalität des Verständnisses von Katholizität wiederentdeckt. Man beginnt, die „Fülle des Katholischen wiederzugewinnen“210. Die Katholische Kirche gibt im Konzil die Vorstellung von der Verkörperung des Katholischen in der sichtbaren Kirche nicht auf, verankert sie aber in der Communio-Struktur der Kirche, insbesondere in ihren Aussagen zum Verhältnis von Orts- und Universalkirche. Pluralität und Einheit verbinden sich in der Gemeinschaft, werden also in Beziehungen realisiert, die sich auch institutionell und rechtlich niederschlagen (müssen). Katholizität wird aus katholisch-konfessioneller Sicht durch das Bischofsamt und insbes. durch den Papst garantiert und durch die Vielfalt der Riten und Charismen sowie durch die ökumenische Öffnung zu den anderen Kirchen und zur Welt realisiert. Insofern versteht sich die Katholische Kirche als jene, in der die Fülle der Katholizität fortdauert („subsistit“211). Soweit eine Teilkirche mit anderen und mit der Kirche von Rom vereint ist, ist in jeder Teilkirche die Fülle der Kirche präsent. Katholizität ist aber auch für die Katholische Kirche kein Besitz, sondern von Christus geschenkt. Im Zuge der nachkonziliaren Entwicklungen wird dabei die Fülle der innerkatholischen Verschiedenheit wahrnehmbar, ohne die „die Fülle des Katholischen nicht entbunden werden kann“212. Auf die damit verbundenen Konflikte 209 In dieser Zeit sind aber auch zahlreiche Orden und Bewegungen entstanden, die sich für die verarmten Schichten eingesetzt und für politische Anliegen engagiert haben. 210 Maier 1996, 1369. Henri de Lubac war hier theologischer Vorreiter. 211 Lumen Gentium 8. 212 Maier 1996, 1370.

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und Fragen reagiert die Kirchenleitung in jüngerer Zeit mit Integralismus und Restauration. So steht die Katholische Kirche in den Augen vieler Menschen (wieder) für eine dogmatische, traditionalistische, hierarchische und autoritäre Institution, die sich gegen demokratische Spielregeln, wissenschaftliche Erkenntnisse und kulturellen Fortschritt sperrt.213 Ihre faktisch globale Pluralität wird im öffentlichen Raum durch zentralistische Bestrebungen kaum wahrnehmbar.214 Allein diese kurze, römisch-katholisch orientierte Geschichte der Katholizität zeigt, wie heftig von jeher mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen (innerer) Vielfalt und nötiger Einheit gerungen wird. Der Versuch, diese Frage durch Uniformität und konfessionalistische Selbstabsicherung zu lösen, hat zu Ausgrenzung und Gewalt geführt. Diese historischen Lernerfahrungen könnten hilfreich sein für die zeitgenössischen Herausforderungen inner- und außerhalb der Kirche im Horizont von Migration.

3.4.2 Theologische Bedeutung Auch wenn Katholizität sehr früh und dann immer mehr ausschließlich auf die Kirche bezogen wurde, bergen der biblische Befund und die Geschichte die Möglichkeit, Katholizität im Horizont der Welt und der anderen Religionen zu denken und zu leben. So wird seit dem Zweiten Vatikanum der Begriff in der katholischen Theologie wieder intensiv diskutiert. Zu unterscheiden ist zwischen Katholizität und Katholizismus. Katholizismus meint die ethnisch, national oder von spezifischen Milieus geprägten Formen des konfessionell-katholischen Christentums, die sich unter bestimmten politischen und sozialen Bedingungen in der Moderne gebildet haben.215 Diese Formen sind historischkontingent und können nach Karl Rahner „weder zum bleibenden Wesen der Kirche gerechnet noch als dessen notwendige Ausprägung angesehen werden.“216 Demgegenüber kann Katholizität dreierlei bedeuten:217 1) Der Begriff bezeichnet die konfessionellen Vorbedingungen wahren Kirche-Seins, z. B. „römisch-katholisch“ als Gemeinschaft in Glaubensbekenntnis und Sakramenten unter der Leitung von Papst und Bischöfen; 2) Er charakterisiert einen be213 Gmainer-Pranzl 2013, 119. 214 Dies verändert sich derzeit mit Papst Franziskus, der sich in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium sogar explizit für Dezentralisierung ausspricht und u. a. mit der Einrichtung eines internationalen Beratungsgremiums entsprechende Praxisformen entwickelt. 215 Vgl. Maier 1996, 1368. 216 Zitiert nach Maier 1996, 1368. 217 Vgl. Beinert 1996, 1372.

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stimmten Kirchentypus im Christentum und 3) bezeichnet er als ekklesiologischer Begriff ein Wesensmerkmal der wahren Kirche Jesu Christi. Im Kontext von Migration erscheint vor allem der dritte Aspekt von Interesse, dem ich nun nachgehe. Schon im Alten Testament – v. a. bei den Propheten, insbes. Deuterojesaja – wird erzählt, dass Gott allen Menschen sein Heil zukommen lassen möchte. Dazu erwählt er ein Volk, das dies bezeugen soll: das Volk Israel. Es soll ein „Licht für die Völker“ sein. Dieser Auftrag wird aber nicht „missionarisch-zentrifugal“ realisiert, sondern „eschatologisch-zentripetal“218 visioniert: Am Ende der Zeiten pilgern alle Völker zum Zion und loben und preisen Gott, ohne dass sie ihre Identität aufgeben müssen (Jes 2,2; Mich 4,1). Jesus von Nazareth steht in dieser Tradition und weiß sich zunächst zu Israel gesandt. Der Auftrag, zu allen Völkern zu gehen und das Evangelium zu verkünden, erfolgt erst nach Ostern. Bei Paulus und in der Apg wird daraus eine „bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1,8) reichende Mission, gespeist von der Erfahrung von Auferstehung und Heiligem Geist. Die Kirche, die dabei „geboren“ wird, ist ein Beziehungsraum, in dem Menschen aus allen Völkern das Evangelium in ihrer je eigenen Sprache verstehen können (Apg 2). Katholizität ist biblisch gesehen zuerst eine Aussage über Gott: Er handelt „katholisch“.219 Er möchte seine Menschheit in ihrer Vielfalt einen. Dies geschieht zunächst und bis heute durch sein Volk Israel, mit dem Gott den Bund nie beendet hat. Katholische Identität kann nur aus dieser Bindung heraus erwachsen. In Christus weitet sich dieser Bund auf die Heiden als erweitertes Israel. Nun können auch diese am Schöpfungs- und Heilswerk Gottes teilhaben. Katholische Identität schafft sich demnach nicht selbst. Sie verdankt sich Anderen: Gott und den Juden. In diesem Sinn kann sie nie autark und vollständig sein, sondern ist immer auf Andere verwiesen. Katholizität ist deshalb genuin abhängig, unvollständig, prekär und nie ganz vollendet. Sie meint eine Verheißung und eine Vision, ist also eine eschatologische Wirklichkeit. Sie hat bereits begonnen, realisiert sich immer wieder aufs Neue und bleibt eine Aufgabe: Menschen können und sollen miteinander und mit Gott in Gerechtigkeit und Liebe eins und einig werden. In diesem Sinn ist Katholizität Zusage und Verheißung einer Möglichkeit, die jetzt schon ganz wirklich ist, wo sie geschieht. Den Prozess dieser Vereinigung kann man als eine zentrale Dimension des göttlichen „Heilswerkes“ Gottes verstehen. Gott lässt die Menschen an diesem Vorhaben teilhaben, indem er ihnen die Verantwortung für die Erde, die Freiheit 218 Vgl. Beinert 1996, 1370. 219 So z. B. Hans Urs von Balthasar, der „Gott in seiner dreieinen Liebe und in seinem Bund mit dem Volk, das er sich inmitten und zugunsten der Welt erwählt hat“ als „das Katholische im Ursprung“ versteht, vgl. Löser 2012, 394.

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und die Gaben dazu schenkt – ihm ähnlich (Gen 1,26 – 30). Dem Imperativ zur Einheit liegt von Seiten Gottes ein Indikativ zugrunde. Menschen müssen und können diese Einheit untereinander und mit Gott nicht selbst herstellen; sie sind in dieser Einheit bereits geschaffen. Einheit meint dabei innige Beziehung zu Gott und Verbundenheit der Menschen untereinander (Gen 1). Diese Beziehungen sind freilich von Anfang an schwer gestört (Gen 3 – 4): Sie werden Sünde genannt. Das „katholische“ Anliegen Gottes ist also durch menschliches Misstrauen, Zweifel und Angst, Hass und Gewalt von jeher schwer beeinträchtigt. Wie gefährdet und schwierig es ist, in Einheit zu leben, beschreibt auch das Neue Testament. Einige Juden erkennen in Jesus von Nazareth den Messias, der ihnen durch sein Leben, Sterben und Auferstehen zeigt, wie Zusammenleben vor allem im Alltag konkret verwirklicht werden kann. Paulus hofft, dass das Zusammenleben in Einheit eine reale, von Gott in Christus eröffnete Möglichkeit ist, die in allen Unterschieden diese Verbundenheit der Menschen untereinander und mit Gott (z. B. Gal 3,28; Kol 3,10 – 11) erfahren lässt. Aber das ganze Neue Testament ist auch voll von Erfahrungen des Konfliktes und der Entzweiung. So nimmt in der Ekklesiologie des Neuen Testaments die Versöhnung in und durch Jesus Christus nicht ohne Grund eine gewichtige Stellung ein. In der pleromaTheologie des Epheser- (2,1 – 22) und Kolosserbriefes (1,15 – 20) wird eine universale Kosmologie entfaltet: Der Kreuzestod Jesu umfasst Himmel und Erde. Weil in Jesus Christus alle Menschen untereinander und mit Gott versöhnt sind (Kol 1,15 – 20) und die „trennende Wand der Feindschaft“ zwischen Juden und Heiden niedergerissen ist, können diese miteinander in Frieden leben (Eph 2,11 – 19). Die Metaphern, in denen diese Erfahrungen und Visionen beschrieben werden, entstammen übrigens dem Bereich der Migration: „Ihr seid also jetzt nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes.“ (Eph 2,19). Waren die biblischen Bilder von der Kirche als einem „Raum der Heilsfülle“ damals gespeist von der Erfahrung einer Kirche, in der Juden und Heiden zusammenlebten, so muss man aufgrund der historischen Erfahrungen doch betonen, dass die beeindruckenden Bilder, in denen Kirche hier beschrieben wird, ausstehende Verheißungen und Visionen sind. Wird in diesem Verständnis von Kirche nicht erkennbar, wie sehr sie selbst der Versöhnung bedarf ? Katholizität ist kein Besitzstand. Sie ist ein kostbares Geschenk, das ständig der Sorge bedarf, weil sie verletzt und verletzbar ist. Gerade das durch den jahrhundertelangen Antijudaismus zerbrochene und bis in die Gegenwart nicht geheilte Verhältnis zum Judentum zeigt, wie beschädigt konkrete Katholizität war und ist. Desgleichen bezeugen die Kirchentrennungen deren schwere Störung. Die konkrete Geschichte der Kirche verpflichtet diese zu einer bescheidenen Haltung, wenn sie sich selbst, wie z. B. die Katholische Kirche „in Christus als das Zeichen und Werkzeug der Vereinigung der Menschen mit Gott und der

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Einheit der Menschen untereinander“220 beschreibt. Sie formuliert damit weniger einen Ist-Zustand als vielmehr die Erfahrung einer Gabe und die daraus erfolgende Verantwortung. Katholizität beschreibt die Erfahrung, dass dort, wo sich solche Einheit ereignet, die eschatologische Fülle schon ganz präsent ist. Diese Einheit vollzieht sich aber stets nur partikulär in einer noch unvollendeten Geschichte. Katholizität bedeutet, dass in der Partikularität des Einzelnen die Fülle des Ganzen, das Universale, schon ganz da sein kann. Biblisch formuliert: dass das Reich Gottes schon da ist (Mk 1,15). Mit dieser Erfahrung verbindet sich zugleich die Verantwortung für diese Vereinigung mit Gott und die Einheit der Menschen, die sich in der Sorge um Versöhnung realisiert – zwischen Mensch und Gott, zwischen Menschen, Völkern und Religionen. In diesem Sinn wäre Katholizität eine Wirklichkeit, die im Denken erkannt, im Glauben bekannt und in der Praxis erhofft werden kann. In diesem geschichtlich und anthropologisch gebrochenen Horizont sind auch die systematisch-theologischen Zugänge zu Katholizität zu verstehen. Katholizität meint eine immer schon verletzte und verletzbare, immer nur partikulär realisierte Wirklichkeit, eine Gabe und Aufgabe sowie eine Hoffnung, dass und wie sich der „universale Heilswille Gottes“ in der Geschichte verwirklicht. Als Aussage über die Beziehung zwischen Vielfalt und Einheit221 verwirklicht sich Katholizität in Liebe und Gerechtigkeit. Weil sie ihren Ursprung im trinitarischen Gott hat, bejaht sie Verschiedenheit und Vielfalt und versteht Einheit als versöhnte Beziehung zwischen Verschiedenen. Die Schöpfung, zu der auch die Pluralität der Kulturen und Religionen gehört, kann deshalb als Ausdruck und Spur der Fülle Gottes wahrgenommen werden und ist in Raum und Zeit auf Katholizität hin angelegt. Deshalb ist Katholizität – dieser Vereinigungsprozess des Verschiedenen – immer auf Universalität hin ausgerichtet: Katholizität heißt gerade nicht, dass alle gleich werden. Vielmehr wachsen Verschiedenheit und Einheit gleichermaßen durch Beziehungen zuund miteinander und mit Gott. Die Inkarnation Gottes in Jesus Christus bejaht und erlöst die ganze Schöpfung in ihrer Endlichkeit und Partikularität: Katholizität geschieht konkret und ganz im einzelnen, endlichen, partikulären Ereignis. In besonderer Weise verwirklicht sie sich dort, wo die Marginalisierten, die Exkludierten und Armen im Mittelpunkt stehen und das Maß des Handelns abgeben. Katholizität beschreibt demnach konkrete Praxisformen, u. a. Heilung, Versöhnung, Erlösung, Befreiung, Einsatz für Gerechtigkeit, vor allem aber miteinander Leben teilen und feiern. Durch die Vielfalt der Gaben unterstützt der Heilige Geist als Gottes in der Welt präsente Beziehungswirklichkeit bei der schrittweisen Realisierung der Katholizität. Die Katholische 220 Lumen Gentium 1. 221 Die folgenden Ausführungen orientieren sich an Beinert 1996, 1372 f.

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Kirche versteht sich dabei als Zeichen und Werkzeug dieses Prozesses. Sie ist dabei – wie jede Kirche – katholisch, um katholisch zu werden. Katholizität verwirklicht sich in verschiedenen Dimensionen: innerhalb einer Kirche, zwischen den Kirchen und in Bezug auf die Welt und die Vielfalt der Religionen. Deshalb gehören Denken und Handeln in einem ökumenischen Horizont unverzichtbar zur Katholizität. Dies kann eine Haltung begünstigen, Verschiedenheit inner- und außerhalb der Kirche(n) zu bejahen und zu fördern und darauf aufbauend nach neuen, tieferen Verstehensweisen und Wegen der Einheit zu suchen. Denn im Horizont von Katholizität sind weder Homogenität noch Uniformität mögliche Einheitsoptionen. Katholizität ermutigt dazu, Beweglichkeit und Wandelbarkeit zu unterstützen und mit dem Bemühen um ein Zusammenleben in Liebe, Gerechtigkeit und Frieden zu verbinden. Katholischsein bedeutet, skeptisch gegenüber jedem Versuch zu sein, einen Teil, ein partikuläres System oder ein Einzelinteresse für das einzige zu halten und mit dem Ganzen zu identifizieren. So könnte Katholizität vor Totalitarismen aller Art schützen. Ebenso vorsichtig ist Katholizität aber auch allen Theorien und Praxisformen gegenüber, die Menschen und Gruppen voneinander entzweien und zersplittern. Sie könnte Unterschiede fördern, aber zugleich all jene Unterschiede entlarven, die einseitige Machtverhältnisse legitimieren und daher die Einheit zerstören. Recht verstandene und gelebte Katholizität ringt um die Spannung zwischen Polen und Extremen und versucht, sie in Verbindung zu bringen: Freiheit und Gerechtigkeit, Gleichheit und Verschiedenheit, Pluralität und Einheit. Denn das „Herzstück“ des Katholischen besteht in der Glaubenserfahrung, dass sich das Allumfassende, Universale im Partikulären findet, das „Ganze im Fragment“222, kirchlich formuliert die „universale Einheit in ortsgebundener Vielfalt“223. Katholizität ist keine Ideologie; sie beschreibt die dynamische, sich immer wieder wandelnde Wirklichkeit Gottes, insofern sie sich weltweit immer mehr in der und durch die Kirche verwirklichen kann und soll. Henri de Lubac beschrieb dieses Potential so: „Der Katholizismus224 entbindet uns und bindet uns gleichzeitig; er entbindet uns von jeder irdischen sozialen Form, und er bindet uns an jede irdische Gesellschaft. Gegen jeden Anarchismus ist er der gründlichste Konservative als Wahrer der Grundprinzipien, und gegen jeden Konformismus der gründlichste Revolutionär, da seine Ungeduld sich nie nur gegen eine bestimmte soziale Form richtet, sondern über alles hinaus strebt, was das Kennzeichen der Schwäche und der irdischen Hinfälligkeit trägt. Der Katholizismus hindert uns darum auch, je zu Sklaven unserer eigenen Amtlichkeit zu werden, weil er das eigentliche soziale Band ins Innere verlegt.“225 222 223 224 225

Löser 2012, 387, der einen Buchtitel von Hans Urs von Balthasar zitiert: Balthasar 1963. Kasper 2012, 360. Katholizismus meint hier im Französischen Katholizität. Zitiert nach Figura 2012, 373 f.

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3.4.3. Theologisches Potential Dieses Potential kann freilich nur wirksam werden, wenn die Kirche ihrer konkreten strukturellen Ausgestaltung, ihren Glaubenslehren, Theologien und Praxen gegenüber immer selbstkritisch bleibt. Freilich braucht Einheit eine konkrete, auch strukturell wahrnehmbare Gestalt, ohne die sie unbestimmt, diffus und verschwommen wäre.226 Das rufen insbesondere die Katholische und die Orthodoxe Kirche in Erinnerung. Aber wie kann dies angesichts der globalen Herausforderungen der Gegenwart konkret sichtbar werden? Die Trennung der christlichen Kirchen erscheint in diesem Horizont als tragisches Skandalon, das das Potential von Katholizität an der Entfaltung behindert. Die Geschichte von Kirchen, die im Zuge der Machtentfaltung ihre Katholizität nicht nur nicht eingeholt, sondern sogar verraten haben, lastet schwer. Katholizität ist keiner Kirche Privileg, sie „gehört“ auch nicht der römisch-katholischen Kirche. Sie dient weder der Selbstabsicherung noch der Selbstzufriedenheit und ist ein bleibender Stachel im Fleisch, der dazu aufruft, Schritt für Schritt katholischer zu werden. Getragen ist dieser schwierige Weg von der Hoffnung, dass Gottes Geschichte mit seiner Menschheit in der Vollendung der ganzen Schöpfung und des Kosmos endet (Röm 8,18 – 30). Diese Hoffnung kann nur im konkreten Handeln eingeholt werden. Wie die Juden haben die Christen und ihre Kirche(n) dabei ausschließlich eine dienende Aufgabe. Im Horizont der Globalisierung haben in jüngerer Zeit Theologen im Anschluss an das Konzil das Potential von Katholizität wiederentdeckt und weitergedacht. Zwei für meine Fragestellung ertragreiche Ansätze seien genannt: 1) Der Fundamentaltheologe Franz Gmainer-Pranzl arbeitet die integrative und polarisierende Dynamik von Katholizität heraus: Katholizität birgt das Potential von Entgrenzung und Verbindung227, sie grenzt nicht ab und schließt nicht aus. Theologisch wird dieses Merkmal mit der „Weltweite“ der Kirche begründet, die in Lumen Gentium 13 character universalitatis genannt wird. Die historische Auslegung dieser Weltweite als Expansion und Indoktrination hat sich dabei selbst als gottlos widerlegt. Für Gmainer-Pranzl beschreibt Weltweite eine Haltung: die Offenheit für die Anderen und was diese der Kirche zu sagen haben. Deshalb bedeutet katholisch-sein „lernbereit gegenüber Neuem zu sein“ sowie „fähig zu werden, die Identität einer gemeinsamen Hoffnung in der Vielheit, Andersheit und Fremdheit kultureller Traditionen zu finden sowie Offenheit gegenüber interner Pluralität zu gewinnen.“228 Zugespitzt kann man mit Felix Wilfred von einer „umgekehrten Katholizität“ sprechen, einem „Prozess des Universalwerdens durch Emp226 Vgl. Kasper 2012, 367. 227 Gmainer-Pranzl 2013, 199. 228 Gmainer-Pranzl 2013, 120.

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fangen und durch Lernen von Anderen“.229 Eine wahrhaft katholische Kirche stellt sich der gesamten Wirklichkeit und sucht nach einer Gestalt, die dem universalen Anspruch, den sie verkündet, entspricht. Dies wird möglich nur durch einen reziproken, vorbehaltlosen und offenen Dia- und Polylog, in den sie das Evangelium einbringt und bezeugt – und von den Anderen dabei verändert wird. Eine katholische Kirche ist keine Statthalterin der Wahrheit. Sie ringt darum, die geoffenbarte Wahrheit mit den Anderen gemeinsam besser zu verstehen und zu verwirklichen. Dabei wird sie gegen alle Grenzen protestieren, die menschliches Leben in Würde, Freiheit und Gerechtigkeit einschränken und alle Trennungen und Gräben zwischen Menschen und Gesellschaften zu versöhnen versuchen. Eine katholische Kirche ist eine Kirche, die für die Welt da ist. Sie ist weltweit artikuliert und kontextuell verwurzelt, also kein Konzern mit Filialen, in denen überall dasselbe Programm veranstaltet wird. In der lokalen Existenz wird die globale Verbundenheit erlebbar. Katholizität meint daher weder einen „abstrakten Universalismus“ noch einen „plumpen Kontextualismus“, sondern die „Offenheit für das Ganze und die Aufmerksamkeit für das Besondere“230. Wer katholisch ist, glaubt, dass Gott nicht nur in der Kirche, sondern in der ganzen Welt wirkt.231 2) Für den Dogmatiker Roman Siebenrock232 wiederum besteht die wesentliche Entdeckung des Konzils darin, dass Katholizität nicht der Abgrenzung, Entgegensetzung oder gar Feindschaft bedarf. Sie wird durch Dialog, Partizipation und Pilgerschaft verwirklicht. Damit werden die Anderen unverzichtbar, um katholisch zu werden. Differenz wird so als notwendig und Bereicherung für die Identität erkannt. Die katholische Identität wird „prekär“, denn sie versteht sich nunmehr auf Andere verwiesen und weiß, dass sie ihren Ursprung und ihre Identität nicht sich selbst verdankt. Ziel der Kirche ist nicht ihre Selbstbehauptung, vielmehr steht sie im Dienst der Ankunft des Reiches Gottes. Für die Katholizität nach innen bedeutet dies, dass die gleiche Würde aller Getauften ebenso in den Blick kommt wie deren gemeinsame Berufung zum Dienst und zur Heiligkeit – in der Verschiedenheit der Begabungen und Berufungen. Wenn Gott alle Menschen liebt und ihr Heil möchte und dies in der Praxis Jesu geschichtlich verbindlich geworden ist, ist Katholizität zugleich auf die Weite der göttlichen Liebe hin ausgerichtet und weiß sich mit allen Menschen aller Zeiten und Orte zuinnerst verbunden. Sie weiß daher auch darum, dass ihr in den Anderen das Ge229 230 231 232

Wilfred 2011, 100. Gmainer-Pranzl 2013, 123. Gmainer-Pranzl 2013, 114. Vgl. zum Folgenden Siebenrock 2012.

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heimnis Gottes begegnen kann. Das macht Katholizität differenzsensibel. Weil die konkrete Kirche aber gespalten ist und ganze Kulturen vom Evangelium nicht ergriffen sind, ist die Katholizität der Kirche nur eine vorläufige. Dies fördert das Bewusstsein, dass die konkrete Kirche nicht für sich selbst da ist und unterwegs ist zum Reich Gottes. Katholizität nach außen bedeutet Ökumene und Dialog im Dienst an Friede und Gerechtigkeit unter den Menschen. Anerkennung der Anderen und Dialog sind die Weisen, wie sich Katholizität konkret verwirklicht und Gott sein Heil verwirklicht.

3.4.4 Ertrag Geschichte und Begriff der Katholizität werfen ein genuin theologisches Licht auf Migration und bergen darin anregendes Potential für die Kirche, aber auch für die Gesellschaft. Einige Facetten möchte ich exemplarisch herausstreichen: Katholizität ermöglicht eine positive und wertschätzende Wahrnehmung von Migration sowie der damit verbundenen Prozesse der Pluralisierung und Diversifizierung. Ethnische, kulturelle, religiöse Vielfalt – alle Arten menschlicher Vielfalt und Verschiedenheit werden vor aller Problematisierung als Gabe und Geschenk wahrgenommen. In diesem Sinn kann Migration Gabe und Geschenk sein, denn sie macht Vielfalt und Verschiedenheit wahrnehmbar, fördert diese und kann so zum Segen gereichen. Zugleich betont Katholizität die innere Zusammengehörigkeit und das Aufeinander-Verwiesensein des Vielfältigen und Verschiedenen: Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte, ob innerhalb oder außerhalb der Kirche, ob religiös oder nicht, sind aufeinander bezogen und brauchen einander. Pluralität bedarf deshalb der Strukturierung und Organisation im Horizont des Zusammenlebens in einer gerechten Gesellschaft. Migration wird im Licht der Katholizität zur Aufgabe, für solches Zusammenleben Verantwortung zu übernehmen. Dies ist umso dringlicher, als Migration für viele Migranten alles andere als ein Geschenk ist, sondern in Armut, Not und Gewalt wurzelt. Migration kann deshalb auch ein Fluch sein. Sie entschleiert die Ungerechtigkeit der Welt. Zum Segen kann sie nur gereichen, wenn die inhumanen Ursachen der Migration beseitigt werden und Menschen Gerechtigkeit lernen und erfahren. Daher gehört die Verantwortung für Gerechtigkeit untrennbar zur Katholizität. Die Gaben der Vielfalt und der Verschiedenheit wiederum können sich nur entfalten, wenn sie wahrgenommen werden und Anerkennung erfahren. Ethnische und religiöse Gemeinschaften, die Vielfalt menschlicher Gemeinschaften, brauchen demnach einen angemessenen Platz in der Kirche und in der Gesellschaft. Erst dann können sie ihren Beitrag zum Gemeinsamen einbringen. Dafür braucht es entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen, Strukturen, Insti-

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tutionen und Repräsentationsmöglichkeiten. Zugleich wird das Potential der Gaben nur frei, wenn diese auf das Ganze und Gemeinsame bezogen sind. Katholizität könnte also auch vor parochialem Altruismus, Tribalisierung, fragwürdigen Partikularismen und Identitätspolitiken auf allen Seiten schützen. Angesichts der wachsenden Komplexität der Beziehungen innerhalb von Kirche und Gesellschaft, zwischen Kirche(n), zwischen Kirche und Gesellschaft wird es viele neue Ideen brauchen, wie Pluralität und Diversität zu strukturieren und auf das jeweilige Gesamt und Gemeinwohl hinzuordnen sind, damit Migration ihr Potential zeigen kann. Katholizität ermöglicht eine positive und wertschätzende Sicht auf Partikuläres: keine ethnische oder religiöse Gemeinschaft, kein einziger Mensch ist nur untergeordneter Teil eines Ganzen, dem er dienen muss – sei es in der Kirche oder in der Gesellschaft. Vielmehr hat alles Einzelne und Partikuläre Wert und Würde in sich selbst. Von Schutz, Anerkennung und Wertschätzung des Einzelnen hängt das Wohl des Ganzen ab. Dieses komplex gedachte Verhältnis zwischen den Einzelnen (Gemeinschaften) und dem Ganzen (Kirche, Gesellschaft) sichert eine polare Spannung, die nicht einseitig aufgehoben werden darf. Katholizität verpflichtet dazu, beides im Blick zu haben: Wohl und Würde des Einzelnen und Wohl und Würde der Kirche bzw. der Gesellschaft. Katholizität zeigt, dass aus der Gabe der Migration auch Aufgaben erwachsen – für Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte. Katholizität stellt angesichts der Vielfalt und Verschiedenheit zugleich immer auch die Frage nach der Einheit. Die geschichtliche Entwicklung des Katholizitätsverständnisses zeigt, dass Uniformitäts- und Homogenitätsvorstellungen von Einheit zu Gewalt neigen und die Herausforderungen nicht angemessen lösen. Die Frage nach der Einheit stellt sich angesichts der Erfahrungen mit verletzender und verletzter Katholizität in der Kirche in anderem Licht. Sie mag auch für die Gesellschaft eine zentrale Aufgabe sein. Im Horizont von Migration verdichtet sie sich zur Frage nach dem Zusammenleben in Verschiedenheit auf allen Ebenen von Kirche und Gesellschaft, zwischen Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte. Sie stellt sich im Horizont vielfältiger Zugehörigkeiten und komplexer Beziehungsstrukturen zwischen Menschen, Institutionen, Organisationen. Wie kann Einheit als Zusammenleben in diesen unterschiedlichen Kontexten konkretisiert und sichtbar werden? In der Entwicklung praktischer und theoretischer Antworten dafür besteht wohl die epochale Herausforderung der Gegenwart. Die Geschichte der Katholizität zeigt, dass das heikle, aber unverzichtbare Verhältnis von Einheit und Vielfalt im Horizont der Gerechtigkeit immer nur partiell, schrittweise und fragmentarisch realisiert werden kann. Katholizität ist weder ein Ideal noch eine abstrakte Norm, die es umzusetzen gilt, sondern ein Prozess, in dem von Anfang an mit Konflikten, Brüchen, Widersprüchlichkeiten

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gerechnet werden muss. Katholizität ermutigt zu Grenzüberschreitung, Weltweite und Offenheit, darin ist sie migrationsaffin. Zugleich warnt ihre Geschichte vor Expansion und Indoktrinierung, Abschottung und Feindschaft. Kommunikation und Partizipation, Aufeinanderhören in vielfältigen Dia- und Polylogen und Beweglichkeit sind die „katholischen Instrumente“. Katholizität kann in diesem Sinn Möglichkeiten erschließen, wie man in einer MigrationsWelt zusammenlebt. Zugleich zeichnet sich Katholizität durch eine achtsame Aufmerksamkeit für das Konkrete und Besondere aus, sodass Weite und Universalität nicht ortlos, abstrakt und sinnleer werden. Gerade weil Katholizität eine Geschichte der Verletzung und Verletztheit mit sich trägt, kann sie zu einem differenzierten Umgang mit Migration ermutigen. Versöhnung spielt dabei eine zentrale Rolle. Katholizität zeigt die lebensnotwendige Bedeutung von Migration für die Kirche und die Gesellschaft. Ohne Migration drohen Gesellschaften und Kirche unlebendig und starr zu werden. Zeigt sich geschichtlich nicht ein seltsamer Zusammenhang zwischen wachsender Sesshaftigkeit und Machtansammlung und Verengung des Katholischen? Wäre Migration dann nicht die Chance auf Horizonterweiterung und Verlebendigung, auf die Kirche und Gesellschaft angewiesen sind? Biblisch gesehen ist Migration Segen und Fluch. Der zeitgenössische Befund zeigt, dass sich an dieser Zwiespältigkeit bis in die Gegenwart wenig geändert hat. Aber gerade darin wäre Migration jenes Lernfeld, in dem Katholizität im Denken erkannt, im Glauben bekannt und in der Praxis erhofft werden kann. Denn aus theologischer Sicht lässt Katholizität Migration als einen Prozess erkennen, in dem Gott konkrete Schritte ermöglicht, mit seiner Menschheit gemeinsam die Geschichte des Heils zu verwirklichen: Migration lässt neu lernen, was Zusammenleben in Vielfalt, Verschiedenheit und Einheit, Friede und Gerechtigkeit bedeutet. Aus der Sicht des Glaubens verwirklicht sich in diesem Lernprozess die Einheit der Menschheit untereinander und mit Gott. Katholizität als Eigenschaft dieses Prozesses hält in Erinnerung, dass dieser nicht vereinheitlicht, sondern zugleich differenziert und integriert. Indem jeder Mensch, jede Gemeinschaft in lebendiger Beziehung zu anderen immer mehr er/ sie selbst wird, trägt er/sie unverzichtbar zum Ganzen bei. Die Aufgabe der Kirche besteht darin, diesen Prozess zu unterstützen und von den Anderen zu lernen, wer sie selbst ist. 3.4.5 Lernfelder Der aktuelle sozialwissenschaftliche Diskurs um Migration kreist um Themen, die eng zum theologischen Selbstverständnis gehören und sich im Begriff der Katholizität verdichten. Umgekehrt können die Fragen und Herausforderungen im Horizont von Migration beim Verwirklichen zeitgerechter Katholizität un-

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terstützen. Exemplarisch seien abschließend vier Lernfelder (für die Kirche) skizziert: 1) In der Frage nach der Identität, die im Migrationsdiskurs eine zentrale Rolle spielt, wird die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Teilen und dem Ganzen verhandelt: Von und mit Migranten könnte gelernt werden, dass menschliche Identität prinzipiell prozesshaft, prekär und nicht-voll ist und konstitutiv der Anderen bedarf. Katholizität könnte als relationales Konzept erfahren werden, das die Qualität von Beziehungen beschreibt. Wäre die Erfahrung, dass Unvollständigkeit, Prekarität und Brüchigkeit konstitutiv zu einem katholischen Selbstverständnis gehören, nicht eine wesentliche Bedingung, die Frage nach Gott wieder angemessen stellen zu können? 2) Humanophobien und gesellschaftliche Exklusionsmechanismen verweisen auf die Frage nach den Anderen und dem Fremden, die Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte betrifft. Migranten sind weder „die Anderen“ noch „die Fremden“, sondern erinnern an den Anspruch, den Alterität und Alienität an alle Menschen stellen: Was ist es, das Menschen untereinander verbindet? Wie lebt man mit den dabei wahrnehmbaren Unterschieden? Was bedeutet jenes Fremde, das sich zwischen Menschen zeigt, das bleibend entzogen ist und sich nicht integrieren lässt? Könnte sich Katholizität dabei zu einer Theorie und Praxis im Leben mit Andersheit und Fremdheit entwickeln? 3) Die katholischen Dimensionen von Einheit und Versöhnung machen die Dringlichkeit der Frage nach globaler Gerechtigkeit deutlich. Migration ist ein ausgezeichneter Lernort für Gerechtigkeit. In den harten Kämpfen um Gerechtigkeit im Kontext von Migration könnte ein zeitgerechtes Verständnis von Katholizität vertieft werden. 4) Die Frage nach dem Zusammenleben in Verschiedenheit, insbesondere auf der gesellschaftlichen Mesoebene, ist der Brennpunkt, an dem die Frage nach der Katholizität konkret und praktisch wird. Gemeinden – Communities – kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, denn sie sind es, in denen Katholizität lokal und schrittweise, wie in einem Laboratorium, riskiert und erprobt wird. Damit bin ich am Ende meines Beitrages bei der elementaren Bedeutung von christlichen Gemeinden für eine lebendige Katholizität angekommen. Diese sind es, die der Kirche ermöglichen, sich auf die Herausforderung von Katholizität nach innen und nach außen einzulassen, indem sie lernen, mit den Migranten innerhalb und außerhalb auf je verschiedene Weise zusammenzuleben: den

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Alltag zu teilen, einander beizustehen, von- und miteinander zu lernen und gemeinsam zu feiern.233 Für die Katholische Kirche (in Europa) wird die schwierigste Herausforderung darin bestehen, sich selbst und ihre Gemeinden als kontextuell gebundene, partikuläre Realisierung des Christentums und relative (d. h. relationale) Erkenntnis der Wahrheit des Evangeliums betrachten zu lernen.234 Die Kirche ist nicht das Maß aller Katholizität. Zugleich aber ist eben diese Partikularität nicht nichts, sondern alles, was sie hat – und das darf, kann und muss sie einbringen. Die jeweilige Partikularität und Relativität ist dabei nicht einer abstrakten Universalität zu opfern, sondern kann und soll in die Begegnungen eingebracht werden als unersetzliche Teilerkenntnis der Wahrheit. Im Zusammenleben mit anderen wird sie sich weiterentwickeln, denn die Wahrheit der biblischen Offenbarung ist immer größer als das, was Menschen von ihr verstanden haben und realisieren. Katholizität im Horizont von Migration zu lernen ist keine einfache Aufgabe. Die damit verbundenen Lernprozesse sind von Konflikten begleitet. Katholizität bedeutet nicht Harmonie, sondern immer wieder neues Ringen um Einheit. „Voneinander lernen“ ist keine fromme Formel, die Konflikte verschleiert. Vielmehr werden beim gemeinsamen Lernen Konflikte überhaupt erst sichtbar. Weder pastoral noch theologisch ist es möglich, um Einheit und Versöhnung zu ringen, solange das Konfliktpotential nicht bewusst gemacht ist und die Verletzungen, die damit verbunden sind, aufgedeckt und angenommen sind. Die Verletzungen der Schwächeren haben dabei Vorrang. Ohne Konfliktbearbeitung drohen die benannten Lernfelder zu idealisierenden Normvorgaben zu werden. „Wo Menschen im Konflikt lernunfähig geworden sind, gelingt die Wiederherstellung ihrer intellektuellen, affektiven und sozialen Kräfte, ihrer Chance menschlichen Wachstums nur so, dass der unterdrückte Konflikt und seine Folgen thematisiert und zum eigentlichen Lernfeld gemacht werden. Eingeschüchterte Menschen lernen nur im Konflikt und am Konflikt.“235 Konflikte können dabei helfen, Katholizität zu verwirklichen. Die Lernfelder im Kontext von Migration könnten die Erfahrung ermöglichen, dass im „Haus des Vaters“ viele Wohnungen sind (Joh 14,2) – für Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte.

233 Vgl. das Konzept der Konvivenz nach Sundermeier 1995. 234 Vgl. Collet 2010a, 231. 235 Lange 1980, 191. Die Überlegungen des Doyens des ökumenischen Lernens sind auch relevant für das Lernen im Kontext von Katholizität.

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Arnd Bünker

Migration und die Diversifizierung in christlichen Gemeinden

1.

Einführung

Durch Migration gelangen nicht nur Religionen nach Mitteleuropa, die sich jenseits der jüdisch-christlichen Tradition entwickelt haben. Auch und besonders das Christentum selbst erfährt Zuwachs und zugleich eine massive innere Pluralisierung. Die Infragestellung und Relativierung bestehender „alteingesessener“ christlicher Gemeinden und ihrer spezifischen Kultur und in jüngerer Zeit gar die „Enteuropäisierung der europäischen Christenheit“1 ist eine Erfahrung, die alle christlichen Gemeinden, solche mit alter Verwurzelung an einem Ort und solche mit migrantischer Erfahrung vielfach intern und im Zusammenspiel mit anderen Gemeinden herausfordert.2 In den letzten Jahrzehnten, insbesondere mit Beginn der sogenannten Gastarbeitsmigration, wurde der christlichen Migration kirchlicherseits mit der Einrichtung von „Sondergemeinden“3 begegnet. Innerhalb der römisch-katholischen Kirche kam es zur Installation von sogenannten muttersprachlichen bzw. anderssprachlichen Missionen. Daneben sind vor allem nach dem Mauerfall zahlreiche orthodoxe und dann auch orientalische Gemeinden in Mitteleuropa entstanden. Ebenfalls seit den 1990er Jahren wird im Rahmen globaler Migrationsströme auch eine enorme Zunahme freikirchlich organisierter, häufig pentekostal geprägter Kirchen mit afrikanischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Wurzeln beobachtet, die sich gewissermaßen neben bestehenden freikirchlichen Gemeinden ansiedeln.4 Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass die Kirchen und 1 Collet 2010a. 2 Vgl. Ahrens 2009, 104. 3 Die Bezeichnung „Sondergemeinden“ kann hier durchaus ambivalente Reaktionen hervorrufen. Aus- und Absonderungsabsichten spiegeln sich ebenso darin wider wie ein Bewusstsein für die Besonderheiten, die beispielsweise in sprachlicher oder kultureller Hinsicht gegeben sind. 4 Stellvertretend sei die Erhebung über die Vielzahl christlicher Gemeinden (local congregations) in der Schweiz genannt: Stolz et al. 2011a.

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christlichen Gemeinden im Zuge der Migrationsprozesse eher zu einem Nebeneinander als zu einem Miteinander finden.5 Im Folgenden schaue ich aus der Perspektive einer mit pastoralen Planungsprozessen befassten Person auf diese Entwicklungen. Das heißt, dass ich primär auf einige derjenigen Haltungen und Einschätzungen schaue, die einen großen Teil der heute bestehenden Strukturen in der Pastoral und in den Kirchen ermöglicht haben. Natürlich gibt es daneben die – wachsende – Bedeutung informeller und dezentral entstandener Strukturen, bei denen insbesondere auch die MigrantInnen selbst Subjekte der Gestaltung christlicher Gemeinden waren und sind. Allerdings lassen sich diese Entwicklungen von „unten“ wiederum auch als Re-Aktionen auf bestehende Mentalitäten und Verhaltensweisen der „einheimischen“ Gemeinden und kirchlich Verantwortlichen interpretieren. Im Folgenden versuche ich, nach einem kurzen Überblick über Charakteristika der Konjunktur des Religionsthemas innerhalb des gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Migrationsdiskurses einige Merkmale eines Identitätskonzeptes zu skizzieren, das sich als besonders wirkmächtig für die verbreitete Separierungspraxis unterschiedlicher christlicher Gemeinden sogar innerhalb bestehender Konfessionen erwiesen zu haben scheint. Dabei konzentriere ich mich auf Erfahrungen in der römisch-katholischen Kirche und streife die anderen christlichen Konfessionen und Gruppierungen eher beiläufig. In einem anschließenden Schritt versuche ich, die bestehende kirchliche und pastorale Praxis auf ein pastorales Grundmotiv zurückzuführen, das heute einer kritischen Überprüfung zu unterziehen wäre. Dann soll in Umrissen angedeutet werden, wie sich unter den Vorzeichen einer anderen Sicht auf Identität und nach einer Korrektur des herrschenden pastoralen Leitmotivs ein anderes Verhältnis zwischen verschiedenen christlichen Gemeinden, einheimischen und migrantischen6, entfalten könnte. 5 Das in der Studie von Stolz et al. 2011a gezeichnete Bild zeigt eine große Anzahl von Kirchen und Gemeinden, deren Wurzeln offensichtlich in der Migration der letzten Jahrzehnte liegen. Eine Einbindung neuer christlicher Gemeinschaften in die bestehenden gemeindlichen Strukturen des Residenzlandes Schweiz (und im Idealfall eine damit gegebene Veränderung der bestehenden Gemeinden) scheint selten der Fall zu sein. Die hohe Zahl neuer Kirchen und Gemeinden könnte ein allgemeines Anzeichen für eine relativ hohe soziale Geschlossenheit religiöser Gemeinschaften sein, die durch kulturelle, sprachliche oder milieutypische Kennzeichen markiert werden. 6 Die Bezeichnung „einheimisch“ und „migrantisch“ ist höchst ungenau und schon diese Problemanzeige führt mitten ins Thema. Etliche christliche Migrationsgemeinden sind um Jahrzehnte und Jahrhunderte älter als manche „einheimische“ Pfarreien: Französischsprachige Gemeinden mit Wurzeln in der Vertreibungsgeschichte der Hugenotten oder „italienische Missionen“, deren Wurzeln bis in die Blüte der Industrialisierung reichen, oder Gemeinden Ungarischer Reformierter, die in den späten 1950er Jahren des letzten Jahrhunderts in der Schweiz entstanden sind. Man könnte auch von Gemeinden in „Regelstrukturen“ sprechen und solchen in „Sonderstrukturen“. Allerdings stellt sich dann die Frage, wer die

Migration und die Diversifizierung in christlichen Gemeinden

2.

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Differenz, Fremdheit und Identität

Die Wahrnehmung von Migration durch die Gesellschaft und ebenso in christlichen Gemeinden und in den Kirchen ist in den deutschsprachigen Ländern stark durch Differenzmarkierungen geprägt: Wir und die Anderen – getrennt durch ein komplexes Zu- und Ineinander von Unterscheidungslinien. Konstruktionen von „Fremdheit“ und „Identität“ (boundary making) spielen hier eine große Rolle.7 Dabei zeigt sich, dass die Stereotype der Fremdwahrnehmung, die beispielsweise mit bestimmten Migrantinnen und Migranten verbunden werden, sehr wandelbar sind. Sie sind ein Spiegel der Gesellschaft, in der jeweils spezifische Faktoren ausgewählt werden, um damit in je anderer Weise Fremdheit und Identität zu definieren. Die Wahrnehmung der Anderen und die eigene Selbstwahrnehmung entsprechen also einander und verweisen auf einen Hintergrund, an dem alle Seiten mit unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten und Interessen beteiligt sind.8

2.1

Gesellschaftlicher Migrationsdiskurs

Seit der Jahrtausendwende lässt sich nun eine (wieder) neu in den Blick kommende Kategorie der Differenzmarkierung erkennen, die nach einigen Jahrzehnten des Relevanzverlustes deutlich an Gewicht zurückgewonnen hat: Religion.9 So wird heute in gesellschaftlichen Diskursen vor allem Religion bzw. Religionszugehörigkeit als dominantes Merkmal der Unterscheidung und Regeln oder Irregularität definiert? Nicht zuletzt kann die Frage aufgeworfen werden, wie lange ein „Migrationshintergrund“ an einem Menschen oder an einer Gemeinschaft haften kann. Bislang gibt es noch kaum ein angemessenes Vokabular, das die je relative Normalität des Migrantischen wie des Einheimischen (oder Nichtmigrantischen) passend zum Ausdruck bringt. In diesem Sinne bitte ich um Nachsicht bei den folgenden Begriffsentscheidungen. Vgl. zur Problematik auch: Währisch-Oblau 2009, 33 – 36. 7 Vgl. Dahinden 2011, 33 – 46. 8 Vgl. Bünker 2002. 9 Religion als Differenzmarkierung ist nicht neu, aber sie hatte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa an Relevanz verloren und wurde durch kulturelle, ethnische oder nationale Differenzmarkierungen überdeckt. Zuvor waren gerade die binneneuropäische und auch die transatlantische Migration über Jahrhunderte durch Religionsdifferenzen bestimmt. Juden, französische Hugenotten, Zwinglianer, Lutheraner, Calvinisten aber auch Katholiken und Orthodoxe usw. waren oft genug in der Geschichte zur Migration gezwungen. Erst die Abschwächung des Gewichts der Religion(szugehörigkeit) als Bestandteil von Fremdheitskonstruktion hat zu einem starken Rückgang dieses Markers geführt, der nun mit der zunehmenden und global verbreiteten Praxis neu ins Bewusstsein gelangt, nach der Religion und politische oder kulturelle Konflikte in einem starken Zusammenhang dargestellt werden. Der „11. September 2001“ wurde zu einem wichtigen symbolischen Datum für diesen Prozess.

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Grenzziehung zwischen „uns“ und den „anderen“ genutzt. Dabei geraten insbesondere Muslime in den Blick.10 Der Verdacht liegt nahe, dass die Betonung von Religion besonders geeignet scheint, um „wesenhafte“ Differenzen festzuschreiben, die nicht mehr durch gesellschaftliche „Integrations-Praxen“11, wie Bildung oder soziale Sicherung, egalisierbar erscheinen. Während sich beispielsweise Armut oder Bildungsmangel verändern lassen, so genießt Religionszugehörigkeit den zweifelhaften Ruf, „unheilbar“ zu sein und scheint daher besonders gut geeignet, um Menschen endgültig als „anders“ zu stigmatisieren. Mangelnde Bildung oder eine prekäre soziale Lage lassen sich vielleicht noch durch soziale Techniken der „Integration“ beheben. Aber für Religion gibt es keine Integrationsroutinen, welche die (negativ konnotierte) Differenz einfach auflösen könnten. Damit liegt der Verdacht nahe, dass sich der Bezug auf Religion besonders dazu eignet, soziale Zugehörigkeit oder sozialen Ausschluss festzuschreiben und gewissermaßen essentialistisch zu legitimieren.

2.2

Wissenschaftlicher Migrationsdiskurs

Im wissenschaftlichen Diskurs über Migration lässt sich entgegen dem verbreiteten gesellschaftlichen Alltagsdiskurs eine gewisse Verzögerung bzw. Zurückhaltung gegenüber der Thematisierung von Religion feststellen. So findet die Auseinandersetzung mit Religion im Bereich der etablierten Migrationsforschung bis heute noch immer kaum Einlass.12 Wenn Religion im Kontext von

10 Siehe Ettinger / Imhof o. J. Vgl. Österreichische Akademie der Wissenschaften 2012, 14, und die aufschlussreiche Aufschlüsselung der Themenverteilung im Bereich Religion, 24 f. Hier heißt es bezüglich der Kategorien zur Beschreibung von Typen von MigrantInnen: „Bei den spezifischen Gruppenzuschreibungen wird meist auf nationale Begrifflichkeiten zurückgegriffen (dabei kann es sich sowohl um ausländische StaatsbürgerInnen als auch um Bevölkerung mit Migrationshintergrund handeln), wobei Jugoslawien in diesem Zusammenhang weiterhin als Nation existiert. Teils wird jedoch auch nach Zuwanderungstyp kategorisiert – das gilt hauptsächlich für AsylwerberInnen bzw. Flüchtlinge. Auch Religion wird in den letzten Jahren vermehrt zur Kategorisierung verwendet – besonders im Fall der MuslimInnen.“ 11 Der Begriff der Integration ist mit guten Argumenten immer wieder kritisiert worden. Hier orientiere ich mich an der Kritik von Terkessidis 2010; insbesondere an einem problematischen Verständnis von Integration als Behebung von Defiziten im Vergleich zur Aufnahmegesellschaft. Vgl. auch Bühlmann 2012. 12 Vgl. die Übersichten über Themen, laufende Projekte und Publikationen folgender für den deutschsprachigen Raum wichtiger Einrichtungen im Bereich Migrationsforschung: Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Uni Osnabrück. URL: http://www.imis.uni-osnabrueck.de/ [02. 01. 2014]; Schweizerisches Forum für Migrationsund Bevölkerungsstudien (SFM) an der Uni Neuch–tel. URL: http://www.migration-population.ch/ [02. 01. 2014]; oder die Berichte der Österreichischen Akademie der Wissen-

Migration und die Diversifizierung in christlichen Gemeinden

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Migrationsforschung zum Thema gemacht wird, dann fast ausschließlich in den Fächern Religionswissenschaft, Religionssoziologie oder Theologie. Dabei fällt auf, dass sich religionswissenschaftliche und religionssoziologische Studien vor allem mit Untersuchungen im Kontext des Vorkommens „neuer“ Religionen in ehemals fast ausschließlich christlich geprägten Ländern befassen. Es sind vor allem die „exotischeren“ und die aus politischer Perspektive als eher „problematisch“ eingeschätzten Religionen, die Aufmerksamkeit bekommen.13 Die größte Migrationsreligion in den deutschsprachigen Ländern, das Christentum in seinen vielfachen Facetten, kommt dagegen noch immer kaum in der Forschung vor ; und wenn doch einmal, dann gilt auch hier, dass eher „exotischere“ Varianten des Christentums in den Aufmerksamkeitsbereich der Wissenschaft gelangen als vermeintlich bekanntere. So hat sich in den letzten Jahren ein größeres Interesse an orthodoxen, afrikanischen oder asiatischen Pfingstkirchen gezeigt, während die seit Jahrzehnten in den deutschsprachigen Ländern beheimateten italienisch-, spanisch-, portugiesisch- oder kroatischsprachigen katholischen Gemeinschaften kaum einmal wissenschaftlich untersucht wurden. Selbst innerhalb der Theologien zeigt sich eine massive Nichtwahrnehmung dieser christlichen Großgruppen in den deutschsprachigen Ländern.14

3.

Religiositäten als binnenchristliche Differenzmarker

Im gesellschaftlichen und politischen Diskurs wird der Blick auf die Fremden und Anderen stark auf Angehörige muslimischer Gemeinschaften gelenkt. Der Islam wird dabei immer wieder als eine negativ konnotierte Religion dargestellt, was sich wiederum in der Bewertung des Islam niederschlägt.15 Eine genauere Analyse dieser negativen Bewertung zeigt jedoch verallgemeinerbare, gesellschaftlich verbreitete Alltagskriterien „guter“ bzw. „schlechter“ Religion, die problemlos auch gegenüber anderen Religionen Anwendung finden könnten.16 Zur Erinnerung: Der größte Teil der MigrantInnen, die in die deutschsprachigen Länder eingewandert sind und einwandern, ist christlich geprägt. Der größte Teil dieser christlichen MigrantInnen rechnet sich wiederum zur römisch-katholischen Kirche.17 Daraus kann man schlussfolgern: Migration ist in Mittel-

13 14 15 16 17

schaften zu Migrations- und Integrationsforschung in Österreich, vgl. URL: http:// www.oeaw.ac.at/kmi/working-papers.htm [02. 01. 2014]. Vgl. die Projekte im Nationsfonds-Programm 58 in der Schweiz „Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft“. URL: http://www.nfp58.ch/d_projekte.cfm [02. 01. 2014]. Vgl. Mette 2010. Vgl. Stolz et al. 2011b, 29 f. Vgl. Plüss / Portmann 2011, 3 – 7. Die Einwanderungsstatistiken der Schweiz, Österreichs und Deutschlands zeigen in den

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europa vorrangig ein „christliches“ und in hohem Maße ein „katholisches Phänomen“.18 Gerade im Kontext der massiven kulturellen Pluralisierung innerhalb des Christentums in Mitteleuropa19 können nun bestimmte Ausprägungen des Christlichen, die mit der Migration sichtbarer und erlebbarer werden, als „Religiositäten“ innerhalb einer größeren Konfessionsgemeinschaft ebenfalls zu wirkmächtigen Differenzmarkern werden. Vieles spricht dafür, dass innerhalb des Christentums bzw. innerhalb der katholischen Kirche solche Religiositäten als Differenzmarker wirken. Dabei werden Religionsstile mit nationalen, ethnischen oder kulturellen Zuschreibungen verbunden, die sie scheinbar eindeutig als „anders“ qualifizieren: kroatischer Katholizismus oder afrikanischer Pentekostalismus werden dann dem eigenen christlichen Stil entgegengesetzt: schweizerischer Katholizismus, deutscher Protestantismus etc. Während die einen als konservativ, romtreu, autoritätsfixiert gelten oder als unaufgeklärt, schwärmerisch oder sektiererisch, gelten die anderen als modern, aufgeschlossen, aufgeklärt und für die Gewohnheiten der gesellschaftlichen Mehrheit angepasster oder ungefährlicher.20

letzten Jahrzehnten jeweils Schwankungen. Während die klassische „Gastarbeitsmigration“ in der Schweiz und in Deutschland überwiegend katholisch geprägt war, war die Migration nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ in Österreich zwischenzeitlich überwiegend orthodox geprägt. Angesichts der Zunahme der Bedeutung außereuropäischer Migration und der Flexibilisierung der Migrationsmöglichkeiten innerhalb (von Teilen) Europas zeigen sich in letzter Zeit vermehrt größere Schwankungen in den Migrationsströmen und in der Folge auch in den Religionszugehörigkeiten der MigrantInnen. Drei maßgebliche Trends lassen sich jedoch ablesen: 1) Die größte Migrationsgruppe gehört einer christlichen Kirche an. Innerhalb der christlich geprägten Migration gibt es eine hohe innere Pluralität der Konfessionen und Kirchenzugehörigkeiten, wobei sich eine zunehmende postkonfessionelle Orientierung insbesondere bei nichteuropäischen MigrantInnen abbildet. 2) Der zweite Trend weist auf eine Zunahme und wachsende Pluralität anderer Religionen im Rahmen von Migration in die deutschsprachigen Länder hin. 3) Der dritte Trend drückt aus, dass der Anteil von MigrantInnen ohne Religionszugehörigkeit kontinuierlich zunimmt. Vgl. Statistik Austria 2012, Tabelle 7 und 11; die Auswertung der Volkszählungsergebnisse in der Schweiz von 2010 (http://www.spi-stgallen.ch/documents/volkszählung%202010 %20migration%20und%20religion.pdf [02. 01. 2014]) und die Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Deutschland, die jedoch auf die explizite Auswertung hinsichtlich Religionszugehörigkeit verzichtet: URL: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Pu blikationen/Broschueren/bundesamt-in-zahlen-2011.pdf;jsessionid= C8906D5C95D2A799588BC1A90FA2D933.1_cid251?__blob=publicationFile [02. 01. 2014]. 18 Vgl. beispielsweise die Kirchenstatistik der Schweiz: Husistein 2007, 71. 19 Vgl. zu neueren Migrationskirchen: Bergunder / Haustein 2006. 20 Bislang gibt es kaum empirische Studien über die Selbst- und Fremdeinschätzungen innerhalb der christlichen Gruppierungen. Hinweise gibt jedoch eine Studie über ausländische Priester in Deutschland: Gabriel / Achtermann / Leibold 2011. Vgl. auch Prcela 2011.

Migration und die Diversifizierung in christlichen Gemeinden

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Die religiösen Differenzmarkierungen erweisen sich auch innerhalb der christlichen Kirchen und zwischen migrantischen und einheimischen Gemeinden als ausgesprochen wirksam und dauerhaft. So haben sich die meisten, der in den Aufnahmeländern gebliebenen, sogenannten „GastarbeiterInnen“ aus Italien oder Spanien längst in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen „integriert“ – bis auf den Bereich der Religion. Hier bestehen jedenfalls die separaten anderssprachlichen christlichen Gemeinden, die sogenannten anderssprachlichen Missionen, nach wie vor fort und werden nicht selten von einer zweiten und dritten Generation getragen. Katholische Italiener, Spanier, Portugiesen, Polen, Kroaten, Slowenen etc. leben ausgerechnet im Bereich der Religion in kulturellen Nischen. Sie bleiben häufig auch trotz der Annahme der Staatsbürgerschaft des Residenzlandes im Bereich der Religion ihrer „migrantischen kulturellen Nische“ treu. Neben ihnen leben die „einheimischen KatholikInnen“ in ihrer eigenen Nische. Auch bei sogenannten neueren Migrationskirchen pentekostal-charismatischer Prägung zeichnet sich ab, dass sich ChristInnen aus anderen Kontinenten mehrheitlich in „eigenen“ Gemeinden versammeln.21

4.

Identität und Gemeindebildung

Die pastoralplanerische Konzeption und Einrichtung solcher Nischen, insbesondere der anderssprachigen Missionen im Bereich der katholischen Kirche, verdankte sich ursprünglich einer historischen Fehleinschätzung, nach der die sogenannten „Gastarbeitenden“ nach einigen Jahren wieder in die „Heimat“ zurückkehren würden. Entsprechend beauftragte man seit den 1950er Jahren (und zum Teil schon früher) Priester aus den Herkunftsländern der MigrantInnen mit der Sorge um ihr Seelenheil. Dies ist der Hintergrund der „Missionen“, die eigentlich keine gemeindliche Sozialform beschreiben, sondern den Arbeitsauftrag der Priester für Menschen einer bestimmten Sprache oder Nation: „missio cum cura animarum“. Es zeigte sich jedoch schnell, dass die „Missionen“ als soziale Gebilde, also die anderssprachigen katholischen Gemeinschaften, die ursprünglich als Übergangslösungen gedacht waren, als kirchliche Gemeindeformen schon bald auf Dauer gestellt und entsprechend auch Missionen als kirchenrechtliche Beauftragungen fortgesetzt wurden. Die Ansicht, Missionen sollten nur vorübergehend bestehen, hat sich in der Praxis nicht durchgesetzt. Astrid Kaptijn fasst die kirchenrechtlichen und pastoralplanerischen Entwicklungen innerhalb der ka21 Vgl. Röthlisberger / Wüthrich 2009.

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tholischen Kirche gut zusammen, weshalb sie hier in einem längeren Auszug zu Wort kommt: „Lange Zeit hat die Kirche diese Strukturen („Missionen“, A.B.) als vorübergehend angesehen. Ausgangspunkt war vor allem die Sprache (Kursiv hier und im Folgenden: A.B.): Die Migranten müssten an Gottesdiensten teilhaben und mitfeiern können und auch die Möglichkeit der Beichte in der eigenen Sprache haben. Man kann sich dabei vorstellen, dass nach einer gewissen Zeit, je nach Fortschritt der Integration im Gastland, sich das Bedürfnis zur Muttersprache verringert und schließlich ganz verschwindet. So könnte man zum Schluss kommen, dass diese Gemeinschaften keine Daseinsberechtigung mehr nötig haben. Die offiziellen Dokumente der Kirche widerspiegelten diese Optik, wenigstens bis vor kurzem. Die Apostolische Konstitution ,Exsul Familia’ von 1952 berücksichtigte die spirituellen Bedürfnisse der Migranten und ihrer Kinder und begrenzte somit die Befugnisse der Missionare auf einen Zeitraum von zwei Generationen (IV, n.40). Wenn die Instruktion ,Nemo est’ von 1969 diese Begrenzung aufgehoben hat, so zielt sie doch auf die Integration der Migranten im neuen, sozialen Umfeld ab (I, n.10). Es scheint, dass die letzte Instruktion, die die Migranten betrifft, ,Erga migrantes caritas Christi’ von 2004, einen anderen Standpunkt einnimmt. Das Dokument anerkennt nicht nur, dass das Phänomen der Migrationen sich hin zu einer strukturellen Realität der gegenwärtigen Gesellschaft verändert hat, sondern unterstreicht auch, dass die ethnische, kulturelle, sprachliche und rituelle Identität der Migranten zu verteidigen und zu schützen ist. Wenn die Integration gefördert werden soll, um sowohl das kulturelle Ghetto zu vermeiden als auch die bloße und schlichte Assimilation des Migranten in die örtliche Kultur zu verhindern (Nr. 78), dann muss sie aber in vollem Respekt ihrer Verschiedenheit und ihres kulturellen und geistigen Erbes erfolgen (Nr. 89). Die Integration der Migranten in die gewöhnliche Pastoral ist gemäß diesem Dokument eine wesentliche Bedingung, damit die Pastoral Zeichen der Universalkirche und des Auftrags von ,Ad gentes’ sein kann. […] Diese Aussagen führen zur Ansicht, dass die Migranten immer eigene Gemeinschaften benötigen, sogar über die zweite Generation hinaus – was die Erfahrung übrigens bestätigt – und was sich als gerechtfertigt erweist, um ihre eigene Identität schützen zu können.“22

Was in diesem Zitat deutlich zum Ausdruck kommt ist, dass kulturelle oder sprachliche Unterschiede vor allem als Identitätsfragen gehandhabt werden. Das Motiv der Identität verbindet sich dabei in auffälliger Weise mit einer defensiven Grundhaltung: Identität sei zu respektieren, zu schützen oder zu verteidigen. Bewahrung und Schutz der Identität bekommen eine hohe Bedeutung. So dient der Bezug auf Identität der Legitimierung von sozialen Strukturen: der Einrichtung und Aufrechterhaltung von katholischen „Sondergemeinden“. Im Hintergrund steht die Überlegung, dass religiöse Kommunikation in hohem 22 Kaptijn 2011, Schlussabsatz.

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Maße auf einer vertrauten Sprache und auf vertrauten kulturellen Ausdrucksformen aufbaut. Insofern macht eine an Sprache und kulturellen Formen orientierte Bildung christlicher Gemeinden durchaus Sinn und bleibt voraussichtlich noch länger notwendig. Problematisch wird eine solche Orientierung an Identität aber dann, wenn Identität, genauer soziale Identität, wie ein starres Erbe behandelt wird und dabei mehr und mehr Züge von Folklore annimmt. Dabei kann diese Folklorisierung sowohl Folge der Selbst-Abschottung einer Gruppe gegen außen sein als auch Folge von Festschreibungen durch andere. Insgesamt ist dem hier geschilderten Verständnis von Identität ein Zug eigen, nach dem Identität vorwiegend als Merkmal der Gruppenbildung gesehen wird. Damit wird Identität vor allem als Grundlage von Zugehörigkeit und NichtZugehörigkeit zu einer Gruppe gesehen. Insgesamt wird also eine abgrenzende Funktion des vorliegenden Identitätskonzeptes deutlich, was Spielräume einer interkulturellen Kooperation sehr einengt. Dies gilt nicht zuletzt auch für die einzelnen Mitglieder einer Gruppe, denen mit einer starken Betonung der (zugeschriebenen) sozialen Identität faktisch eine weniger starke Relevanz personaler und individueller Identität zugestanden wird. Damit wird das „konstitutive Spannungsverhältnis von personaler und sozialer Identität“23 unterschlagen oder doch mindestens zu wenig berücksichtigt, wenn man die pastoralen Strukturelemente für MigrantInnen vornehmlich an sozialen oder kollektiven Identitätsmerkmalen und ihrer Bewahrung festmacht.

5.

Rückfragen an Identitätskonzepte

In einer eher vorwissenschaftlichen, aber alltagsweltlich und auch pastoralpraktisch durchaus relevanten Weise wird Identität als „Prägemuster“ einer sozialen Gruppe gesehen oder als ihr „Erbe“ und damit eine eher starre Konzeption von Identität behauptet. Man könnte darüber hinaus anfügen, dass Identität und Ethnizität oftmals gleichgesetzt werden.24 Eine solche starre Identitätsvorstellung lässt sich mit Wünschen oder Aufforderungen verbinden, nach denen eine konkrete (soziale) Identität zu bewahren (oder aber auch abzuwehren!) sei. Ausschluss und Zugehörigkeit, Koalitionsfähigkeit oder Unvereinbarkeit sind dann nahezu zwangsläufig in den Blick kommende Einschätzungsmaßstäbe gegenüber Identitäten. Samuel Huntingtons „Kampf der

23 Vgl. Schmidt-Denter 2009, 6. 24 Vgl. dazu aus wissenschaftstheoretischer Perspektive: Armbruster 2009.

302

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Kulturen“25 steht für eine solche Vorstellung kultureller Identitäten, denen hier eine fast naturgemäße Konfliktperspektive zugeschrieben wird. Diese nur sehr schablonenhaft skizzierte Weise, Identität zu begreifen, eröffnet kaum Perspektiven für fruchtbare Begegnungen zwischen „einheimischen“ und „migrantisch“ geprägten kirchlichen Gemeinden und einzelnen ChristInnen. Es scheint, dass die häufig unterkomplexe Sicht auf Identitäten Grenzziehungen und Separierungsprozesse begünstigt. Dort, wo Kooperationen zwischen Gemeinden unterschiedlicher sprachlich oder kulturell bedingter Identität versucht werden, bauen diese häufig auf der Differenz auf. Differenz wird dann eher zelebriert und gefestigt als zum Ausgangspunkt eines echten Austausches genommen. Einige zugegebenermaßen vereinfachende Beispiele mögen dies illustrieren: Italiener kochen Spaghetti auf dem Pfarrfest und Afrikaner singen, klatschen und trommeln im „interkulturellen Gottesdienst“. So wird eine „Buntheit“ und „Vielfalt“ demonstriert, die jedoch kaum zu einem wirklichen Miteinander beiträgt, sondern als stimmiges Nebeneinander dirigiert wird. Der Dirigentenstab liegt dabei meist in den Händen der „Einheimischen“, die damit ihre Dominanz bei den Identitätszuschreibungen wirksam werden lassen – und ihre hegemoniale Identitätsposition zementieren. Erst ein dynamischeres Konzept von Identität kann hier einen Ausweg aufzeigen: Empirisch lassen sich komplexe Zusammenhänge von bestehenden gruppenbezogenen Identitätsprägungen, also den sozial erlernten, „ererbten“, und sprachlich, ästhetisch und normenbezogen vorliegenden sowie kollektiv getragenen Mustern der Kommunikation, des Selbstverhältnisses und des Verhältnisses zur Umwelt auf der einen Seite und ihren kollektiv wie individuell vollzogenen Transformationen in der Auseinandersetzung mit neuen Umweltbedingungen auf der anderen Seite zeigen.26 Identität als Erbe und als Prozess schließen sich demnach nicht aus, sondern sie bilden eine dynamische Spannung. So ist beispielsweise die „islamische Identität“ von Jugendlichen, die in zweiter oder dritter Generation in mitteleuropäischen Ländern leben, eine Melange und Neuentwicklung aus (vermeintlicher) religiöser Überlieferung und Tradition der Eltern und Großeltern und ihrer Aktualisierung und Neuformatierung. Diese Melange bzw. Neuentwicklung soll Antworten auf Herausforde25 Huntington 2002 (1998). Vgl. die kritische Auseinandersetzung mit Huntington bei Riesebrodt 2000. 26 Vgl. die Hinweise bei Boos-Nünning / Karakas¸oglu-Aydın 2006, 366 – 379 zur spezifischen Aneignung des „Islam“ durch junge MigrantInnen der zweiten oder dritten Generation in Deutschland. Diese üben in ihrer spezifischen Lage zwischen traditionell geprägtem Elternhaus einerseits und hohem gesellschaftlichem Modernisierungsdruck andererseits die religiöse Zugehörigkeit zum Islam mit neuen Gewichtungen und eigenen Funktionserwartungen an die Religion aus. Religiöse Identität wird so konfiguriert, dass sie den individuellen oder auch gruppenspezifischen Funktionserwartungen zu entsprechen vermag (z. B. Sicherung von Anerkennung, Emanzipationsgewinne, Zuwachs an Sozialkapital etc.).

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303

rungen der Jugendlichen heute hervorbringen: Das Bekenntnis zum Islam wird so zum Weg oder Versuch, Anerkennung und Respekt in einer Gesellschaft zu erhalten, die auch noch eine dritte Generation z. B. türkischstämmiger MigrantInnen mit Fremdheitsmarkierungen belegt und damit ihre Nichtzugehörigkeit zu der Gesellschaft betont, in der diese Jugendlichen geboren und aufgewachsen sind. Identität ist also in diesem Sinne „offen“ – aber längst nicht beliebig oder frei von Wurzeln oder „ererbten“ Prägungen und Kompetenzen der Behauptung in der Welt.27

6.

Identität als Weise, der Wirklichkeit zu begegnen

Vor dem Hintergrund solcher empirisch belegter Prozesse28 möchte ich im Folgenden Identität als Art und Weise begreifen, wie ein Mensch oder wie eine Gruppe von Menschen Bezug auf die Wirklichkeit nimmt. Identität wäre hier eine kulturelle, religiöse, ästhetische, soziale, ethische, sprachliche, spirituelle, … Weise, der Wirklichkeit zu begegnen, ja nicht nur, ihr zu begegnen, sondern sie zu schaffen, sie zu konstruieren und in ihr einen Platz zu finden. Zwar tut dies jeder einzelne Mensch anders, aber dennoch gibt es übergreifende Merkmale der Bezugnahme auf die Wirklichkeit, die insbesondere durch Sprache und durch soziale oder generationenspezifische Lagen und nicht zuletzt durch die zur Verfügung stehenden religiösen Zugangsweisen und Ausdrucksmittel zur Welt geprägt werden.29 Erst wenn die Frage der Identität als je spezifische Weise der persönlichen oder kollektiven Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit gesehen wird, wenn anerkannt wird, dass verschiedene Identitäten sowohl andere Bilder oder Konstruktionen der Wirklichkeit hervorbringen, als auch anders auf Wirklichkeit einwirken oder von ihr sich prägen lassen, lässt sich ein echtes Potential in der Fremdheit der anderen sehen, das auch in und zwischen christlichen Gemeinden fruchtbar wirken kann.30 Wenn Identität also als spezifisches Potenzial der Welterschließung und Weltgestaltung Anerkennung findet, dann wird aus der Begegnung zwischen Fremden eine Vergrößerung von

27 Vorstellungen einer offenen Identität basieren auf Konzepten, nach denen individuelle oder auch kollektive Identitäten immer in Dynamik zu veränderlichen Umweltbedingungen gesehen werden. Vgl. Dahinden / Duemmler / Moret 2010. 28 Vgl. Dahinden / Duemmle / Moret 2010 und Boos-Nünning / Karakas¸oglu-Aydın 2006. 29 Vgl. Krappmann 2010. 30 Vgl. beispielsweise die Überlegungen von Werner Kahl zu unterschiedlichen Deutungen und Lösungsmustern bei Krankheitserfahrungen, die westlich und südlich geprägte christliche Gemeinden jeweils repräsentieren: Kahl 2010a.

304

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Möglichkeiten, die Wirklichkeit zu erfassen und zu gestalten – und zugleich eine Relativierung der eigenen Vorstellungen von der Wirklichkeit.31

7.

Rückschau auf kirchlich-gemeindliche Praxis

In der Rückschau auf die letzten Jahrzehnte kirchlich-gemeindlicher Praxis im Umgang mit Migration zeigt sich vor allem eine organisatorisch-strukturelle Trennung von Migrantinnen und Migranten auf der einen Seite und den Einheimischen auf der anderen Seite. Offenbar hat sich hier ein Konzept von „Identität“ durchgesetzt, das auf die Binnenkommunikation in kulturellen oder sprachlichen Gruppen hohen Wert legte. Dagegen zeigt sich, dass die Potenziale interkultureller Lernprozesse bislang kaum ausgeschöpft oder gar gesehen wurden. Dies gilt keineswegs zuletzt auch für die Reflexion pastoraler Fragen im Bereich der Theologie.32

7.1

Ökumenische Amnesie

Noch immer gibt es nur sehr wenige pastoraltheologische, geschweige denn empirisch fundierte Forschungsergebnisse und Publikationen über die Präsenz von Christinnen und Christen, von Katholikinnen und Katholiken aus anderen Ländern in den deutschsprachigen Ortskirchen. Diese spezifische Form „ökumenischer Amnesie“33 verwundert, da doch gerade die Länder Deutschland, Österreich und die Schweiz seit Jahrzehnten durch Migration geprägt sind. Wenn man die Zahlen der katholischen MigrantInnen in den Blick nimmt, dann müsste das Thema der Migration eigentlich ein seit langem beachteter Dauerbrenner sein. Aber : (kaum) eine Spur. Wenn überhaupt, dann gab es in sozialethischer Hinsicht wichtige Beiträge aus dem Bereich der Theologie (und auch der lehramtlichen Äußerungen). So waren z. B. die Debatten in den 1980er und 1990er Jahren rund um das Kirchenasyl auch gesamtgesellschaftlich prägend. Der Einsatz der Kirchen für AsylantInnen, die Erinnerung an den Skandal der „Illegalisierung“ von Menschen etc. darf als starke Leistung gesehen werden. Zugleich fällt aber auf, dass auf der Ebene pastoralen Handelns, insbesondere auf der Ebene gemeindlichen (pfarreilichen, verbandlichen…) Handelns kaum ein 31 Die sich in diesem Kontext anbietenden Perspektiven für ökumenisches Lernen in der Tradition von Ernst Lange skizziert Asmus 2010. 32 Vgl. Mette 2010. 33 Unter dem Stichwort „ökumenische Amnesie“ fasst Klaus Hock diese Ausblendungswirklichkeit in den unterschiedlichen christlichen Gemeinschaften gut zusammen. Hock 2010, bes. 28 – 44.

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Bewusstsein für die multikulturelle und migrantische Realität der katholischen Kirche spürbar wurde.34 Erst in den letzten Jahren beginnt hier ein Umdenken, z. B. im Bereich der Katechese35, wo man sich um einen interkulturellen Ansatz bemüht, oder bei der Arbeit von Frauenverbänden.36

7.2

Der „gute Hirt“ als Leitmotiv der Separation?

Bei der Rückschau auf die große Dominanz der Separierungspraxis im Bereich der Kirchen und Gemeinden, die sich im Kontext der Zuwanderung von ChristInnen anderer Sprachen und Kulturen zeigt, kann aus theologischer Sicht die alleinige Rekonstruktion von Identitätskonzepten kaum genügen, um die herrschende Praxis ausreichend zu begründen. Ergänzend dürfte es zentral sein, nach theologischen oder biblischen Leitbildern Ausschau zu halten, die die Präferenz für bestimmte Identitätskonstruktionen und ihren Einfluss auf die Gestaltung der Pastoralstrukturen naheliegend erscheinen lassen. Welche theologischen oder biblischen Leitbilder könnten mitursächlich sein für die bestehende langjährige pastorale Praxis im Umgang mit einem multikulturellen Umfeld christlicher Kirchen und Gemeinden? Gibt es vielleicht ein pastoraltheologisches Grundmotiv, das die weitgehende Ausblendung der Migrationsrealität in der Kirche und insbesondere im Bereich der Bearbeitung pastoraler Strukturfragen zu Folge hatte? Welche pastoraltheologischen Motive oder Optionen haben hier eine Rolle gespielt, und welche Korrekturen könnten heute angeregt werden? Im zwanzigsten Jahrhundert kann im Rahmen der Pastoral in den deutschsprachigen Ländern von einer zentralen Verschiebung ausgegangen werden, deren Kernelement die persönliche Beziehung eines Seelsorgers zum Pastoranden/zur Pastorandin war. In jedem Fall lässt sich nachzeichnen, dass sich eine Schwerpunktverlagerung von einer an objektiven Gegebenheiten orientierten Pastoral (Liturgie, Sakramentenpraxis, Wort-Gottes-Verkündigung) hin zu einer deutlich stärker subjektorientierten Pastoral ergeben hat.37 Priester, Pfarrer, Seelsorgende werden mehr und mehr als individuelle Personen und in 34 In der Schweiz gibt es beim größten katholischen Jugendverband mittlerweile eine engagierte Bemühung um eine Orientierung, die die Partizipationsmöglichkeiten von Jugendlichen mit „Migrationshintergrund“ fördert. Vgl. www.jublaplus.ch und http://www.jubla.ch/ uploads/media/Schlussbericht-jublaplus-small.pdf [02. 01. 2014]. 35 Scheidler / Hofrichter / Kiefer 2010 und Leimgruber 2011. 36 Genannt seien hier die Positionsbestimmung der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands 2007. 37 Eine kritische Auseinandersetzung mit den Schattenseiten dieser subjektorientierten Pastoral bietet Hermann Steinkamp im Anschluss an den Pastoralmacht-Begriff von Michel Foucault: Steinkamp 1999.

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personal geprägter Beziehung zu den ebenso individuell wahrgenommenen PastorandInnen wahrgenommen. Von einer Seelsorgeperson wird heute erwartet, dass sie die Menschen kennt, mit denen sie seelsorglich arbeitet – und umgekehrt.38 Als biblisches Leitmotiv könnte man hier an das Motiv des guten Hirten erinnern: „Ich bin der gute Hirt und ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich.“ (Joh 10,14)39

7.3

Mitgliederkirche und Mitgliedermilieus

Das „Sich-Kennen“ könnte insbesondere für die unter spezifischen Umständen modernisierten Kirchen in den deutschsprachigen Ländern eine hohe Bedeutung besitzen. Im Hintergrund steht die längere und immer wieder auch spannungsvolle Auseinandersetzung der (katholischen) Kirche mit der Moderne. Auch wenn die Moderne über weite Strecken abgelehnt wurde, so hat sich die Kirche doch moderner Bindungsformen bedient, um ihre Getauften innerhalb einer als feindlich-modern wahrgenommenen Umwelt zu halten. Das Motiv des „Sich-Kennens“ hat schließlich die Organisation pastoraler Strukturen insbesondere in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts stark geprägt und ist in diesen tief verwurzelt. Was in der (idealisierten) pastoralen Beziehung zwischen „Hirt“ und „Herde“ seinen Anfang nahm, setzte sich bei der weiteren Entwicklung kirchlicher Sozialformen auch in der Breite dieser Sozialformen durch. Die modernen Bindungsformen führten zur Transformation von Pfarreien zu neuen und verbindlicheren Sozialformen, wie der „Pfarrfamilie“ und später der „(Pfarr-)Gemeinde“.40 Unter dem Stichwort „Gemeinde“ entwickelte sich die Kirche schließlich auch noch jenseits von Vereins- und Verbandsstrukturen zu einer Mitgliederorganisation mit einem an das Individuum gerichteten Anspruch der Mitwirkung in der Gemeinschaft. Zu den Kennzeichen der „Ge38 Nicht zuletzt hier liegt auch einer der Gründe für die breite Ablehnung, die viele Seelsorgende aus anderen Ländern, z. B. Priester aus Indien oder Westafrika, in deutschsprachigen Gemeinden erfahren. Eine gültige Priesterweihe und der gültige Vollzug von sakramentalen Feiern gelten nicht (mehr) als ausreichende Basis einer funktionierenden seelsorglichen Beziehung. Vgl. vor allem den qualitativen Teil in: Gabriel 2011. 39 Es geht bei dieser Motivwahl nicht um den exegetisch korrekten Zugang zu einer Textstelle und ihrer Bedeutung, sondern um ihre bildmächtige Kraft. Vergleichbare biblische (und unbiblisch-rezipierte) Motive waren z. B.: die „Heilige Familie“ als Leitbild und Idyll der Familie des 19. Jahrhunderts (vgl. Lutterbach 2003) oder der „Sämann“ als Leitbild einer „missionarischen Kirche“. Vgl. kritisch zum Gebrauch des Sämann-Motivs: Bünker 2010, 463 – 483. 40 Auch Vereine und Verbände können hier genannt werden. Franz-Xaver Kaufmann sprach schon früh von einer „Verkirchlichung“ des Christentums, in der die Mitgliederbindung (in unterschiedlichen Weisen) unter gesellschaftlichen Modernisierungsbedingungen gewährleistet wurde. Vgl. Kaufmann 1979, 100 – 104.

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meinde“ gehören nun die Erwartungen der Nähe und des Sich-Kennens.41 Nicht mehr der Bezug auf liturgische Handlungen und auch nicht die alleinige Autorität eines Hierarchen konstituiert in dieser Perspektive kirchliche Gemeinde, sondern die persönlich verpflichtendere Form der Einbindung von KatholikInnen als Mitglieder in einer religiösen Organisation. Der Mitgliedschaftsmodus, der nicht schon durch Taufe und Ritualbezug allein gegeben ist, setzte voraus, dass jedes Mitglied mit den Interaktionsregeln der Organisation vertraut ist und sich entsprechend verhalten kann. In diesen „Gemeinde-Organisationen“ wirkten und wirken neben allgemeinen und eher abstrakten kirchenrechtlichen Regeln vor allem jeweils spezifische soziale, lokal bedeutsame und sehr konkrete Normen und Codes. Diese schreiben vor, wie Rollen aussehen, wie man miteinander kommuniziert, was dabei thematisiert werden darf, wie man die Welt sieht und die Aufgabe oder den Ort der eigenen Gruppe in der Welt. Man könnte von „parochial-gemeindlichen Identitäten“ sprechen, die die Art und Weise der Begegnung der Pfarreien bzw. kirchlichen Gemeinden mit der Wirklichkeit definieren. Diese Identitäten sind in hohem Maße durch die soziokulturellen Prägungen ihrer Mitglieder definiert. Der Stil der Binnenkommunikation und die gegenseitigen Erwartungshaltungen im Sozialsystem der Gemeinde funktionieren auf der Basis einer breit akzeptierten und von den Mitgliedern getragenen Plattform milieuspezifischer Kommunikationsmuster, Ansprüche und Erwartungen. Wenn man sich in dieser Gemeinde „kennt“, dann bezieht sich das Kennen nicht unbedingt auf persönlich-individuelle Kenntnisse, bei denen die Mitglieder einer Gemeinde als Individuen sichtbar werden, wohl aber auf jeweils milieuspezifisch geprägte Kommunikationsformen und Verhaltenserwartungen, auf eine gewisse Homogenität der Lebensverhältnisse und der Lebensweise. Diese Faktoren konstituieren in der Regel das „Wir“ einer Gemeinde. „Sich-Kennen“ basiert also auf einer gemeinsamen soziokulturellen Zugehörigkeit. Wenn heute gerade für Pfarrgemeinden eine hochgradige Milieuverengung festgestellt wird, dann ist das die Kehrseite dieses „Sich-Kennens“.42 Rückblickend auf das vorgeschlagene (heimliche) pastorale Leitbild des Guten Hirtens, der die Seinen kennt und die ihn kennen, lässt sich also von einer gewissen Demokratisierung dieses „Sich-Kennens“ auf der Ebene von kultu41 Dass Gemeinde in der Pastoraltheologie längst nicht immer in dieser Klischeeform verstanden wird, muss in Erinnerung gerufen werden, auch wenn gerade das Klischee von „Gemeinde“ für ihre konkrete Realisierung in der Pastoral vielleicht wirkmächtiger war als die kritischere pastoraltheologische Theorie. So hat z. B. Norbert Mette dafür plädiert, Gemeinde zunächst als Praxisform und erst darauf bezogen als Sozialform zu sehen. Vgl. Mette 2008, 60. 42 Die Milieustudien der letzten Jahre haben auf die sog. Milieuverengung hingewiesen. In seiner Analyse der Rezeption einer dieser Studien hat Matthias Sellmann darauf hingewiesen, dass gegenwärtig durchaus eine „Lust auf Leute, die anders sind“ bestehe. Vgl. Sellmann 2008.

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reller oder Milieu-Homogenität sprechen. Jedenfalls wurden und werden soziokulturelle Homogenität und ein gegenseitiges „Sich-Kennen“ in der Planung pastoraler Strukturen in hohem Maße für die Bildung kirchlicher Gemeinde vorausgesetzt. Hierin dürfte auch die Praxis begründet sein, „Migrationsgemeinden“ als kulturell geschlossene Sondergemeinschaften zu etablieren. Umgekehrt werden dann aber auch die Gemeinden „Einheimischer“ als kulturelle Sondergemeinschaften sichtbar. Heute lassen verschiedene Faktoren dieses Modell des „Sich-Kennens“ mehr und mehr an seine Grenzen gelangen: die Kritik an der Milieuverengung von Pfarreien wurde schon oft formuliert.43 Auch die Abschottung und Verfestigung von Grenzziehungen zwischen unterschiedlich kulturellen Gemeinden, zwischen Pfarreien und Missionen, gerät nicht zuletzt vor dem Hintergrund mancher Implosion bestehender Gemeinden aufgrund fehlender Gläubiger in Pfarreien wie Missionen mehr und mehr in die Kritik. Fragen im Zusammenhang mit dem Rückgang finanzieller und personeller Ressourcen lassen die Strukturparallelität von Pfarreien und Missionen in den letzten Jahren immer wieder fraglich erscheinen.44 Dazu kommt, dass im Bereich der hauptamtlichen Repräsentanten von Kirche mehr und mehr MigrantInnen ins Spiel kommen. In weiten Teilen deutschsprachiger Länder wäre die bisherige Form pfarreilicher Seelsorge ohne den massiven Einsatz insbesondere von Priestern aus anderen Ländern und Kontinenten nicht mehr aufrecht zu erhalten.45 Es ist bezeichnend, dass ein Großteil der Kritik, die gegenüber diesen Seelsorgenden aus anderen Ländern geäußert wird, gerade das „Sich-nicht-Kennen“ betont, das als Bedrohung und Gefahr für gemeindliches Leben wahrgenommen wird.

8.

Sich-nicht-Kennen als Chance

Pastoraltheologisch und ekklesiologisch dürften hier kritische Rückfragen angebracht sein: Wäre es nicht an der Zeit, die faktische und einseitige Milieuorientierung bei der Gestaltung gemeindlicher Sozialformen, die sich nicht zuletzt einer Kirchenform verdankt, die sich in antimoderner Haltung moderner Mittel bediente, und aus Getauften Mitglieder machte, hinter sich zu lassen? 43 Vgl. auch – stets mit Bezug auf die sog. „Sinus-Milieu-Studien“ – Sellmann 2006, 2010; Ludin 2009. 44 (Auch) finanzielle Erwägungen führen z. B. in der Schweiz immer wieder zur kritischen Sicht auf die Praxis der Pastoral im Blick auf die MigrantInnen-Gemeinschaften, insbesondere auf die separierenden Strukturen. Vgl. die komplexe Thematik in der Dokumentation der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz 2012. 45 Vgl. die Studie zu ausländischen Priestern in Deutschland: Gabriel / Achtermann / Leibold 2011.

Migration und die Diversifizierung in christlichen Gemeinden

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Wäre eine einfache „Mitgliederlogik“ nicht mindestens mit Blick auf ihre Praxisfolgen kritisch zu hinterfragen? Wäre es nicht an der Zeit, neben dem „SichKennen“ das „Sich-nicht-Kennen“ als Chance für kirchliche Praxis zu sehen? Welche Chancen bieten sich christlichen Gemeinden, wenn man sich nicht kennt? Welcher Rahmen müsste geschaffen oder berücksichtigt werden, in dem eine konstruktive Thematisierung unterschiedlicher Identitäten geschehen kann?46

8.1

Identitäten als Brücken zur Begegnung

Bislang wurden unterschiedliche Identitäten vor allem aus dem Blickwinkel der Grenzziehung gesehen und in gemeindlichen Sozialformen abgebildet. Ein grundsätzlicher Perspektivenwechsel zeichnet sich bislang erst sehr schemenhaft ab.47 Die Situationen christlicher Gemeinden, solcher mit migrantischer Prägung und solcher mit einer anderen Prägung, sind zu unterschiedlich, um hier konkrete Praxisvorschläge zu machen. Stattdessen möchte ich im Folgenden lediglich eine Anregung in drei „Ausspielungen“ geben.48 Wenn Identität mehr als bislang als Art und Weise der Wirklichkeit zu begegnen, sie zu interpretieren und zu gestalten, verstanden wird, dann fußt jede Art von zwischengemeindlicher Kooperation und Gemeinschaft auch auf dem Zueinander dieser mehr oder weniger unterschiedlichen Arten, der Wirklichkeit zu begegnen. Zugleich stellen die Identitäten der jeweils Anderen immer auch eine Herausforderung an die eigene Weise dieser Wirklichkeitsbegegnung oder Auseinandersetzung mit ihr dar. Gerade diese Wirklichkeit, die bewohnte Welt, in der wir leben, ist jedoch der zentrale Referenzpunkt, dem das Zeugnis jeder christlichen Gemeinde gilt – und es ist diese Welt, in und an der sich auch das Miteinander unterschiedlich identitär geprägter christlicher Gemeinden zu bewähren hat. An drei Beispielen seien bereichernde und zugleich auch in Frage stellende Begegnungsmöglichkeiten skizziert. Dabei geht es auch darum, einen ganzheitlichen Zugang zu wählen, der kognitive, emotionale und soziale Dimensionen berücksichtigt.

46 Vgl. Willem 2005, 365. 47 Vgl. die weitreichenden Thesen, die bei der Tagung der Missionare italienischer Sprache in der Schweiz – Delsberg, Oktober 2010, vorgestellt wurden: Kirche sein im Zeichen der Migrationen. Pastoraltheologische Thesen. URL: http://www.cserpe.org/conferenze/Thesen%202010.pdf [02. 01. 2014]. 48 Vgl. Bünker 2011.

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8.1.1 Begegnung im Kontext sozialer Fragen: Eine neue Chance für die Eine-Welt-Arbeit Bis in die 1980er und 1990er Jahre des letzten Jahrhunderts waren die Kirchen in den deutschsprachigen Ländern oftmals die Spitzenreiter, wenn es darum ging, für ein „Eine-Welt-Bewusstsein“, für weltweite und weltkirchliche Solidarität, für Entwicklungshilfe, für Fairen Handel etc. zu sensibilisieren.49 Auch eine Vielzahl von sogenannten Partnerschafts- oder Patenprojekten mit christlichen Gemeinden (Pfarreien) in anderen Kontinenten wurde initiiert. Etliche solcher Projekte gibt es bis heute. Dennoch klagen gerade viele kirchliche Solidaritätsgruppen über einen Mangel an jüngeren Freiwilligen, die sich hier engagieren möchten. Zudem ist konzeptionell viel Kritik an herkömmlichen kirchlichen Patenschafts- und Partnerschaftsmodellen geäußert worden.50 Es zeigt sich, dass die bisherigen Formen der weltkirchlichen und weltweiten Solidaritätsarbeit an ihre Grenzen gestoßen sind, wobei nicht zuletzt die Auflösung des inneren Zusammenhangs von institutioneller Religionsbindung und inhaltlichem Engagement für „Eine Welt“ deutlich sichtbar wird.51 Eine andere Beobachtung schafft jedoch auch Raum für eine neue Perspektive. So zeigt sich im Kontext der neueren Migrationsbewegungen, dass die ehemals geografisch weit entfernten „afrikanischen“, „asiatischen“ oder „lateinamerikanischen“ christlichen Gemeinden längst in direkter Nachbarschaft zu hiesigen Pfarreien existieren. Durch die Remissen der Gläubigen dieser migrantisch geprägten Gemeinden wird eine Entwicklungshilfe geleistet, deren Umfang kaum hoch genug einzuschätzen ist. Etliche Länder im sog. Süden leben zu einem großen Teil von diesen Remissen. Sollte es nicht möglich sein, die „hiesige“ Art und Weise solidarischer Arbeit mit derjenigen „hiesiger“ Migrantinnen und Migranten, die durchaus eine eigene ExpertInnenperspektive hinsichtlich globaler Solidaritätsfragen besitzen, in ein Gespräch und in eine Zusammenarbeit zu bringen? Während die interkontinentalen Pfarreipartnerschaften bislang immer noch in der Sicherheit der nicht nur geografischen Distanz bleiben – und damit eine allzu große gegenseitige Verwirrung der „Partner“ häufig begrenzen konnten, besteht jetzt die Chance und sicher auch

49 Keine andere gesellschaftliche Gruppe kann auf eine so große und breite, seit der Missionsbewegung des 19. Jahrhunderts (der ersten breiten katholischen Laienbewegung) bestehende, mehrere Transformations- und Modernisierungsschritte vollzogen habende, weltweite Solidaritätsbewegung verweisen, wie die katholische Kirche. Dass hier auch Ungleichzeitigkeiten festzustellen sind, muss diesen grundlegenden Eindruck nicht in Frage stellen. 50 Vgl. Rupieper 2004. 51 Vgl. Weckel / Ramminger 1997 und Gabriel et al. 1995.

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Herausforderung, mit den Migrantinnen und Migranten eine neue Säule im Gefüge der kirchlichen Eine-Welt-Arbeit aufzubauen und diese zu integrieren.52 Mit Sicherheit wäre dazu eine Begegnung mit wechselseitig hohen Lernanforderungen verbunden. Die verschiedenen Identitäten der jeweils lokalen Akteure einer solchen Form der Kooperation beinhalten schließlich sehr unterschiedliche Vorstellungen von Solidarität. Schon die verschiedenen Weisen der Situationsanalyse (orientiert an pragmatischer Hilfe für die eigene Familie in der Ferne oder ausgerichtet an sozialtechnologischen, ökonomischen oder weltpolitischen Perspektiven), aber vor allem die unterschiedlichen Muster der eigenen individuellen oder kollektiven Verstrickung in die bestehende globale (Un-) Ordnung etc. wären gegenseitig und miteinander offenzulegen. So könnten die unterschiedlichen Identitäten neue konstruktive und/oder kritische Sichtweisen auf die bisherigen eigenen Praxen ermöglichen.

8.1.2 Begegnung im Bereich der Frömmigkeit: Frömmigkeitsstile als Ausdrücke unterschiedlicher Welt-Empfindungen und Welt-Deutungen Gerade in den intergemeindlichen Beziehungen zwischen „einheimischen“ und „migrantischen“ kirchlichen Gemeinden wird die Frage der verschiedenen Frömmigkeitsstile und ihrer jeweiligen Interpretationen mit den Augen der anderen oftmals zu einer schwierigen und konfliktträchtigen Angelegenheit. Religion, Spiritualität, Frömmigkeit, Gebet… umfassen neben anderen Dimensionen auch eine emotionale und eine ästhetische Dimension. Oftmals wird gerade daran „Identität“ festgemacht – und zugleich als „andere Identität“ wahrgenommen. Insbesondere die expliziten spirituellen Vollzüge wie Gebete, Gottesdienste, Gesang… sind somit auf existentielle Weise mit Identitätskonzepten verbunden. Einschluss- und Ausschlussmechanismen haben hier die konkretesten und oftmals benennbarsten Anhaltspunkte. Unbehagen äußert sich oft als Angst vor Verlust eigener Frömmigkeitsformen durch ein zu starkes Sich-Einlassen auf andere. Umgekehrt wird die Unterwerfung oder Vereinnahmung durch als problematisch wahrgenommene Frömmigkeitsformen (zu konservativ, zu liberal, zu lebendig-emotional, zu still und zurückhaltend, zu nüchtern und zu unaufgeklärt …) befürchtet. Spiritualität betrifft Menschen existentiell – und entsprechend sind auch Konflikte um spirituelle Formen existentiell (bedrohlich). Gerade diesen Ängsten gilt es sich zu stellen. Sie führen schließlich an den Punkt der gemeinsamen Bezugnahme auf das „Christliche“ durch die unter52 Nicht zuletzt ist mit diesem Vorschlag auch eine Perspektive angesprochen, die es hauptamtlich in der Seelsorge Tätigen, inländischen und ausländischen, eröffnet, ein gemeinsames Projekt mit komplementären Wirklichkeitszugängen zu beginnen.

312

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schiedlichen Gruppen heran. In der Begegnung zwischen migrantisch und nichtmigrantisch geprägten Gemeinden könnte es darum gehen, die Frage nach der jeweiligen Wirklichkeitsrelevanz unterschiedlicher Frömmigkeitsstile zu stellen. Was trägt die Verehrung eines Heiligen dazu bei, sich gegenüber der Wirklichkeit zu positionieren?53 Warum gilt gerade die pfingstliche Frömmigkeit weltweit als Antwort der Religion(en) auf globale Krisenerscheinungen und chaotische Transformationsprozesse?54 Welche Funktion kommt der Stille und Langsamkeit in vielen mitteleuropäischen Frömmigkeitsstilen zu, und was tragen sie zum In-der-Welt-Sein bei? 8.1.3 Begegnung im theologischen Lernen: Interkulturelle Bibelarbeit als Chance zu Begegnung und Horizonterweiterung Missions- und Religionswissenschaftler stellen seit längerer Zeit die Frage, was angesichts einer globalen Zersplitterung des Christentums in verschiedene „Christentümer“ noch als gemeinsame „Identität“ des Christlichen gehandelt werden könnte. Es scheint hier kaum mehr zu sein als der Bezug auf die JesusErzählung bzw. die Schriften der Bibel.55 Schon die Art und Weise der Bezugnahme ist oftmals sehr unterschiedlich und widersprüchlich. Umso mehr drängt sich gerade interkulturelle Bibelarbeit als Methode auf, um die christlichen Identitäten im unterschiedlichen Umgang mit der gemeinsamen Bibel kennenzulernen – und damit auch im Umgang mit dem Leben, mit der Weltwirklichkeit und mit der Wirklichkeit Gottes.56 Werner Kahl, Missionswissenschaftler und Neutestamentler, hat verschiedentlich dazu aufgerufen, insbesondere mit Mitgliedern westafrikanisch, pentekostal-charismatisch geprägter Gemeinden und solcher Gemeinden mit mitteleuropäischer Prägung gemeinsame interkulturelle Bibelarbeiten durchzuführen. Dabei lehnt er sich in der Praxis an die bekannten methodischen Schritte des Bibel-Teilens an, sodass interkulturelle Bibelarbeit durchaus als Weg gesehen wird, der von migrantischen wie von nicht-migrantischen Gemeinden beschritten werden kann.57

53 54 55 56 57

Vgl. Saviano 2006 Vgl. Bergunder 2006. Ahrens 2009. Vgl. Kahl 1998, 2006a und 2010. Vgl. Kahl 2002, 2010b.

Migration und die Diversifizierung in christlichen Gemeinden

9.

313

Schluss

Christliche Gemeinden haben beim Thema Migration in den letzten Jahren und Jahrzehnten eher den gesamtgesellschaftlichen Einschätzungen und Verhaltensweisen entsprochen als eigene Wege der Auseinandersetzung und Gestaltung der neuen und voraussichtlich dauerhaften gesellschaftlichen wie kirchlichen Realität aufzuzeigen. Die Sendung der Kirche „in die Welt von heute“ drängt mehr denn je dazu, hier einen Paradigmenwechsel zu wagen und Identitäten weniger als Bausteine der Grenzziehung zu sehen, sondern sie als Potenzial für die Kommunikation des Evangeliums in „ökumenischer Solidarität“58 zu nutzen. Das schließt die jeweilige eigene Evangelisierung, die Bereitschaft, sich durch die Identitäten der anderen, durch ihr Weltwissen, Weltleiden und Inder-Welt-Bestehen herausfordern, bereichern und auch bekehren zu lassen ein. Nur so lässt sich die Bedeutung des Evangeliums in unserer Zeit, die eine Zeit der Migrationen ist, erschließen, erfahren und erfahrbar machen.

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Arnd Bünker

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Agostino Marchetto

Dialogue in Migration and Religion

1.

Introduction

International migration is one of the signs of our times. The United Nations Population Division estimated some 214 million international migrants present in the world in 2010, roughly 3 % of the world’s population.1 As people cross international borders, whatever may be the driving force behind their move, they carry with them also their faith and their beliefs. With them the kaleidoscope of religions in the globe undergo variations at the national level. To know and understand better the relationship between migration and religion, the Pew Research Center’s Forum on Religion and Public Life put together a database that contains information on the origin, destination and religious affiliation of international migrants. In March 2012, the Center published a report based on this information, entitled “Faith on the Move: The Religious Affiliation of International Migrants”.2 The data can be improved and the figures are estimates, but they do provide a plausible picture of the distribution of international immigrants in the world according to the beliefs they profess.

2.

Some statistics

According to the report, an estimated 106 million international migrants are Christians. That is roughly 49 % of the world’s international migrants. Almost 60 million, or 27 %, are Muslims. Hindus number nearly 11 million, accounting for about 5 % while Buddhists are about 7 million, or 3 %. Among them are more than 3,6 million Jews, that is, nearly 2 %. Some 4 % belong to other religions, including Sikhs, Jains, Taoists, followers of Chinese folk religions and African 1 United Nations 2011. 2 Pew Research Center 2012.

318

Agostino Marchetto

traditional religions and other smaller groups, estimated to be around 9 million individuals. More than 19 million, or 9 %, have no religious affiliation.3 In 2010, about a third of all international migrants (69,990,000, or 33 %) were living in Europe.4 Russia received some 4 million Muslim immigrants, the majority of whom came from former Soviet republics, while Germany and France each hosted more than 3 million Muslim newcomers. However, in the whole European Union, there were surprisingly more Christian (some 26 million or 56 % of the foreign-born population) than Muslim (13 million or 27 %) immigrants.5 While more than three-fourths of the people who emigrated from Europe were Christians (76 %), only a little more than half of those who came to Europe were so (57 %). This includes those who moved between European countries. On their part, Muslims comprised about a fourth of all immigrants living in Europe (26 %). About a tenth (11 %) had no religious affiliation.6 It is interesting to note that if movement from one European country to another were not considered international migration, Christian immigrants would comprise 42 % of all those who migrated into the continent, whereas Muslims would be 39 %. In that case, the proportion of Christian and Muslim immigrants into the European Union would be much closer, although in absolute numbers Christians still outnumber Muslims by some 1 million migrants.7 Considering that almost half of the world’s immigrants were Christians, and only a little over a fourth were Muslims, the latter indeed, by comparison, had a high concentration in the European continent in 2010. For the sake of comparison, let us take a look at the composition by religion of immigrants into the United States of America, which hosted nearly 43 million in 2010, estimated to be more than three times the number that resided in any other country. About a fifth of all the world’s migrants were found in the USA alone. Nearly three-fourths (74 %) of its immigrant population was Christian, undoubtedly attributable to the proximity of Mexico, a strongly Catholic country and a leading source of international migration. Muslims made up only about 5 % of its immigrant population, Buddhists 4 % and Hindus 3 %. A tenth (10 %) considered themselves religiously unaffiliated.8

3 4 5 6 7 8

See PRC 2012, 11 – 12. PRC 2012, 14. See PRC 2012, 17. See PRC 2012, 35. See PRC 2012, 54 – 55. See PRC 2012, 52.

Dialogue in Migration and Religion

3.

319

Religion and Inclusion

In 2008, an article entitled “Immigrant Religion in the U.S. and Eastern Europe: Bridge or Barrier to Inclusion?”9 attempted to analyze the difference between the impact of religion on immigrants’ integration in the United States of America and in Europe. A review of studies conducted in this regard led to the conclusion that “religion helps to turn immigrants into Americans and gives them and their children a sense of belonging or membership in the United States”.10 In this typically Christian – maybe Judaeo-Christian – society, new immigrants retain their non-Christian religions, resulting in the rapid growth of religious diversity in the United States, and yet the integrative effect of the immigrants’ nonChristian religions is the same as that of Christian religions. By contrast, studies on immigration in Western Europe give considerable attention to religion and are “overwhelmingly concerned with the Islamic presence”.11 They “tend to stress the problems and the difficulties that Islam poses for integration”.12 In Western Europe religion is considered “as the marker of a fundamental social divide”13 and is deemed to be the problem rather than the solution for immigrant minorities. Indeed, the abundant literature on Islam in migration regards it not as a factor of successful adaptation for immigrants but rather as “a barrier or a challenge to integration and a source of conflict with mainstream institutions and practices”.14 There are those who believe that Islam is impeding the integration of immigrant minorities and threatening Europe’s liberal values. There is an ongoing discussion on how much tolerance European societies should give to specific Muslim practices and beliefs. In the political arena, there are those who deem it necessary to come up with new laws that would deal with the rise of Islamic extremism and violence. On the other hand, some studies observed that Muslim identities reflect discrimination and could increase marginalization and separation. Especially for second generation Muslims who were born in Europe, a Muslim identity and turning to Islam could be considered by the immigrant a way to achieve dignity, where the bitterness of exclusion is reserved for them. The difference in the impact of religion on integration in the United States and in Europe could be attributed to a number of factors. One is that most immigrants in the United States, like the local population, are Christians, while the largest religious minority in Europe are Muslims. Moreover, religion is generally 9 10 11 12 13 14

Foner / Alba 2008. Foner / Alba 2008, 365. Foner / Alba 2008, 360. Foner / Alba 2008, 361. Foner / Alba 2008, 361. Foner / Alba 2008, 368.

320

Agostino Marchetto

more accepted in the United States than in Western Europe, whatever the immigrants’ specific religion may be. Prevailing mainstream American norms put great emphasis on religious observance, whereas in Western Europe those who observe religious practices are decidedly a minority. In the U.S., state institutions and constitutional principles provide a basis for acceptance and integration of non-Christian religions. European populations, on the contrary, are dominated by a secular mind-set so that claims based on religion have much less acceptance and legitimacy. Moreover, when the religion in question is Islam, this brings about “public unease, sometimes disdain and even anger”15 and could even end up in tensions and conflicts. European institutions and national identities, in spite of majority populations that are expressly secular, are in reality “anchored to an important extent in Christianity and do not make equal room for Islam”.16

4.

Migration and Dialogue

Migration can bring “new growth and enrichment”, affirmed Pope John Paul II. in his Message for the World Day of Peace in 2001.17 It can be a vehicle of a meeting of cultures, which “have to be perfected through dialogue and communion, on the basis of the original and fundamental unity of the human family”18, which has a common destiny. It could be a means of promoting solidarity among nations and an itinerary towards peace, but dialogue is necessary. Dialogue itself is an overused word. It is sometimes confused with mere conversation. In reality, dialogue is first of all an exchange of views and opinions, interaction, the capacity to listen to and “enter” into the view of the other, willingness to welcome him or her, without being naive or superficial. True meeting, in fact, does not take place between cultures, but between concrete persons, who have a culture and a religion, which are part of any person’s life, of his daily experiences, with his family, at work, in school, etc. Men and women in migration are becoming more and more frequently actors and protagonists in the meeting between Christianity and the other cultures and religions, without denying points of contrast, especially with respect to Islam. Tolerance is an important trait to cultivate, although it is not enough. This is another worn out word, which has however preserved its importance: tolerance. Today, Islam is acquiring the image of a “monolithic intolerant” religion, with 15 16 17 18

Foner / Alba 2008, 376. Foner / Alba 2008, 74. John Paul II. 2000, 11. John Paul II. 2000, 11.

Dialogue in Migration and Religion

321

the will to conquer, while the majority of Muslims feel and declare themselves tolerant. It is this contrast that is likely to ruin the efforts made towards dialogue and provokes reactions that could become explosive. On one hand, space is given to racism; on the other hand, people are encouraged to think only of themselves. In reality, at the basis of both the Christian and the Muslim religions there is a tradition of hospitality and welcome, mutatis mutandis. Regarding dialogue and tolerance, considered as primary factors of peace in the world, Pope John Paul II. once affirmed: “A style and culture of dialogue are especially important when it comes to the complex question of migration, which is an important social phenomenon of our time.”19 When the foreigner becomes a guest and is welcomed, the possibility of seeing the other as an enemy gradually disappears. Unfortunately, hospitality, like fraternity, is a concept that is being neglected in the contemporary political lexicon, which tends to underline equality and liberty, concepts that stand on a rather individualistic foundation. For a Christian, welcoming the foreigner means welcoming God himself. The biblical texts of both the Old and the New Testament give much importance to hospitality, thus providing the basis for a truly universal brotherhood. The Islamic world itself has a tradition of hospitality from the Koran, particularly in the world of the medina, the “enlightened” city, which started out “pluralist” and points towards others. The tradition of openness, therefore, is also at the basis of the Islamic religion. However, today, it has factions that are unfortunately extremist and violent, and also quite numerous. They reject whatever comes from the outside. It is necessary to identify new educational processes that are capable of blocking these extremisms, of isolating them and allowing true and authentic dialogue prevail, one which respects reciprocity. Both the Christian and the Muslim traditions, therefore, have a universalistic cultural and religious model. This can be a key in interpreting the new challenges of today, although it could also be a source of divergence. However, it can contribute to achieving greater serenity in international relations, starting from Europe. The September 11th event was certainly a landmark that underlined significant contradictions in the peace-building role of religions. This shows the need for a quality leap in inter-religious dialogue. While it is true that conflict takes place within each single community, it is also true that there are many who do not want this conflict, who happily live together with others, who believe in the value of the person, of peace, of human rights, of coexistence, of pluralism.

19 John Paul II. 2000, 11.

322

5.

Agostino Marchetto

Pope John Paul II. and Migrants’ Integration

Celebrating the World Day of Peace in 2001, Pope John Paul II. observed that migration “brings with it the intermingling of traditions and customs, with notable repercussions both on the countries from which people come and on those in which they settle. How migrants are welcomed by receiving countries and how well they become integrated in their new environment are also an indication of how much effective dialogue there is between the various cultures”20. Immigrants are inevitably of a different culture or may profess a different religion from that of the local population. How they are considered and treated locally is vital to their integration process. Inter-cultural integration is not easy. As Pope John Paul affirmed “it is not easy to specify in detail how best to guarantee, in a balanced and equitable way, the rights and duties of those who welcome and those who are welcomed”21. History shows the different results of the intermingling of customs and traditions caused by various forms of migration in different parts of the world. “In the case of many civilizations, immigration has brought new growth and enrichment. In other cases, the local people and immigrants have remained culturally separate but have shown that they are able to live together, respecting each other and accepting or tolerating the diversity of customs. Regrettably, situations still exist in which the difficulties involved in the encounter of different cultures have never been resolved, and the consequent tensions have become the cause of periodic outbreaks of conflict.”22

Some of the ongoing conflicts in Africa and in the Middle East somehow confirm this. Although John Paul II. did not attempt to offer ready-made solutions to this complex question, he did indicate some principles that could serve as points of reference in this regard. First is the principle that “immigrants must always be treated with respect due to the dignity of every human person”23. Relating this to the issue of controlling the inflow of immigrants, he affirmed that the importance attributed to common good should not ignore the aforementioned principle, but rather put together “the welcome due to every human being, especially when in need, with a reckoning of what is necessary for both the local inhabitants and the new arrivals to live a dignified and peaceful life”24. This also means that 20 21 22 23 24

John Paul II. 2000, 11. John Paul II. 2000, 11. John Paul II. 2000, 11. John Paul II. 2000, 11. John Paul II. 2000, 11.

Dialogue in Migration and Religion

323

immigrants’ cultural practices “should be respected and accepted, as long as they do not contravene either the universal ethical values inherent in the natural law or fundamental human rights”25. Integration is often defined as the process of becoming an accepted part of society, and in the specific case of migrants, it denotes “the need for immigrants to be truly incorporated in the host country”26. This poses a very basic question: How are immigrants to be incorporated in the host country? Should they completely lose their identity and be assimilated into the destination country’s society? Should they completely retain their identity and just follow the rules and laws that regulate the socio-economic functioning of the host society, without truly becoming part of it? Both processes – assimilation and “ghettoization” – fail to consider the fact that integration is not, or should not be, a one-way process. In it both immigrants and host population are active actors. Every society’s culture is a human reality, conditioned by historical processes, and therefore has its limitations. All cultures therefore have to be “perfected”, through dialogue and communion, through receptive openness to others and generous self-giving.27 Dialogue “leads to a recognition of diversity and opens the mind to mutual acceptance and genuine collaboration”28. In fact, “a mind that is open and desirous of knowing better the cultural heritage of […] (other) groups with which it comes into contact will help to eliminate attitudes of prejudice which hinder healthy social relations. This is a process which has to be continuously fostered, since such attitudes tend to reappear time and again under new forms”29.

Communion “never implies a dull uniformity or enforced homogenization or assimilation”, but rather “expresses the convergence of a variety of forms”30. It is significant to note that “when cultures are carefully and rigorously studied, they very often reveal beneath their outward variations significant common elements”31. They have values in common because these are rooted in the nature of the person. Cultural diversity has therefore to be considered in the context of the unity of the human race and the fundamental equality of all individuals and peoples, who are all endowed with human dignity and the corresponding rights and duties.

25 26 27 28 29 30 31

John Paul II. 2000, 11. John Paul II. 2004, 5. John Paul II. 2000, 10 – 11. John Paul II. 2000, 11. John Paul II. 1989, 97. John Paul II 2000, 11. John Paul II. 2000, 10.

324

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“The unity of the human family requires that the whole of humanity, beyond its ethnic, national, cultural and religious differences, should form a community that is free of discrimination between peoples and that strives for reciprocal solidarity. […] Differences between the members of the human family should be used to strengthen unity, rather than serve as a cause of division.”32

It is therefore not only the migrant that must adapt to the host society, but the latter has also to make some adjustments with respect to migrants. Only in this way will true integration come about. There is no need to hide “the identity conflict that often comes about in the meeting of persons of different cultures”33, stated Pope Wojtyła in his 2005 Message for the World Day of Migrants and Refugees. Yet, he does not consider this entirely negative: “By introducing themselves into a new environment, immigrants often become more aware of who they are, especially when they miss the persons and values that are important to them.”34 However, he considers it necessary for people to “seek the proper balance between respect for their own identity and recognition of that of others”35 and to acknowledge “the legitimate plurality of cultures present in a country, in harmony with the preservation of law and order”36. This is closely related with the question of whether or how far migrants are entitled to “public legal recognition of the particular customs of their culture which may not be readily compatible with the customs of the majority of citizens”37. The answer, John Paul II. affirms, requires “a realistic evaluation of the common good at any given time in history and in any given place and social context”, in a “climate of genuine openness” that “can combine the concern for identity with the willingness to engage in dialogue” but “without yielding to indifferentism about values”38. Indeed, he believes in the need to “combine the principle of respect for cultural differences with the protection of values that are in common and inalienable, because they are founded on universal human rights”39. From this point of view, John Paul II. considers it reasonable “to ensure a certain ‘cultural equilibrium’ in each geographic region”, in relation to “the culture which has prevalently marked its development”40. This means that mi32 33 34 35 36 37 38 39 40

cf. John Paul II. 2000, 11. John Paul II. 2004, 5. John Paul II. 2004, 5. John Paul II. 2004, 5. John Paul II. 2004, 5. John Paul II. 2000, 11. John Paul II. 2000, 11. John Paul II. 2004, 5. John Paul II. 2000, 11.

Dialogue in Migration and Religion

325

norities are welcomed and their basic rights are respected. However, a particular “cultural profile”, i. e., “that basic heritage of language, traditions and values which are inextricably part of a nation’s history and its national identity”41, should continue to exist and develop. However, he also remarked that equilibrium in a region’s cultural profile cannot be guaranteed by legislative measures alone. Indeed, these would be ineffective if they are not “grounded in the ethos of a population” and would be subject to change if a culture loses “its ability to inspire a people and a region, becoming no more than a legacy preserved in museums or in artistic and literary monuments”42. Therefore, as long as a culture is truly alive, it has no reason to fear being displaced. “And no law can keep it alive if it were already dead in people’s hearts”.43 Regarding dialogue between people of different cultures in a context of pluralism, Pope John Paul II. sees the need that it “goes beyond mere tolerance and reaches sympathy”44. A simple juxtaposition of groups of migrants and locals tends to encourage a reciprocal closure between cultures, or the establishment […] of relations that are merely superficial or tolerant”45. What should be encouraged is a “mutual fecundation of cultures”, which implies “reciprocal knowledge and openness between cultures, in a context of true understanding and benevolence”46. Dialogue between cultures, in fact, “is based upon the recognition that there are values which are common to all cultures because they are rooted in the nature of the person”47. Some of these values are solidarity, peace, life and reconciliation. In the context of the present reality of global interdependence, it is easier to appreciate the common destiny of the entire human family, and to make people appreciate the virtue of solidarity. This growing interdependence, however, has also uncovered many inequalities, such as the gap between rich and poor nations, the social imbalance within each nation, with people living in opulence and others who lack even the basic necessities of life. As a consequence, the promotion of justice is at the heart of a true culture of solidarity. It is not just a question of giving one’s surplus to those in need, but requires a change of lifestyles.48

41 42 43 44 45 46 47 48

John Paul II. 2000, 11. John Paul II. 2000, 11. John Paul II. 2000, 11. John Paul II. 2004, 5. John Paul II. 2004, 5. John Paul II. 2004, 5. John Paul II. 2000, 11. cf. John Paul II. 2000, 11.

326

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It is necessary “to foster people’s awareness of these shared values (which cannot be separated from the rights of every human person), in order to nurture that intrinsically universal cultural ‘soil’ which makes for fruitful and constructive dialogue”49. This is a process to which the different religions can decisively give their contribution.

6.

Dialogue between Religions

John Paul II. is convinced that “in a world where men and women of different cultures and religions are called to live shoulder to shoulder with one another”, it is imperative to remove “the barriers of diffidence, prejudice and fear that unfortunately still exist” among them.50 This is especially true in countries where immigrants are present. They are often followers of various religions, which are different from that professed by the majority in the host country. There is a need for dialogue and mutual tolerance in this situation. “Dialogue is the leading way to follow”, the Pope states and reiterates the Catholic Church’s invitation “to walk this path in order to move from diffidence to respect, from rejection to welcome”51. In his Apostolic Letter Novo Millennio Ineunte, issued at the close of the Great Jubilee of the Year 2000, John Paul II. encouraged “a relationship of openness and dialogue with the followers of other religions” which “must continue”52. After the tragic September 11th event there is a greater awareness that “this dialogue will be especially important in establishing a sure basis for peace and warding off the dread spectre of those wars of religion which have so often bloodied human history”53 and which have often driven people away from their homelands. It is indeed urgent to act so that the name of the one God may become what it is, “a name of peace and a summons to peace”54. The migration phenomenon itself provides opportunities for inter-religious dialogue. Europe, for example, a continent marked by a long Christian tradition, hosts citizens who profess other religious beliefs. Multicultural North America welcomes followers of the new religious movements. In India, where Hinduism is prevalent, there are Catholic religious men and women who serve the poorest of the poor in the country. 49 50 51 52 53 54

John Paul II. 2000, 11. John Paul II. 2001b, 8. John Paul II. 2001b, 8. John Paul II. 2001a, 306. John Paul II. 2001a, 306. John Paul II. 2001a, 306.

Dialogue in Migration and Religion

327

Mutual respect, the desire to know the other, and continuous dialogue are the basis of a pluralistic society. Dialogue, however, is a challenge. Christians are called to be open and welcoming to those who profess other religions and pursue a sincere dialogue with them, but without forgetting to practice their own faith with conviction. “To authentically dialogue with others, a clear witness of their own faith is indispensable.”55 Indeed, dialogue between followers of different religions cannot “be based on religious indifferentism”56. It must not hide, but exalt, the gift of faith. On the other hand, it is unthinkable to keep such a precious gift only for oneself. This can be offered “through one’s own existential witness and always with great respect for all”57. Mutual openness leads people to know one another better and to realize that “the various religious traditions not rarely contain precious seeds of truth”58. As the Instruction Erga migrantes caritas Christi59 clearly states, the Catholic Church is concerned with the human development of immigrants who are not Christians and therefore assists them with Christian charity. Simply acting in this spirit has an evangelizing value, in the sense that plain Christian witness may “open hearts for the explicit proclamation of the Gospel”60. This, however, should be done “with due Christian prudence and full respect for the freedom of the other”61. Nonetheless, whatever may be the religion of the immigrants, it is opportune to help them “preserve a transcendent view of life”62. On their part, the members of the Catholic communities hosting migrants need to have the proper attitude to be able to dialogue fruitfully. This means that they are “to appreciate their own identity even more, prove their loyalty to Christ, know the contents of the faith well, rediscover their missionary calling and thus commit themselves to bear witness to Jesus the Lord and His gospel”63. It is indeed necessary to be open and respectful to all, but at the same time one should neither be naive nor ill-equipped. Obviously, inter-religious dialogue cannot be effective if it counts only on initiatives that attract the attention of radio, television, internet and other social media. “Rather, what is needed are everyday gestures, done with simplicity and constancy, that serve to improve interpersonal relationships.”64 For example, 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64

John Paul II. 2001b, 8. John Paul II. 2001a, 306. John Paul II. 2001b, 8. John Paul II. 2001b, 8. Pontifical Council for the Pastoral Care of Migrants and Itinerant People 2004. PCPCMIP 2004, 792. PCPCMIP 2004, 792. PCPCMIP 2004, 792. PCPCMIP 2004, 792. John Paul II. 2001b, 8.

328

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Catholic parish communities “can become a training ground of hospitality, a place where an exchange of experiences and gifts takes place”, thus fostering “a tranquil life together”65, preventing the risk of tension with immigrants who have other religious beliefs. This can lead to a “beneficial and mutual friendship that can also be translated into an effective collaboration towards common objectives in the service of common good”66. The Instruction Erga migrantes caritas Christi is explicit in stating that it is “the Christians’ task in particular to help immigrants find their place in the social and cultural context of their host country by accepting its civil laws”67. At the same time, it calls upon them to give witness through their lives and “denounce certain negative aspects present in the rich industrialised countries (materialism and consumerism, moral relativism and religious indifferentism), which might shake the religious convictions of immigrants”68. Moreover, the need for collective action in the Church can be read under the Instruction’s call upon all ecclesial movements and lay associations of the faithful to include this action in their overall programmes.69 However, the very same Instruction points out four issues that require particular attention on the part of Catholics. 1) First, religious diversity requires mutual respect for the sacred places used by the faithful of the different religions. Therefore, it does not consider it opportune “for Christian churches, chapels, places of worship or other places reserved for evangelisation and pastoral work to be made available for members of non-Christian religions. Still less should they be used to obtain recognition of demands made on the public authorities”70. However, “spaces for social use, for free-time activities, games and relaxation and the like, could and should be opened to persons of other religions, respecting the rules followed in these places”71. The social contacts established in these environments could facilitate the integration of migrants who have just arrived and prepare of cultural mediators to be capable of helping overcome cultural and religious barriers, by promoting adequate reciprocal knowledge.72 2) Second, Catholic schools “must not renounce their own characteristics and Christian-oriented educational programmes when immigrants’ children of

65 66 67 68 69 70 71 72

John Paul II. 2001b, 8. John Paul II. 2001b, 8. PCPCMIP 2004, 792. PCPCMIP 2004, 792. PCPCMIP 2004, 792. PCPCMIP 2004, 793. PCPCMIP 2004, 793. cf. PCPCMIP 2004, 793.

Dialogue in Migration and Religion

329

another religion are accepted”73. Parents who wish to enrol their children in Catholic schools should be clearly informed in this regard. However, “no pupil must be compelled to take part in a Catholic liturgy or to perform actions contrary to his or her religious convictions”74. In schools where meals are offered, due consideration must be given to the religious dietary rules that pupils are observing, unless their parents explicitly state that they renounce this. There should also be opportunities for dialogue regarding activities in common between parents belonging to different religions. On the other hand, pupils who are not Christians may wish to attend classes on religious instruction provided for in the school curriculum, and find them useful in learning about a faith different from their own. However, in religious instruction, everyone must be taught to respect all persons who are of different religious convictions, while relativism must be avoided.75 3) Third, “marriage between Catholics and non-Christian migrants should be discouraged, though to a varying degree, depending on the religion of each partner”76. As Pope John Paul II. clearly declared to the Bishops of Oceania, “In families where both parents are Catholic, it is easier for them to share their common faith with their children. While acknowledging with gratitude interfaith marriages which succeeded in nourishing the faith of both spouses and children, the Synod encourages pastoral efforts to promote marriages between people of the same faith.”77

4) Fourth, the Instruction underlines the importance of the principle of reciprocity. “It is to be understood not merely as an attitude for making claims but as a relationship based on mutual respect and on justice in juridical and religious matters. Reciprocity is also an attitude of heart and spirit that enables us to live together everywhere with equal rights and duties. Healthy reciprocity will urge each one to become an advocate” for the rights of minorities when his or her own religious community is in the majority. In this respect we should also recall the numerous Christian migrants in lands where the majority of the population is not Christian and where the right to religious freedom is severely restricted or repressed.”78

In his 2002 Message for the World Day of Migrants and Refugees, John Paul II. affirmed the need, on one hand, of a reciprocal acceptance of differences, and even of contradictions at times, and, on the other hand, respect for the free decisions that people make according to their own conscience. This means that 73 74 75 76 77 78

PCPCMIP 2004, 793. PCPCMIP 2004, 793. cf. PCPCMIP 2004, 793. PCPCMIP 2004, 793. John Paul II. 2002, 417 – 418. PCPCMIP 2004, 794.

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Agostino Marchetto

“each one, to whatever religion he may belong, (must) take into account the essential requirements of freedom of religion and of conscience”79. The Pope did not hesitate to signify his desire for a life together in solidarity among migrants and local population “in countries where the majority profess a religion different from Christianity, but where Christian immigrants live (and) unfortunately do not always enjoy a true freedom of religion and conscience”80. Speaking to the Diplomatic Corps accredited to the Holy See on January 9th, 2012, Pope Benedict XVI. did not mince words regarding the violation of the fundamental rights of Christians. “In many countries Christians are deprived of fundamental rights and sidelined from public life; in other countries they endure violent attacks against their churches and their homes. At times they are forced to leave the countries they have helped to build because of persistent tensions and policies which frequently relegate them to being second-class spectators of national life. In other parts of the world, we see policies aimed at marginalizing the role of religion in the life of society, as if it were a cause of intolerance rather than a valued contribution to education in respect for human dignity, justice and peace. In the past year religiously motivated terrorism has also reaped numerous victims, especially in Asia and in Africa; for this reason, as I stated in Assisi, religious leaders need to repeat firmly and forcefully that ‘this is not the true nature of religion. It is the antithesis of religion and contributes to its destruction’81. Religion cannot be employed as a pretext for setting aside the rules of justice and of law for the sake of the intended ‘good’.”82

During his apostolic journey to Lebanon in September 2012, Pope Benedict XVI. reiterated the fundamental importance of religious freedom. “It cannot be forgotten that religious freedom is the basic right on which may other rights depend. The freedom to profess and practice one’s religion without danger to life and liberty must be possible to everyone […]. Religious freedom has a social and political dimension which is indispensable for peace. It promotes a harmonious life for individuals and communities by a shared commitment to noble causes and by the pursuit of truth, which does not impose itself by violence but rather ‘by force of its own truth’83 : the Truth which is in God.”84

Without religious freedom there can be no understanding and cooperation among religions. Without understanding and cooperation among religions there can be no peace.

79 80 81 82 83 84

John Paul II. 2001b, 8. John Paul II. 2001b, 8. Benedict XVI. 2011, 8 – 9. Benedict XVI. 2012a, 4. Second Vatican Council 1966, 930. Benedict XVI. 2012b, 7.

Dialogue in Migration and Religion

331

The Instruction Erga migrantes caritas Christi points out the attitude to be adopted in relation to Muslim migrants, according to the indications of the Second Vatican Council, which calls for “a purification of memory regarding past misunderstandings, to cultivate common values and to clarify and respect diversity, but without renouncing Christian principles”85. It thus calls on Catholic communities to practise discernment. “It is a question of distinguishing between what can be and cannot be shared in the religious doctrines and practices and in the moral laws of Islam.”86 Values in common may be “belief in God the Creator and the Merciful, daily prayer, fasting, alms-giving, pilgrimage, asceticism to dominate the passions, and the fight against injustice and oppression […], though they may be expressed or manifested in a different manner”87. However, there are also “divergences, some of which have to do with legitimate acquisitions of modern life and thought”88. The Instruction expresses particular concern about the safeguard of human rights. “Thinking in particular of human rights, we hope that there will be, on the part of our Muslim brothers and sisters, a growing awareness that fundamental liberties, the inviolable rights of the person, the equal dignity of man and woman, the democratic principle of government and the healthy lay character of the State are principles that cannot be surrendered.”89

Erga migrantes caritas Christi also gives clear indications to be borne in mind in those cases wherein a Catholic woman wishes to marry a Muslim, in spite of the fact that this is discouraged by the Catholic Church. It states that “bitter experience” has taught the need for “a particularly careful and in-depth preparation”, during which the fianc¦s will be made deeply aware of “the profound cultural and religious differences they will have to face, both between themselves and in relation to their respective families and the Muslim’s original environment, to which they may possibly return after a period spent abroad”90. Yet, without denying the real difficulties that exist, an observation made by Pope Benedict XVI. is finally worth reflecting on: “In Lebanon, Christianity and Islam have lived side by side for centuries. It is not uncommon to see the two religions within the same family. If this is possible within the same family, why should it not be possible at the level of the whole of society?”91

85 86 87 88 89 90 91

PCPCMIP 2004, 794. PCPCMIP 2004, 794. PCPCMIP 2004, 794. PCPCMIP 2004, 794. PCPCMIP 2004, 794. PCPCMIP 2004, 795. Benedict XVI. 2012b, 7.

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Bibliography Benedict XVI. 2011. “Address for the Day of Reflection. Dialogue and Prayer for Peace and Justice in the World (October 27th, 2011).” In: L’Osservatore Romano. Weekly Edition in English. 44 (November 2nd), 8 – 9. —. 2012a. “Speech to the Members of the Diplomatic Corps accredited to the Holy See (January 9th, 2012).” In: L’Osservatore Romano. 7 (January 9th – 10th), 4 – 5. —2012b. “Speech to the Members of the Government. Institutions of the Republic the Diplomatic Corps. Religious leaders and Representatives of the world of culture (September 15th, 2012).” In: L’Osservatore Romano. 213 (September 16th), 7. Foner, Nancy / Alba, Richard. 2008. “Immigrant Religion in the U.S. and Eastern Europe: Bridge or Barrier to Inclusion?”. In: International Migration Review 2, 360 – 392. John Paul II. 1989. “Message for 1989 World Day of Peace: To build peace, respect minorities” (December 8th, 1988). In: Acta Apostolicae Sedis 1, 95 – 103. —2000. “Message for the Celebration of the World Day of Peace. January 1st 2001” (December 8th, 2000). In: L’Osservatore Romano. Weekly Edition in English 51 – 52 (December 20th – 27th), 10 – 12. —2001a. “Apostolic Letter Novo Millennio Ineunte” (January 6th, 2001). In: Acta Apostolicae Sedis 5, 266 – 309. —2001b. “Message for 2002 World Day of Migrants and Refugees (July 25th, 2001).” In: L’Osservatore Romano. Weekly Edition in English 46 (November 14th), 8. —2002. “Apostolic Exhortation Ecclesia in Oceania” (November 22nd, 2001). In: Acta Apostolicae Sedis 6, 361 – 428. —2004. “Message for the 91st World Day of Migrants and Refugees – 2005 (November 24th 2004). In: L’Osservatore Romano. Weekly Edition in English 50 (December 15th), 5. Pew Research Center’s Forum on Religion and Public Life – PRC. 2012. Faith on the Move: The Religious Affiliation of International Migrants. Washington D.C. Pontifical Council for the Pastoral Care of Migrants and Itinerant People – PCPCMIP. 2004. “Instruction Erga migrantes caritas Christi” (3 May 2004). In: Acta Apostolicae Sedis 11 (November 3rd), 762 – 822. Second Vatican Council. 1966. “Declaration on Religious Freedom Dignitatis Humanae” (December 7th, 1965). In: Acta Apostolicae Sedis 14, 929 – 946. United Nations. Department of Economic and Social Affairs. Population Division. 2011. Trends in International Migrant Stock: Migrants by Age and Sex (United Nations database, POP/DB/MIG/Stock/Rev.2011).

Oksana Ivankova-Stetsyuk / Hryhoriy Seleshchuk

Deepening the Dialogue with Society and State. Institutionalization of migration work of the Ukrainian Greek-Catholic Church

1.

Introduction

In today’s conditions of modern globalization, any part of the earth can become a second home to millions of migrants. Therefore, the active participation of any church in the work of serving its migrating believers abroad is self-explanatory. In this way, the church seeks to accompany its faithful in the search for their place in the global world, in particular, to facilitate its integration into the foreign cultural space when emigrating, and to overcome the cultural shock of a possible return, or re-emigration. This theory applies to the Ukrainian Greek Catholic Church (UGCC), which in recent decades has intensified its activity of formation of Ukrainian communities in western European states, especially Italy (150 communities), Spain and Portugal (about 60 communities in both countries). UGCC communities remain one of the main “coordinators” of not only the religious-spiritual, but often national-cultural and social-political life of Ukrainians abroad. The fulfillment of “additional” demands, undoubtedly, is not a new thing for the UGCC, which was traditionally considered by Ukrainian emigrants to be the “window into the cultural world”.1 The Ukrainian Greek Catholic Church has been a guarantor and exponent of the Ukrainian tradition and morality, a certain stimulus helping not to “get lost” in the strange world. It was the Ukrainian Greek Catholic Church, the native Eastern rite, that helped to preserve the national authenticity in the situation when the complicated social-economic conditions, statelessness and constant threats to the national identity drove thousands of representatives of the Ukrainian nation to look for a better future outside their home, across the ocean, and in foreign lands. Therefore, there has been a strong demand for UGCC to take active participation in the establishment and development of diaspora centers all over the world.2 1 Semchyshyn 1993, VI. 2 Ivankova-Stetsyuk et al. 2010, 7.

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In the condition of the last wave of the Ukrainian migration after the collapse of the Soviet Union, which unlike the previous ones of the first half of 20th century, is not strongly oriented to the formation of stable centers of diaspora. This, in its turn, presents new challenges for the church which are especially concerned with the intensification of processes of social mobility. In particular, with accentuation of the “border” phenomenon as the key factor of legalization of migration processes, with the lack of initiative of the Ukrainian foreign policy regarding prospects of solutions to the challenges of migration on the whole and with the backwardness of the Ukrainian migration law. These and other challenges appear to be provoked to a great extent by a misunderstanding of the processes and phenomena taking place in the modern world in the area of migration. Particularly, by fully eliminating the person from the migration discourse; where the person of the migrant is viewed only as an economic resource and his/her human rights of immunity, non-discrimination, non-exploitation, participation in the political life of a given society and living together with the family members, etc. are therefore driven to the background. This elimination of the person indicates that the “old” usual approaches, with respect to the migration policy, are no longer effective. The failure of these approaches is witnessed by the church, which increasingly assumes the functions of a mediator between the migrants and society. On the whole, and in the state, in particular, it supports and protects the migrants in their effort to share their painful problems. The search for answers is an urgent issue not only for the UGCC but for the whole Ukrainian society, which badly needs social institutions aimed to find and implement effective means, forms and methods of a purposeful influence on social relations, structures and processes. These are conditioned by the migration phenomenon in order to reduce the risks of migration, primarily those connected with the difficulties of integration of emigrants in the new societies and problems of the preservation and development of their social-cultural identity. The above-mentioned questions are deemed especially urgent, based on the support provided by the state to its citizens, whose immediate needs are not met and who are compelled to live and work abroad for various reasons. Therefore, the function of the support of labour migrants has to be assumed by non-governmental institutions and organizations, especially the UGCC and public organizations (associations, unions, societies, etc.) and services (Caritas and others) acting under its umbrella and/or “growing” from religious communities on the initiative of their active members.3 Unfortunately, the experience of participation of the UGCC in the life of migrants, the church’s support for their initiatives regarding optimization of the 3 Hodovanska 2011, 382.

Deepening the Dialogue with Society and State

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interaction between the church and society (particularly, the state bodies dealing with migration) is currently lacking in research and therefore, remains outside the social discourse and, consequently, is insufficiently used by other institutions. This is not only an academic but also a practical problem, which needs to be settled. Therefore, our contribution is aimed to elucidate new actual trends of institutionalization of religious communities of emigrants and to evaluate the prospects of consideration thereof in the formation of space of the “Church-Society-Community” relations under the conditions of globalization.

2.

Migration in the context of the migration policy: prospects of transformation of the phenomenon

Modern means of communication transform migration into a global phenomenon. It is characterized by the increased mobility of migrants. They come to places where it is easier to find jobs, where the working and living conditions are better, where it is easier to draw up necessary documents, where the level of the social and legal protection is higher, etc. 80 % of Ukrainian migrants work in one place for no longer than 1 – 2 years.4 The increased mobility can strongly effect the formation of identity. One can often hear from Ukrainians abroad that they feel “in between here and there.” The emigrants themselves become “strangers” in their homeland as they themselves have changed and the Ukraine as well has changed since the time of their departure. They may have already settled down in the countries of their stay, but they will never become “native” there. A new social group of “citizens of the global world”, with fragmented identity, is being formed. According to the best scenario, such a person is a Ukrainian, Portuguese and European simultaneously. According to the worst scenario, he/she can lose any identity and become a Portuguese today, an Irish tomorrow and a Spanish the day after, depending on his/her place of stay at a given period of life. Unfortunately, the policy of integration of immigrants is often pursued without realization that the national societies have changed under the influence of migration. When the number of persons of foreign origin reaches 10 % (sometimes 20 – 25 %) in some EU countries, the local residents also have a new challenge – to adapt themselves to the changes. For instance, an excessive emphasis on the border control aimed to create a kind of a “filter” to keep the illegal current of migrants from coming in, can lead to the formation of a new “iron curtain” and establishment of a rather closed social formation. Usually, such a 4 Markov 2009, 61.

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“filter” works in the opposite direction as it prevents migrants from returning home since those who managed to acquire a job abroad by illegal means, will try to stay there as long as possible. Promotion of the “shadow” current of migrants brings more social problems than benefits. The inefficiency of the migration policy in the EU countries can be illustrated by the increase of social tension associated with migration, the numerous violations of the fundamental human rights, the growth of the number of migrants with the unregulated status, the spread of human trafficking for the purposes of sexual and labor exploitation, the existence of a branched network of organized crime in the area of migration, and an increase of the rate of illegal crossings of borders.5 At the same time, there is an adverse tendency : under the influence (or pressure) of society and/or mass media, politicians of various countries can promise things which cannot be fulfilled in order to get rid of unwelcome immigrants in their countries, to stop illegal migration or to return all the Ukrainian emigrants to their home country (this promise applies to some of Ukrainian politicians), etc. On the other hand, even pragmatic economic reasoning should stimulate Ukraine to hold a more active position on ensuring the interests of Ukrainian labor emigrants. According to some experts of the National Bank of the Ukraine and the International Organization for Migration, the amount of money transferred to the Ukraine was compared to the 20 % of GDP of the country and reached 20 – 25 billion Euros per year a few years ago.6 Despite the fact that there has been no tendency to a decrease of the rate of the transfers, official sources state that the amounts are three to four times less. The responsibility of the state to protect its citizens, their rights and legal interests, are being ignored. For example, in anticipation of the elections, the questions of realization of the right of emigrants to vote, become increasingly prevalent. According to experts, 4,5 – 7 million Ukrainians migrated abroad to work, which makes up 12 – 19 % of all possible voters. Only a small percentage will actually be able to vote. During parliament election in 2012 only 424536 Ukrainian citizens abroad were registered as voters and only 20570 of them have voted7. That is probably why only four tenths of the pre-election programs at the last election, mentioned the migration problems superficially and without any concrete proposals at that. As for the election to the parliament of the Ukraine in 2012, one can see open discrimination of the voting rights of emigrants as they no longer can enjoy the right of a full vote, but only 50 % as compared to the rest 5 Markov 2009, 63. 6 Markov 2009, 66. 7 Official data of Central Election Commission of Ukraine http://www.cvk.gov.ua/pls/vnd2012/ wp095_2?PT001F01=900& pt049f01=2 [02. 01. 2014].

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of the Ukrainian citizens staying in its territory. The reason being, that migrants are obtaining only one ballot paper for candidates on the list of political parties, who form half of the Ukrainian parliament. The other half is formed through the second ballot paper which migrants are not receiving.8 In view of the above, the purpose of this article is to analyze the institutional possibilities of the Ukrainian Greek Catholic Church in the process of forming networks of migrants as an important precondition for the mobilization of adaptive reserves for participants affiliated with these kinds of associations. In particular, we intend to try and reconstruct the process of the formation of labor migrant church communities in the conditions of the “fourth” wave of Ukrainian migration, using the example of the communities of the Ukrainian Greek Catholic Church. This narrowing of the subject field of the study is conditioned by the fact that in the first stages of migration of Ukrainian citizens to EU countries in the early 1990s, UGCC was the first institution – and probably the only one to provide care for Ukrainian workers. A considerable part of them were representatives of the “non-industrial” Western regions where religious consciousness and trust for the church are traditionally high.9 A considerable number of Ukrainian church communities in Italy, Spain, and Portugal are not only spiritual, but also cultural and social centers of solidarity and mutual help.10 In areas where the state fails to fulfill its responsibilities to its own citizens, the church often undertakes to care for the people. It especially applies to those who have to work without proper documentation regarding their stay and employment. We start our reflections based upon the results of three sociological surveys: 1) group interviews with priests having experience with the formation of religious communities of emigrants within the framework of the project “Evaluation and definition of needs and possibilities of the activity of ICF ’Caritas Ukraine’ in the migration sphere” (2008)11; 2) individual , in-depth interviews (30) with former Ukrainian labour migrants conducted within the international project “BrainNet-working Project” (2009)12 ; 3) case-study materials within the project “church community as an active form of organization in the life of Ukrainian labor migrants” (2010).13

8 9 10 11 12 13

http://www.pravda.com.ua/articles/2012/04/9/6962399/ [02. 01. 2014]. Hodovanska 2011, 382. Ivankova-Stetsyuk 2010, 56. Markov et al. 2009, 221. Cf. http:/www.brain-networking.org/ [02. 01. 2014]. Ivankova-Stetsyuk 2010, 68.

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Empiric data were gathered by using the combination of various methods or on all available informational flows, and included: interviews of Ukrainian labour migrants in the countries of residence with the help of qualitative methods (indepth semi-structured interviews, focus group discussions); interviews of key witnesses involved in labour migration problems in the countries of residence: representatives of government, church, trade unions, non-governmental organisations, self-organised establishments; processing of statistical materials and labour migration research; analysis of legal tendencies and changes to legislation on issues of migration in the countries of residence; media monitoring. Approximately 100 in-depth interviews and 8 focus group discussions with Ukrainian labour migrants, in the countries selected for research, were conducted; about 100 interviews with representatives of state, self-governed public institutions, and the UGCC were conducted in all the chosen countries of residence on the problems of modern migration, including the Ukraine. At the same time, the research group carried out the analysis of migration legislation of the Ukraine and of countries subject to research, as well as international legal acts in the sphere of migration regulation; data of current statistics obtained in the course of the research were processed; the Ukrainian mass media for 2008 and previous years were monitored according to specially-developed methods for informational flow structuring and for the creation of specifically made databases.14 Data on the in-depth interviews were supplemented by the information from 10 experts – so called privileged witnesses –, who deal with the problems of Ukrainian labour migrants within the framework of their administrative duties. Key witnesses were pooled from among persons who, for job reasons or specialty interests, are ranked as possessing expert and in-depth knowledge with respect to the survey subject. The pooling domain encompassed institutions, businesses, support and consultancy groups, migrant associations and volunteer workers. The interview subjects were chosen as persons with prior, ongoing or temporary migration experiences in Italy or Spain. The interviews were conducted according to a standardised interview pattern. Interview groups’ gender ratios were made to match those recorded in the host country. Interviews with immigrants from the three communities were conducted along biographical lines, addressing experiences immediately prior to emigration, the initial stay, subsequent developments and current outlooks.15

14 Markov 2009, 5 – 6. 15 Battista 2010, 335 – 344.

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3.

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Italy as a testing ground for the realization of the migration mission of UGCC

Among the countries which are active recipients of Ukrainian migrants but where there is actually no tradition of formation of the Ukrainian diaspora, Italy stands out. In the 1990s, rather favourable institutional preconditions for the development of structures of the UGCC were formed. At that time, there had already been two Ukrainian collegiums in Rome where seminarians and priests studied. They realized the necessity to support their adherents outside the Ukraine.16 With the consent of the Italian bishops, the UGCC was able to start developing its activity within the churches of the Roman Catholic Church: “We get a considerable support of the Roman Catholic Church. In particular, with regard to the need of an office for emigrants […]. We should really be grateful to the Roman Catholic Church for showing understanding in this regard.”17

This institutional support was duly appreciated, not only by priests, but also “ordinary” Ukrainians (S., female, 57 years old, with experience of 10 years of labour migration in Italy): “The Italian Church supported us […], let on lease some of their churches […]. They would fix it let us say for noon, we would come, they would tell us at what time the service was to start.”18

This thesis is indirectly confirmed by the results of sociological surveys conducted by Italian experts in the environment of Ukrainian migrants. It follows the idea, that in the mind of Ukrainians, Italy – being such a moral and spiritual authority of the head of the Roman Catholic Church – in itself extends such qualities as “good will” and “hospitability” to the whole population of the country.19

3.1

History of formation of networks of migrants abroad

In Italy, as early as in the beginning of the 1990s, an institutional core was formed, when Ukrainian migrants began to gather in communities.20 However, it was not the case in all places where Ukrainians worked. For example, even at the 16 Markov et al. 2009, 221. 17 Excerpt from a group interview with priests in Bologna. Ivankova-Stetsyuk 2010, 68. All following fragments of interviews are from Ivankova-Stetsyuk 2010. 18 Ivankova-Stetsyuk 2010, 17. 19 Putini 2010, 28. 20 Ivankova-Stetsyuk et al. 2009, 36.

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end of the 1990s, the churches for Ukrainians functioned only in large cities of Italy where regular services were conducted by “established” priests, who live in their parishes and were in constant contact with emigrants. These churches helped emigrants cope with their problems and tried helping them to settle. In the beginning, regular services were conducted in Rome. Later, the parish priest of Rome, Fr. Ivan Muzychka began visiting Naples periodically. With the lapse of time, the number of Ukrainians, especially those from the Western Ukraine, increased and, consequently, the need for the extension of UGCC activities grew. In the early 2000s it triggered the spread of the practice of visiting services “on demand” which were occasionally conducted by “commuting” priests, mainly students of pontifical institutes and catholic seminaries in Rome.21 At that time, UGCC became actively engaged in the formation of Ukrainian labour migrant communities, not only in large, but also in middle sized cities of Italy. This was preceded by regular visits of priests to eparchial centers (according to schedules drawn beforehand) to places where Ukrainian communities existed without “established” priests (excerpt from an individual interview with a priest, Bologna): “Around 1999 – 2000, many people were coming from Ukraine in search of jobs, and there was a need for priests to come to places where people themselves reported the need to be visited on Easter or other festivals. Then, several fathers who studied in one of the collegiums, the Collegium of the Protection of the Mother of God in Rome, on Sundays, which were their free days, used to visit the cities where there was such need.”22

At that time, the magazine “To the Light” (“Do Svitla”) played a great role in the process of the formation of Ukrainian communities. It was created for emigrants and was used to establish permanent contacts with the readers and to analyze prospects of the formation of the centers of Ukrainians in various places (excerpt from a group interview with priests, Bologna): “We decided to issue a magazine to spread information that if there are many our people somewhere, they can call this or that number […]. And the magazine spread in several cities in Italy […]. And when people called, I visited that place on the nearest Sunday and talked with the Italian Church asking them to provide a church building […]”23

This active work of the UGCC yielded positive results in quite a short time. As a result, in a few years, a number of UGCC communities were formed in large and middle sized cities of Italy (Trento, Brescia, Pompeii, Salerno); in 2003, a Uk21 Markov et al. 2009, 219 – 221. 22 Ivankova-Stetsyuk 2010, 15. 23 Ivankova-Stetsyuk 2010, 15.

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rainian Church community was formed in Bologna. It was one of the largest and most active ones in Italy (excerpt from a group interview with priests, city of Bologna): “It was as follows, it seems to me that every two or three days, a new Ukrainian community was opened […]. And the work progressed so much that in 2001 – 2002 and in the middle of 2003, 75 Ukrainian communities in 90 towns of Italy were opened and then the number reached 90 communities.”24

3.2

Challenges of the formation of UGCC communities’ network

With the lapse of time, the UGCC tried to intensify its activity in remote regional centers of Italy by establishing its new centers there (excerpt from a group interview with priests. Bologna): “When I saw that people had no opportunities to commute as […] buses do not run on Sundays and holy days and that there are places where one cannot travel by train. Then, I established centers for the first time […]. Then, I began to commute where train service was available. Later, when I bought a car, where one could go by car.”25

As they realized that in such conditions it was possible to form a permanent community of Ukrainians abroad only in large cities, priests increasingly began to provide care for people in small residential areas, even as far as in the mountains (excerpt from a group interview with priests, Bologna): “Our women work in remote villages. For instance, two or three of them in one village and two or three in the next one […] Each valley is a separate world and it is difficult to get to the next valley through a pass or tunnel […] One has to spend a lot of time to get to a place to conduct a service for 20 persons. On week days, we serve in some places, especially, in the mountains as there are no buses available in the mountains on Sundays and holy days.”26

However, establishment of church communities in such conditions turned out to be quite challenging (excerpt from a group interview with priests, Naples): “Try and go to remote places, for instance, where people work in the fields. Kind of a village. You know. Try and establish a parish there. Try and gather people there!”27

The situation was even more complicated in small remote settlements, the workday was often not standardized and the potential Ukrainian parishioners 24 25 26 27

Ivankova-Stetsyuk 2010, 15. Ivankova-Stetsyuk 2010, 15. Ivankova-Stetsyuk 2010, 15 – 16. Ivankova-Stetsyuk 2010, 16.

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there usually worked without days off and seldom communicated with each other. A., female, 45 years old, 1 year of experience of labor migration in Italy : “We did not really have opportunities to gather together often. We were able to do that mostly in large cities where people have days off and gather somewhere on those days. Traditionally, they have a day off. But it was not the case here. Here one had two hours or one asked for a permission to go to the post office or shop or anywhere else. […] They say, in Naples there is one, in Rome there is one, in Milano there is one. But in those small towns, they did not have their priests.”28

Therefore, the visiting services still remained actual despite the fact that they were physically and mentally exhausting for the priests and required considerable organizational and financial expenses (excerpt from a group interview with priests, Bologna): “On an average Sunday we have from 6 to 8 Divine Services and 9 services on Holy days. That means that the working week for us begins usually on Saturday when we commute to the services and on Sunday when we have services in the morning, at noon and in the afternoon, in the communities”29

Visiting services are usually conducted in a rented building from the Roman Catholic Church which is “decorated” by representatives of the Ukrainian community according to traditions of Ukrainian church interior (excerpt from a group interview with priests, Bologna): “You rush in from the train or car to meet with people who turn a Latin Church into our own one in half an hour, 20 or 10 minutes. Icons, tablecloths, gospels, cup. They replace everything and in 5 minutes, the church becomes Ukrainian.”30

At the same time, the services can be celebrated “out in the open”, in places of mass gatherings of migrants. In this case, they are viewed by priests as especially psychologically difficult ones as they are not always treated properly by the people (excerpt from a group interview with priests, Rome): “I also periodically, when necessary visit the places where our Ukrainian buses gather […]. It is a little painful as one can see that some people put the sign of the cross upon them and others speak over the telephone or swear or drink vodka. It is a little depressive […]”31

28 29 30 31

Ivankova-Stetsyuk 2010, 15 – 16. Ivankova-Stetsyuk 2010, 16. Ivankova-Stetsyuk 2010, 16. Ivankova-Stetsyuk 2010, 17.

Deepening the Dialogue with Society and State

343

However, the priests do not consider it possible to reject visiting services at the moment for it would narrow the circle of the institutional influence of the church (excerpt from a group interview with priests, Rome): “As for the priests who commute and are not parish priests in the full sense of the word, they commute and one can see in that a trace, a ray of the missionary activity proper.”32

3.3

Institutionalization of processes of migration centers formation: new phase of development

In the mid 2000s, UGCC intensified its activity extensively (S., female, 10 years of experience of labour migration in Italy): “The Church for us emigrants, I am not sure about others, but for me it was a necessity, it was something giving me the life strength. Do you understand? What united us and helped us to survive there.”33

The associations of Ukrainians, mainly in the north and central part of Italy, were actively developing.34 Ukrainian priests considered it a responsibility of the Church to penetrate into all the areas of life of the Ukrainian labor migrant (excerpt from a group interview with priests, Naples): “If we, the priests, do not keep under our control everything starting with an exhibition of embroidered shirts, women’s tea parties and ending with youth night disco parties, that is if we do not bear responsibility for these things, everything will go down the drain. For without our control, sooner or later things will turn against us.”35

According to them, special attention should be paid to the support of the Ukrainian families, including those members who stay in Ukraine and are getting the experience of labor migration indirectly (excerpt from a group interview with priests, Naples): “We should support the migrants in Ukraine. You see, it is very important to ensure connection. Do you understand? Not only here, but also there. We should try as far as possible and make sure we know how they live, what kind of families they have.”36

As the result, the UGCC in Italy has become an institution with a branched network of structures. Its practical activity in the area of migration has been conducted by many church and para-church structures. 32 33 34 35 36

Ivankova-Stetsyuk 2010, 17. Ivankova-Stetsyuk 2010, 17. Markov et al. 2009, 219 – 221. Ivankova-Stetsyuk 2010, 30. Ivankova-Stetsyuk 2010, 30.

344

4.

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Structuralization of the UGCC activity

The activity of the Ukrainian Greek Catholic Church in the area of migration is conducted by many various church structures, such as the Apostolic Visitation, the Committee of UGCC on Matters of Migrants, Pastoral-Missionary Department, Patriarchal Catechetical Committee, Jesuit Service for Refugees, Sea Apostolate, Caritas, etc. In general, this activity with its specificities and difficulties is carried out at three inter-connected levels: 1) Direct assistance to people: Ukrainian migrants and returnees, their children and relatives, refugees and foreign immigrants in Ukraine as well as sailors arriving at ports in Australia, Great Britain, Canada, USA and Ukraine; 2) Capacity building of the church structure, especially training of priests and coordination of pastoral care for migrants; 3) Dialog with society and state through development and presentation of the position of UGCC regarding the phenomenon of migration and related challenges at the national and international levels.

4.1

Direct assistance: main target groups

According to the pastoral context, one can define four target groups: 1) Ukrainian labor migrants working abroad. According to experts, there are currently 4,5 million emigrants abroad, including 2 million in the European Union. Church communities abroad fulfill their functions, not only of spiritual but also cultural and social centers.37 Ukrainians abroad have opportunities to meet, discuss their problems, join their efforts to overcome problems and to organize themselves in the church. The church communities actually were at the core of all the noticeable public organizations of Ukrainians, realization of social initiatives and establishment of Sunday and Saturday schools, etc. 2) Migrants’ family members who stay in the Ukraine: In addition to the service abroad, the modern Ukrainian labor migration presents challenges for the Church in the Ukraine as well. They are associated with the preservation of the integrity of families. For the first time in the history of the Ukraine, people migrate to work and leave their families at home. This presents three main dangers: a) Migrants may acquire means of receiving money. According to some migrants, they feel kind of like “cash machines”; b) Emotional and psychological connections and understanding between concort may be weakened; c) Upbringing of children without the role models of one 37 Seleshchuk 2007, 45.

Deepening the Dialogue with Society and State

345

or both parents. Children for example can sometimes carelessly spend the money received from abroad out of the feeling of revenge for being left alone.38 As the result, the rate of divorces in the Ukraine is increasing drastically and deviant behaviour of the migrants’ children is reported. 3) Returnees: According to sociologists, approximately 70 % of the Ukrainian labor migrants declare willingness to return to their families but not more than 20 % really do it.39 Ukrainian labor migrants maintain close connection to the Ukraine in general. They take special interest in its politics and the circle of relatives and friends in particular. This may be illustrated by the activity of Ukrainian migrants in EU countries during the last presidential and parliamentary elections (as seen from the information on voters abroad received from the Central Voting Committee) or regular visits to the Ukraine during Christmas and Easter. This is conditioned by the orientation of returning. They have to face the problem of reintegration in the Ukrainian society which has changed over these years and the vast majority of the social connections in the Ukraine have been lost. If a migrant fails to overcome these difficulties, he/she migrates abroad again to seek employment. In most cases, this happens after 3 – 4 months of staying at home.40 4) Victims of human trafficking: The spread of illegal migration promotes an establishment of criminal groups which get actively involved in human trafficking. An international program: “Network of Christian Organizations Against Women Trafficking” or “Coatnet”41 (with the participation of Germany, Czech Republic, Switzerland, Ukraine and Lithuania), was established in 2001 to facilitate international cooperation and with intention of exchanging information between Christian organizations combating human trafficking. Within the framework of the program, an asylum for 10 female trafficking victims, who had returned to the Ukraine, was founded. With the assistance and financial support of international partners, Caritas Ukraine ensures confidential and safe stay of women in the asylum for the duration of three months. During that time, they undergo medical and psychological rehabilitation, have opportunities to participate in legal consultations and are trained oriented to employment. At the same time, the demand for such asylums is decreasing and one of them had to be closed down. 5) Immigrants and refugees in the Ukraine: One of the main transit routes from the south and east to Western Europe runs through the territory of the Ukraine. In this context, UGCC is faced with two main tasks, namely fos38 39 40 41

Sullivan 2009, 20. Markov 2009, 66. Ivankova-Stetsyuk 2010, 31. http://www.caritas.org/Resources/Coatnet/Coatnet.html [02. 01. 2014].

346

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tering of a tolerant attitude to foreigners in the Ukraine on the basis of hospitability and social assistance to refugees (which is provided by the Caritas network, especially, Caritas Mukachevo, where one of the largest centers for temporary stay of refugees is located). The Jesuit Refugee Service opened a refugee house in Lviv, which has already admitted ten foreigners who have opportunities there to receive legal assistance and to create a community.42

4.2

Capacity building of the Church structure

Migration presents serious challenges connected with strong individual suffering and sometimes even human tragedies. An adequate response occasionally requires a real heroic effort from the migrants and their families and from people providing pastoral care. For the Ukraine’s priests, it is a new kind of ministry requiring additional thorough training. As compared to the direct ministry, only first steps in search of adequate response are being made. Probably the first attempts to raise the level of knowledge and readiness of priests to serve migrants are associated with the questions of human trafficking. Caritas of Sambir-Drohobych Eparchy conducted training for all the Eparchy’s priests on these issues. In 2011, the Sambir-Drogobych Eparchy joined with a team of reviewers dealing with social questions and the UGCC Commission for Migrants developed a study and methodical module for students of the spiritual seminaries of the UGCC entitled “Migration and Questions of Human Trafficking” which was presented to representatives of five seminaries of the UGCC.43 The module contains information regarding the theological understanding of the problems, psychological conditions of migrants/victims of human trafficking and information regarding the legal and social protection of migrants in EU countries. The next step was made by the UGCC Commission for Migrants which compiled a manual for priests entitled “Feeling the migrant’s heartbeat”44 dealing with psychological challenges experienced by migrants and their family members and containing practical advice regarding confession, and the preparation of sermons, etc. This manual is a guideline for priests and lay leaders concerning formation of migrants’ communities and dealing with the challenges of migrants’ families. Training was conducted on the basis of these manuals for

42 http://www.jesuit-ua.org/ministry_ukr.htm [02. 01. 2014]. 43 Nahirnyak 2008, 104. 44 Sullivan 2009, 112.

Deepening the Dialogue with Society and State

347

deans of different eparchies, seminary students, leaders of public organizations and a presentation lecture at the Synod of UGCC Bishops. In the town of Truskavets, the pastoral-missionary department conducted a training seminar for teachers of missiology of the seminaries and monastic communities of the UGCC which was aimed at unifying the program of theology of mission’s teachers in educational institutions of the UGCC. Exclusive lecturers at the seminar were a professor of the Pontifical University Urbaniana Fr. Gianfrancesco Colzani and rector of the Drohobych Spiritual Seminary, and Archpriest Myron Bendyk. Myron Bendyk focused on specificities of the missionary ministry of the UGCC. The seminar was attended by representatives of the Lviv, Ternopil, Ivano-Frankivsk and Drohobych seminaries and the Ukrainian Catholic University. The monastic orders were represented by Studite fathers, Redemptorist fathers, Basilian fathers and Sisters and Servants of the Immaculate Heart of Mary. The UGCC Commission for Migrants is at the final stage of a publication on legal aspects of migration for priests, which aims to increase the level of their knowledge of legal questions regarding the stay of migrants abroad (medical care, social security, protection of working rights, reunification of families, etc.). It is the priests, who are often asked questions about migration abroad by people. The publication aims at guiding priests how to help potential migrants to consider and prepare for migration risks and challenges.

4.3

Dialog with society and state

Globalization processes have changed the conditions of migration considerably. The communities of migrants are no longer islands separated from the continent but peninsulas maintaining close connection with the homeland and each other. Modern migrants are very mobile. They often move from region to region and from country to country. And their host countries seek to regulate migration processes actively. Together, these things constitute additional specificities of the ministry. Development and presentation of the UGCC’s position consists of two components: 1) Development and formation of a clear position of UGCC, vision and understanding of migration processes and challenges as well as proposing solutions; 2) Relations of the UGCC with state institutions and structures of the civil society in the Ukraine and abroad and with the societies where Ukrainian migrants stay.

348

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Ad 1) Development and formation of a clear position of UGCC Migration in the modern world is a complex and multi-dimensional phenomenon, and simplified solutions can create more problems rather than provide answers. Fundamental analysis based on an intersectoral approach is necessary to look for effective solutions. As of today, church institutions have conducted the following different studies of the problems: – The first complex study of the labour migration in the Ukraine was conducted by the Caritas Ukraine in cooperation with the employees of the sector of ethnic-social studies of the Institute of People’s Studies of the National Academy of Sciences of Ukraine and the UGCC Commission for Migrants and with the support of the Renovabis Foundation in 2007 – 2008. The study covered 7 countries of the EU (Poland, Czech Republic, Italy, Greece, Spain, Portugal, and Ireland) and partly Russia. The project was aimed to study the scale, trends and tendencies of the modern labor migration from the Ukraine to the above mentioned countries. The results of the study were presented in June, 2009.45 – The causes and models of the return were studied within the framework of ”Aeneas Programme BrainNet-working Project” (Caritas Ukraine, Sapienza Universita di Roma, Caritas Diocesana di Roma, and others, March 2008 – December 2009) with the use of in-depth interviews. The survey was conducted in the environment of former labour migrants in the Ukraine.46 – Problems of re-socialization of Ukrainian labour migrants after their return, communities of former labour migrants which are being self-organized at the parish level and their inclusion in the church communities are studied within the framework of a pilot project of the UGCC Commission for Migrants with the help of included surveillance.47 – The needs of the returnees were analyzed as part of the activity of the Network of Solidarity of the Ukraine, established by Caritas Ukraine with the participation of the UGCC Commission for Migrants. The results of the analysis were published in English to be available to workers of public organizations in the EU. The publication was aimed to present the specificities of Ukrainian returnees, their needs and challenges faced by migrants on their way home.48 – The development of structures of self-organization and self-assistance of Ukrainian migrants were studied as part of the project “Community as Home”. This was implemented by the UGCC Commission for Migrants. In particular, the main characteristics of the process of self-organization of the 45 46 47 48

Markov et al. 2009, 248. Cf. http://www.brain-networking.org [02. 01. 2014]. Ivankova-Stetsyuk 2010, 68. Seleshchuk 2009, 96.

Deepening the Dialogue with Society and State

349

communities of Ukrainian returnees and effective mechanisms of inclusion of the participants of such associations in the faith on each stage of the selforganization process, were defined.49 – In order to identify adaptation reserves of poly-local families of the Ukrainian labor migrants, the UGCC Commission for Migrants conducted a survey50 as part of the Project “United Family”. This survey allowed a number of aspects of the problem of preservation of the value of the family in the conditions of poly-locality to be identified; particularly the identification of compensatory resources and mechanisms of the migrants’ families and the ways of establishment of branched connections in the migration space. The analysis of the main problems of migration and ways out of the situation in this report are mostly based on the results of the above mentioned studies. Unfortunately, these studies are not sufficient for the development of an effective church policy so far. Ad 2) Relations of the UGCC with state institutions and civil society structures In the relations with state institutions and societies, on the whole, the UGCC should openly protect the dignity of the person created after the image and likeness of God. Migration is not a problem in itself. In areas where the state fails to fulfill its responsibilities to its own citizens, the church often undertakes to care for the people. This especially applies to those who have to work without proper documentation regarding their stay and employment. “The church cannot be silent” says the resolution of the World Congress “Pastoral answers to the phenomenon of migration in the age of globalization” organized by the Pontifical Council for Pastoral Care of Migrants and Itinerants. Dialogue with state institutions is possible, exclusively in the area of protection of human rights and preservation of the national and religious identity. The church must raise its voice for the migrants of the lowest status. For instance, in April of 2009, Resolution #236 of the Ukrainian Cabinet of Ministers was passed to prevent dual taxation of Ukrainian migrants. The UGCC Commission for Migrants, conducted a legal analysis of the Resolution and protested against the cabinet’s joint decision with the Christian Society of Ukrainians of Italy, the Ukrainian World Coordination Council and public organizations of Ukrainians abroad.51 They organized a press-conference where thousands of signatures of migrants against the resolution and a joint address of 49 Ivankova-Stetsyuk 2010, 68. 50 Ivankova-Stetsyuk / Seleshchuk / Susak 2011, 104. 51 http://ugcc.org.ua/news_single.0.html?& tx_ttnews[tt_news]=932& cHash=ee c10a323d06337c369c750f5781a64c [02. 01. 2014].

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tens of Ukrainian organizations abroad were presented. As a result, the resolution was changed and rights of migrants were protected. In July of 2009, an address of the synod of bishops of the UGCC to the state authorities of the Ukraine regarding Ukrainian labor migrants, was published.52 The address called the officials to be active in the work of providing care for Ukrainian migrants, develop a clear migration policy of the Ukraine, recognize at the legislative level the existence of labor migrants and fix their legal status. That call was the result of numerous addresses of migrants to the church. This category of persons does not exist de jure for the Ukrainian state! The foreign policy of the Ukraine still works, according to the Soviet principles, and the protection of the rights of its citizens abroad is not its priority. In the context of realization of that address, the UGCC Commission for Migrants set up a work team which gathered proposals from public organizations of Ukrainians abroad. This regarded the main problems of migrants and prepared a bill “On legal status of Ukrainians labor migrants” in order to fix the definition of Ukrainian labor migrants and minimal range of rights of migrants at the legislative level.53 The bill was supported by 28 Ukrainian public organizations abroad and 51 NGOs in the Ukraine. In addition, a joint address of the Conference of Christian Churches (includes Ukrainian orthodox churches, Romanand Greek-Catholic churches and protestant churches) in support of the bill was published. The bill was presented at the parliamentary hearings on matters of migration in the Supreme Council of the Ukraine in October, 2010.54 This active participation of migrants resulted in the establishment, in 2011 – 2012, of the Council on Matters of Labor Migration of the citizens of the Ukraine, which is affiliated with the Cabinet of Ministers of the Ukraine. It is the only state body which coordinates the activities of various ministries and state services whose capacities extend to the migrants’ situation. It is actually unprecedented that this body of representatives of migrant environments, and particularly, a representative of UGCC as the deputy head of the Council, is included. The activity of the migrant environments led to an activation of the state government and self-government bodies at the regional level as well. In 2012, the Ivano-Frankivsk Regional Council passed a program for the support of migrants for the first time, whereas the Lviv Region Council began to work on such a program as early as in 2011, but has not completed the process.55 Similar initiatives are currently being taken in Ternopil and Volyn Regional Councils.56 52 http://ugcc.org.ua/744.0.html [02. 01. 2014]. 53 http://human-rights.unian.net/ukr/detail/192530 [02. 01. 2014]. 54 http://www.ugcc.org.ua/news_single.0.html?& tx_ttnews[pS]=1264975200& tx_ttnews [pL]=2419199& tx_ttnews[arc]=1& tx_ttnews[pointer]=2& tx_ttnews [tt_news]=2241& tx_ttnews[backPid]=200& cHash=4f447a948 f [02. 01. 2014]. 55 http://navihator.net/news/view/id/771.

Deepening the Dialogue with Society and State

5.

351

Summary

1) The process of forming networks for Ukrainian labor migrants in Italy, within one institutional space under the umbrella of the church, includes several stages, namely, the local-urban, unification and network stage. The local-urban stage of the formation of networks for Ukrainian labor migrants is characterized by the formation of local associations in the large cities in Italy who have high concentrations of Ukrainians. The second stage of the formation of networks of Ukrainian labor migrants can be described as the unifying one, as it was at the time when the steady tendency to seek consolidation of local communities of Ukrainians abroad began to show. These local-urban forms of associations remain actual, even though it is possible to observe their gradual modification in the context of searching for answers to the challenges of the integration of Ukrainians in the societies of the countries of their stay. The network stage began in the middle of the 2000s and is in progress now. Its specificity is the gradual unification of the existing Ukrainian centers in one network with the support of the church. 2) Within the development of networks of Ukrainian labor migrants, the Ukrainian Greek-Catholic Church provides proceeds intensively for the institutionalization of its activities in the sphere of migration. It includes direct assistance for migrants, capacity building of church structure and a deepening dialog with society and state in the Ukraine. This dialog has appeared to be quite fruitful on national and regional levels. Its main achievement is growth of participation and influence of migrants on processes of regularization in the field of migration. 3) A considerable support from both the state and non-governmental social institutions is necessary for the development of Ukrainian centers abroad. If the support is granted, good institutional preconditions for the regulation of the migration processes and keeping them within civilized limits will be created. Since the Church has not found answers to all the challenges of migration, studies of migration issues remain highly topical.

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paniyi, Portugaliyi. (Newest Ukranian Diaspora: Labor Migrants in Italy, Spaine and Portugal). Lviv. Ivankova-Stetsyuk, Oksana. 2010. Community as Home. Resume of the research project “Church Community as an active form of organization of the life of Ukrainian labor Migrants”. Lviv. —et al. 2010. Vyklyky ta zdobutky UGCC v emigratsiyi: istoryko-sotsiologichnuy narys. (Challenges and achievements of UGCC in emigration: Historical-sociological studies). Lviv. —/ Seleshchuk, Hryhoriy / Susak, Viktor. 2011. Vyklyky ta adaptacijni rezervy polilokalnykh rodyn ukrajinskykh trudovykh mihrantiv (Challenges and adaptation reserves of polylocal families of Ukrainian labor migrants). Lviv. Markov, Ihor (ed.). 2009. Ukrainian Labour Migration in Europe. Finding of the complex research of the processes of Ukrainian labor immigration (the EU countries and Russian Federation. Lviv. —et al. 2009. Na perekhresti. (At the Crossroads). Lviv. Nahirnyak, Oleh. et al. 2008. Migration and Questions of Human Trafficking. Drohobych. Putini, Antonio 2010. “Employment and Integration. Life in Rome’s East European Communities”. In: Putini Antonio. Brain-Net Circular Migration. Volume 1. Migrants Flows Feeding into Business Internationalization (ed. by A. Montanari). Rome. Seleshchuk, Hryhoriy. 2007. Dignity without borders: Migration’s Challenges. Materials of round tables, selected church and international documents, and analytical materials concerning migration. Lviv. — 2009. Who and what is waiting for migrants after returning to Ukraine. Vienna. Semchyshyn, Myroslav 1993. Tusyacha rokiv ukrainskoyi kultury. Istorychnyi ohlyad kultyrnoho protsesu. (A thousand years of Ukrainian culture. Historical review of cultural process.) Kiew. Sullivan, Andew. 2009. Feeling the heartbeat of the migrant. Lviv.

Radu Preda

Von der Wende verweht. Die orthodoxen Gemeinden Westeuropas nach 1989 aus sozialtheologischer Perspektive

1.

Einführung

Die Analyse, die sich dieses Buch vornimmt, ist längst fällig. Denn schon seit Jahrzehnten konfrontiert sich Europa sozial, politisch, kulturell und nicht zuletzt konfessionell mit einer schnell wachsenden neuen Realität, die nicht mehr mit dem „alten“ Bild eines Europas homogener Nationalstaaten konform ist. Die Debatte um die Rolle der Einwanderer wird mitunter heftig und widersprüchlich geführt. Die Oase der Einstimmigkeit und der angeblich monolithischen Identität scheint in den Augen vieler bedroht zu sein. Aus dieser nicht völlig unbegründeten Angst speisen sich alle nationalistischen Populismen oder gar Wahlkampfdiskurse der etablierten Parteien. Bevor Migration zum Forschungsgebiet der Sozialwissenschaften wurde, hat die Politik das Thema für sich entdeckt. Entgegen aller Propheten des Niedergangs ist die Binnen- und Immigration für Europa zu einer Schicksalsfrage geworden. In Anbetracht des demographischen Wandels und der wirtschaftlichen Disparitäten ist die Europäische Union auf Migration angewiesen. Als Katalysator der gesellschaftlichen Dynamik bringt die transnationale Wanderung tiefgreifende Änderungen mit sich: Alte Überzeugungen werden neu in Frage gestellt, wie auch Kategorien, Grenzen oder Unterschiede neu definiert. Dialektisch verstanden hängt der Erfolg des europäischen Einigungsprojekts gleichermaßen sowohl von der Stabilität der Mitgliedsländer wie auch von deren Fähigkeit ab, Migration im Sinne der Mobilität in seine Zukunftspläne zu integrieren. Mein Beitrag beginnt mit der Feststellung, dass Religion und Mobilität zueinander gehören. Wenngleich heute die Wanderung ethnischer und religiöser Gruppen spezifisch neue Schwierigkeiten bereitet, taucht das Problem nicht erst in der Moderne auf. Im zweiten Abschnitt meiner Ausführungen wird die Situation der orthodoxen Gemeinden nach der Wende beleuchtet. Dabei werde ich eher die Lage der rumänischen orthodoxen Christen vor Augen haben, aber vieles kann auch exemplarisch für alle anderen Orthodoxen in Europa gelesen werden. Wie die orthodoxen nationalen Kirchen die explosionsartige Ent-

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wicklung der „Diaspora“ nach dem Fall des Kommunismus theologisch verarbeiten und praktisch verwalten, stellt das Thema des dritten Abschnitts dar. Mit einer offenen Antwort auf die Frage „Wohin des Weges?“ schließt der Beitrag ab.

2.

Statt einer Einleitung: Religion und Mobilität

Judentum und Christentum, nicht zuletzt der Islam sind – wenn auch auf verschiedene Weise – Religionen der Mobilität par excellence. Im Alten Testament wird kreuz und quer durch zwei Kontinente und unzählige Länder von Ägypten bis in den Iran und von Jerusalem bis nach Rom gereist, gepilgert, verschleppt oder geflohen.1 Lange bevor die Heilsgeschichte auf eine engere Region, als Heiliges Land umschrieben und fokussiert wurde, nahm die Pädagogik Gottes gerade in dieser geographischen Instabilität die ausdrückliste Form an. Das auserwählte Volk wanderte, um dadurch geläutert an einem bestimmten Ort anzukommen. Da sich das Erreichen der religiösen Reife durch wiederholte pagane Rückfälle und religiöse Seitensprüngen in die Länge zog, verschob sich entsprechend die Zeit der Ankunft immer wieder aufs Neue. Die Reise wurde zum Mittel: „Ihr sollt auf das ganze Gebot, auf das ich dich heute verpflichte, achten und es halten, damit ihr Leben habt und zahlreich werdet und in das Land, das der Herr euren Vätern mit einem Schwur versprochen hat, hineinziehen und es in Besitz nehmen könnt. Du sollst an den ganzen Weg denken, den der Herr, dein Gott, dich während dieser vierzig Jahre in der Wüste geführt hat, um dich gefügig zu machen und dich zu prüfen. Er wollte erkennen, wie du dich entscheiden würdest: ob du auf seine Gebote achtest oder nicht. Durch Hunger hat er dich gefügig gemacht und hat dich dann mit dem Manna gespeist, das du nicht kanntest und das auch deine Väter nicht kannten. Er wollte dich erkennen lassen, dass der Mensch nicht nur von Brot lebt, sondern dass der Mensch von allem lebt, was der Mund des Herrn spricht. Deine Kleider sind dir nicht in Lumpen vom Leib gefallen und dein Fuß ist nicht geschwollen, diese vierzig Jahre lang. Daraus sollst du die Erkenntnis gewinnen, dass der Herr, dein Gott, dich erzieht, wie ein Vater seinen Sohn erzieht. Du sollst auf die Gebote des Herrn, deines Gottes, achten, auf seinen Wegen gehen und ihn fürchten.”2

Die vierzigjährige Durchquerung der ägyptischen Wüste ist in diesem Sinn weder die längste bekannte Exkursion der Welt noch ein Ausdruck einer 1 Ein knapper und allgemeinverständlicher kultur- und religionswissenschaftlicher Überblick siehe etwa bei Udo Tworuschka, Sucher, Pilger, Himmelsstürmer. Reisen im Diesseits und Jenseits (Symbole), Kreuz, Stuttgart, 1991. Auch als Einführung in die Thematik siehe Steven Vertovec, „Religion and Diaspora“, in Peter Antes u. a. (ed.), New Approaches to the Study of Religion (Religion and Reason 42), Vol. 2, de Gruyter, Berlin / New York, 2004, S. 275 – 303. 2 Deuteronomium 8,1 – 6. In diesem Beitrag wird die Bibel in der Einheitsübersetzung zitiert.

Von der Wende verweht

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selbstzerstörerischen Haltung Moses, sondern eine Lektion, die weit über die eigentlichen Ereignisse wirkt und weiterhin Gültigkeit besitzt.3 Gelesen als Migrationserfahrung4 stellen die Jahre Israels in der Wüste ein überraschend modernes Paradigma dar, denn der kulturelle Hintergrund einer immer sich in Bewegung befindenden Region kann manches der heutigen Konflikte erklären. Heimisch und dennoch fremd zu sein gehört zu den bleibenden Paradoxien des gesamten Nahen Ostens und Nordafrikas – Zonen in denen durch die nachfolgenden Völker und Religionen ein sowohl spannender als auch spannungsgeladener Mix entstanden ist. Multikulturalität avant la lettre. Nicht nur die Ferne, sondern auch der Fremde nimmt in diesen Kulturen einen besonderen Platz ein. Weil das Volk Israel selbst in der Ferne war und als Fremde in Babylon und Ägypten gelebt hat, verbietet Gott das Ausnützen und die Ausbeutung eines Fremden.5 Die Schicksalsparallele ist zu evident, um nichts daraus zu lernen. So finden sich in den zentralen Texten des Alten Testaments zahlreiche Gesetze zum Schutz von Fremden. Und trotzdem: Der Fremde ruft immer gemischte Gefühle hervor. Die Grenze zwischen Fremdenangst und Gastfreundschaft ist daher nicht selten sehr dünn, ein Umstand, der dem eigentlichen Zwiespalt des Wortes n]mor entspricht. So findet sich in einzelnen biblischen Büchern wie Esra oder Nehemia ein Selbstverständnis, das Volk Israel sei ganz anders als alle anderen, was eine ablehnende, abweisende Haltung Nicht-Juden gegenüber mit sich zog. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter relativiert Jesus von Nazareth alle Denkmuster, die in ethnischen, nationalen oder religiösen Zugehörigkeiten argumentieren.6 Die Parabel ist nur der illustrative Part weitumfassender Konflikte über den Zugang zum ewigen Leben – ein Thema, das auch unter den Jünger Jesu heiß diskutiert sein wird.7 Durch sein Beispiel mit dem Samariter, 3 Siehe der Kommentar eines Klassikers auf dem Gebiet, Rad 1958, 287: „Hier wird also die Geschichte nicht mehr um ihrer selbst willen herangezogen, sondern um eines tieferen Sinnes, um einer Lehre willen, die als das Bleibende und eigentlich Wesentliche hinter dem Geschehen sichtbar wird.” 4 Siehe hier exemplarisch Pomykala 2008. 5 Vgl. Exodus 22,20; 23, 9. Über das Statut des Fremden im Alten und Neuen Testament und darüber hinaus siehe das immer noch sehr lesenswerte exegetische Dossier von Stählin 1954; Friedrich 1981. 6 Vgl. Lukas 10,25 – 37. Siehe hier Fitzmyer 2008, 882 – 885. Eine relativ aktuelle bibliographische Übersicht zu dieser Stelle siehe bei Nolland 2002, 586 – 592. Nicht zuletzt, siehe der Kommentar von Bovon 1996, 79 – 99. 7 Es ist vielsagend, dass der Parabel des barmherzigen Samariters die Episode im Hause der Schwestern Marta und Maria folgt (vgl. Lukas 10,38 – 42), eine weitere wirkungsvolle Begegnung, die sich für den Ausgleich zwischen geistlicher Hingabe und diakonischer Fürsorge ausspricht. Siehe hier der schon zitierte Kommentar von Bovon 1996, 99 – 117. Das Thema, wie der Mensch zum Heil gelangt, beschäftigt auch das sog. Apostelkonzil von Jerusalem. Vgl. Apostelgeschichte 15.

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vorbei an allen Regeln und Tabus der Zeit, entkulturalisiert Jesus die spirituelle Berufung des Menschen und vollzieht dadurch eine christologische „Vereinfachung“, die die u. a. im Buch Genesis und bei Propheten wie Jesaja bereits vorfindbare anthropologische Universalität in Erinnerung ruft. Wie schon von den Propheten verheißen, wird mit der Fleischwerdung Christi die Überschreitung der ethnischen und anderer, allzu enger, aber umso mehr verabsolutierter Merkmale verkündet, ausgedrückt in einer universellen Anthropologie, die den Menschen nicht mehr ausschließlich durch seine geographische und soziale Herkunft definiert. Diese Sichtweise, für die damaligen orientalischen Verhältnisse ebenso schwierig wie mitunter auch heute noch unannehmbar, da die veerbten Strukturen der Gesellschaft die Solidität des Lebens selbst zu garantieren schienen, erklärt Paulus den Galatern, einem Publikum, das sowohl mit der Realität der Judenchristen als auch der Heidenchristen vertraut war : „Ihr seid alle durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus (als Gewand) angelegt. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ’einer’ in Christus Jesus. Wenn ihr aber zu Christus gehört, dann seid ihr Abrahams Nachkommen, Erben kraft der Verheißung.”8

Liest man nun die Parabel von Lukas zusammen mit den Worten von Paulus, lässt sich daraus schließen: Der Fremde wird nunmehr als Nächster aufgefasst und dementsprechend behandelt. Wie schon im Alten Testament (Lev 19, 34) als Liebesgebot zum Fremden formuliert, den man wie einen Bruder lieben soll, ist für Gott in Christus niemand ein Fremder. Mehr noch: Christus ist der gemeinsame Freund, also können Menschen untereinander keine Fremden mehr sein. Diese Art der Nächstenliebe, die aus einer latenten Gefahr durch den Fremden eine mögliche Gemeinschaft bildet, stellt den Kern des Evangeliums dar und konkretisiert das Gebot der Liebe. Die Communio, die dadurch entsteht, bildet die Grundlage der Kirche als solche und begründet ihre angst-, tabu- und grenzenlose Mission, was jedoch nicht bedeutet, dass alle missionarischen Instrumente per se legitim sind.9 So geht die Verkündigung – „Geht hinaus in alle Welt und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen“10 – mit Mobilität einher. Gesendet in die Welt zu sein wird sozusagen das Markenzeichen der Christen. Die Reise wird nun zum Zweck.

8 Galater 3,26 – 29. 9 Ein Großteil der Gewalt in der Missionsgeschichte des Christentums lässt sich auf problematische Interpretationen von Begriffen wie Mission oder Heil zurückführen. Siehe hier die herausragende kirchengeschichtliche Synthese von Angenendt 2008. 10 Markus 16,15.

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Dass Christen „keine bleibende Stadt“ haben, das legt Paulus sodann den reiseerfahrenen, in der Diaspora lebenden Hebräern, die Christus nachfolgen, nahe.11 Was für die ersten Generationen der Christen, aufgrund einer wörtlich verstandenen Naheerwartung, eine obligatorische und restlose Entledigung des Weltlichen bedeutete12, wurde später, mit der Verschiebung des Eschaton, als Relativierung des bürgerlichen Status sowie als Hinweis auf die künftige, tatsächliche, spirituelle Bürgerschaft im Himmel empfunden und gedeutet. Die „doppelte Bürgerschaft“ der Christen ist aber nicht mit Gleichgültigkeit der Geschichte gegenüber, nicht mit Anarchismus noch mit einem Mangel an Loyalität zum Staat gleichzusetzten.13 Es handelt sich eher um eine konstitutive Dialektik, die am deutlichsten und ausführlichsten im zu den sogenannten apostolischen Schriften zählenden Diognetbrief zum Ausdruck kommt. Der unbekannte Verfasser versucht einer paganen Leserschaft die Neuheit des Christentums durch den Hinweis auf dessen Paradoxien zu erklären. Es lohnt sich aus diesem Text ausgiebig zu zitieren: „5,4. Sie [die Christen] bewohnen vielmehr griechische und auch barbarische Städte, wie immer es einen jeden traf, und sie folgen den einheimischen Sitten in Kleidung und Essen und in der übrigen Lebenspraxis, und sie legen anerkanntermaßen eine wunderbare Beschaffenheit ihrer Lebensführung an den Tag. 5. Sie bewohnen jeder sein Vaterland, aber wie Nichtbürger ; sie haben an allem Anteil wie Bürger, und alles erdulden sie wie Fremde. Jede Fremde ist für sie Vaterland, und jedes Vaterland Fremde. 6. Sie heiraten wie alle und bekommen Kinder ; aber sie setzen die Neugeborenen nicht aus. 7. Einen gemeinsamen Tisch stellen sie auf, aber nicht ein (gemeinsames) Bett. 8. Sie existieren „im Fleisch”, aber sie leben nicht „nach dem Fleisch”. 9. Auf Erden weilen sie, aber im Himmel haben sie Bürgerrecht. […] 6,1. Um es einfach zu sagen: Was im Körper die Seele ist, das sind in der Welt die Christen [im Original: fpeq 1st·m 1m s~lati xuw^, toOtû eQsQm 1m j|sly Wqistiamo_]. 2. Über alle Glieder des Körpers hin ist die Seele verteilt, ebenso die Christen über die Städte der Welt. 3. Es wohnt zwar die Seele im Körper, aber sie stammt nicht aus dem Körper. Auch die Christen wohnen in der Welt, aber sie stammen nicht aus der Welt.”14

Der Text bietet in spätantiker Metaphorik ein Muster des Selbstverständnisses der Christen in den ersten zwei Jahrhunderten, als sie phasenweise verfolgt waren – ein Umstand, der die Instabilität noch unterstrich. Der Gefahr ausgesetzt und fast immer auf der Flucht zu sein befand sich im Gegensatz zur betonten Friedfertigkeit und Staatstreue der Jesu-Anhänger.15 Wie oben schon 11 Vgl. Hebräer 13,14. 12 Aus dieser überschwänglichen Eschatologie entstand nicht nur die Distanz zur Welt sondern auch zur Materialität. Dabei spielten die Wanderprediger eine wichtige Rolle. Siehe diesbezüglich die meisterhafte Darstellung von Brown 1991 (1988). 13 Siehe hier exemplarisch die Analyse von Schinkel 2007. 14 Diognetbrief 5.4 – 5.10; 6,1 – 6,3. Apud Lindemann / Paulsen 1992, 312 – 313. 15 Ein Überblick, wie die Christen der ersten Jahrhunderten mit dem Staat und mit der Ge-

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angedeutet, stand aber die Unsicherheit, die die Zeit vor der Legalisierung des Christentums im Römischen Reich prägte, in nahtloser Verbindung zur eschatologischen Erwartung. Je intensiver die Strapazen in der Geschichte, desto evidenter die himmlische „Lösung“. Diese Logik, die die geschichtlichen Widrigkeiten nicht nur annahm, sondern ihnen einen Sinn gab, wurde durch die konstantinische Wende grundlegend in Frage gestellt. Statt Verfolgten waren die Christen fortan favorisiert. Ein Prozess wurde in Gang gesetzt, um an dessen Ende eine Antwort auf eine wichtige Frage zu geben: Wie soll das Heil unter wohlwollenden Herrschern erlangt werden? Dass die politischen Protektoren des Christentums wiederum nicht immer wohlwollend, geschweige rechtgläubig waren, sei hier nicht groß angesprochen. Eine Antwort auf dieses Dilemma lieferte etwa das Mönchtum als Form einer Grenzziehung. So sind die Mönche nicht nur allgemein weltfremd, ausgedrückt in der programmatischen Heimatlosigkeit, sondern eben auch machtkritisch. Frei von aller weltlichen Sorge, eine Situation, die mit dem Mönchsein – d. h. keine Familie und keinen Besitz zu haben – einhergeht, bildeten die Asketen innerhalb der Kirche, aber auch dem Staat gegenüber eine Art geistliche Opposition. Die Geschichte von Byzanz und der späteren Orthodoxie liefert dafür mehr als genug Beispiele. Fern durch seine Einsamkeit oder kollektiven Rückzug ins Kloster, aber jedoch nahe durch den Einfluss, den beispielsweise ein monastischer Beichtvater in der Gesellschaft ausübt, war der Mönch mitunter ein Dorn im Auge. Er glich einem Wachposten auf der Höhe der Glaubensmauern, stets auf echte oder nur fiktive Feinde lauschend. Der Übergang von losgelösten Zellen nach dem anachoretischen Muster vom Antonius16, in der ägyptischen Wüste, in der Nähe von Alexandrien, zur Gründung sesshafter Klöster, nach dem koinobitischen Beispiel von Pachomius17, brachte eine Gegenbewegung. Die Klöster wurden neben den Orten, die mit dem irdischen Leben Jesu oder der Apostel in Verbindung gebracht wurden, gegründet und ihre Mönche oder Nonnen besucht. Schon in den ersten christlichen Jahrhunderten spielen so die Pilgerreisen und Wallfahrten eine wichtige Rolle beim Transfer von Informationen, Kopien biblischer Texte, Reliquien u.v.m. Kurzum, von einstigen Vertretern der Heimatlosigkeit, die nun als innerliche Tugend gepflegt sellschaft klar kamen oder eben nicht, liefert die Quellensammlung herausgegeben von Guyot / Klein 1997. 16 Zum Leben des „Vaters des Mönchtums”, siehe die relativ neue deutsche Übersetzung der kanonischen Biographie von Athanasius von Alexandrien: Vita Antonii 1986. 17 Siehe hier die kritische Ausgabe der pachomianischen Regeln und die Studien von einem seiner besten Kenner im deutschsprachigen Raum: Bacht 1972. Eine neue Ausgabe der von Bacht betreuten Übersetzung ist nach seinem Tod veröffentlicht: Bach 2010. Im gleichen Verlag und Jahr ist auch der Text des Hauptschülers vom Pachomius, Horsiese – Geistliches Testament erschienen. Über das Wirken von Pachomius siehe auch Rousseau 1985.

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wurde18, mutieren die Mönche zu Sinnbildern der Standhaftigkeit und Stabilität im Glauben. Die Klöster, im Osten und dann im Westen, werden zu Ausgangspunkten der zivilisatorischen Mission der Kirche und Rückzugsorten bei Gefahr, Schatztruhen, Bibliotheken und Bewahrungsräume des Gedächtnisses. Auch wenn wir uns heute für die am schnellsten und am weitesten Reisenden halten – was technisch stimmt – waren bereits die Spätantike und das erste christliche Jahrtausend verkehrsmäßig sehr bewegt. Obwohl die Menschen keine richtige Vorstellung über die Form der Erde hatten, geschweige denn, wie unser Planet zur Sonne steht, waren sich die „Alten“ der Ganzheitlichkeit des Raumes bewusst.19 Eine Art Vorverständnis der Welt als Ganzes – womöglich eine Art, global zu denken – waren durchaus bekannt. Und was man kannte und als einen einzigen Raum fasste, sollte und durfte man auch bereisen. Symmetrisch dazu wurde das Unbekannte nicht unbedingt gesucht, es sei denn, eine abenteuerliche Neigung oder ein handfestes Interesse waren im Spiel. Die imperiale Struktur Roms begünstigte die Entwicklung eines Kommunikationsnetzes beträchtlichen Ausmaßes. Pax Romana bedeutete nicht zuletzt die Möglichkeit, innerhalb dieses Netzes zu reisen, was auch die Christen massiv in Anspruch nahmen.20 Die ökumenischen Konzilien sind ohne diese konkrete Infrastruktur gar nicht zu denken: Hunderte von Bischöfen aus Ost und West kamen in einer relativ kurzen Zeit zusammen, kommunizierten rege unter sich, sendeten ekklesiale Botschaften und unterhielten einen für die heutigen Verhältnissen als modern einzustufenden Informationsfluss. Um einen Allgemeinplatz zu wiederholen, der aber bereits für diese Zeit relevant ist: Europa ist das Ergebnis einer beispiellosen Mobilität, die nicht nur den Menschen den Kontakt mit dem Evangelium ermöglichte, sondern nachhaltig die politische und kulturelle Geographie prägte.21

18 Die „Reise mit der Frage”, d. h. von einem erfahrenen Mönch zum anderen, um diesem persönliche, heilsfördernde Fragen zu stellen, ist ein beliebter Topos in der asketischen Literatur der Ostkirche geblieben. Aus diesen „Reisen” sind auch die Sprüche oder Apophtegmen entstanden. Die bekannteste Sammlung ist wohl die aus der ägyptischen Wüste des dritten christlichen Jahrhunderts. Siehe die deutsche Fassung: Weisung der Väter. Apophthegmata Patrum 1998. 19 Siehe hier der monographisch angelegte Artikel, mit einer Fülle an Quellen, von Abel 1974. 20 Eine knappe Darstellung, wie Reise und Kommunikation in der Spätantike funktionierten, und welche Folgen dies für das frühe Christentum hatte, siehe bei Siniscalco 1994. 21 Das Einwirken des Christentums in Europa ist sehr bündig in dem Band von Antes 2002 zusammengefasst.

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Nach der Wende: die Enttäuschten und Auswanderer

Der Rahmen des Beitrages zwingt mich zu einem zeitlichen Sprung vom anfänglichen Mönchtum zum Postkommunismus. Vor der Wende sorgte der Eiserne Vorhang nicht nur für die ideologische und militärische Spaltung zwischen Ost und West, sondern nicht weniger für die Zersplitterung der Familien oder der eigenen Biographie innerhalb der kommunistischen Länder. Mit mehr als hundert Millionen Opfern weltweit; einer zerstörten Landschaft, egal wo man hinsieht; verstörten Generationen von Menschen, die sich den Spagat zwischen Lüge und Realität als Lebensstil aneigneten, verbunden mit tiefreichenden Spuren im Denken und Handeln, hat der Kommunismus nur flächendeckendes Elend, eine endemische Korruption, Hoffnungslosigkeit und Barbarei, massive Ruinen und eine krankhafte Melancholie hinterlassen. Aus dem proletarischen Traum ist ein Trauma geworden.22 Das einmalige Sozialexperiment der Errichtung einer klassen-, interessenund besitzlosen, dafür wohlhabenden, neuen und gerechten Gesellschaft ist definitiv gescheitert. Seine „historischen Probanden“ leiden immer noch, bewusst oder unbewusst, unter den Folgen dieser letzten großen politischen Religion der Moderne. Dabei denke man nicht nur an die unmittelbar Betroffenen, sondern vor allem an die Nachfolgegeneration: an die vielen jungen Menschen des Ostens, die unweigerlich durch Bildung und Lehrer Spurenelemente des Kommunismus in sich tragen, obwohl sie mit diesem jüngsten Kapitel der Geschichte in der Regel nichts zu tun haben wollen. Aber selbst die Auswanderung so vieler junger Osteuropäer – ein Phänomen erschreckenden Ausmaßes – stellt eine unmissverständliche Absage an die postkommunistischen Verhältnisse dar, die ihre Heimatländer noch immer negativ bestimmen. Kurzum: Der Kommunismus bleibt auch nach über zwei Jahrzehnten seiner politischen Insolvenz eine Realität, die das Leben vieler Menschen direkt und indirekt berührt. Darum ist eine Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und seinen Folgen, um die Beweggründe der immer noch andauernden transnationalen Immigration innerhalb Europas zu verstehen, mehr denn je notwendig. Die Folgen des Kommunismus sind in Osteuropa auf Schritt und Tritt sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf persönlicher Ebene zu spüren. Was das öffentliche Leben betrifft, stellt das auffälligste Merkmal die chronische Unfähigkeit der Menschen dar, einem bestimmten Denkmuster zu entrinnen. Diese Geisteshaltung, die sich über Jahrzehnte im Kommunismus tief im gesellschaftlichen Corpus festgesetzt hat, zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass kein Unterschied zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, zwischen dem eigenen Interesse und dem des Gemeinwohls, zwischen dem Unerlaubten und 22 Manche Überlegungen in diesem Abschnitt greifen auf meinen Artikel Preda 2011 zurück.

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dem Recht gemacht wird. Diese Einstellung ist auch bei den jüngeren Repräsentanten der heutigen Politik zu beobachten. Wenig überraschend ist die Tatsache, dass sich diese Mentalität vor allem in den oberen Klassen zeigt. Dabei paart sich des Öfteren Machtausübung mit Korruption und Überschreitung von gesetzlichen Vorgaben. Abgesehen von einer Anzahl von Ganoven kreisen die Korruptionsskandale der letzten Jahre in der Tat – in Rumänien wie in ganz Osteuropa – um Leute, die sich auf jeden Fall keine Sorgen um den morgigen Tag zu machen brauchen. Die Korruption in den ehemaligen kommunistischen Gesellschaften ist das Resultat einer falsch verstandenen Weise, mit den öffentlichen Ressourcen umzugehen.23 Der ethische innere Widerspruch des Kommunismus, alle Schätze symbolisch der ganzen Nation, aber faktisch ganz bestimmten Parteifunktionären zuzueignen, rächt sich und verfehlt auch nach über zwei Jahrzehnten seine Wirkung nicht. Die endemische Korruption basiert dabei auf einem sozialen Netz von alten, noch immer funktionierenden Beziehungen, die über alle Parteien und politischen Umstände hinweg weiter ihre Effizienz entfalten. Die zu Demokraten mutierten alten Kader der kommunistischen Partei halten eben die Tugend der Kameradschaft sehr hoch! Das hat zur konkreten Folge, dass der Wettbewerb und überhaupt jede persönliche Leistungsfähigkeit in der Wirtschaft oder im akademischen Bereich, aber auch in der Politik umgangen und ausgeschaltet werden. Alles erscheint längst abgesprochen und im Detail vorprogrammiert zu sein, wodurch Außenseiter chancenlos bleiben müssen. Das Gefühl, das schnell zu einer nüchternen Feststellung wird, in einem solchen System von Bekanntschaften und Verwandtschaften nicht willkommen zu sein, treibt die meisten jungen und begabten Leute dazu, die Weite der globalisierten Welt zu suchen. Der Kastenmentalität der ehemaligen Funktionäre der kommunistischen Macht und ihrer biologischen oder institutionellen Nachfolger „verdanken“ alle Reformbemühungen des Rechtsstaates ihre Langsamkeit.24 Das besonders Giftige an diesem System stellen dabei nicht nur die korrupte Mentalität dar, sondern auch die enormen Kosten, die solche Leute täglich ohne angemessene Gegenleistung verursachen. Bürokraten sehen sich ja nicht gezwungen, ihre Ent23 Siehe hier die Werte des alljährlich von Transparency International aufgestellten Korruptionswahrnehmungsindex (Englisch: Corruption Perceptions Index). Vgl. URL: http:// www.transparency.org/ [01. 02. 2014]. 24 Die Beobachtung, wie unterschiedlich hinsichtlich Länge und Prozess die Übergänge von einem Regimetypus zum anderem verlaufen, hat zur Etablierung einer eigenen Wissenschaft geführt: Transitologie. Nicht nur die Transformationen im Ostblock werden untersucht, sondern ebenfalls die Ereignisse, die durch den „arabischen Frühling” im Gang gesetzt wurden. Siehe hier zum postsowjetischen Raum Stewart / Klein / Schmitz / Schröder 2012. Dass dabei das Konzept der Demokratie eine Hybridisierung erfährt, ist Teil der Transition. Siehe diesbezüglich die Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 1 (2011) mit dem Oberthema „Comparative Governance and Politics”.

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scheidungen zu rechtfertigen oder wegen Missständen, die daraus resultieren, irgendeine persönliche Konsequenz zu ziehen. Das System steht grundsätzlich nie unter Legitimations- oder Effizienzdruck. Es kann und darf einfach so bestehen, wie es ist, weil seine Existenz mit der des Staates gleichgesetzt wird; schließlich gibt es bekanntlich keinen Staat ohne Staatsapparat. An den Regeln der Wirtschaftlichkeit vorbei und in absoluter Ignoranz der demokratischen Pflichten der Gesellschaft und den Bürgern gegenüber machen solche korrupten Systeme ein kostenintensives Paradox möglich: Sie geben sich selbst die notwendige juristische Grundlage, um dem Rest der Bevölkerung zu trotzen.25 Um die Situation in Rumänien konkret anzusprechen: Kein Sektor des öffentlichen Lebens zeigte in den letzten Jahren eine so hohe Wachstumsrate wie die staatliche Verwaltung. Zum demographischen Problem, demzufolge immer mehr Rentner von immer weniger Arbeitnehmern versorgt werden müssen, tritt das der Überbürokratisierung hinzu. Im Durchschnitt sind mehr Leute vom Staat beschäftigt als in der Wirtschaft. Wenn die jetzige Finanzkrise etwas Gutes gebracht hat, dann jenes, dass sie diese Missstände notgedrungen ans Tageslicht gefördert hat. So erfuhr die breite Masse der Bevölkerung von Entscheidungsstrukturen im staatlichen System – voll gesetzeskonform, aber gänzlich unmoralisch –, wonach Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst am besten bezahlt werden. Diese traumatische Ungleichheit in der Demokratie – zwischen Staatsapparat und freier Wirtschaft oder zwischen den Dazu-Gehörenden und den Für-immer-draußen-Bleibenden – ist letztendlich die zynische Umwandlung des angeblichen kommunistischen Egalitarismus. Diese grob skizzierte Situation bildet den Hintergrund für die Enttäuschung und die Auswanderung vieler überwiegend junger und ausgebildeter Rumänen nach dem Sturz von Ceausescu im Dezember 1989.26 Die meisten haben aber nicht einfach das Land verlassen, sondern sich anderorts ein besseres Leben aufgebaut. Auch nicht wenige von ihnen denken immer noch an eine spätere Rückkehr. Die Tatsache, dass nun Rumänien Mitglied der NATO und der EU ist, mag eine optimistisch anmutende Zukunft garantieren. Bis sich aber die Lage wesentlich verbessert, bleiben die im Ausland lebenden Rumänen ihrer Heimat auf andere Weisen verbunden. Dies lässt sich exemplarisch an den rumänischen Gemeinden ablesen, die nach dem Fall des Kommunismus fast überall in 25 Ein aktuelles Beispiel liefert die erst vor einige Monate von der rumänischen Regierung gegründete Einrichtung zur Regulierung der Finanzmärkte (Rumänisch: Autoritatea de Supraveghere Financiara). Wie die Medien ans Tageslicht gebracht haben, dürfen die Spitzenfunktionäre aus Bukarest nicht weniger als 37 Durchschnittslöhne kassieren, während die Kollegen aus ähnlichen Institutionen der EU-Mitgliedsstaaten etwa acht Durchschnittslöhne der jeweiligen Wirtschaften verdienen. Vgl. URL: www.asfromania.ro [01. 02. 2014]. 26 Über die Ereignisse im Dezember 1989 und die Rolle der Kirchen siehe meinen Beitrag: Preda 2009. Über die Migration nach der Wende als Politikum siehe Sandu 2012.

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Westeuropa entstanden sind. Gleich hier ein methodologischer Hinweis: Die genaue Zahl der im Ausland lebenden Rumänen ist nicht einfach auszumachen. Es wird immer wieder von über ca. drei Millionen gesprochen.27 Die Behörden in Bukarest haben jedoch viele Bürger gar nicht als ausgewandert verzeichnet, eine indirekte Folge der Reisefreiheit innerhalb der EU; so lässt sich auch die Konfusion im Sommer 2012 verstehen, als es bei den innenpolitischen Auseinandersetzungen um die korrekte Zahl der Wahlberechtigten ging. Die sog. „i stranieri“ (die Fremden) sind somit weder in Rumänien noch in Auswanderungsländern vollständig statistisch erfasst, da sich nicht wenige Rumänen entweder illegal im westlichen Ausland aufhalten oder ein kontinuierliches Hin und Her pflegen: Abhängig von den Wetterbedingungen und den Beschäftigungsverhältnissen, vor allem in der Landwirtschaft oder in der Bauindustrie, verändern sich die Reiseströme aus Rumänien und zurück permanent. Mit der Wirtschaftskrise ist erneut mit einem Anstieg von Migrationsbewegungen in beide Richtungen zu rechnen. Das Ausmaß der rumänischen Diaspora in Europa, aber auch darüber hinaus, lässt sich anhand anderer Zahlen genauer umreißen: Vor 2008, also bevor die Finanzkrise ausbrach, haben die im Westen lebenden Rumänen weit über fünf Milliarden Euro jährlich transferiert und avancierten dadurch zum größten kollektiven Direktinvestor in Rumänien.28 Diese Finanzspritze ermöglichte nicht nur einen stabilen Wechselkurs der einheimischen Währung im Vergleich zum Euro und einen Immobilienboom, gefolgt von einer weniger intensiven Flaute, sondern sicherte im Allgemeinen auch die Kaufkraft einer sonst tief verschuldeten Bevölkerung. Neue Realitäten sind durch das Einfließen des Geldes entstanden. Symptomatisch ist beispielsweise der Bau von großen Häusern in Dörfer wie Feldru (nahe Nasaud, in Siebenbürgen) oder Certeze (in Maramuresch, an der Grenze zur Ukraine), wo eine ganze Generation auswanderte und ihre Verbundenheit mit den heimischen Wurzeln durch riesige Häuser, die meistens an schlechten Geschmack grenzen, sichern und zur Schau stellen 27 Diese Zahl wird vom Rumänischen Statistischen Institut als Hypothese avanciert. Nach der jüngsten Volkszählung vom Oktober 2011 leben in Rumänien 20.121.641 Personen, 1.559.300 weniger als bei der vorherigen Volkszählung von 2002. 2011 waren nur 727.500 Personen registriert – jene, die im Ausland mehr als ein Jahr wohnen. Vgl. die Homepage des Instituts URL: http://www.insse.ro/cms/ [01. 02. 2014]. Der Institutsdirektor sagte im Sommer 2013 der Presse, dass die offizielle Zahl der Auswanderer nur zu 30 % der Realität entspricht, URL: http://www.mediafax.ro/social/recensamant-2011 – 727 – 500-de-persoane-plecate-instrainatate-aproximativ-o-treime-din-cifra-reala-11085874 [01. 02. 2014]. Auf der politischen Ebene gibt es seit Jahren einen Departement für die Rumänen von überall innerhalb des Außenministeriums, die einst als eigenständige Institution agierte und jetzt eine bürokratische Teilautonomie hat. Siehe URL: http://www.dprp.gov.ro [01. 02. 2014]. 28 In den acht Jahren vor 2012 haben die Rumänen insgesamt 36,2 Milliarden Euro ins Land transferiert. Siehe den Überblick über den Geldflusses auf der Seite der rumänischen Zentralbank, URL: http://www.bnro.ro/Raportari-catre-BNR-731.aspx [01. 02. 2014].

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wollen. Abseits solcher Exzesse der Auswanderer erfährt auch das Dorfleben tiefgreifende Änderungen demographischer, kultureller und auch religiöser Art.29 Aber nicht nur die äußere Stilistik auf dem Dorf oder in den Städten erfuhr massive Veränderungen: auch die gesellschaftliche Struktur, in erster Linie die der Familie, veränderte sich rasant. Schon in den 1990er Jahren, im Zuge der Umwälzungen von der Plan- zur Marktwirtschaft, waren viele Menschen gezwungen, Arbeitsmöglichkeiten im Ausland zu suchen. Da die Arbeitsbedingungen oftmals ungeklärt waren und blieben, ließen viele Arbeitsmigranten ihre Kinder zu Hause zurück. Die Großeltern oder andere Verwandte übernahmen deren Fürsorge. Was als provisorisch gedacht war, entwickelte sich mit der Zeit zu einer Mutation, die sich als Teilverwaisung umschreiben lässt. In manchen Regionen von Rumänien, vor allem in der ärmlichen Moldau (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Republik!), ist auf diese Weise eine Generation herangewachsen, bei der das Fehlen der Eltern tiefe seelische Spuren hinterlassen hat. Das Arbeitsministerium in Bukarest zählte 2012 fast 80 000 Kinder, deren ein oder beide Elternteile im Ausland arbeiteten und vermutlich auch weiter dort arbeiten werden. Noch konkreter : Bei 57 304 rumänischen Familien hält sich mindestens ein Familienmitglied arbeitsbedingt außerhalb des Landes auf, in 15 889 Familien fehlen langfristig beide Elternteile. 22 000 Minderjährige befinden sich in der Fürsorge von anderen Verwandten ohne jegliche soziale Sicherung. 2012 wurden um die tausend Kinder unter staatliche Obhut gestellt, für 142 von ihnen konnte ein neues Zuhause in Form einer Gastfamilie gefunden werden. Weiterhin sind 500 Kinder Verwandten vierten Grades anvertraut, wobei zusätzlich die sozialen Institutionen ein Auge auf sie haben. Der Rest befindet sich in einer sehr unklaren Situation, d. h. sie sind ohne jegliche Versicherung.30 Das Problem der alleine gelassenen Kinder ist nicht zu unterschätzen und zeigt, was hinter der Immigration an Rissen und Tragödien steckt. Die regelmäßig überwiesenen Geldsummen, die einem Kind den Kauf von teuren Gütern ermöglichen, können die Liebe der Eltern nicht ersetzen. So berichtet die rumänische Presse immer wieder von alleingelassenen Kindern oder über solche, 29 Siehe hier die Studie von Nemenyi 2009; Anghel / Horvath 2009. 30 Die Seite des rumänischen Arbeitsministeriums (teilweise auf Englisch) mit Daten für die Jahre 2008 – 2013: URL: http://www.copii.ro/alte_categorii.html [01. 02. 2014]. Der Gesetzgeber hat im neuen Gesetz 257/2013 eine extra Sektion für den Schutz von Kindern, deren Eltern im Ausland arbeiten. So sind diese verpflichtet, eine Abwesenheit, die mehr als ein Jahr beträgt, bei den örtlichen Behörden vor der Abreise zu melden und die Namen der Betreuer anzugeben. Siehe den Text des Gesetzes 257/2013 in Monitorul Oficial 607 (30. 09. 2013) URL: http://www.lege-online.ro/lr-LEGE-257 %20 – 2013-%28151618 %29.html [01. 02. 2014].

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die sich das Leben genommen haben. Abgesehen von der Sensationsgier der Medien, ist die Tragik solcher Familien eine Tatsache, welche die Politik, aber auch die Kirchen auf den Plan gerufen hat. Die Scheidungsrate in der rumänischen Diaspora wächst von Jahr zu Jahr, so dass die Eltern zu ihren Kindern zurückkommen, ohne eine Familie zu bilden. Dem Drama folgt der Schock des Zusammenbruchs der lang ersehnten Heimat. Alles in allem: Die Familie hat für den mehr oder weniger stabilen Wohlstand einen schmerzlichen Preis bezahlt. Man kann sogar sagen, dass das Ziel, ein normales Leben führen zu können, die Familien in die Flucht getrieben hat. Das zweite Indiz, das die tatsächliche Größe der rumänischen Diaspora nach der Wende erkennen lässt, ist die Zahl der religiösen Gemeinden. Im Ausland gibt es nach Angaben des Patriarchats in Bukarest inzwischen zehn rumänische orthodoxe Eparchien/Diözesen, dazu kommen drei weitere, die sozusagen „reaktiviert” wurden.31 Es handelt sich um die ehemals zur Rumänischen Orthodoxen Kirche gehörenden Eparchien in der Republik Moldau. All diese kanonischen Strukturen, die für die weltweit lebenden Rumänen zuständig sind, werden von 760 Klerikern betreut. Der rumänische Staat beteiligt sich an der Finanzierung der ca. 600 Priester in der Diaspora: 165 in Italien, 116 in der Republik Moldau, 94 in Spanien, 46 in Deutschland, 44 in Frankreich, 20 in England, 15 in Ungarn, 13 in Belgien, sechs in Serbien und vier in Israel. Der monatliche staatliche Beitrag liegt bei etwa 200 000 Euro.32 Beim Bau von Kirchen nehmen sogar oftmals die Gemeinden selbst das Heft des Handelns in die Hand und begnügen sich nicht länger mit einem provisorischen Status. So sind allein 2012 vier neue orthodoxe Gotteshäuser in Atlanta (USA), Ciupria (Serbien), Cuneo und Canicatti (Italien) eingeweiht worden. Zudem wurde ein Teil einer neugebauten rumänischen Kirche in Berlin gesegnet. Weitere Projekte befinden sich in verschiedenen Stadien der Umsetzung: die Bischofskathedrale von Madrid, das kirchliche Zentrum von München, die Kirche in Johannesburg, weitere zwei Zentren in Malainita und Isacova (Serbien), die Vertretung der Rumänischen Orthodoxen Kirche bei den europäischen Institutionen in Brüssel, das Pilgerzentrum in Jericho in den palästinensischen Autonomiegebieten.33 All 31 Die organisatorische Struktur der Rumänischen Orthodoxen Kirche ist in deren Statuten festgelegt. Siehe die deutsche Fassung: Rumänische Orthodoxe Metropolie von Deutschland, Zentral- und Nordeuropa 2012. 32 Siehe die Informationen auf der Seite der Rumänischen Orthodoxen Kirche, URL: http:// www.patriarhia.ro/ro/administratia_patriarhala/sectorul_comunitati_externe.html [01. 02. 2014]. Siehe zusätzlich die Daten auf der Seite des Staatssekretariats für die Kulte (Religionsgemeinschaften), http://www.culte.ro/ [01. 02. 2014]. Siehe auch Ionita˘ / Frunza˘ / Stirbu 2008. 33 Was die Präsenz der multinationalen Orthodoxie in Westeuropa und vor allem im deutschsprachigen Raum angeht, so gibt der Verband aller orthodoxen Diözesen in Deutschland keine Prozente an, aber dafür die Zahl der Gemeinden und Geistlichen bun-

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diese Vorhaben werden durch einen Mix aus staatlichen Subventionen (aus Rumänien und/oder aus dem Gastland) und privaten Spenden finanziert. Der Bau der neuen Kathedrale in Bukarest, der auch von verschiedenen Gemeinden und Einzelpersonen aus dem Ausland unterstützt wird, ist dabei ein Beispiel, dass die Geldströme in beide Richtungen fließen. Vom Hl. Synod der Rumänischen Orthodoxen Kirche wurde auf der Sitzung vom 25./26. Februar 2009 ein „Sonntag der rumänischen Migranten” – der erste Sonntag nach dem 15. August – ausgerufen.34 Sein Zweck ist ein doppelter: auf die Situation der sog. Diaspora im Heimatland aufmerksam zu machen und den im Ausland lebenden Rumänen ein Zeichen der Verbundenheit zu vermitteln. Leider werden die verschiedenen gemeinsamen Verlautbarungen zwischen der Kirche und dem Staat, mehr für die Familien der Rumänen im Ausland zu unternehmen, mangels Finanzierung nur sehr schleppend umgesetzt. So blieb das jüngste Protokoll zwischen der Rumänischen Orthodoxen Kirche und dem schon erwähnten „Departement für die Rumänen von überall“, unterzeichnet am 16. Oktober 2012, bis dato folgenlos.35 Darin spiegelt sich nicht nur die kritische Lage der Staatsfinanzen wider, sondern auch die unreife Konstruktion des Sozialsystems. Auch mehr als 20 Jahre nach dem politischen Umbruch ist Rumänien noch immer Geisel von nicht durchdachten und unfertigen Reformen – ein Zustand, der das Engagement der Kirchen, allgemein gesprochen, unnötig erschwert. Das Fehlen einer Strategie kann folgerichtig nicht durch Wunschbekundungen wegretuschiert werden. Auch das Protokoll älteren Datums – Hauptthema: Unterstützung der sozialen Arbeit der Kirche – zwischen der Rumänischen Orthodoxen Kirche und der Regierung, feierlich unterzeichnet am 2. Oktober 2007 durch den amtierenden Patriarchen und den damaligen Ministerpräsidenten, blieb bis jetzt ebenfalls ohne spürbare Wirkungen.36 Ein desweit: 394 Gemeinden und feste Gottesdienststätten, die von 264 Geistlichen (10 Bischöfe, 220 Priester, 26 Diakone und 8 Hypodiakone) betreut werden. Vgl. URL: www.kokid.de [01. 01. 2006]. Die Statistik Austria gibt die Zahl von 74 253 Orthodoxen im Lande an. Vgl. URL: www.statistik.at [01. 06. 2007]. Siehe dazu Preda 2008. 34 Siehe die Homepage des Pressezentrums des rumänischen Patriarchats, URL: http://basilica.ro/stiri/anul_acesta_in_patriarhia_romana_ziua_de_16_august_este_duminica_migrantilor_romani.html [01. 02. 2014]. 35 Siehe Details darüber URL: http://basilica.ro/stiri/bprotocol_de_colaborare_intre_patriarhia_romana_si_departamentul_pentru_romanii_de_pretutindenib_5060.html [01. 02. 2014]. Das Protokoll ist übrigens nur für ein Jahr unterzeichnet. Über einer Verlängerung sind keine Informationen zu finden. 36 Siehe den Text mit dem Titel „Kooperationsprotokoll auf dem Gebiet der sozialen Inklusion zwischen der Regierung von Rumänien und dem Rumänischen Patriarchat” (Original: Protocol de colaborare „n domeniul inclusiunii sociale „ntre Guvernul Rom–niei s‚ i Patriarhia Rom–na˘) auf der Unterseite der Abteilung für die soziale Arbeit des Patriarchats, URL: http://www.patriarhia.ro/ro/opera_social_filantropica/biroul_pentru_asistenta_social_filantropica_2.html [01. 02. 2014].

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ähnliches Protokoll mit nicht vorhandener Umsetzung wurde von der rumänischen Regierung mit der katholischen Bischofskonferenz zwei Monate später, am 4. Dezember 2007, unterzeichnet.

4.

Die delokale Orthodoxie: eine ekklesiologische Herausforderung

Die Entwicklung Europas im 20. Jahrhundert – angefangen mit der Neubestimmung der nationalen Grenzen bis hin zur Implementierung des Einigungsprozesses der EU sowie die massive Präsenz der Ostkirche im Westen – stellt für die orthodoxe Kirche und Theologie eine gewaltige Herausforderung dar. Es kann auch nicht anders sein. Einige Zahlen mögen vor Augen führen, warum Europa für die Orthodoxie ein Pflichtthema ist. So befinden sich von den weltweit 16 kanonischen autokephalen und autonomen orthodoxen Kirchen 12 in Europa und davon 8 in EU-Ländern. Die “EU-Orthodoxie” setzt sich von Norden bis Süden wie folgt zusammen: Finnland, Polen, Tschechien, Slowakei, Rumänien, Bulgarien, Griechenland und Zypern. In Finnland stellt die orthodoxe Kirche neben der lutherischen Kirche die zweite Staatsreligion. Das mehrheitlich katholische Polen gehört auf dieser Liste, weil die lokale Orthodoxie, die vor allem im Osten des Landes präsent ist, als eigene autonome Kirche organisiert ist. Obwohl Tschechien und die Slowakei politisch nicht mehr ein Land bilden, sind sie doch kirchlich immer noch eine Einheit, so dass sich das Oberhaupt der orthodoxen Kirche der Slowakei in Prag befindet.37 Streng genommen, ist die Orthodoxie der heutigen Realität kein orientalisches Gebilde mehr und kann auch nicht als solche verstanden werden. Es sei denn, man würde der Gegenwart die Vergangenheit vorziehen. Wie europäisch die Orthodoxie inzwischen geworden ist, zeigt sich am Beispiel der konfliktbeladenen Diskussion um die sogenannte Diaspora im Westeuropa. Es ist nicht ohne Grund, dass das Thema ganz oben auf der Liste der offenen und zu lösenden Probleme des seit längerem vorbereiteten panorthodoxen Konzils steht.38 Der Begriff „Diaspora“ selbst ist unter Kanonisten um37 Ein Überblick über die orthodoxen Kirchen in Europa aus der Sicht der jeweiligen Gesetzgebung in den EU- und Nicht-EU-Ländern (Griechenland, Zypern, Bulgarien, Rumänien, Finnland, Estland, Ukraine, Westbalkan und sogar Türkei) ist im Jahrbuch der Gesellschaft für das Recht der Ostkirchen, Kanon XX (2008) zu lesen. Die Beiträge gehen auf einen Kongress zurück, der in Cluj-Napoca im September 2007 stattfand. 38 Siehe über die Vorbereitung des Konzils Jensen 1986; Papandreou 1997. Die bereits erfolgten Etappen sind dokumentiert in Kallis 2013. Wie die aktuelle Debatte läuft, kann man anhand der Acta einer wichtigen Tagung in Paris, im Oktober 2012 lesen: siehe die im Französisch sprechenden Raum wichtigste Zeitschrift für orthodoxe Theologie Contacts 243 (2013), v. a.

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stritten, da das Christentum nicht exklusiv territorial und ethnisch zu verstehen ist und daher keine christliche „Diaspora“ entstehen kann. Die Kirche Christi ist eben an jedem Ort, wo Eucharistie gefeiert wird und die christliche Einheit bildet sich als communio ecclesiarum. Die Universalität der Kirche ist der Ausdruck der Gemeinschaft aller lokalen Gemeinden, die ihrerseits universal sind, weil sie den Kontakt miteinander halten. Das schließt eine Einteilung zwischen „drinnen“ und „draußen“ aus. Gemäß dieser genuinen Ekklesiologie, die hier nur sehr knapp dargestellt werden kann, wurde die Pentarchie des ersten christlichen Jahrtausends – Rom, Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien und Jerusalem – als Mittel zur Bewahrung der kirchlichen Gemeinschaft verstanden. Erst mit der verstärkten Ethnisierung im zweiten Jahrtausend und der Etablierung in der Moderne der nationalen Kirchen verlor die Orthodoxie die Balance zwischen Lokalität und Globalität. Der Nationalismus erwies sich, wie fast alle Produkte der Moderne, als ambivalent. Einerseits war der Kampf um die nationale Selbstbestimmung historisch gesehen nachvollziehbar. Die Art und Weise, in der etwa Konstantinopel oder Moskau sich anderen Kirchen gegenüber – z. B. Griechen versus Albanern und Bulgaren oder Russen versus Georgier – kolonial gerierten, rechtfertigte die Bestrebung nach politischer und kirchlicher Unabhängigkeit. Die Welle der kanonischen Emanzipation durch das Ausrufen und den Erhalt der autonomen oder autokephalen Statuten (sofort oder später) war rasant: 1833 Griechenland, 1884 Ungarn, 1860 Bulgarien, 1878 Serbien, 1885 Rumänien, 1917 die Ukraine, 1917 Georgien, 1918 Bessarabien (heutige Republik Moldau), 1923 Estland, 1928 Lituanien, 1936 Lettland, 1936 Albanien, 1942 Weisrussland, 1967 Mazedonien. Andererseits hat die nationale Dimension alle anderen theologischen Aspekte vereinnahmt und das Lokale zum Nachteil der Universalität verabsolutiert.39 Damit wurde der Weg für eine nur an den politischen Grenzen orientierte Pastoral freigemacht. Die Umwälzungen sowohl nach den zwei Weltkriegen des 20. Jahrhunderts wie auch vor und nach dem Kommunismus – d. h. zum einen, dass die Grenzen neugezogen wurden und sich fortan Teile der Mutterkirche außerhalb des Vaterlandes befanden, zum anderen auch die ständig wachsende sog. Diaspora – haben diese Auffassung massiv in Frage gestellt. Die Zunahme der orthodoxen Gemeinden aller ethnischen Couleurs im Westeuropa und darüber hinaus hat keine grundsätzliche theologische Revision mit sich gebracht. Die faktische Praxis hatte immer Vorrang vor der Theologie – ein Umstand, der heute erklärt, warum ein Mittelweg so schwierig zu finden ist. Um mich hier nur auf die sog. Diaspora der orthodoxen Gläubigen im 455 – 497. Das Thema beschäftigte auch die Gesellschaft für das Recht der Ostkirchen, Jahrbuch der Gesellschaft für das Recht der Ostkirchen, Kanon XXII (2012). 39 Siehe Preda 2010.

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deutschsprachigen Raum zu begrenzen: So haben sich alle Nationalkirchen bemüht, neue Strukturen unabhängig voneinander aufzubauen. Das Moskauer Patriarchat hat schon 1948 ein Bistum für die in Ostdeutschland lebenden orthodoxen Russen gegründet. 1960 wurde ein Bistum für Westdeutschland mit Sitz in München kreiert, das 1971 in zwei weitere Diözesen geteilt wurde: eine für Bayern und Baden-Württemberg mit Sitz weiterhin in München, und eine für das restliche Westdeutschland mit Sitz in Düsseldorf. Nach der Wiedervereinigung 1990 sind alle drei Strukturen in einem Bistum Berlin der Russisch-Orthodoxen Kirche des Patriarchats von Moskau zusammengeschmolzen. Dazu kam nach der Versöhnung mit der Mutterkirche 2007 die Diözese Berlin. 1963 gründete das Ökumenische Patriarchat eine griechisch-orthodoxe Metropolie für Deutschland mit Sitz in Bonn. 1969 entstand das serbisch-orthodoxe Bistum für Westeuropa mit Sitz in Hildesheim. 1993 gründete das rumänische Patriarchat eine rumänisch-orthodoxe Metropolie für Deutschland und Nordeuropa mit Sitz in Nürnberg (am Anfang in Regensburg). Ein Jahr später erblickte das bulgarisch-orthodoxe Bistum für West- und Mitteleuropa mit Sitz in Berlin das Licht der Welt. 2003 wurde das Bistum Westeuropa der georgisch-orthodoxen Kirche registriert, übrigens ohne einen ständigen Sitz in Deutschland. Insgesamt agieren allein in Deutschland Bistümer oder Diözesen von sieben autokephalen orthodoxen Kirchen. Nach dem Vorbild der 1960 ins Leben gerufenen „Standing Conference of Canonical Orthodox Bishops in America“ (SCOBA) und gemäß der Empfehlungen der Vorbereitungskommission des panorthodoxen Konzils von 1990 und 1993, konstituierte sich 1994 „Die Kommission der Orthodoxen Kirchen in Deutschland“. Schon der Titel wies auf den theologischen Mangel – mehrere kanonische Jurisdiktionen an einem Ort – hin. 1997 wurde der Name geändert bzw. korrigiert: „Kommission der Orthodoxen Kirche in Deutschland – Verband der Diözesen“. Den Beschlüssen der IV. Vorkonziliaren Panorthodoxen Konferenz vom 6.–13. Juni 2009 in Chambesy/Genf folgend40, löste sich die Kommission am 27. Februar 2010 auf und an ihrer Stelle wurde eine „Orthodoxe Bischofskonferenz in Deutschland“ gegründet. Dabei handelt es sich nicht um bloße Namen, sondern um die Suche nach einer organisatorischen Lösung für die theologische Inkonsequenz. 1963 entstand die Metropolie des Ökumenischen Patriarchats für Österreich mit der Funktion eines Exarchats für Italien, Schweiz und Ungarn. Diese Struktur wurde 1967 durch ein Gesetz vom österreichischen Staat anerkannt. 1991 begann in den öffentlichen Schulen der Republik der Religionsunterricht im Fach „Orthodoxe Religion“. Am 8. Oktober 2010 nahm auch in Österreich eine Orthodoxe Bischofskonferenz die Arbeit auf. 2011 beschloss die Synode der serbischen Orthodoxen Kirche die Errich40 Siehe die Beschlüsse bei Kallis 2013.

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tung einer Diözese für die in Österreich lebenden Serben, die größte Gruppe unter den Orthodoxen in der Alpenrepublik. Was die Schweiz betrifft, sind die Versuche, die orthodoxen Vertreter an einem Tisch zu versammeln, fehlgeschlagen. Es wurde zwar 2006 eine „Arbeitsgemeinschaft Orthodoxer Kirchen in der Schweiz“ mit Sitz in Zürich gegründet, aber weil unter den Mitgliedern auch orientalisch-orthodoxe Kirchen (i. e. jene Kirchen, die das Ökumenische Konzil von Chalcedon 451 nicht akzeptieren) waren und die griechische Metropolie ihre Mitarbeit verweigerte, löste sich die Gemeinschaft 2009 auf. Wenn die zentrale theologische Frage – Wie kann Pastoral in einem multiethnischen Kontext erfolgen, ohne dass sich die orthodoxen Mutterkirchen „tribal“ verhalten – nicht ohne weiteres zu beantworten ist, dann wäre zu erwarten, dass die Orthodoxen in Westeuropa zumindest einem Dritten gegenüber, etwa dem Staat oder den europäischen Institutionen gegenüber, mit einer Stimme sprechen könnten. Religionsunterricht an den staatlichen Schulen, Kranken- und Gefangenenseelsorge, soziale Arbeit wie die Begleitung der Ausgebeuteten oder der Opfer von Menschenhandeln: Das sind Themen, die nur gemeinsam anzugehen sind. Zusammenhalt kann und wird so auch neu entdeckt. Dies geschieht bereits, bevor die Kanonisten und die Bischöfe zu einer Lösung auf dem panorthodoxen Konzil kommen (mögen).

5.

Statt einer Zusammenfassung: Wohin des Weges?

Wie nun hoffentlich deutlich gezeigt wurde, hat die Frage der Migration aus orthodoxer Sicht gleichermaßen politische und religiöse Relevanz. Aus beiden Perspektiven bleibt für die Orthodoxie noch viel zu unternehmen. Um exemplarisch auf die Lage der im Ausland lebenden Rumänen zurückzukommen: Eine Verbesserung wäre durchaus möglich, unter anderem dann, wenn das Thema als solches ernster genommen würde. Die Politik etwa geht mit den ca. drei Millionen Rumänen außerhalb des Landes nicht angemessen um. So ist bis heute die Frage des Wahlrechts immer noch nicht gänzlich geklärt. Die Stimmabgabe per Post ist ein Projekt, über das noch kein politischer Konsens erzielt werden konnte. Die soziale Integration und eine Vertretung bei Arbeits-, Gesundheits- und Bildungsfragen stehen auch nicht immer auf der Prioritätenliste der rumänischen Institutionen im Ausland. Vor diesem Hintergrund hat vielmehr die Zahl der Missbräuche stark zugenommen: Der Menschenhandel floriert zurzeit, genauso wie die Ausbeutung von recht- und verteidigungslosen Armen, die für ein besseres Einkommen das Weite gesucht haben.41 Zudem ist 41 Informationen über den Menschenhandel 2013 sind auf der Homepage der US-Botschaft in Bukarest zu finden, URL: http://romania.usembassy.gov/2013_tip_en.html [01. 02. 2014].

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auffallend, dass es immer noch – obwohl die Frage der Migration ja keine neue Entwicklung mehr ist – an Feldstudien fehlt, die der Politik Lösungen offerieren könnten. Da solche Untersuchungen viele Ressourcen in Anspruch nehmen, um wirklich soziologisch und anthropologisch repräsentativ zu sein, gibt es in der rumänischen Fachliteratur äußerst wenige Referenzen. Anders gesagt, es fehlt an klarer Sicht. Obwohl im Bukarester Parlament Vertreter der Diaspora sitzen, ist deren Stimme sehr leise und kaum zu hören. Die Probleme der Rumänen und der anderen Gruppen in Westeuropa – die meisten davon betreffen die Familie und den Lebensstandard – spiegeln letztendlich den langen Weg von einem politischen und wirtschaftlichen zu einem sozialen Europa wider.42 Dass die Wirtschaftskrise die Lage noch verschärft hat, darf nicht entmutigen. Im Gegenteil: Es liegt in der Logik jeder Krise, dass dadurch neue Initiativen gesetzt und mehr Energien freigesetzt werden müssen. Was die orthodoxe Kirche und ihre Theologie betrifft, so stellt, wie schon gezeigt, die sog. Diaspora eine unumgehbare Provokation dar. Dass durch die Auswanderung neue Probleme sowohl in der Heimat wie auch im Gastland entstehen, ruft die Pastoral auf den Plan. In den meisten Ländern Osteuropas, wo es Mehrheitskirchen gibt, sieht sich die Orthodoxie zunehmend mit dem Ruf nach mehr sozialem Engagement konfrontiert. Das kann aber nur dann Bestand haben und nicht dem Aktionismus anheimfallen, wenn der Praxis eine Vision vorangeht. Seit mehr als einem Jahrzehnt gibt es etwa in Rumänien ein neues Fach an den theologischen Fakultäten: Die orthodoxe Sozialtheologie oder die Ethik der Ostkirche.43 Auf diesem akademischen Gebiet wird Fragen wie dem Zusammenwirken von theologischen und sozialen Faktoren im Leben der orthodoxen Christen, Armut, Korruption, Migration u.v.m. nachgegangen. Im Falle der Migrationserfahrung, die in den vergangenen Jahren auch ältere Menschen betrifft, die nach einem besser bezahlten Arbeitsplatz suchen, drängen sich mehrere ethische Fragen auf. Zum Beispiel: Ist es ethisch verantwortbar, dass Rumänien Arbeitskräfte exportiert, die aber der Heimat fehlen werden? Wenn im Gesundheitssystem und in der Pflege aufgrund der demographischen Entwicklung in Zukunft sogar mehr Personal benötigt wird: Wie könnte die Ressourcenhemoragie minimiert werden? Kann dazu die Kirche nicht ihre prophetische Stimme erheben und nach gerechteren Arbeits- und Lohnpolitiken verlangen? Auch wenn die Rumänen im Ausland leben und arbeiten, so sind die sozialen Ungleichheiten, die sie beeinträchtigen, nicht verschwunden. Kann sich die Pastoral in der sog. Diaspora vorstellen, auch eine 42 Siehe dazu die Serie von Studien mit dem Titel Health and Social Care for Migrants and Ethnic Minorities in Europe (HOME) unter URL: http://www.cost.esf.org/domains_actions/ isch/Actions/IS0603 [01. 02. 2014]. Es handelt sich um ein aus europäischem Geld finanziertes Projekt, das in mehreren Bänden dokumentiert ist. 43 Siehe dazu Preda 2013.

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korrigierende Funktion vor Ort zu übernehmen? Seit 2007 Teil der Europäischen Union hat Rumänien immer noch erhebliche Schwierigkeiten, die vom funktionierenden Rechtsstaat bis hin zu den Versicherungs- und Rentensystemen reichen oder eine substantielle Integration betreffen, bei der sich Rumänien zum Besseren verändert. Wäre es in diesem Kontext nicht hilfreich, dass Migration in beide Richtungen als Instrument der Integration benutzt wird? Hätte hier die Sozialethik der Kirche nicht vielleicht etwas Relevantes beizutragen? Welche sozialtheologischen Erfahrungen der Gemeinden in der sog. Diaspora können auch für die Heimat relevant sein? Um hier antworten zu können, bräuchte man eine intensivere Ausseinandersetzung in der Theologie mit einem solchen Themenkatalog. Die Teilethiken – wie eben auch die Ethik der Migration – summieren sich in eine Ethik, die uns hilft wahrzunehmen, wie weit die Kirchen vom Evangelium abgekommen sind und wohin überhaupt die Reise führt.

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Radu Preda

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Ednan Aslan

Der Wandel der islamischen Theologie im Westen

1.

Hinführung

Menschliches Handeln beruht nicht allein auf biologischen und physischen Grundlagen, sondern wird maßgeblich durch verschiedene, einem steten Wandel unterworfene soziokulturelle Einflüsse geprägt, konstituiert sich somit in Interaktion mit der Gesellschaft, in der der Mensch lebt. Dem Individuum obliegt es, die in diesem Prozess gewonnenen, oft verunsichernden und widersprüchlichen Erfahrungen zu verarbeiten, in seine Lebenswelt einzuordnen und sie hinsichtlich ihres identitätsstiftenden Potenzials zu beurteilen, um dergestalt geistige Reife zu erlangen, die es zum selbstbewussten Handeln befähigt. Eine Kultur oder Religion, die sich den Fragen der Gegenwart verschließt und nicht die Bereitschaft zum Umdenken zeigt in einer Korrelation zwischen Gegenwart und Geschichte, wird sich auf Dauer nicht aus ihren historischen Ressourcen versorgen können. Die Theologie der großen Religionsgemeinschaft des Islam ist in Europa gegenwärtig einem Wandlungsprozess in Richtung Integration unterworfen, der – auch wenn er Außenstehenden unzureichend oder gar irrelevant erscheint – dazu angetan ist, traditionell gewachsene Strukturen radikal zu verändern und dem Islam in Europa ein neues, in seiner Geschichte bis dato unbekanntes religiöses Gesicht zu verleihen. In diesem Beitrag wird versucht, erste Spuren dieses Wandels in der islamischen Theologie im Hinblick auf religiöse Pluralität und strukturelle Anpassung sichtbar zu machen.

376

2.

Ednan Aslan

Strukturwandel und europäische Prägung einer Theologie

Beim Islam handelt es sich nicht um ein auf eine bestimmte Weltregion einzugrenzendes Phänomen. Seine Gebote, eingeteilt in verschiedene theologische Kategorien1, regeln die Lebensweise eines jeden Muslims, wo immer er lebt.2 Das Wohlgefallen Gottes erwirbt sich ein Mensch nach muslimischem Glauben in dem Maß, in dem er sein Leben entsprechend diesen Kategorien gestaltet.3 Im Grunde genommen kann diesen kategorisierten Ansprüchen nur in einer islamischen Gesellschaft bzw. Gesellschaftsordnung Rechnung getragen werden. Das ist auch der Grund, warum muslimische Gelehrte sehr früh begannen, sich mit Theorien zum muslimischen Leben in einem nicht islamischen Land zu beschäftigen. Ein solches sollte nur jenen Muslimen gestattet sein, denen ein islamisches Land nicht offensteht. Wann immer möglich, sollte ein Muslim eine nicht-islamische Gesellschaft aber verlassen.4 „Zu denjenigen aber, die glauben und nicht ausgewandert sind, habt ihr kein Schutzverhältnis, bis sie auswandern.“ (Sure 8,72) „Diejenigen, die die Engel abberufen, während sie sich selbst Unrecht tun, (zu jenen) sagen sie: ’Worin habt ihr euch befunden?’ Sie sagen: ’Wir waren Unterdrückte im Lande.’ Sie (die Engel) sagen: ’War Allahs Erde nicht weit, so dass ihr darauf hättet auswandern können?’ Jene aber, – ihr Zufluchtsort wird die Hölle sein, und (wie) böse ist der Ausgang! Ausgenommen die Unterdrückten unter den Männern, Frauen und Kindern, die keine Möglichkeit haben auszuwandern und auf dem Weg nicht rechtgeleitet sind. Jenen wird Allah vielleicht verzeihen. Allah ist allverzeihend und allvergebend.“ (Sure 4, 97 – 99)

Neben diesen Koranstellen gibt es auch Aussagen des Propheten selbst, die Muslimen das Verlassen einer nicht islamischen Gesellschaft nahelegen: „Ich distanziere mich von den Muslimen, die unter den Nichtmuslimen leben.“5

Ein Leben in einem nicht islamischen Land wurde stets als eines wahrgenommen, das die Gefahr der Assimilierung und Abweichung vom Islam birgt: „Außerhalb einer islamischen Gesellschaft zu leben verursacht das Gefühl der Einsamkeit und Minderwertigkeit. Durch das Minderwertigkeitsgefühl neigt man sich zu 1 Islamische Theologie teilt die Handlungsanweisungen von Gott in fünf Kategorien ein: 1. Pflicht (arab. fard bzw. wadschib), 2. Freiwillige gute Tat (arab. mandub), 3. Erlaubte Handlung (arab. mubah), 4. Verpönte Tat (arab. makruh), 5. Verbot (arab. haram.). Vgl. Toumi 2006, 31. 2 Toumi 2006, 35 – 40. 3 Jegliches Ansinnen, sich diesen Kategorien zu widersetzen, hat für Muslime Konsequenzen sowohl im Diesseits als auch im Jenseits. 4 Lewis 1991, 77. 5 Tirmidhi 1931, B4, 42.

Der Wandel der islamischen Theologie im Westen

377

den Nichtmuslimen. Obwohl der Islam von den Muslimen ein Leben mit Würde und Stolz verlangt, dass sie keine andere Autorität außer Gott erkennen. Das ist der Grund, warum der Islam ein Leben außerhalb der islamischen Gemeinschaft verbietet […] Solche Muslime, die in der Lage sind, auszuwandern, aber nicht auswandern, wie die Aussage des Propheten bestätigt, gehören nicht mehr zum Islam.“6

Diese theologische Position überdauerte auch die Periode der Kolonialisierung der islamischen Länder durch die westlichen Staaten, wiewohl gleichzeitig erste Ansätze eines innerislamischen Diskurses über das „Islamische“ in den islamischen Ländern aufkamen.

3.

„Westliche Überlegenheit“ und islamische Theologie

Die Gründe für den Niedergang des islamischen Reiches waren ein zentrales Thema muslimischer Theologen. Ein Teil der Theologen – jener, der starr einer unwissenschaftlichen „Schreibtischtheologie“ verhaftet blieb – kam zu dem Schluss, dass dieser allein in der Abweichung vom Gesetz Gottes auszumachen sei, ohne freilich benennen zu können, welches Gesetz Gottes gemeint war.7 Nach den reformorientierten Theologen Dschamal ad-Din Al-Afghani und Muhammad Abduh war eine der Hauptursachen für die in den islamischen Ländern konstatierte Misere das Ausbleiben der Weiterentwicklung der islamischen Theologie bzw. die Hegemonie der Religionsgelehrten (ulama). Diese hätten aus – unangebrachtem, moralisch anmaßendem – Überlegenheitsdenken und der für eine Hochkultur typischen Dekadenz und Selbstzufriedenheit heraus keinerlei Drang zur Erneuerung verspürt: „Alle Fragen seien beantwortet, die Schari’a sei das ein für alle Mal festgelegte Modell für die muslimische Gesellschaft und die Idschtihad (Erneuerung) weder erforderlich noch wünschenswert.“8

Al-Afghani und Abduh kritisierten – ganz im Geiste der europäischen Philosophen der Aufklärung – die Verwalter der Religion, die die Muslime entmündigten und sich ihren eigentlichen Aufgaben nicht stellten.9 Dies markierte den Beginn einer Auseinandersetzung mit den im Westen geltenden Werten und einer kritischen Reflexion der eigenen Tradition. Allmählich begann die traditionelle Position, die die Nichtmuslime als „unrein“ bezeichnete und Auseinandersetzungen mit ihnen deshalb vermied, zu bröckeln – zu augenscheinlich war die wissenschaftliche und kulturelle Überlegenheit des Westens. Die Er6 7 8 9

Ibn Hazm o. J., B.VIII, 514 – 515. Armstrong 2007, 64 – 65. Armstrong 2007, 65. Büttner 1971, 65.

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Ednan Aslan

fahrungen zahlreicher Muslime im Zuge wachsender internationaler Beziehungen mit dem Westen – ob als Studierende, Geschäftsleute oder Teil von bikulturellen Ehegemeinschaften – waren ein weiteres ausschlaggebendes Moment dafür, traditionelle und fest verwurzelte Positionen, Vorurteile und Kenntnisse über die Christen zu überdenken.

4.

Die theologische Antwort auf die religiöse Pluralität im Westen

Der islamische Theologe des 12. Jahrhunderts Abu Hamid Muhammad ibn Muhammed Al- Ghazzali, der sich mit den Religionen, vor allem dem Christentum, das Jesus als Sohn Gottes betrachtet und damit der zentralen Botschaft des Islam widerspricht, auseinandersetzte, widmet sich der Beziehung der Nichtmuslime zu Gott vom Standpunkt der muslimischen Überlegenheit. Er stellte Überlegungen darüber an, wie es sich mit deren Stellung in den Augen Gottes verhielte, ob sie Seelenheil erlangen könnten und dergleichen. Er gelangte zur Überzeugung, dass das Heil Gottes allen Menschen, die von Muhammed nie oder nur Unwahres gehört haben, zuteilwerden könne, da sie in Unkenntnis des Propheten als Unwissende gelten. Diese theologische Grundhaltung prägte die Einstellung der Muslime gegenüber den Nichtmuslimen bis in die jüngste Vergangenheit. Für die Vertreter dieser Theologie war es daher unvorstellbar, dass Muslime in einer mehrheitlich christlichen oder jüdischen Gesellschaft leben oder in ihren Institutionen beschäftigt sein sollten – dies käme einem Verrat an der islamischen Theologie gleich.

5.

Auswanderung in nichtmuslimische Länder

Obwohl es seitens der Theologie eigentlich untersagt war, sahen sich Muslime, denen ein Leben in ihren vom Kolonialismus befreiten Ländern aus wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Gründen nicht möglich schien, mehr oder weniger gezwungen, in nicht muslimische Länder auszuwandern. So kamen stolze Muslime, nicht ohne eine gewisse Verbitterung über die wahrgenommene Unterlegenheit, nach Europa – fest entschlossen, sich hier keinesfalls auf Dauer einzurichten. Die Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat wich mehr und mehr der Realität des Alltags, die zwangsläufig ein Aufweichen althergebrachter Denkweisen zur Folge hatte. Allmählich wurden die komfortablen und verlässlichen Strukturen einer auf sozialer und demokratischer Gerechtigkeit beruhenden Gesell-

Der Wandel der islamischen Theologie im Westen

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schaftsordnung ebenso wie die politische Stabilität in Europa als zu schätzende Werte wahrgenommen, die die ursprüngliche, islamische Heimat nicht bieten konnte.10 „In vielen europäischen Ländern sind in den letzten Jahren nationalistische Tendenzen stärker geworden. Zugleich sind aber die Muslime Europas darum bemüht, als gleichwertige Bürger angesehen zu werden. In Frankreich haben zwei Drittel der Muslime einen französischen Pass, sie stehen für ihre Rechte und Pflichten ein. Ähnliches gilt für England und Deutschland. Diese neuen Bürger können sich wegen ihrer Lebens- und Familiengeschichte leichter mit der Idee einer internationalen (europäischen) Identität anfreunden, als mit der eines einzelnen Nationalstaates. Umständehalber sind muslimische Migranten eher zu Europäern geworden, denn manch Angehörige eines Nationalstaates. Außerdem ist der Islam längst zu einer europäischen Religion geworden.“11

Seit Beginn der Arbeitsmigration in den 60er Jahren sind die Muslime mit Erfahrungen konfrontiert, die sie aus ihren Herkunftsländern nicht kennen. Für die Einwanderer nach Europa bestehen die neuartigen Herausforderungen vor allem darin, sich als Minderheit in einer pluralistischen Gesellschaft zu bewähren, an ihr zu partizipieren und sich als Teil dieser Gesellschaft zu identifizieren. In der Geschichte des Islam gab es verschiedene Gesellschaftsmodelle, in denen unterschiedliche Kulturen und Religionen umgekehrt als Minderheiten unter durch den Islam legitimierten Regeln zusammenlebten. Es existierten auch theologische Konzepte, die den vorübergehenden Aufenthalt von Muslimen in einer nicht islamisch geprägten Gesellschaft regelten.12 Der dauerhafte Verbleib in einer pluralistisch-christlich geprägten Gesellschaft als der neuen Heimat stellt die islamische Theologie nun vor eine neuartige Situation – für die klassische Jurisprudenz birgt dieser Umstand vor allem eine die Zukunft der Muslime gefährdende Assimilation. Sie macht geltend, dass der innere Friede nur durch eine ganzheitliche islamische Lebensweise in einer rein islamischen Gesellschaft gewährleistet werden könne, da andernfalls das Gewissen aufgrund allzu vieler Kompromisse zu sehr belastet werde.13 Nun leben die Muslime aber in einer Gesellschaft, die ihre Impulse und ihre Dynamik und folglich auch ihre Regeln längst nicht mehr nur aus dem Glauben bezieht, und daher sind sie aufgerufen, ihre Religion entsprechend neu zu interpretieren. Dies setzt einen intensiven Diskussionsprozess voraus, geht es

10 11 12 13

Tiesler 2004, 191 – 199. Ramadan 2013. Lewis 1991, 71 – 91. Ibn Hazm, 67.

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hierbei doch um nicht weniger als darum, der Religion eine neue Bedeutung im Leben einzuräumen. Durch das Leben in den verschiedenen europäischen Staaten sahen sich die islamischen Theologen genötigt, über ihre Grenzen hinaus zu blicken und sich auch Fragen anzunehmen, die innerhalb ihrer eigenen Geschichte keinen Platz hatten. So begannen die islamischen Gelehrten (ulama) sich allmählich von ihrer traditionellen Umgangsweise mit dem Koran zu lösen und ihre heiligen Texte angesichts der vielfältigen Lebensbedingungen der Muslime in Europa kritisch zu hinterfragen. Als wesentliche Momente gelten dabei die Anerkennung von religiöser Pluralität als Normalfall und die Wahrnehmung der Religion als „diskursiven Gegenstand“, um vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund die eigene Theologie neu zu definieren. Dass die Islamische Glaubensgemeinschaft sich zur pluralistischen österreichischen Gesellschaft bekennt und diese zu ihrer Handlungsgrundlage macht, kann als Ergebnis dieses theologischen Prozesses gewertet werden. „Die Islamische Glaubensgemeinschaft betrachtet es als eine zentrale Aufgabe, Muslimen in Österreich ein wertvoller Partner darin zu sein, die islamische Identität in der Minderheitensituation zu bewahren und sich gleichzeitig positiv in der österreichischen demokratischen pluralistischen Gesellschaft verankert zu sehen. Daher suchen wir den Gedanken der Integration durch Partizipation zu fördern.“14

Eine führende Persönlichkeit dieses Prozesses war zweifelsohne der europäische Intellektuelle Smail Balic, ihm ist neben seinen geistigen Beiträge zur europäischen Prägung des Islam auch die Gründung der IGGiÖ in den 70er Jahren zu verdanken.15 Er war ein vom Säkularismus überzeugter muslimischer Denker und suchte die Wurzeln dieser neuen Theologie in Europa, bzw. versuchte die Widersprüche zwischen Islam und Säkularismus zu klären. Nach ihm zeigt das Modell in Bosnien-Herzegowina, dass europäische Prägung des Islam möglich ist und dieses Modell verursacht keine Widersprüche zwischen einem Staat und Islam.16

14 IGGiÖ 2013. 15 Salim A. Hadzic als einer der ersten Imame in Österreich berichtet, dass Balic entscheidend die Gründung der IGGiÖ vorangetrieben hat: „Die erste Jahresversammlung der Gemeinschaft hat am 15. September 1962 stattgefunden und seitdem war diese Träger der Aktivitäten, die nicht nur für die bosniakische Diaspora zuständig war […], wo Dr. Balic’s Vorlesungen große Aufmerksamkeit hervorgerufen haben. Nach einem ausdauernden Einsatz und Vorlage von zahlreichen Dokumenten wurde am 2. Mai 1979 letztendlich die offizielle Genehmigung der Republik Österreich für die Gründung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich mit Sitz in Wien erteilt.“ (Potz 2009, 85). 16 Balic 2001, 72.

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Die intensiven Begegnungen mit der europäischen Kultur und Religion im Zuge der globalen Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit haben der Beschäftigung mit religiöser Pluralität im Islam zusätzlichen Schwung verliehen. Das Problem des Verhältnisses zwischen den Religionen stellte sich nicht mehr als ein aus dem Weltverständnis von Gelehrten hervorgegangenes abstrakttheologisches Konstrukt dar, sondern als die konkrete Aufgabe eines jeden gläubigen Menschen – in dem Sinn, als es nun galt, eigene theologische Vorstellungen über die Stellung der Christen und Juden im Islam kritisch zu hinterfragen. Eine führende Rolle in dieser kritischen Auseinandersetzung mit der klassischen islamischen Theologie kam den im Westen lebenden muslimischen Theologen und Intellektuellen zu. Sie warfen die – in der Tat berechtigte – Frage auf, ob die Darstellung der Juden und Christen im Koran unreflektiert übernommen werden könne bzw. ob diese Darstellung Juden und Christen auch heute noch ausreichend beschreibe und eine für alle Ewigkeit universelle Geltung habe. Einer der Hauptexponenten dieser Debatte ist der in den USA lebende muslimische Denker Seyyed Hussein Nasr ; er verglich die Wahrheitsansprüche der Religionen mit verschiedenen in sich geschlossenen Sonnensystemen in ein und demselben Universum: „In fact, if there is one really new and significant dimension to the religious and spiritual life of man today, it is this presence of other worlds of sacred form and meaning not as archaeological or historical facts and phenomena but as religious reality. It is this necessity of living within one solar system and abiding by its laws yet knowing that there are other solar systems and even, by participation, coming to know something of their rhythms and harmonies, thereby gaining a vision of the haunting beauty of each one as a planetary system which is the planetary system for those living within it. It is to be illuminated by the Sun of one’s own planetary system and still to come to know through the remarkable power of intelligence, to know by anticipation and without ‘being there’ that each solar system has its own sun, which again is both a sun and the Sun, for how can the sun which rises every morning and illuminates our world be other than the Sun itself ?”17

Nach Nasr ist die Wahrheit zwar absolut und unumstößlich, die Form und die Sprache, in der sie sich offenbart, können jedoch unterschiedlich sein und sogar Widersprüche aufweisen. Die Worte, mit denen die Wahrheit den Menschen nähergebracht werden soll, müssen an deren jeweiliges kulturelles Normensystem anknüpfen – gerade deswegen aber ist nicht Vereinheitlichung, sondern

17 Nasr 1989, 252.

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Vielfalt eine Selbstverständlichkeit, ja sogar der Natur der Schöpfung entsprechend, die sich ebenfalls in immer komplexerer Vielfalt entwickelt.18 Was jedoch alle Religionen – bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Theologien – eint, ist das Versprechen der transzendentalen Erlösung. Diese fundamentale Einheit wahrzunehmen und überhaupt zu ertragen ist dem möglich, der über spirituelle Reife verfügt. Für ihn gibt es nur den einen Gott, der sich in den verschiedenen Kulturen anlässlich verschiedener historischer Begebenheiten auf mannigfaltige Weise offenbart hat. Und diese Einigkeit kann durch keinerlei äußerliche Differenzen zerstört werden. Die Menschen, die durch die Sonne ihrer Propheten geleitet werden, sind auf dem richtigen Weg und werden nicht traurig sein.19 Sie haben ihren festen Platz, ihre Orientierung im Leben – so, wie die Planeten eines Sonnensystems durch das Gesetz der Massenanziehung, das durch die Schwerkraft der Sonne wirkt, in ihren Bahnen gehalten werden. Die von Nasr vertretene Position wird vom Gegenwartstheologen und ehemaligen Präsidenten des Amtes für religiöse Angelegenheiten der Türkei Süleyman Ates geteilt – auch er argumentiert, dass die Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes allen Menschen zuteil wird.20 Ein weiterer türkischer Theologe, Fethullah Gülen, spricht den koranischen Darstellungen von Juden und Christen Verbindlichkeit ab, indem er auf die Historizität des Korans hinweist.21 In einem Zeitungsinterview legte Gülen dar, warum er, nunmehr als Immigrant in den USA lebend, die klassische Position des Islam gegenüber Christen und Juden unter den gegenwärtigen Verhältnissen als nicht mehr zeitgemäß verstehen möchte: „Aspekte für den Pluralismus und die Akzeptanz des Anderen sind die Gleichheit des Menschen vor dem Gesetz, die Glaubensfreiheit, die Erziehung und Unterrichtung im Glauben. Die Prinzipien gelten, solange sie die Rechte anderer nicht beschneiden. Wenn einige Verse des gesegneten Koran dem auf den ersten Blick entgegengesetzt scheinen, muss man die Offenbarungsursachen dieser Verse genau im jeweiligen Kontext ansehen. Entscheidend ist, dass sich diese Verse nicht verallgemeinernd gegen die Personen und Gruppen richten, sondern gegen ihre Haltung und ihr Verhalten. Die islamische Religion hat ihre Beziehung zu den Christen, Juden und Polytheisten nicht auf den Glaubensunterschieden aufgebaut, sondern auf deren Haltung und Verhalten. Bereits der Koran und die Sunna haben die Prinzipien des Zusammenlebens entworfen.“22

18 19 20 21 22

Nasr 1989, 250 – 254. Aslan 2000, 17 – 30. Ates 1989. Gülen 2012a. Gülen 2012b.

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Konträr dazu finden sich Stimmen aus den islamischen Ländern – wie jene von Hayrettin Karaman23 oder dem syrischen Theologen Al-Sabuni –, die die religiöse Pluralität ablehnen und strikt darauf beharren, dass der Islam der Träger der universellen Wahrheit sei bzw. die diejenigen, die in der religiösen Pluralität keinen Widerspruch zum Willen Gottes erkennen, als Häretiker bezeichnen.24 Während also die Menschen bzw. die Theologen in den islamischen Ländern wohl noch lange in einem innerislamischen Diskurs über religiöse Pluralität im Islam engagiert sein werden, stehen jene Muslime, die in christlich geprägten, pluralistischen und säkularen Ländern leben, vor der Aufgabe, ihre Lebensverhältnisse mit Verhältnissen, die sich von jenen in ihren Heimatländern fundamental unterscheiden, verträglich zu machen. Die Herausforderungen, vor denen die islamische Theologie im Westen steht, beschränken sich somit nicht auf die Definition der nichtmuslimischen Religionen im Islam, sondern betreffen auch die Verfasstheit des eigenen Glaubensbekenntnisses.

6.

Strukturelle Anpassung des Islam an die Gesellschaft

Unter den im Westen lebenden Muslimen ist ein einheitliches Interesse an der Anerkennung des Islam als Körperschaft des öffentlichen Rechts zu beobachten, was auch die rechtliche Gleichstellung mit den anderen Religionen einschließt. Deswegen wird die islamische Religion freilich nicht umhin können, sich in Richtung einer ihr wesensfremden Kirchenstruktur zu verändern, was zwangsläufig neue Organisationsstrukturen, Verfahren der Willensbildung, entsprechende Organe und Instanzen, die eigenständig und verbindlich über Lehre und Ordnung zu entscheiden haben, hervorbringen wird.25 Das wird den Säkularisierungsprozess des Islam weiter beschleunigen und für die islamische Theologie Anlass sein, sich aus der Autorität der Rechtsgelehrten zu lösen und ins Zentrum der Gesellschaft zu bewegen. Die islamische Theologie, die in ihrer Geschichte dem nicht islamisch legitimierten Staat26 immer eine periphere 23 Karaman 2013. 24 Unter anderem beruhen die Argumente dieser Theologien auf dem Koranvers: „Kämpft gegen diejenigen, die nicht an Allah und nicht an den Jüngsten Tag glauben und nicht verbieten, was Allah und Sein Gesandter verboten haben, und nicht die Religion der Wahrheit befolgen – von denjenigen, denen die Schrift gegeben wurde, bis sie den Tribut aus der Hand entrichten und gefügig sind!“ (Sure 9, 29). 25 Köhler 2013. 26 Nach dem Ableben des Propheten Muhammed strebten die Muslime einen auf Koran und Tradition des Propheten Muhammed beruhten Staat zu gründen, der ihnen nie gelang. Man wusste zwar, welcher Staat nicht islamisch sei, aber die Frage, wie ein islamischer Staat sein sollte, wurde kaum beantwortet.

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Stellung zuwies, sucht nun die Nähe des Staates als Ansprechpartner für die religiösen Angelegenheiten der Muslime. Für den Islam beginnt damit ein Säkularisierungsprozess, den der klassische Islam als „unislamisch“ ablehnte. Der überwiegende Teil der islamischen Gelehrten sah in der Säkularisierung des Islam eine Gefahr für seine Zukunft und lehnte eine Trennung von Staat und Religion entschieden ab.27 Der konservative muslimische Denker Muhammad Ammara schreibt in seinem Werk „Islamischer Staat zwischen religiösem Fanatismus und Säkularismus“, dass ein säkularer Staat eine Alternative zum religiösen Staat und eine säkulare Gesellschaft eine Alternative zur „heiligen Gesellschaft“ darstelle. Der Islam kenne jedoch weder einen islamischen Staat noch eine heilige Gesellschaft, da sowohl klerikale als auch religiöse Institutionen unbekannt seien. „Der Islam erkennt keine Instanz zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer an.“28 Für ihn ist damit die Notwendigkeit einer Säkularisierung der islamischen Gesellschaften hinfällig: „Der Islam braucht weder Säkularismus noch seine Institutionen.“29 Neben dieser Auffassung existieren auch extreme Richtungen, die den Säkularismus als einen vom Westen gegen den Islam geführten Kampf verstehen. Nach J˜suf al-Qarad–w„ – der ägyptische Scheich, der durch Medienauftritte bei Al-Jazeera große Bekanntheit gewann – fordert der Islam mit seinen materiellen und moralischen, individuellen und sozialen Ansprüchen den Säkularismus heraus, was einen Kampf zwischen Islam und Säkularismus unausweichlich mache. Gemäß dem Islam sei das Leben eine Ganzheit und eine Trennung zwischen Staat und Religion nicht möglich.30 Chomeini vertrat eine ähnliche Meinung: „Eine Sammlung von Gesetzen genügt nicht, um die Gesellschaft zu verbessern. Man braucht eine Exekutive, um die Gesetze zum Wohle der Menschen in die Tat umzusetzen. Daher hat Gott, der Allmächtige, nicht nur Gesetze, d. h. das islamische Gesetzeswerk offenbart, sondern auch einen Staat, eine Exekutive und ein Verwaltungssystem geschaffen.“31

Die in den islamischen Ländern um Säkularismus und Laizismus geführte Diskussion spiegelt über weite Strecken die Erfahrungen wider, die die Gläubigen mit dem im jeweiligen Land praktizierten Säkularismus gemacht haben. In weiten Teilen der islamischen Welt wurde der Säkularismus mit der Religionsfeindlichkeit verbunden, so dass die Muslime den Staat immer als eine Ge27 28 29 30 31

Mevdudi 1967, 43 – 46. Ammara 1991, 268. Ammara 1991, 269. Kardavi 1994, 138. Chomeini 1983, 31.

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fahr für ihre Religion betrachtet haben. Den Gegnern des Säkularismus geht es darin oft weniger um diesen selbst, als vielmehr um eine allgemeine Abrechnung mit dem politischen System. Der Säkularismus wird dabei als ein Herrschaftsinstrument des Systems vorgestellt, das seinen Bürgern nicht nur persönliche und religiöse Freiheiten vorenthält, sondern ihnen auch die Grenzen ihres Handelns und Denkens vorschreibt und nicht selten selbst religiöse Autorität beansprucht. Dergestalt trägt die mit dem Begriff „Säkularismus“ verbundene Praxis entscheidend zur „Verteufelung“ dieses Begriffes in den islamischen Ländern bei. Die Muslime, die in den Westen auswanderten, taten dies also vor dem Hintergrund eines eher angespannten Verhältnisses zwischen Staat und Religion. Entsprechend befremdend waren die Erfahrungen mit der in den europäischen Staaten vorgefundenen Situation, und in der Tat fällt vielen deren Einordnung noch heute schwer : „Die Schwierigkeiten, denen sich ein gläubiger Muslim bei seiner Begegnung mit der weitgehend säkularisierten, abendländisch-demokratischen Gesellschaft gegenübergestellt sieht, liegen hauptsächlich in der Spannung, die zwischen der aufgeklärten Natur dieser Gesellschaft einerseits und dem Offenbarungsverständnis und der historischen Fixiertheit des traditionellen Islam anderseits herrscht. Die islamische Orthodoxie lehrt, dass der Qur’an eine präexistente und somit außerhalb der Zeit und des Raumes stehende göttlich Botschaft sei – wie übrigens auch alle anderen Offenbarungen.“32

In der neuen Umgebung verändern sich nicht nur die persönlichen Erfahrungen der betroffenen Menschen, sondern auch die islamische Theologie, die sich völlig neuartigen Fakten gegenüber sieht. Dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Staat und Religion und eröffnet der islamischen Theologie ein neues Handlungsfeld: „Gleichzeitig gilt […], dass wir soziologisch gesehen einer fortschreitenden Europäisierung des Islams in seinem neuen Kontext beiwohnen (und keiner sogenannten ’Islamisierung Europas’, wie in der heutigen politischen Debatte ideologisch so gerne behauptet wird). So begrüßten die Konferenzteilnehmer ausdrücklich die schrittweise Inkulturation des Islams in Europa: ,Kulturelle und theologische Initiativen als Ausdruck dessen, was als ,Theologie der Inkulturation‘ beschrieben wird, werden mit großem Interesse verfolgt, da sie Prozesse der positiven Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben Europas in einem pluralistischen, für den interreligiösen und interkulturellen Dialog offenen Kontext ermöglichen und fördern.‘“33

Mittlerweile haben sich in vielen europäischen Staaten Organisationen gebildet, die die Interessen der Muslime bereits vertreten, oder vertreten möchten. Sie 32 Balic 2001, 38. 33 Legrand 2011.

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empfehlen sich dem Staat als Ansprechpartner in Angelegenheiten wie Gründung islamisch-theologischer Fakultäten, Festlegung von religiösen Feiertagen und weiteren religiösen Fragen sowie als Vertreter in diversen Gremien. Dies ist ein weiterer Schritt in Richtung Konvergenz mit den in Europa ausgeprägten säkularen Strukturen: „Ob deutsche Staatsbürger oder nicht, bejahen die im Zentralrat vertretenen Muslime daher die vom Grundgesetz garantierte gewaltenteilige, rechtsstaatliche und demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland, einschließlich des Parteienpluralismus, des aktiven und passiven Wahlrechts der Frau sowie der Religionsfreiheit. Daher akzeptieren sie auch das Recht, die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine Religion zu haben. Der Koran untersagt jede Gewaltausübung und jeden Zwang in Angelegenheiten des Glaubens.“34

In dem Maß, in dem sich die islamische Theologie in die Mitte der Gesellschaft bewegt, werden verstärkt europäische Züge zum Vorschein kommen, die auch eine aufgeschlossene Haltung gegenüber gesellschaftlichen Aufgaben implizieren. Europäische Muslime lernen dadurch immer mehr, Fragen zu stellen und zu verstehen, das mit einem Theologieverständnis aus dem 9. Jahrhundert ihr Alltag in Europa nicht zu bewältigen ist.

7.

Fazit

Als Folge ihrer Sesshaftwerdung in den westlichen Staaten sehen sich die Muslime herausgefordert, ihre Theologie neu zu definieren und Antworten auf Fragen zu suchen, die sie aus ihrer Geschichte nicht kennen. Das Gebot, auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen zu reagieren tangiert nicht nur die gegenwärtigen Lebensbedingungen der Muslime, sondern auch die historischen Wurzeln der islamischen Theologie, die eine Diaspora der Muslime traditionell ablehnt. Doch nun entsteht eine neue Theologie, die mehr und mehr den säkularen Strukturen einer demokratischen Gesellschaft entspricht und deren Ziel es ist, kirchenähnliche Institutionalisierung zu erlangen. Ob aus diesen Strukturen eine anschlussfähige und anerkannte Theologie entsteht, hängt – neben den politischen Verhältnissen in den westlichen Staaten – entscheidend von den intellektuellen Anstrengungen der Muslime ab.

34 ZMD 2009.

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Alfred Bodenheimer

Jüdische Migration nach, in und aus Europa

Mehr als bei wohl allen anderen Religionsgruppen, die Teil der europäischen Migrationsgeschichte der neuesten Zeit und der Gegenwart sind, ist bei den Juden die religiöse oder ethnische Zugehörigkeit zum Judentum ursächlich mit ihrer Migration verbunden. In diesem Sinne folgen sie, unter anderen Vorzeichen und mit anderen Möglichkeiten, einem Muster, das Jahrhunderte europäisch-jüdischer Geschichte gekennzeichnet hat. Zwei der drei größten jüdischen Gemeinschaften Europas belegen in eindrücklicher und vollständig unterschiedlicher Form, wie in den vergangenen Jahrzehnten Migration das europäische Judentum vollständig verändert hat. In Frankreich lebten vor dem Holocaust rund 300.000 Juden1 – innerhalb der insgesamt rund 9,5 Millionen Juden Europas,2 die hauptsächlich in Ost- und Mitteleuropa lebten, waren dies weniger als drei Prozent. Doch Frankreich war das einzige Land des Kontinents, dessen Judenheit 25 Jahre nach dem Holocaust um ein Bedeutendes grösser sein sollte als davor. Nachdem im Holocaust über 80.000 französische, bzw. in Frankreich lebende Juden ermordet worden waren,3 wuchs die jüdische Gemeinde des Landes im kommenden Vierteljahrhundert rapide an. Juden aus Nordafrika (Marokko, Tunesien, Ägypten und Algerien) wanderten ein, oft (etwa von Algerien, wo die Juden die französische Staatsbürgerschaft besaßen, im Jahr 1962 nach Erlangung der algerischen Unabhängigkeit) unter Zurücklassung ihrer ganzen Habe. So wuchs die Anzahl der Juden in Frankreich bis Ende der sechziger Jahre auf über eine halbe Million an,4 und der Charakter der französischen Gemeinden in Paris, Marseille oder Toulouse wurde weitgehend vom sefardischen (nordafrikanischen) Ritus und der sefardischen Kultur geprägt. Erstmals beherbergte Frankreich damit die größte jüdische Gemeinschaft Europas außerhalb der Sowjetunion. 1 2 3 4

Vgl. Encyclopaedia Judaica 2007, 160. Ebd., Vol. 5, 556. Ebd., Vol 7, 161. Ebd., 164.

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Waren es in Frankreich in allererster Linie die Pushfaktoren der nordafrikanischen Länder gewesen, in denen die jüdische Existenz schwerer und zum Teil praktisch unmöglich wurde, so waren es nach dem Fall der Berliner Mauer in erster Linie wirtschaftliche Pullfaktoren, die dafür sorgten, dass auch die kleine, überalterte jüdische Gemeinde in Deutschland einen riesigen Zufluss an Menschen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion (GUS-Staaten) erhielt, die als Kontingentflüchtlinge mit dem Willen der deutschen Regierung nach 1990 ins Land kamen. Anders als die sefardischen Juden in Frankreich, die fast vollständig über ein extrem hohes jüdisches Identitätsbewusstsein verfügten und, ob religiös oder nicht, in der Regel eine tiefe Bindung zu ihrer Tradition empfanden, waren die Juden aus den GUS-Staaten (sofern sie überhaupt nachweislich den religionsgesetzlichen Vorgaben für eine jüdische Zugehörigkeit entsprachen, sprich: eine jüdische Mutter hatten) in der Regel viel weiter weg von einem klaren Bewusstsein hinsichtlich der Frage, wie sich ihr Judentum äußerte. Für etliche war weniger die Hoffnung auf bessere Bedingungen, ihre Religion zu leben, entscheidend als vielmehr das wirtschaftliche Versprechen, das mit einem Leben in Deutschland verbunden war. Von den gut 200.000 Menschen, die auf diese Weise nach Deutschland kamen, trat deshalb nur etwa ein Drittel in die jüdischen Gemeinden ein, was dennoch dazu führte, dass sich deren Anzahl von knapp 30.000 auf über 100.000 Mitglieder anwuchs. Nur in Großbritannien leben heute, abgesehen von Frankreich, in Europa mehr Juden als in Deutschland. Der Aufbau einer religiösen Infrastruktur war in Frankreich finanziell schwieriger, da größtenteils von der jüdischen Gemeinschaft aufzubringen – strukturell war er aber einfacher, da die intrinsische Motivation der Migranten, ein jüdisches Leben zu führen, und ihr Wissen um jüdisches Gesetz und Brauchtum ausgeprägt war. Zudem waren die nordafrikanischen Juden in aller Regel des Französischen mächtig, so dass ihnen keine sprachlichen Barrieren bei der Eingliederung in die französische und die französisch-jüdische Gesellschaft im Wege standen. In Deutschland stellte der Staat großzügig Mittel zum Aufbau von Gemeinden, Synagogen und anderer Infrastruktur zur Verfügung, doch die Mitglieder der stark gewachsenen, zum Teil auch neu gegründeten Gemeinden ermangelten oft der minimalen jüdischen Bildung, und es fehlte an allen Ecken und Enden an ausgebildetem Personal, um die zahlreichen pädagogischen und sonstigen Gemeindeaufgaben zu übernehmen, derer es nun neu bedurfte. Zudem war der gesellschaftliche Integrationsaufwand in die deutsche Gesellschaft sehr groß, da die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion meist kein Deutsch verstanden. Unter diesen Umständen gelang es, anders als in Frankreich, in Deutschland den schon bestehenden orthodoxen Rabbinaten auch nicht, das Definitionsmonopol auf die Ausübung der jüdischen Religion zu behalten. Angeleitet vor

Jüdische Migration nach, in und aus Europa

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allem von angelsächsischen Vorbildern bildeten sich in Deutschland auch nichtorthodoxe (konservative und liberale) Gemeinden, in Potsdam auch eine liberale Rabbinatsschule. Obwohl es in Osteuropa keine liberale jüdische Tradition gab (nichtorthodoxe osteuropäische Juden waren vor dem Holocaust eher pointiert säkular gewesen) ist heute diese Gruppe der Einwanderer und ihrer Kinder ein großes Reservoir für das gemeindlich organisierte nichtorthodoxe Judentum in Deutschland. In Frankreich hingegen, wo das liberale Judentum nach dem Vorbild des 19. Jahrhunderts ebenfalls nie rechten Widerhall gefunden hatte, ist dieses den Juden heute, unter der zahlenmäßigen und kulturellen Dominanz der sefardischen Juden, auch wenn sie nicht orthodox praktizierend sind, erst recht vollkommen fremd. Es sind in erster Linie diese Migrationen, die das kontinentaleuropäische Judentum nach dem Holocaust und infolge der erschwerten Traditionspflege in den kommunistischen Ländern vor 1989 vor der vollständigen Auszehrung bewahrt haben. Das Judentum in den ehemaligen Sowjetrepubliken, das eine (auch bei den Kontingentflüchtlingen in Deutschland festzustellende) Schwächung durch die antireligiöse Politik des Sowjetkommunismus erlitten hatte, wurde nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs ebenfalls stark reduziert, gut eine Million Juden aus diesem Gebiet emigrierten nach Israel,5 andere nach Nordamerika. Frankreich und Deutschland sind, in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit, in den vergangenen sechzig Jahren die beiden großen Immigrationsstaaten für Juden in Europa gewesen. Und seit neuerdings Berlin die trendigste Adresse für jüngere israelische Kreative geworden ist und da sich mittlerweile rund 17.000 Israelis in Deutschlands Hauptstadt aufhalten6 (die meisten von ihnen allerdings religiös wenig aktive Juden und viele zumindest ihren Angaben zufolge nur vorübergehend), hat diese Migration offenbar noch eine ganz andere, geradezu hippe Zusatzdimension erreicht. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Wenn das europäische Judentum sich längerfristig, ungeachtet der massiven Schübe jüdischer Migranten und Migrantinnen, in einem Reduktionsprozess befindet, so ist dies durch mehrere Gründe verursacht: Überalterung und, damit verbunden, niedrige Geburtsraten, und eine hohe Rate von gemischten Ehen, die in der Regel (falls die Partnerin eines Mannes nicht jüdisch ist) unmittelbar oder (im anderen Fall) mittelbar dazu führen, dass die Kinder den Kontakt zur jüdischen Gemeinschaft verlieren. Derzeit spielt die Emigration von Juden keine 5 Vgl. die summierten Zahlen zwischen 1990 und 2012, die sich auf rund 1,1 Millionen belaufen. Quelle: URL: http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/Immigration/FSU.html [02. 01. 2014]. 6 Dachs 2013.

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überragende Rolle dabei, aber das könnte sich bald ändern. Entscheidend scheint, dass bei vielen die Emigration als valable Option bereits im Kopf ist. Das Trauma des Holocaust hat hier sicher auch seine Auswirkungen: Eine Loyalität zum Staat, in dem man lebt, ist zwar in der Regel gegeben, doch hat sich die Zuverlässigkeit dieser Staaten, einem die zugesprochenen Rechte und Möglichkeiten in der Not auch zu gewährleisten, damals als zumindest brüchig erwiesen. Das ist im kollektiven Gedächtnis gerade der Juden in Europa nach wie vor präsent. Der Antisemitismus wird dabei zu einem zunehmenden Pushfaktor. Dramatische Ereignisse wie der Mord an drei Kindern und einem Lehrer bei einer jüdischen Schule in Toulouse im März 2012 werfen ein Schlaglicht auf eine Situation, in der sich eine jüdische Gemeinde bedroht fühlt, in diesem Fall von muslimischen Judenhassern. Dass der muslimische Antisemitismus in Europa beängstigend hoch ist, ist bekannt und durch Studien, etwa von Günter Jikeli, auch belegt.7 Insbesondere viele französische Juden fassen deshalb die Auswanderung ins Auge und kaufen zuweilen zumindest einmal schon Wohnungen in Israel. In den Medien wird darüber mit einer gewissen Zurückhaltung berichtet – in privaten Gesprächen sind diese Leute meist offener, sprechen davon, dass sie sich in gewissen Quartieren von Städten wie Paris oder Marseille regelrecht eingeschnürt, belästigt und unter Druck fühlen. Es entspricht der Gesetzmäßigkeit von Auswanderungsbewegungen, dass die Präsenz einer kritischen Masse von Ausgewanderten an einem anderen Ort für die Angehörigen der entsprechenden Gruppe einen relativ starken Pull-Faktor schafft – nicht zuletzt durch die Vorbereitung von einer Infrastruktur und von Netzwerken, auf die später Hinzukommende bauen können. So ist in israelischen Städten wie Jerusalem oder Netanya die Bildung französischer Landsmannschaften zu erkennen, die eine Integration ankommender französischer Juden erleichtern. Nicht nur, aber auch damit mag es zusammenhängen, dass in den ersten neun Monaten des Jahres 2013 die Zahl französischer Immigranten nach Israel gegenüber der Vorjahresperiode um fast 50 % wuchs, von 1469 auf fast 3000 Personen.8 Mehr als die absoluten Zahlen erscheint hier der Trend bemerkenswert, der durchaus auch auf die gegenüber Frankreich attraktiver werdende israelische Wirtschaft zurückzuführen sein dürfte, die, wenn nicht dominierender, so doch begleitender Grund dafür sein sollte, dass eine grundsätzlich erwünschte Auswanderung auch faktisch vollzogen wird.9

7 Jikeli 2012. Zur Wahrnehmung eines wachsenden Antisemitismus unter europäischen Juden vgl. FRA 2013. 8 Vgl. JTA – The Global Jewish Netsource 2013. 9 Zum zusätzlichen wirtschaftlichen Aspekt vgl. Ghosh 2013.

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Ein ähnliches Problem plagt die Juden der ungleich kleineren jüdischen Gemeinde von Schweden, insbesondere im südschwedischen Malmö, dessen geringe jüdische Bevölkerung, insbesondere aufgrund des Drucks der großen und zu Teilen antijüdischen muslimischen Bevölkerung in der Stadt und der offensichtlich mangelnden Schutzmaßnahmen der städtischen Behörden, ebenfalls eine verhältnismäßig starke Emigration aufweist.10 Nicht alle, aber doch ein Teil dieser Juden geht nach Israel – auch England und Kanada (letzteres insbesondere auch für französische Juden, die sich in der Provinz Qu¦bec niederlassen) sind Emigrationsziele. Ein weiteres Land, aus dem Juden tendenziell auswandern oder dies zumindest ins Auge fassen, ist Ungarn mit seiner bekanntermaßen starken und offenbar weiter wachsenden antisemitischen Bewegung Jobbik, die von der Regierung in keiner Weise bekämpft wird. Dies und die schwierige wirtschaftliche Lage, die auch andere Ungarn zur Emigration treibt, führen zu einer Auswanderung von derzeit schätzungsweise 1000 Juden jährlich aus der Gemeinschaft, die zwischen 800.000 und 1.000.000 Mitgliedern zählt, nach Israel, aber auch in andere europäische Staaten.11 Diese Migrationsbewegungen sind insofern für die jüdische Gemeinschaft besonders einschneidend, als damit eine Tendenz der Bevölkerungsverschiebung verstärkt wird, die schon ohne Migration gegeben ist: Europas jüdische Bevölkerung weist einen dramatischen negativen Geburtenüberschuss auf;12 Israel ist die einzige jüdische Gemeinschaft weltweit, die einen positiven Geburtenüberschuss erzielt. Anders als in vielen Migrationssituationen, in denen wirtschaftlicher Druck durch Migration auch Probleme der Überbevölkerung reguliert, geschieht insbesondere im Austausch zwischen Europa und Israel das Gegenteil (zumal die Emigration von Israelis zwischen 2002 und 2011 von 27.000 auf 15.700 jährlich zurückging)13 : Die europäisch-jüdischen Emigranten sind oft gerade jene jüngeren Menschen oder Familien, die beim Aufbau einer tragfähigen jüdischen Bevölkerung in Europa dann fehlen, überdurchschnittlich oft gerade jene tendenziell religiösen oder traditionellen Mitglieder, die stärkeren Wert auf jüdische Gesellschaft für ihre Kinder legen und die eher mehr Kinder haben. Ganz abgesehen von anderen Komponenten der demographischen Abnahme (Mischehen mit Kindern, die nicht mehr jüdisch sind, Austritte, Nichteintritte 10 „In Malmö haben in den letzten Jahren mehr als 30 Familien die 700 Juden/Jüdinnen zählende Gemeinde verlassen. Antisemitische Attacken, mehrheitlich durch muslimische AntisemitInnen, und die Gleichgültigkeit der PolitikerInnen ließen viele Jüdinnen und Juden an einer Zukunft in Malmö zweifeln.“ Vgl. Espinoza 2012. 11 Vgl. Jewish Daily Forward 2013. 12 Vgl. Jewish Virtual Library 2013; Le Brun 2012. 13 Rosenberg 2013.

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zugezogener Glaubensgenossen) ist dieser Mix aus Überalterung und Abwanderung für Gemeinden unterhalb einer bestimmten Größe heute schon existentiell gefährdend. Sichtbar ist dies etwa an der Israelitischen Gemeinde Basel, deren Mitgliederzahl zwischen den siebziger Jahren und der Gegenwart um über 30 Prozent geschrumpft ist – notabene ohne nennenswerten antisemitischen Push-Faktor.14 Solche demographischen Bewegungen wiederum schwächen die Gemeinden und ihre Infrastruktur (religiöse Kindergärten u. Schulen, Jugendbünde, Wirtschaftlichkeit von koscheren Geschäften, Finanzierbarkeit von Lehrund Kultuspersonal u. a.m.) und verringern die Attraktivität für potentiell Zuziehende. Das kann dann zur Folge haben, dass es auch regional eine verstärkte Konzentration auf die größeren jüdischen Gemeinden gibt, deren Mitgliederzahl sich aufgrund dessen stabil halten kann (wiederum in der Schweiz ist das an der relativ stabilen Mitgliederzahl der grössten deutschsprachigen Gemeinde in Zürich zu sehen). Das berufliche Pendeln als Zugeständnis für das Leben der Familie in einer lebendigen jüdischen Gemeinde ist für etliche Arbeitstätige eine realistische Option. Dies wiederum fördert die nationale oder europäische jüdische Binnenmigration. Zweifellos steckt hinter diesen Spezifika einer jüdischen Migrationsbewegung in Europa, die auch in diesen Zeiten vergleichsweise hoher (wenn auch tendenziell abnehmender) Prosperität und Toleranz auch eine historisch bedingt eher kleinere Hemmschwelle, den Wohnsitz zu wechseln, wenn das, was hier im breitesten Sinne ein „gelingendes jüdisches Leben“ (bestehende aus zwei Hauptelementen: bessere Gemeinde- und identitätsstiftende Strukturen, weniger Antisemitismus) genannt sei, an einem anderen Ort einfacher zu erhalten ist. Wirtschaftliche Möglichkeiten spielen dabei natürlich auch eine Rolle, die aber weniger dominant sein dürfte als in anderen Fällen, in denen Migration nicht durch unmittelbaren politischen Druck generiert wird. Doch zeigen gerade die gestiegenen Migrationsbewegungen von Juden aus Frankreich oder Ungarn, dass die Leidenstoleranz innerhalb der jüdischen Gemeinschaft kleiner geworden und die Sensibilität gegenüber dem Antisemi14 Folgende Angaben zu den Mitgliederzahlen hat mir die Verwaltung der Israelitischen Gemeinde Basel auf Anfrage gemacht: 1975: 1544 Mitglieder (erstes Jahr mit genauen Angaben); 1983: 1387 Mitglieder ; 2012: 1056 Mitglieder. Mit diesen Zahlen werden nur die volljährigen Mitglieder erfasst, also keine Kinder und minderjährigen Jugendlichen. Die Abnahme der Mitglieder zwischen 1983 und 2012 ist dadurch noch pointierter, als in der Zwischenzeit das Mündigkeitsalter in der Schweiz von zwanzig auf achtzehn Jahre gesenkt wurde. Zugleich ist zu vermerken, dass diese Zahl durchaus nicht mit der Zahl der sich selbst als jüdisch bezeichnenden Bewohnerinnen und Bewohner der Region Basel übereinstimmt. Die Zahl jüdischer Menschen, die aus der Gemeinde aus- oder bei Zureise nicht in sie eintreten, ist tendenziell im 21. Jahrhundert eher größer geworden, worauf u. a. auch eine liberale jüdische Gruppe in Basel hinweist, die sich außerhalb der orthodox geführten Einheitsgemeinde organisiert.

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tismus gewachsen ist. Zuweilen erschallende Warnungen, dass sich Europa hinsichtlich seiner Judenfeindschaft wieder in einem Zustand wie in der Zwischenkriegszeit befinde, die zu entsprechend katastrophalen Folgen führte, zeigen weniger das realistische Bild des heutigen Europa als eine klar gesunkene innerjüdische Bereitschaft, nach dem Holocaust Erscheinungen des Antisemitismus als „normal“ oder „unvermeidlich“ hinzunehmen und sich auf die inneren Regulierungskräfte der Gesellschaft zu verlassen. Diese gewachsene Sensibilität zu kritisieren oder kleinzureden wäre ein grober Fehler – ungeachtet der Frage, ob der Staat Israel, der letztlich immer noch eine Legitimation als Sammelbecken aller Juden der Welt beansprucht, die europäische Situation in besonders dunklen Farben zu malen versucht; der subjektive Entschluss, aus einem Land auszuwandern ist für einen Menschen so bedeutend und einschneidend, dass die Forschung nach den dazu führenden Ursachen, soweit sie bekämpft werden können, weit eher angebracht ist. Man darf die „europäische Epoche“ des Judentums auf gut 1200 Jahre beziffern – von der muslimischen Eroberung Spaniens im 8. Jahrhundert bis zum Holocaust war Europa das geistige und lange auch das demoskopische Zentrum des Judentums, mit dramatischen und mehrfachen zwischenzeitlichen innerkontinentalen Verschiebungen zwischen Norden und Süden, Westen und Osten. Diese Zeit ist unwiederbringlich vorbei. Die Frage ist, ob sich die heute bei rund zehn Prozent der jüdischen Weltbevölkerung liegende jüdische Bevölkerung Europas in der heutigen Größe erhalten wird. Bei der heutigen Altersstruktur wäre dies faktisch nur durch eine nochmalige bedeutende Wanderbewegung von Juden nach Europa mittelfristig möglich. Danach sieht es derzeit nicht aus, doch wer die Migration von Juden in Europa über Hunderte von Jahren hin anschaut, kommt leicht zur Vorstellung, dass sich Entwicklungen und Verschiebungen gerade hier immer wieder in unerwarteter, scheinbar antizyklischer Weise ereignet haben.

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Bodenheimer, Alfred, Prof. Dr., geb. 1965: Ordinarius für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums am Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel. Projekte, u. a.: Processing Bioethics in Orthodox and Liberal Jewish Settings – A Context-Sensitive Analysis. Publikationen u. a.: Ungebrochen gebrochen. Über jüdische Narrative und Traditionsbildung, Göttingen 2012; Haut ab! Die Juden in der Beschneidungsdebatte, Göttingen 2013; Fluchtpunkt oder Zivilisationslabor? Zeitgenössische jüdische Zugänge zur biblischen Wüstenwanderung, in: Theologische Zeitschrift 69, 4 (2013), 569 – 579. Bünker, Arnd, Tit. Prof. Dr., geb.1969: Leiter des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI) in St. Gallen, geschäftsführender Sekretär der Pastoralkommission der Schweizer Bischofskonferenz, Dozent an der Universität Fribourg. Projekt: Christliche Migrationsgemeinden in der Schweiz; Religiosität in der modernen Welt. Publikationen u. a.: Migration – Grenzen öffnen!, in: Diakonia 42 (2011), 146 – 149; Gerechtigkeit und Pfingsten. Viele Christentümer und die Aufgabe einer Missionswissenschaft, Ostfildern 2010 (mit Eva Mundanjohl u. a.). Bünker, Michael, Hon.-Prof. Dr., geb. 1954: Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich, Vorsitzender des Evangelischen Oberkirchenrates A.u.H.B. in Österreich, Generalsekretär der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE). Publikationen u. a.: Versöhnte Verschiedenheit: Die Vielfalt Europas als Einheit empfinden, in: Michael Thoss / Christina Weiss (Hg.): Das Ende der Gewissheiten: Reden über Europa. München 2009, 79 – 91; Unruhe des Glaubens: Evangelische Beiträge zu Kirche und Gesellschaft, Wien 2014. Ivankova-Stetsiuk, Oksana, born 1963: Ph.D (Candidate’s Degree) in sociological sciences, Institutional affiliation: Taras Shevchenko National University of Kyiv, Faculty of Sociology, Principal Research Scientist (researcher Degree Doctor Habilitat), adviser to UGCC Commission on Matters of Immigrants. Publication: The Church in the Realm of Migration: ethno-cultural resources and sociointegrative potential of religious communities of Ukrainians, Kiev 2013. Jäggle, Martin, Univ.-Prof. i.R. Dr. theol., geb. 1948: Bis 2013 Universitätsprofessor für Religionspädagogik und Katechetik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Religionssensible Bildung, Schulentwicklung und Religion, Kultur der Anerkennung, Religious Education at Schools in Europe: http://www.rel-edu.eu/. Publikationen u. a.: Kultur der Anerkennung. Würde – Gerechtigkeit – Partizipation für Schulkultur, Schulentwicklung und Religion, hg. mit Thomas Krobath

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u. a., Baltmannsweiler 2013; Religiöse Bildung an Schulen in Europa. Teil 1: Mitteleuropa. (Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft 5.1), Wien 2013 (mit Martin Rothgangel, Thomas Schlag). Lehmann, Karsten, Dr., geb. 1971: Religionswissenschaftler und Soziologe, Head of Social Sciences and Statistics am KAICIID – International Centre for Interreligious and Intercultural Dialogue. Forschungsschwerpunkt: Soziale Konstruktionen „des Religiösen“ und „des Säkularen“ (dazu Habilitation eingereicht). Publikationen u. a.: Vereine als Medium der Integration, Berlin 2001; Vergleichende Analyse der christlichen und muslimischen Migrantengemeinden in Frankfurt am Main, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 14 (2006), 25 – 52. Marchetto, Agostino, Dr., born 1940: Emeritierter Sekretär des Päpstlichen Rates der Seelsorge für Migranten und Menschen unterwegs; Titularerzbischof von Astigi. Publikation: The Second Vatican Ecumenical Council. A Counterpoint for the History of the Council, University of Scranton Press 2009. Modood, Tariq, Prof., born 1952: Professor of Sociology, Politics and Public Policy at the University of Bristol, founding Director of the Centre for the Study of Ethnicity and Citizenship. Research Topics: theory and politics of racism, racial equality, multiculturalism and secularism, with especial reference to British Asian Muslims; ethnic identities, national identities and the “second generation”; ethnic disadvantage and progress in employment and education; comparisons within and between Western Europe and North America; politics of being Muslim in the West; political theory and sociology of multiculturalism and secularism. Publications: http://www.tariqmodood.com/. Nagel, Alexander-Kenneth, Prof. Dr., geb. 1978: Professor für Sozialwissenschaftliche Religionsforschung am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Religion und Migration, Interreligiöse Aktivitäten und Religionskontakte, Religiöse Netzwerke, Religion und Sozialpolitik. Publikationen u. a.: Diesseits der Parallelgesellschaft. Neuere Studien zu religiösen Migrantengemeinden in Deutschland. Bielefeld 2012 (Hg.); Vom Paradigma zum Pragma: Religion und Migration in relationaler Perspektive, in: Sociologia Internationalis 48 (2012), 221 – 246. Polak, Regina, Assoz.-Prof. MMag. Dr. MAS (Spirituelle Theologie), geb. 1967: Associate Professor für Praktische Theologie und Religionsforschung am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Religiöse Transformationsprozesse in Europa, Religion im Kontext von Migration, Werteforschung, Theolo-

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gische Grundlagenfragen einer Kirche im Umbruch. Projekt: Convivenz: Der Beitrag christlicher Migrationsgemeinden zum Zusamenleben in Wien. Publikationen u. a.: Migration als Ort der Theologie, in: Tobias Keßler (Hg.): Migration als Ort der Theologie, Regensburg 2014 (Weltkirche und Mission, Band 4), 87 – 114; Perspektiven einer migrationssensiblen Theologie, in: Julia Dahlvik / Heinz Fassmann / Wiebke Sievers (Hg.): Migration und Integration – wissenschaftliche Perspektiven aus Österreich (Jahrbuch für Migrations- und Integrationsforschung in Österreich 2), Wien 2013, 195 – 214. Preda, Radu, Dr. theol. geb. 1972: Professor für Sozialtheologie an der Theologisch-Orthodoxen Fakultät der Universität (Cluj-Napoca) Klausenburg, Gründungsdirektor des Romanian Institute for Inter-Orthodox, Inter-Confessional and Inter-Religious Studies (INTER), Präsident des Instituts für die Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen und das Gedächtnis des rumänischen Exils (Bukarest). Forschungsschwerpunkte: Orthodoxe Sozialtheologie, Kommunismus als (sozial)theologische Anfrage, Orthodoxie im Kontext Europas. Publikation u. a.: Die orthodoxen Kirchen zwischen nationaler Identität und babylonischer Gefangenschaft in der EU, in: Ingeborg Gabriel (Hg.): Politik und Theologie in Europa. Perspektiven ökumenischer Sozialethik, Ostfildern, 2008, 285 – 305. Reiss, Wolfram, Univ.-Prof. Dr., geb. 1959: Lehrstuhl für Religionswissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Islam, Orientalisches Christentum und Judentum; „anwendungsorientierte Religionswissenschaft“, die aktuelle politische Fragestellungen aufgreift. Projekte: Darstellung des Christentums in islamisch geprägten Ländern; Political Islam in Power – Islamic Parties and Groups in Egypt 2012 – 2013; Orientalisches Christentum inmitten des politischen Umbruchs; Naikan im Strafvollzug. Publikationen u. a.: Die Darstellung des Christentums in islamisch geprägten Ländern, Band 3: Libanon und Jordanien. Berlin 2012 (= Pädagogische Beiträge zur Kulturbegegnung Bd. 27); Guidebook for History Textbook Authors 2012; Herausgabe der Reihe „Anwendungsorientierte Religionswissenschaft“ Bd. 1 – 5, 2012 – 2014. Seleshchuk, Hryhoriy, born 1976: Researcher at the Institute of Religion and Society in Lviv (2002 – 2008), currently researcher at the Institute of Regional Studies of Academy of Science of Ukraine, Head of the Commission for Migrants of the Ukrainian Greek-Catholic Church, Deputy Head of the Council on Labour Emigration of the Cabinet of Ministers of the Ukraine. Research topics: Working migration in the Ukraine, Ukrainian migration communities in Europe.