Eigenbilder - Fremdbilder - Identitäten: Wahrnehmungen im östlichen Europa im Wandel 9783839449622

Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime dominierten im östlichen Europa positive Vorstellungen von »Europa« bz

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Eigenbilder - Fremdbilder - Identitäten: Wahrnehmungen im östlichen Europa im Wandel
 9783839449622

Table of contents :
Cover
Editorial
Inhalt
Eigenbilder, Fremdbilder, Identitäten im östlichen Europa
Fremde Nationen und Regionen
Deutsch-polnische Feindbilder in der Praxis
»Nationalität: Gottscheer«
Von Drachen und verfilzten Pelzmänteln
Umgang mit kultureller Vielfalt
Das Bild muslimischer Flüchtlinge in der polnischen rechtskonservativen Presse
»Es gibt diesen Zwiespalt, was ist man jetzt?« oder auch: Fragen nach Zugehörigkeit
»Nach Hause, nach Russland« – und doch nach Europa?
Kollektive Entwurzelung, »kranke« Dörfer und eine neue ländliche Generation
Fremdes im Eigenen
»It is Jewish, it is Polish, it is European and cosmopolitan at the same time!«
Die Unsichtbaren?
Homophobie und queere Interventionen in Polens visueller Kultur ab 1980
»(Un-)Sichtbare Andere«
Identitätspolitiken
»We are Bucharest. We make things different.«
»Das ist unser Sieg!«
Angeeignete Fremde
Autorinnen und Autoren

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Marketa Spiritova, Katerina Gehl, Klaus Roth (Hg.) Eigenbilder – Fremdbilder – Identitäten

Ethnografische Perspektiven auf das östliche Europa  | Band 5

Marketa Spiritova, Katerina Gehl, Klaus Roth (Hg.)

Eigenbilder – Fremdbilder – Identitäten Wahrnehmungen im östlichen Europa im Wandel

Der Druck des Bandes wurde gefördert durch den Schroubek-Fonds Östliches Europa.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Balkanski papagal. Balkanischer Papagei, Wöchentliche illustrierte Karikatur-Ausgabe der Zeitung Az znam vsicko, Jg. VI, 1919, Nr. 23. Bildunterschrift in bulgarischer und französischer Sprache. Deutsche Übersetzung: »Die Aufgabe der Hauptarchitekten der Versailler Konferenz ist äußerst schwierig. Sie sollen so viele Figuren in den vorgegebenen Raum Europas zeichnen, dass seine Figuren angeordnet sind, ohne sich gegenseitig zu stören. Es ist besonders schwer zu wissen, welche Haltung Russland oder der allseits bedrängte Bolschewismus einnehmen wird, der verzweifelt kämpft. Amerika, das etwas weiter entfernt von den europäischen Passionen ist, versucht unbeeindruckt, sie zu korrigieren. Dieses schwierige Bild macht müde und es wird eine Pause nötig sein, bevor das Bild vollendet ist.« In der rechten Bildhälfte vorne: der englische, französische und italienische, hinten der japanische »Architekt« und die USA. Satz: Tomislav Helebrant M.A. Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4962-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4962-2 https://doi.org/10.14361/9783839449622 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Editorial Die tiefgreifenden Transformationsprozesse, die die Gesellschaften des östlichen Europas seit den letzten Jahrzehnten prägen, werden mit Begriffen wie Postsozialismus, Globalisierung und EU-Integration nur oberflächlich beschrieben. Ethnografische Ansätze vermögen es, die damit einhergehenden Veränderungen der Alltage, Biografien und Identitäten multiperspektivisch und subjektorientiert zu beleuchten. Die Reihe Ethnografische Perspektiven auf das östliche Europa gibt vertiefte Einblicke in die Verflechtungen von makrostrukturellen Politiken und ihren medialen Repräsentationen mit den Praktiken der Akteurinnen und Akteure in urbanen wie ländlichen Lebenswelten. Themenfelder sind beispielsweise identitätspolitische Inszenierungen, Prozesse des Nation Building, privates und öffentliches Erinnern, neue soziale Bewegungen und transnationale Mobilitäten in einer sich umgestaltenden Bürgerkultur. Die Reihe wird herausgegeben von Irene Götz.

Marketa Spiritova (Dr. phil. habil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der LMU München. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Erinnerungskultur, Nationalismus, Biografieforschung und Oral History, Populäre und Jugendkultur sowie Performanzforschung. Katerina Gehl (Dr. phil.) ist Lehrbeauftragte am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der LMU München. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Elitenforschung, die Politische Kultur Südosteuropas, Fremdheitsforschung sowie Europäisierung. Klaus Roth (Prof. Dr. Dr. h.c.) ist emeritierter Professor für Europäische Ethnologie an der LMU München. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind neben der Erzählforschung die Kulturen der Länder des südöstlichen Europas, insbesondere die gegenseitigen Vorstellungen der Gesellschaften Südosteuropas und jener des westlichen Europas. Er ist Herausgeber der Zeitschrift »Ethnologia Balkanica« und Vorsitzender des Schroubek-Fonds.

Inhalt Eigenbilder, Fremdbilder, Identitäten im östlichen Europa Einleitende Beobachtungen zu einem schwierigen Thema Klaus Roth | 7

F remde N ationen und R egionen Deutsch-polnische Feindbilder in der Praxis Zum gegenseitigen Umgang während der Zwangsarbeit in Berlin Katarzyna Woniak | 21

»Nationalität: Gottscheer« Zur Herstellung von Selbstbildern einer deutschsprachigen Minderheit in Slowenien Stefanie Samida | 35

Von Drachen und verfilzten Pelzmänteln Über die Konstruktion des »Ostens« in Joanne K. Rowlings Harry-Potter-Serie Katharina Lütz | 53

U mgang mit kultureller V ielfalt Das Bild muslimischer Flüchtlinge in der polnischen rechtskonservativen Presse Małgorzata Świder | 73

»Es gibt diesen Zwiespalt, was ist man jetzt?« oder auch: Fragen nach Zugehörigkeit Verortungsstrategien von Minderheitenangehörigen am Beispiel Polen Katharina Schuchardt | 93

»Nach Hause, nach Russland« – und doch nach Europa? (Re-)Inszenierung des Nationalen in audiovisuellen Medien: Das Beispiel Kaliningrad Sara Reith | 109

Kollektive Entwurzelung, »kranke« Dörfer und eine neue ländliche Generation Symbolische Distinktionspraxen von Lifestyle MigrantInnen im tschechischen Grenzland Anja Decker | 125

F remdes im E igenen »It is Jewish, it is Polish, it is European and cosmopolitan at the same time!« »Jewishness« als politische Demonstration im Kontext des polnischen Nationalkonservativismus der Gegenwart Peter F. N. Hörz | 145

Die Unsichtbaren? Zur Wahrnehmung christlicher Minderheiten am Beispiel der Griechen von Istanbul Sebastian Gietl | 165

Homophobie und queere Interventionen in Polens visueller Kultur ab 1980 Julia Austermann | 191

»(Un-)Sichtbare Andere« Identitätspolitik und Protestkultur der LGBT-Bewegung im Nach-Wende-Polen Agnieszka Balcerzak | 219

I dentitätspolitiken »We are Bucharest. We make things different.« Ein Beitrag zur Selbstverständigung der Stadt Daniel Habit | 249

»Das ist unser Sieg!« Die Wahrnehmung des Zweites Weltkriegs als Teil der Identitätskonstruktionen russischsprachiger Migranten in Deutschland Andrey Trofimov | 271

Angeeignete Fremde Figuren von Juden aus der Volksrepublik Polen Uta Karrer | 291

Autorinnen und Autoren | 313

Eigenbilder, Fremdbilder, Identitäten im östlichen Europa Einleitende Beobachtungen zu einem schwierigen Thema Klaus Roth

Abstract: Autostereotypes, Heterostereotypes, Identities in Eastern Europe. Introductory Observations on an Intricate Topic Throughout the past six centuries the eastern half of Europe had a history that differed largely from that of Europe’s western part. Up to the late 19th or early 20th century, all its territories were part of powerful empires, the Russian, Habsburg and Ottoman Empires, and after WW II they were subjected to the communism of the Soviet Union for almost half a century. These historical facts deeply influenced the identities of the various peoples in Eastern Europe and also the mutual perceptions of East and West in Europe  – up to the present day in the framework of the European Union. The collapse of communist rule in 1989/90 triggered great hopes and brought many improvements, but it also created great problems which were largely a consequence of »Western ignorance and arrogance«, as Paul Lendvai phrased it. The deep changes resulted, among other things, in the worsening of the situation of ethnic minorities (like the Roma) and in the general growth of patriotism with a focus on national history and folk culture, combined with a growing aversion to elements of Western liberalism. The papers in the present volume focus on various important aspects of these developments in Eastern and Southeastern Europe that are relevant for the better understanding of the entire region. Der vorliegende Band knüpft an den vorausgegangenen Band »Neuer Nationalismus im östlichen Europa«1 an. Er tut dies nicht, indem er die Folgen des neuen Nationalismus dramatisch aufzeigt, sondern indem er einer seiner wichtigsten Ursachen nachgeht, nämlich der Frage nach den dem Nationalismus zugrundeliegenden »Bildern in den Köpfen« (Roth 1998), also den in den Gesellschaften wirkmächtigen Bildern des Eigenen und Bildern des Fremden, sowie auch den durch sie beeinflussten Identitäten 1 | Götz, Irene/Roth, Klaus/Spiritova, Marketa (Hrsg.) (2017): Neuer Nationalismus im östlichen Europa. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld.

8 | Klaus Roth

der Individuen und Gesellschaften. Die Beziehung zum vorigen Band besteht freilich nicht nur in dem Thema der Beziehung zwischen Auto- und Heterostereotypen und Identitäten und deren Folgen, sondern auch in der Fokussierung auf das gesamte östliche Europa. Wiewohl es Nationalismus und dessen Folgen natürlich auch im westlichen Teil Europas gibt, ist doch die generelle Zunahme des Nationalismus beziehungsweise Patriotismus, der Rückgriff auf traditionelle kulturelle Formen und Modelle des »Eigenen« im östlichen Europa deutlicher zu beobachten. Es ist nicht allein deswegen, dass der bulgarische Soziologe und Politologe Ivan Krastev (2017a) in seinem eindrucksvollen und viel beachteten Essay »Europadämmerung« vor der Gefahr eines erneuten Auseinanderdriftens von Ost und West in Europa warnt. Wiewohl seit einigen Jahren ganz Europa zunehmend in einer Krise steckt, die weitgehend durch die (vorhersehbaren) negativen sozialen Folgen der Globalisierung (Bauman 1998) verursacht ist und inzwischen eine »große Regression«2 ausgelöst hat, so liegen die Gründe für diese Regression im östlichen Europa tiefer und sind auch anderer Art. Die zunehmenden Rückgriffe auf traditionelle, »bewährte« Bilder des Eigenen und des Fremden sind vielfältiger und von größerem Gewicht als in der westlichen Hälfte Europas. Die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation hat zu einem wesentlichen Teil mit der eigenen Geschichte und der historisch gewachsenen und oftmals gestörten Beziehung zu »Europa« zu tun, mit den vorherrschenden Selbstbildern und Europa-Vorstellungen in den Ländern des östlichen Europa (s. Petrov et al. 2007) sowie mit den Vorstellungen vom Balkan in der westlichen Welt (s. Todorova 1997). Man muss davon ausgehen, dass Fremd- und Eigenbilder, seien es positive oder negative Stereotypen oder emotional geladene Vorurteile ein grundsätzlicher und allgegenwärtiger Bestandteil der menschlichen Umweltverarbeitung und auch Kommunikation sind. Entscheidend für ihre Entstehung und Vermittlung ist die historische Erfahrung der Gesellschaften ebenso wie die ihrer Mitglieder; ausschlaggebend für ihre Wirkung ist stets der jeweilige soziale, ökonomische, politische und historische Kontext ebenso wie die konkrete Situation. Für das östliche Europa ist, so kann man verallgemeinernd sagen, sein historischer Kontext wie auch das damit eng verbundene historische Erinnern von allergrößter Bedeutung; in Bezug auf Südosteuropa stellte die kroatische Ethnologin Vera Erlich (1984: 105) fest, »people in the Balkans have long memories« – eine gerade für das Thema dieses Bandes bis heute sehr wichtige Feststellung. An Geschichte und an historischem Erinnern hat das östliche und besonders das südöstliche Europa seit Jahrhunderten sehr vieles, für die Neuzeit vor allem Schmerzvolles und Negatives zu bewältigen. Hatte es im Mittelalter noch große autochthone

2 | Geiselberger, Heinrich (Hrsg.) (2017): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin. Der Band enthält kritische Beiträge von 15 Autoren, drei von ihnen aus dem östlichen Europa (Polen, Bulgarien, Slowenien); von besonderer Bedeutung sind hier die Beiträge von Ivan Krastev (2017b) und Bauman (2017).

Eigenbilder, Fremdbilder, Identitäten im östlichen Europa | 9

Reiche wie das Bulgarische3 und das Serbische4 Reich gegeben, so herrschten in der Neuzeit für Jahrhunderte große fremde Reiche über die vielen Völkerschaften dieser Territorien: das Russische Reich, das Habsburger Reich und, im Südosten, das Osmanische Reich; das Polnisch-Litauische Reich wurde in den Jahren 1772–1795 aufgeteilt unter dem Russischen Reich, dem Habsburger Reich und Preußen. Erst gegen Ende des 19.  Jahrhunderts und vor allem mit dem Ende des Ersten Weltkriegs kam die unumschränkte Herrschaft dieser Reiche an ihr Ende. Dabei ist zu bedenken, dass das Russische Reich nach der Oktoberrevolution 1917 weitgehend in der Sowjetunion seine Fortsetzung fand. Wegen der nach 1945 überwältigenden Macht der Sowjetunion kann auch die im »Ostblock« einsetzende kommunistische Herrschaft als weithin imperiale Herrschaft gesehen werden; sie wurde von den Bevölkerungen zumindest großenteils als solche empfunden. Die aus den großen Reichen, vor allem aus dem Osmanischen und dem Habsburger Reich entstehenden Nationen waren »späte Nationen« auf der Suche nach einer eigenen nationalen Sprache, Kultur und Identität in festen nationalen Grenzen. Vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen Einbindung in die (als »Völkergefängnis« gesehenen) Reiche waren dies oft schwer realisierbare Forderungen. Vor allem in Südosteuropa hatten sie über Jahrzehnte Hass und Kriege gegen Nachbarnationen zur Folge und verhalfen der Region im frühen 20. Jahrhundert zum Beinamen »Pulverfass Balkan«. Verbindend war für die jungen Nationen allenfalls der Hass auf »die Habsburger«5, weitaus stärker und anhaltender aber der Hass auf »die Türken«6. Gemeinsam war den Gesellschaften des östlichen und besonders des südöstlichen Europa bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert ihre intensive Hinwendung zum Westen, zu »Europa«. Die angestrebte Modernisierung der Staaten, ihrer Wirtschaft, ihrer Bildungssysteme ebenso wie auch aller Lebensbereiche der Menschen wurde (und wird oft heute noch) bezeichnet als »Europäisierung«. Auch wenn es vielfach eine Europäisierung war, die eher auf das sichtbare Äußere der Moderne zielte, also oft nur eine »Fassadenmodernisierung« war, so hatte doch das westeuropäische Modell nahezu uneingeschränkte Gültigkeit und Macht – realiter auch in den Jahrzehnten des durch die Sowjetmacht auferlegten »Eisernen Vorhangs«. Andererseits schien es in den Jahrzehnten des Sozialismus so, dass als Folge der sozialistischen Politik der »Völkerfreundschaft« und der Ethnos-Theorie des führenden sowjetischen Ethno3 | Das Erste Bulgarische Reich bestand von 680–1018, das Zweite Bulgarische Reich von 1186–1393. In seiner Blütezeit umfasste es den größten Teil der Balkanhalbinsel; um 900 reichte es bis Budapest. 4 | Das Serbische Reich bestand vom 12.–14. Jahrhundert; es hatte seine Blütezeit unter Zar Dušan (1331–1355). 5 | In den letzten Jahrzehnten ist in einst habsburgischen osteuropäischen Ländern der Hass weithin einer nostalgischen Zuwendung gewichen. 6 | Die Herrschaft der Osmanen wird bis heute im Bulgarischen als »turskoto igo« (türkisches Joch), im Griechischen als »tourkokratia« (Türkenherrschaft) an alle Schüler vermittelt; in neuerer Zeit setzt sich auch in Bulgarien der neutralere Begriff »tursko vladičestvo« (Türkenherrschaft) durch. In Liedern wurde das Feindbild des »grausamen Türken« bis in die jüngste Vergangenheit öffentlich vermittelt (Roth 1996).

10 | Klaus Roth

logen Julian Bromlej (1973/1977) die ethnischen Differenzen zurückgestellt wurden gegenüber dem übergeordneten Ziel der Schaffung des »sozialistischen Menschen«. Ethnische Vorurteile und Feindbilder waren daher weithin unter Kontrolle. Das zeigte seine positive Wirkung etwa bei der größten ethnischen Gruppe im gesamten östlichen Europa, den Roma7; ihre schwere Lage wurde durch das kommunistische System dadurch erleichtert, dass es ihnen in den meisten Ländern Arbeitsplätze verschaffte. Nicht in dieses positive Bild passte allerdings die repressive Politik Bulgariens der 1980er Jahre gegen die große Minderheit der ethnischen Türken im Lande, was noch im Sommer 1989 zu einer Massenvertreibung in die Türkei führte. Der Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftssystems im Herbst 1989 hatte gerade in Hinsicht auf das Thema dieses Bandes vorwiegend negative Folgen. Die in fast allen postsozialistischen Ländern unterdrückten oder verdrängten ethnischen Differenzen und Spannungen kamen wieder an die Oberfläche, die traditionellen Fremdbilder der inneren und der äußeren »Anderen« waren rasch wieder präsent. Da die postsozialistischen Staaten den Roma nun keine Arbeit mehr anbieten konnten oder wollten, verschlechterte sich deren Situation in allen betroffenen Ländern; zunehmende Ablehnung erfuhren auch die in den Balkanländern lebenden oder als Flüchtlinge ankommenden Muslime – bis hin zur Weigerung aller betroffenen Länder des östlichen Europa seit 2015, diese Flüchtlinge aufzunehmen (siehe den Beitrag von Świder). In allen Gesellschaften der Region erhielt die Geschichte wieder zunehmende Bedeutung, die Erinnerung an frühere Kriege und Krisen, an erlittenes Unrecht, selten aber an getanes Unrecht. In Ungarn lebte das Trianon-Trauma wieder auf, das schmerzvolle Erinnern an den Vertrag von Trianon vom Juni 1920, durch den Ungarn zwei Drittel seiner Staatsfläche verlor. Hinzu kamen Grenzstreitigkeiten und ethnische Spannungen bis hin zu ethnisch basierten Teilungen (wie die der Tschechoslowakei am 31. 12. 1992) oder Kriegen (wie in Kroatien und Bosnien 1991–1995) sowie die Folgen des Zerfalls der Sowjetunion – all diese Ereignisse schufen in den 1990er Jahren im gesamten östlichen Europa ein weit verbreitetes Gefühl der Unsicherheit, der Gefährdung. Es war genau in dieser prekären Situation der 1990er Jahre, dass die Europäische Union und der Beitritt zu dieser Staatengemeinschaft eine in jeglicher Hinsicht positive, pazifizierende Alternative und eine Lösung der meisten dieser Probleme zu bieten versprach. Stärker noch als in der vorkommunistischen Zeit war das Fremdbild von »Europa« überaus positiv, wurde zum strahlenden Gegenbild zum »zurückgebliebenen Balkan« oder zum »barbarischen Russland«. Zumindest für zwei Jahrzehnte nach der Wende dominierte damit ein überaus positives, fast schwärmerisches Bild des »Westens« (Roth 2008a), wobei »Westen« konkret die USA und die EU meinte. Ganz so wie schon im 19. Jahrhundert stand »Europäisierung« für »Modernisierung« und damit für Rettung und ein »besseres Leben« (siehe den Beitrag von Habit). Der EU-

7 | Der Europarat gab 2011 die Gesamtzahl der Roma in Europa mit 10 bis 12 Millionen an, wovon in den EU-Staaten Rumänien, Ungarn, der Slowakei und Bulgarien insgesamt knapp 4 Millionen leben.

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Beitritt von acht vormals sozialistischen Ländern8 am 1. Mai 2004 wurde euphorisch gefeiert (siehe Kiliánová 2008 zur Feier in Bratislava); ähnlich war es am 1.  Januar 2007 beim Beitritt Bulgariens19 und Rumäniens; Kroatien folgte erst im Juli 2013. Die Europäische Union und der »Westen« ebenso wie die damals kraftvoll wirkende Globalisierung waren in jenen Jahren Faktoren, die im gesamten östlichen Europa Hoffnung und Zuversicht verbreiteten. Es war nicht allein die weltweit wirkende Finanzkrise des Jahres 2008, die den Osten Europas hart traf, sondern eine Reihe anderer, wichtiger Faktoren, die all die Hoffnungen recht bald enttäuschten. Die Transformation der sozialistischen Staaten in Staaten nach westlichem Vorbild und Vorschriften der EU, also in Rechtsstaaten mit parlamentarischer Demokratie und freier Marktwirtschaft, erwies sich als weitaus schwieriger als erwartet. Sie schuf einerseits eine große Masse von Verlierern, die zu einem erheblichen Teil genötigt war, ihr Land auf Suche nach Arbeit Richtung Westen zu verlassen, und andererseits eine recht kleine Schicht von Gewinnern, die sich in vielen Ländern zu einer klientelistischen »Kleptokratie«10 formierten und großenteils nur geringes Interesse am Wohlergehen ihres Landes hatte und hat. Die problematischen wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Transformation wurden in ihrer Wucht im Westen nicht oder sehr spät erkannt und eingeschätzt. Allzu oft wurden von der EU und den USA Mitglieder der einstigen kommunistischen Nomenklatura mit politischen, juristischen, wirtschaftlichen und anderen Aufgaben betreut. Um aus dem Vortrag von Paul Lendvai zu zitieren: Die Beziehungen des Westens zum östlichen Teil Europas waren über die Jahrzehnte seit der Wende geprägt von »Arroganz und Ignoranz«. Das Ergebnis all dieser Entwicklungen, darunter auch der aus heutiger Sicht zu frühen Aufnahme mehrerer Länder in die EU, sind  – im Empfinden der Mehrheit der Menschen – zahllose enttäuschte Erwartungen an »Brüssel« beziehungsweise den »reichen Westen«. Übersehen wird dabei heute freilich, dass auch dieser Westen heute selber betroffen ist durch die wachsende Krise der Globalisierung und die von ihr ausgelösten sozialen und politischen Folgen. Vor dem Hintergrund dieser realen Entwicklungen ist die im östlichen Europa zu bemerkende zunehmende Rückwendung zum »Eigenen«, zu den eigenen Traditionen und zur eigenen Geschichte, die Verstärkung positiver Eigenbilder und negati8 | Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien. 9 | Die Feier zum EU-Beitritt Bulgariens in der Nacht auf den 1. Januar 2007 auf dem Platz Fürst Alexander  I im Zentrum Sofias konnte ich selbst beobachten; das Land stellte sich der EU-Öffentlichkeit per Fernsehübertragung vor mit drei nationalen Leistungen: 1. Rekorden von Sportlern, 2. zwei bekannten Archäologen, die Funde aus der Thraker-Zeit vorstellten und 3. einem bekannten Folklore-Chor, der neben traditionellen Liedern auch die Hymne der EU »Freude schöner Götterfunken« – in leicht folklorisiertem Ton – sang. 10 | Wie es Paul Lendvai in einem Vortrag zur Jahrestagung der Südosteuropa-Gesellschaft in Bamberg am 2. 3. 2019 formulierte. Lendvai ist ein aus Ungarn stammender österreichischer Publizist und politischer Kommentator.

12 | Klaus Roth

ver Fremdbilder eine kaum überraschende Folge. Wenig überraschend ist im ganzen östlichen Europa auch das erneute Anwachsen antemuraler Ideologien in Politik und Gesellschaft (Berezhnaya/Hein-Kircher 2019); wie früher schon der Balkanraum, so versteht sich heute der größte Teil des östlichen Europa als »Festung gegen den Islam« – mit konkreten Folgen für die Flüchtlingspolitik der gesamten Europäischen Union. Zusätzlich verstärkt wird diese Tendenz wohl auch durch die Tatsache, dass im Westen Europas das Bild des gesamten Ostens unverändert, vielleicht sogar zunehmend negativ ist; als einen beeindruckenden Beleg dafür kann das Ergebnis der in diesem Band vorgelegten Analyse von Band 4 der Harry Potter Serie von Joanne Rowling gewertet werden, eines Bandes, in dem die aus dem Osten Europas angereisten Teilnehmer eines Zauberwettbewerbs in England überaus negativ gezeichnet sind (siehe den Beitrag von Lütz); angesichts der Tatsache, dass die Bände weltweit eine Gesamtauflage von 450 Millionen Exemplaren haben, darf die Massenwirkung dieser negativen Stereotypisierung nicht unterschätzt werden. Der von Paul Lendvai gemachte Vorwurf der »Arroganz und Ignoranz« des Westens scheint hier eine unmittelbare Bestätigung zu finden. Vor diesem gesamten politischen, sozialen und auch literarischen Hintergrund kann es kaum überraschen, dass das ursprünglich positive Bild des Westens im Osten Europas zunehmend kritisch, ja negativ wird; dies wird etwa deutlich in der derzeitigen Politik der vier Višegrad-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn; sie wendet sich, wie mehrere Beiträge in diesem Band zeigen, mit wachsender Schärfe gegen liberale politische Vorgaben aus Brüssel zur Flüchtlingsfrage wie auch zur ethnischen, religiösen und gender-bezogenen Diversität. Grundlage dieser östlichen Kritik bildet die Annahme, dass die aus dem Westen kommenden Vorgaben die Spezifik der historischen und gesellschaftlichen Bedingungen des östlichen Europa nicht berücksichtigen und diesen Ländern Vorschriften machen wollen, die als überzogen und unangemessen empfunden werden; ein aktuelles Beispiel hierfür ist die Kontroverse über die Auslegung der »Istanbul-Konvention«11, die weit über das eigentliche Anliegen der Konvention hinausgeht; es sind vor allem Länder des östlichen Europa, die sich weigern, den Vertrag zu unterzeichnen. Die Vielschichtigkeit und den steten Wandel der gegenseitigen Fremdbilder und auch der gegenseitigen Beziehungen macht das Beispiel Deutschland – Russland exemplarisch deutlich.12 Sowohl die gegenseitigen Bilder als auch die Beziehungen sind seit Jahrhunderten in hohem Maße wandelbar, changieren zwischen positiv und negativ, wie etwa die Beiträge von Sara Reith und Andrey Trofimov belegen. Eine zentrale Rolle spielen dabei Kriege und Vertreibungen, wodurch meistens wirkmächtige 11 | »Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt«, auch bekannt als Istanbul-Konvention, ist ein 2011 ausgearbeiteter völkerrechtlicher Vertrag. Es schafft verbindliche Rechtsnormen und trat am 1. August 2014 in Kraft. Siehe die deutsche Fassung auf der Seite des Dt.  Instituts für Menschenrechte: https://rm.coe.int/CoERMPublicCommon​ S­ earch​S ervices/DisplayDCTMContent?documentId=0900001680462535 (letzter Zugriff: 11. 3. 2019). 12 | Siehe dazu den Artikel von Roth (2008b) zur gegenseitigen Wahrnehmung von Russen und Deutschen.

Eigenbilder, Fremdbilder, Identitäten im östlichen Europa | 13

Feindbilder entstehen. Belegt wird die Wichtigkeit solcher Ereignisse etwa für die deutsch-polnischen Beziehungen durch die Quellenauswertung von Katarzyna Woniak zu polnischen Zwangsarbeitern im Zweiten Weltkrieg, durch die Befragung Katharina Schuchardts von Angehörigen der heutigen Minderheiten in Polen, durch die Befragung von vertriebenen und in Slowenien verbliebenen Gottscheern durch Stefanie Samida, sowie durch die Analysen des Wandels der Einstellungen zu den Juden in Polen durch Peter Hörz und Uta Karrer. Bewegt sich Sebastian Gietls Auswertung von deutschen Reiseführern des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts um den historischen Wandel der Wahrnehmung der Griechen in Istanbul, so geht es Anja Decker bei ihrer Betrachtung moderner »Lifestyle-Migranten« im ländlichen Raum Tschechiens um gegenwärtige Formen der gegenseitigen Wahrnehmung von Einheimischen und Zugewanderten. Auf ein heutiges Problem gesellschaftlicher Akzeptanz in Polen weisen die beiden Autorinnen Julia Austermann und Agnieszka Balzerzak hin in ihrer Behandlung der Homophobie und der Identitätspolitik der LGBT-Bewegung. Stereotype Vorstellungen in jeglicher Form, solche über sich selbst oder solche über die Anderen, seien es positive oder aber feindlich-negative Vorstellungen, sind, so zeigt die Forschung, allgegenwärtig und unvermeidlich. Sie sind daher in ihrer Beständigkeit ebenso wie ihrem Wandel wichtige gesellschaftliche und individuelle Indikatoren. Der Wandel der gegenseitigen Bilder des europäischen »Ostens« und des »Westens« voneinander ist ein sehr passender und wichtiger Beleg: Politiker wie auch Wissenschaftler sind angesichts des nicht nur von Ivan Krastev (2017a) als Gefahr beschriebenen Auseinanderdriftens von Ost und West in Europa gut beraten, die Veränderungen dieser »Bilder in den Köpfen« ernst zu nehmen als Indikatoren von Veränderungen der realen politischen Situation und des social mood in den europäischen Gesellschaften. Stereotypen und Vorurteile in ihrem Wandel ernstzunehmen wäre freilich nur eine der möglichen Strategien des Umgangs mit ihnen. Eine weitere Strategie ist es, sie bewusst und zielgerichtet zu nutzen, sie für politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche oder erzieherische Zwecke zu instrumentalisieren, was heute in den fake news immer häufiger geschieht, etwa für die Beeinflussung von Wählern. Im Geist der politischen Korrektheit oder von Anti-Rassismus-Projekten gegen sie zu kämpfen oder sie gar verbieten zu wollen ist angesichts ihrer Ubiquität und gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit ein recht sinnloses Unterfangen. Zielführend scheint es zu sein, sie als soziale Alltagstatsache zu akzeptieren und etwa die ethnischen Stereotypen als tradiertes Einstellungsbild »mit einem Körnchen Wahrheit« zu beachten. Eine weitere Option ist es schließlich, mit ihnen zu »spielen«, sie ganz bewusst zu übertreiben und ironisch zu überziehen, also (wie im Witz) »über Vorurteile zu lachen« und sie dadurch zu relativieren. Sich über sie lustig zu machen erscheint jedenfalls als eine wirksamere Strategie des Umgangs mit ihnen, als sie als bedeutungslos beiseite zu schieben oder sie zu bekämpfen. Ein beeindruckendes Beispiel der letzteren Strategie des Umgangs mit den unvermeidlichen Stereotypen und Vorurteilen bietet der von Yanko Tsvetkov (2013) publizierte »Atlas der Vorurteile«. Der »Atlas« liegt inzwi-

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schen in Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch, Türkisch und Chinesisch vor, die meisten Zeichnungen sind im Internet zugänglich.13 Von besonderem Interesse für das Thema dieses Bandes sind jene Zeichnungen, die nationale Sichtweisen auf die jeweils übrigen Länder Europas ironisch darstellen, etwa die Zeichnungen »Europa aus der Sicht von Polen«, »Europa aus der Sicht von Bulgarien«, »Europa aus der Sicht von Frankreich« oder »Europa aus der Sicht von Deutschland«. Sie bringen – auf der Basis von umfangreichen Forschungen des Autors – wichtige Charakterzüge der jeweils »Anderen« ironisch übertreibend anschaulich auf den Punkt. Es ist recht wahrscheinlich, dass Yanko Tsvetkov die in Bulgarien gut bekannten Karikaturen des Balkanski papagal (s. die Abb. auf dem Umschlag dieses Bandes) kannte und durch sie inspiriert worden ist. Vier für das Thema des Bandes relevante Karten, zwei von westeuropäischen und zwei von ost- und südosteuropäischen Ländern mit deren Sichtweisen auf die übrigen europäischen Länder, sind auf den Seiten 14 und 15 abgedruckt. Die Karte zur britischen Sichtweise auf Europa aus dem Jahre 2010, sechs Jahre vor der Brexit-Abstimmung, kann als nahezu prognostisch bezeichnet werden; sie verweist darauf, dass nationale Vorurteile durchaus ernst genommen werden sollten.

Z itierte L iteratur Bauman, Zygmunt (1998): Globalization. The Human Consequences. Cambridge. Bauman, Zygmunt (2017): Symptome auf der Suche nach ihrem Namen und Ursprung. In: Geiselberger, Die große Regression, S. 37–56. Berezhnaya, Liliya/Hein-Kircher, Heidi (Hrsg.) (2019): Bulwark Myths of East European Multiconfessional Societies in the Age of Nationalism. New York/Oxford. Bromlej, Julian (1973): Ëtnos i ëtnografija. Moskau [Deutsche Übers.: Ethnos und Ethnographie. Berlin 1977]. Erlich, Vera (1984): Historical Awareness and the Peasant. In: Portis Winner, Irene u. a. (Hrsg.): The Peasant and the City in Eastern Europe. Cambridge, Mass., S. 99–109. Geiselberger, Heinrich (Hrsg.) (2017): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin. Götz, Irene/Roth, Klaus/Spiritova, Marketa (Hrsg.) (2017): Neuer Nationalismus im östlichen Europa. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld. Kiliánová, Gabriela (2008): Die EU-Beitrittsfeier der Slowakei als politisches Ritual. In: Roth, Klaus (Hrsg.): Feste, Feiern, Rituale im östlichen Europa. Studien zur sozialistischen und postsozialistischen Festkultur. Wien/Berlin, S. 209–218. Krastev, Ivan (2017a): Europadämmerung. Ein Essay. Berlin. Krastev, Ivan (2017b): Auf dem Weg in die Mehrheitsdiktatur? In: Geiselberger, Die große Regression, S. 117–134. 13 | Siehe https://atlasofprejudice.com (letzter Zugriff: 11. 3. 2019).

Eigenbilder, Fremdbilder, Identitäten im östlichen Europa | 17

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Fremde Nationen und Regionen

Deutsch-polnische Feindbilder in der Praxis Zum gegenseitigen Umgang während der Zwangsarbeit in Berlin Katarzyna Woniak

Abstract: German-Polish hostile images of each other in practice. On dealing with each other in the period of forced labour in Berlin This paper adresses two topics: On the one hand the concept of the enemy by the Germans and on the other the same concept of the Polish forced labourers during the 2nd World War in Berlin. Due to the mass-employment of Polish citizens in the German war economy there were many encounters between Germans and Poles not only in their workplaces, much to the dismay of the Nazi – ideologists. The mutual relationship between them was greatly defined by traditional negative concepts of the enemy and stereotypes. The analyzed examples concur with this hypothesis. While the German citizens developed their views of the Poles mainly from a racist-ideological viewpoint, the Polish workers shaped their image of the Germans mainly by the individual and collective injustices they suffered from due to the German occupation of Poland. Feindbilder kommen besonders in Konflikt- und Kriegszeiten zur Geltung. Einmal entstanden, bleiben sie oft im Verborgenen, um in konfliktträchtigen Momenten wieder belebt zu werden. Die deutsch-polnischen Beziehungen können als Geschichte der gegenseitigen Feindbilder aufgefasst werden. Denn immer wieder wurden die verborgenen Stereotypen für verschiedene politische und gesellschaftliche Zwecke hervorgeholt und damit letztendlich aufrechterhalten. Der Zweite Weltkrieg bildet in dieser Beziehung den Höhepunkt, da er die völkische und rassi(sti)sche Frage in Bezug auf den Umgang mit dem polnischen Nachbarn auf einer bis dahin nicht vorgekommenen Reichweite nutzte (Broszat 1965; Wolf 2012). Einen festen Bestandteil der Feindbilder bilden Stereotypen. Das Wesen von Stereotypen ist die Reduzierung von komplexen, mehrschichtigen Aspekten auf einige wenige Eigenschaften, die wiederum in der klassischen Einteilung von »Gut und Böse« strukturiert sind. Sie sind meist an unangenehme Eigenschaften von Personen oder Personengruppen geknüpft. Dabei bedarf es meist keiner logischen Erklärung, denn die Vorurteile werden als »feststehende Tatsachen« angesehen (Roth 1998; Orłowski 2005). Bei den meisten Menschen sind diese feststehenden Tatsachen in

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ihrem Unterbewusstsein verankert, so dass sie sich deren Existenz erst gar nicht bewusst sind. Aus diesem Grund reagieren die Betroffenen auf die Begegnung mit den Trägern ihres Feindbildes oftmals reflexartig, ohne dass sie sich dagegen wehren können (Benz 2001). Das »Gute« an Stereotypen ist die Tatsache, dass sie sich genauso im Wandel befinden, wie die Gesellschaften, sozialen Gruppen und einzelne Menschen, die ihnen unterliegen und die von ihnen hervorgebracht werden. Stereotypen können verschwinden, und an ihrer Stelle entstehen neue Vorstellungen. »Es wäre besser, wenn wir sie nicht hätten, aber wir brauchen sie. Die Polen werden insgesamt herübergeholt und insgesamt als Polen behandelt« (Herbert 1999: 86). Mit diesem Satz brachte Heinrich Himmler im Februar 1940 die deutsche Polenpolitik auf den Punkt. Demnach seien Polen als »Untermenschen« nur aufgrund ihrer Arbeitskraft für die deutschen »Herrenmenschen« überhaupt von Belang. Die Diskriminierung bis hin zur Verfolgung der Polen wurde mit »rassischen« Überlegungen gerechtfertigt. In der Auffassung des NS‑Regimes stellten sie eine »rassische« und völkische Gefahr dar. Eine »rassische Überlegenheit« der Deutschen gegenüber den Polen sollte die brutale Behandlung der polnischen Arbeitskräfte legitimieren. Die antipolnische Propaganda des NS‑Staates konnte auch deshalb so erfolgreich sein, weil sie auf bereits vorhandene Werte und Mentalitäten in Bezug auf die polnischen Bürger aufbauen konnte. Die Machthaber knüpften also direkt an die in großen Teilen der Bevölkerung dominierenden polenfeindlichen Auffassungen an. Lediglich dort, wo persönliche Begegnungen und Erfahrungen die soziale Kommunikation bestimmten, blieben die abstrakten rassenideologischen Feindbilder relativ wirkungsschwach (ebd.). Die Fülle an restriktiven Anordnungen, die die NS‑Führungselite schon unmittelbar nach dem Angriff auf Polen in die Wege geleitet hatte, ließ bei den polnischen Zwangsarbeitern1 keinen Zweifel aufkommen, dass sie als Arbeitskräfte der wirtschaftlichen Ausbeutung ausgeliefert wurden (Stefański 2000; Timm 2008). Die geschätzte Zahl der Zwangsarbeiter im Deutschen Reich in den Jahren 1939–1945 betrug etwa 13,5  Millionen. Dies deutet darauf hin, dass die Zwangsarbeit als ein zentrales NS‑Verbrechen angesehen werden kann. Unter ihnen gab es mindestens drei Millionen polnische Arbeitskräfte, davon circa 420.000 Kriegsgefangene aus den Jahren 1939–1940 (Spoerer 2001: 45, 49 f.). Der Blick auf den Zusammenhang zwischen der Arbeitsfrage und der »Volksgemeinschaft« ist aus Forscherperspektive besonders vielversprechend, da es hier auf der Ebene der Umsetzung zu gravierenden Widersprüchen innerhalb der NS‑Ideologie kam. Der Primat des Rassismus ließ wenig Spielraum bei der Behandlung von polnischen Arbeitskräften. In der Praxis übertraf häufig der Wunsch nach einer hohen Arbeitsleistung eines Polen die festgesetzten »rassischen Richtlinien«. Aber auch die 1 | Um die Lesbarkeit der Arbeit nicht zu erschweren, wird im gesamten Text auf die Gender-Form mehrerer Begriffe verzichtet. Beide Geschlechter werden jeweils unter einem Begriff zusammengeführt, außer es handelt sich um geschlechtlich spezifische Erscheinungen. Die zeitgenössischen Begriffe werden in Anführungszeichen gesetzt, um so auf ihren meist propagandistischen oder ideologischen Charakter hinzuweisen.

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polnischen Zwangsarbeiter waren gezwungen, einen Spagat zwischen ihren negativen deutschen Feindbildern und der Sicherung ihrer Existenz zu machen. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit den gegenseitigen Feindbildern während des »Arbeitseinsatzes« in Berlin in den Jahren 1939–1945. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Analyse der Praktiken und Einstellungen der deutschen Arbeitgeber und der polnischen Zwangsarbeiter. Diese werden im Zusammenhang mit der NS‑Ideologie betrachtet, da die NS‑Behörden klare Richtlinien für das Verhältnis zwischen den deutschen »Herrenmenschen« und den polnischen »Untermenschen« beim »Arbeitseinsatz« im Reichsgebiet setzten. Den Quellenkorpus bilden zeitgenössische Ego-Dokumente aus den Ermittlungs-, Vernehmungs- und Prozessakten der NS‑Justiz und aus den Unterlagen der ausgewählten Betriebe Siemens und die Bergmann-Elektrizitätswerke. Die Personalakten enthalten Informationen zu individuellen Schicksalen, darunter auch zur unterschiedlichen Ausprägung der Feindbilder. Die Beschäftigung von Polen in der deutschen Wirtschaft setzte nicht erst mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs an, sondern sie hatte bereits eine längere Tradition. Mit dem Anfang der Industrialisierung waren zahlreiche Landarbeitskräfte polnischer Herkunft sowie Hilfsarbeiter bei der Industrie aus den östlichen preußischen Provinzen Ostpreußen, Posen und Oberschlesien in das Ruhrgebiet eingewandert. Die polnischen Zuwanderer arbeiteten meist im Bergbau und gründeten für ihre Interessenvertretung Vereine und Gruppierungen.2 In dieser Zeit wurde die deutsche Bevölkerung mit Menschen aus Polen erstmals vor Ort konfrontiert. Auch wenn diese »Ruhr-Polen« in den deutschen Industriezentren eine Art von Parallelgesellschaft entwickelt hatten (Kleßmann 1978: 188), so kann diese Zeitspanne als gewisse Einübung im Umgang mit gegenseitigen Fremdbildern betrachtet werden. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 wurden polnische Bürger aus der entstehenden »Volksgemeinschaft« ausgeschlossen. Mit der Zerschlagung des polnischen Staates kam es zur Auflösung der Vereine der polnischen Minderheit und zur Germanisierung bis hin Verfolgung (Wrzesiński 1993). Der Umgang mit den polnischen Zwangsarbeitern hing davon ab, wo sie beschäftigt waren. In der Landwirtschaft herrschte eine Tradition in der Beschäftigung der Polen als Saisonarbeiter, die insbesondere in der Zeit der Weimarer Republik im Reich gearbeitet hatten (Freitag 1995). Dies trug dazu bei, dass einige Bauern ihre polnischen Arbeiter besser behandelten, als es der NS‑Staat von ihnen verlangte (Bauer 1996: 170). Der herrschende ideologische Rassengedanke sollte jegliches gute Zusammenleben von deutschen »Volksgenossen« und den von ihnen als minderwertig eingestuften polnischen Zwangsarbeitern eigentlich unterbinden (Hamann 1986). Die Polen waren spätestens ab 1941 für die deutsche Wirtschaft als Arbeitskräfte unentbehrlich. Die deutschen Funktionsträger machten auch selbst daraus keinen Hehl, dass sie diese slawischen »Untermenschen« lediglich wegen ihrer Arbeitsleistung geduldet haben. Schon die Verpflichtungserklärung, die die polnischen »Zivil2 | Zum Umgang mit der polnischen Minderheit in Deutschland in der Zwischenkriegszeit siehe Frackowiak 2012.

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arbeiter« in den Betrieben und in den anderen Einsatzorten unterschreiben mussten, enthielt eine Rangordnung, die allein auf den rassenideologischen Prinzipien beruhte.3 Die Rüstungsfirma Bergmann-Elektrizitätswerke zum Beispiel erklärte ihren deutschen Angestellten den Einsatz polnischer »Zivilarbeiter« mit den kriegswirtschaftlichen Verhältnissen: »Die Beanspruchung der gesamten Volkswirtschaft während des Krieges erfordert den Einsatz aller verfügbaren Einsatzkräfte, es hat sich daher nicht vermeiden lassen, auch in unseren Betrieben zu Hof- und Transportarbeitern polnische Arbeitskräfte einzusetzen.«4 Obligatorisch waren die Anweisungen, die regelten, wie die deutsche »Gefolgschaft« mit den polnischen Arbeitskräften umzugehen habe. So lauteten die wichtigsten Sätze des Verhaltenskodexes, das jedem deutschen Mitarbeiter ausgehändigt wurde, wie folgt: »Jedes deutsche Gefolgschaftsmitglied hat sich stets bewußt zu sein, dass die Zivilarbeiter polnischen Volkstums Angehörige eines Feindstaates sind. […] Der Verkehr mit den polnischen Arbeitskräften während der Arbeitszeit ist auf das unbedingt notwendigste Maß zu beschränken und außerhalb der Arbeitszeit völlig verboten. […] Verstoße gegen diese Bestimmungen werden streng geahndet.« 5

Aufgrund der »rassenbiologischen« Bestimmungen sollten jegliche Kontakte mit der deutschen Bevölkerung unterlassen werden. Geduldet waren nur die unvermeidlichen Kontakte auf der Arbeitsstelle beziehungsweise auf dem Bauernhof. Und selbst diese Art der Begegnung wurde umfassend reglementiert. Die deutsche Bevölkerung erhielt immer wieder Informationspakete, wie man im Alltag den polnischen »Untermensch« behandeln solle. Das Merkblatt »Wie verhalten wir uns gegenüber den Polen?« vom 15. März 1940 bildete die Grundlage der Aufklärung aller landwirtschaftlichen Betriebsführer und Bauern. Seine Kenntnisnahme war durch Unterschrift zu bestätigen. Allerdings durfte dieser rassistische Verhaltenskodex nicht den Polen selbst ausgehändigt werden, da man dadurch die Anwerbung von weiteren polnischen Arbeitskräften erschwert hätte (Linne 2011). Der Text erklärte in zehn Punkten den »Untermenschenstatus« von Polen und endete mit dem Aufruf: »Deutsche, seid zu stolz, euch mit Polen einzulassen.«6 Die Erlasse des Reichssicherheitshauptamtes vom 8. März 1940 regelten die Beziehungen zwischen den »Herrenmenschen« und »Arbeitsvölkern«. Sie betrafen das private, arbeitstechnische, kulturelle und religiöse Leben der polnischen Zwangsarbeiter. Die sogenannten »Polenerlasse« führten zu keinerlei Protesten und Empörungen in der deutschen Öffentlichkeit (Herbert 2003: 131). Die Diskriminierung einer ganzen nationalen Gruppe erfüllte weitgehend die Erwartungen der deutschen Bürger, die infolge des massenhaften Einsatzes polnischer »Zivilarbeiter« wohl eine Orien3 | LAB, A Rep. 080, Sign. 339; Günnewig 2009. 4 | LAB, A Rep. 250-03-02, Sign. 56/2. 5 | LAB, A Rep. 250-03-02, Sign. 56/2. 6 | ITS, Sign. 2.2.0.1/82388932.

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tierungshilfe suchten. Die bedingungslose Hinnahme der »Polenerlasse« deutet auch darauf hin, dass diese ihr fest im Bewusstsein verwurzeltes negatives Polenbild bestätigten. Die Deutschen lehnten diese rassistischen Erlasse nicht nur nicht ab, sondern sie nahmen auch aktiv an ihrer erfolgreichen Umsetzung teil. Um eine lückenlose Überwachung der polnischen Arbeiter zu gewährleisten, wurden selbst die Arbeitgeber und die gesamte deutsche Bevölkerung dazu aufgefordert, ein wachsames Auge auf das Verhalten der polnischen Arbeitskräfte zu richten (Boberach 1984: 3203). Die »Polenerlasse« sowie weitere gesetzliche Bestimmungen, die durch diverse NS‑Ämter im Laufe des Krieges konzipiert und verabschiedet wurden, bildeten den Rahmen, der vor Ort und in konkreten Fällen beliebig ausgedehnt werden konnte. Die antipolnische Propaganda fiel bei den Deutschen auf fruchtbaren Boden. Polen wurden als bedrohlich empfunden, ganz im Sinne der Polizeiorgane und anderer NS‑Organisationen. Rassistische Vorurteile erleichterten bestimmte verwerfliche Handlungen (Liedke 1997: 156–163). Die Frage, wie die polnischen »Zivilarbeiter« zu behandeln waren, hing letztendlich von denjenigen Personen ab, die im jeweiligen Moment mit ihnen zu tun hatten. Es waren die Betriebsführer, Meister und andere Vorarbeiter im Betrieb, Beamte und Angestellte unterschiedlicher staatlicher Stellen sowie die Wachmänner und Lagerführer, welche die gesetzlichen Vorgaben nach eigenen Maßstäben umsetzten. Diese Handlungsspielräume boten sich auf sämtlichen betrieblichen und verwaltungstechnischen Ebenen und wurden zu Gunsten oder zu Lasten der Polen genutzt. Über die Behandlung polnischer »Zivilarbeiter« während des »Arbeitseinsatzes« entschieden oft Werksangehörige auf der untersten betrieblichen Ebene. Nicht selten wurden personelle Defizite durch besonders hartes Vorgehen gegenüber Ausländern kompensiert (Heusler 2000: 225). Diese hatten den direkten Kontakt mit den ausländischen Arbeitskräften und beeinflussten damit direkt ihre Arbeitsbedingungen. Hinzu kamen diverse Sachbearbeiter in den Verwaltungsorganen auf der lokalen Ebene, die durch Kooperation mit Polizeidienststellen sowie durch selbstentworfene Formblätter und Merkzettel an der Verfolgung von Zwangsarbeitern mitwirkten und somit Eigeninitiative entwickelten. Die in der Landwirtschaft beschäftigten Zwangsarbeiter waren meist disloziert. Ihnen standen auch keine Räumlichkeiten für Sammelunterkünfte zur Verfügung. Sie verfügten auch selten über private Rückzugsräume, so dass sie unter ständiger Kontrolle der Gutsbesitzer lebten (Hornung 2004). Die nationalsozialistische Rechtsprechung bot genügend Feindbilder gegenüber Polen. Der Pole als »gewöhnlicher Verbrecher« entsprach idealtypisch diesem Feindbild. Von dieser zweckorientierten Einstellung der Deutschen gegenüber Polen zeugt beispielsweise die Feststellung eines Kriminalobersekretärs, der den tödlichen Betriebsunfall von Stefan K. begutachten sollte. Der 34‑jährige Pole aus dem Generalgouvernement erlitt am 12.  Februar 1945 während des Einsatzes am Schlesischem Bahnhof einen tödlichen Unfall, als er von einem abrutschenden schweren Balken am Kopf verletzt wurde. Nahezu zwei Wochen später wurde ein fremdes beziehungsweise fahrlässiges Verschulden beim Tode des verunglückten Stefan untersucht. Der zuständige Beamte stellte in dem Ermittlungsergebnis folgendes fest: »So bedauerlich

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der Unfall auch ist, denn der Verunglückte, der wohl Pole, aber doch ein guter Arbeiter gewesen sein soll, hätte seine Arbeitskraft für notwendige Kriegsarbeiten weiter einsetzten können.«7 Dieser Fall macht zwei kuriose Aspekte deutlich. Zum einem beweist er die tief eingeprägten Feindbilder gegenüber Polen, denen man Arbeitsfleiß und gute Leistung grundsätzlich nicht zutraute. Zwar beschäftigte man sie massenhaft in der Produktion, doch meist als Hilfsarbeiter. Selten fungierten die nach Deutschland zwangsdeportierten polnischen »Zivilarbeiter« als Spezialisten oder Facharbeiter. Zum anderen lässt sich an dieser kriminalpolizeilichen Ermittlung die Stimmung innerhalb der deutschen Gesellschaft gut ablesen. Denn noch Ende Februar 1945, also zwei Monate vor dem Kriegsende und der endgültigen Niederlage Deutschlands, wurde das Unrecht gegenüber den polnischen Bürgern nicht als solches betrachtet. Vielmehr vertrat man den eingeübten Herrschaftsanspruch (Stargardt 2015). Darüber hinaus war man bereit, die polnische Arbeitskraft weiterhin rücksichtslos auszunutzen, um die Kriegswirtschaft aufrechtzuerhalten. Auch in vielen weiteren Fällen wurde das Einstellen der kriminalpolizeilichen Ermittlungen mit der rassistischen Begründung praktiziert. Für die Funktionsträger war es entscheidend, dass sie in der jeweiligen Sache mit Polen zu tun hatten, wie das folgende Beispiel zeigt. Drei polnische »Zivilarbeiter« aus dem Gemeinschaftslager in Berlin Marienfelde sind in Folge einer Methylalkoholvergiftung im August 1940 gestorben. Die eingeleitete polizeiliche Untersuchung wurde mit der Feststellung eingestellt, es handele sich ja um Polen, die selbstverschuldet verstarben.8 Bestimmte Vorurteile gegenüber Polen fanden sich stets in der Alltagssprache innerhalb der deutschen Bevölkerung wieder. Der »Arbeitseinsatz« der »Fremdvölkischen« war in Wirklichkeit keine hermetische und abgesonderte Angelegenheit. Im Gegenteil, Zwangsarbeit fand auf dem deutschen Staatsgebiet überall statt, was dazu führte, dass die Zwangsarbeiter stets von den Deutschen wahrgenommen werden konnten. Die meisten Kontakte zwischen ihnen und den Polen entwickelten sich am gemeinsamen Arbeitsplatz. Auch wenn für die NS‑Funktionäre eine solche Begegnung unerwünscht war, so ließ sie sich wegen des massiven Arbeitskräftemangels nicht vermeiden. In den Ermittlungsakten der allgemeinen Justiz gibt es reichlich negative Formulierungen deutscher Bürger bezüglich des polnischen »Arbeitseinsatzes« in Deutschland während des Krieges. Das folgende Beispiel handelt von polnischen und deutschen Vorarbeitern bei der Spandauer-Stahlindustrie. Das Verhältnis zwischen Józef S. und Friedrich S. kam überhaupt deshalb zustande, weil der deutsche Bauarbeiter, beschäftigt bei der Firma Hegerfeld, bei der Spandauer-Stahlindustrie lediglich im Auftrag arbeitete. Dort traf er immer wieder den 31‑jährigen Polen Józef S. aus Kr. Wollstein, mit dem er sich gut auf Deutsch verständigen konnte. Józef S. verfügte über gute Deutschkenntnisse, weil sein Heimatort bis 1918 im ehemaligen deutschen Staatsgebiet lag. Der deutsche Arbeiter überließ ihm im Herbst 1941 »aus Mitleid«, wie es in der Akte heißt, seine Kleiderkarte zum Kauf eines Hemds. Der 7 | LAB, A Rep. 358-02, Sign. 75679. 8 | LAB, A Rep. 358-02, Sign. 45061.

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Pole sei »ganz zerlumpt« gewesen und habe nichts zum Anziehen gehabt – erklärte der deutsche Bauarbeiter in seiner Vernehmung, die aufgrund einer Diebstahlbeschuldigung von Józef S. wegen der Kleiderkarte veranlasst wurde.9 Weiter führte Friedrich S. aus: »Wenn der Józef behauptet, dass er von mir beauftragt worden sei, die Kleiderkarte für 45 RM zu verkaufen, so lügt er wissentlich. Ich habe nachträglich erst festgestellt, wie diese Polacken lügen und schwindeln können.«10 Da die Ermittlungsbeamten Józef S. keinen direkten Diebstahl beweisen konnten, wurde er trotz der belastenden Aussage des Deutschen freigesprochen und sein Haftbefehl wurde aufgehoben. Dieses Beispiel verdeutlicht zwei Aspekte: Zum einen wird sichtbar, wie schnell ein Einzelfall dazu beitragen konnte, eine ganze Nation pauschal mit einem negativen Vorurteil zu versehen. Zum anderen sieht man, dass bestimmte vorurteilsvolle Schimpfworte schlichtweg im allgemeinen Sprachgebrauch der gewöhnlichen Bürger waren. Der Begriff »Polacken« gehörte zum festen Vokabular der NS‑Sprache und stand stellvertretend für die Menschen aus dem polnischen Staatsgebiet. In mehreren Reden von NS‑Funktionären tauchte diese Bezeichnung auf. Dabei war sie ausnahmslos negativ konnotiert. So benutzte etwa Fritz Sauckel, Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz, den Begriff in seiner Weimarer Rede über die Bedeutung der ausländischen Arbeitskräfte für die deutsche Wirtschaft am 4. Dezember 1943. In dieser Ansprache kam er auf Polen abwertend wegen ihrer angenommenen »primitiven« Lebensweise zu sprechen (Moczarski/Post/Weiß 2002: 59). Bei vielen industriellen und landwirtschaftlichen Betrieben wurden polnische Arbeitskräfte meist unter dem Gesichtspunkt ihrer Arbeitsleistung gesehen. Die Zentralwerks-Verwaltung der Firma Siemens beschrieb Ende des Jahres 1942 »ihre« polnischen Zwangsarbeiter folgendermaßen: »Verschlossen, ja unfreundlich, sie arbeiten pflichtgemäß. Ihre Intelligenz ist geringer als die der Franzosen. Die meisten waren für grobe, gleichförmige Arbeiten geeignet.«11 Ein Betriebsmeister bei der Maschinenfabrik Otto Pieron äußerte sich ebenfalls weniger positiv über die Arbeitsweise der bei ihm beschäftigten polnischen »Pflichtarbeiter«, wie sie in der Betriebssprache genannt wurden. Im Mai 1942 gab er im kriminalpolizeilichen Protokoll an, dass »sämtliche von den Polen ausgeführten Arbeiten sehr gleichgültig und unlustig erledigt werden«.12 Schon der in der Betriebssprache verwendete Ausdruck »Pflichtarbeiter« verdeutlicht die Praxis der rassen-ideologischen Diskriminierung der Polen. Solange die eingesetzten Polen ihre Arbeit »so verrichteten wie es von ihnen verlangt wurde«, wie sich der Meister ausdrückte, solange ließ man sie in Ruhe. Um jedoch Pfuscharbeit zu verhindern, habe man sie immer wieder auf das »Schärfste zurechtgewiesen. […] Eine Bestrafung durch die Firma bei den Polen [ist] völlig zwecklos. Strafen usw. werden von ihnen mit so einer Gleichgültigkeit aufgenommen, so dass 9 | LAB, A Rep. 358-02, Sign. 90895: 21. 10 | LAB, A Rep. 358-02, Sign. 90895: 28. 11 | Siemens, Sign. 18551. 12 | LAB, A Rep. 358-02, Sign. 4075.

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zu vermuten ist, dass sie nur im Reichsgebiet verbleiben, um Sabotageakte durchzuführen«.13 Deshalb schalteten schon bei leichter Widersetzlichkeit und Arbeitsunlust die Firmen die Gestapo ein, die dann die Betroffenen gemäß den »Polenerlassen« vom 8. März 1940 für ein paar Wochen in ein eigens betriebenes »Arbeitserziehungslager« überführte. Sollte damit keine Besserung erreicht werden, so wies Gestapo solche »arbeitsscheuen« Polen in ein Konzentrationslager ein. Auch kleine familiär geführte Unternehmen beklagten, dass ihre polnischen Arbeitskräfte nicht besonders fleißig seien. Der Pole Bolesław K. war seit drei Monaten auf einem Gut als Aushilfe in der Landwirtschaft in Berlin-Reinickendorf beschäftigt. Zwar bezeichnete ihn sein Arbeitgeber als faul und frech, wollte aber auf diese Arbeitskraft nicht verzichten.14 Eines deutlich besseren Rufes erfreuten sich polnische »Zivilarbeiter« bei der Firma Bergmann-Elektrizitätswerke. Im April 1943 notierte ein Betriebsführer, dass Polen sogar »in ihrer Leistung unter allen Ausländern an der Spitze [wären]. Sie sind willig und besonders für schwere Arbeiten gut zu verwenden«. Allerdings gab er zu, dass hinter dem bemerkenswerten Arbeitsfleiß eine besonders harte Disziplinierung steht: »Die guten Resultate können darauf zurückgeführt werden, dass die Polen zeitlich am längsten im Werk sind und die durch besondere Bestimmungen gestützten scharfen Behandlungsmaßnahmen gute Erfolge gezeigt haben.«15 Polnische »Zivilarbeiter« hegten Misstrauen, Abneigung und Groll gegen die Deutschen. Die allermeisten Polen behielten ihre antideutsche Einstellung aus Angst vor Repressionen für sich (Łuczak 1974). Doch manche schenkten ihren Freunden, Familienangehörigen oder Bekannten Vertrauen und teilten ihre deutschfeindliche Gesinnung mit. Sollten sie dabei erwischt beziehungsweise denunziert werden, mussten sie mit einer hohen Strafe entweder nach dem sogenannten Heimtückegesetz16 oder mit polizeilicher Verfolgung rechnen, wie das folgende Beispiel beweist. Die 28 Jahre alte Polin Maria C. aus Posen wohnte im Gemeinschaftslager Rudow in der Köpenickerstr. 39/45 in Berlin in der Baracke 20, Stube II. Beschäftigt wurde sie im Flugzeugreparaturwerk Rudow in Berlin-Adlershof, Rudower Chaussee 48/52. Am 21.  April 1943 verübte sie Selbstmord durch Ertrinken. Die erhaltenen Dokumente der »Generalstaatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin« informieren über die Hintergründe dieser verzweifelten Entscheidung. Nach den polizeilichen Feststellungen soll die Verstorbene mit einem Franzosen ein Verhältnis unterhalten und sich in einem an ihn gerichteten Brief geäußert haben, dass sie ihn über alles liebe und die Deutschen hasse. Ihr Verhalten hat dazu geführt, dass sie sich bei der Betriebsverwaltung des Flugzeugreparaturwerkes zu verantworten hatte. Hier wurde ihr 13 | LAB, A Rep. 358-02, Sign. 4075: Verhandlungsprotokoll. 14 | LAB, A Rep. 358-02, Sign. 24640. 15 | LAB, A Rep. 250-03-02, Sign. 56/1, Bd. 2. 16 | Hierbei handelt es sich um das Gesetz gegen »heimtückische Angriffe« auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen vom 20. Dezember 1934. Es schränkte das Recht auf freie Meinungsäußerung ein und bestrafte kritische Aussagen.

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erörtert, dass ihre Angelegenheit weiterverfolgt werde. Es wird angenommen, dass sie aus Furcht vor der Strafe in den Kanal gesprungen sein dürfte.17 Die Polin wurde durch den Betriebsleiter denunziert, der sie beim Schreiben des Briefes während der Arbeitszeit ertappte. Der Brief wurde ihr von einem Vorarbeiter weggenommen und der Direktion überbracht. Dort sei der Brief übersetzt und gelesen worden. So sei festgestellt worden, dass sie sich abfällig über die Deutschen geäußert hatte. Wörtlich schrieb die Polin: »Alle vertrage ich außer Deutschen und Italiener[n].«18 Ein Tag später äußerte Maria gegenüber ihren Kameradinnen, dass es keinen Zweck habe, zur Arbeit zu gehen, da sie vielleicht schon im Betrieb von der Polizei in Empfang genommen werde.19 Sie verfasste einen Abschiedsbrief an ihre in Posen lebende Mutter und nahm sich daraufhin das Leben. Die Mutter ist nach der Todesnachricht sofort nach Berlin gefahren. Der Fall von Maria  C. verdeutlicht einerseits, welche Folgen eine unvorsichtige Offenbarung des Deutschlandhasses mit sich bringen konnte und andererseits, welche Angst die ausländischen Zwangsarbeiter vor der Polizei hatten, sodass manchmal der Selbstmord als einziger Ausweg erschien. Antoni R., geb. 1908 in Łódź (seit 1940 Litzmannstadt), erlaubte sich eine deutschfeindliche Aussage während der Arbeit und wurde durch einen deutschen Arbeiter bei der Kriminalinspektion Charlottenburg im März 1941 angezeigt. Der Pole wurde im Oktober 1940 durch das Arbeitsamt Berlin der Holzhandlung-Firma Franke in Berlin-Spandau vermittelt. Auf der Arbeitsstelle waren auch Deutsche tätig, wie etwa der 54‑jährige Arbeiter Johannes B. aus Steinfort. Am 27. Februar 1941 war er Zeuge einer Unterhaltung zwischen dem Polen und seinem jüdischen Arbeitskameraden Heinrich J. Auf der Toilette soll Anton Heinrich folgendes auf Deutsch gefragt haben: »Fünf Polen und fünf Deutsche und was macht man mit den Deutschen?« Darauf antwortete Heinrich: »Aufhängen«. Dieses hasserfüllte Gespräch zeigte Johannes »im Interesse des Betriebes« bei der Polizei an.20 In der Vernehmung bestätigte Anton ein freundschaftliches Verhältnis zum Juden Heinrich, mit dem er sich oft auf Polnisch unterhielt. Zu dem Vorfall erklärte er, dass in diesem fraglichen Moment auf der Toilette Heinrich, vier Deutsche und fünf Polen anwesend waren. Diese ungewöhnliche deutsch-polnische Zusammenkunft auf der Toilette diente in erster Linie dem Rauchen, das im Betrieb untersagt war. Antoni habe allerdings das auf Deutsch von Heinrich ausgesprochene Wort »Aufhängen« nicht gehört.21 Die ermittelnden Beamten wollten den Aussagen von Antoni keinen Glauben schenkten. Entscheidend für den Sachverhalt war nunmehr die Aussage des »arischen Arbeiters« Johannes: »Zunächst saßen sie [Antoni und Heinrich] auf der Toilette und rauchten. Ich musste austreten und bat den Juden aufzustehen. Er stellte sich vor mir hin und aus der anderen Ecke kam der Pole auf den Juden zu und 17 | LAB, A Rep. 358-02, Sign. 143537. 18 | LAB, A Rep. 358-02, Sign. 143537: Vermerk. 19 | Ebd. 20 | LAB, A Rep. 358-02, Sign. 5693: 5. 21 | Ebd.: 7.

30 | Katarzyna Woniak blieb bei ihm stehen. […] Aus der Handbewegung entnahm ich, dass der Pole durch die Zeichen ebenfalls meinte, die Deutschen aufhängen.« 22

Später habe der Pole zu Johannes gesagt, es sei nur Spaß gewesen.23 Im Ermittlungsschlussbericht wurde festgehalten, dass Antoni und Heinrich mit der Zeichensprache und der Äußerung das »Aufhängen der Deutschen« meinten. Damit verstießen sie gegen das Heimtückegesetz.24 Der Generalstaatsanwalt beim Landgericht sah in diesem Vorfall eine Beleidigung der vier deutschen Arbeiter. Eine Verächtlichmachung des Deutschen Reiches nach dem § 2 des Heimtückegesetzes sei jedoch nicht zutreffend.25 Dieses Beispiel macht deutlich, dass ein gemeinsamer Arbeitsplatz von Deutschen, Polen und Juden zu Spannungen führte, zumal jeder von diesen national-ethnischen Gruppenangehörigen über Vorurteile verfügte, die sich aus früheren Erfahrungen speisten. In diesem Spandauer Betrieb wurde die Zigarettenpause zum Ventil der unterdrückten und aufgestauten negativen Emotionen von Antoni und Heinrich gegenüber Deutschen, die sie für ihr Elend und ihre physische Ausbeutung auf dem Arbeitsplatz schuldig machten. Auch Tadeusz  D., ein 29‑jähriger Molkereiarbeiter aus Warschau, hielt die aufgezwungene Unterordnung gegenüber den deutschen Arbeitskräften in einem bestimmten Moment nicht aus, was ihm zum Verhängnis wurde. Er war seit 1940 in der Meierei-Zentrale in der Zwinglinkstraße  30 in Berlin-Moabit beschäftigt und wohnte zusammen mit anderen ausländischen Arbeitskräften in der Meierei-Unterkunft. Am 22. Mai 1942 wurde er auf der Arbeitsstelle von einem deutschen Arbeiter wegen seiner »Arbeitsfaulheit« zurechtgewiesen.26 Diesen Angriff auf seine Persönlichkeit wollte sich Tadeusz diesmal nicht gefallen lassen. Es kam zwischen ihm und dem Deutschen zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf der Pole ihn »deutsches Schwein« genannt haben soll. Der deutsche Arbeiter B. brachte den Vorfall sofort wegen Beleidigung zur Anzeige. Nun musste sich der Pole vor einem Berliner Gericht verantworten. Nach vier Monaten Untersuchungshaft wurde er wegen Vergehen gegen § 185 des StGB zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten verurteilt und dem Straflager in Berlin-Tegel zugeführt. Erst ein Jahr nach dieser Episode konnte der Pole die Strafvollzugsanstalt verlassen.27 Seine in zwei Worte gefasste Beleidigung bezog sich, wie es bei einigen polnischen Zwangsarbeitern der Fall war, auf alte, hasserfüllte Stereotype, die durch den deutschen Überfall auf Polen, die Besatzung und letztendlich die Verschleppung zur Zwangsarbeit wiederbelebt wurden (Chamot 1995: 145). Im Deutschen Reich wurde der Rassismus während des Zweiten Weltkriegs zur täglichen Gewohnheit, zum Alltag. Die Aktivierung des negativen Polenbildes brach22 | Ebd.: 10. 23 | Ebd. 24 | Ebd.: 11. 25 | Ebd.: 19. 26 | LAB, A Rep. 370, Sign. 893. 27 | LAB, A Rep. 370, Sign. 893.

Deutsch-polnische Feindbilder in der Praxis | 31

te den Staat in einigen Bereichen in Widersprüche, wie es zum Beispiel der »Arbeitseinsatz« zeigte. Die Behandlung polnischer Zwangsarbeiter war unterschiedlich. Die Arbeitsfrage stand in Konkurrenz zur Rassenfrage. Ab 1943 war das Verhältnis so angespannt und der Arbeitermangel so akut, dass es zu einer Lockerung der Politik gegenüber Polen kam. Man versuchte, sie besser zu behandeln, um mehr Erfolge bei der Anwerbung von weiteren polnischen Arbeitskräften zu erzielen. Im Sommer 1944 war man bereit, die polnischen Arbeitskräfte im Reichsgebiet »in einem gewissen Umfange zu betreuen«, jedoch »nicht in der gleichen Form, wie sie allen anderen fremdvölkischen Arbeitskräften zuteilwird«.28 Die Deutsche Arbeitsfront schlug Zugeständnisse wie eine beschränkte Freizeitgestaltung, die Herausgabe einer polnischen Arbeiterzeitung oder die wohnliche Ausgestaltung der Lager durch Wandschmuck vor. Die reale Verbesserung ihres Status scheiterte jedoch an sicherheitspolizeilichen Gründen, da man diese Menschen nach wie vor als potenzielle Gefährdung der deutschen Volksordnung ansah. Man war lediglich bereit, »die restlose Ausschöpfung jeder einzelnen Arbeitskraft im Reich zu vermeiden«.29 Für die Polen selbst war diese leichte Kehrtwende wenig von Bedeutung. Die andauernde deutsche Besatzungspolitik in ihrer Heimat brachte genug negative Bilder von Deutschen hervor. Die neu angeworbenen polnischen Arbeiter wussten wiederum, dass es sich beim vermeintlich verbesserten Arbeitsklima nur um leere Versprechen handelte. Denn nach wie vor behandelte man sie als minderwertige Arbeitskräfte, die so lange im Deutschen Reich während des Krieges geduldet waren, solange sie wirtschaftlichen Nutzen brachten.

Q uellen Bundesarchiv Berlin (künftig (BArchB), R 55/811, Schreiben der Deutschen Arbeitsfront an das Reichspropagandaministerium vom 14. 8. 1944, Bl. 2–3. Landesarchiv Berlin (künftig LAB), A Rep. 080, Sign. 339, Niederschrift über die Verpflichtungserklärung vom 23. 9. 1944. LAB, A Rep. 250–03–02, Sign. 56/2, Betriebs-Anweisung der Bergmann-Elektrizitätswerken Nr. 14/40 vom 3. 6. 1940, Bl. 54. LAB, A Rep. 358–02, Sign. 75679, Ermittlungsergebnis vom 26. 2. 1945, Bl. 5. LAB, A Rep. 358–02, Sign. 45061, Bericht des Kriminal-Sekretärs 761 vom 12. 8. 1943. LAB, A Rep. 358–02, Sign. 90895, Vernehmungsprotokoll vom 8. 10. 1942, Bl. 21. LAB, A Rep. 358–02, Sign. 90895, Beschluss vom 7. 12. 1942, Bl. 28. LAB, A Rep. 358–02, Sign. 4075, Weiterverhandelt vom 11. 5. 1942. LAB, A Rep. 358–02, Sign. 4075, Vernehmungsprotokoll eines Betriebsmeisters vom 11. 5. 1942.

28 | BArchB, R 55/811. 29 | Ebd.

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LAB, A Rep. 358–02, Sign. 24640, Vernehmungsprotokoll des Bolesław vom 16. 2. ​ 1942, Bl. 6. LAB, A Rep. 250–03–02, Sign. 56/1, Bd. 2, Bericht »Erfahrung mit Ausländern« vom 9. 4. 1943, Bl. 256. LAB, A Rep. 358–02, Sign. 143537, Tatbestandbericht vom 21. 4. 1943. LAB, A Rep. 358–02, Sign. 143537, Vermerk der Kriminalpolizei vom 29. 4. 1943. Der Brief wurde der Ermittlung beigefügt und befindet sich im Original in der Akte. LAB, A Rep. 358–02, Sign. 5693, Anzeige wegen staatsfeindlicher Äußerungen vom 4. 3. 1941, Bl. 5. LAB, A Rep. 358–02, Sign. 5693, Vernehmungsprotokoll des Antoni R. vom 5. 3. 1941, Bl. 7. LAB, A Rep. 358–02, Sign. 5693, Vernehmungsprotokoll des Johannes B. vom 5. 3. ​ 1941, Bl. 10. LAB, A Rep. 358–02, Sign. 5693, Schlussbericht vom 5. 3. 1941, Bl. 11. LAB, A Rep. 358–02, Sign. 5693, Vermerk des Generalstaatsanwalts vom 4. 4. 1941, Bl. 19. International Tracing Service Archiv (künftig ITS), Sign. 2.2.0.1/82388932, Anordnung – A 33/40 vom 15. 3. 1940. LAB, A Rep. 370, Sign. 893. Archiv der Firma Siemens, Sign. 18551, Vorträge über Ausländer-Einsatz bei Siemens vom 7.–8. 12. 1942, S. 11.

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34 | Katarzyna Woniak

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»Nationalität: Gottscheer« Zur Herstellung von Selbstbildern einer deutschsprachigen Minderheit in Slowenien Stefanie Samida

Abstract: »Nationality: Gottschee«. On the creation of self-images of a German-speaking minority in Slovenia The aim of a one-week research trip in April 2017 was to undertake initial explorations of the cultural heritage practice of the German-speaking Gottscheer in Slovenia. The fieldwork focussed on a series of open observer techniques and guided interviews. Surprisingly, several interview partners answered the question about their nationality on the participant leaf with: »Gottscheer«. The paper is dedicated to the self-images that came to light in the interviews with Gottscheer of different generations. Old and young have very similar ideas in this respect, which are based on what I would call a common »narrative tradition«. Here, one’s own biography and family history play a central role in the formation of identity. However, the production and communication of the self-image is based on different practices. »Vor Jahren, wo die letzte Volkszählung war bei uns […], ich habe auch geschrieben, ich bin Gottscheer, ich bin nicht ein Slowene. Ich bin nicht ein Slowene. Und auch nicht [unverständlich]. Ich bin ein Gottscheer und da bleibe ich.«

Das sind die Worte eines in Slowenien lebenden Gottscheers, mit dem ich im Rahmen einer ersten, explorativen Feldforschungswoche im Jahr 2017 ein Interview führte. Es ist ein eindrücklicher Beleg eines tief verwurzelten ethnischen Selbstbewusstseins und Ausdruck eines wie auch immer gearteten nationalen Selbstverständnisses. Die emphatisch vorgetragene Selbstbezeichnung wiederholte sich auch in weiteren Gesprächen mit Gottscheerinnen und Gottscheern, einer zum Teil immer noch Deutsch bzw. eine deutsche Mundart sprechenden Minderheit in Slowenien. Sie wurde darüber hinaus nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich von einigen Interviewten über den Teilnehmerbogen ausgedrückt: In das Feld »Nationalität« trugen sie »Gottscheer« ein. Solche Selbstbezeichnungen suggerieren nicht nur Gemeinschaft beziehungsweise Gruppenzugehörigkeit, sondern sie dienen in der Regel auch dazu,

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sich einer ethnisch homogenen und historisch gewachsenen Gemeinschaft zuzuordnen und von anderen Gruppen abzugrenzen (Hermanik 2017: 162 f.). Die Selbstbezeichnungen sind Marker, die auf tief verwurzelten, Identität schaffenden Selbst- und Fremdbildern gründen, denen in diesem Beitrag nachgegangen werden soll. Betrachtet man öffentliche Debatten über die Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, muss man feststellen, dass sie vielfach vor dem Hintergrund bekannter ehemaliger deutscher »Volksgruppen« (sogenannte »Volksdeutsche«), wie zum Beispiel der Deutschen der ehemaligen preußischen Provinzen, Donauschwaben und Sudetendeutsche geführt werden. Nur selten werden weniger öffentlich bekannte und nach ihrer Bevölkerungszahl deutlich kleinere deutschsprachige Gruppen wie etwa die Gottscheer beachtet, die vom 14. Jahrhundert bis 1941/42 im heutigen Slowenien weitgehend autochthon lebten und als relativ geschlossene Kulturgruppe bezeichnet werden können (Ferenc/Hösler 2011). Hinzu kommt, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Aspekten der Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa bislang weniger das doing heritage, also das »Kulturerbemachen« in den Blick genommen hat, sondern stark auf Erinnerungen zu Flucht und Vertreibung und politikgeschichtliche Aspekte fokussierte (zuletzt z. B. Hahn/Hahn 2010). Der vorliegende Beitrag sieht sich daher auch als Plädoyer, den Blick auf andere deutschsprachige Minderheiten zu lenken und neue Perspektiven aufzuzeigen. Zwar hat in jüngster Zeit die Beschäftigung mit den Gottscheern deutlich zugenommen; das zeigt sich besonders gut an einigen in den letzten rund zehn Jahren an österreichischen und slowenischen Universitäten eingereichten Abschlussarbeiten.1 Ein Grund dafür liegt sicherlich in dem Umstand, dass Zeitzeugen, also Personen, die zum Teil die Umsiedlung noch miterlebt haben beziehungsweise die nach 1941/42 im Land verblieben sind, nach und nach sterben und somit nicht mehr als Gesprächspartner zur Verfügung stehen. Zudem hat sich der Fokus der Forschungen verändert. Klassisch volkskundliche Studien der 1960er Jahre (z. B. Kundegraber 1966/67; Kundegraber 1968) wurden durch solche mit einem breiten kulturwissenschaftlichen und dezidiert erinnerungskulturellen Ansatz abgelöst (Blum 2009; 2012).2 Doch auch wenn die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte und Kultur der Gottscheer in den vergangenen Jahren ein – gemessen an der Zahl der Publikationen – zunehmendes Interesse erkennen lässt, ist hervorzuheben, dass meines Erachtens noch 1 | Siehe Moric 2007; Marschnig 2009; Bader 2012; Praznik 2013.  – In Deutschland scheint das Thema gegenwärtig wenig Interesse zu finden, als Ausnahmen können die beiden Artikel von Blum (2009; 2012) gelten, die aus einer Magisterarbeit an der Universität Mainz entstanden sind. 2 | In den Vordergrund der Forschung rücken vermehrt auch Fragen nach Identität (Moric 2007; Marschnig 2009, 2011), Heimat (Bader 2012), dem materiellen Kulturerbe im ehemaligen Siedlungsgebiet (z. B. Ferenc 1993; Ferenc/Zupan/Bavdaž 2002) sowie nach der Minderheitenproblematik (Karner 1998; Hermanik 2017). Darüber hinaus gibt es Arbeiten, die eine globale Perspektive zugrunde legen, wenn sie etwa die Vernetzung der Gottscheer im Internet oder die Pflege des Dialekts in vergleichender Perspektive ins Zentrum der Untersuchung rücken (z. B. bei Marschnig 2009; Moric 2011).

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immer erheblicher Forschungsbedarf besteht. Das gilt auch für solche Vorhaben, die ähnlich wie etwa Sandra Blum (2009; 2012) einen biographischen und erinnerungskulturellen Ansatz verfolgen. Meine Betrachtung folgt diesem Ansatz und möchte einen Blick auf die Selbstbilder der in Slowenien lebenden Gottscheerinnen und Gottscheer werfen.3 Zunächst werde ich einen knappen Abriss der Gottscheer Geschichte geben und die Situation im (Vor-)Feld skizzieren. Daran schließt sich die Analyse der Narrative und Praktiken der Herstellung und Vermittlung von Selbstbildern an. Im Zentrum stehen autobiographisches Erleben und Familiengeschichten, die Bedeutung der eigenen Geschichte, der Mundart und des Landes sowie der Aspekt der Wiederbelebung von kulturellen Traditionen. Die Analyse stützt sich dabei auf fünf im April 2017 durchgeführte Interviews mit Gottscheern und kann nicht mehr als ein erster Einblick in ein noch deutlich intensiver zu erforschendes Feld sein.4

K urzer A briss der G ottscheer G eschichte Etwa 60 km Luftlinie südöstlich der slowenischen Hauptstadt Ljubljana liegt die Stadt Gottschee (slow.: Kočevje);5 sie bildete das Zentrum des sich über rund 850 km² erstreckenden gleichnamigen Siedlungsgebiets »Gottschee« mit seinen über 150 Dörfern.6 Die Erschließung und Besiedlung des waldreichen Unterkrainer Gebiets durch deutschsprachige Siedler aus den Regionen Oberkärnten und Osttirol begann Mitte des 14. Jahrhunderts und währte rund 600 Jahre. Im Winter 1941/42 wurden die Gottscheer, deren Mundart stark der mittelalterlichen Form der deutschen Standardsprache ähnelt (Tschinkel 1973; Tschinkel 1976), von den Nationalsozialisten umgesiedelt. Von besonderer wirtschaftlicher Bedeutung für die Gottscheer war das im Jahr 1492 von Kaiser Friedrich III. erlassene Hausierpatent; es erlaubte ihnen, Vieh, textile Erzeugnisse und anderes, was sie erzeugt und erarbeitet hatten, als Wanderhändler zu verkaufen. Dieses Patent wurde immer wieder erneuert und im Hinblick auf die

3 | Im Folgenden wird, wenn alle Geschlechter gemeint sind, der Einfachheit halber die männliche Form beibehalten. 4 | Ich danke der Fritz und Helga Exner-Stiftung (Südosteuropa-Gesellschaft), die den Aufenthalt in Slowenien mit einem Reisestipendium finanziell unterstützt hat. 5 | Einen guten Überblick über die Geschichte bieten die Beiträge in dem Band von Ferenc/Hösler (2011), auf die sich die folgenden Ausführungen beziehen. 1363 erscheint in einer Urkunde der Name der späteren Stadt Gottschee (seit 1471), der sich wohl aus dem slowenischen koča (dt. »Hütte«) ableitet (Tschinkel 1973: XIV). 6 | Die Gottschee und die Gottscheer gerieten im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert in den Fokus einer Bluts- und Ursprünglichkeitsmythologie folgenden Sprachinselforschung; Weber-Kellermann (1959) gebührt das Verdienst, sich als erste schonungslos mit dem Erbe der Sprachinsel-Volkskunde auseinandergesetzt zu haben.

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zu handelnde Ware erweitert; bis ins 20.  Jahrhundert hinein waren Gottscheer als Wanderhändler unterwegs. Die Zeit von etwa 1860 bis 1880 gilt sowohl wirtschaftlich als auch bevölkerungsstatistisch gemeinhin als Blütezeit;7 damals lebten knapp 26.000 Einwohner, davon circa 19.000 mit Deutsch als »Verkehrssprache«, im Gottscheer Ländchen (Hösler 2011: 24). Neben den Gottscheern mit Deutsch als Muttersprache lebten auch viele Slowenen im Siedlungsgebiet, die Deutsch beziehungsweise die Mundart als lingua franca übernahmen. Ab den 1880er Jahren erfolgte eine erste große Auswanderungswelle in die USA – inzwischen war im Siedlungsgebiet ein angemessenes Auskommen schwieriger geworden –, eine zweite setzte nach dem Ersten Weltkrieg ein. Mit dem 19. Jahrhundert nahmen auch in der Gottschee Nationalisierungstendenzen zu, die allerdings erst im 20.  Jahrhundert und besonders nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund der Minderheitenproblematik im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS) zur Geltung kamen.8 Die nationalen Spannungen mit den slawisch sprechenden Bewohnern wurden vor allem mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 in Deutschland und mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs ein Problem. Das lag auch daran, dass es 1938 zu einem Wechsel in der Führung der Gottscheer Vertreter kam: Die christlich-sozial-konservative Führung wurde durch eine Gruppe junger »Erneuerer« nationalsozialistischer Prägung abgelöst.9 Auch in der Gottschee kam es jetzt zu einer zunehmenden nationalsozialistischen Ideologisierung der Bevölkerung und der Bildung paramilitärischer Verbände, sogenannter »Volksdeutscher Mannschaften«. Die Kapitulation des SHS-Königsreichs im April 1941 führte dazu, dass sich Italien und das Deutsche Reich Slowenien aufteilten und das von den Gottscheern bewohnte Gebiet unter italienische Verwaltung geriet. Noch im gleichen Monat wurde die Umsiedlung der Gottscheer beschlossen und wenige Monate später mit Italien ein Umsiedlungsvertrag geschlossen, der am 1. Oktober 1941 in Kraft trat. Im Winter 1941/42 kam es schließlich zur Umsiedlung von etwa 12.000  Personen in das sogenannte »Ranner Dreieck« in der Untersteiermark; sie hatten nach Propaganda durch die Volksgruppenführung und viel zähem Ringen für die Umsiedlung optiert.10 Nur etwa 300 bis 600  Personen entschlossen sich, im ursprünglichen Siedlungsgebiet zu bleiben. Sie und ihre Nachfahren stehen hier im Mittelpunkt.

7 | Zur Gottscheer Geschichte des 19. Jahrhunderts siehe auch Kundegraber 1991. 8 | Besonders das Bildungswesen und damit vor allem die Frage nach der Unterrichtssprache in den Schulen war ein immer wiederkehrender Streitpunkt; dazu Ferenc 2007: 21 f.; Ferenc 2011: 44 ff. 9 | Dazu und zur Umsiedlung siehe die noch immer grundlegende Arbeit von Frensing 1970; eine zusammenfassende Geschichte der Gottscheer des 20. Jahrhunderts findet sich bei Ferenc 2011. 10 | Die meisten Nachfahren der Umsiedler leben heute in Nordamerika, wohin viele gegen Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre auswanderten, sowie in Deutschland und Österreich; sie haben sich zumeist in landsmannschaftlichen Vereinigungen organisiert.

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I m (Vor -)Feld Während der einwöchigen Forschungsreise im April 2017, deren Ziel es war, erste Sondierungen hinsichtlich der Kulturerbe-Praxis bei den Gottscheern unterschiedlicher Generationen im heutigen Slowenien zu unternehmen, wurden auch Interviews mit Personen dieser »versteckten Minderheit« (Promitzer 2005) geführt.11 Die meisten sogenannten »Altsiedler« leben heute im »Moschnitze Tal« mit den Dörfern Pöllandl (Kočevske Poljane), Krapflern (Občice), Altsag (Stara Žaga), Kleinriegel (Mali Rigelj), Büchel (Hrib), Tschermoschnitz (Črmošnjice) und Mitterdorf (Srednja vas).12 Dieses Gebiet liegt circa 20 Autominuten südwestlich der Stadt Novo Mesto. Die erste Kontaktaufnahme mit den geplanten Interviewpartnern erfolgte Anfang 2017 per E‑Mail und/oder Telefon. Vier angefragte Personen hatten damals ihre Teilnahme zugesichert. Im April 2017 fand dann eine erneute Kontaktaufnahme mit den Interviewpartnern statt, um vorab konkrete Termine während meines Aufenthaltes zu vereinbaren und den Aufenthalt damit zu strukturieren. Das gestaltete sich als schwierig, da ich entweder keine Reaktion mehr erhielt beziehungsweise mehrere Interviewpartner keinen konkreten Termin, sondern das Treffen vielmehr spontan vereinbaren wollten; die Gründe für dieses Verhalten wurden mir erst später bewusst (s. u.). Die Befürchtung, dass das eine oder andere Interview vor Ort nicht klappen würde, schwang daher vor der Abreise mit; sie erwies sich aber als unbegründet, da alle Gespräche wie vorgesehen durchgeführt werden konnten; darüber hinaus konnte vor Ort eine weitere Interviewpartnerin gewonnen werden.13 Drei Befragte (Jg. 1936 und 1941) haben die Kriegswirren beziehungsweise die direkte Nachkriegszeit als Kinder erlebt, die beiden anderen Interviewpartnerinnen gehören der Generation der Kinder/Enkel an (Jg. 1972 und 1983). Die drei Interviewten aus der Kriegsgeneration gaben als Muttersprache Gottscheerisch an, sie sprechen darüber hinaus Slowenisch und Deutsch; von den beiden jüngeren Interviewpartnerinnen nannte nur eine als Muttersprache sowohl Gottscheerisch als auch Slowenisch, die andere ist lediglich mit Slowenisch als Muttersprache aufgewachsen und hat später, als Kind und Jugendliche, Deutschkurse besucht (u. a. in Österreich) und spricht daher auch gut Deutsch. Beide engagieren sich derzeit in Gottscheer Vereinen und der Kulturarbeit, die älteren Gottscheer waren ebenfalls aktiv in Vereinen tätig beziehungsweise sind Mitglied in einem Verein. Dass die Sprachkompetenz bei vielen Nachkommen deutschsprachi11 | Bis heute haben die Gottscheer beziehungsweise andere deutschsprachige Gruppen keinen rechtlichen Minderheitenstatus, das heißt, dass sie auch keine finanzielle Unterstützung vom slowenischen Staat zu erwarten haben. 12 | Zu den einzelnen Dorfgeschichten beziehungsweise zur Geschichte der Gottscheer in der Moschnitze siehe Ferenc/Zupan 2013. 13 | Die insgesamt fünf durchgeführten Interviews haben eine Länge von circa 70 bis 140 Minuten und wurden auf Deutsch, teilweise mit gottscheerischen Einsprengseln, geführt; die Namen der Interviewten wurden verändert. Tim Schinschick (Heidelberg) hat dankenswerterweise die Transkription der Interviews übernommen.

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Abb. 1: Holzmodell eines Gottscheer Dorfes im Museum des »Gottscheer Altsiedlervereins« mit Sitz in Občice/Krapflern, April 2017 (Foto: Stefanie Samida)

ger Minderheiten im östlichen Europa nur noch gering ausgebildet ist und mehr und mehr abnimmt, ist nicht neu. Vielfach wird die deutsche Sprache von den Nachfahren mittlerweile als Zweitsprache erworben, da für sie damit ein Bekenntnis zur eigenen Herkunft und Zugang zur »deutschen Identität und in weiterer Folge zur Inklusion in die Minderheit« möglich scheint (Hermanik 2017: 167). Die Aufgeschlossenheit meiner Kontaktpersonen hinsichtlich meines Forschungsinteresses führte vor Ort zu Einladungen, sich die Proben der Gottscheer Tanzgruppe anzuschauen und an einem Treffen des »Gottscheer Altsiedlervereins« (mit Sitz in Občice/Krapflern) teilzunehmen.14 Beide Veranstaltungen haben erste Einblicke in Praktiken des »Kulturerbemachens« geliefert. An diesem Abend konnte ich mir auch das vom »Gottscheer Altsiedlerverein« aufgebaute »Museum« – es handelt sich derzeit mehr um eine Sammlung, die erst noch museal aufbereitet werden muss  – anschauen. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Objekte (zumeist Alltagsobjekte und Geräte aus Handwerk und Landwirtschaft) sowie Modelle von Dörfern (Abb. 1) zusammengetragen, die in einem vom Verein erworbenen Gebäude zu besichtigen sind. Das Haus dient zugleich als Vereinsheim, in dem Treffen (s. o.) und Aktivitäten der Vereinsmitglieder stattfinden. 14 | Der Verein wurde 1992 gegründet und setzt sich für den Erhalt des kulturellen Erbes, die Erinnerung an die über 600‑jährige Geschichte der deutschsprachigen Bevölkerung und die Anerkennung als deutsche Minderheit ein. Dazu gibt es vielfältige Aktionen und Kulturveranstaltungen.

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Schon während der Vorbereitung in Deutschland zeichnete sich ab, dass meine Kontaktpersonen gewisse Vorbehalte gegeneinander hegen. Während meines Aufenthaltes stellte sich dann heraus, dass vor allem einer meiner Interviewpartner innerhalb der Community beziehungsweise von den anderen Gesprächspartnern sehr kritisch beäugt wird. Intern gab es (und gibt es immer noch) Probleme im »Gottscheer Altsiedlerverein«, die für einen Außenstehenden nicht zu erkennen waren. Durch meine Anwesenheit und mein Forschungsinteresse (und die Auswahl meiner Interviewpartner) stieß ich somit ungewollt in ein Wespennest. Die internen Vereinsquerelen kamen in den Interviews – mal mehr, mal weniger – zur Sprache. Für die von mir interviewten Personen war dieses Thema jedenfalls äußerst präsent und es war ihnen wichtig, mir jeweils ihre Version der Geschichte zu erzählen und mich für die eine oder andere Seite zu gewinnen. Der Einstieg in das Feld erwies sich dennoch grundsätzlich als unproblematisch, sicherlich auch deswegen, weil ich als Gottscheerin wahrgenommen wurde.15 Die Offenheit der Befragten, die sich unter anderem an den Einladungen zu Veranstaltungen des »Gottscheer Altsiedlervereins« festmachen lässt, verdeutlicht das Interesse an meiner Forschung;16 aus zeitlichen Gründen konnte ich aber nicht alle Angebote, das weitere Umfeld zu erkunden, annehmen.

S elbst- und Fremdbilder bei G ottscheern in S lowenien: N arrative   und P raktiken ihrer H erstellung Identität ist heute sowohl Kampfbegriff beziehungsweise – weniger martialisch ausgedrückt – Schlagwort als auch »unverzichtbarer Leitbegriff« und »lockerer Verständigungsbegriff« (Götz 2011: 77). Als Arbeitsdefinition lässt sich Identität als »Integral aus Selbst- und Gruppenbildern« begreifen und damit als Prozess einer kontinuierlichen Auseinandersetzung sowohl mit sich selbst als auch mit »kollektiven Erfahrungen, Erinnerungen und Zukunftserwartungen« (ebd.). In diesen Prozess gehören immer auch Fremdbilder und Zuschreibungen von außen. Das diesem Beitrag vorangestellte Zitat ist Ausdruck eines solchen Identitätsprozesses, konkreter: eines nationalen Selbstverständnisses. In welchen Selbst- und Fremdbildern, so ist also zu 15 | Alle meine Großeltern stammen aus der Gottschee und wurden 1941/42 umgesiedelt. Anfang der 1950er Jahre kam ein Großelternpaar nach Deutschland. 16 | Kritisch reflektiert werden muss die Wahl der Interviewpartner. Die Kontaktaufnahme fand zunächst über eine Person statt, die mir weitere Personen als mögliche Interviewpartner nannte. Kurz vor der Abreise wurde dann deutlich, dass zumindest einer der Interviewpartner in den letzten Jahren mehrmals Gesprächspartner in wissenschaftlichen Projekten war; im Gespräch zeigte er sich »geübt« und »verfolgte« durchaus eine Agenda beziehungsweise es wurde deutlich, dass er ein Anliegen hatte, das er loswerden wollte. Auch die anderen Interviewpartner standen bereits als Gesprächspartner in Forschungskontexten zur Verfügung. Hier muss zukünftig also gegengesteuert werden beziehungsweise eine kritische Methodenreflexion ansetzen.

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fragen, wurzelt dieses Selbstverständnis, auf welche Narrative greift es zurück und wie und in welchen Praktiken äußert es sich. Im Folgenden werde ich einen ersten Annäherungsversuch wagen und diesen Fragen anhand der von mir geführten Interviews mit Gottscheern unterschiedlicher Generationen nachgehen.

Autobiographisches erleben und Familiengeschichten erzählen Für alle meine Interviewpartner spielen die Familiengeschichte beziehungsweise die eigene Biographie und individuelle Erfahrung eine zentrale identitätsstiftende Rolle. Alfred und Julia, die beiden ältesten Interviewpartner, haben die der Umsiedlung vorausgehende Agitation »verbissener Propagandisten« (Alfred, Interview vom 26. 4. 2017) und die Umsiedlung als Kinder miterlebt. Da ist zum einen die Anfeindung von den eigenen Leuten, weil man nicht aussiedeln wollte;17 da ist das schmerzliche Abschiednehmen von den anderen Familien im Dorf, die sich für die Umsiedlung entschlossen hatten, und das damit einhergehende Gefühl des Verlassenwerdens: »Die Leute haben geweint. Heimat. Heimat lassen, weggehen«, ins Fremde umsiedeln, wobei keiner gewusst habe, wohin sie kommen würden (ebd.). Da sind zunächst die völlig entleerten Dörfer und dann die Zeit der Inbesitznahme der Häuser und der Konfiszierung von Nahrungsmitteln, anfangs durch Italiener und Partisanen18 und später dann durch Slowenen, die selbst wegen der deutschen Besatzung ihre Heimat verlassen mussten. Erfahrungen von Ausgrenzung und zwangsweiser Anpassung sind die Folge: »Die sind zu uns gekommen. Da waren wir hier wieder als Deutsche die gehasste Gruppe im Dorf und Umgebung« (Alfred, Interview vom 26. 4. 2017). Die wenigen verbliebenen Gottscheer Familien sprechen zu Hause und untereinander zwar ihre Mundart, in der Schule haben die Kinder aufgrund der fehlenden Slowenischkenntnisse aber nicht selten Probleme, werden von Lehrern als »gottscheerische Zigeuner« (Interview mit Johann, 24. 4. 2017) beschimpft.19 Sie müssen die slowenische Sprache vielfach erst erlernen. Einer meiner Interviewpartner bekommt in der Schule zu hören, sein Vorname sei kein richtiger Name. Kurzerhand wird sein Vor17 | »Die Kinder waren schon ein bisschen so gegen uns, nicht. Die werden nicht mit uns kommen und so weiter. […] Das war eine überraschende Sache. Da bin ich heimgekommen, weinend, bin ich und meine Schwester, sind wir heimgekommen« (Alfred, Interview vom 26. 4. 2017). 18 | »Den Partisanen haben wir alles geben, ne. […] Die waren wie die Wilden, waren die ersten Partisanen« (Julia, Interview vom 26. 4. 2017). 19 | Ähnlich auch die deutlich jüngere Maria: »Aber in der Schule haben die schon gewusst, wer gottscheerischer Abstammung ist. Und hat man uns beschimpft. Also so ungefähr, Gottscheer war so ein Schimpfwort wie, weiß nicht, Zigeuner. So ungefähr. Aber also das hat mich nicht weiter gestört ehrlich gesagt. Also ich bin ja gut in der Schule gewesen und dann habe ich einfach gesagt: Entschuldige, ich rede zwei Sprachen und du kannst nicht mal grunzen.« In der Zwischenkriegszeit wurde das Gottscheerische von slowenischen Nachbarn als »Zigeunersprache« bezeichnet (Lackner 1999/2000: 20). Eine eingehende Beschäftigung mit solchen und ähnlichen Diskriminierungen sowie antiziganistischen Zuschreibungen ist bisher noch nicht erfolgt.

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name slowenisiert und er wird in Iwan umbenannt – erst 2007 erfolgt die offizielle Rücknahme (ebd.). Die beiden jungen Interviewpartnerinnen haben zwar keine direkten Kriegs- beziehungsweise Nachkriegserfahrungen gemacht, aber sie kennen die in den eigenen Familien durchlebten Erfahrungen. Da ist die Familie, die sich im Zweiten Weltkrieg vor anrückenden Partisanen vom Haus schnell ins angrenzende Maisfeld flüchtete und versteckte (Ulla, Interview vom 25. 4. 2017) und da ist die Haft von Vater und Tante, die man 1948 einsperrte, weil sie in Novo Mesto Gottscheerisch gesprochen hatten (Maria, Interview vom 27. 4. 2017). Die Gesprächspartner verweisen darüber hinaus auf kommunistische Spitzel der UDBA (slowenisch Uprava državne varnosti), der Geheimpolizei Jugoslawiens. Alle Gottscheer, so beschreibt es Alfred, seien von der UDBA verfolgt worden; es habe ein ganzes Dossier gegeben und »jeder hatte bis drei Menschen, die uns verfolgt haben« und die dann Meldungen nach Ljubljana weitergegeben hätten. Ähnliches berichtet auch Maria; man habe mehr oder weniger gewusst, wer die Spitzel gewesen seien, nämlich die slowenischen Familien, die spät gekommen seien und die Häuser umsonst bekommen hätten. Infolgedessen habe sich dann irgendwann, so erzählt sie weiter, Gottscheerisch zu einer Art Geheimsprache entwickelt. Die Männer hätten sich in der Werkstatt des Vaters getroffen und untereinander Gottscheerisch gesprochen, über alles, »auch über diese Nachkriegsermordungen, und und und«. In allen Interviews wird deutlich, dass für die wenigen im Siedlungsgebiet verbliebenen Gottscheer ihre Herkunft ein »unbequemes Erbe« bildete – und das unabhängig davon, welcher Generation sie angehören. Nach dem Zweiten Weltkrieg, so alle Interviewten, galten Gottscheer als Deutsche und damit als Nationalsozialisten: »Also wir haben dann schon große Schwierigkeiten gehabt. Verfluchte Gottscheer, verfluchte Deutsche. Das war negativ, nicht« (Alfred, Interview vom 26. 4. 2017).20 Und die jüngste meiner Interviewpartner ist sich sicher, dass die Gottscheer auch heute noch nicht ganz akzeptiert sind (Ulla, Interview vom 25. 4. 2017). Es gebe immer noch Vorurteile, auch wenn man als Nachfahre nichts für die Vergangenheit könne; es würden einem zwar keine wirklich negativen Gefühle entgegengebracht, aber »komische«. Hier zeigt sich deutlich, wie Fremdbilder, ja Stereotype, nämlich »Gottscheer = Deutsche = Nationalsozialisten« in die Darstellung des Selbst Einzug gehalten und sich im Selbstbild als Opfernarrativ bis heute tradiert haben.

Vergangenheit, Sprache, Landschaft: Positive Imaginationen Nicht nur über die eigene Familiengeschichte werden Selbstbilder produziert, sondern es wird immer wieder auf die vielfach als entbehrungsreich bezeichnete Vergan20 | Ganz ähnlich an verschiedenen Stellen des Interviews, zum Beispiel: »Vierzig Jahre bis 1990 fast, von, ab 1945 weiter alles was deutsch ist, gleich Nazi.« Übereinstimmend auch Johann: »Das sind nicht nur Gottscheer, aber das sind Deutsche. Und wenn es Deutsche sind, sind es Nazis. Und Nazis ist der größte Feind in der Welt.«

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genheit bzw. auf die allen Widrigkeiten trotzenden Vorfahren rekurriert. Betont wird besonders, dass im 14. Jahrhundert die ersten Siedler den »Urwald« gezähmt hätten: »Die haben stark, stark Tag und Nacht kämpfen müssen, zum Überleben. Und wer das sieht, wer das sieht, was die eine Arbeit getan haben, was die von dem Gebiet von 800 Quadratkilometern mit auf dem 160, 180 Siedlungen, Häuser […] Und die Geschichte der Gottscheer, unserer Ahnen, ist eine ehrliche, glatte, wirklich eine schöne Geschichte: mit Kampf, Arbeit, Schwitz und so weiter« (Alfred, Interview vom 26. 4. 2017).

Ganz ähnlich berichtet auch Johann, der ebenfalls auf die Leistungen der Ahnen verweist. Dieser Rückbezug auf die Vorfahren und die Mühsal der Urbarmachung des waldreichen Gebiets ist ein Topos, der auch in der Erinnerungsliteratur und in Heimatbüchern der Gottscheer immer wieder auftaucht. Georg Marschnig (2011: 217), der sich in seiner Untersuchung vor allem mit den Gottscheer Landsmannschaften in Österreich und Deutschland auseinandergesetzt hat, spricht von einem »Gründungsmythos«, der sich unter anderem im »Immer-wieder-Erzählen des harten Lebens im slowenischen Karst« ausdrücke.21 Dieses Selbstbild nimmt einen wichtigen Platz im Identitätsprozess der Gottscheer ein – unabhängig davon, wo sie heute leben. Allerdings, und das scheint mir ein Unterschied zu sein, wird von meinen Gesprächspartnern neben diesem Mythos immer wieder auch betont, dass die Geschichte der Gottscheer Teil der slowenischen Geschichte sei, immerhin mache das einstige Gottscheerland vier Prozent des heutigen Slowenien aus (Johann, Interview vom 24. 4. 2017). Auch eine der jüngeren Gottscheerinnen hebt hervor, dass die Slowenen die Gottscheer Geschichte durchaus als ihre eigene begreifen würden, jedenfalls wenn es um die Bewahrung bestimmter Denkmäler gehe. Ihrer Ansicht nach gibt es eine Nationalgeschichte, im Sinne einer Gottscheer Geschichte, zugleich aber eine Ortsgeschichte, und die habe man gemeinsam beziehungsweise teile man sich. Hier deutet sich bereits eine Grenzziehung an beziehungsweise ein »Wir« und »die anderen« (s. u.). Zweifellos spielen der Dialekt und das Sprechen in diesem Dialekt mit anderen Gottscheern gerade bei den älteren Interviewpartnern eine wichtige Rolle. Johann, der in Novo Mesto lebt, fährt beispielsweise manchmal zu seiner Schwester (die circa 30 Minuten entfernt noch in der Gottschee wohnt), nur um ein paar Worte mit ihr auf Gottscheerisch zu wechseln; denn dann würde er sich gleich wieder »gut« und heimisch fühlen (Feldtagebuch, 24. 4. 2017). Er bezeichnet sich selbst als »stolzen Gottscheer«, der bei jeder Gelegenheit Gottscheerisch spreche und sich auch vehement für den Gebrauch der Mundart, etwa bei landsmannschaftlichen Treffen, einsetze. Über ein Treffen 1995 in Österreich berichtet er:

21 | Siehe zum Beispiel Petschauer (1980: 10), der sein Buch mit den pathetischen Worten »Am Anfang war der Wald« beginnt, um wenig später darauf hinzuweisen, dass der Wald zum Feind der Gottscheer wurde, sobald die menschliche Arbeitskraft nachließ (ebd. 12).

»Nationalität: Gottscheer« | 45 »Und dann komme ich rauf in den Saal, der Raum war ganz voll. […] Dann sagt er [der M.], eine Stunde dauert die ganze Sache. Wir feiern ein Jubiläum von einem gottscheerischen Verein und kein einziges gottscheerisches Wort habe ich noch nicht gehört. Habe ich gesagt: Herr M., wie geht das? […] dann habe ich meine Courage genommen und dann bin ich auf die Bühne. Da waren, was weiß ich, 50, 60 Leute, alles voll. Und dann habe ich auch über die Heimat auch etwas gesagt, was ich sagen kann. Und dann die Leute, ich sage Ihnen, die Leute … die Tränen liefen herunter. Und dann haben die so geklatscht […] Die haben, weiß nicht warum, nicht Gottscheerisch [gesprochen]. Die feiern 40 Jahre und sprechen nur Deutsch. Ist ja kein Sinn, nur deutsch zu sprechen. Aber es gehört sich, dass man Gottscheerisch spricht, wenn man so ein Jubiläum feiert« (Johann, Interview vom 24. 4. 2017). 22

Andererseits ist Johann und auch den anderen Gesprächspartnern sehr bewusst, dass die Erhaltung der Sprache in Zukunft kaum möglich sein wird.23 Der etwas ältere Alfred hält das sogar für »Unsinn«; die Sprache könne man nicht mehr retten, weil sie in den Familien nicht weitergegeben und weitergepflegt werde. Die Kinder, so sagt er, hätten keine Ahnung von der Mundart.24 Ohne die Kenntnis der Sprache, so vermitteln es vor allem die älteren Interviewpartner, gehe aber etwas Zentrales verloren. Es ist bei den älteren Gottscheern aber nicht nur eine enge Verbundenheit mit der Sprache festzustellen, sondern darüber hinaus auch mit dem Land beziehungsweise der Landschaft, die als cultural landscape einen Ort kollektiver Identität darstellt (Abb. 2).25 Johann beschreibt etwa, dass er manchmal nur so über das Land fahre, um das Gefühl von Heimat zu haben (Feldtagebuch, 24. 4. 207). Welche Bedeutung für ihn das Land besitzt, in dem er aufgewachsen ist, und wie stark es ihn geprägt hat, verdeutlicht seine Aussage, dass er im Gottscheerland begraben werden möchte und bereits Vorkehrungen getroffen habe.26 Bei ihm zeigt sich meines Erachtens eine Art Sehnsucht nach Heimat, oder anders ausgedrückt: Hier zeigt sich eine Form von Heimweh, das ich als »Heimweh der Zurückgebliebenen« beziehungsweise »Heimweh 22 | Ganz ähnlich Julia im Interview, die hervorhebt, dass die nach Österreich ausgewanderten Gottscheer bei Besuchen ihrer einstigen Heimat nicht Gottscheerisch gesprochen hätten (im Gegensatz zu den deutschen und amerikanischen): »Die Österreicher haben [sich] ja ein bisschen geschämt, glaube ich. Die haben immer noch Angst gehabt, Gottscheerisch zu …« [sprechen]. 23 | Das gilt grundsätzlich; auch in Nordamerika, Deutschland und Österreich, wo viele Gottscheer leben, besteht bei den Jüngeren nur eine passive Kenntnis des Dialekts, aktiv gesprochen wird die Mundart von ihnen nicht mehr (siehe Moric 2011). Auf der UNESCO-Liste der gefährdeten Sprachen wird das Gottscheerische als »critically endangered« (vom Aussterben bedroht) geführt, siehe http://www.unesco.org/ languages-atlas/index.php (letzter Zugriff: 15. 4. 2018). 24 | An anderer Stelle sagt er: »Das sieht man auch an den neuen Generationen. Früher hat jeder Zweite hier Gottscheerisch gesprochen. Und jetzt gibt es noch drei, vier Gottscheer, die sich noch untereinander Gottscheerisch unterhalten können.« 25 | Zum Konzept der cultural landscapes zusammenfassend Weger 2015. 26 | »Ich habe aber auch gesagt: Mein letzter Ort ist in Tschermoschnitz, auch mit meiner Frau habe ich das ausgemacht. Ich will dort im Gottscheerland begraben sein.«

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Abb. 2: Gottscheer Land, April 2017 (Foto: Stefanie Samida)

in der Heimat« bezeichnen möchte. Auf den ersten Blick mag das wie ein Paradoxon klingen. Heimat, verstanden als subjektive Größe, ist für ihn stark mit Sprache, Gemeinschaft beziehungsweise dem Austausch mit anderen Gottscheern und dem Land verbunden; Heimat, so könnte man auch sagen, muss für ihn – der bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit in seine Mundart wechselt – spür-, ja erlebbar sein. Auch bei der jüngsten Interviewpartnerin lässt sich ein ganz ähnliches, auf Sinnlichkeit und Emotion basierendes Verständnis von Heimat feststellen: »Heimat, ja, Heimat ist Gottscheer Heimat, das heißt, dass wir, wenn wir zusammen sind, Gottscheerisch sprechen, dass wir Gottscheerisch singen, dass wir Kulturerbe vorstellen, dass wir Geschichte erzählen, dass wir uns zusammen spüren, sozusagen. Heimat, Heimat ist diese Verbindung, diese ja, also, dass Du mit dem Herzen dabei bist« (Ulla, Interview vom 26. 4. 2017).

Obwohl Ulla die Mundart selbst nicht spricht, weist sie ihr auf den ersten Blick immer noch eine zentrale Funktion zu. Zugleich verdeutlicht das Zitat aber auch, dass es um mehr geht als die gemeinsame Sprache: Es geht um das Zusammensein als Gruppe und um das gemeinsame Erleben und darum, dass man mit dem »Herzen« dabei ist. Heimat ist für sie eine sozial-erlebbare Praxis, ein Ort des Vertrauens (Bausinger 1980: 23), der aus der Dreiheit von Gemeinschaft, Raum und Tradition gespeist wird und

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Geborgenheit bedeuten, aber auch Sehnsucht auslösen kann (Greverus 1979: 112 f.).27 Bei Johann vereint sich beides recht eindrücklich: die Geborgenheit, wenn er etwa im Ländchen herumfährt und in Gemeinschaft mit anderen Gottscheern ist und die Mundart spricht; die Sehnsucht, wenn er Gesprächspartner vermisst und durch die einstigen Dörfer fährt, in denen kaum noch etwas an die Gottscheer erinnert.

R eaktivierung von S prache und folklorisierte K ultur Die Gottscheer Geschichte, die Mundart und das Land besitzen eine zentrale identitätsrelevante Funktion. Für die beiden jüngeren Gesprächspartner, die auf dem Teilnehmerbogen die Frage nach ihrer Nationalität mit »Gottscheer« beantworteten, spielen besonders der Umgang mit ihrem kulturellen Erbe und die Weitergabe bzw. aktive Wiederbelebung von Traditionen eine wichtige Rolle. Maria beispielsweise betreut eine Gruppe von Kindern, denen sie Gottscheerisch beibringt.28 Das Erlernen der Mundart kommt dabei aber kaum über ein »symbolhaftes Erlernen« hinaus, worauf auch schon Blum (2009: 154) hingewiesen hat, da sie – wie bereits erwähnt – kaum noch aktiv gesprochen wird. Interessanterweise hat das für Maria keine allzu große Relevanz, genauso wenig wie die Frage, ob die Kinder aus einer Gottscheer Familie kommen oder nicht. Sie sieht das ganz pragmatisch: »Aber ich kann doch nicht in einem Dorf sagen: Also, du bist gottscheerischer Abstammung, du kannst kommen, du darfst nicht. Das geht nicht. Und letztendlich ist es ja viel besser, wenn alle Gottscheerisch lernen, als wenn keiner (lacht)«. Man könnte dies als interethnische Koexistenz oder als »offene Grenze zum Anderen« (Eisch 2007: 146) deuten, würde dieses Angebot an alle, die ein Interesse an der Gottscheer Kultur haben, wenig später nicht mit einer deutlichen Distanzierung zur slowenischen Mehrheitsbevölkerung konterkariert, die sich zunehmend für die mittlerweile sichtbaren und in Vereinen organisierten Gottscheer interessiert. Maria sieht dieses Interesse zwar einerseits positiv (»Alles was fremd ist, ist auch interessant«); andererseits begreift sie die Aneignung Gottscheer Traditionen durch die Mehrheitsbevölkerung aber auch als Gefahr.29 Denn wenn beispielsweise die Gottscheer-Tracht auf einmal als slowenische Tracht des Gottscheerlandes ausgegeben werde, würden damit Grenzen verwischt. Die legitimen Träger des kulturellen Erbes sind für sie aber eindeutig die Gottscheer – und sie benutzt in diesem Kontext das Wort »Nationalgo27 | Ähnlich Meier (2011: 132), für den Heimat die individuellen Einstellungen zu einem Ort, zur Gesellschaft und zur individuellen Entwicklung umfasst. 28 | Sie engagiert sich insgesamt schon recht lange und ist beispielsweise auch Autorin eines mehrsprachigen Kinderbuches (slowen./dt./gottscheerisch). 29 | In Anbetracht der derzeitigen Quellenlage muss offenbleiben, was hinter der Aneignung gottscheerischer Kultur und damit einem »sich minoritär machen« der slowenischen Mehrheits­g esellschaft, wie es Peter F. N. Hörz (Esslingen/Graz) in der Diskussion formulierte, steckt beziehungsweise welche Transformationsprozesse ablaufen. Für diese Anregung bin ich Peter Hörz sehr dankbar.

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ttscheer«. Der Verlust des Eigenen und die »Angst« vor einer Übernahme kultureller Praktiken durch die slowenischen Nachbarn äußert sich bei ihr recht eindrücklich in der folgenden Bemerkung: »Zum Beispiel Pobollitsa [strudelartiger Kuchen; StS], sowas und …, also das ist ein typisches Gericht, das kennen die Slowenen nicht. […] Mit der Tracht geschieht das jetzt auch in der letzten Zeit [die Aneignung durch Slowenen; StS]. […] Ich bin nicht unbedingt begeistert. Und die nennen sich plötzlich Kočevari und so weiter […]. Teilweise nehmen die uns unsere Nationalität«.

Ulla wiederum, die jüngste meiner Interviewpartner, engagiert sich im »Gottscheer Altsiedlerverein« und der 2015 neu gegründeten Volkstanzgruppe.30 Für sie steht der Wiederaufbau und die Wiederbelebung von Traditionen im Vordergrund und damit die Weitergabe an nachfolgende Generationen: »Wir müssen das weitergeben […] wir müssen es machen, ne, also das hab ich im Herz, ich muss das weitergeben an meine Kinder, ne«. Dass es sich dabei um eine folklorisierte Kultur handelt, die keine Wurzeln mehr im Alltag hat, sondern erst erlernt werden muss, spielt eine nachgeordnete Rolle.31 Es geht auf individueller Ebene zum einen um die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und auf einer übergeordneten, kollektiven Ebene zum anderen um das »Sich-Sichtbarmachen« als Gottscheer im gemeinsamen Tun und damit letztlich um die Stärkung der »Wir-Gruppe«, indem ein positiv besetztes Selbstbild geschaffen wird (ähnlich auch Blum 2009: 156). Mit der Gründung des Vereins 1992 und seinen vielfältigen Aktivitäten hat – so kann man sagen – ein Prozess eingesetzt, aus der einstmals versteckten Minderheit eine sichtbare zu machen.

»N ationalität : G ottscheer «? E in Fazit Zu den zentralen Aufgaben kulturwissenschaftlicher Südosteuropa-Forschung gehört die Beschreibung und Analyse der Alltagskultur, gerade auch der »Minderheitenkulturen sowie die Praxen der interethnischen Koexistenz« (Roth 2006: 59). In dieses Feld gehört auch, sich mit dem Fortleben der Volkskultur und seinen folkloristischen Formen zu beschäftigen (ebd. 60). In der Neuausrichtung der sogenannten »Vetriebenenvolkskunde« wurde in den letzten Jahren ganz Ähnliches gefordert (z. B. Zückert 2004; Zückert 2007; Johler/Kalinke/Marchetti 2015). Martin Zückert (2004: 15) hat dezidiert darauf hingewiesen, die Rolle der in den betroffenen Gebieten verbliebenen »deutschen Restbevölkerung« zu thematisieren. Auch Silke Göttsch-Elten (2015: 30) hat kürzlich betont, es sollte zukünftig vermehrt Fragen nach der Identität deutscher Minderheiten im östlichen Europa nachgegangen werden. 30 | Zu den vielfältigen Aktivitäten des Vereins und der Volkstanzgruppe siehe zum Beispiel die aktuelle Vereinszeitschrift Bakh – Pot 2017. 31 | Positiv gewendet könnte man auch sagen, darin liegt gerade der Reiz – in der Suche und der Rekonstruktion der Tänze.

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Das vorgestellte Material gibt hierzu zwar erste Einblicke, es bedarf aber aufgrund der momentan geringen Datenbasis – wenige Interviews und ein erster kurzer Forschungsaufenthalt – weiterer intensiver Feldforschung. Im Folgenden möchte ich bewusst pointiert erste Tendenzen formulieren, die meines Erachtens auf zum Teil tief verwurzelten Selbstbildern beruhen: 1. Ähnlich wie bei den Gottscheer Landsmannschaften in Österreich und Deutschland lässt sich auch im Selbstbild der Gottscheer in Slowenien ein Opfernarrativ feststellen. Dieses Selbstbild, das generationenübergreifend durch die eigene Biographie beziehungsweise die Familiengeschichte gespeist und durch repetitives Erzählen in den Familien tradiert wird, entpuppt sich als Wiedergabe des Fremdbilds »Gottscheer = Deutsche = Nazis = Verbrecher/Täter«. In diesem Prozess treffen Wiedergabe und Weitergabe und vice versa aufeinander, ja sie sind auf komplementäre Weise miteinander verbunden. Die Erzählung oder besser: das Erzählen figuriert als kulturelles Erbe (Schneider/Flor 2014). 2. Die Gottscheer Geschichte, Sprache und die Beziehung zur Landschaft nehmen eine wichtige, positiv konnotierte Funktion im Identitätsprozess vor allem der älteren Gottscheer ein. Sie sind Ausdruck von Heimat, verstanden als »Kristallisationspunkt« dieses Prozesses (Jäger 2017). Die nationale Identifizierung stützt sich darüber hinaus auf das immer wiederkehrende Narrativ des schwierigen und harten Lebens im Karstgebiet, das eine Art Gründungsmythos darstellt und damit ein positives Selbstbild schafft. 3. Die im Siedlungsgebiet verbliebenen Gottscheer verstehen sich als Bewahrer längst vergangener Traditionen, die an die nächste Generation weiterzugeben seien. Die Schaffung dieses Selbstbildes erfolgt auf zweierlei Art: über aktives, identitätsstiftendes Tun, wie etwa über die Vereins- und Kulturarbeit, sowie über die Praxis des eigenen Othering beziehungsweise Fremdmachens, um sich so auch in Zukunft von der slowenischen Mehrheitsbevölkerung abzugrenzen. Dies bewirkt eine Binnenexotisierung, die wiederum mit einer Valorisierung der eigenen Kultur einhergeht. Für die wenigen heute in Slowenien lebenden Gottscheer bilden ihr Land, ihre Geschichte, ihr kulturelles Erbe und ihre Sprache weiterhin einen Identitätsraum, dessen Terrain immer wieder durch klare Grenzziehungen abgesteckt wird (Klaus/Hipfl/ Scheer 2004: 9). Davon zeugen die Praktiken des Rückgriffs auf die Vergangenheit, die Betonung und klare Eigenbezeichnung als Gottscheer im Hier und Jetzt sowie die Versuche, sich als »wahre« Hüter des Gottscheer Kulturerbes zu positionieren.

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I nterviews Alfred (Jg. 1936), Interview vom 26. 4. 2017. Johann (Jg. 1941), Interview vom 24. 4. 2017. Julia (Jg. 1936), Interview vom 26. 4. 2017. Maria (Jg. 1972), Interview vom 27. 4. 2017. Ulla (Jg. 1983), Interview vom 25. 4. 2017.

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Von Drachen und verfilzten Pelzmänteln Über die Konstruktion des »Ostens« in Joanne K. Rowlings Harry-Potter-Serie Katharina Lütz

Abstract: About dragons and felted fur coats. How the »East« is constructed in Joanne K. Rowlings Harry Potter series In this paper I investigate the origins and functions of the stereotypes about Eastern Europe that Rowling reproduces in her Harry Potter series, particularly in volume IV, in which delegations from other European wizarding schools come to Great Britain. The characters that come from »Durmstrang«, the school that covers the East of Europe, are depicted as hardened, uncultivated and threateningly ambiguous. In contrast to this foreign extreme, the national ideal surfaces: a moderate, democratic, humorous, and diverse civil society. Eastern European countries or locations that are mentioned throughout the books, appear to be empty, obscure, and featureless regions which are mere containers for dangerous magical creatures and dark sinister doings. With this depiction, Rowling adds to the Western (popcultural) tradition that uses the East as a threatening space where Western adventures may unfold and clearly perpetuates stereotypes that are older than the Cold War. With over 450 million sold copies in 73 different languages, the Harry Potter series is the best-selling book series in history. These are dimension that should in no way be underestimated and neither can we trivialize the impact these books have on the imaginative landscape of so many readers. Die Harry-Potter-Jugendbuchserie der britischen Autorin Joanne K. Rowling hat ganz ohne Zweifel Spuren im Alltag unzähliger Menschen hinterlassen. Es ist die Geschichte von Harry Potter, einem jungen Zauberer, der die Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei besucht. Er und seine Freunde Ron und Hermine erleben in den sieben Bänden der Serie zahlreiche Abenteuer und kämpfen gegen Lord Voldemort, den gefährlichsten bösen Zauberer aller Zeiten, der mit allen Mitteln versucht, die Macht wieder an sich zu reißen. Seit der erste der sieben Romane 1997 veröffentlicht wurde, erwarteten Fans auf der ganzen Welt ungeduldig die Veröffentlichung der Fortsetzungen, Tausende campierten nachts in bester Stimmung und als Hexen und

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Zauberer kostümiert vor den Buchhandlungen, um am Morgen der Veröffentlichung als allererste eines der neuen Bücher zu ergattern. Viele Eltern kauften gleich mehrere Exemplare, damit ja kein Familienmitglied warten musste, bis ein anderes mit dem Lesen fertig war. Über 450 Millionen Ausgaben wurden bislang in 73 verschiedenen Sprachen verkauft, was die Harry-Potter-Bücher zur meist verkauften Buchserie aller Zeiten machte und Rowling zur wohlhabendsten Schriftstellerin der Welt. Hollywood ließ nicht lange auf sich warten und verarbeitete die Bücher zwischen 2001 und 2011 in acht hochglänzende und kommerziell sehr erfolgreiche Blockbuster-Filme – eine globale Erfolgsgeschichte der Superlative also. Zahlreiche Namen und Begriffe sind seither in den Wortschatz unzähliger Le­ serInnen eingeflossen. Eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen wurde wieder an das Lesen von Büchern herangeführt und die Geschichten lieferten zudem viel Material für Merchandise Artikel und Karnevals- oder Halloween-Kostüme. Der Einfluss, den diese Bücher auf die imaginative Landkarte der LeserInnen haben mag, ist insofern keineswegs trivial. Auffällig ist vor allem das Bild Osteuropas, das Rowling in der Serie konstruiert. Insbesondere im vierten Band, »Harry Potter and the Goblet of Fire«1 (2000), wird dieses Bild von harten, unkultivierten und unberechenbaren Figuren aus charakterlosen Ländern bestimmt, die gefährliche magische Kreaturen und dunkle Machenschaften beherbergen. In meinem Beitrag will ich diese »Ost-Bilder« auf ihre Ursprünge und Wirkweisen hin untersuchen, um zu zeigen, welche Rolle sie in der Konstruktion des westlichen beziehungsweise britischen Selbstverständnisses einnehmen. Dazu werde ich im Folgenden die Aufmerksamkeit darauf richten, wie die ausländischen Gäste von Rowling als »die Anderen« dargestellt werden, und aufzeigen, wie diese Beschreibungen dazu dienen, die britische Identität in ein positives Licht zu rücken. Edward Saids (1978) Ausführungen zum Orientalismus bieten, wie ich aufzeigen werde, einen guten theoretischen Ausgangspunkt, um über solche Schemata des Fremdmachens nachzudenken. Die meisten AutorInnen, mit denen ich in diesem Beitrag arbeite, nehmen Bezug auf Orientalismus, indem Sie ihre Theorien zur diskursiven Konstruktion Osteuropas entweder von Saids Überlegungen abgrenzen oder diese modifizieren. Larry Wolff (1994) etwa zeigt den spezifischen historischen Kontext auf, in dem die Vorstellungen vom unzivilisierten Osten entstehen konnten. Es sind Bilder, die seit der Aufklärung in der politischen und kulturellen Debatte über den Osten nachwirken und auch in Rowlings Geschichten zum Vorschein kommen. Im Hinblick auf zwei Charaktere von Durmstrang, Viktor Krum und Igor Karkaroff, werde ich des weiteren einige vornehmlich negative Stereotype untersuchen, die mit Menschen aus dem Osten verbunden werden, insbesondere die Merkmale der Brutalität und der Unberechenbarkeit. Maria Todorova (1997) liefert mit ihrer Arbeit zur Konstruktion des Balkans wichtige Anhaltspunkte dazu, woher diese Bilder kommen und welche Funktion sie erfüllen. Schließlich konzentriere ich mich auf die Erwähnungen osteu1 | Im Folgenden werden Zitate aus der Harry-Potter-Serie mit römischen Ziffern markiert, zum Beispiel »Harry Potter and the Goblet of Fire« wird als vierter Band der Serie mit einer »IV« zitiert.

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ropäischer Orte, die als leere Behältnisse für gefährliche Wesen und bösartige Machenschaften aufscheinen. Abschließend möchte ich auf die sozialen und kulturellen Implikationen von Rowling’s Büchern und die in ihnen enthaltenen Imaginationen Osteuropas hinweisen und den popkulturellen Kontext beleuchten, in den diese eingebettet sind.

D urmstrang und B eauxbatons – die gegensätzlichen Fremden Im folgenden Abschnitt analysiere ich die Konstruktion der ausländischen Gäste als »die Anderen«. »Harry Potter und der Feuerkelch« (2000) ist in der Tat der erste Band, in dem der europäische Kontinent die Bühne des ansonsten anglozentrischen magischen Universums betritt. In diesem Kontext schreibt Rowling (2000: 75): »It was only just dawning to Harry how many witches and wizards there must be in the world; he had never really thought much about those in other countries.« Die Handlung dieses Buches dreht sich im großen und ganzen um das Trimagische Turnier, welches in Hogwarts ausgetragen wird. Bei diesem Turnier werden RepräsentantInnen der drei europäischen Zauberschulen ausgewählt, die in magischen Wettkämpfen gegeneinander antreten  – Harry ist einer davon. Zu diesem Anlass kommen Delegationen der Schulen »Durmstrang« und »Beauxbaton« nach Hogwarts und verbringen das Schuljahr dort. Obgleich das Turnier Freundschaften zwischen Hexen und Zauberern aus unterschiedlichen Ländern befördern soll, bleiben die einzelnen Parteien meist unter sich und beäugen die Konkurrenz misstrauisch. Neben Hogwarts gibt es also bloß zwei weitere Zauberschulen in Europa: Beaux­ batons ist genauso klar mit Frankreich assoziiert, wie Hogwarts mit Großbritannien. Durmstrang hingegen ist nicht klar mit einem bestimmten Land verbunden: Es scheint die magische Bildungseinrichtung für die ganze, nicht weiter national umschriebene Region östlich von Frankreich zu sein, von Skandinavien bis zum Balkan. Rowlings Beschreibung der Ankunft der ausländischen Gäste ist dabei generisch für das Verhältnis zwischen den drei Parteien. Die Delegation aus Beauxbaton erreicht Hogwarts in einer »gigantic, powder-blue, horse-drawn carriage, the size of a large house, […] pulled by a dozen winged horses, all palominos, and each the size of an elephant« (IV: 213). Die Schulleiterin der französischen Schule, Madame Maxime, wird als extrem große Frau mit elegantem und luxuriösem Auftreten und einem starken französischen Akzent beschrieben. Ihre Schüler und Schülerinnen sind in Kleider aus leichter hellblauer Seide gehüllt und frieren dementsprechend im nordenglischen Herbst. Sie sind nicht sonderlich angetan von dem, was sie in Hogwarts vorfinden: »They were looking around the Great Hall with glum expressions on their faces. Three of them were still clutching scarves and shawls around their heads. ›It’s not that cold,‹ said Hermione irritably« (IV: 220). Die französischen Schüler und Schülerinnen nehmen schließlich am Tisch der Ravenclaws platz, einem Haus, dem die besonders intelligenten und begabten SchülerInnen von Hogwarts angehören und das durchaus positiv konnotiert ist. Der Delegation von Beauxbaton erfährt damit eine ganz klare

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nationale Zuordnung und bewegt sich in respektablen Sphären, obgleich ihre Empfindlichkeiten und ihr puppenhaftes Auftreten von den Schülern und Schülerinnen von Hogwarts als irritierend und übertrieben wahrgenommen werden. Sie erscheinen hübsch aber launisch, vielleicht ein wenig einschüchternd in ihrer Eleganz, jedoch harmlos. All diese Attribute treffen auch auf Fleur Delacour zu, die Schülerin, die ausgewählt wird, um Beauxbaton im Wettkampf zu repräsentieren. Die Schule aus dem Osten erreicht Hogwarts mit einem ganz anderen Transportmittel: Sie reisen in einem magischen Schiff an, welches vom Grund des Sees auf den Ländereien von Hogwarts auftaucht. »It had a strangely skeletal look about it, as though it was a resurrected wreck, and the dim, misty lights shimmering at its portholes looked like ghostly eyes« (IV: 217). Der Kontrast zwischen der pastellfarbenen Märchenkutsche und dem düsteren Geisterschiff könnte kaum größer ausfallen. Im Verlauf des Abends weitet sich die Kluft zwischen zivilisiert/luxuriös und primitiv/simpel, natürlich stets gemessen an den Standards in Hogwarts, umso mehr: »The Durmstrang students were pulling off their heavy furs and looking up at the starry black ceiling with expressions of interest; a couple were picking up the golden plates and goblets and examining them, apparently impressed« (IV: 220). »Now that they had removed their furs, the Durmstrang students were revealed to be wearing robes of a deep, blood red« (IV: 222).

An diesem Punkt der Geschichte lohnt es sich, einen Blick auf die Filmadaption zu werfen, die es schafft, die Klischees der gerade beschriebenen Szene noch weiter auf die Spitze zu treiben und die beiden Gruppen mit ihren konträren Eigenschaften noch extremer zu essentialisieren: »Harry Potter and the Goblet of Fire«, eine Warner Brothers Pictures Produktion unter der Regie von Mike Newell, kam 2005 in die Kinos. In der Ankunftsszene treten die Stereotypen von Frankreich und dem nicht näher definierten Osten in ihrer konzentrierten Fassung zutage: Obwohl man der Buchvorlage nach von jeweils gemischtgeschlechtlichen Gruppen ausgehen kann, besteht die Gruppe aus Beauxbaton im Film ausschließlich aus schönen jungen Mädchen in feinen hellblauen Kostümen, die die Halle mit einer lockenden feenhaften Choreographie betreten. Die Gruppe von Durmstrang hingegen besteht im Film ausschließlich aus grimmig dreinblickenden jungen Männern mit raspelkurzen Haaren. Sie tragen Uniformen mit seitlich versetzten Kragen, die an die traditionellen russischen Kossoworotka-Hemden erinnern. Sie stürmen Stöcke schwingend in die große Halle mit einem kämpferischen Tanz. Die Musik, die diese zwei Auftritte begleitet, unterscheidet sich offensichtlich stark: Während die Ankunft von Beauxbaton von Violinen, Flöten, Glockenspiel und sogar zwitschernden Vögeln begleitet wird, ist die Musik für Durmstrang sehr viel düsterer, mit Tuba, Posaune, einem starken Kontrabass und unterlegt mit einem bedrohlichen rhythmischen Beat. Die Gruppe von Durmstrang nimmt am Slytherin Tisch platz, jenem Hogwartshaus, das dafür bekannt ist, mit den dunklen Mächten anzubandeln, was die Gäste aus dem Osten als inakzeptable Andere markiert. Die Reputation von Durmstrang

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wird schon recht früh in der Geschichte erläutert. Malfoy, ebenfalls ein Hogwartsschüler und Harrys Feind in der Schule, repräsentiert eine jugendliche Version von Voldemorts faschistischer, rassistischer und allgemein machthungriger Ideologie. Sein Enthusiasmus für Durmstrang diskreditiert die Schule ein für alle mal und schließt sie als möglichen Alliierten aus: »Father actually considered sending me to Durmstrang rather than Hogwarts, you know. He knows the Headmaster, you see. Well, you know his opinion on Dumbledore – the man’s such a Mudblood-lover – and Durmstrang doesn’t admit that sort of riff-raff. […] Father says Durmstrang takes a far more sensible line than Hogwarts about the Dark Arts. Durmstrang students actually learn them, not just the defence rubbish we do …« (IV: 147).

Hermine bestätigt diesen Eindruck, den die Freunde nach Malfoys Beschreibung von Durmstrang erhalten haben, weiter: »it’s got a horrible reputation. According to An Appraisal of Magical Education in Europe [Titel eines Buches], it puts a lot of emphasis on the Dark Arts« (IV: 147). Die genaue Lage von Durmstrang ist nicht bekannt, ein Geheimnis, das sorgsam vom Schulleiter Igor Karkaroff gehütet wird. Es wird jedoch angedeutet, dass sich das Schloss, das die Schule beherbergt, im hohen Norden befindet in einer weiten Landschaft mit Bergen und Seen, die sich vor allen Dingen durch ihre Kälte auszeichnet. Daher auch die Pelzmäntel. Viktor Krum beschreibt Hermine diesen Ort wie folgt: »›Vell, ve have a castle also, not as big as this, nor as comfortable, I am thinking,‹ he was telling Hermione. ›Ve have just four floors, and the fires are lit only for magical purposes. But ve have grounds larger even than these – though in vinter, ve have very little daylight, so ve are not enjoying them. But in summer ve are flying every day, over the lakes and the mountains‹« (IV: 363).

Das Motiv des Nordischen kommt immer wieder in dem Band vor und markiert die Schüler von Durmstrang als abgehärtet, spartanisch und ultimativ als die Anderen. Ungläubig beobachten Harry, Ron und Hermine Viktor Krum bei seiner Sportroutine: Schwimmen im See – im Januar. »›He’s mad!‹ said Harry, staring at Krum’s dark head, as it bobbed out into the middle of the lake. ›It must be freezing, it’s January!‹ ›It’s a lot colder where he comes from,‹ said Hermione. ›I suppose it feels quite warm to him‹« (IV: 385).

Die Andersartigkeit der ausländischen Gäste wird weiterhin unterstrichen durch ihre starken Akzente und ihre Unfähigkeit, die englische Sprache richtig anzuwenden. Viktor Krum beispielsweise metzelt Hermines Namen in immer neuen falschen Buchstabenkombinationen, was ein kleiner Running Gag des Bandes ist. Tracey Douglas (2007: 284) schreibt zu dieser Form des Othering anhand der Sprachkompetenz bei Harry Potter:

58 | Katharina Lütz »the inability to have mastery over language marks the mainland European foreigners as separate. British identity in the novel is superior to that of other Europeans in terms of language and their ability to speak it, which aids in defining the novel’s continental Europeans against British characters.«

Edward Said’s (1978) Ausführungen zum Orientalismus stellen einen geeigneten Ausgangspunkt dar, wenn es darum geht, diese Prozesse der Selbstdefinition via die Abwertung des inkompatiblen Anderen greifbar zu machen: In seiner Arbeit macht er deutlich, dass »der Orient« eine Konstruktion des Westens ist. Er argumentiert, dass europäische WissenschaftlerInnen, LiteratInnen, KünstlerInnen und PolitikerInnen den Orient, den sie bloß vorgaben zu beschreiben, erfunden haben als eine Art negatives Spiegelbild. Said (1978: 48) schreibt: »What gave the Oriental’s world its intelligibility and identity was not the result of his own efforts but rather the whole complex series of knowledgeable manipulations by which the Orient was identified by the West. […] Knowledge of the Orient, because generated out of strength, in a sense creates the Orient, the Oriental, and his world.«

Wissenschaftliche Erkenntnisse über den Orient, ebenso wie orientalistische Kunst, Poesie, Musik et cetera sind niemals neutrale Beschreibungen. »There is no such thing as a delivered presence, but a re-presence or a presentation« (ebd.: 21). Dieses Wissen wird generiert »according to a detailed logic governed not only simply by empirical reality, but by a battery of desires, repressions, investments, and projections« (ebd.: 9). Die Machtposition, von der aus auf den Orient geblickt wurde, erlaubte es den BetrachterInnen, diesen Raum mit Attributen zu belegen, die als gegensätzlich zur westlichen Identität gesehen wurden: Indem der Orient als exotisch, feminin, triebhaft, irrational, sündhaft und unreif imaginiert wurde, konnte das westliche Selbst in Kontrast dazu als normal, rational, moralisch, strebsam und reif erscheinen. »European culture gained strength and identity by setting itself off against the Orient as a sort of surrogate and even underground self«, schreibt Said (ebd.: 4). Diese Projektionen dienten nicht nur dazu, den Westen als anders, sondern als dem Orient überlegen zu konstruieren. Diese vermeintlich überlegene Position berechtigte den Westen wiederum dazu, Kontrolle über den Orient auszuüben, ultimativ im Format des Kolonialismus. Dieser Mechanismus greift auch bei Harry Potter: Im Falle von Harry Potter dient dieser scharfe Kontrast zwischen den beiden ausländischen Schulen ebenfalls dazu, Hogwarts stellvertretend für die Gesellschaft in Großbritannien als die moderate Mitte darzustellen: weder piekfein, noch militaristisch, weder ausschließlich feminin, noch ausschließlich maskulin, weder verhätschelt, noch verhärtet, weder übermäßig luxuriös, noch übertrieben spartanisch, weder arrogant, noch humorlos. In Kontrast zu diesen ausländischen Extremen kommt das nationale Ideal zum Vorschein: eine moderate, demokratische und vielfältige Gesellschaft von Individuen, die freiheitsliebend und humorvoll sind und auf die wirklich wichtigen und richtigen

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Dinge Wert legen und die damit, so impliziert diese Konstruktion, den ausländischen BesucherIn­nen überlegen ist. »[Rowling] situates the non-British otherness in ways that suggest British cultural superiority. […] Britishness is a marked and privileged cultural category, and thus a position of power; […] whenever the plot is taken outside Britain, the foreign setting is marked by some kind of extremity: very cold, very perilous, very desolate, or very dark« (Oziewicz 2010: 11 f.).

Die Konstruktion Osteuropas aus westeuropäischer Sicht weist allerdings einige Spezifika auf, die diesen Diskurs vom Orientalismus, wie Said (1978) ihn beschreibt, unterscheiden. In seinem Buch »Inventing Eastern Europe« (1994) untersucht Larry Wolff den Gegensatz zwischen dem vermeintlich zivilisierten Westen und dem vermeintlich unzivilisierten Osten Europas. Die Tropen des undurchschaubaren, beunruhigenden, primitiven und unzivilisierten Ostens, vor dem man auf der Hut sein müsse, passten bestens in die Rhetorik des Kalten Krieges und wurden zu der Zeit in der westlichen Welt weiter verbreitet und zementiert. »Throughout the Cold War the iron curtain would be envisioned as a barrier, a quarantine, separating the light of Christian civilization from whatever lurked in the shadows« (Wolff 1994: 2). In Rowlings Beschreibung der osteuropäischen Schule sind diese Bilder ebenfalls sehr lebendig. Sie waren jedoch lange vor dem Kalten Krieg geprägt worden, denn die Erfindung dieser Narrative geht auf das 18. Jahrhundert und die Aufklärung zurück: »It was also the Enlightenment with its intellectual centers in Western Europe, that cultivated and appropriated to itself the new notion of ›civilization‹, an eighteenth-century neologism, and civilization discovered its complement, within the same continent, in shadowed lands of backwardness, even barbarism […] it was not a natural distinction, or even an innocent one, for it was produced as a work of cultural creation, or intellectual artifice, of ideological self-interest and self-promotion« (ebd.: 4).

Während der Aufklärung erlebte Europa eine Verlagerung der Macht von den kulturellen und finanziellen Zentren des Südens wie Rom, Florenz und Venedig, zu den nördlichen Metropolen London, Paris und Amsterdam, die rasant wuchsen und immer einflussreicher wurden. Dieser Umbruch wurde begleitet von einer Umorientierung des europäischen Kontinents: Die imaginative Ordnung der Renaissance, nach der der Süden als kultiviert und der Norden als primitiv markiert waren, ließ sich nicht länger aufrechterhalten. Der Osten wurde zur neuen komplementären Einheit gemacht: »The Enlightenment had to invent Western Europe and Eastern Europe together, as complementary concepts, defining each other by opposition and adjacency« (ebd.: 5). Der Unterschied zum Orientalismus besteht darin, dass die Erfindung des Ostens nicht nur dazu dient, den Westen durch den starken Kontrast zu definieren und aufzuwerten, sondern dass er überdies als ein Mediator zwischen Europa und dem Orient fungiert: »One might describe the invention of Eastern Europe as an intellectual project of demi-Orientalization« (ebd.:  7). Die vermeintlich unüberwindbaren

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Gegensätze zwischen Orient und Europa »allowed for an intermediary cultural space, in which the idea of Eastern Europe evolved« (ebd.). Der Osten diente zwar dazu, den Westen in seiner Vorrangstellung zu bestätigen, aber ihm kam damit auch die Rolle des Zwischenraumes zu zwischen Zivilisation und Barbarbei. Ein vergleichbares Schema lässt sich auch bei Harry Potter ablesen, wo die gute, gemäßigte und liebenswerte britische Identität durch den abschätzigen Blick auf die weniger zivilisierten und weniger sympathischen BesucherInnen aus dem Osten bestätigt wird. Zugleich jedoch sind diese Teil des gleichen Systems (die geheime magische Gemeinschaft) und in ähnliche soziale Strukturen eingebettet (sie alle besuchen Zauberschulen und nehmen an dem Turnier teil).

K arkaroff und K rum – bedrohliche A mbiguität Alles in allem erfahren wir relativ wenig über die einzelnen Mitglieder der Delegation von Durmstrang mit Ausnahme von zwei Charakteren: Viktor Krum, der für Durmstrang im Turnier antritt, und Igor Karkaroff, der Schulleiter. Sie vereinen nicht nur die bereits beschriebenen Merkmale der osteuropäischen Schule in sich – primitiv, nordisch, spartanisch und irgendwie düster, sondern sie stechen jeweils durch ihre Ambiguität und Ambivalenz hervor. Igor Karkaroff ist ein russischer Zauberer von zweifelhaftem Ruf und Charakter. Er wird als großer schlanker Mann mit kurzem weißem Haar und einem Ziegenbart beschrieben, dessen »teeth were rather yellow« und dessen Lächeln »did not extend to his eyes, which remained cold and shrewd« (IV: 217). Während seine Schüler alle Umhänge aus »shaggy, matted fur« tragen, sind seine eigenen »of a different sort; sleek silver, like his hair« (ebd.). Diese Ungleichbehandlung ist generell ein Charakterzug des Schulleiters. Bei der Ankunft in Hogwarts ignoriert er seine restlichen SchülerInnen, um so schnell wie möglich seinen besonders wichtigen und berühmten Schützling Viktor Krum ins Warme zu geleiten: »›Victor, how are you feeling? Did you eat enough? Should I send for some mulled wine from the kitchens,‹ he asks his champion fatherly. ›Professor, I vood like some vine,‹ said one of the other Durmstrang boys hopefully. ›I wasn’t offering it to you, Poliakoff,‹ snapped Karkaroff, his warmly paternal air vanishing in an instant. ›I noticed you have dribbled food all down the front of your robes again, disgusting boy‹« (IV: 226 f.).

Diese selektive und unfaire Art von Karkaroff tritt auch im Kontext des Turniers zutage, etwa wenn er als Jurymitglied die Leistung seines eigenen Schülers mit übermäßig vielen Punkten belohnt und die Leistungen der Konkurrenten diskreditiert. Er wird außerdem von Harry dabei beobachtet, wie er versucht, die Pläne für die kommenden Runden des Turniers in Erfahrung zu bringen, um seinem Schützling Krum gegenüber den anderen einen Vorteil zu verschaffen. Insbesondere im Kontrast zu dem liebenswerten und feinen Humor, dem ehrlichen Enthusiasmus, der absoluten Integrität und der Fairness, die Albus Dumbledore, dem Schulleiter von Hogwarts,

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zugeschrieben wird, erscheint Karkaroff wie ein verbissener und humorloser Mann. Als Harry dazu auserwählt wird, beim Trimagischen Turnier anzutreten und sein Leben zu riskieren, wird Karkaroff von Harry, Ron und Hermine als erster verdächtigt, dafür verantwortlich zu sein. Es stellt sich jedoch heraus, dass er daran keine Schuld trägt, und es spricht für ihn, dass er das Vertrauen von Dumbledore genießt. Über diese wenig liebenswerten Charakterzüge hinaus ist Karkaroff noch in dunklere Machenschaften verstrickt, wie Harry im Verlauf des Buches herausfindet. Karkaroff war einige Jahre zuvor ein Anhänger von Lord Voldemort. Er wurde nach dessen Verschwinden verhaftet und rettete sich selbst vor einer Strafe, indem er die Identitäten seiner ehemaligen KameradInnen verriet (IV: 510  ff.). Da seine Abkehr von Voldemort und dessen Gefolgsleuten eher eine opportunistische Strategie war, um seine eigene Haut zu retten, und wenig mit echter Reue für seine damaligen Taten zu tun hat, ist die LeserInnenschaft angehalten, ihm mit Misstrauen zu begegnen. Als anzunehmen ist, dass Voldemorts AnhängerInnen ihn finden und sich für seinen früheren Verrat rächen werden, bleibt ihm, ohne das Vertrauen und den Schutz jener, die gegen Lord Voldemort kämpfen, nur die Flucht. Viktor Krum, Held der Bulgarischen Quidditch Mannschaft und Champion von Durmstrang im Trimagischen Turnier, bleibt ebenfalls eine schwer einschätzbare Figur im ganzen Buch. Er steht zwar, wie sich herausstellt, auf der guten Seite, ist aber auch eng mit Karkaroff verbunden, was ihn für Harry als nicht sonderlich vertrauenswürdig markiert. Krum wird beispielsweise bei der dritten Turnierrunde von einem Anhänger von Voldemort mit einem Zauber dazu gezwungen, Harry und den anderen Hogwarts Champion mit einem unverzeihlichen Fluch anzugreifen. Die beiden sind zwar überrascht, dass Krum so etwas versucht, aber sie ziehen keineswegs in Betracht, dass er dies nicht aus freien Stücken getan haben könnte (IV: 544). Rowling vereint in seiner Figur überdies viele der Stereotypen über Menschen aus Osteuropa: Krum mag zwar für seine Leistungen als Quidditch-Spieler bewundert werden, aber allgemein ist er humorlos, wortkarg, unsensibel und rau in seinem Auftreten. Die Beschreibung seines Äußeren fällt ebenfalls wenig wohlwollend aus: »Viktor Krum was thin, dark and sallow-skinned, with a large curved nose and thick black eyebrows. He looked like an overgrown bird of prey. It was hard to believe he was only eighteen« (IV: 95). Als weltberühmter Quidditch-Star ist er besonders berüchtigt für den »Wronski Bluff«, ein brutales Manöver, das GegnerInnen dazu bringt, mit voller Geschwindigkeit auf dem Besen Richtung Boden zu rasen und aufzuschlagen. Auch seine Performance beim Trimagischen Turnier zeichnet sich durch recht derbe und eher brutale Lösungsansätze aus: Bei einer Aufgabe zum Beispiel verwandelt er sich zur Hälfte in einen Hai, und zerreißt Hermine beinahe aus Versehen mit seinen monströsen Zähnen (IV: 434). Meist unkommunikativ und ernst, wenn nicht gar grimmig dreinschauend, ist er nicht gerade bekannt für seinen Humor oder seine Sensibilität. Dennoch freundet er sich mit Hermine an und sie bleiben auch nach seiner Rückkehr nach Durmstrang in Kontakt. Harry und Ron gegenüber, die Krum sehr misstrauisch begegnen, be-

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schreibt sie ihre Beziehung so: »›He’s really nice, you know,‹ she said. ›He’s not at all like you’d think, coming from Durmstrang. He likes it much better here, he told me‹« (IV: 386). Das Schätzenswerteste an Krum ist demnach seine Zuneigung zu Hermine und der Umstand, dass er gar nicht so ist, wie man es von jemandem von seiner Schule erwarten würde. Im Film wird die Beschreibung ihrer Beziehung auf einen kurzen Dialog zwischen Harry und Hermine verdichtet, der noch weniger wohlwollend für Krum ausfällt: »actually we don’t really talk at all. Victor is more of a physical being. I just mean he’s not particularly loquacious. Mostly he watches me studying. It’s a bit annoying actually«2 . Unter den zahlreichen Klischees über Männer aus Osteuropa, die Rowling auf ihre beiden Figuren Krum und Karkaroff anwendet, sticht das Merkmal der Ambivalenz deutlich heraus. Bei Krum, und noch mehr bei Karkaroff, bleibt immer unklar, auf welcher Seite sie tatsächlich stehen. Das macht sie zwar nicht zu offenen Feinden, aber eine klare Allianz mit ihnen erscheint unklug, da ihre Anwesenheit potentiell gefährlich ist und ihre Nähe somit eine latente Bedrohung darstellt. Maria Todorova bietet hilfreiche Erklärungen dafür an, wie man dies deuten kann. In »Imagining the Balkans« (1997) untersucht sie, warum »Balkan« zu einem Synonym werden konnte »for a reversion to the tribal, the backward, the primitive, the barbarian« (Todorova 1997: 3). Sie deutet auf die Art und Weise hin, wie westliche HistorikerInnen und JournalistInnen die Konflikte der vergangenen Jahre beschrieben und erklärt haben. In diesen Ausführungen erscheinen die Kriege und Konflikte der 1990er Jahre als Eruptionen uralter Fehden und Feindschaften, die sich in dieser Region scheinbar natürlich von Zeit zu Zeit wieder Bahn schlagen mit einer Brutalität, die im Westen undenkbar wäre. Die tatsächlichen Ursachen der Konflikte, nämlich eine Nationalisierung der Region nach westeuropäischem Vorbild und politische und ökonomische Versäumnisse seit dem Zweiten Weltkrieg, würden dabei grundsätzlich übersehen. In ihrem Buch diskutiert Todorova anfänglich Saids Ausführungen zum Orientalismus, um ihre eigenen Hypothesen in Bezug auf das Verhältnis zwischen Westeuropa und dem Balkan zu erläutern. Sie lenkt dabei die Aufmerksamkeit auf die Unterschiede zwischen der Repräsentation des Balkans und der des Orients: »This book argues that balkanism is not merely a subspecies of orientalism« (ebd.: 8). »My aim is to position myself vis-a-vis the orientalist discourse and elaborate on a seemingly identical, but actually only similar phenomenon, which I call balkanism« (ebd.: 11). Der signifikanteste Unterschied liege in der »historical and geographic concreteness of the Balkans as opposed to the intangible nature of the Orient« (ebd.) und in der Art und Weise, wie die Bilder konnotiert sind. Dem Balkan fehlen die positiven und utopischen Elemente, die im Orientalismus anzutreffen seien, wie Luxus, Extravaganz, Erotik, Müßiggang und Femininität. »The Balkans […] with their unimaginative concreteness, and almost lack of wealth, included a straightforward attitude, usually negative, but rarely nuanced« (ebd.: 14). Das vorherrschende Bild der Bevölkerung, 2 | »Harry Potter and the Goblet of Fire« (2005) Warner Brothers Pictures (1:24:24).

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so zeigt sie auf, ist normalerweise ausdrücklich männlich, »uncivilized, primitive, crude, cruel, and, without exception, disheveled« (ebd.), eine Charakterisierung, die sich fast eins zu eins auf Viktor Krum und seine Schule anwenden lässt. Der entscheidende Unterschied zwischen der Konstruktion des Orients und der des Balkans liege aber in der Position, welche sie gegenüber dem Westen einnehme. Der Balkan stellt mitnichten das Gegenteil des Westens dar, sondern sei vielmehr eine unvollständige Version des Westens und durch eine Zwischenposition gekennzeichnet: »What practically all descriptions of the Balkans offered as a central characteristic was their transitionary status. The West and the Orient are usually presented as incompatible entities, antiworlds, but complete antiworlds. […] The Balkans, on the other hand, have always evoked the image of a bridge or a crossroads« (ebd.: 15).

Es ist diese vermeintlich uneindeutige Positionierung zwischen Ost und West, zwischen Europa und Asien, halb zivilisiert und entwickelt und halb kolonial und orientalisch, die als Anomalie und Bedrohung empfunden werden kann. Das dortige Patchwork aus katholischem und orthodoxem Christentum, Islam, Judentum und verschiedensten Ethnien und Sprachgruppen lässt sich nicht territorial fassen und entzieht sich in der Region bis heute einer feinsäuberlichen Abgrenzung. »Because of their indefinable character, persons or phenomena in transitional states, like in marginal ones, are considered dangerous, both being in danger themselves and emanating danger to others« (ebd.: 17).

Diese bedrohliche Uneindeutigkeit in Kombination mit der rauen Primitivität des Balkans sind gleich zwei Themen, die in den osteuropäisch konnotierten Figuren anzutreffen sind: Krum und besonders Karkaroff sind in diesem Zwischenraum zwischen gut und böse, zwischen Gegner und Freund verortet. Maria Todorova (1997) zeigt in ihrem Buch auf eindrucksvolle Weise, dass der westliche Diskurs den Balkan genau in dieser Position schon seit Langem verortet, um sich selbst von den Konflikten zu distanzieren.

D er O sten und A lbanien – B ehältnis des B ösen Abgesehen von den ausländischen Gästen und den spärlichen Informationen, die über ihre Schule zur Verfügung stehen, erfährt man als LeserIn nur recht wenig über andere Personen der Zauberer-Community oder der nicht-magischen Welt in diesem undefinierten Osten, der gleich hinter der französischen Grenze anzufangen scheint. Es gibt, über alle sieben Bände verstreut, jedoch eine erstaunlich große Anzahl an Erwähnungen von magischen Kreaturen, die im Osten leben sollen, deutlich mehr als für irgendeine andere Region der Welt. Insbesondere ein Land wurde dabei von

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Rowling zum Versteck und Ort des Rückzugs für alles Böse und Dunkle gemacht, zum Schauplatz von Morden und Entführungen: Albanien. Das Land erscheint als das Epizentrum des Bösen innerhalb von Harry Potters Welt. Im ersten Band der Serie wird berichtet, dass Professor Quirrel, ein Lehrer in Hogwarts, in Rumänien auf Vampire traf. Diese Begegnung soll für seinen paranoiden und dauerhaft verängstigten Zustand verantwortlich gewesen sein (I: 100). Später stellt sich heraus, dass er den geschwächten Lord Voldemort in Albanien traf, zu seinem Diener wurde und beinahe dem gefährlichsten Zauberer aller Zeiten wieder an die Macht verhalf. Charlie Weasley, der Bruder von Harrys Freund Ron, arbeitet in Rumänien als Drachenbändiger. Als der Drache, den Harrys Freund Hagrid illegalerweise ausgebrütet hat, zu gefährlich wird, um länger behalten zu werden, wird das Geschöpf zu Charlie nach Rumänien geschickt. Im vierten Band bringen er und sein Team vier verschiedene Drachenarten nach Hogwarts für das Turnier. Sie haben einen Common Welsh Green, einen Swedish Short-Snout und einen Chinese Fireball, der gefährlichste und größte von ihnen ist jedoch der Ungarische Hornschwanz (IV: 286 f.), gegen den Harry im Turnier antreten muss. Im zweiten Band der Serie wird erwähnt, dass Professor Lockard angeblich ein armenisches Dorf vor Werwölfen gerettet hat (II: 320). Riesen sind eine weitere bösartige und blutrünstige Spezies, die man nur noch in den abgelegenen Bergregionen des Ostens finden kann. Die Riesen in Großbritannien seien bereits ausgestorben, weil sie sich gegenseitig umbrachten oder von Zauberern und Hexen umgebracht wurden (IV: 374). Hagrid und Madame Maxime reisen in die Region nördlich von Minsk, um mit den Riesen eine Allianz auszuhandeln, bevor Lord Voldemort das Gleiche tun kann (V). Sie haben jedoch keinen Erfolg damit und mehrere Riesen kämpfen an der Seite von Voldemort in der finalen Schlacht um Hogwarts (VII). All diese verschiedenen hochgefährlichen Kreaturen werden auch in Bezug auf Großbritannien erwähnt, doch sind sie dort bereits ausgestorben, wie die Riesen, oder sie sind zahm, wie Remus Lupin, der verantwortungsvoll damit umgeht, dass er sich bei Vollmond in einen Werwolf verwandelt. Sie sind streng reguliert, wie zum Beispiel durch das Gesetz gegen das Halten von Drachen, oder sie sind gerade mal an den äußersten Randgebieten des Königreichs anzutreffen und nicht ganz so gefährlich wie ihre kontinentalen Artgenossen, wie beispielsweise die Drachenart aus Wales. Sie sind direkt mit Voldemort assoziiert, wie Fenrir Greyback, der grausame Werwolf, oder die Riesen. »From the start, ›East‹ thus becomes a habitat for the unwanted, the dangerous, the non-British« (Hochbruck/Feiten/Tiedemann 2010: 234). Im post-kolonialen Rahmen britischer Romanliteratur braucht der Osten außerdem offenbar die Hilfe des Westens, um seine magischen Kreaturen zu erforschen, zu zähmen und vor ihnen gerettet zu werden. In diesem Kontext ist die klassische orientalistische Distinktion zwischen dem zivilisierten und dem unzivilisierten oder dem geordneten Raum und dem zu kontrollierenden Raum sehr lebendig, die den Westen als überlegen versteht und dazu berechtigt, Kontrolle über den Osten auszuüben.

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Rowling führt hiermit eine westliche Tradition fort, bei der der Osten als ein bedrohlicher Raum genutzt wird, in dem sich das westliche Abenteuer entfalten möge. Eins der ersten und vielleicht das prominenteste Beispiel dafür ist Bram Stokers Gothic Novel »Dracula« von 1897, in der Landschaft und Leute in Rumänien reine Kulisse sind für die Gräueltaten, die dem britischen Protagonisten widerfahren. Barbara Korte (2010: 6) schreibt in dem Zusammenhang: »By the late nineteenth century, Eastern Europe had become a site of projections for all kinds of fears and desires emerging from western modernity.« Indem sich Rowling in diese Tradition einreiht, besteht für sie kaum die Notwendigkeit, die Orte mit Details auszuschmücken – die Konstellation »Rumänien« plus »Vampire« evoziert bei ihrer LeserInnenschaft schon automatisch die gewünschten Bilder von tiefen dunklen Wäldern, halb verfallenen Schlössern und gruseligen Grafen. Bei Agatha Christies Kriminalroman »Mord im Orient-Express« von 1934 wird eine nicht näher umschriebene verschneite kroatische Landschaft zum Schauplatz eines blutigen Mordes. Christie wie auch Rowling überlassen es der konditionierten LeserInnenschaft, die Leerstellen zu füllen: »there was no need to evoke much local color if the sheer resonance of balkan toponyms could suffice« (Goldsworthy 2002: 7). »Western ›horror‹ at what is going on in the Balkans contains, like Gothic horror, a fission of pleasure that is difficult to own up to  – an opportunity to re-enact the imperialist fantasy of drawing frontiers and ›sorting the troublesome natives out‹ without being accused of racism« (ebd.: 4).

In Rowlings Serie nimmt Albanien jedoch die besondere Rolle als Behältnis dunkler Machenschaften ein. Hochbruck, Feiten und Tiedemann (2010: 237) schreiben dazu: »The overall picture generated by Rowling’s geosocial and geobotanical ascriptions is in keeping with Romantic and later Gothic conventions and stereotypes, depicting the East as remote, uncivilised, wild, and altogether uncontrollable. Besides the traditional, giant- and vampire-infested and dragon-breeding ›East‹ that starts just across the Rhine and ranges all the way to the Black Sea and the North Cape, however, there is also a sort of sociographical ›deep East‹, and its most sinister and dangerous place is Albania.«

Was hat es mit Albanien auf sich? Die Verbindung zwischen diesem Ort und den dunklen Künsten reicht in »Harry Potter« mehrere Jahrhunderte zurück. Vor langer Zeit versteckte Helena Ravenclaw, die Tochter einer Gründerin von Hogwarts, ein Diadem, das sie ihrer Mutter gestohlen hatte, in Albanien. Dieser Gegenstand sollte später von Lord Voldemort zu einem Horcrux gemacht werden, einem Behältnis, in dem er einen Teil seiner Seele versteckte (VII: 496). Der Ort des Verstecks wurde schließlich zum Schauplatz von Helenas Ermordung, die seither als Geist in Hogwarts spukt. Nach seinem Niedergang floh der geschwächte Lord Voldemort nach Albanien, das er schon von seiner Suche nach dem Diadem kannte. Geschwächt wie er war, fristete er die folgenden zehn Jahre ein Dasein als Schatten im Wald und benutzte Ratten und Schlangen als Wirte, bevor ihn Quirrel fand und nach Hogwarts brachte (IV: 708). Als seine Pläne, einen menschlichen Körper wiederzuerlangen, scheiterten,

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floh er abermals in die albanische Wildnis, wo er wiederum zwei Jahre verbrachte, bis ihn sein Diener Wormtail fand und ihm wieder zu einem Körper und zu seiner alten Stärke verhalf: »He sought me in the country where it had long been rumoured I was hiding … helped, of course, by the rats he met along the way. Wormtail has a curious affinity with rats, do you not, Wormtail? His filthy little friends told him there was a place, deep in an Albanian forest, that they avoided, where small animals like themselves had met their deaths by a dark shadow that possessed them …« (IV: 578).

Bertha Jorkins, eine Mitarbeiterin des Zaubereiministeriums, wird vor Ort von Wormtail entführt. Ihr Verschwinden während ihres Urlaubs in Albanien ist mehrfach nebenher Thema im vierten Band, bis klar wird, welches Schicksal sie ereilt hat. Ihr Verschwinden wird kommentiert mit Bemerkungen, wie dumm sie von vorne herein war, einen Ort wie Albanien überhaupt aufzusuchen, und dass sie wahrscheinlich aufgrund ihrer Vergesslichkeit nicht rechtzeitig nach England zurückgekehrt sei, womit impliziert wird, dass es offenbar ein Leichtes ist, für Wochen und Monate im Niemandsland Albanien einfach so zu verschwinden. »She’ll turn up. Poor old Bertha … memory like a leaky cauldron and no sense of direction. Lost. You take my word for it. She’ll wander back into the office some time in October, thinking it’s still July« (IV: 82).

Hochbruck, Feiten und Tiedemann (2010: 237) bieten einen Erklärungsversuch an, weshalb gerade dieses Land für Rowling so negativ konnotiert sein mag. Die Berichterstattung während des Kalten Krieges mag ihr Bild eines rechtlosen und dunklen Ortes geprägt haben: »Whereas the older, largely Romantic convention is simply one in which the wilderness and lack of civilisation increases exponentially with the distance from the British Isles, the more recent imaginary Rowling uses is based on geopolitical experiences in the 1970s and 1980s, when Enver Hodxa’s (sic!) Albania was to Europe what present day North-Korea is to the rest of the world: a dark and inaccessible place, haunted by its own as well as heterostereotypical paranoia.«

In ihrem Aufsatz »Infinite Mirrorings: Russia and Eastern Europe as the West’s ›Other‹« (2010) untersucht Elisabeth Cheauré die jahrhundertealten Stereotype über den Osten, die noch immer weiter reproduziert werden: »fornication, alcoholism, debauchery, cruelty, haughtiness, xenophobia, rudeness. Alongside these one finds piety and superstition« (Cheauré 2010: 29). Sie lenkt jedoch die Aufmerksamkeit auch auf den Umstand, dass unter anderem die russische Geschichte von vielen Umwälzungen und Brüchen gekennzeichnet ist, anstatt kontinuierlich zu verlaufen, und dass dementsprechend auch die Imagination dieser Region alles andere als geradlinig verläuft und stets Raum für Projektionen bot. Obgleich sie primär den russischen Kontext beleuchtet, gehe ich davon aus, dass sich ihre Ideen ebenso auf das Phänomen »dunkles Albanien« bei Harry Potter anwenden lassen. Sie zitiert Victor Erofeev:

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»I do not know any other nation where the degradation went as far as with Russians. It is not a nation anymore, but a pillow case into which one can stick, squeeze, pour, shove anything« (ebd.: 31). Mit Bezug auf eine Sammlung von Essays von Boris Groys untersucht sie, wie das angenommene Fehlen von »eigenen« Traditionen und kulturellen Merkmalen, das auf die andauernden Veränderungen zurückzuführen sei, zum entscheidenden Faktor in der intellektuellen Konzipierung von Russland aus westlicher Perspektive wurde: »According to Groys, Russia’s tradition has been above all composed of certain elements taken from Western culture, namely those elements and currents which were rejected by Western culture itself as oppositional or alternative. […] In this way, Groys describes Russian cultural and intellectual history as a process which portrays Russia not as ›different to the West‹, but as ›the other to the West‹« (ebd.: 31).

Sie nennt mehrere Beispiele für solche Komponenten westlicher Kultur, die vom Osten angenommen und auf eine Art und Weise transformiert wurden, die als bedrohlich wahrgenommen wurden und werden: Die Verbreitung des Christentums, allerdings in der byzantinischen Art; die kommunistische Ideologie, die im Westen erdacht wurde und im Osten auf eine Art und Weise umgesetzt wurde, die über Jahrzehnte als höchst bedrohlich empfunden wurde; der gegenwärtige aggressive Nationalismus, ebenfalls ein westlicher Import in eine Region, die lange Zeit eher auf supranationale Zusammenhänge, wie zum Beispiel die Sowjetunion, als identitätsstiftende Einheiten Bezug nahm; und schließlich der Kapitalismus, der zwar im Westen lange zuvor Anwendung fand, aber nun in einer besonders aggressiven und wilden Modifizierung mit einem Chaos aus Armut, Wirtschaftsmigration und mafiösen Strukturen vom Osten her droht (ebd.: 31 ff.). Der Osten, so argumentiert sie, begegnet dem Westen als ein »distorting mirror  […] seeking a connection with and an opposition to the West« (ebd.: 32). Abgesehen von den magischen Kreaturen, die anscheinend ungezügelt durch die ansonsten leeren Lande ziehen, ist Albanien als Versteck und als Schutzort von Lord Voldemort die markanteste Tatsache, die an die LeserInnenschaft herangetragen wird. Lord Voldemort flieht aus Großbritannien in die albanischen Wälder, wo er nur darauf wartet, wieder zurückzukehren und erneut die Macht zu ergreifen. Damit trägt Rowling zu den westlichen Imaginationen bei, nach denen der Osten nur ein leeres Behältnis ist. Lord Voldemort ist in diesem Kontext eine ebensolche gefährliche Saat, eine westliche Erfindung, die sich im Osten ungestört am Leben erhalten kann, um schließlich erstarkt wieder über die vermeintlich zivilisierte westliche Gesellschaft hereinzubrechen.

Fazit Obgleich Joanne K. Rowlings Bücher allgemein als anti-rassistischer Aufruf zu mehr Toleranz und Vielfalt gelesen werden können, scheint sich diese Toleranz auf die bri-

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tischen Inseln zu beschränken. Es gibt zwar zahllose reichhaltige Beschreibungen von Orten in Großbritannien, jedoch nur wenige vage Erwähnungen ausländischer Orte, die damit wie abgelegene Peripherien erscheinen. Die imaginative Kartierung, die Rowling ihren LeserInnen anbietet, legt nahe, dass die Sphäre des Respektablen und Zivilisierten sich auf Großbritannien und vielleicht noch Frankreich beschränkt. Marek Oziewicz (2010) untersucht die britische Gewohnheit, sich selbst als das ultimative Zentrum und den ultimativen Westen zu verstehen, eine Gewohnheit, die nicht zuletzt in der Literatur immer wieder reproduziert wird. »Whereas for most nations of Europe the East is a relative term that depends on where one stands, the British have none of these dilemmas. In politics as in fiction, Britain has always tended to see itself as the ultimate West« (Oziewicz 2010: 1 f.).

Rowling und die anderen AutorInnen, die Oziewicz (2010) in seinem Text untersucht, »share a specifically British cultural attitude of regarding the continent as alien and incomprehensible« (ebd.:  1). Und so beginnt östlich von Frankreich die Peripherie, eine gesichtslose, menschenleere Landschaft, die sich höchstens durch kaltes Klima, unkontrollierbare Kreaturen und dunkle Wälder auszeichnet. Obgleich dieses Gebiet auch Skandinavien miteinschließen müsste, sind die Stereotype, die Rowling zur Charakterisierung von Land und Bewohnern hinzuzieht, fast ausschließlich Bilder, die mit Russland beziehungsweise der Sowjetunion sowie dem Balkan assoziiert worden sind. Diese Stereotype von primitiven, groben und unzivilisierten Menschen traten in Rowlings Beschreibungen der Durmstrang Schule und deren SchülerInnenschaft zutage. Solche Bilder gehen, wie Larry Wolff (1994) gezeigt hat, bis auf die Aufklärung zurück, als in Europa eine imaginative Reorientierung des Kontinents vorgenommen wurde, im Zuge derer dem Osten die Rolle des unzivilisierten, aber dennoch nah angrenzenden Anderen zufiel. Edward Saids (1978) Ausführungen zu Orientalismus erwiesen sich als hilfreich, um zu verstehen, wie Diskurse dieser Art dazu dienen, die eigene britische oder »westliche« Identität als überlegen zu konstruieren und zu bestätigen, indem das Gegenüber abgewertet wird. Die Brutalität von Krums Charakter ebenso wie seine und Karkaroffs Unberechenbarkeit stehen in einer westlichen Tradition, den Balkan und die Konflikte dort zu beschreiben, wie ich mit Hilfe von Maria Todorova (1997) aufgezeigt habe. Die Zwischenposition der Charaktere Krum und Karkaroff und der Umstand, dass sie weder ganz klar auf der guten, noch auf der bösen Seite stehen, lässt sie gefährlich wirken. »Unlike orientalism, which is a discourse about an imputed opposition«, schreibt Todorova (1997: 17), »balkanism is a discourse about an imputed ambiguity«, welche als Anomalie behandelt wird. Eine Auflistung der Kontexte, in denen Länder und Orte des östlichen Europas erwähnt werden, brachte schließlich einen weiteren Aspekt der Imagination des Ostens zum Vorschein: Vermeintlich nur von den gefährlichsten Fabelwesen bewohnt und ein sicherer Rückzugsort für den gefährlichsten Zauberer aller Zeiten, erscheint der Osten als ein leeres Behältnis ohne eigene Normalität und wird so von Rowling als

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»leerer Kissenbezug« benutzt, der mit den schlimmsten Dingen vollgestopft werden kann. Populärkulturelle Produkte wie diese Bücher entstehen und existieren niemals in einem luftleeren Raum, sondern sind Produkte ihres kulturellen Kontextes und tragen ihrerseits bei zu den kollektiven Bildern und Ideen, die sie geformt haben. Sie fügen zusätzliche Assoziationen und Stereotype hinzu. Die Autorin ist eine Person, die mit der vorherrschenden westlichen imaginativen Ordnung der Welt sozialisiert wurde. Sie trägt nichtsdestotrotz Verantwortung für die Weiterverbreitung und Fortführung eines britischen Selbstverständnisses der Überlegenheit, das sich insbesondere in Abgrenzung zum Osten formiert. Ihre stereotype Darstellungsweise von allem, was nicht britisch ist, und insbesondere vom Osten, hat mit Sicherheit einen gefährlichen und sehr realen Einfluss auf die imaginäre Landkarte ihrer LeserInnenschaft. »It might suggest to readers – British and foreign – that nothing good happens or comes out of the continent, and out of Eastern Europe particularly. It might suggest that Eastern European nations are somewhat inferior and can be treated with some degree of condescension if not contempt« (Oziewicz 2010: 12).

Gewiss ist Rowling nicht die erste und nicht die letzte, die diese platten Stereotype über Osteuropa fortführt: James Bond sah sich des öfteren mit unterschiedlichen Spielarten des russischen Bösewichts konfrontiert. Sasha Baron Cohen erlangte 2007 als Borat Kultstatus: In seiner gleichnamigen satirischen Mockumentary stolpert er als rassistischer und sexistischer Kasache durch die USA und kratzt mit seinen Plattitüden an den Grenzen des guten Geschmacks. Die Reiseführerparodie »Molvania: A Land Untouched by Modern Dentistry« (2004) über ein fiktives postkommunistisches Land mit dümmlicher und krimineller Bevölkerung erklomm mit rassistischen Stereotypen die internationalen Bestsellerlisten. Und selbst vermeintlich liebevolle und harmlose Figuren wie Cru, der Protagonist in der lustigen animierten Universal Studio Produktion »Despicable Me« (2010), der mit den Minions im Gefolge die Kinobesucher begeistert hat, basiert auf dem Bild des osteuropäischen Schurken. Die alten Assoziationen, vor mehr als zwei Jahrhunderten entstanden, sind noch immer sehr lebendig, wenn auch der Kontext, der zu ihrem Entstehen geführt hat, fast vergessen ist. Rowling trägt dazu bei, diese Stereotypen an die nachfolgende Generation weiterzugeben.

L iteratur Cheauré, Elisabeth (2010): »Infinite Mirroring«. Russia and Eastern Europe as the West’s »Other«. In: Korte, Barbara/Pirker, Eva U./Helff, Sissy (Hrsg.): Facing the East in the West. Images of Eastern Europe in British Literature, Film and Culture. Amsterdam/New York, S. 25–41.

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Douglas, Tracey (2007): Harry Potter and the Goblet of Colonialism. In: Goetz, Sharon K. (Hrsg.): Phoenix Rising. Collected Papers on Harry Potter, 17–21 May 2007. Sedalia »Harry Potter and the Goblet of Fire« (2005). Warner Brothers Pictures production directed by Mike Newell. Hochbruck, Wolfgang/Feiten, Elmo/Tiedemann, Anja (2010): »Vulkanov! Volkov! Aaaaaaand Krum«. Joanne K. Rowling’s »Eastern« Europe. In: Korte, Barbara/ Pirker, Eva U./Helff, Sissy (Hrsg.): Facing the East in the West. Images of Eastern Europe in British Literature, Film and Culture. Amsterdam/New York, S.  233– 244. Korte, Barbara (2010): Facing the East of Europe in Its Western Isles. Charting Backgrounds, Questions and Perspectives. In: Korte, Barbara/Pirker, Eva U./Helff, Sissy (Hrsg.): Facing the East in the West. Images of Eastern Europe in British Literature, Film and Culture. Amsterdam/New York, S. 1–24. Oziewicz, Marek (2010): Representations of Eastern Europe in Philip Pullman’s His Dark Materials, Jonathan Stroud’s The Bartimaeus Trilogy, and J. K. Rowling’s Harry Potter Series. In: International Research in Children’s Literature 3/1, S. 1–14. Rowling, Joanne K. (1997): Harry Potter and the Philosopher’s Stone (I). London. Rowling, Joanne K. (1998): Harry Potter and the Chamber of Secrets (II). London. Rowling, Joanne K. (1999): Harry Potter and the Prisoner of Azkaban (III). London. Rowling, Joanne K. (2000): Harry Potter and the Goblet of Fire (IV). London. Rowling, Joanne K. (2000): Harry Potter und der Feuerkelch (IV). Hamburg. Rowling, Joanne K. (2003): Harry Potter and the Order of the Phoenix (V). London. Rowling, Joanne K. (2005): Harry Potter and the Half-Blood Prince (VI). London. Rowling, Joanne K. (2007): Harry Potter and the Deathly Hallows (VII). London. Said, Edward (1978): Orientalism. London. Todorova, Maria (1997): Imagining the Balkans. Oxford/New York. Wolff, Larry (1994): Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of Enlightenment. Stanford.

I nternetquellen Goldsworthy, Vesna (2002): Invention and In(ter)vention. The Rhetoric of Balkanization, http://www.eurozine.com/invention-and-intervention-the-rhetoric-of-bal​ kani​zation/ (letzter Zugriff: 5. 1. 2018).

Umgang mit kultureller Vielfalt

Das Bild muslimischer Flüchtlinge in der polnischen rechtskonservativen Presse Małgorzata Świder

Abstract: The image of Muslim refugees in the Polish right-wing conservative press The Muslims in Poland form a very small percentage of society. Still, the results of public opinion polls for several recent years now have shown that the attitude of Poles towards Muslims is decisively negative. Poles consistently regard Arabs (that is the prototype applied with reference to the whole category of »Muslims«) as one of the most uncongenial groups. An equally negative attitude is shown by Poles towards refugees and emigrants, which is a new occurrence in our society. The coincidence of these two problems, dislike of Muslims and objection to accepting emigrants and refugees, has caused the public discourse to be dominated by the viewpoint of »migrants equals problems«, which started to be connected (and still is) also with the change in the Polish society’s attitude towards newcomers from the Near East and Africa. Making use of the issues of migration and Muslims by Polish right-wing political parties offers a particular case here. The subject matter, which until recently was hardly present in the Polish public debate, has become a frequent element of political games today. This is clearly seen also in the press, especially the one related to conservative and rightist factions, which has recently shown a radicalization of its language. The effect of this is a further diminishing of society’s acceptance of migrants and also, as the opinion poll of 2017 revealed, a rise in the approval of various forms of persecution of refugees.

E inleitende B emerkungen Muslime stellen in Polen einen sehr geringen Bevölkerungsanteil dar. Es ist allerdings schwierig, ihre Gesamtzahl festzustellen, denn die Schätzungen schwanken zwischen 5.000 und 65.000. Neben den Tataren, die seit Hunderten von Jahren die östlichen Regionen Polens bewohnen und noch in den 1980er Jahren die Mehrheit der polnischen Muslime ausmachten, sind zahlreiche Zuwanderergruppen hinzugekommen. Anfangs, das heißt in den 1970er und 1980er Jahren, waren es Studenten aus den

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Ländern des ehemaligen Ostblocks. Nach 1989 wanderten auch Migranten ein, die sich aus wirtschaftlichen Gründen auf den Weg nach Polen beziehungsweise in den »Westen« machten. Es kamen aber auch Flüchtlinge aus Bosnien, dem Iran, Afghanistan und Tschetschenien.1 Die Meinungsumfragen, die in den letzten Jahren vom Zentrum zur Untersuchung der Öffentlichen Meinung (Centrum Badania Opinii Społecznej – CBOS) durchgeführt wurden, zeigen, dass die Einstellung der Polen gegenüber Muslimen gegenwärtig eindeutig negativ ist. Laut Umfragen aus dem Jahr 2015 sind Muslime unter allen anderen Religionen und Nichtgläubigen die unbeliebteste Gruppe. 44 Prozent der Polen stehen ihnen negativ gegenüber, und nur ein knappes Viertel positiv (Stefaniak 2015: 3). Was schließlich die Einstellungen von Polen gegenüber Flüchtlingen und hinsichtlich ihrer Aufnahme im Land betrifft, so zeigen die Umfrageergebnisse, dass sich die Einstellungen in den letzten 24 Jahren mehrfach geändert haben. Die ersten verfügbaren Untersuchungen des CBOS dazu stammen aus dem Jahr 1992, aus der Zeit des Zerfalls des kommunistischen Blocks (CBOS 1992). Damals erwartete die entschiedene Mehrheit der Befragten (80 Prozent), dass Flüchtlinge aus Gebieten nach Polen kommen, die Krieg und Verfolgung ausgesetzt sind, insbesondere jedoch aus den Ländern der ehemaligen UdSSR, Jugoslawien und Rumänien. Über die Hälfte der polnischen Bevölkerung war bereit, Flüchtlinge für länger (55 Prozent) beziehungsweise sogar dauerhaft (3  Prozent) aufzunehmen und zu gewährleisten, dass die wichtigsten Bedürfnisse wie Unterbringung, Verpflegung und Gesundheitsversorgung gestillt werden. Anderer Meinung waren 34 Prozent der Befragten. Diese plädierten dafür, Flüchtlinge in andere Staaten beziehungsweise in das Herkunftsland zurückzuschicken oder sie sogar sich selbst zu überlassen (CBOS 1992: 5 f.).2 In den folgenden Jahren wurde die Aufnahmebereitschaft immer geringer, um im Jahr 1996 das niedrigste Niveau zu erreichen, als die Hälfte der Befragten forderte, Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken (CBOS 1997: 2  f.). Ab 1997 begann sich das Verhältnis zu Flüchtlingen wieder langsam zu verbessern und es stabilisierte sich schließlich auf einem sehr hohen Akzeptanzgrad (Hall/Mikulska-Jolles 2016). Im Jahr 2002 zeigten die Polen eine sehr offene und freundliche Einstellung gegenüber Flüchtlingen, womit sie sich von den Befragten anderer Staaten, die an der Untersuchung europaweit teilnahmen, unterschieden (Andrejuk 2015: 14 f.). Die Statistiken von CBOS aus dem Zeitraum von 2004 bis Mai 2015 verweisen bisweilen auf eine

1 | Die Einstellungen gegenüber den in Polen lebenden Tataren, die Muslime sind, und gegenüber muslimischen Immigranten unterscheiden sich deutlich voneinander. Die Position der ersteren ist gefestigt. Sie werden als Menschen wahrgenommen, die in Polen seit Generationen leben und die polnische Kultur respektieren. Letztere hingegen werden als ein fremdes Element wahrgenommen, das sich von Polen unterscheidet (Stefaniak 2015). 2 | Eine derartige Einstellung gab es am häufigsten bei älteren Menschen, Bewohnern von Großstädten und Dörfern, und Menschen mit geringer Bildung. Am stärksten gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen waren Personen, deren Beschäftigungslage unsicher war (CBOS 1992: 5 f.).

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sehr große Akzeptanz, Personen in Polen aufzunehmen, die aus politisch motivierten Gründen verfolgt werden.3 Diesen Trend veränderte erst die sog. Flüchtlingskrise oder genauer der Beginn der Debatte über die Aufnahme und Umverteilung von Flüchtlingen in Länder der Europäischen Union. Von da an begannen sich die Einstellungen gegenüber Migranten wieder langsam zu verschlechtern. Ein immer geringerer Teil der Polen hielt die Aufnahme von Flüchtlingen für begründet. Die Zahl der Personen, die dagegen waren, stieg sprunghaft an. Im Dezember 2015 meinte bereits über die Hälfte der polnischen Bevölkerung, dass Asylbewerber nicht aufzunehmen seien. Drei Monate später antworteten auf die Frage, ob Polen Flüchtlinge aufnehmen sollte, 57  Prozent der Befragten mit Nein, 39  Prozent mit Ja (CBOS 2016). In dieser Zeit (Februar 2016) stand, so die CBOS-Umfragen, mehr als die Hälfte der befragten Polen Arabern (die pauschal für Muslime stehen) negativ gegenüber (59 Prozent) (CBOS 2017). Die Überlappung von zwei Problemen – der generellen Ablehnung von Muslimen und dem Unwillen, Immigranten und Flüchtlinge im Land aufzunehmen – bewirkte, dass im öffentlichen Diskurs die Perspektive »Migranten als Problem« zu dominieren begann, was außerdem mit einer Veränderung der Einstellung der polnischen Bevölkerung (wie auch anderswo in der EU) gegenüber Ankömmlingen aus dem Nahen Osten und aus Afrika verbunden war (und weiterhin verbunden ist). Die Problematik der (muslimischen) Flüchtlinge diente und dient weiterhin als Schreckgespenst. Zu sehen war das sowohl im Wahlkampf 2015 in Polen als auch bei der Kampagne für das Referendum zum sog. Brexit, beim Präsidentschaftswahlkampf in Österreich 2016 sowie beim Wahlkampf in Frankreich und in Deutschland. Seit 2015 wird viel über Flüchtlinge und Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten gesprochen; sie sind zum Gegenstand öffentlicher Debatten und zu einem emotional hoch aufgeladenen Thema der Medien geworden. Der vorliegende Beitrag will diesen medialen Diskurs, der seit der sogenannten Flüchtlingskrise in ganz Europa, vor allem aber in Polen, Ungarn und Tschechien dominiert, untersuchen. Er macht dies anhand zweier relativ junger Wochenzeitschriften in Polen, die allgemein als rechtskonservativ gelten: Do Rzeczy4 und wSieci5. Bei der Untersuchung wurden in erster Linie die Umschlagseiten der Zeitschriften auf ihre visuelle Struktur hin analysiert, in einem geringeren Umfang auch die Artikel. Die Analyse folgte dabei der 3 | Noch im Mai 2015 waren insgesamt sogar 72  Prozent der Befragten der Meinung, dass Flüchtlinge zeitweise beziehungsweise dauerhaft aufgenommen werden sollten. Der entgegengesetzten Meinung waren 21 Prozent der Befragten. Den größten Unwillen gegenüber Zwangsmigranten zeigten ältere Menschen und Personen mit schlechterer Ausbildung, die ihre materiellen Bedingungen als schlecht einstuften (CBOS 2015a). 4 | Do Rzeczy [Zur Sache] ist eine konservativ-liberale Wochenzeitschrift, die seit 2013 in Warschau herausgegeben wird; seit 2013 ist Paweł Lisicki der Chefredakteur. 5 | wSieci [Im Netz] ist eine gesellschaftspolitische Wochenzeitschrift, die seit Ende November 2012 in Warschau herausgeben wird. Chefredakteur ist Jacek Karnowski. wSieci wird in Zusammenarbeit mit dem Portal wPolityce.pl herausgegeben.

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Annahme Roland Barthes vom gleichwertigen Charakter der verbalen und visuellen Codes, die in Pressebotschaften repräsentiert sind (Piekot 2006: 110, 112; Barthes 1977). Eine weitere Quelle bilden Ergebnisse aus Meinungsumfragen, die sich auf das Verhältnis der Polen und der polnischen Medien zu Flüchtlingen und Migranten beziehen.6 Bei der Analyse liegt der Schwerpunkt auf folgenden Fragen: Welche Argumente verwenden die Journalisten, um für beziehungsweise gegen die Aufnahme von muslimischen Flüchtlingen in Polen zu argumentieren? Verändert sich ihre Sprache, und wenn ja, welche neuen diskursiven Mittel, welche Begriffe und Bilder sind festzustellen? Welches Bild wird von der rechtskonservativen Presse in Polen von muslimischen Flüchtlingen gezeichnet und welchen Einfluss haben die antimuslimischen Kampagnen auf den öffentlichen Diskurs? Und schließlich: Wie wirken sich die antimuslimischen Diskurse auf das internationale Ansehen Polens aus?7

D ie »Flüchtlingskrise « in P olitik und M edien Die Diskussion über muslimische Migranten hat nach dem Sommer 2015 in ganz Europa einen besonderen Stellenwert in der Öffentlichkeit eingenommen. In Polen hat sie die politische Bühne in einem hohen Maße beeinflusst, das Thema muslimische Migranten und ihre Aufnahme in Polen ist zum Wahlkampfthema geworden. Aber auch in anderen Ländern nehmen populistische und rechte Parteien die Immigration aus den vorwiegend muslimischen Staaten zum Anlass, um Wählerstimmen zu werben. Und die Sprache spielt dabei eine zentrale Rolle – so nannte beispielsweise Marine Le Pen die Flüchtlingskrise eine »bakterielle Immigration« (Bertram/Puchej­ da/Wigura 2017: 8).

6 | Zum Beispiel eine Studie des Observatoriums der Öffentlichen Debatte der Stiftung Kultura Liberalna [Obserwatorium Debaty Publicznej Kultury Liberalnej], die auf Ersuchen des Büros des Bürgerbeauftragten erstellt wurde (Bertram/Puchejda/Wigura 2017), oder die neueren Studien des Zentrums zur Untersuchung der Öffentlichen Meinung. 7 | Auch die Presse, die in Opposition zu Do Rzeczy und wSieci steht, widmet den muslimischen Immigranten viel Raum. In vielen Fällen tritt die Sorge um den »Anderen« (also den Immigranten) auf, was in den Begriffen »Solidarität«, »christliche Barmherzigkeit«, »moralische Verpflichtung«, »Verantwortung«, »Empathie« Ausdruck findet. Oftmals ist die Bezeichnung »Fremder/Anderer« auch in Großbuchstaben geschrieben. Zudem wird dort viel Kritik an der Haltung der polnischen Politiker und Bürger geäußert. So klagten die Publizisten sie der »Fremdenfeindlichkeit« und der »Islamophobie« an und schrieben, die Reaktionen der polnischen Bevölkerung würden bei ihnen ein Gefühl der »Scham« wecken. Beispielsweise schrieb Jacek Żakowski (2015) in der linksliberalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza die Haltung eines Teils seiner Landsleute der gesamten Gesellschaft zu: »Im Spiegel der Flüchtlinge haben wir unser furchtbares Gesicht erblickt. Nicht nur ein fremdenfeindliches, rassistisches und islamophobes. Auch ein – unabhängig vom Kontext – egoistisches, selbstsüchtiges, grausames, feiges, aggressives und paranoides. Ein böses in fast jedem vorstellbaren Sinne.«

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Die polnischen Rechtskonservativen, vor allem die Partei Recht und Gerechtigkeit [Prawo i Sprawiedliwość  – PiS], brachten ebenfalls die Gefährdung der Gesundheit der einheimischen Bevölkerung als Argument gegen die Aufnahme von Migranten vor. Die fremdenfeindliche PiS machte im Oktober 2015 den Bürgern Angst mit drohenden Epidemien und Parasiten, die von Menschen übertragen würden, die als Flüchtlinge aus dem Nahen Osten nach Polen kämen. Diese Narration wurde zentral im aggressiv geführten Wahlkampf der PiS, und sie fand auch ein lautes Echo in der europäischen Öffentlichkeit. Von da an veränderten sich Ton und Rhetorik des politischen Diskurses, was neue (ungünstige) Reaktionen hervorrief: Die erste Reaktion kam von Seiten der politischen Gegner der PiS und war nicht weniger emotional. Die empörten Politiker sprachen von einer »Sprache des Hasses« und forderten, derartige Äußerungen zu unterlassen und rechtliche Konsequenzen zu ziehen. Dabei zogen sie Vergleiche zu ähnlichen Formulierungen der Nationalsozialisten, die Juden die Übertragung von Krankheiten unterstellten.8 Ferner wurden auch kritische Stimmen in Bezug auf das Verhalten von Polen gegenüber Juden während der Besatzung und des Holocausts laut.9 Die zweite Reaktion war, dass sich die Sprache des politischen Diskurses in Polen verschärfte und deutlich nach rechts umschwenkte. Es tauchten Schlagworte mit nationalistischer, extrem rechter und sogar faschistischer Färbung auf. Das Ergebnis war eine Änderung der Politik Polens sowohl gegenüber Flüchtlingen, als auch gegenüber 8 | In diesem Kontext wurde an die Filmproduktionen des »Dritten Reichs« mit eindeutig antijüdischer Propaganda erinnert, beispielsweise Der Ewige Jude von 1940 unter der Regie von Fritz Hippler oder Jud Süß, ebenfalls von 1940, unter der Regie von Veit Harlan. In der gleichen antijüdischen Haltung war auch das Stück von Halina Rapacka Kwarantanna [Quarantäne] gehalten, das 1942 den von der Propaganda-Abteilung des Generalgouvernements ausgeschriebenen »Anti-Typhus-Wettbewerb« gewann und das oft »Żydzi, wszy, tyfus plamisty« [Jude, Flöhe, Flecktyphus] genannt wurde (Woźniakowski 2003). 9 | Kontroversen wurden besonders auch dadurch hervorgerufen, dass Vergleiche zwischen den heutigen Einstellungen der Polen gegenüber Flüchtlingen und jenen zur jüdischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs gezogen wurden. Der polnisch-amerikanische Soziologe und Historiker Jan Tomasz Gross (2015) zum Beispiel behauptete, dass »vor nicht allzu langer Zeit, in den Jahren nach Kriegsende, osteuropäische Juden, die den Holocaust überlebt hatten, vor dem tödlichen Antisemitismus ihrer polnischen, ungarischen, slowakischen oder rumänischen Nachbarn flüchteten. Sie flüchteten in Flüchtlingslager, nirgendwo anders hin als nach Deutschland. […] Jetzt flüchten muslimische Flüchtlinge und Überlebende aus anderen Kriegen, die in Osteuropa keinen Frieden finden können, ebenfalls nach Deutschland. […] die Wurzel für die brutale Haltung der östlichen Europäer kann man in den Haltungen aus Zeiten des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar nach dem Krieg finden«. Der Text wurde zuvor von der deutschen Tageszeitung Die Welt veröffentlicht, was Kritik seitens des polnischen Außenministeriums und Kontroversen in polnischen Medien hervorrief. Ähnlich kritisch über die polnische Bevölkerung äußerte sich Agnieszka Holland, die bekannte polnische Regisseurin, die dreifach für den Oscar nominiert wurde, in einem Interview: »Mir drängen sich Assoziationen zum Zweiten Weltkrieg und zum Verhältnis eines wesentlichen Teils der polnischen Bevölkerung zum Holocaust auf. Ich denke nicht an die, die Juden ausgeliefert haben, sondern an die Gleichgültigen, die die Türen verschlossen haben« (Pawlicka 2015).

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der Europäischen Union und hier besonders gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, deren Regierung in den Augen der polnischen Politiker am unkontrollierten Zuzug der Flüchtlinge schuld war. Bereits im September 2015 schrieb Amanda Siwek (2015) vom Webportal Wirtualna Polska [Virtuelles Polen], dass die polnischen Medien in zwei ziemlich gleiche Hälften gespalten seien, wenn es um die Prägung des Bildes von der Migrations- und Flüchtlingskrise gehe. Die einen plädieren in ihren Texten dafür, alle, die nach Polen kommen, aufzunehmen. Sie betonen, dass Polen als Staat der Europäischen Union in der Pflicht stehe, Flüchtlinge aufzunehmen. Die anderen wiederum sehen in den Flüchtlingen eine große Gefahr und bringen vor allem Argumente gegen ihre Aufnahme vor. Das Thema Migration, das bislang kaum sichtbar im öffentlichen Diskurs war, wurde innerhalb kurzer Zeit zu einem zentralen Element politischer Spiele und Intrigen, was ein gewisses Novum in Polen ist. Denn noch im Jahr 2009 schrieb der polnische Migrationsforscher Łukasz Łotocki (2009: 133), dass »die Problematik der Immigration und der Ethnizität ein völliges Randproblem der politischen Debatten darstellt. In Polen wird sie nicht von den populistischen Parteien instrumentalisiert, so wie das in einigen Ländern Westeuropas stattfindet«. Das resultiere aus der Tatsache, dass Polen eine jahrhundertelange Erfahrung mit Emigration hat, mit Immigration hingegen eine relativ kurze. Die Gründe für diese Sachlage sind historisch, ökonomisch und politisch. Selbst gegenwärtig ist Polen kein Einwanderungsland, sondern ein Staat, aus dem mehr Menschen aus- als einwandern. Im Endeffekt ist es einer von wenigen Staaten in der EU mit negativem Migrationssaldo (Godlewska 2010: 1), was eine ethnische Homogenität begünstigt (Kotras 2016: 58). Dass in Polen andere ethnische Gruppen nur geringfügig vertreten sind, ist das Ergebnis territorialer Veränderungen im Zuge des Zweiten Weltkriegs und der durch ihn bedingten Umsiedlungen in der Nachkriegszeit. Darum basiert das in Polen vorherrschende Bild von Muslimen hauptsächlich auf Informationen aus den Medien und in nur sehr geringem Maße auf direktem Kontakt zu Menschen islamischen Glaubens.10

V isuelle D arstellungen in der P resse : das C over Für potentielle Rezipienten und Leser ist das Cover das Erste einer Zeitung oder Zeitschrift, was gesehen und bewertet wird, und es entscheidet nicht selten über den Kauf. Das Cover kündigt nicht nur das Hauptthema und den Gesamtinhalt der Ausgabe an, es verweist auch programmatisch auf die politische Linie des Heftes. Umschlagseiten von Wochenzeitungen sind daher als Botschaften an den Leser zu betrachten (Piekot 2006: 102). Die hier behandelten Umschlagseiten wurden im Hinblick auf die Kom10 | Wie aus den Untersuchungen des CBOS im Sommer 2015 hervorgeht, kennt nur ein Achtel der befragten Polen (12 %) einen Muslim oder eine Muslima persönlich. Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Personen einen Muslim lediglich von Auslandsreisen oder aus dem Urlaub in muslimischen Ländern kennen (CBOS 2015b).

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Abb. 1: Titelblatt wSieci 37/2015: »Nadchodzą« [»Sie kommen«]

position der Bilder, Symbole und Texte vor dem Hintergrund der Migrationsthematik analysiert. Vor allem die Fotos und Grafiken können eine besondere Bedeutung einnehmen, da visuelle Mittel eine wesentliche Funktion bei den Prozessen der Decodierung und Interpretation der ganzen Nachricht erfüllen. Das gilt vor allem für Fotos, sowohl für realistische als auch für Symbolfotos, die mit relativ einfachen Symbolen mit hohem Wiedererkennungswert operieren. Wie die neuen Informationen des thematischen Komplexes »Migranten an den Grenzen Polens« visualisiert und in alte Muster eingebettet werden, zeigt das Titelblatt von wSieci (Nr. 37/2015). Auf der Titelseite sehen wir drei junge Männer. Sie tragen Kleidung, die als muslimisch konnotiert wahrgenommen wird. So kleiden sich Afghanen, der Stil kann auch an die Taliban denken lassen. Zwei Männer tragen Bärte, der mittige hält eine Waffe in den Händen. Die Männer stehen an einem weiß-roten Grenzschlagbaum, einer von ihnen versucht, das Wappen Polens herunter zu reißen. Die Fotomontage bezieht sich auf das berühmte inszenierte Foto von Hans Sönnke aus Danzig, das dokumentiert, wie deutsche Soldaten angeblich das Wappen Polens von einem Grenzschlagbaum herunterreißen. Der Gestaltung des Titelblatts von wSieci (37/2015), die hier auf das historische Foto rekurriert, wurde mit einer bestimmten Intention gewählt. Die Autoren des Covers spielen in ihrer Botschaft auf die in der polnischen Bevölkerung weit verbreitete (negative) Assoziation mit dem September 1939 an. Das bestätigt auch die Schrift auf dem Cover, die die Aufmerksamkeit auf sich zieht: »Sie kommen« steht in großer Schrift da, und etwas kleiner darunter: »September 2015«. Die Einwanderung muslimischer Migranten wird mit der Invasion der Nazis und damit mit einer der größten Tragödien in der Geschichte Polens gleichgesetzt (Kotras 2016: 63). Die Asylsuchenden werden damit nicht als geschädigte und Rettung suchende Personen

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gezeichnet, sondern im Gegenteil als Aggressoren, die, ähnlich wie die Nationalsozialisten, die polnische Bevölkerung zwingen, sich ihnen zu unterwerfen. Im unteren Teil der Titelseite prangt außerdem eine Aufschrift, die auf die Schuldigen verweist, die für diese »Invasion« verantwortlich sind: »Die Deutschen treiben einen selbstmörderischen Plan voran  – Tusk und Kopacz geben nach.« Kotras (2016: 63) stellt diesbezüglich die Frage, ob die Migranten hier etwa als »Fünfte Kolonne« fungieren würden, das heißt als eine den Einheimischen feindlich gesinnte Kraft, mit deren Hilfe sich die Deutschen Polen und Europa unterwerfen oder sich gar selbst vernichten wollen. Im Leser, der die Umschlagseite betrachtet, soll so vor allem Angst geweckt werden. Das Thema Migration und Flüchtlinge wird hier mit dem historisch bekannten und Ängste weckenden Überfall Fremder auf Polen und der damit verbundenen Gefährdung der nationalen Souveränität in Verbindung gesetzt. Diese Objektifizierung findet durch die Gegenüberstellung mit dem September 1939 statt sowie durch die Darstellung der Migranten als Taliban-Aggressoren, die hier an deutsche Soldaten der Wehrmacht erinnern sollen. Darüber hinaus sei diese »Krise«, ähnlich wie vor dem Zweiten Weltkrieg, eine Konsequenz deutscher Politik. Ein weiteres Mal werde von außen versucht, über das Schicksal Polens zu entscheiden. Interessanterweise wurde das Motiv der Invasion von der Umschlagseite in dieser Ausgabe der Wochenzeitung mit einem anderen bekannten Ereignis in der Geschichte Polens verknüpft: mit der Zweiten Wiener Türkenbelagerung. Die Journalistin Marzena Nykiel (2015: 18) kommentiert darauf die »Flüchtlingsschwemme« wie folgt: »Hunderttausende Muslime überschwemmen Europa.  […] Am 12. September 1683 haben verbündete polnische, österreichische und deutsche Truppen die türkische Armee, die Wien belagerte, zerschlagen. Heute begrüßen Österreicher und Deutsche die ›zivile Armee‹ junger Muslime mit Beifall und Gesang. […] [Europäische Politiker] können nicht erkennen, dass das Problem der berechtigten Hilfe für Flüchtlinge für eine unerwartete Invasion nach Europa ausgenutzt wurde.«

Auf diese Weise suggeriert die Autorin zweierlei: Dadurch, dass die Bevölkerung in Deutschland und Österreich mit der Ankunft von Muslimen einverstanden ist, werde die erfolgreiche polnische Verteidigung Europas vor den Osmanen zerstört. Ferner stellt die Autorin Polen in die Position des Verteidigers europäischer Werte gegen die Invasion von Muslimen (so wie es zu Zeiten von König Johann Sobieski der Fall war). Ähnlich ist auch das Cover von Do Rzeczy (38/2015) zu verstehen. Auch hier treten Fotografie und Text in beiderseitige Interaktion. Auf dem Cover sind Massen von Menschen, vor allem mit dunkler Hautfarbe, zu sehen. Sie sind unterschiedlich gekleidet, so dass sie schwer einer nationalen Kultur zuzuordnen sind. Auf der Umschlagseite befindet sich die Aufschrift: »Ziemkiewicz: Das sind Angreifer, keine Flüchtlinge. Schließen wir die Grenzen Polens vor ihnen.« Dieses Mal werden die Migranten eindeutig als »Angreifer« klassifiziert, während gleichzeitig abgelehnt wird, sie der Kategorie der Flüchtlinge zuzuordnen. Wie Marcin Kotras (2016: 64  f.) anmerkt, weckt die im Satz verwendete Form der ersten Person Plural die Aufmerksam-

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Abb. 2 (links): Titelblatt Do Rzeczy 38/2015: »To najeźdzcy, nie uchodzcy« [»Das sind Angreifer, keine Flüchtlinge«] Abb. 3 (rechts): Titelblatt wSieci 7/2016: »Islamski gwałt na Europie« [»Islamische Vergewaltigung Europas«]

keit: »Schließen wir.« Dieser Appell ist an eine konstruierte Wir-Gemeinschaft – das polnische Volk – gerichtet. Der Verfasser dieser Worte, Rafał Ziemkiewicz, präsentiert sich als »einer von uns«, als ein Mitglied der (nationalen) Gemeinschaft. Die »uns«, also der ethnisch-polnischen Bevölkerung, drohende »Immigrantenwelle« könne man aufhalten, indem man die Grenzen schließe und sich von der kommenden Gefahr isoliere. Als Warnung und Aufruf zur Verteidigung gegen Muslime, die die europäische Zivilisation bedrohen, darunter vor allem die europäischen Frauen, ist die Umschlagseite der Wochenzeitschrift wSieci vom Februar 2016 zu interpretieren, die nicht nur viele Kommentare in Polen, sondern auch im Ausland hervorgerufen hat. Das Titelblatt wurde veröffentlicht, nachdem die europäische Öffentlichkeit von den sexuellen Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln erfahren hatte. Als Aggressoren und Angreifer wurden Männer mit fremdem, arabischem Aussehen angegeben. »Islamische Vergewaltigung Europas« lautet die in Signalfarbe gelb gedruckte Überschrift zum Leitartikel in der Wochenzeitschrift wSieci. Mittig ist eine weiße Frau dargestellt, die, in Anknüpfung an die mythologische Symbolik von Europa, Tochter des phönizischen Königs Agenor, mit der Flagge der Europäischen Union bekleidet ist. Männer mit dunklerer Hautfarbe zerren von allen Seiten an ihr, wobei nur deren Arme zu sehen sind. Die Botschaft des Covers ist unmissverständlich: Es geht um die brutale Vergewaltigung Europas durch muslimische Immigranten aus Afri-

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ka und Asien. Dabei bedient sich die Zeitschrift einer deutlichen Symbolik – weiße Frau, dunkelhäutige Hände, EU-Flagge –, die unmissverständlich die Botschaft vermittelt, dass die kulturell fremden, aggressiven Immigranten die Werte und Symbole der Europäer zerstören und auch deren Frauen gefährden würden. Diese Art der Visualisierung »gut gegen böse« passt zu den stereotypen Thesen vom Zusammenprall der Zivilisationen. Schließlich bezieht sich die Autorin ebenfalls auf die traditionelle Wahrnehmung von Weiblichkeit, die der brutalen Gewalt fremder und feindlich gesinnter Männer ausgesetzt wird. Nicht weniger kontrovers war die Ankündigung dieser Ausgabe auf dem eng mit der Wochenzeitschrift wSieci zusammenarbeitenden Portal wPolityce. Hier stellte sich das Cover in einer noch derberen und brutaleren Ausprägung dar, indem ein noch aussagekräftigeres Bild verwendet wurde. Es knüpfte klar an die Wochenzeitschrift wSieci an und der Kommentar sprach von »dem Zusammenprall der Zivilisationen und dem Streben Europas nach der Selbstausrottung« [Piekło i samobójstwo Europy 2016]. Das Cover von wSieci und seine Ankündigung in wPolityce sind durchaus repräsentativ für die diskursive Strategie der konservativen Presse. Die Botschaft basiert auf der Rhetorik der Angst, in der das Phänomen der Migration und der »Zustrom« der Flüchtlinge als Gefahr dargestellt werden – die Zuwanderer sind für »uns«, also die polnische Bevölkerung, gefährlich, weil sie ihr nicht nur körperliches Leid antun, sondern ihr auch ihren Wertekosmos rauben können. Man kann hier zudem eine Anklage der deutschen Behörden und der Brüsseler Eliten ablesen, die sexuellen Übergriffe durch Migranten in Köln ermöglicht zu haben. Das Cover verknüpft hier das »Problem« muslimischer Flüchtlinge mit den Brüsseler Eliten, die sich nach Ansicht der PiS nicht nur in innere Angelegenheiten Polens einmischen (Problem des Verfassungsgerichts, Reformen des Gerichtswesens, Einschränkung der Pressefreiheit), sondern auch noch Polen zwingen wollen, Flüchtlinge aufzunehmen. Auf diese Weise werden gleichermaßen Muslime wie auch die Politiker in Brüssel an den Pranger gestellt. Das Titelblatt, das die Vergewaltigung Europas darstellt, hat weltweit Diskussionen ausgelöst und international große mediale Aufmerksamkeit erlangt.11 Beispielsweise nannte die Daily Mail das Cover »schockierend« und schrieb unter Berufung auf den Medienexperten Henk van Ess, die Folge davon werde in erster Linie sein, dass »öffentliche Angst hervorgerufen« werde (van Ess 2016). The Guardian merkte wiederum an, dass das Cover von wSieci in seiner antiislamischen Aussage mit der Haltung der polnischen Regierung in der Flüchtlingsfrage korrespondiere (Sherwood 2016). Für die Wahrnehmung von muslimischen Immigranten in Polen spielen auch die Eliten der Europäischen Union und deren Haltung zu Flüchtlingen eine Rolle. Auf dem besprochenen Cover wSieci vom Februar 2016 steht am unteren Rand folgender 11 | Darüber wurde wiederum in Polen berichtet, zum Beispiel in der Wochenzeitung Polityka (Polityka 2016).

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Text: »Unser Bericht, was die Medien und die Brüsseler Eliten vor den Bürgern der EU verbergen.« Erstens suggeriert dieser Satz, dass es eine gewisse Art von Verschwörung zwischen den Medien, mutmaßlich den liberalen Mainstreammedien, und den Brüsseler Eliten gäbe. Verstecken sie vor »uns«, den EU-Bürgern, irgendwelche wichtigen Informationen oder gar die Wahrheit? Wobei »sie«, also die EU-Eliten und die ihnen hörigen Medien, auf der anderen Seite als die »gewöhnlichen« Bürger stehen. Mehr noch, diese Botschaft suggeriert, dass viele Entscheidungen hinter dem Rücken der Bevölkerung ohne ihr Wissen und Einverständnis gefällt und kritische Berichte versteckt würden. Dafür spräche etwa, dass Informationen über die Ereignisse der Silvesternacht in Köln 2015/2016 zurückgehalten wurden. Im Text mit dem Titel »Hölle Europas« von Aleksandra Rybińska (2016) in derselben Ausgabe der ­wSieci (7/2016) wird darauf aufmerksam gemacht, dass Gefahren, die aus dem »massenhaften Zustrom« von Immigranten resultieren, im Namen der Toleranz und der politischen Korrektheit verschwiegen beziehungsweise marginalisiert würden. Bemerkenswert in diesem Kontext ist auch der Text von Bronisław Wildstein »Will Europa Selbstmord begehen?« in derselben Ausgabe (Wildstein 2016: 24). Dort schreibt er unter anderem: »Angela Merkel hat, indem sie appellierte, dass Flüchtlinge aus dem Nahen Osten sich in Deutschland ansiedelten, die Büchse der Pandora geöffnet.« In wPolityce wurde sogar suggeriert, dass die EU-Politiker nicht einmal davor zurückschreckten, Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen zu zensieren. Ein Forschungsbericht der Universität Heidelberg zur Untersuchung »The Effect of Migration on Terror – Made at Home or Imported from Abroad« sei zur Publikation nicht genehmigt worden, weil darin die »bahnbrechende« Entdeckung gemacht worden sei, dass eine Abhängigkeit zwischen Migration und Terrorismus bestehe (wPolityce 2017). In einem Interview mit der Tageszeitung Dziennik Gazeta Prawna bestätigte Professor Axel Deher, Mitverfasser der Forschungsarbeit, eine solche Abhängigkeit, und fügte hinzu, dass es, »wenn es keine Personen aus gewissen Ländern gibt, es auch keine Terroristen aus diesen Ländern gibt« (Stańko 2017). Aus der Studie geht hervor, dass sich Staaten, die Migration einschränken, negativen Reaktionen und Terrorangriffen von Seiten von Immigranten aussetzten, die bereits im jeweiligen Land leben. Somit sei das ein Problem für die Staaten, in denen sich bereits große Immigrantengruppen aufhalten. Denn Immigranten aus Staaten mit hoher Terrorismusgefahr würden mit höherer Wahrscheinlichkeit auch Terroristen werden (ebd.). Im Text wird nicht nur über Informationen, die »zurückgehalten« oder gar vor der Öffentlichkeit versteckt würden, berichtet, sondern es wird auch die »natürliche« Wandlung vom Immigranten zum Terroristen suggeriert. Außerdem bewiese die Veröffentlichung der dieser Forschungsergebnisse in der polnischen Presse der Öffentlichkeit, dass sie frei und unabhängig sei – im Gegensatz zu dem, was die Bürokraten in Brüssel sagten. In einem derartigen Geiste tauchten Onlinekommentare unter dem Text auf, die beispielsweise forderten, Radio Freies Europa zu reaktivieren, um aus Polen auf Deutsch, Französisch, Englisch und Schwedisch zu senden, damit die Bewohner Europas die Möglichkeit hätten, die Wahrheit zu erfahren (Stańko 2017).

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R adikalisierung der S prache In der polnischen Presse ist eine zunehmende Radikalisierung der Sprache zu beobachten. In den Jahren 2015 bis 2016 wurde auf Ersuchen des Büros des Bürgerbeauftragten eine Studie des Observatoriums der Öffentlichen Debatte der Stiftung Kultura Liberalna [Obserwatorium Debaty Publicznej Kultury Liberalnej] durchgeführt und unter dem Titel »Negatives Bild der Muslime in der polnischen Presse« [Negatywny obraz muzułmanów w polskiej prasie] veröffentlicht (Bertram/Puchejda/Wigura 2017). Aus dieser Untersuchung geht hervor, dass in den Wochenzeitschriften Wprost, wSieci und Do Rzeczy (sowie auf den konservativen Portalen fronda.pl und niezalezna. pl) in Zusammenhang mit Migrationsthemen immer wieder Kriegsmetaphern und Militärrhetoriken vorkommen, die durch Immigranten hervorgerufene Konflikte und Gewalt suggerieren. Flüchtlinge seien »Aggressoren«, »Kolonisatoren«, »Eroberer«, »eine zivile Armee« oder »ein islamischer Rammbock«. Sie würden eine »Invasion«, einen »Sturm«, einen »Überfall«, eine »Unterwerfung«, eine »Eroberung« oder »Terror« begehen oder verbreiten. Lokale Unruhen werden mit dem Begriff »Krieg« bezeichnet, Europäer seien Zeugen »eines Frontalzusammenstoßes der Zivilisationen« (Bertram/Puchejda/Wigura 2017: 11–13). Ferner wurden Vergleiche zwischen der »Flüchtlingskrise« und Naturkatastrophen und Krankheiten gezogen: Polen und Europa hätten es mit einer »Welle« beziehungsweise einem »Strom« von Flüchtlingen zu tun, von dem sie »überschwemmt« würden, was in der Konsequenz eine wahre »Sintflut« wäre. Die Bezeichnungen »Welle/Sintflut von Flüchtlingen« wurden – nicht nur in den rechtskonservativen Medien – derart massenhaft verwendet, dass sie nach einigen Monaten zur festen Beschreibung von Flüchtlingen aus Afrika wurden (Sydow 2016). In den konservativen Medien wurde die Figur des Muslims oft mit der Figur des Flüchtlings, des Arabers, des Migranten synonym verwendet. Sichtbar war auch die deutliche Konvergenz der Verwendung der oben genannten Termini und Ausdrücke: Terrorismus, Terrorist, Islamist, Fundamentalist und so weiter. Das so verschwommene Bild von Muslimen wurde in zahlreichen Fällen zu einem griffigen Werkzeug, das in Streitigkeiten zu völlig anderen Fragen verwendet wurde und wird. Die Kulturanthropologin Karolina Sydow (2016), die unter anderem antimuslimisch motivierte Taten in Polen und in der Bundesrepublik untersucht, kommt zu folgenden Ergebnissen: Ein Teil der polnischen rechtsgerichteten Presse spricht über die politischen Eliten des Westens als von den »psychisch Gestörten«, die »mit dem Multi-Kulti-Virus infiziert« seien; Europa und seine Eliten seien »vom Wahnsinn ergriffen« und die Aufnahme von Hunderttausenden Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika käme gar einem Selbstmordversuch gleich. Immer häufiger, insbesondere angesichts der »Bedrohung« von Seiten muslimischer Einwanderer, wird von der Notwendigkeit gesprochen, »das Land zu verteidigen«. In einer solchen Situation wird an Werte appelliert, die universell und für die meisten Polen wichtig sind. So zum Beispiel die Initiative Rosenkranz an den Grenzen, bei der über eine Million Menschen für die Bekehrung und Einheit der Nation und

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um Frieden für Polen und die ganze Welt betete. Diese Initiative wurde im Westen, aber auch in einigen Milieus in Polen, mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Das Gebet an den Grenzen wurde als Unterstützung der Regierung wahrgenommen, die keine muslimischen Migranten in Polen aufnehmen will. Der Beweis dafür waren Äußerungen von Teilnehmern wie diese: »Der Islam will Europa vernichten. Sie wollen uns vom Christentum abkehren.« Ebenso verwies ein Organisator des Rosenkranzbetens auf den Islam, indem er von »wachsenden Spannungen in Europa« und Gefahren sprach (Gazeta.pl 2017). Höchstwahrscheinlich wurde auch das Datum dieser Initiative nicht zufällig gewählt: Das Rosenkranzgebet an den Grenzen wurde zum Jahrestag der Seeschlacht von Lepanto organisiert. Im Jahr 1571 bot die Heilige Liga, hinter der der Papst stand, der übermächtigen Flotte des Osmanischen Reichs Einhalt. Die Sorge um die Bürger, der nationale Diskurs und die Fremdenfeindlichkeit werden zu Elementen der Gemeinschaftsbildung. Angesichts der Gefahr sei es die wichtigste Aufgabe des Staates, den Gegner zu definieren und ihn gleichzeitig auf Distanz zu halten – sowohl territorial als auch ideologisch. Dieses Bestreben fußt auf der wirkmächtigen Narration von den »Anderen«, die die polnische Identität gefährden (Sydow 2016). Die damalige Ministerpräsidentin Beata Szydło verkündete im Dezember 2017: »Egal, was passiert, am wichtigsten ist Polen. Das sich um die Familie und um die Werte sorgt, das sicher ist. Das auf einer christlichen Grundlage gewachsen ist, tolerant und offen, modern und ehrgeizig. Das ist mein Land. Ein Beispiel für Europa und die Welt« (wPolityce 2017).

Bei den Bemühungen, den Glauben und das Vaterland zu verteidigen, werden manchmal historische Analogien und Bezugnahmen auf für Polen wichtige historische Ereignisse verwendet. Unter anderem geht es, wie erwähnt, um die türkische Offensive 1683, die bei Wien aufgehalten wurde, um den Siegeszug gegen die Rote Armee im Jahr 1920 oder um den deutschen Angriff auf Polen im September 1939 (Nykiel 2015: 18–21). In Zusammenhang mit dem Türkensturm wird Polen gewöhnlich eine besondere Stellung eingeräumt und auf die Konzeption Polens als »Bollwerk des Christentums« Bezug genommen (Bertram/Jędrzejek 2015). Die Autoren der Texte und die Rezipienten befinden sich im gleichen kulturellen Raum und beziehen sich auf eine gemeinsame Kultur, auf allgemein akzeptierte Regeln, Werte, Ansichten und Stereotypen. Im Endeffekt beeinflusst der Diskurs, der in der Presse geführt wird, direkt die Maßnahmen der Politiker, die sich von der Gesellschaft bestätigt fühlen. Die Folge dieser Rhetorik ist, dass die Akzeptanz der polnischen Bevölkerung gegenüber Migranten schwindet. Es wächst auch die Zustimmung, unterschiedliche Formen von Gewalt gegenüber Flüchtlingen anzuwenden. Aus dem von Maciej Bieńkowski und Aleksandra Świderska (2017: 11  f.) für das Zentrum für Vorurteilsforschung erstellten Bericht geht hervor, dass Personen mit rechtskonservativen und konservativen Ansichten sowie Befürworter der freien Marktwirtschaft eine höhere Akzeptanz von Gewalt gegen Migranten und Flüchtlinge als gegenüber anderen Personen aufweisen.

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Von großer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist auch der Bericht der Nationalen Staatsanwaltschaft, dessen Angaben zufolge die Zahl der Hassverbrechen von Jahr zu Jahr steigt. Besonders seit dem Jahreswechsel 2015/2016 ist ein deutlicher Anstieg bei Gewaltverbrechen gegenüber Personen zu verbuchen, die einer anderen ethnischen Gruppe beziehungsweise einer anderen Konfession angehören (Bartosik 2017). Diese Situation verwundert besonders in einem Land, in dem einst Menschen unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen Schutz gefunden haben und dessen Bevölkerung bis heute aus dem multinationalen und multireligiösen Erbe seiner Bewohner schöpft. Es stellt sich die Frage, warum Polen, das noch vor nicht allzu langer Zeit durch eine Mauer von der Welt abgeschnitten war und Millionen von Flüchtlingen in die Welt geschickt hat, so verbissen die Rolle des rücksichtslosen Wächters europäisch-christlicher Werte und Grenzen übernommen hat. Warum ist das kreierte Bild vom Flüchtling dermaßen negativ und hat so wenig mit christlicher Barmherzigkeit gemein? Warum hat die Hasssprache in den Massenmedien und in den zwischenmenschlichen Beziehungen Einzug gehalten? Diese Fragen kann man leider nicht leicht beantworten, vor allem weil diese negativen Erscheinungen in Bezug auf die Muslime in ganz Europa vorkommen.

S chlussbemerkungen Das große Interesse an der Frage der Migration aus den vorwiegend muslimischen Ländern spiegelt sich nicht unbedingt im Niveau der Diskussion wider. In den Internet-Foren und Sozialen Medien tobt eine heftige Debatte. Darin tauchen Argumente gegen die Aufnahme von Flüchtlingen auf, es finden sich aber auch Argumente für diese. Im Rahmen der von der Stefan-Batory-Stiftung 12 durchgeführten Untersuchung zum Verhältnis von Jugendlichen und Erwachsenen zum Phänomen der verbalen Gewalt gegenüber Minderheitengruppen wurde festgestellt, dass im Jahr 2016 das häufigste Objekt von Hasssprache in Polen Flüchtlinge und Homosexuelle waren. Die Befragten deklarierten einen relativ häufigen Kontakt mit Hasssprache, die gegen Anhänger des Islam, gegen Roma und Menschen mit schwarzer Hautfarbe gerichtet ist. Mit Hasssprache in Berührung kommen Polen laut dieser Umfrage hauptsächlich im Internet (hauptsächlich Jugendliche), im Fernsehen (hauptsächlich Erwachsene) sowie in alltäglichen Gesprächen und auf der Straße. Fast die Hälfte der Polen gab an, im Fernsehen beleidigende Äußerungen gegenüber Islamanhängern gehört zu haben. Ein deutlicher Anstieg beim Kontakt mit islamophober Hasssprache ließ sich auch in der Presse beobachten: Verdoppelt hat sich die Zahl der jugendlichen und erwachsenen Polen, die in Zeitungen auf die Beleidigung von Muslimen treffen. Islamanhänger bilden die Gruppe, die in den vergangenen Jahren am häufigsten in der Presse belei12 | Die Stefan-Batory-Stiftung ist eine unabhängige, nicht-kommerzielle Nichtregierungsorganisation, die über den Status einer gemeinnützigen Organisation verfügt. Ihr Ziel ist es, die Entwicklung der Demokratie und der Zivilgesellschaft zu fördern.

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digt wurde – damit ist auch die Zahl der Polen gestiegen, die Anti-Islam-Artikel lesen (Winiewski/Hansen/Bilewicz, 2016: 5 f.). Es ist verständlich, dass die gegenwärtigen, in den Medien lautstark dargestellten gesellschaftlich-politischen Ereignisse in Europa, einschließlich der Terroranschläge und der andauernden Migrationsbewegungen, gesellschaftliche Verunsicherung wecken können. Diese Verunsicherung zu artikulieren, steht nichts entgegen; berechtigt sind auch differenzierte Vorschläge, wie auf diese Phänomene zu reagieren ist. Das gleiche betrifft die Kritik an Verhaltensweisen und Überzeugungen, die einige Vertreter muslimischer Bevölkerungsgruppen zeigen. Die fundamentale Frage ist jedoch die nach der Form der Führung des Streites. Die Medien können wesentlich dazu beitragen, die Toleranz gegenüber Minderheitengruppen und ihrer Integration in die Mehrheitsgesellschaft zu fördern, im Gegensatz können sie aber auch der Brandmarkung und Diskriminierung derselben dienen (Bertram/Puchejda/Wigura 2017). Das Bild des muslimischen Einwanderers in der konservativen Presse ist ein durch und durch negatives. Die Art und Weise, wie dieses Bild konstruiert wird, hat auch Einfluss auf die Ansichten der polnischen Öffentlichkeit und ihre Radikalisierung in eine fremdenfeindliche Richtung. Leider wird dieses Bild nicht abgemildert, sondern avanciert zusehends zur akzeptablen gesellschaftlichen Norm. Es verändert sich auch nicht unter dem Einfluss der internationalen Öffentlichkeit, die in diesem Fall von der Europäischen Union repräsentiert wird. Die Kritik an Polen, vor allem im Kontext der fehlenden Rechtsstaatlichkeit und der Drohung, ein Verfahren nach Art. 7 des EU‑Vertrags gegen den polnischen Staat einzuleiten, rief eine allgemeine Mobilisierung der Bevölkerung mit rechtskonservativen Ansichten sowie Kritik an der EU hervor. Stellvertretend kann hier die Äußerung von Ryszard Legutko, eines mit der PiS verbundenen Europa-Abgeordneten, in Zusammenhang mit der im November 2017 verkündeten Entscheidungen der EU-Kommission über das Inkraftsetzen von Art. 7 EUV angeführt werden. Legutko zufolge seien die Entscheidungen keine Überraschung für ihn, da die Kommission »von Anfang an sehr scharf gegenüber Polen vorgehe«, ihr »an keinerlei Kompromiss gelegen« sei, sie danach strebe, »die polnische Regierung zu demütigen«, und an »nichts als an einer vollständigen Kapitulation interessiert sei« (Bielecki 2017). Außerdem ginge es der Kommission »nicht um eine konkrete Reform, sondern um den Kampf gegen die polnische Regierung, die als Fremdkörper in der EU gelte«. Die Maßnahmen der Kommission nannte Legutko einen weiteren Ausdruck der Arroganz gegenüber Polen (ebd.). Vorerst weist nichts darauf hin, dass sich das Verhältnis der rechtskonservativen Presse zum Thema »Migration und muslimische Flüchtlinge« in naher Zukunft verändern würde.

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»Es gibt diesen Zwiespalt, was ist man jetzt?« oder auch: Fragen nach Zugehörigkeit Verortungsstrategien von Minderheitenangehörigen am Beispiel Polen Katharina Schuchardt

Abstract: »There is this dilemma, who am I right now?« or: Questions concerning affiliation, strategies of belonging of members of minorities on the example of Poland Significant knowledge gap exists in the question of identity for the young generation of the German minority in Opole in Poland today. In this context, the influence of the political defined framework of minority has to be considered as it has deep impact on current strategies of self-identification for young members of this minority. I want to shed light on their difficulties in self-attribution circulating between different national attributions. Various experiences, like the history lessons in school and their stays in Germany, had an influence on this process during their lifetime. They continuously caused confusion and triggered questions of identity and attribution. As a consequence, the young adults choose to be identified as Silesians, which offers them various possibilities independent from only national attributions, including a regional concept. Die Stadt Opole/Oppeln im Süden Polens ist mit 125.000 Einwohnern sowohl die Hauptstadt der gleichnamigen Region als auch das Zentrum der deutschen Minderheit in Polen. Dort lassen sich nicht nur zahleiche regionale und überregionale Organisationen dieser Minderheit finden, sondern ihre Mitglieder leben dort auch in einem geschlossenen Siedlungsgebiet, was Opole/Oppeln von anderen Regionen in Polen, in denen die deutsche Minderheit lebt, unterscheidet. Es ergibt sich somit eine konzeptuelle Konzentration auf diese Region, die ich in den Fokus meiner folgenden Ausführungen gestellt habe. In und um Opole/Oppeln leben bis heute diejenigen (und ihre Nachfolgegenerationen), die sich nach den Grenzverschiebungen im Zuge des Zweiten Weltkrieges entschlossen haben, nicht zu fliehen, oder die aus ökonomischen Gründen gezwungen waren zu bleiben. Die neue Grenzziehung 1945 hatte allerdings nicht nur die Emigration vieler Deutscher zur Folge. Diejenigen, die blieben, wurden zu einer nationalen

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Minderheit in einem anderen Staat, der ihnen die Möglichkeit vorenthielt, mehr als eine nationale Identität zu haben. Das staatliche Diktum der kulturellen Homogenität in Oberschlesien verdient besondere Beachtung, da das Verbot des eigenen Sprachgebrauchs, der Vereinsgründung und der gemeinsamen Treffen in der Region Opole/ Oppeln bis 1989/1990 bestand und die deutsche Minderheit in den Schatten des sozialistischen Systems drängte. Diese Verbote haben innerhalb der Generationen bis heute Auswirkungen auf die Verhandlung der Zugehörigkeit zur Minderheit. Die Auflösung der Sowjetunion und die darauffolgenden Demokratisierungsprozesse in Polen schufen 1989/1990 die Voraussetzungen für die offizielle Anerkennung, die durch den Deutsch-Polnischen Freundschaftsvertrag vom 17. Juni 1991 endgültig bestätigt wurde. Nach Angaben der Minderheitenorganisationen leben in und um Opole/Oppeln circa 40.000 ihrer Mitglieder.1 Diese Zahl ist allerdings nur eine Schätzung der in den Vereinen und Organisationen eingeschriebenen Mitglieder und beruht auf deren ausdrücklichem Zugehörigkeitsbekenntnis zur deutschen Minderheit. Da wären aber noch diejenigen, die für ein individuelles Bekenntnis die Organisationen nicht benötigen, daher dürfte die Zahl höher liegen. Die Frage der Identität in Oberschlesien ist eine heikle, weil man sich nicht nur an nationalstaatlichen Paradigmen, sondern ebenso an regionalen Zuschreibungen orientiert. Dies macht konkrete Angaben in Form harter Fakten in Bezug auf die Minderheitenorganisationen 2 und ihre Mitglieder umso schwieriger. Anhand des Beispiels der heutigen deutschen Minderheit in Opole/Oppeln in Polen möchte ich zeigen, wie fragil und situativ sich die eigene Verortung als Angehöriger einer Minderheit gestaltet. 2015 war ich für mehrere Monate im Rahmen eines Feldforschungsaufenthaltes vor Ort und habe dort unter anderem 27 narrative Interviews vorwiegend mit Frauen geführt, die ab der Mitte der 1980er und in den 1990er Jahren geboren wurden. Durch die offizielle Anerkennung als Minderheit 1991 ist dies die erste Generation, die als Angehörige der Minderheit aufwachsen konnte. Neben einem Einblick in die Selbstverortungsstrategien junger Angehöriger dieser Minderheit soll auch ein Blick auf sogenannte Brucherfahrungen geworfen werden, die einen entscheidenden Einfluss auf die heutige Selbstzuschreibung haben. Die in anderen Kontexten wirkmächtige Zäsur des Zusammenbruchs der Sowjetunion und die damit einhergehenden Transformationsprozesse in Polen wirken nicht als ein separierender Bruch, sondern vielmehr als Kitt für Angehörige dieser Generation. Die politischen Umwälzungen ermöglichten die offizielle Institutionalisierung dieser Minderheit, sodass die junge Generation mit der Möglichkeit aufwuchs, an Veranstaltungen der Organisationen und zahlreichen Vereine teilzunehmen, Deutsch von ihren Großeltern vermittelt zu bekommen und auch auf entsprechende Angebote in der Schule zurückgreifen zu können. Die durch diese Zäsur ermöglichten gleichen 1 | Die Zahl geht auf die Aussage eines Vorstandsmitglieds der »Sozial-Kulturellen Gesellschaft der Deutschen im Oppelner Schlesien« zurück, Interview vom 22. 4. 2015. 2 | Einen guten Überblick über die bewegte Geschichte der Region bieten Bahlcke u.a. 2015.

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Erfahrungsmuster einen diese Generation, trennen sie aber von den Erfahrungen ihrer Eltern.

M inderheiten als F orschungsgegenstand Die deutsche Minderheit in Opole/Oppeln ist eine der 13 anerkannten nationalen und ethnischen Minderheiten in Polen (Nijakowski 2016: 19) und damit vordergründig an ein politisch definiertes und bis heute wirkmächtiges Konzept geknüpft. Die Unterscheidung zwischen anerkannten sowie nichtanerkannten Minderheiten stellt die Grundlage zahlreicher europäischer und nationaler Gesetze zum Minderheitenschutz dar.3 Minderheiten bewegen sich dabei stets am Schnittpunkt zwischen politischen Vorgaben und ihren individuellen Aushandlungsstrategien im Alltag. Diese Ambivalenz ermöglicht den Blick auf das Spiel der Identitäten in unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Daher ist es zunächst wichtig zu verstehen, wie Minderheiten als Konzept zu fassen sind. Politische Konzepte von Minderheiten schließen die juristische Ebene mit ein, untersuchen Förder- und Schutzmaßnahmen und sind vor allem in Hinblick auf die Finanzierung normativ konnotiert. Der Begriff nationale Minderheit bezeichnet in seiner Definition die Bevölkerungsgruppe eines Staates, die sich von der Mehrheitsgesellschaft in Sprache, Kultur und Geschichte unterscheidet und diese Merkmale im Sinne einer eigenen Identität bewahren möchte.4 Sie lebt seit vielen Jahrhunderten in ihrem Siedlungsgebiet und besitzt zudem einen sogenannten Mutterstaat, der den nationalen Bezugsrahmen bildet (Heckmann 1992: 60). Praktiken der Aushandlung von Selbst- und Fremdzuschreibungen verlaufen allerdings quer zu von außen normativ vorgegebenen Definitionen, wenngleich sie diese berücksichtigen müssen und Einfluss auf Verortungsprozesse mit sich bringen. Eine kollektive Minderheitenidentität – auch wenn Minderheit als Begrifflichkeit keine statische Gruppenzuschreibung umfassen sollte, weil Minderheiten als in sich heterogen anzusehen sind – bildet sich daher vordergründig in Anlehnung an nationalstaatliche Konzepte heraus, die Ankerpunkte durch Aneignungs- und Abgrenzungsprozesse darstellen. So werden von den Minderheiten selbst Grenzen nach außen gezogen und die Qualität des Eigenen dem Fremden gegenübergestellt (Göttsch-Elten 2016: 151). Mehrheitsgesellschaften schreiben ihnen wiederum Eigenschaften im Sinne von Fremdzuschreibungen zu, weil sie als von den je eigenen kulturellen Orientierungssystemen abweichend wahrgenommen werden. Für Minderheiten sind vor allem Bezugspunkte wichtig, die unter dem Stichwort Kultur zusammengefasst werden und identitätsstiftend sein können (ebd.). Dazu gehören etwa der »gemeinsame und ausdrückliche Wunsch nach Bewahrung der eigenen […] Sprache und Religion« (Köstlin 3 | Siehe hierzu zum Beispiel die Charta der Regional- und Minderheitensprachen, Hofmann 1995: 55 f. 4 | Diese Definition wurde auf Bundesebene festgelegt und umfasst hauptsächlich einen Hochkulturbegriff. Siehe dazu auch die vom Bundesministerium des Innern (2014) herausgegebene Broschüre »Nationale Minderheiten. Minderheiten und Regionalsprachen in Deutschland«.

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2007: 31), die Pflege von Bräuchen und Traditionen, das Anknüpfen an ein eigenes Geschichtsverständnis, kulturelle Objektivationen und symbolische Repräsentationen. Ein individuell ausgehandeltes Verständnis von Zugehörigkeit muss im Hinblick auf institutionalisierte Formen nicht ausschließlich an nationalstaatliche Konzeptionen gekoppelt sein, wie sie vor allem von Organisationen für eine nach außen gerichtete Repräsentation aufgegriffen werden und einer von außen stammenden finanziellen Förderung unterliegen. Die individuelle Vorstellung der jungen Angehörigen der deutschen Minderheit in Opole/Oppeln von Verortung wird narrativ (re-)konstruiert und äußert sich in Identitätsstrategien durch Selbst- und Fremdzuschreibungen. Der Identitätsbegriff ist kein festes Gebilde, daher ist die Identität nur im »doing identity« (Götz 2011: 70) erfahrbar und zeigt sich erst in der kulturellen Praxis, also wenn der Begriff sich beispielsweise in Erzählungen, Objekten, Traditionen und in der Sprache herausformt. Die Lebenswelt der deutschen Minderheit zu erforschen bedeutet in diesem Zusammenhang, identitätsbildende Interaktionen und Handlungen in den Blick zu nehmen und sie als sich im Moment der Aushandlung konstituierende Kräfte zu erfassen. Ich gehe von einem offenen und prozesshaften Identitätsbegriff aus, der als Integral zwischen subjektiven Prozessen der TrägerInnen sowie äußerlichen, also objektiven Vorgaben aufzufassen ist. Identitäten bilden sich anhand der uns umgebenden kulturellen Kontexte kontinuierlich aus und verändern sich, somit können sie in ihrem Prozess niemals als abgeschlossen betrachtet werden. Aus den unterschiedlichen Bereichen der individuellen Lebenswelt werden über die Verdichtung biografischer Erfahrungen Teilidentitäten gebildet, die im Sinne eines Patchworks Kohärenz und damit ein Identitätsgefühl herstellen (Keupp u. a. 2008: 193). Zugleich unterliegen die Erzählungen durch die Ausformung von Kohärenz einem roten Faden (Lehmann 1983: 20), um eine »stimmige Passung« (Keupp u. a. 2008: 7) herzustellen. Diese dem Patchwork zugrundeliegenden Teilidentitäten stellen bestimmte Ausschnitte ihrer TrägerInnen dar und können sich beispielsweise auf die Familie, Freizeit, Vereine und Feiertage beziehen. Dies hängt davon ab, in welchen Kontexten im Alltag sich die TrägerInnen bewegen.

N arrative V erortungen zwischen den N ationen Das Infragestellen scheinbarer Selbstverständlichkeiten wird anhand der von meinen Interviewpartnerinnen erzählten Identitätsnarrativen deutlich.5 Obwohl eine Arbeit 5 | Unter Narrativen verstehe ich Aussagen meiner Interviewpartnerinnen, die Auskunft über zeitliche, historische und schichtspezifische Dimensionen sowie über kulturspezifische Haltungen und Überzeugungen geben. Narrative sind als bereits geronnene Erfahrungen oder auch Erzählmuster zu betrachten und geben daher Auskunft über eine Vielzahl von individuellen und subjektiven Sinn- und Deutungsinstanzen ihrer TrägerInnen, die in den Erzählungen anhand der wiederkehrenden Erzählmuster zum Ausdruck gebracht werden.

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über Identität im methodischen Zugriff nicht nach konkreten Verortungen fragt und damit auch der Gefahr eines »methodischen Nationalismus« (Scheer 2014: 12) zu entgehen versucht, waren die Narrative über Selbstzuschreibungen meiner Interviewpartnerinnen omnipräsent. Die eindeutige Zuordnung der eigenen Identität wurde als starkes Bedürfnis verstanden und mir gegenüber vielfach zum Ausdruck gebracht. Dies gibt Auskunft über die Diskurse, die innerhalb der Minderheit stattfinden und verweist auf deren starke Präsenz. Der heutigen Pluralisierung von Identitäten steht der Wunsch nach einer eindeutigen Zugehörigkeit gegenüber. Damit rückt im Bereich von Minderheiten das Spannungsfeld einer politisch-normativen Interessenspolitik und das von jedem Angehörigen der Minderheit selbst auszuhandelnde persönliche Bekenntnis in den Fokus. Elina zum Beispiel wuchs in Polen auf, verbrachte aber ihre Ferien immer bei den Verwandten in Deutschland. Sie erzählte im Interview, dass sie je nach Gesprächspartnern innerhalb der Familie Deutsch, Polnisch oder Schlesisch sprechen musste, was dazu führte, über die eigene Selbstzuschreibung nachzudenken. So formulierte sie im Gespräch: »Sicher, ich habe mir zahlreiche Gedanken auch gemacht, ob ich Schlesierin bin,  […] Polin,  […] Deutsche«6 Auch zahlreiche weitere Interviewpartnerinnen formulierten ihre Schwierigkeiten in Bezug auf die eigene Verortung. Hanna äußerte sich folgendermaßen: »Ja, also ich bin sicher keine Deutsche. Ich habe deutsche Wurzeln, zu denen ich mich bekenne und die ich auch gut finde, weil, ja, leugnen hat jetzt überhaupt keinen Sinn und man braucht das gar nicht zu leugnen. Aber ich fühle mich auch nicht als Polin. Zwar wohne ich in diesem Land //mhm//, arbeite hier, arbeite für polnische Gelder […], aber ich fühle mich weder noch.« 7

Die Aussagen von Elina und Hanna verweisen zunächst auf ein Dazwischen, das keine Eindeutigkeiten zulässt und daher als höchst fragil anzusehen ist. Es steht in einem Spannungsverhältnis zur normativen Vorgabe der Einfachzugehörigkeit, denn dies bedingt das im Hintergrund wirkende politische Konzept von Minderheit, an dem sich meine Interviewpartnerinnen orientieren. Daher erscheinen die individuellen Reflexionen als die Suche nach der Lösung für ein Problem, vor dessen permanenter Herausforderung sie stehen. Monique Scheer (2014: 10) konstatiert, dass es heutzutage immer mehr Menschen mit einer »national-ethnisch gemischten Biografie« gibt und gerade diese Tatsache genau dann zu Schwierigkeiten führt, wenn der Kontext keine Berücksichtigung dieser zulässt.8 Die Uneindeutigkeit, wie sie bei Elina und Hanna zum Ausdruck kam, wird zugleich von den Institutionen der Minderheit forciert, die ebenso an einer deutschen Identität festhalten und diese durch ihre instituti-

6 | Interview vom 9. 4. 2015. Die Interviews wurden nicht geglättet und entsprechen in ihren grammatikalischen und semantischen Strukturen den originalen Aussagen. Dies verweist auf das zugrundliegende Sprachniveau meiner Interviewpartnerinnen, die Deutsch nicht als Muttersprache erlernten. 7 | Interview vom 27. 5. 2015. 8 | Fragen nach symbolischen und nationalen Materialitäten wie dem Pass eröffnen hier ein weites Feld.

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onelle Arbeit immer wieder repetitiv festschreiben,9 was sich zusätzlich auf die innere Zerrissenheit der Befragten auswirkt. Hannas Aussage verweist auf einer weiteren Ebene noch auf Faktoren, anhand derer Zuschreibungen von Nationalität getroffen werden. Die Betonung von deutschen Wurzeln und die gleichzeitig selbstthematisierte Nichtzugehörigkeit zum »Deutschen« lassen sich durch einen Blick in die Kindheit dieser Generation erklären. Bei Hanna, wie auch bei vielen anderen meiner Interviewpartnerinnen, spielen die Großeltern eine wichtige Rolle für die individuelle Verortung. Ich wurde in meinen Interviews immer wieder darauf hingewiesen, dass die Großeltern noch Deutsche waren, wodurch sie in ihrer nationalen Zugehörigkeit ausdrücklich hervorgehoben werden. Dazu gehört auch das wiederkehrende Narrativ, dass die Großeltern mit ihren Enkelkindern vorwiegend Deutsch gesprochen haben und darüber eine gemeinsame Kommunikationsbasis schufen, die die Elterngeneration ausschloss. Diese wird von der jungen Generation als »verlorene Generation« bezeichnet, weil sie die deutsche Sprache nicht beherrscht, sodass die Sprache eine Klammer zwischen den Großeltern und der Enkelgeneration herstellt. Die Klassifikation der Großeltern als Deutsche verweist dabei auf das bis heute wirkmächtige Konzept von Minderheit, das sich wiederum auf nationale Zuschreibungen stützt. Die deutsche Sprache bildet eine »heritage language«, die den Enkelkindern mitgegeben wird und anhand derer eine Zugehörigkeit zur Minderheit geschaffen wird. Die Organisationen greifen dies mit ihren Angeboten auf und schaffen bewusst Räume, um Fragen nach Identität anzustoßen und ein Bewusstsein für die eigene Familiengeschichte zu schaffen. Allerdings finden aufgrund biografischer Brüche Verschiebungen in der Selbstverortung statt, sodass sich das für Kindheit und Jugend konstatierte Bewusstsein, Deutsch zu sein, wandelt und in andere Identitäten transformiert wird. Nach Wolfgang Kaschuba (2012: 167, Herv. i. O.) präsentiert »[d]ie Rede von ›Identitätsverlust‹ und ›Identitätssuche‹ […] daher zwei Schlagworte, die durchaus auf fundamentale Orientierungsprobleme gesellschaftlichen Daseins verweisen«. Die bereits angesprochenen Brüche in den Biografien und angestoßenen identitären Aushandlungsprozesse möchte ich anhand zweier Beispiele nachfolgend erläutern.

Vom schwierigen U mgang mit G eschichtsbildern Das Jahr 1990 eröffnete der jungen Generation die Chance, sich mit der Zugehörigkeit zur Minderheit offen auseinanderzusetzen. Dabei ist aber keine abrupte Hinwendung zur Minderheit zu verzeichnen, sondern vielmehr ein vorsichtiges Herausfinden und Herantasten an die Geschichte der Eltern und Großeltern. Schweigen und Tabuisierung waren in vielen Familien einerseits durch die Erlebnisse der Großeltern nach dem Zweiten Weltkrieg und andererseits aufgrund der bis 1989/1990 existen9 | An dieser Stelle sei beispielsweise auf Lieder- und Rezitationswettbewerbe und das Aufzeigen deutschen Kulturerbes in Schlesien verwiesen.

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ten politischen Umstände üblich. Dazu gehören auch die Schilderungen des Einmarsches der Roten Armee in Oberschlesien Anfang 1945 und der damit verbundenen negativen Darstellung des sogenannten stereotyp konstruierten »Russen«. Die Enkelkinder sind die erste Generation innerhalb der deutschen Minderheit, die sich offen mit der Geschichte ihrer Eltern und Großeltern auseinandersetzen kann und das bis in die Gegenwart transportierte Schweigen bricht. Das Schweigen kann unter zweierlei Blickwinkeln gedeutet werden: Es umfasst einerseits das durch die Scham der Großelterngeneration und andererseits das durch das Nichtwissen der Elterngeneration praktizierte Schweigen. Es kommt zu vielschichten Aushandlungsprozessen innerhalb der Familien, in deren Rahmen Fragen nach Zugehörigkeit nicht nur aufgeworfen, sondern ebenso narrativ vermittelt werden. Die innerhalb der Familien transportierten Narrative über die Zugehörigkeit zur Minderheit und die damit einhergehende Klassifikation als Deutsche(r) werden in der biografischen Erzählung mit dem Eintritt in öffentliche Institutionen wie die Schule thematisiert und sind als fragil in Bezug auf ihre Eindeutigkeit anzusehen. Die über die Eltern und Großeltern tradierten Erfahrungen führen zu spezifischen Erzählmustern innerhalb der heutigen Enkelgeneration, sodass die bis dahin als Einheit empfundene Identität aufgebrochen wird und es zur Gegenüberstellung mehrerer Identitäten kommt. Einen besonderen Stellenwert nimmt der Geschichtsunterricht in der Schule ein, bei dem es zur Konfrontation unterschiedlicher Geschichtsbilder kommt. Die Thematisierung der Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands bis 1945 rückt in den Fokus und lässt die zuvor in den Familien präsente und negativ besetzte Rolle »der Russen« in den Hintergrund treten. Gleichzeitig steht dies im Kontrast zur Arbeit der Minderheitenorganisationen in der Region, die nur die Opferrolle nach 1945, nicht aber das Täterkollektiv bis 1945 thematisieren und eine Identität auf dem Opfermythos aufzubauen versuchen. Die durch den Geschichtsunterricht empfundenen Irritationen beschreibt Emma wie folgt: »Und ich hab‹ dann in der Schule gelernt, dass also Deutschland den Zweiten Weltkrieg begonnen hat und die Deutschen die Bösen sind, die haben den Krieg geführt. […] Und dann wurde mir erstmal auf einmal klar, was stimmt hier nicht?«10 Bei Emma treffen die innerhalb ihrer Familie vermittelten Narrative und ein staatliches, durch die Institution Schule vermitteltes Geschichtsbild aufeinander und führen durch das neue Fremdbild zu Irritationen in ihrem Selbstbild. Nach Heiner Keupp (2008: 90) stellt sich dann die Frage, »ob das Subjekt in einer solchen Situation die Garantieleistung der Kohärenzproduktion übernehmen kann«. Die von Emma geschilderte Irritation hat ein Aufgreifen von Identitätsfragen zur Folge, sodass die Familiengeschichte erneut thematisiert wird, dieses Mal aber unter einem anderen Blickwinkel. Sie fängt an nachzufragen und gleicht die unterschiedlichen Bilder ab. Hanna verweist ebenfalls auf die Unsicherheit, die in diesem Moment bei ihr aufkam:

10 | Interview von 20. 5. 2015.

100 | Katharina Schuchardt »[…] und das beste an der Sache ist, dass des Öfteren die jungen polnischen Kinder, also seinerzeit, als wir in der Schule waren, geleugnet haben, dass hier irgendwann mal Deutschland war. […] Ich hatte mir dann die Frage gestellt ›Ja, wer erzählt denn jetzt, tschuldigung, Mist?‹ War es die Oma oder wieso der, der neben mir sitzt, wieso behauptet der, hier war niemals Deutschland. Das muss man eben anerkennen. Es war mal. Ok, das hat sich jetzt mit der Zeit geändert, wieso leugnen die das?«

Über sprachliche Zuschreibungen werden Abgrenzungen zwischen einem »Wir« und den »Anderen« vorgenommen, worauf die Bezeichnung der »polnischen Kinder« verweist. Gleichwohl definiert sich Hanna heute auch als Polen zugehörig, weil sie in Polen sozialisiert wurde und vielfältige Berührungspunkte mit der Mehrheitsgesellschaft aufweist. Im vorliegenden Fall treffen zwei unterschiedlich vermittelte Geschichtsbilder aufeinander, die sich aufgrund der im Kontext entfalteten Polarität unversöhnlich gegenüberstehen und es meinen Interviewpartnerinnen daher doppelt schwer machen, sich zu verorten.11 Dies kann in Extremfällen auch zu einer Abkehr von der Minderheit führen, um dem Stigma zu entgehen, mit welchem die junge Generation in der Schule konfrontiert wurde, wie Paula erzählt: »[…] ich habe es so gelernt und meine Schwester auch und mein Cousin, ist es so, dass die Kinder lernen, dass Deutschland oder vielleicht nicht Deutschland, aber alles was mit Deutschland Zusammenhang hat, ist ja schlecht, ist etwas Böses. Wir lernen über Hitler oder über den Krieg. Wir fahren nach Oświęcim, zu Ausschwitz und dann siehst du sowas und sagst ›Du willst nicht Deutscher sein, wenn wir so etwas Böses gemacht haben‹.« 12

Paula schilderte mir ihre Begründung, die Zugehörigkeit zur Minderheit zu negieren. Anlass dafür war ihr Cousin, der sich aufgrund der in der Schule vermittelten Geschichtsbilder dem Täterkollektiv zuschrieb, dem er jedoch auf keinen Fall angehören wollte. Nachdem ihm meine Gesprächspartnerin erzählt hat, dass er zur deutschen Minderheit gehört, habe er weinen müssen. Die Möglichkeit, die eigene Familiengeschichte zu thematisieren und zu einer Herausbildung eines kohärenten Identitätsgefühls beizutragen, wird hier im Extremfall zunächst blockiert. Gleichzeitig verweist dies auf eine bislang nicht stattgefundene Auseinandersetzung des Cousins mit der Familiengeschichte, die erst über das Gespräch mit Paula angestoßen wurde. In einigen Fällen war der Geschichtsunterricht auch der Auslöser, die familiäre Vergangenheit aufgrund von Irritationen im Identitätsgefühl zu thematisieren. Paulas Schilderung zeigt die im Hintergrund zirkulierenden Diskurse auf. Die über Schweigen und Tabuisierung aufgeworfenen Bewältigungsstrategien der Großelterngeneration haben Auswirkungen auf die heutige Enkelgeneration, obwohl diese in einem großen zeitlichen Abstand zu den Ereignissen um und nach 1945 aufgewachsen ist. Das in 11 | Die polnische Geschichtsschreibung konzentrierte sich nach 1945 auf die sogenannten »Ziemie Odzyskane« [Wiedergewonnene Gebiete], die das Gebiet des heutigen Nieder- und Oberschlesien als »altes piastisches Land« proklamierte und zur historischen Legitimierung instrumentalisierte (Struve 2003: 3). 12 | Interview vom 23. 4. 2015.

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der damaligen Zeit staatlich diktierte Schweigen hat bis heute innerfamiliäre Auswirkungen und die Zeit vor 1945 wird auch innerhalb der Minderheitenorganisationen für das eigene Selbstverständnis ausgeklammert. Dies gewinnt vor allem in Hinblick auf die neuesten Gesetze in Polen verstärkt an Relevanz: Gesetze wie die 2017 beschlossene und umgesetzte Schulreform, nach der sich der Geschichtsunterricht in polnischen Schulen verstärkt an einer staatlich definierten, sogenannten nationalen Geschichte orientieren soll, erschweren eine konstruktive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Geschichtsbildern. Angehörige von Minderheiten werden in Polen aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen und haben Probleme, mit ihren Geschichtsbildern an gesellschaftliche Diskurse anzudocken. Zugleich fördert dies Irritationen in der eigenen Selbstverortung, wenn solche normativ geprägten Diskurse von außen auf Diskurse treffen, die innerhalb von Familien verhandelt werden.

Fremdzuschreibungen als I dentitätsspiegel Nicht nur die Geschichtsbilder, sondern auch das Selbst- und Fremdbild vom nationalen Bezugsstaat Deutschland, zusammen mit den damit einhergehenden Verortungen, haben Einfluss auf die Identitätsbildung innerhalb der jungen Generation. Neben der Tatsache, deutsche Großeltern zu haben, wird Deutschland als eine Art Projektionsraum wahrgenommen, der für viele junge Leute zum Auswanderungsziel wurde. Die junge Generation hat seit ihrer Kindheit intensiven Kontakt mit Deutschland, weil viele Familienmitglieder dort wohnen. In Folge von Flucht und Vertreibung nach 1945 und den großen Ausreisewellen in den 1960er und 1970er Jahren blieben nur wenige in der Region um Opole/Oppeln. Die Dagebliebenen nannten zum einen die Heimatverbundenheit der Großeltern als Motiv, zum anderen seien es ökonomische Gründe wie die Bestellung des heimischen Hofes oder die Verantwortung kranken Familienmitgliedern gegenüber gewesen. Die Familien der von mir Befragten haben ausnahmslos Verwandte in Deutschland. Die junge Generation verbrachte in ihrer Kindheit die Ferien häufig in Deutschland bei Cousins und Cousinen und artikulierte die Erinnerungen an Deutschland über Materialisierungen: Nutella, Barbie und Fernseher wurden zum Ausdruck eines Deutschlandbildes, welches sie bereits in frühen Jahren prägte. Es verweist auf die ökonomische Situation in Polen in den 1990er Jahren, als der Lebensstandard sich noch deutlich von dem in Deutschland unterschied. Sophie äußert dies über den Fernseher: »Also das, was ich auch noch aus Deutschland eben an damals, an die ganz erste Begegnung erinnere, vor allem, dass wir damals diesen neuen Fernseher, Farbfernseher mitgebracht haben. Orion glaube ich war das. //mhm// Die waren so klein, der steht noch bei uns.« 13

13 | Interview vom 7. 5. 2015.

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Der Fernseher wird zu einem Statussymbol, das für ihre Beziehung zu Deutschland steht. Bis heute wird Deutschland mit der attraktiveren Konsumkultur verbunden, aber Konsumgüter  – besonders aus der Kindheit  – werden klischeehaft gegenüber dem Leben in Polen hervorgehoben. Den jungen Leuten als Besitzern auch eines deutschen Passes wurde bis 2004 das Privileg zuteil, visafrei nach Deutschland zu reisen und sich dadurch von ihren Altersgenossen mit nur einem polnischen Pass abzuheben. Doch nicht nur die Besuche bei der Familie und der Vergleich zwischen den Cousins und Cousinen in Deutschland und dem eigenen Leben in Polen, sondern auch die Pendelmigration vieler Väter in der Region hatten einen starken Einfluss auf die Selbstverortung. Die Region um Opole/Oppeln ist von einer starken Arbeitsmigration geprägt, die nach Deutschland und Österreich verläuft und charakteristisch für die Region ist (Palenga-Möllenbeck 2014: 65). So kamen meine Interviewpartnerinnen nicht nur mit der Konsumkultur in Deutschland in Kontakt, sie brachten diese gleichfalls nach Polen. Victoria erinnerte sich vor allem an Nutella und Bifi: »Die deutsche Nutella ist besser als die polnische. Bifi gab’s. Mein Vater hatte auch eine Zeit lang in Deutschland gearbeitet und er hat uns immer Bifi mitgebracht.«14 Durch ihre Erzählung beschreibt sie sich als Teil der Minderheit, weil die Unterschiede zwischen der Mehr- und Minderheit am Zugang zu Konsumgütern festgemacht werden. Die über Bifi und Nutella transportierten Emotionen werden zu einem Marker der Zugehörigkeit und das Motiv der Konsumkultur zieht sich bis in das junge Erwachsenenalter fort. Anstatt die Verwandtschaft in Deutschland zu besuchen, tritt dann das Motiv der Ferienjobs verstärkt in den Vordergrund, sodass Deutschland als Nationalstaat erneut unter ökonomischen Gesichtspunkten, diesmal aber aus einer migrantischen Perspektive, wahrgenommen wird. Dieses Bild wandelt sich allerdings mit der Zeit, wie Elina treffend festhält: »[E]s gab da eine Zeit in meinem Leben als Kind, ich sah Deutschland als ein besseres Land. Ich wollte da immer hin, ich wollte da wohnen, studieren und lernen und alles alles alles, weil die hatten da bessere Möglichkeiten, bessere Häuser, wirklich also bessere Autos und Polen war, naja, zehn Jahre hinter Deutschland sagen wir. Mit der Zeit hat sich das alles ausgegleicht [sic!].«

Die institutionelle Minderheit ist in ihrer Funktion zugleich als ein Netzwerk zu betrachten, in dem Informationen durch die Institutionen produziert werden und anschließend innerhalb der Minderheit zirkulieren. Der ökonomische Blick auf Deutschland als eine stilisierte Sehnsuchtsschablone  – allerdings ohne Sentimentalitäten, wie sich dies bei der Großelterngeneration noch beobachten lässt 15  – gibt 14 | Interview vom 12. 5. 2015. 15 | Während die junge Generation den Blick vor allem in ökonomischer Hinsicht nach Deutschland richtet, ist dies in den ältesten Generationen noch mit der deutschen Zugehörigkeit Schlesiens und den Erinnerungen an diese Zeit verbunden. Die junge Generation schildert häufig die Perspektive ihrer Großeltern, die von der idyllischen Zeit vor 1945 erzählen oder erzählt bekamen. Die Treffen der Mitglieder

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daher zugleich Einblick in die in diesem Netzwerk verbreiteten Werte und Einstellungen. Elina deutet jedoch auch Brüche in ihrer Biografie an, die mit den ihr entgegengebrachten Fremdzuschreibungen seitens der jungen Generation in Deutschland zusammenhängen. Über die Erzählungen wurde deutlich, dass sie in Deutschland mit Vorstellungen vom »Polen« und von der »Polin« konfrontiert wurde, die mit den vermittelten Selbstzuschreibungen nicht im Einklang standen. Deutschland und Polen werden hier somit erneut gegenübergestellt. In meinen Gesprächen wird daher immer der Blick auf Deutschland hervorgehoben, das als »multi-kulti, also in den Großstädten« (Rebekka) beschrieben wird. Die jungen Menschen wurden zwar als Teil der deutschen Minderheit groß, aber im Blick nach Deutschland zeigt sich ihre Sozialisation in Polen. Polens Gesellschaft ist bis heute homogen und wird von nationaler Seite aus auch entsprechend artikuliert, wie es zuletzt bei der Frage nach der Aufnahme von muslimischen Flüchtlingen deutlich wurde (Świder in diesem Band). Rebekka und die anderen stießen mit der eigenen Erwartungshaltung, die sowohl die Selbstverortung als Deutsche(r) als auch eine bestimmte Attribuierung des deutschen Staates umfasste, auf nur wenig Resonanz in Deutschland. In der Folge orientierten sich viele meiner Interviewpartnerinnen daher vermehrt an Polen beziehungsweise Schlesien. Dies drückt sich vor allem darin aus, dass das Motiv des Auswanderns in den Hintergrund getreten ist, während die Berufung auf das kulturelle Erbe der deutschen Minderheit zunehmend zu einem Wirtschaftsfaktor in Polen wird. Viele junge Angehörige der Minderheit arbeiten entweder in den Organisationen oder als ÜbersetzerInnen und DeutschlehrerInnen. Es schien mir, dass ein überproportional großer Teil derjenigen, die sich für ein Studium entschlossen haben, vor allem Germanistik wählten und die Minderheit als kulturelles Kapital betrachten, welches in ökonomisches Kapital transferiert wird (Bourdieu 1983: 185 ff.).

V erortungsstrategien jenseits normativer Vorgaben Die Identitätsnarrative erscheinen in der Reflektion als eine permanente sowie problematische Herausforderung, die sich an verschiedenen Stellen in den Biografien immer wieder herauskristallisiert. So bezeichnet meine Interviewpartnerin Sophie es als ein Problem, dass sie noch nicht gelöst habe. Normative Konzepte wie Volkszählungen üben einen homogenisierenden Entscheidungsdruck aus und transportieren ein Bild eindeutiger und festgelegter Identitäten, welche im vorliegenden Forschungsfeld durch zahlreiche biografische Erfahrungen zwischen den Kulturen nicht anzutreffen sind. In der Folge kommt es zu verschiedenen individuellen Aushandlungsstrategien. Die vielfältigen Bezüge und Rezeptionen der jungen Generation haben zur Herausbildung unterschiedlicher Teilidentitäten geführt. Heiner Keupp (2008: 196) hält diesbezüglich fest, dass »in der identitätsbezogenen Verarbeitung von Selbsterder ältesten Generation bestehen hauptsächlich in der gemeinsamen Verfertigung von Erinnerung durch Lieder etc. und schaffen dadurch eine Basis untereinander.

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fahrungen […] stets auch differente Aspekte enthalten bleiben, und gerade sie bilden eine motivationale Spannung für neue Handlungen und Identitätsentwürfe«. Diese Schwierigkeit wird in spezifischen Situationen wie der Volkszählung besonders deutlich hervorgehoben. So äußert sich Laura dazu: »Wenn es um die Identität geht, bin ich innerlich zerrissen. Eine Volkszählung fand irgendwann mal statt, als wen trag’ ich mich ein?« Volkszählungen verlangen in ähnlicher Weise wie die Eintragung der Nationalität in einen Pass eine Festschreibung von Nationalität und setzen dadurch einen eindeutigen Marker. Wie Laura schildert auch Luisa die Situation als ein Problem, das nicht nur sie selbst, sondern auch andere Mitglieder ihrer Familie betrifft. Während sich die Großelterngeneration selbst als Deutsche definiert, sei es nach Luisa bei der Elterngeneration schwieriger gewesen: Dort würden sich die Selbstzuschreibungen auf eine schlesische Identität beschränken. Das politische System in Polen nach 1945 mit seinen als homogen stilisierten Zugehörigkeitsdiskursen formierte vor allem innerhalb der Elterngeneration die Vorstellung einer eindeutigen nationalen Zugehörigkeit. Die Selbstzuschreibung als Deutsche bei der Großelterngeneration resultiert zum einen aus der Sozialisierung ihrer Eltern, die ihr ganzes Leben als Deutsche in Schlesien verbrachten. Darüber hinaus stellt zum anderen eine deutsche, wenngleich auch heimliche, Selbstzuschreibung nach 1945 eine Form des Widerstandes gegen die erzwungene Polonisierung und das Verbot der deutschen Sprache bis 1989 dar. Dieser »Bekennungstopos« wird nicht nur an die heutige junge Generation »vererbt«, sondern gleichsam durch die Minderheitenpolitik reproduziert. Daher empfindet die junge Generation die Frage nach der Zugehörigkeit in Zeiten zunehmender Pluralisierung und Individualisierung als problematisch und kann nicht an die tradierten Narrative ihrer Elterngeneration anschließen. Emilia äußerte sich, auch in Hinblick auf Gestik und Mimik während des Interviews, selbstironisch zu diesem »inneren Dilemma«: »Ich fühle mich beides. Wenn ich in Deutschland bin, fühle ich mich gut, wenn ich in Polen bin, fühle ich mich gut. Wenn ich auswählen müsste, keine Ahnung. Auswandern. Amerika. Keine Ahnung [lacht].«16 Sie thematisiert die Ausflucht in eine dritte Option, da es ihr nicht möglich ist, eine Entscheidung zu treffen. Vielfach wird daher eine regionale Identifikation als Schlesierin als Ausweg für das Gefühl der nationalen Indifferenz sowie als eine eigene Bezugsebene gesehen. Dem Schlesischen kommt eine wichtige Rolle zu, denn zu einem gewissen Teil führt diese regionale Identität das Identitätspatchwork wieder zusammen. Es übernimmt die Funktion eines verbindenden Fadens, ohne den die einzelnen Teile auseinanderfallen. Die regionale Identifikation stellt zudem die »unmittelbar erfahrbare Lebenswelt« (Götz 1999: 48) dar, die Halt und Stabilität vermittelt und in Alltagsdiskursen verhandelt wird. Diese grenzüberschreitenden Patchwork-Identitäten bleiben aber flexibel und offen, prozesshaft und situativ. So sagt Myriam diesbezüglich: »Und ich glaube, jedes Mal, wenn einem die Frage gestellt wird, ändert sich ein bisschen was im Leben und dann deswegen auch in der Aussage, deswegen kann man jedes Jahr ein neues Schlesierbild [sic!] 16 | Interview vom 17. 4. 2015.

»Es gibt diesen Zwiespalt, was ist man jetzt?« | 105 oder Identitätsbild von sich selbst, wie heißt das, ja, aussprechen  […] Dieses Identitätsdingsbums ist schon kompliziert.« 17

Die Frage nach der Identität führt bereits bei der Formulierung zu deren Veränderlichkeit und ist »in Komplexen von doings und sayings eingebettet« (Scheer 2016: 29). Deutlich wird in diesem Zusammenhang, dass die Frage nach einer Minderheitenidentität, dazu noch in einer historischen Grenzregion, als temporär und situativ aufzufassen ist. Die Ausgestaltung des Patchworks verläuft dabei entlang biografischer Marker, die die junge Generation eint. So wird dem »Schlesischen« die Funktion einer eigenen Teilidentität zuteil, die sich unterschiedlich artikulieren kann. Bei meinen Interviewpartnerinnen bildet sich eine schlesische Identität als eine Zwischenebene, die quer zu nationalstaatlichen Konzepten verläuft und unterschiedliche Funktionen übernimmt. Es erfolgt vor allem eine Rückkoppelung an die Familien anhand der Sprache, denn die Alltagssprache in den Familien meiner Interviewpartnerinnen ist Schlesisch. Auch bei internen Veranstaltungen der Minderheitenorganisationen stellt Schlesisch die gemeinsame Kommunikationssprache dar, um alle Anwesenden einzubinden. Innerhalb der jungen Generation wird oder wurde Deutsch mit den Großeltern und im beruflichen Kontext gesprochen, Polnisch ausschließlich in der Öffentlichkeit. Zudem artikuliert sich ein schlesisches Bewusstsein in Bräuchen, Traditionen und Gerichten, die dezidiert mit der Zuschreibung »schlesisch« versehen werden und den als »polnisch« deklarierten Traditionen gegenübergestellt werden.18 Das Schlesische kann als Teilidentität auf gleicher Augenhöhe wie eine polnische und deutsche Zugehörigkeit stehen: »[I]ch denke, ich bin eine, wenn es um die Nationalität geht, eine multi-kulti. Ich bin so Polin, auch eine Deutsche, aber auch Schlesierin.«19 Neben dem gleichberechtigten Nebeneinanderstehen kann Schlesisch auch im Sinne einer subsummierenden Zuschreibung wirken, die eine Klammer für unterschiedliche Teilidentitäten darstellt. »Es gibt diesen Zwiespalt, was ist man jetzt? Ist man jetzt ein Pole, ist man jetzt ein Deutscher? Am besten sagt man, man ist ein Schlesier. Man ist so eine Mischung von beiden. Das ist das Besondere. Man //mhm// (kurze Pause) man ist nicht nur, man hat nicht nur eine Identität, man ist aus zwei Identitäten gebaut. Man hat von der Kultur ein bisschen, von dieser Kultur ein bisschen.« 20

Ninas Zitat, das bereits im Titel dieses Aufsatzes aufgegriffen wurde, verweist auf die Vielschichtigkeit einer Mehrfachverortung. Sie wird zu einem Spiel aus unterschiedlichen Möglichkeiten, deren einzelnen Anteile zu- und abnehmen können, abhängig 17 | Interview vom 13. 4. 2015. 18 | Ein Beispiel hierfür ist das Essen an Weihnachten, das sowohl in seiner Kulinarik als auch symbolischen Rolle den als »polnisch« deklarierten Traditionen gegenübergestellt und in einen regionalen Kontext verwoben wird. 19 | Rebekka im Interview vom 18. 4. 2015. 20 | Nina im Interview vom 27. 3. 2015.

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von den jeweiligen biografischen Erfahrungen. Es wird von der jungen Generation in einem positiven Sinne genutzt, während sie sich gleichzeitig mit der Idee eines negativ besetzten »in between« auseinandersetzen muss, wie es im Geschichtsunterricht oder bei den Erfahrungen in und mit Deutschland als Nationalstaat deutlich wird. Die vielfältigen Möglichkeiten einer pluralen Gesellschaft spiegeln sich somit in den jeweils individuellen Aushandlungsprozessen meiner Interviewpartnerinnen wider, die den jeweiligen Bezugspunkten unterschiedlich Raum geben. Die Mehrfachverortung stellt zugleich eine Strategie im Umgang mit kultureller Diversität dar und zeigt auf, inwiefern die Ausgestaltung der individuellen Lebenswelt diametral zu politischen Diskursen verlaufen kann.

Z itierte L iteratur Bahlcke, Joachim u. a. (Hrsg.) (2015): Geschichte Oberschlesiens. Politik, Wirtschaft und Kultur von den Anfängen bis zur Gegenwart (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 61). München. Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt, Sonderband 2). Göttingen, S. 183–198. Göttsch-Elten, Silke (2016): Deutsch oder Dänisch? Kulturelle Vielfalt als nationale Differenz in der Grenzregion Schleswig. In: Horatschek, Anna Marghareta/Pistor-Hatam, Anja (Hrsg.): Identitäten im Prozess. Region, Nation, Staat, Individuum. Berlin u. a., S. 150–168. Götz, Irene (1999): »Wo ich mich so richtig als Bayer gefühlt habe!« – Zum Verhältnis von nationaler und regionaler Identifizierung in qualitativen Interviews. In: Drascek, Daniel u. a. (Hrsg.): Erzählen über Orte und Zeiten. Eine Festschrift für Helge Gerndt und Klaus Roth. Münster, S. 35–58. Götz, Irene (2011): Deutsche Identitäten. Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989. Köln u. a. Heckmann, Friedrich (1992): Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen. Stuttgart. Hofmann, Rainer (1995): Minderheitenschutz in Europa. Völker- und staatsrechtliche Lage im Überblick (Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik- und Völkerrecht/Kulturstiftung der Deutschen Vertriebenen, 19). Berlin. Kaschuba, Wolfgang (2012): Einführung in die Europäische Ethnologie. 4. aktualisierte Aufl. München. Keupp, Heiner u. a. (2008): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. 4. Aufl. Reinbek. Köstlin, Konrad (2007): Die Minderheit als »Erfindung« der Moderne. In: Tschernokoshewa, Elka/Gransow, Volker (Hrsg.): Beziehungsgeschichten. Minderheiten – Mehrheiten in europäischer Perspektive. Bautzen, S. 24–36.

»Es gibt diesen Zwiespalt, was ist man jetzt?« | 107

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»Nach Hause, nach Russland« – und doch nach Europa? (Re-)Inszenierung des Nationalen in audiovisuellen Medien: Das Beispiel Kaliningrad Sara Reith

Abstract: »Those in Russia, us in Europe« – Concepts of identity between »East« and »West« on the example of Kaliningrad remigrants Following the slogan »Domoi, v Rossiju« [Back home, back to Russia] – since June 22, 2006, so called »ethnic Russians« can return to the heartland of the Russian Federation. The »State Program to Support the Voluntary Relocation of Compatriots to the Russian Federation« has been assisting with the return with financial as well as symbolical means. Specially produced videos, aiming to attract potential (re-)migrants, depict the situation in different federal subjects of the Russian Federation. This paper takes a close look on the video-presentation of Kaliningrad and shows the representation of nationalism and national ideas within this context. At the same time, two remigrants are being introduced and their experiences are contrasted with the narratives being told in the video. The paper argues, that – in contrast to the reason of state during Soviet times – the question of ethnic belonging and not-belonging becomes more and more vivid in recent times.

D rehbuch: »N ach H ause , nach R ussland « »Domoi, v Rossiju« [Nach Hause, nach Russland] – unter dieser Losung können seit dem 22. Juni 2006 sich als »ethnische Russen« zugehörig Fühlende in das Kernland der Russischen Föderation zurückkehren. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fanden sich viele »Russen« – bedingt durch die Nationalitätenpolitik 1 der vorangegangenen Jahrzehnte – in nun unabhängigen Nationalstaaten, die sich teils deutlich 1 | Zur Entwicklung der Ordnungskategorie »Nationalität« im Kontext der Sowjetunion der zwanziger Jahre siehe zum Beispiel Oswald 2000.

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von der Russischen Föderation distanzierten, vor. Die von Stalin angestrebte »Russifizierung von Kultur und Gesellschaft« (Oswald 2000: 26) wurde von den ehemaligen Titularnationen 2 umgedeutet, einst marginalisierte Sprachen, Religionen und Alphabete (um nur einige Punkte zu nennen) gewannen in den ehemaligen Teilrepubliken seit Beginn der neunziger Jahre wieder an Bedeutung. Gleichzeitig wurde das »spezifisch Russische« aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Große Bevölkerungsteile in den Nachfolgerepubliken besaßen nun zwar die Staatsangehörigkeit der jeweiligen Republik, waren aber durch Sprache, Religion und empfundene ethnische Zugehörigkeit mehr mit der Russischen Föderation verbunden als mit den neuen unabhängigen Staaten. Das »Staatliche Programm zur Unterstützung der freiwilligen Umsiedlung von Mit-Vaterländern in die Russische Föderation«3 unterstützt seit  2006  – mit einigen kleinen Änderungen in den administrativen Abläufen – bis heute die sich als »russisch« (im Gegensatz zu kasachisch, usbekisch, aserbaidschanisch etc.) empfindenden Bevölkerungsteile bei dem als »Rückkehr« inszenierten Umzug in das Kernland der Russischen Föderation. Die Zurückkehrenden erhalten finanzielle Hilfe für den Umzug, Flugtickets in eine Richtung, die Erstattung der Transportkosten für Möbel und anderes Umzugsgut, die vereinfachte Verzollung von Autos, eine monetäre Startbeihilfe und – für viele ausschlaggebend – Zugang zu einer stark vereinfachten Antragsprozedur zum Erhalt der russischen Staatsangehörigkeit. Dafür müssen die Programmteilnehmer bestimmte Kriterien hinsichtlich ihrer Ausbildung und ihrer Berufserfahrung erfüllen. Diese Kriterien unterscheiden sich allerdings innerhalb der Föderation und werden von der jeweils aufnehmenden Region definiert. Allein im Jahr 2016 gab es rund 150.000  Programmteilnehmer4, die große Mehrheit aus den ehemals sowjetischen Staaten Kasachstan, Tadschikistan, Armenien, Moldawien und der Ukraine, aber auch (freilich zahlenmäßig deutlich geringer) aus dem Baltikum und anderen Ländern der heutigen Europäischen Union5, darunter auch der Bundesrepublik Deutschland.

2 | Die (Teil-)Republiken der Sowjetunion wurden nach einer so genannten Titularnation benannt – Aserbaidschan nach den Aserbaidschanern, die im jeweiligen Gebiet die Bevölkerungsmehrheit stellten, Usbekistan nach den Usbeken et cetera. 3 | Orig.: »Gossudarstvennaja programma po sodejstviju dobrovol’nomu pereseleniju v Rossiiskuju Federaciju«. 4 | Unter Programmteilnehmern werden in diesem Sinne die Antragsteller sowie mit ausreisende Familienangehörige verstanden. Letztere müssen nicht unbedingt die  – je nach aufnehmender Region strikten – Kriterien bezüglich beruflicher Qualifikation, Bildung et cetera erfüllen, sondern können als (unter Umständen minderjährige) Begleiter ebensolche Vorteile wie der Hauptantragsteller in Anspruch nehmen. 5 | Das sehr detaillierte Berichtswesen zum Rückkehrerprogramm mit einer genauen Aufschlüsselung nach Herkunftsregion, Zielregion und anderen sozioökonomischen Statistiken findet man jeweils geordnet nach Quartalen auf der Homepage des Innenministeriums der Russischen Föderation: https://мвд.рф/ mvd/structure1/Glavnie_upravlenija/guvm/compatriots/monitoring/2018 (letzter Zugriff: 23. 12. 2018).

»Nach Hause, nach Russland« – und doch nach Europa? | 111

Ausgangspunkt für die vorliegenden Überlegungen ist die Annahme, dass ein solches Programm auch immer beworben werden muss: sei es mittels Mund-zu-​Mund-​ Propaganda durch erfolgreiche (oder auch: gescheiterte) Rückkehrer, sei es durch Sendungen im Radio, Übertragungen im Fernsehen, Artikel in Druckerzeugnissen oder Beiträge in sozialen Medien.6 Im Folgenden unternehme ich den Versuch, einen Einblick zu geben, inwiefern das Programm durch eigens produzierte Video-Beiträge beworben wird. Diese halbstündigen, im staatlichen Auftrag produzierten Videos stellen verschiedene Regionen vor, in die über das Programm zurückgekehrt werden kann. Verfügbar sind die Videos auf diversen staatlichen wie privaten Internetportalen, außerdem werden sie im Rahmen von Informationsveranstaltungen der zuständigen russischen Konsulate in verschiedenen Ländern gezeigt. Die Videos sprechen potentiell interessierte Programmteilnehmer auf mehreren Ebenen an: Während die ebenfalls verfügbaren Druckerzeugnisse alle nötigen Informationen beinhalten, transportieren die Videos auch Bilder, Emotionen, Musik  – und sollen deshalb im Rahmen dieses Artikels im Fokus stehen. Als Beispiel für eine Veranstaltung im Ausland, bei der die Vorstellung des Programms zur Remigration eine tragende Rolle spielte, soll hier die Veranstaltung des Koordinationsrats der russischsprachigen Vereine in Deutschland, die im November 2017 in Frankfurt am Main stattfand, dienen. Ausgehend von der teilnehmenden Beobachtung bei dieser Veranstaltung, die im Folgenden kurz skizziert wird, stelle ich ausführlich den Videobeitrag über die Angebote zur Remigration nach Kaliningrad dar. Ergänzend dazu stelle ich in Auszügen zwei Rückkehrende in eben diese russische Exklave vor 7 und kontrastiere deren Erfahrungen mit dem Narrativ von der »neuen Heimat Kaliningrad  – in der Russischen Föderation und doch in Europa«, welches im Filmbeitrag aufgebaut wird. Kaliningrad liegt zwischen Litauen im Norden und Osten des Landes und Polen im Süden. Um das Kernstaatsgebiet der Russischen Föderation auf dem Landweg zu erreichen, müssen zwei andere Staaten durchquert werden. Die Oblast Kaliningrad nimmt seit zehn Jahren am Rückkehrerprogramm teil, in diesem Zeitraum sind über das Programm 18.000 Hauptantragsteller und rund 22.000 Familienangehörige eingereist. Bei insgesamt rund 950.000 Menschen, die in der Oblast leben, ist dies eine beachtliche Zahl. Antragsteller gab es ungefähr doppelt so viele, jede Region kann 6 | Auf die Lage derjenigen sootečestveniki [Mit-Vaterländer], die aus der Ukraine in die Russische Föderation zurückgehen, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Ihre Situation unterscheidet sich auf Grund der geopolitischen Spannungen seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 deutlich von jener der anderen Rückkehrer. Bezüglich der geltenden Sonderregelungen siehe zum Beispiel Brock 2015; Round/ Kuznetsova 2016; Schenk 2016. 7 | Alle im Folgenden zitierten Interviewpassagen stammen aus den Interviews und der teilnehmenden Beobachtung während meines mehrwöchigen Feldforschungsaufenthaltes im Sommer 2015 in Kaliningrad. Die Interviews wurden im Rahmen der Forschung zu meiner Dissertation am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz geführt, die sich mit Rückkehrern in die Russische Föderation beschäftigt.

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jedoch für sich definieren, welche Kriterien sie für eine Zusage für unerlässlich hält. Dazu zählen zum Beispiel das Definieren besonders gefragter Berufe wie Schlosser oder Arzt, oder alternativ das Vorhandensein eines bestimmten Bildungsniveaus. Ziel des Beitrags ist es, einen Einblick in eine aktuelle Feldforschung zu geben und aufzuzeigen, wie das Rückkehrerprogramm von Vertretern des russischen Außenund Innenministeriums in Deutschland präsentiert (oder auch beworben) wird. Vor dem Hintergrund des Rückkehrerprogramms und der geführten Interviews möchte ich hier außerdem einen ersten Versuch wagen, die Aussagen der Rückkehrer vor dem Hintergrund des Narrativs zu interpretieren, man sei in Kaliningrad ja »irgendwie in Europa«. Gleichzeitig möchte ich die Frage stellen, ob dies impliziert, dass man es im restlichen Staatsgebiet der Russischen Föderation eben nicht ist, und inwiefern die historische Sonderrolle von Kaliningrad für die Rückkehrentscheidung eine Rolle spielte. Abschließend möchte ich beide Perspektiven in Bezug zueinander stellen und anhand verschiedener Akteursebenen aufzeigen, wie Identitätskonzepte und Eigenbilder zwischen Frankfurt am Main (wo der runde Tisch stattfand), Kaliningrad (wo ich Remigranten interviewte), Moskau (wo die Vertreter aus dem Innenministerium das Programm steuern) und Karaganda (dem Geburtsort einer Interviewpartnerin in Kasachstan) vor dem Hintergrund des Rückkehrerprogramms verhandelt werden.

Vorspann: R ückkehr der »M it-Vaterländer « »Bitte seien Sie spätestens um 13.30 Uhr vor Ort«, mahnt S. V. per E‑Mail und bittet um baldige Rückbestätigung.8 Ich bestätige; gelobe, pünktlich zu sein, und haste am 27. November 2017 in stetigem Regen zum InterCity Hotel in der Nähe des Frank­ furter Hauptbahnhofs. In der Lobby wartet eine Gruppe Frauen mittleren Alters mit langen Listen auf die Ankommenden. »Ich glaube kaum, dass sie zu uns wollen«, werde ich in schneidigem russisch abgefertigt. Die Delegierten im Koordinationsrat der russischsprachigen Vereine in Deutschland kennen sich untereinander gut. Schließlich kann ich aber doch überzeugend darlegen, zum diesjährigen »runden Tisch« der Vereinigung eingeladen worden zu sein. In einem großen Konferenzraum im Untergeschoss des Hotels sind lange Tischreihen aufgestellt, rund 60 Delegierte werden erwartet. Einmal im Jahr lädt der 8 | Die im Folgenden erwähnten offiziellen Vertreter aus dem Innen- und Außenministerium der Russischen Föderation sind hier nicht mit ihren echten Namen präsentiert. Dies geschieht aus der Überlegung heraus, dass sie nicht als Privatpersonen bei der Veranstaltung anwesend waren, sondern in ihrer jeweiligen Rolle als Handelnde im Auftrag der russischen Regierung (bzw. als Vorsitzende eines eingetragenen Vereins). Für meine Überlegungen sind nur die im Rahmen der Ausübung dieser Tätigkeit gewonnenen Eindrücke interessant, weshalb ich es vertretbar beziehungsweise geradezu geboten finde, auf die Nennung der Namen zu verzichten. Die im weiteren Verlauf des Artikels präsentierten Rückkehrer, mit denen ich biographische Interviews führte, sind ebenfalls nicht mit ihren richtigen Namen genannt.

»Nach Hause, nach Russland« – und doch nach Europa? | 113

Koordinationsrat zu einem runden Tisch ein, und wie jedes Jahr wird das staatliche Programm zur Unterstützung sogenannter »Mit-Vaterländer«, der sootečestveniki, in der Russischen Föderation vorgestellt. Im Saal ist Werbematerial vorhanden, Zeitungen, Flyer und Bücher machen auf die Bedingungen des Programms aufmerksam. Die Vorsitzende des Koordinationsrates fasst kurz die Geschichte der runden Tische zusammen. 2007, ein Jahr, nachdem das Rückkehrerprogramm offiziell gestartet wurde, fand der erste statt. Seitdem treffen sich jährlich die Delegierten ganz unterschiedlicher russischsprachiger Vereine mit Vertretern der russischen Staatlichkeit, um sich über Neuigkeiten informieren zu lassen. So auch heute. V.  B., Abteilungsleiterin im Innenministerium, angereist aus Moskau und zuständig für die Arbeit mit Flüchtlingen, »Mit-Vaterländern« und »erzwungenen Umsiedlern«, referiert im Stakkato-Stil die rechtlichen Grundlagen. S. W., Attaché am Generalkonsulat Bonn, erklärt Fallstricke der Antragstellung, gewonnen aus Erfahrungen der täglichen Praxis. Auch ein Vertreter des Generalkonsulats in Frankfurt kommt zu Wort und präsentiert aktuelle Zahlen aus seinem Amtsbezirk. Nach einer Pause sind im Programm zwei Stunden für die Videopräsentation verschiedener Regionen Russlands vorgesehen – die Organisatoren der Veranstaltung haben eine volle Festplatte mitgebracht.9 Hier wird der Fokus auf die Präsentation 9 | Mit dem Stand vom 1. Juli 2018 kann man in 66 Subjekte in acht Föderationskreisen der Russischen Föderation zurückkehren. Die Russische Föderation ist in 85 Föderationssubjekte (einschließlich der Republik Krim und der Stadt Sewastopol) in neun Föderationskreisen gegliedert. Die Föderationssubjekte selbst werden je nach individuellem Autonomiegrad als »Republiken«, »Autonome Oblast«, »Autonomer Kreis«, »Krai«, »Oblast« oder »Stadt mit Subjektstatus« bezeichnet. »Offen« für Programmteilnehmer (mit jeweils sich unterscheidenden Mindestanforderungen, was den beruflichen wie biographischen Hintergrund der Antragsteller angeht) sind im Zentralen Föderationskreis die Oblaste: Brjansk, Vladimirskaja, Voronežkaja, Kalužskaja, Kostromskaja. Im Nord-Westlichen Föderationskreis sind dies die Republik Karelien sowie die Oblaste Arhangelskaja, Vologodskaja, Kaliningradskaja, Leningradskaja, Murmanskaja, Novgorodskaja und Psovskaja sowie der autonome Bezirk der Nenzen. Im südlichen Föderationskreis ist der Krasnodarer Kreis sowie die Oblaste Astrahanskaja, Volgogradskaja und Rostovskaja für Remigranten prinzipiell zugänglich, im Nordkaukasischen Föderationskreis der Kreis Stavropol. Im Wolgakreis sind dies die Republiken Baschkortostan, Marij El, Mordovien, Tatarstan, Udmurtien, Chuvašien; der Kreis Perm sowie die Oblaste Kirovskaja, Nišegorodskaja, Orenburgskaja, Penzenskaja, Samarskaja, Saratovskaja und Uljanovskaja. Im föderalen Kreis des Urals sind die Oblaste Kurganskaja, Sverdlovskaja, Tjumenskaja und Čeljabinskaja für Programmteilnehmer zugänglich, außerdem die autonomen Gebiete der Hanti-Mansen sowie der Jamalo-Nenzen. Im sibirischen Föderationskreis sind die Republiken Burjatien und Hakasien, die Kreise Altai, Zabaikalsk und Krasnojarsk sowie die Oblaste Irkutskaja, Kemerovskaja, Novosibirskaja, Omskaja und Tomskaja beteiligt. Im Föderationskreis Ferner Osten ist es die Republik Saha (Jakutien), die Kreise Kamchatka, Primorskij und Habarovsk sowie die Oblaste Amurskaja, Magadanskaja, Sahalinskaja und die jüdische autonome Oblast. Die beiden größten und wirtschaftlich wie kulturell attraktivsten Städte des Landes  – Moskau und Sankt Petersburg  – sind über das Programm ausdrücklich nicht für eine Übersiedlung zugänglich. Der direkte Zuzug aus dem Ausland in die beiden Metropolen kann nur ohne die durch das Programm eigentlich gewährte finanzielle wie administrative Unterstützung realisiert

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der Oblast Kaliningrad gelegt. Der Film wurde im Rahmen der Reihe »Nach Hause, nach Russland« [Domoi, v Rossiju] mit finanzieller Hilfe des Ministeriums für Regionalentwicklung produziert. Ähnliche Produktionen gibt es auch für viele andere Regionen, in die man über das Programm zurückkehren kann. Verbreitet werden sie über soziale Medien wie Youtube, aber auch über die offiziellen Informationskanäle der russischen Regierung im Internet. Außerdem werden die Beiträge bei Informationsveranstaltungen wie der oben beschriebenen in diversen Ländern mit einer nennenswerten russischsprachigen Diaspora gezeigt. Der Aufbau aller Filme ähnelt sich: Die geographischen wie wirtschaftlichen Besonderheiten der jeweiligen Region werden herausgehoben, Vertreter der (Regional-)Administrationen kommen zu Wort, und immer wird mindestens eine erfolgreich zurückkehrende Familie mit Kindern gezeigt, die ihren Weg »nach Hause« beschreibt. So auch im Beispiel Kaliningrad.10

Film A b ! R emigranten in K aliningrad Der Videobeitrag über die Oblast Kaliningrad, insgesamt 26:06 Minuten lang und in russischer Sprache verfügbar, beginnt mit einem gut zweiminütigen Intro. Parallel zu einer eingeblendeten Telefonhotline, unter der man weitere Informationen zum Programm erhalten kann, werden einzelne Bilder verschiedener russischer Regionen gezeigt, unterlegt von folgendem Text: »Russland wird oft als erhaben bezeichnet. So oft, dass der eigentliche Wortsinn schon verschwindet. Aber man kann es auch einfacher und klarer benennen: Ein großes [großartiges 11] Land, große [großartige] Möglichkeiten. Um von einem Ende des Landes zum anderen zu fliegen, muss man rund zehn Stunden aufwenden. Für dieselbe Reise mit dem Zug vergeht nicht weniger als eine Woche. Es lohnt sich, eine solche Reise zumindest einmal in Leben zu unternehmen, denn nur dann kann man wirklich verstehen, was eigentlich mit dem Wort ›erhaben‹ gemeint ist. Umgeben von Europäischen Ländern ist die Oblast Kaliningrad ein Teil Russlands – und gleichzeitig im Ausland. Die Nachbarschaft zum sich wohl befindenden Europa verleiht der Region einen besonderen Charme und verspricht erfreuliche Perspektiven.«

Direkt nach dem Intro schwenkt die Kamera auf die vermeintlich unendlichen Weiten der winterlichen Landschaft der kurischen Nehrung, Eiszapfen spiegeln das Sonnenlicht wider. »Ganzjährig werfen die Wellen Bruchteile der Sonne zurück« [01:14]12, werden und ist somit nur einem kleinen, ökonomisch leistungsfähigem und gebildetem Bevölkerungsteil zugänglich. 10 | Die Präsentation der Oblast Kaliningrad kann zum Beispiel auf youtube eingesehen werden: https:// www.youtube.com/watch?v=Oong1zA8SPM (letzter Zugriff: 12. 9. 2018). 11 | In eckigen Klammern werden hier alternative Übersetzungsmöglichkeiten aufgezeigt. Die Übersetzung wurde von der Autorin angefertigt. 12 | Vor allem für die nicht russischsprachigen Leser sind hier Zeitmarken eingefügt, um eine Orientierung zwischen Bild und Text zu ermöglichen.

»Nach Hause, nach Russland« – und doch nach Europa? | 115

heißt es auf dem off, und dem Betrachter wird ein makelloses Stück Bernstein in der Hand eines Strandspaziergängers gezeigt. Während eines einzigen Sturmes, so geht die Erzählung weiter, seien einmal zwei Tonnen Bernstein an den Strand geworfen worden [01:22]. Die ersten zwei Minuten zeigen viele Elemente – mit der Weite des Raums, den ungeahnten Möglichkeiten und der schwer fassbaren »Erhabenheit« seien nur drei genannt –, konstitutiv für das kontemporäre Narrativ vom nationalen Selbstverständnis. Der russische Politikwissenschaftler und Soziologe Dmitrij Furman (2011:  16) konstatiert, dass die Russische Föderation als Nachfolgerin der Sowjetunion »gar nicht anders könne, als nach einer besonderen, dominierenden Rolle im postsowjetischen Raum zu streben«, dabei schwanke sie »zwischen imperialem revanchistischem Chauvinismus, russophober Selbsterniedrigung und Angst vor einem Zerfall von Staat und Nation« (Furman 2011: 4). Dieses erweiterte Raumverständnis macht sich auch bei der Hauptperson des Films bemerkbar, die in der zweiten Minute kurz eingeführt wird. Der Mann wird mit einer langen Kamerafahrt bei einem winterlichen Strandspaziergang begleitet, bückt sich nach einem Bernstein. »Oleg […] reicht auch ein kleines Stück Bernstein, […] als Talisman« [01:35]. Olegs Familie, seine Frau und der Sohn, die im Folgenden gemeinsam gezeigt wird, sei »vor einigen Monaten«, so heißt es, nach Kaliningrad zurückgekehrt. Geboren in Taschkent, also im damals noch sowjetischen Usbekistan, Armeedienst im russischen Fernen Osten, Stationen in Kamchatka, dann Umzug nach Kasachstan – Vater Oleg ist ein »Kind der Sowjetunion«, aufgewachsen in einer Zeit, in der nationale Grenzen zwischen den polyethnischen Republiken unter Moskaus Führung quasi unbedeutend schienen. Siegelbaum und Moch (2014: 188 ff.) konstatieren, dass die im Zusammenhang mit dem Militärdienst stattfindende Migration junger Männer über alle Republiken der Sowjetunion hinweg das Narrativ einer multiethnischen Sowjetgesellschaft unter dem einenden roten Banner förderte. Nach 1991 wurde diese Politik freilich schlagartig auf das Territorium der neu entstandenen russischen Föderation eingeschränkt. Die Programmteilnahme des Protagonisten im Film und seine Ansiedlung in Kaliningrad wird hier als »Heimkehr« imaginiert. Konnte man sich als Sowjetbürger, so das gängige Narrativ, in der ganzen Sowjetunion zu Hause fühlen13, so spricht das Programm nun vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen, sozialen, religiösen und kulturellen Emanzipation der seit 1991 neu entstandenen Nationalstaaten vor allem in Zentralasien den sich als ethnische Russen verstehenden Teil der Bevölkerung an. Auch der von Leontij Byzov (2016: 14) beschriebene »neue russische Konservatismus«14 hinsichtlich des Familienbildes lässt sich im Film finden: Noch vor der Vorstellung des Hauptprotagonisten wird dieser in einer Einstellung mit Frau und Kind gezeigt. Auch dies ein wichtiges Motiv, denn die Russische Föderation möchte mit der 13 | Man denke etwa an das noch heute breit in allen Bevölkerungsgruppen rezipierte Lied aus dem Jahre 1973 der Popformation »Samotsvety« – »Moj adres ne dom i ne ulica, moj adres – Sovetskij Sojuz« [Meine Adresse ist kein Haus und keine Straße, meine Adresse ist die Sowjetunion]. 14 | Zum russischen Konservatismus siehe insbesondere auch Bluhm 2016a; Bluhm 2016b.

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starken Förderung des Programms auch dem Bevölkerungsrückgang etwas entgegensetzen (Mansoor/Quillin 2006: 4). In den ersten drei Minuten des Films wird das Narrativ aufgespannt, Familienvater Oleg habe viel von der Welt gesehen: Durch seine berufliche Karriere in der Sowjetunion, aber auch als Fernfahrer in (West-)Europäischen Ländern: »Aber in Russland hat es Ihnen am besten gefallen«, resümiert die Stimme aus dem Off  [02:25]. Dies führen die Eltern auf die Tatsache zurück, dass sie »Russen« seien, und andererseits wollen sie auch ihrem Sohn eine bessere Zukunft bieten. Ab Minute 03:15 kommt ein Vertreter der Administration zu Wort, der die Erfolge Kaliningrads im Vergleich zu anderen Föderationssubjekten, die für eine Rückkehr offen sind, aufführt: Eine Rekordzahl an bearbeiteten Anträgen, eine Rekordzahl an Übersiedlern – und dies vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Oblast Kaliningrad zu den am dichtesten Besiedelten innerhalb der Russischen Föderation zählt [03:38]. Ab Minute 03:48 kommt ein weiterer Vertreter der Regionalverwaltung zu Wort und erklärt, warum sich Kaliningrad so stark innerhalb des Programms engagiere: Es mangele an Arbeitskräften in der russischen Exklave und diese fehlenden Arbeitskräfte wolle man mit dem Programm gewinnen, ihnen eine legale Chance bieten, im Land zu bleiben. Heleniak (2008: 56) konstatiert, dass dies nicht immer der Fall war: Nicht unbedingt verfügten Migranten aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion über die erforderliche Arbeits- wie Aufenthaltserlaubnis (ebd.). Das Programm bietet nun eine legale Möglichkeit, sich in der Russischen Föderation anzusiedeln und einer Tätigkeit nachzugehen, allerdings nur für einen eng eingeschränkten Kreis an Berechtigten, die – wie schon eingangs erwähnt – über die notwendigen Qualifikationen und Berufserfahrung verfügen. Insofern ist das Programm auch ein Mittel zur gezielten Steuerung der Migration. Ab der vierten Minute wird die persönliche Lebensgeschichte Olegs nacherzählt, der, wie der Sprecher mit leichtem Schmunzeln in der Stimme vermittelt, »keine Schwierigkeiten fürchtet«. Damit wird ein weiteres Bild evoziert, nämlich das des russischen mužik, dem keine Entbehrung zu kraftraubend scheint und keine Aufgabe unlösbar. So habe Oleg nur durch die Bewältigung vieler Herausforderungen seine Frau für sich gewinnen können. Die Bildsprache wechselt zwischen frontalen Interviewsituationen und Eindrücken aus dem winterlichen Kaliningrad: Zu sehen sind junge Frauen mit Kinderwägen, moderne Spielplätze, Autobahnen, der makellose Strand der kurischen Nehrung. Ab der fünften Minute erfährt der Zuschauer, dass Oleg vor der Geburt des Sohnes jeweils für mehrere Monate im europäischen Ausland auf Montage war, bis die »Kinderüberraschung«, so die wörtliche Übersetzung [05:12], ihn von weiteren Reisen in die Europäische Union abhielt. Eine weitere Familie wird ab Minute 06:30 vorgestellt, die zu den ersten Remigranten in der Oblast Kaliningrad gehörte. Auch hier wird eine Liebesgeschichte mit dem Narrativ verbunden, nach Russland zurückzukehren, geradezu zurückkehren zu müssen: »Meine Frau bestand auf einem loyalen Mann, hat ihr Vater doch in der Armee gedient« heißt es ab Minute 07:00. Hier wird geschickt das Narrativ eines militärisch starken Landes mit der Geschichte der Sowjetunion, mit historischen

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Narrativen verknüpft. Verbindender Punkt war und ist bis heute unter anderem der gemeinsame Kampf gegen den äußeren Feind – erst die Faschisten, inzwischen die ­NATO15. Im Folgenden wird dem Zuschauer vermittelt, wie stark sich Kaliningrad doch verändert habe: Von der Stadt aus Sowjetzeiten sei nichts mehr übriggeblieben, die Remigranten erwarte eine moderne Metropole mit restaurierten historischen Gebäuden und einem ansprechenden Zentrum. Erzählt wird all das von den Remigranten selbst  – Augenzeugen, die gar aus dem europäischen Riga umzogen (wie die zweite Familie), scheinen das beste Argument für die Attraktivität einer Remigration zu sein. »Die Perspektiven waren für uns in Russland besser« [07:35], wird das Familienoberhaupt zitiert. Im Anschluss folgt eine familiäre Szene am heimischen, mit Früchten und Blumen gedeckten Küchentisch, in dem sich der Protagonist mit seinen jugendlichen Kindern berät. Auch die Tochter kommt zu Wort und berichtet facettenreich und begeistert vom Umzug nach Russland [ab 07:50]. Als Bedenkenträger wird der Sohn vorgestellt: Dieser sei erst mit einer zweiwöchigen Reise von der Schönheit Kaliningrads zu überzeugen gewesen. Diese Tatsache nimmt der Film zum Anlass, um die Oblast samt ihrer eng mit (West-)Europa verbundenen Geschichte vorzustellen. Die ehemals im Herzogtum Preußen gelegene Stadt »Königsberg« wurde erst im Nachgang des Zweiten Weltkriegs im Rahmen des Potsdamer Abkommens unter sowjetische Verwaltung gestellt, 1946 schließlich in die Russische Sowjetrepublik eingegliedert und nach dem sowjetischen Politiker Michail Ivanovič Kalinin in Kaliningrad umbenannt. Ab Minute 08:15 zeigen die Kamerafahrten sorgsam restaurierte Häuserzeilen im Zentrum, deutsche Architektur, Kirchen. Schwenk auf die Orgel im alten Orgelsaal, denn nicht nur mit wirtschaftlichen Perspektiven möchte Kaliningrad werben, sondern auch mit europaweit anerkanntem Kulturerbe, und so eine narrative Brücke bauen: Leben auf dem Territorium der Russischen Föderation, aber mit westeuropäischem Kolorit. Diese These wird durch den inhaltlichen Schwenk zu Immanuel Kant ab Minute 09:30 bestätigt. Ein Vertreter der Administration kommt zu Wort, der den (auch akademischen) Dialog mit Europa beschwört und den Wert der Bildung hochhält. Nach dem Exkurs zu Kultur und Bildung wird ein weiteres konstitutives Element im russischen Selbstverständnis vorgestellt: die sportlichen Aktivitäten der beiden Kinder auf sehr hohem Niveau, für die sie auch in Kaliningrad ein Wirkungsfeld gefunden haben. »Viele Studenten hier sind aus Lettland, und sie kennen sich noch von der Schule«, wird im Film erklärt [12:05]. Diesen werde außerdem die Umsiedlung so leicht wie möglich gemacht, etwa mit dem Angebot günstiger Übergangsunterkünfte. Eine solche Unterkunft wird sodann auch gezeigt [13:00]: aufgeräumte Gänge, moderne Waschmaschinen in der Waschküche, eine voll ausgerüstete Küche kommen ins Bild. Aber das wichtigste, wie im Film angeführt wird: Die Oblast registriere die

15 | Eine Einordnung zur Entwicklung der russischen Streitkräfte findet man zum Beispiel unter: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages 2014: 9 ff.

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Remigranten auch in diesen Übergangswohnheimen; ohne Registrierung ist es faktisch unmöglich, eine legale Arbeit anzunehmen.16 Ab Minute 15:00 erfährt man, wer eigentlich wiederkehrt: Aufstrebende Bauunternehmer belegen, dass die Remigranten »energiereich« seien und sich »schnell in die Stadt einfügen«. Die Stadtregierung, so das Narrativ, helfe dabei, Ideen der Umsiedler umzusetzen und zu unterstützen. Wie das aussehen kann, wird im Anschluss gezeigt: Pläne für eine Agrarkooperative und moderne Industrieanalgen sind vorzuweisen, Vorarbeiter loben die Remigranten als arbeitswillig, Vertreter des Arbeitsamtes zählen auf, welche Berufsgruppen in Kaliningrad besonders gesucht werden. Als besonders perspektivreich wird unter anderem die Werftindustrie [17:45] mit dem hohen Bedarf an Arbeitskräften vorgestellt. Zum Ende der Präsentation [ab 19:25] wird der Bogen wieder zum Anfang gespannt: zum Wappen der Stadt, dem Bernstein, der prägend für eine ganze Region wurde. 90  Prozent des weltweiten Bernsteinvorkommens finden sich in der Oblast Kaliningrad, und wieder erfolgt ein Kameraschwenk zu den Remigranten, die am Strand Bernstein suchen … und finden. »Unseren Bernstein kann man auch in Riga oder Polen finden«, erzählt stolz einer der Protagonisten [22:10], selbst überrascht, dass er, obwohl erst vor kurzem umgezogen, das Wort »unseren« so selbstverständlich verwendet, und sich dabei auf Kaliningrad, auf Russland bezieht. Bernstein, so das Narrativ, könne sich jeder leisten, und es werde sogar in Frankreich ob mythisch aufgeladener Zuschreibungen als Talisman für Kinder verkauft [22:30]. Die Bezüge zu Westeuropa sind durchgehend, bei allen Themenbereichen in dem Beitrag präsent. Ab Minute 23:00 wird an die Solidarität der »Alteingesessenen« gegenüber den »Neuen« appelliert: Man solle diese mit offenen Armen empfangen und Verständnis für deren potentielle Schwierigkeiten bei der Umsiedlung zeigen. Daraufhin erscheint ein jugendlicher Protagonist, wie er per Internet [23:20] mit seinen alten Freunden in Kontakt bleibe und sich gleichzeitig, so die Stimme aus dem Off, ein Leben ohne Russland nicht mehr vorstellen könne. Dann kommt er selbst zu Wort: »Ich habe mich schon immer als Russe empfunden, ganz egal, in welchem Land ich geboren bin. Meine Eltern sind Russen, ich spreche Russisch, ich fühle mich als Russe« [23:30]. Mit diesem Zitat wird deutlich, mit welchem Anspruch die Russische Föderation den Begriff des »Nationalen« mit Inhalt füllt. Person (2017: 201) subsummiert unter dem 16 | Faktisch ist das Nichtvorhandensein einer Wohnung und damit einer registrierfähigen Adresse oft das größte Hindernis für die Remigranten: In der Mehrheit aus Zentralasien kommend, konnten sie durch den Verkauf ihrer Wohnungen in den Ursprungsländern meist nicht genug Kapital generieren, um in Kaliningrad (oder anderen Städten Russlands mit einem im Vergleich zu den restlichen postsowjetischen Staaten oft höherem Preisniveau auf dem Immobilienmarkt) entsprechende Immobilien zu erwerben. Dies wird im Video auch ab 14:35 für den Fall Kaliningrad bekräftigt: Dort fände man die dritthöchsten Immobilienpreise Russlands (nach Moskau und Sankt Petersburg) vor, was es Remigranten erschwere, sich anzusiedeln. Eine besondere Brisanz entstand zudem durch den Verfall des kasachischen Tenges in den letzten Jahren, was für die Remigranten aus Kasachstan einer faktischen Entwertung ihres Vermögens gleichkam.

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»Nationalen«, bezogen in ihrer Forschung auf Hochglanzmagazine, unter anderem »zeitgeschichtliche Einblicke, Erkenntnisse über kollektive Wissensvorräte, Rollenverständnisse der Geschlechter«. Eine Abbildung und gleichzeitig (Re‑)Konstruktion kollektiver Identität wird also, durch Verweise auf eine (vermeintlich) gemeinsame geographische Herkunft, Ethnie, Sprache und Ethos verwirklicht. Zum Ende des Filmes wird der Rektor der Kant-Universität zitiert. Er spricht vom »westlichsten Punkt Russlands«, der doch auf vielfältige Weise kulturell und wirtschaftlich mit dem Kernland verbunden sei [ab 24:24]. Politik und Institutionen können, so zeigt es das Beispiel des Films, nicht als von der Gesellschaft getrennte Instanzen aufgefasst werden (Gallina/Gehl 2016: 12), sondern müssen im kulturellen Kontext interpretiert werden – im Beispiel sorgen sie für die gelungene administrative wie symbolische Basis für eine Ansiedlung in Russland. In der letzten Minute wird der Kreis des Erzählten symbolisch geschlossen: Schwenk auf Oleg aus der Eingangssequenz, der ein Stückchen Bernstein am in der winterlichen Sonne funkelnden Strand aufhebt. Das aufwendig produzierte Video zeigt, wie die Protagonisten nach ihrer von Bewegung und Mobilität geprägten (Erwerbs-)Biographie nach Kaliningrad umzogen. Ihr Weg der Suche nach einem Platz im Leben, so wird suggeriert, habe nun seinen (durchaus glücklichen) Endpunkt gefunden. Dem Denken in Ost-West-Oppositionen mit den selbstverständlichen Antagonisten »Russland« auf der einen und »der Westen« auf der anderen Seite (Lehmann-Carli/Drosihn/Klitsche-Sowitzki 2011: 13) kann man in Kaliningrad geschickt entkommen: Man ist zwar nicht in Europa, doch geographisch wie kulturgeschichtlich nicht fern; man ist in der Russischen Föderation und gleichzeitig als Bewohner der Exklave in einer Sonderrolle. Diese Sonderrolle drückt sich – wie im Film betont – einerseits durch den Verweis auf die westeuropäische Vergangenheit der Stadt, andererseits durch die geographische Nähe (und gleichzeitige Ferne zum Russischen Kernland) aus. Als Ergänzung der im Filmbeitrag vermittelten Eindrücke und Interpretationsansätze möchte ich hier nun exemplarisch zwei co-ethnische Remigrantinnen aus Kasachstan vorstellen, mit denen ich während einer Feldforschungsphase im Sommer 2015 in Kaliningrad lebensgeschichtliche Interviews im Rahmen meiner Forschungen zur (Re-)Migration in die Russische Föderation führte. Ich traf auf ein sehr disparates Feld hinsichtlich der biographischen Hintergründe und der Realisierung des Rückgangs meiner Gesprächspartner, was anhand der Erzählungen von K. T. und J. H. deutlich wird. K. T. ist in Karaganda geboren, einer Industriestadt mit damals vorwiegend russischer Bevölkerung in Zentralkasachstan. Sie absolvierte zwei Studiengänge, lernte fließend Deutsch, engagierte sich ehrenamtlich bei der »Wiedergeburt«, die sich um Deutsche in Kasachstan kümmert, arbeitete als Dolmetscherin für große Firmen aus der Industrie. Mehrfach versuchte sie, nach Deutschland zu emigrieren, doch alle Versuche, ob Heiratsmigration, zu Studienzwecken oder über einen Arbeitsvertrag, scheiterten früher. In Kasachstan wollte sie allerdings auch nicht bleiben, da ihr, so berichtete sie, aufgrund fehlender Sprachkenntnisse im Kasachischen eine Karriere in staatlichen Organen oder großen Betrieben verwehrt blieb. Kaliningrad war

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für sie deshalb anfangs ein Kompromiss: geographisch nah am von ihr präferierten Westen, bei ihrem Umzug Anfang 2015 noch mit Privilegien wie visafreier Einreise nach Polen verbunden, mit deutschem Stadtbild und vielfältigen Kontakten zu Westeuropa. Schon wenige Wochen nach ihrem Umzug war sie komplett in das Leben der deutschen Expats vor Ort eingebunden, arbeitete als Übersetzerin, führte zahlreiche Besucher aus Deutschland, die auf der Suche nach ihrer Familiengeschichte waren, durch die Oblast. Zu Deutschland hielt sie zahlreiche freundschaftliche wie wirtschaftliche Kontakte, eine abermals angedachte Heiratsmigration scheiterte. Sie verkaufte ihre Wohnung im kasachischen Karaganda, erwarb Eigentum in Kaliningrad und erkämpfte sich nach vielen Rückschlägen eine prestigereiche Anstellung bei der Stadtverwaltung, bei der sie für Auslandskontakte zu zahlreichen deutschen Partnerstädten Kaliningrads wie Bremerhaven, Hamburg und Kiel, sowie für Jugendliche zuständig war. K. T. wählte Kaliningrad gezielt: Geographisch wie geschichtlich schien ihr die Stadt für eine berufliche Verwirklichung ideal geeignet. Eine Sonderrolle nimmt sie im Vergleich zu anderen Programmteilnehmern hinsichtlich ihres Familienstandes ein: Mit Anfang 30 war sie nicht verheiratet und hatte keine Kinder. Ganz anders J. H. Im gleichen Alter wie K., zog sie mit Ehemann und drei Kindern ebenfalls von Kasachstan nach Kaliningrad und baute sich eine Selbstständigkeit als Konditorin auf. Sie erklärt die Entscheidung für Kaliningrad folgendermaßen: »Ein Freund meines Mannes zog [über das Programm] nach Lipezk. Seine Frau hatte dort Verwandte. Ja und er hat diese Stadt sehr gelobt, und mein Mann hat ihn besucht. Die Stadt hat ihm überhaupt nicht gefallen. Eine sehr große, alte Industriestadt mit Betrieben, die die Luft verpesten. Alte, baufällige sowjetische Häuser. Naja, vielleicht ist es im Zentrum ja ganz schön, aber der Freund hat in den Außenbezirken gewohnt. Mein Mann hat sich alles angeschaut, er hat schließlich extra von Moskau aus die Reise unternommen. Auch in der Umgebung von Moskau hat er sich umgesehen. Er ist schockiert zurückgekommen – Kaliningrad sah sehr vielversprechend im Vergleich aus. Die Natur, die Leute, die Luft, das Meer und sogar Überbleibsel der deutschen Architektur. Es ist einfach eine ganz ungewöhnliche Stadt im Vergleich zu den anderen Städten in Russland.«

Im Gegensatz zu K. T. wählte J. H. nicht eine Stadt, in der sie sich beruflich ob der Nähe zu Europa am besten verwirklichen konnte, sie wählte einen Ort, der für sie persönlich am wenigsten sowjetisch konnotiert war. Dies machte sie unter anderem am Stadtbild fest, aber auch an der sauberen Luft. Viele Städte, in die über das Programm zurückgekehrt werden kann, sind nämlich Industriestädte mit entsprechend hoher Schadstoffbelastung. Beide Interviewpartnerinnen betonen, dass vorhandene soziale Netzwerke in Kaliningrad entscheidend zu der Wahl der Stadt beitrugen: Kaliningrad sei im Gegensatz zum Kernland der russischen Föderation ein Gebiet, das seit jeher von Migration aus unterschiedlichen Richtungen geprägt gewesen sei, insofern falle man als Neuankömmling nicht auf. Während das Leben von K. T. von diversen Raumbezügen geprägt war und sie sich durchaus transnationale Lebensmodelle

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vorstellen konnte17, gaben beide Interviewpartnerinnen an, nun einen Endpunkt  – sowohl gedanklich als auch geographisch  – gefunden zu haben. Manifestiert wird dies durch den Hausbau beziehungsweise Wohnungskauf der Protagonistinnen. Die russische Staatlichkeit 18 wird von den beiden Interviewpartnerinnen durchaus positiv beschrieben: Der schnelle Erhalt der Staatsbürgerschaft (in nur drei Monaten im Vergleich zum sonst sehr aufwändigen, mehrjährigen Verfahren), die problemlose Erstregistrierung am Wohnort sowie administrative wie finanzielle Hilfen beim Umzug werden als Geste mit einem praktischen Wert bei gleichzeitig hohem symbolischem Gehalt interpretiert. Dies wird zum Beispiel deutlich, wenn die beiden Interviewpartnerinnen von notwendigen Besuchen bei den diversen Ämtern berichten: »schnell«, »unbürokratisch«, »höflich«, »nett«, »korrekt« seien sie behandelt worden – Attribute, die sie vorher nicht mit dem russischen Staatsapparat in Verbindung gebracht hätten.

A bspann . S chlussüberlegungen Olga Zeveleva (2014: 35) argumentiert, dass Rückkehrprogramme eine administrative wie symbolische Komponente benötigen, um erfolgreich umgesetzt werden zu können. Die administrative Komponente ist beim russischen Fall straff gegliedert. Das russische Innenministerium in Moskau gibt Direktiven vor und die Auslandsvertretungen, ob in Kasachstan oder Deutschland, nehmen Anträge entgegen. Offizielle Vertreter des Staates informieren potentiell Interessierte sowie Multiplikatoren, wie zum Beispiel bei der eingangs erwähnten Veranstaltung in Frankfurt. Der Prozess ist bis ins kleinste Detail schriftlich definiert, das Monitoring lässt sich quartalsgenau nachverfolgen. Die symbolische Ebene ist nicht so einfach greifbar. Sie wird zum Beispiel deutlich, wenn man sich die Zuschreibungen der beiden erwähnten Remigrantinnen anschaut. Sie ziehen nicht nach Russland, sondern in einen von ihnen imaginierten Außenposten Europas, zwar unter russischer Administration, aber konnotiert mit Attributen, die mit dem Leben »im Westen« verbunden werden. Die so gebildeten, durchaus imaginierten Räume, können fluide uminterpretiert und so persönlich wie wirtschaftlich nutzbar gemacht werden (Appadurai 1996: 48  ff.). Die Remigranten kehren in eine von ihnen selbst über mehrere Generationen hinweg imaginierte und von den Machern des Rückkehrerprogramms definierte »kulturelle Heimat« zurück, in der sie mit einer Collage aus bekannten Akteuren, Ideen, Konzepten, Praktiken und Diskursen (Tauschek 2015: 303) konfrontiert werden. Diese nationalen Stereotype und Narrationen von einer großen, geeinten Nation, von einer starken Familie oder von wirtschaftlichem Wohlstand in Verbindung mit einer mythisch überhöhten Glückskomponente (die sich im Beispielfall Kaliningrad auf den Bernstein bezieht) werden in den Videos, die für die Rückkehr werben, reproduziert und gewinnen so 17 | Zu transnationalen Lebenskonzepten siehe etwa Glick Schiller/Basch/Szanton Blanc 1995. 18 | Zur Diskussion um die Begriffe »Staat« und »Staatlichkeit« siehe Schneckener 2007.

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an weiterer Stärke. Versteht man »Kultur« nach Geertz (1973) als Summe von Symbolen, denen Bedeutungszusammenhänge zugeschrieben werden, so subsummiert der Film über die Rückkehr nach Kaliningrad auf verschiedenen Ebenen symbolisches Gehalt mit dem übergeordneten Ziel, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu evozieren. Erfahrungen brüchiger Zugehörigkeiten und sich wandelnder politischer wie kultureller Regime im Übergang vom Sozialismus zum Postsozialismus werden geheilt. Als heterogen und durchaus problematisch empfundene Lebensverhältnisse in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion werden durch die (relative) Sicherheit eines normierten Programms ersetzt. »Ethnische Diversität ohne ethnischen Konflikt bot dem sowjetischen Staat reichlich Agitationsstoff, um sein Selbstbild als Friedensgarant zu untermauern«, bilanziert Simon Schlegel (2017: 154). Mit der autoritären Wende der letzten Jahre und der Hinwendung zu Eurasien19, jener in den 1920er Jahren aufgekommenen Idee einer russischen Vormachtstellung auf dem eurasischen Kontinent (und der damit verbundenen Abwendung von der Europäischen Union beziehungsweise der NATO) scheint der russische Staat, so kann man vorsichtig konstatieren, nun eine andere Politik zu verfolgen: Nicht mehr ethnische Diversität, nicht mehr das friedliche multiethnische Zusammenleben stehen im Vordergrund nationaler Identitätspolitiken, sondern die Besinnung auf das »russische«, die Subsummierung des Einzelnen unter ein einheitliches Label zur Selbst- wie Fremdzuschreibung. Wahrnehmungs- und Orientierungsmuster in der postsowjetischen Gesellschaft werden zunehmend an eine ethnische Zuschreibung angelehnt (Oswald 2000: 288). Dies wird in der Wort- und Bildsprache des Films deutlich. Der immanente Bezug zur Nähe zu Europa verdeutlicht gleichzeitig den hohen Wertegehalt dieser Region. Würde man Westeuropa nicht als attraktiv einschätzen, müsste man sich nicht durchgehend, wenn auch zum Teil unterschwellig, im  – positiven oder negativen  – Vergleich zu diesem positionieren.

Z itierte L iteratur Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. London. Bluhm, Katharina (2016a): Machtgedanken. Ideologische Schlüsselkonzepte der neuen russischen Konservativen. In: Mittelweg 36/6 (Dezember/Januar), S. 56–75. Bluhm, Katharina (2016b): Modernisierung, Geopolitik und die neuen russischen Konservativen. In: Leviathan. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft 44/1, S. 36–64. Brock, Gregory (2015): The Informal Economy of Rostov Oblast on the Eve of the Ukrainian Refugee Crisis. In: Journal of Policy Modeling 37/5, S. 789–803. 19 | Zur Ausgestaltung der Idee »Eurasien« im russischen Kontext der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts siehe etwa Nikolaj Sergeevič Trubeckoj 2005. Aleksandr Gel’evič Dugin gilt als Vertreter der »Neuen Rechten« in Russland und entwickelt die Idee von »Eurasien« weiter, siehe unter anderem Dugin 1997.

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Kollektive Entwurzelung, »kranke« Dörfer und eine neue ländliche Generation Symbolische Distinktionspraxen von Lifestyle MigrantInnen im tschechischen Grenzland Anja Decker

Abstract: Collective uprooting, »sick« villages and a new rural generation The paper adds to the debate on rural transformation and social differentiation through privileged mobility and migration. Using lifestyle migration as theoretical frame, I explore the self-perception and symbolic distinctions of Czech academics, who have moved partly or fully from urban areas to a peripherialized region in the rural Bohemian borderlands. Their relocation is motivated by the expectation to find self-fulfilment, meaning and a desired lifestyle through spatial mobility, but also increases their agency and identity as active citizens. Both cases, which I explore here exemplarily, indicate, that in order to negotiate their experiences at their new place of residence, the lifestyle migrants draw on social imaginations of rural spaces, on the ideal of participation and on alleged long-term moral consequences of the resettlement of the region after the eviction of the German population in the aftermaths of World War II. The intertwining of these interpretational frames produces processes of othering, increases the group identity of the lifestyle migrants and legitimizes their claim to local leadership.

E inleitung In einer immer enger vernetzten Welt ist die Mobilität von Menschen, Kapital und Dingen ein Schlüsselfaktor gesellschaftlicher Transformationsprozesse und damit auch des ländlichen Wandels (Sheller/Urry 2006: 216). Prozesse des Kommens und Gehens, aber auch des Bleibens in ländlichen Räumen sind symbolisch hoch aufgeladene Handlungsfelder, mit denen sich Zuschreibungen an Menschen und Räume verbinden. Mobil zu sein ist ein Imperativ postmoderner Gesellschaften, der Lebensentwürfe und Selbstbilder prägt, zugleich ist die Teilhabe an Mobilität aber

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höchst ungleich zwischen sozialen Milieus, Altersgruppen und Geschlechtern verteilt (Götz u. a. 2010: 10 f.). Unter dem Paradigma der Mobilität untersucht die Anthropologie ländlicher Räume unter anderem, wie sich die alltäglichen Erfahrungsräume und Handlungsmöglichkeiten der ländlichen Bevölkerung durch Mobilitätsprozesse verändern. Hier geht es etwa um Fragen nach der Reproduktion und Verschiebung von Machtverhältnissen und Diskursen, nach den lokalen Exklusions- und Inklusionsprozessen und nach den Identitäten, Beziehungen und gegenseitigen Wahrnehmungen von Akteuren, die innerhalb konkreter ländlicher Gefüge agieren, sich zu diesen in Bezug setzen und diese durch ihr Handeln mitgestalten. In diesem Aufsatz untersuche ich das Spannungsfeld von Mobilität/Migration und ländlichem Wandel am Beispiel der narrativen Grenzziehungen tschechischer AkademikerInnen, die sich entschlossen haben, ihren Lebensmittelpunkt teilweise oder vollständig aus urbanen Räumen in eine ländliche Region im ehemaligen Sudetengebiet zu verlegen.1 Die dünn besiedelte Region, die hier zum Zielraum eines vergleichsweise privilegierten sozialen Milieus wird, erlebte im 20. und 21.  Jahrhundert mehrere markante Umbrüche. Hierzu zählt die Vertreibung der deutschen BewohnerInnen 1945/1946 in Folge des Zweiten Weltkriegs und die anschließende Wiederbesiedlung mit Menschen heterogener sozialer und ethnischer Zugehörigkeit, die umfassende Kollektivierung der Landwirtschaft im Sozialismus, der Übergang in den Kapitalismus und der Beitritt zur Europäischen Union. Heute ist die Region gekennzeichnet durch eine überdurchschnittlich hohe Zahl an Personen mit geringer formaler Bildung, ein besonders niedriges Lohnniveau, geringe Haus- und Grundstückpreise und die vergleichsweise hohe Entfernung zu Bildungs-, Konsum-, Arbeits-, Gesundheits- und Fürsorgeangeboten. Die Kommodifizierung und Inwertsetzung des naturräumlichen und kulturellen Erbes, etwa über den Tourismus, ist weniger fortgeschritten als in vielen anderen ländlichen Regionen des tschechischen Grenzlands, hat in den letzten Jahren aber an Intensität gewonnen. Mich interessiert vor diesem Hintergrund, welche räumlichen und historischen Referenzpunkte eine Rolle spielen, wenn unlängst in die Region gezogene urbane AkademikerInnen über ihre Erfahrungen am neuen Ort reflektieren. Wie erleben sie sich selbst und Andere als Akteure in einer konkreten ländlichen Gemeinde? Welche Selbstverortungen und welche Konstruktionen des Anderen kommen hier also zum Ausdruck und wie wirken sich diese Deutungsmuster und Zuschreibungen auf der 1 | Dieser Beitrag basiert auf Feldforschungen und semistrukturierten Interviews zu Alltagsarrangements, sozialer Teilhabe und ökonomischen Strategien von BewohnerInnen mehrerer benachbarter Gemeinden im nordwestlichen Böhmen im Zeitraum von 2014 bis 2017. Die Erhebung ist Basis meines Dissertationsprojektes am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der LMU München. Es wurde im Zeitraum von 02/2014–03/2018 durch ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert und wird von Irene Götz und Leonore Scholze-Irrlitz betreut. Ein Teil der Daten wurde im Rahmen des Forschungsprojekts »The Socio-Spatial Disadvantage of Inhabitants in Peripheral Rural Regions« erhoben, das durch die Czech Science Foundation (No. 15–10602S) gefördert wurde.

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Praxisebene aus? Mit dieser Perspektivnahme möchte ich zur Debatte um den ländlichen Wandel und die soziale Ausdiversifizierung ländlicher Räume durch Mobilität und Migration beitragen und besser verstehen, wie sich soziale Ordnungen, lokale Zugehörigkeit und Inklusions- und Exklusionsprozesse durch den Zuzug privilegierter AkteurInnen in peripherialisierte ländliche Räume gestalten und transformieren. Ich nähere mich dieser Problematik explorativ anhand von Interviewmaterial und teilnehmenden Beobachtungen aus einem Ort, der in den letzten Jahren besonders viel Zuzug aus diesem Milieu erfuhr. Als theoretischer Rahmen dient mir das Konzept der Lifestyle Migration. Dieses wurde in den vergangenen Jahren in der Europäischen Ethologie und ihren Nachbardisziplinen breit diskutiert, aber nur selten für den Kontext postsozialistischer Gesellschaften des östlichen Europas angewandt.

M igration und M obilität als P rojekte der S elbstverwirklichung Seit etwa vier Jahrzehnten beschäftigen sich die rural studies unter dem Stichwort der Counterurbanisierung mit dem Zuzug von StadtbewohnerInnen in ländliche Räume, eine Praxis, die der Vorstellung einer immer weiter fortschreitenden Urbanisierung europäischer Gesellschaften entgegenzustehen scheint. Counterurbanisierung wird als ein wesentlicher Faktor der Transformationen ländlicher Lebenswelten verstanden (Redepenning 2009). Zugleich wird der Begriff seit längerem als zu breit bzw. zu allgemein kritisiert, um die heterogenen Phänomene der Migration in ländliche Räume adäquat in ihrer Spezifik zu erfassen (Halfacree 2012; Mitchell 2004). Hinsichtlich der hier im Fokus stehenden AkademikerInnen, eröffnet der Begriff der Lifestyle Migration einen präziseren konzeptuellen Rahmen. Die Soziologinnen Karen O’Reilly und Michaela Benson (2009: 2) definieren Lifestyle Migration als »the spatial mobility of relatively affluent individuals of all ages, moving either part-time or full-time to places that are meaningful because, for various reasons, they offer the potential of a better quality of life«. Lifestyle Migration meint nach dieser Auslegung also die Migrationspraxen relativ privilegierter sozialer Milieus, in denen sich in erster Linie der Wunsch nach Selbstverwirklichung und Realisierung eines bevorzugten Lebensstils ausdrückt. Das Konzept wurde innerhalb der letzten Dekade in zahlreichen Fallstudien angewandt, um Motive, Erfahrungen und Aushandlungen von Binnen- und transnationaler Migration in ländliche Räume zu untersuchen. Brian Hoey (2006), der den Begriff der Lifestyle Migration bereits vor der oben genannten, vielzitierten Studie von O’Reilly und Benson (2009) verwendet, zeigt am Beispiel von Personen, die ihre meist gut bezahlten urbanen Arbeitsplätze aufgeben, um in das ländliche Michigan (USA) zu ziehen, dass diese ihren Wohnortwechsel als einen transformativen Akt interpretieren, der ihnen eine moralische Reorientierung ermöglicht: »Life-style migrants seek geographic places as personal refuges that they believe will resonate with idealized visions of self and family« (Hoey 2006: 350). Lifestyle Migration sei somit eng verbunden mit moralischen Fragen, etwa danach, wie ein erfülltes, sinnvolles Leben aussehen könnte. Sie schreibe, so Hoey (2006: 347), bestimmten geogra-

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phischen Räumen das Potential zu, eine bessere Version des Selbst lebbar zu machen. Die Erwartung, ein »besseres Leben« und ein »besseres Selbst« seien durch Migration in ländliche Räumen erreichbar, ist eng verbunden mit gesellschaftlichen Imaginationen ländlicher Räume als Sehnsuchts- und Möglichkeitsorte. Sie gelten in Relation zu urbanen Räumen als naturnah, authentisch, einfach, gesund, ganzheitlich, sicher und sozial-harmonisch (Woods 2011; Overing/Rapport 2000). Diese Zuschreibungen werden nicht nur durch den Tourismussektor und die Ernährungsindustrie kommodifiziert, sondern bewegen auch Menschen zum Zuzug in ländliche Gemeinden (Trummer 2015: 132 ff.). Lässt sich Lifestyle Migration als Projekt von Selbstverwirklichung und einer persönlichen Transformation in einem moralisch markierten Raum verstehen, so rücken auch Fragen nach der alltäglichen Aushandlung zwischen dem Erwarteten und dem Erlebten in den Mittelpunkt. Hierbei zeigt Benson (2013) in einer Fallstudie zu Life­ style MigrantInnen der britischen Mittelschicht, die im ländlichen Frankreich leben, dass diese ihr Bild des »authentischen« ländlichen Lebens permanent erweitern und umdeuten. Dabei verbleiben ihre Deutungsmuster aber stets im Rahmen des milieuspezifischen Konstrukts des ländlichen Frankreichs als rurales Idyll. Benson (2013) interpretiert diese Aushandlungen als Praxis der sozialen Distinktion: indem die Lifestyle MigrantInnen ihr wachsendes Verständnis des »authentischen« Lebens im ruralen Frankreich herausstellen und die Zuschreibungen Daheimgebliebener oder die touristischen Blicke als nicht authentisch markieren, können sie sich innerhalb ihres sozialen Milieus abgrenzen und erwerben symbolisches Kapital. Nach O’Reilly und Benson (2009: 2) ist Lifestyle Migration kein einmaliger Akt, der mit dem Zuzug an einen neuen Ort seinen Abschluss findet. Lifestyle Migration sei vielmehr ein Suchprozess, der lange vor dem Moment des physischen Ortswechsels beginne und weit über diesen andauere. Cohen, Duncan und Thulemark (2013) kritisieren das Konzept der Lifestyle Migration dennoch als zu statisch. Es gehe von einmaligen und auf Dauer angelegten Relokalisierungen von Personen innerhalb und über Landesgrenzen hinweg aus. Damit könne es fluidere, semi-permanente oder ergebnisoffene Formen der Mobilität nicht adäquat theoretisch fassen und reproduziere letztlich eine Dichotomie zwischen temporärer Mobilität und permanenter Migration, die vielen Lebensentwürfen und -realitäten nicht gerecht werde. Um die Entgrenzungen zwischen Tourismus, Freizeit und Migration analytisch greifbar zu machen, diese also nicht als klar getrennte, sondern in unterschiedlichster Ausprägung miteinander verwobene und ineinander übergehende Praxen zu verstehen, schlagen sie den Begriff der Lifestyle Mobilities als prozessorientiertes, dynamisches Konzept vor: »[L]ifestyle mobility, defined here as on-going semipermanent moves of varying duration, offers a lens into more complex forms of corporeal mobility that may involve multiple ›homes‹, ›belongings‹ and sustained mobility throughout the life course« (Cohen/Duncan/Thulemark 2013: 4).

Das hier umrissene Konzept der Lifestyle Migration und der noch weiter gefasste Begriff der Lifestyle Mobility wurden bislang nur sehr begrenzt für die sozial- und

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kulturanthropologische Untersuchung ländlicher Transformationsprozesse im postsozialistischen Mittel- und Osteuropa angewendet. Nevena Dimova (2017) untersucht Motive und Existenzsicherungsstrategien westeuropäischer und bulgarischer Life­ style MigrantInnen im ländlichen Bulgarien, klammert aber Fragen nach den Beziehungen und gegenseitigen Wahrnehmungen zwischen neuen und länger in der Region lebenden AkteurInnen aus. Spezifische Zuschreibungen an den ländlichen Raum (Süd-)Osteuropas, aber auch das wirtschaftliche Gefälle innerhalb Europas, machen das ländliche Bulgarien zu einem Sehnsuchtsort westeuropäischer AkteurInnen, die sich hier ihren Traum eines entschleunigten, naturnahen, selbstbestimmten Lebens erfüllen wollen, das ihnen in ihren Herkunftsländern auch aufgrund der hohen Immobilienpreise verschlossen bleibt: »In Bulgaria the foreign ›new‹ peasants seem to meet their own romantic ideas of wild nature, primal and authentic experiences, destroyed by urbanization and capitalism in their own countries. The romantic idea of the preserved nature is coupled by images of untouched heritage and social relations that, according to them, resonate from a past long lost in Western Europe« (Dimova 2017: 110).

Für den Kontext der Tschechischen Republik sind unterschiedliche Formen lebensstilbezogener Binnen-Migration durch die Sozialgeographie untersucht worden. So zeigt Martin Šimon (2012) in einer Fallstudie, dass Personen, die sich innerhalb der letzten Jahre zum Umzug in eine von vier untersuchten peripheren Regionen der Tschechischen Republik entschieden haben, häufiger aus lebensstilbezogenen Gründen, denn aus ökonomischen Motiven in die Orte kamen. Aufmerksamkeit erhielt auch das Phänomen des sogenannten »chalupaření« (Wochenendhauskultur). Hierbei geht es um AkteurInnen, die in zumeist peripherialisierten und schrumpfenden ländlichen Regionen leerstehende Häuser besitzen, viele davon im ehemaligen Sudetengebiet (Fialová/Vágner 2014). Das Pendeln zwischen Wochenendhaus und Hauptwohnort wird insbesondere mit der Zeit des Sozialismus assoziiert, prägt aber auch gegenwärtig die Alltagsarrangements vieler urbaner AkteurInnen (Schindler-Wisten 2017). In die Tiefe gehende Fallstudien zu der Frage, wie Lifestyle MigrantInnen im ländlichen Tschechien sich selbst und andere verorten, welche Bilder des Eigenen und der lokalen Anderen in diesem Milieu entstehen, aktualisiert oder auch transformiert werden und welche räumlichen und historischen Referenzpunkte sie hierbei verwenden, sind dagegen bislang ein Desiderat. Die zwei Fälle aus dem ländlichen Grenzland, die ich nun vorstellen möchte, setzen an dieser Frage an. Sie liefern Hinweise darauf, dass milieuspezifische Imaginationen ländlicher Lebenswelten, das Ideal der Partizipation und der Prozess der Wiederbesiedlung der Region nach der Vertreibung der deutschen Bevölkerung wirkmächtige Deutungsfolien sind, mittels derer tschechische Lifestyle MigrantInnen ihre Erfahrungen am neuen Ort verhandeln und zwischen sich und länger am Ort lebenden Personen unterscheiden. Im Folgenden geht es mir darum zu zeigen, wie die Verschränkung dieser Interpretationsrahmen Prozesse des Otherings (re-)produziert. Die Konstruktion der länger im Ort lebenden Bevölkerung als »problematische Andere« verstärkt das Selbstbild der Lifestyle

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MigrantInnen als Teil einer Gemeinschaft aktiver AkteurInnen, mit denen ein Neustart der Gemeinde gelingen kann.

R urale G egenwelten als V erspechen und H andlungsimperative Er sei zufällig auf die Gemeinde gestoßen, leitete Antonín 2, Mitte 50, die Beschreibung seines Weges in den Ort ein. Der Sohn seiner Bekannten, ebenfalls ein städtisch sozialisierter Akademiker, habe vor einigen Jahren in dem Ort einen Hof gegründet und regelmäßig ein Hoffest veranstaltet. Nach einem Besuch des Festes sei er, Antonín, mit dem Bauern in Kontakt geblieben und habe so von Debatten und Projektideen zur nachhaltigen ländlichen Entwicklung erfahren, die innerhalb des Netzwerkes des neuen Bekannten entstanden. In der Zeit einer persönlichen Krise habe er die Gelegenheit ergriffen, Agrarland von der Kommune zu kaufen, um zu verhindern, dass die Flächen von einem der umliegenden Großbetriebe aufgekauft würden. Er habe sich fortan immer öfter in der Gemeinde aufgehalten und sei so Teil eines Netzwerkes urbaner AkademikerInnen geworden, die sich innerhalb der letzen acht Jahre in dem Ort niedergelassen hatten, sich hier periodisch aufhielten oder entsprechende Migrationspläne entwickelten. Diese Gruppe engagierte sich intensiv für den Erhalt und die Inwertsetzung des landschaftlichen und kulturellen Erbes in der Region, die bis 1945 mehrheitlich von deutschsprachigen Personen bewohnt wurde. So wurden zum Beispiel Kulturdenkmäler aus der Barockzeit renoviert, »traditionelle« Feste adaptiert und Streuobstwiesen erneuert. Während einige dieser Personen nach Möglichkeiten suchten, sich vor Ort ein Einkommen zu schaffen um eine räumliche Einheit von Leben und Arbeiten zu erreichen, blieb Antoníns Präsenz in der Gemeinde auf wenige Tage pro Woche und nur einige Bereiche des Lebens beschränkt. Im Dorf verbrachte er die Wochenenden, die er häufig um einen Tag verlängerte. Die übrige Zeit lebte er in einer etwa 100 Kilometer entfernten Großstadt, wo er in leitender Funktion in einer staatlichen Einrichtung festangestellt war. Hier lebten auch seine Ehefrau und seine Kinder, die ihn nur selten in das Dorf begleiteten. War die Großstadt für Antonín eine Sphäre der Erwerbsarbeit und des Familienlebens, so war die ländliche Gemeinde der Ort, an dem er sich gesellschaftspolitisch engagieren und selbst verwirklichen wollte. Während meiner Feldforschungen sah ich Antonín gewöhnlich über seinen Laptop gebeugt oder ins Gespräch mit anderen AkteurInnen vertieft, zumeist ebenfalls gut gebildete städtische Lifestyle MigrantInnen. In solchen Gesprächen ging es dann beispielsweise um Fördermittelanträge, die kritische Beobachtung der Tätigkeit des Gemeinderats, kulturelle Veranstaltungen, Ideensammlungen zur Umnutzung von baufälligen Gebäuden und der Bewirtschaftung des gekauften Landes. Antonín war an mehreren Förderanträgen beteiligt, ergriff regelmäßig das Wort in der Gemeinde-

2 | Alle Personen- und Ortsnamen sind Pseudonyme. Die Übersetzung aus dem Tschechischen stammt von mir.

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vertretung und brachte sich intensiv in einen neu gegründeten Verein zur Entwicklung des Ortes ein. Antonín beschrieb sich als Wochenendpendler, dessen Alltagsmobilität einem festen Muster folgt, das durch ständige Wiederholung verinnerlicht ist und als Routine erlebt wird. Er argumentierte, dass er dank der auch im Dorf sehr schnellen Internetverbindung und des Mobiltelefons Arbeitsaufgaben vom Dorf aus erledigen könne. Wenn es sein lokales Engagement erfordere, könne er seinen Aufenthalt über das Wochenende hinaus ausdehnen oder auch unter der Woche noch einmal in die Gemeinde fahren, denn schließlich seien die 100 Kilometer, die beide Orte voneinander trennen, in manchen Ländern eine durchaus übliche Pendlerdistanz. Gleichzeitig sprach er von seiner Überlastung und dem Wunsch, das Tempo zurückzunehmen. Er deutete Befürchtungen an, sein Arbeitgeber werde seine Abwesenheit in dieser Intensität nicht länger dulden, und sah sich auch aus familiären Erwägungen vor die Entscheidung gestellt, sein Leben vollständig in den Ort zu verlegen oder sich wieder stärker in die Großstadt zu orientieren. Hauptthema unseres Interviews war Antoníns lokales Engagement. Ausgelöst durch meinen Hinweis, er habe gleich zu Beginn des Gespräches von der »Erkankung« dörflicher Gemeinden gesprochen, verwies Antonín in einem Stream of consciousness zunächst auf die große Desillusion, die die gesamte westliche Welt – ihn explizit eingeschlossen – ergriffen habe. Es fehle an Visionen. Die Menschen hätten den Glauben an den Fortschritt verloren und es herrsche das Gefühl von Sinnleere. Diese »Krankheit« habe – und das sei ihm erst durch das Leben im Ort bewusst geworden – auch den ländlichen Raum ergriffen: »Die Verständigung funktioniert hier nicht. Die Leute reden nicht miteinander. Oder besser gesagt, sie reden vielleicht in irgendwelchen kleinen Gruppen. Aber das Netz ist zerrissen. Eine gesunde Gesellschaft ist meiner Meinung nach eine solche, in der alle, jeder mit jedem durch ein Netz verbunden ist und sich gemeinsame Werte teilen lassen. […] Nun, und hier ist das zerrissen. Was mich überrascht hat, denn ich habe gedacht, dass die Menschen sich auf dem Dorf näher sind. Das sind sie nicht« (Interview 6. 10. 2014).

Antonín beschreibt seine Begegnung mit dem dörflichen Alltagsleben hier als eine völlig neue Erfahrung, die seinen Vorstellungen über ländliche Gemeinden als solidarische Gemeinschaften entgegenläuft. Hatte er das Land vor seiner Migration als eine Gegenwelt zur entfremdenden Stadt imaginiert und erwartet, im Ort auf Menschen zu treffen, die besonders eng verbunden sind, so erlebte er das soziale Miteinander in der Gemeinde als beinahe ähnlich fragmentiert wie in der Stadt. Das Zitat zeigt deutlich, wie Antoníns Vorstellungen des Dorfes als einer durch geteilte Werte verbundenen Gegenwelt zur Stadt in Konflikt mit dem vor Ort Erlebten gerät. Zugleich hielt er auch dann an der Dichotomie zwischen Land und Stadt fest, wenn er über seine Visionen und sein lokales Engagement sprach: »Denn in der Großstadt haben die Leute nicht den Bedarf, sich zusammenzutun, anzufangen zu kooperieren und die Dinge selbst zu lösen. Denn dort erwarten sie, dass das jemand [anderes] löst. Hier dagegen

132 | Anja Decker ist das realisitisch. An den Dörfern, die funktionieren, lässt sich das zeigen. Das lässt sich bewältigen. Du kannst nicht auf einmal die gesamte Gesellschaft heilen, aber du kannst funktionierende Inseln schaffen. Ich denke, es ist sinnvoll im Kleinen zu beginnen und [sich] dann zu vernetzen und Ketten zu bilden. Also das, um was ich mich hier bemühe, hätte in der Großstadt überhaupt keinen Sinn. Da müsste ich bei uns in der Straße anfangen. Aber da würden die mich anschauen wie einen Verrückten, dass ich hier ein Straßenkommitee bilde oder so was, wie es im Kommunismus war. Also das geht nicht. Wogegen es hier meiner Meinung nach geht« (Interview 6. 10. 2014).

Die Metapher der Krankheit erweist sich auch in diesem Interviewsegment als zentral. Im Gegensatz zu urbanen Räumen sei die Krankheit des Dorfes heilbar. Sie könne durch partizipative Prozesse überwunden werden. Ländliche Gemeinden erscheinen Antonín als prädestiniert, um Visionen von unten zu entwickeln, die von allen getragen werden. Er versteht den ländlichen Raum, so zeigt es dieses Zitat, als einen Möglichkeitsraum, in dem Menschen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen (müssen) und Labore für gesellschaftlichen Wandel entstehen können. Ländlicher Wandel und ländliches Leben, so kommt hier zum Ausdruck, sind beherrschbar und steuerbar. Das Fehlen von sozialem Zusammenhalt ist zwar auch hier ein Hindernis für die Implementation nachhaltiger Lebensmodelle, lasse sich aber aufbauen. Was Antonín in der Stadt undenkbar vorkommt, nämlich der Versuch, Nachbarn zusammenzubringen und Gemeinschaft aufzubauen, um nach Alternativen für das gesellschaftliche Zusammenleben zu suchen, wird am neuen Ort zu einem Leitmotiv seines Engagements, wie ich nun an einem Beispiel zeigen möchte.

D ivergierende K onfliktkulturen und das S cheitern einer   partizipativen P rojektidee Eine konkrete Initiative, die Antonín initiierte, um der beobachteten Fragmentierung der lokalen Bevölkerung zu begegnen, war die Gründung eines Gesprächskreises, zu dem er einmal pro Woche in ein ebenfalls durch städtische AkteurInnen gegründetes Café einlud. Mit dem Gesprächskreis habe er einen Raum schaffen wollen, in dem öffentlich über Streitfragen diskutiert werden könne, anstatt sie in Form von Verleumdungen und Schmähkritik zu verhandeln. Aus den gleichen Erwägungen gab Antonín gemeinsam mit weiteren Lifestyle MigrantInnen eine Lokalzeitung heraus. Auch auf den Gemeinderatssitzungen brachte er immer wieder Konfliktthemen wie die Unzufriedenheit mit der Qualität der lokalen Schule oder die Kriterien für den Verkauf von Grundstücken zur Sprache. Anders als gehofft, brachte das Ansprechen von Konflikten jedoch nicht die gewünschte Katharsis, die in gegenseitiges Verständnis und die Entwicklung eines für alle tragbaren Kompromisses oder einer geteilten Version mündete. Öffentlich mit Kritik, Missständen oder nicht genutzten Potentialen konfrontiert zu werden, führte in der lokalen Gesellschaft, in der ein völlig anderes Konfliktverhalten praktiziert wurde und große Angst vor dem Verlust des Ansehens bestand, bei vielen etablierten BewohnerInnen zu Abwehr, Ausschluss und Rückzug.

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So konnte ich mehrmals die große Anspannung beobachten, mit der GemeindevertreterInnen das Erscheinen der neuesten Ausgabe der Lokalzeitung durchlebten. Eine junge Gemeindevertreterin sprach im Interview über den Stress, den die Teilnahme an den monatlichen Gemeindesitzungen bei ihr ausgelöst habe. Sie sei kein konfrontativer Typ und fühle sich nach den Debatten immer psychisch völlig ausgelaugt. Auch der Gesprächskreis wurde zum Zeitpunkt meiner Forschungen bereits fast nur noch von dem lokalen Netzwerk aus zugezogenen AkademikerInnen besucht. Aufschlussreich erwies sich meine teilnehmende Beobachtung während eines der Treffen, das sich insofern von der üblichen Gestalt des Gesprächskreises unterschied, als dass mit Alena eine langjährige Bewohnerin des Ortes Antoníns Einladung gefolgt war, um die Arbeit des seit vielen Jahren von ihr geleiteten lokalen Vereins vorzustellen. Alena war bis zu ihrer Rente auf niedriger Position im sozialen Bereich tätig. Es gab also ein beträchtliches soziales Gefälle zu den übrigen Gästen, die bis auf eine Ausnahme gut gebildete Personen waren, die aus unterschiedlichen Städten in den Ort gezogen waren, zumeist in hochqualifizierten Berufen arbeiteten und zum großen Teil Erfahrung in der kommunalen Politik hatten. Ich hatte Alena als eine Person erlebt, die an allen kulturellen Veranstaltungen teilnahm, sich aber nie in den Vordergrund spielte. Wenn ich sie im Dorf traf, blieb sie stets stehen, plauderte, informierte mich über den nächsten Frauentreff und andere lokale Ereignisse. Für den Gesprächskreis hatte sich Alena eine weiße Bluse angezogen. Sie kam in Begleitung zweier weiterer Vereinsmitglieder, ebenfalls Rentnerinnen aus dem Ort, und war sichtbar angespannt. Die drei Frauen saßen an einer Längsseite des Tisches, die Tür im Rücken. An den anderen drei Seiten nahmen die weiteren BesucherInnen des Gesprächskreises Platz. Alena hatte sich Notizen gemacht und Urkunden, Abzeichen und Fotos mitgebracht. Sie entschuldigte sich, keine gute Vortragende zu sein, öffnete ihr großes Buch und las mit leiser Stimme die Entwicklung der Mitgliederzahlen des Vereins vor. Statt 40 Mitgliedern, die es »früher« gegeben hätte, seien es heute nur noch elf Mitglieder, alle über 65 Jahre alt. Es gebe auch nicht viele Aktivitäten, vor allem nicht im Vergleich zu früher. Die Gäste unterbrachen nach einiger Zeit die Ausführungen und begannen zu überlegen, wie man die Arbeit des Vereins verbessern könnte. Es kamen zahlreiche Vorschläge für neue Betätigungsfelder des Vereins, die Alena und ihre BegleiterInnen mit immer größerem Schweigen und Unsicherheit entgegennahmen. In einem späteren Interview beschrieb die Vereinsvorsitzende die Situation wie folgt: »Ich hatte dort kein sehr gutes Gefühl / Also als würden die mich dort / ich weiß nicht / so ein komisches Verhör. Das war nicht so freundschaftlich wie zum Beispiel mit Ihnen. Mit Ihnen hier bin ich gelöster, mit Ihnen spreche ich mehr über alles Mögliche. Dort kam mir das irgendwie / ich weiß nicht / etwas merkwürdig vor« (Interview 22. 9. 2014).

Die Dynamik, die sich an jenem Abend in dem Gesprächskreis entfaltete, ist ein Beispiel, wie der Wunsch der Lifestyle MigrantInnen, die lokale Handlungsfähigkeit zu stärken, Gemeinschaften aufzubauen und die lokalen Vereine zu unterstützen in sein Gegenteil verkehrt wurde. In dem Gesprächskreis entstand die Atmosphäre einer

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Kommission, bestehend aus selbstbewussten, mit viel Wissen ausgestatteten AkteurInnen, vor der die Vereinsvorsitzende Bericht über ihren Beitrag für das Wohl der Gemeinde abzulegen hatte. Die Suche nach dem nicht ausgeschöpften Potential wirkte auf Alena demotivierend und überfordernd. Sie fasste die Vorschläge als Kritik auf, nicht genug oder nicht das richtige zu tun, als ein persönliches Versagen als Vereinsvorsitzende. Als ich Antonín im Interview auf Alenas Besuch im Gesprächskreis ansprach, erinnerte auch er ein Unbehagen, dass er am Ende des Abends verspürt habe. Es sei nicht glücklich gelaufen, die Frauen hätten den Eindruck erhalten, von den Stammgästen Aufgaben erteilt zu bekommen. Die ganze Veranstaltung sei ihm traurig vorgekommen. Der Verein habe früher funktioniert und sei nun ein Wrack. Ihm sei nicht klar, ob der Verein angesichts seiner Mitglieder noch überlebensfähig sei, oder nur noch im Koma liege. Ähnlich äußerte er sich über andere lokale Initiativen. Zugleich brachte er seine Enttäuschung über die Entwicklung des Gesprächskreises zum Ausdruck. Sein Ziel, ein Forum zu schaffen, in dem sich das ganze Dorf austauschte und begegnete, sei nicht aufgegangen. Entstanden sei vielmehr ein sozialer Treffpunkt der lokalen Lifestyle MigrantInnen, der diese Gruppe enger zusammengebracht habe.

H istorische B ezüge und neokolonialistische V isionen Im Interview kontrastiert Antonín seine Erfahrungen im Ort mit seinen Vorstellungen über die lokale Vergangenheit. Das Dorf hätte das Potential, autark zu sein, stellt er fest. Zwar kenne er die Geschichte nicht so gut, habe aber über diesen Ort gehört, dass hier einmal über 1000 Leute gelebt hätten. Diese seien zwar keine SelbstversorgerInnen gewesen, denn sie hätten ihre Produkte auch in die umliegenden Städte verkauft, sie seien aber in der Lage gewesen, sich selbst durchzubringen. Die Imagination einer aktiven, handlungsfähigen Bevölkerung im früheren Dorf dient Antonín als Kontrastfolie, um die heutige lokale Bevölkerung zu verorten. Die Menschen, die heute im Ort lebten, seien dagegen passiv und abhängig von sozialer Unterstützung, erklärte er. Sie seien nur hier, weil sie durch ihre Häuser an den Ort gebunden seien, Besitz geerbt hätten oder weil sie hier her verdrängt wurden. Das Leben sei früher sicher nicht einfach gewesen, aber blicke man 200 Jahre zurück, sehe man, dass die Menschen sich ihre Existenz selbst gesichert hätten. Die heutige Handlungsunfähigkeit der Menschen, so argumentierte Antonín weiter, sei auch eine Spätfolge der Neubesiedlung des Ortes nach Kriegsende. So sei das Dorf fast völlig vom Krieg verschont geblieben. Es sei daher in gewisser Weise ein Paradies im kriegsgebeutelten Europa gewesen, in das nun die neuen BewohnerInnen kamen und hier Häuser und das Land von den Vertriebenen übernahmen: »Und jetzt sind Leute hier her gekommen. Und das muss furchtbar korrumpierend sein, wenn du auf einen schönen Hof kommst und im Grunde nichts machen musst, damit es dir gut geht. Also es ist furchtbar schwer, daran anzuknüpfen. Selbst wenn das ein fähiger Mensch wäre und was weiß ich alles, also wenn

Kollektive Entwurzelung, »kranke« Dörfer und eine neue ländliche Generation | 135 man das alles nicht aufbauen muss, sondern ins Fertige kommt. Und sie haben im Grunde nichts gemacht. Ich sehe das hier in diesem Haus, die Fenster sind so, wie sie 1945 waren. Das einzige, was sie hier gebaut haben, ist das Bad und die meisten Änderungen, die sie vorgenommen haben, haben zu einer Verschlechterung geführt.  […] Ich sehe darin den Grund, warum es heute nicht funktionieren kann. Denn wenn sich heute zeigen würde, dass es geht, dann würde das darauf hinzeigen, dass es hätte auch davor gehen können« (Interview 6. 10. 2014).

In dieser Passage formuliert Antonín einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Verlauf der Wiederbesiedlung und der heutigen Einstellung der lokalen Bevölkerung. Die Personen, die nach Kriegsende die Häuser und das Land der Vertriebenen übernommen haben, seien ohne Mühen an Besitz gekommen. Diese Erfahrung habe ihre Handlungsfähigkeit vermindert und aus ihnen passive Subjekte gemacht, die bis heute der Entwicklung des Ortes entgegenstehen würden. Dazu beigetragen habe, so überlegt er anschließend weiter, auch die Kollektivierung der nur wenige Jahre zuvor erhaltenen Flächen und die Beteiligung der Menschen am Abriss vieler Gebäude. Sein Eindruck sei, dass die meisten Leute hier unzufrieden seien, sich vom Schicksal ungerecht behandelt fühlen würden. Aber sie seien gleichzeitig nicht in der Lage, etwas zu ändern. Weitere Gründe für ihre Passivität, so zählt er nun in einer raschen Assoziationsfolge ohne weitere Konkretisierungen auf, seien auch die versteckte Schuld, Angst vor Rache und davor, dass ihnen die Häuser erneut weggenommen werden könnten. Auch wenn Antonín betont, dass für ihn jeder im Ort lebende Mensch zur lokalen Gemeinschaft gehöre und sein Engagement jedem gelte, unterteilt er die Bevölkerung nach moralischen Prinzipien, bei denen der Ankunftszeitpunkt im Ort und der Grad der Eigeninitiative eine zentrale Rolle spielen. Den vermeintlich tatenlos am Ort ausharrenden langjährigen BewohnerInnen und denjenigen, die aktuell nur aus Alternativlosigkeit hier her ziehen würden, etwa weil es hier günstigen Wohnraum gibt oder sie Häuser erbten, stellt er das lose Netzwerk der Lifestyle MigrantInnen gegenüber, das sich in den letzen Jahren zu formieren begonnen hat. Dies seien Personen – ihn eingeschlossen – die sich bewusst und freiwillig zum Zuzug in den Ort entschieden hätten, weil sie hier leben wollen und einen Sinn darin sehen würden. Seine Visionen für den Ort, so bringt Antonín an verschiedenen Stellen des Interviews zum Ausdruck, seien primär über die Vernetzung, Aktivierung und Erweiterung dieses Akteurskreises zu erreichen. Er wolle sich daher auch für eine Art Neubesiedlung der Region engagieren und aktive Menschen zum Zuzug bewegen, die nicht nach materiellen Werten streben würden. Personen, die das historische Erbe schätzten, sich lokal einbringen wollen, seine Visionen teilten, die Lücken und die Fehler der Vergangenheit auszubessern vermögen und die die richtigen Werte besäßen, nämlich den Willen zur Zusammenarbeit und einen Sinn für Schönheit und Kreativität. Die Heilung des Ortes  – um nochmals die Metapher der Erkrankung ländlicher Räume aufzugreifen – könne nach seiner Darstellung nicht durch die im Ort Lebenden erfolgen, sondern bedürfe der Ansiedlung eines bestimmten Akteurstypus, der seine Werte und Deutungen des ländlichen Lebens teilt. Lifestyle MigrantInnen werden hier zu einer umworbenen Gruppe und Teil einer neokolonialistischen Idee. Sie repräsentie-

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ren für Antonín das Ideal eines neuen ländlichen Subjekts, das sich durch Mobilität, Eigeninitiative, Reflexivität und partizipative Entscheidungsprozesse auszeichne und fähig sei, Potentiale zu erkennen und Ressourcen »richtig« zu nutzen. Der Ankunftszeitpunkt im Ort und der Imperativ, die Potentiale dieses vermeintlichen ländlichen Möglichkeitsraumes zu nutzen, dienen hier als Mittel für kulturelle Grenzziehungen und soziale Distinktionsprozesse, aus denen Antonín Ansprüche auf lokale Teilhabe, Deutungshoheit und Entscheidungsmacht ableitet und sich als Teil einer neuen ländlichen Avantgarde verortet.

O rtslose und S uchende Eine dieser neuen Personen, denen Antonín das Potential zusprach, zur Lösung der Probleme der Gemeinde beizutragen, ist Martin,  25. In das Dorf kam der damalige Student um das Jahr 2010 auf der Suche nach einem Ort, an dem ein möglichst autarkes Leben denkbar sei, ohne die Verbindung zu seinem früheren Lebensumfeld, einer etwa vierzig Autominuten entfernten Mittelstadt, völlig aufgeben zu müssen. Er beschreibt seinen periodischen Aufenthalt in dem Ort als die kleinstmögliche Flucht vor einem entfremdenden städtischen Alltag, der eine landesweite Suche vorausgegangen sei. Die Gemeinde sei für ihn vor allem attraktiv gewesen, da sich hier bereits einige AkteurInnen mit sehr ähnlichen Zielen und Biografien bewegt hätten. Die Möglichkeit, mit diesen AkteurInnen zu kooperieren und gemeinsame Projekte zu entwickeln, sei der Grund gewesen, sich längerfristig in der Gemeinde zu vernetzen und anzubinden. Martin erwarb brachliegendes Agrarland, das er in Teilen von Gestrüpp befreite. Hier legte er einen ausgedehnten Garten an, experimentierte mit Permakultur und Biolandwirtschaft und stellte seinen Wohnwagen auf, in dem er in den warmen Monaten lebte. Zugleich mietete er ein Zimmer in einem Haus, in dem andere Personen lebten, die unlängst in den Ort gekommen waren. Wie Antonín engagierte sich auch Martin gesellschaftspolitisch. Er stellte seinen Garten für internationale Begegnungsprojekte zur Verfügung, war eine der Schlüsselfiguren bei der Erneuerung einer Streuobstwiese und kandidierte für ein politisches Amt. Während Antonín wöchentlich zwischen zwei Orten pendelte und sein Einkommenserwerb sowie sein Familienleben räumlich von der Gemeinde getrennt waren, folgte Martins Mobilität einem anderen Modell: »[…] denn ich bin hergekommen und habe mich hier sehr sesshaft gemacht, sehr. Und gleichzeitig / Ich bin nun mal ein Reisender, ich muss reisen. Und so muss ich jetzt diese Sesshaftigkeit, die ich hier ein paar Jahre hatte, etwas ausbalancieren, also musste ich etwas / Ich denke, dass ich das jetzt wiederum etwas überzogen habe, dass ich viel gereist bin. Letztes Jahr war das wirklich intensiv. Also habe ich jetzt diese Sesshaftigkeit ausgeglichen. Und jetzt würde ich das gern so beibehalten, eine Weile hier, eine Weile reisen. Aber von keinem zu viel. Also ein gesundes Gleichgewicht zwischen Sesshaftigkeit und Reisen« (Interview 12. 8. 2016).

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Mobilität, so verdeutlicht es diese Interviewpassage, ist ein konstitutiver Bestandteil von Martins Lebensführungsmodell. Sie bestimmt sein Selbstbild ebenso wie seine Existenzsicherungsstrategien und landwirtschaftliche Arbeit am neuen Wohnort. Nachdem er zunächst feste Arbeitsstellen in der Gemeinde und in seiner Heimatstadt innehatte, gab er dieses Modell der Einkommensproduktion vor einer längeren Phase des Reisens auf und finanzierte sich seitdem durch eine größtenteils räumlich und zeitlich unabhängige Position im Wissenssektor. Das Wechselspiel aus Phasen des Da-Sein und Nicht-Dasein bedurfte auch Anpassungen im Umgang mit seinem Land. So widmete er sich zeitweise dem Gemüseanbau und sprach von Plänen, ein Biokistenabonnement für seine Heimatstadt aufzubauen. In der nächsten Saison, die er auf Reisen verbrachte, lagen die Beete überwiegend brach. Martin plante nun die Zucht von Obstbäumen und stellte die Flächen im Jahr darauf auch befreundeten Personen für diese Zwecke zur Verfügung. Auf meine Frage, inwiefern die Personen für ihn wichtig seien, die hier schon vor seiner Ankunft lebten, nimmt Martin ähnliche Distanzierungen und Verortungen vor, wie Antonín. Es sei ein Paradox, beginnt er seine Antwort. Je weniger die Menschen hier verwurzelt seien, desto mehr würden sie sich an das klammern, was sie als das Eigene betrachten. Personen, die schon in der vierten Generation auf einem Hof leben und sich daran erinnern könnten, wie ihr Urgroßvater den Baum gepflanzt hat, den sie jetzt abernten, hätten seiner Beobachtung nach nicht so ein starkes Bedürfnis, sich durchzusetzen, wie diejenigen ohne eine Verbindung zu Vorfahren an dem Ort. Auf meine Nachfrage, wie er sich dieses Paradox erkläre, rekurriert Martin, ähnlich wie zuvor Antonín, auf die vermeintlichen Spätfolgen der Wiederbesiedlung der Region: »Das ist wohl eher irgendwie so ein schlechtes Gewissen. Je weniger ich etwas habe, desto mehr möchte ich es haben und umso aktiver versuche ich es zu bekommen. Sie wissen, dass die Mehrheit ihrer Eltern dadurch hierhergekommen ist, dass sie teilweise noch währenddessen ziemlich unmoralische Dinge tun mussten, also dann wollen die das vielleicht auf irgendeine Weise leugnen. Oder ich weiß nicht, ob leugnen, aber irgendwie sich damit abfinden, indem sie ihr Band mit dem Ort künstlich schaffen. Oder ich weiß nicht, das ist egal, vielleicht denke ich mir da wohl zu viel hinein. Aber der Geist dieses Ortes ist so. Vielleicht ist das so eine Selbstreflektion dieses Geistes. So wie ›Also was? Also wer sind wir hier? Und was wollen wir hier tun?‹ Und hier hängt diese Frage in der Luft und sie ist im Grunde niemals ordentlich beantwortet worden. Ob uns hier etwas verbindet. Was verbindet uns hier? Hier gibt es keine Antwort darauf. Also mir kommt es so vor, dass ich sie hier jetzt so langsam in dieser neuen Generation finde. Also nicht eine neue Generation des Ortes, sondern eher eine neue Generation von Menschen, die hierherkommen, weil sie hier an diesem Ort etwas finden. Und mir kommt es so vor / dass ich also darin die Verbindung sehe. Dass hier Leute herkommen, die eine Beziehung aufbauen wollen, zur Landschaft, zur Natur. Gegebenenfalls zu den Menschen um sie herum, das gehört dazu. Und das ist so eine / das ist natürlich eine Flucht, nicht wahr. Denn mit uns kommen Leute hier her, die diese Verbindung nicht haben. Wir sind größtenteils irgendwie aus der Stadt. Aber das ist wenigstens etwas, das uns verbindet. Das ist schon nicht mehr völlig durch die Kriegsgeschichte eingefärbt, das ist unser persönlicher Krieg. Wir selbst, das ist die Suche, nicht wahr? Und die Suche verbindet uns. Vielleicht sehe ich darin eine Übereinstimmung.

138 | Anja Decker Eine kleine. Ein Körnchen dieser Einheit. Die Leute, die hierherkommen, verbindet, dass sie auf der Suche sind, weil /. Und das glaube ich, ist ein bisschen etwas anderes, als es nach dem Krieg war. Das hier die Leute eher verbindet / Aber das denke ich jetzt wieder hinein. Ich also / dass die Leute eher verbinden konnte, dass / Ach Gott weiß, vielleicht ist das eigentlich genau dasselbe, wenn ich darüber nachdenke, vielleicht ist das immer dasselbe. Nur dass der Krieg dem so einen düsteren Hauch dazu gegeben hat, aber ansonsten ist das wohl dasselbe« (Interview 12. 8. 2016).

In dem hier zitierten Interview-Ausschnitt kehren Martins Gedanken immer wieder zu der Zeit der Wiederbesiedlung des Ortes nach Kriegsende zurück. Seine Sprache ist stockend, zweifelnd, voller Andeutungen, Schleifen und Revidierungen. Die Zeit der Wiederbesiedlung, so wird deutlich, wird als nur schwer zu greifender, aber dennoch wesentlicher Moment verstanden, um die heutige lokale Kultur, den Umgang der Menschen miteinander zu verstehen. Sie scheint Bedeutung zu haben, da sie die Menschen zu dem gemacht hat, was sie heute sind. Die Menschen im Ort, so bringt es Martin zum Ausdruck, würde eine Ortslosigkeit oder vererbte Entwurzelung kennzeichnen, die auf die Erfahrung der Wiederbesiedlung zurückzuführen ist. Bis heute bestünde eine nur künstliche Verbindung zu dem Ort und noch immer würden kollektive ortsgebundene Erzählungen (»Was verbindet uns hier?«, »Was wollen wir hier tun?«) fehlen. Die Gruppe der Lifestyle MigrantInnen, über die er in der Wir-Form spricht und die er als eine neue Generation bezeichnet, sieht er dagegen auf dem Weg, diese kollektive Erzählung zu entwickeln. Diese gründe sich auf der geteilten Erfahrung einer Sozialisation in der Stadt, der Flucht aus dieser und dem Wunsch, einen bedeutungsvollen Ort zu finden, an dem es möglich sei, eine Beziehung zur Landschaft, Natur und zu Gleichgesinnten aufzubauen. Die geteilte Lesart des Ortes als Sehnsuchts- und Möglichkeitsraum verbinde die Gruppe und schaffe ein kollektives Identifikationsangebot, über das sich die Lifestyle MigrantInnen von den übrigen BewohnerInnen positiv unterscheiden würden. Sie seien daher in der Lage, ein Band mit dem Ort zu knüpfen, das der Entwurzelung und Ortslosigkeit entgegenstehe. Gleichzeitig, und das macht Martins Fallbeispiel besonders interessant, erweist sich diese Grenzziehung als äußerst fragil und wird vom ihm sodann zumindest in Ansätzen wieder dekonstruiert. Denn, so reflektiert Martin in der zitierten Passage weiter, vielleicht seien die Menschen nach dem Krieg aus ähnlichen Motiven in den Ort gekommen. Vielleicht seien auch sie auf der Suche nach etwas (nicht näher Spezifiziertem) gewesen. Hier klingt die Überlegung an, ob nicht letztlich die Erfahrung, auf der Suche nach etwas an einen neuen Ort gekommen zu sein, womöglich alle hier lebenden Personen verbinde, unabhängig vom Zeitraum und den Umständen ihrer Ankunft (»düsterer Hauch des Krieges«). Auch wenn Martin diesen Gedanken im Interview nicht mehr weiterverfolgt, deutet sich in der hier zitierten Passage die Möglichkeit einer integrativen Gegenerzählung an, die den auch hier dominanten Grenzziehungen anhand des Kriteriums des Ankunftszeitraums, die Idee von Migration als einem geteilten Erfahrungsraum entgegenstellt.

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D iskussion Das tschechische Grenzland ist eine von zahlreichen Regionen Mittelosteuropas, die im 20. und 21.  Jahrhundert von raschen Umbrüchen betroffen waren, im Zuge derer auch Grenzen und Bevölkerungsgruppen verschoben wurden und die soziale Ordnung mehrfach neu ausgehandelt werden musste. Für den Fall des tschechischen Grenzlands ist letzteres besonders hinsichtlich der Wiederbesiedlung der Region in der unmittelbaren Nachkriegszeit und während der ersten Jahre des Aufbaus eines sozialistischen Staates untersucht worden (Spurný 2011; Wiedemann 2007; Wittenberg 2013). Zugleich sind ländliche Räume in ganz Europa aktuell Anziehungspunkte für Personen aus dem urbanen AkademikerInnenmilieu. Die narrativen Grenzziehungen der zwei hier exemplarisch untersuchten Lifestyle Migranten zeigen einige Aspekte auf, deren weitere Untersuchung erkenntnisfördernd erscheint, um ein differenzierteres Verständnis der sozialen Ausdifferenzierung ländlicher Räume durch privilegierte Migration und Mobilität zu gewinnen. Zunächst bestätigt sich die im Vorfeld herausgearbeitete Wirkmächtigkeit dichotomer Zuschreibungen an urbane und rurale Räume. Die Akteure grenzten ländliche Lebenswelten klar von urbanen Alltagspraxen ab und schrieben dem ländlichen Raum Qualitäten zu, die ein erfüllteres Leben versprechen. In beiden Fällen war die Rede von Fluchtbewegungen aus einem entfremdenden urbanen Alltag in eine ländliche Gemeinde. Neben der Erwartung, durch den physischen Ortswechsel soziale Nähe oder Naturbezug zu finden, spielten bei diesen »Fluchten« Aspekte wie die vermeintliche Übersichtlichkeit und Steuerbarkeit ländlicher Alltagskulturen und sozialer Dynamiken in diesen Räumen eine Rolle. Die Fallbeispiele deuten darauf hin, dass Lifestyle Migration weit mehr sein kann, als ein Projekt einer persönlichen Transformation und Suche nach einem Ort, der eine höhere Lebensqualität verspricht. Lifestyle Migration ist hier ein Handlungsfeld, das eng verwoben ist mit dem Ziel, gesellschaftlichen Wandel zu erreichen, Vorbild zu sein und andere zu inspirieren. Ähnliche aktivistische Motive fand auch Dimova (2017) in ihrer eingangs erwähnten Studie zu Lifestyle MigrantInnen im ländlichen Bulgarien. Die geteilte Wahrnehmung des Ortes als ländlicher Möglichkeitsraum und als Zukunftslabor ermöglichte Erfahrungen von Gemeinschaft, Selbstwirksamkeit und Handlungsmächtigkeit und stärkte die Identität der beiden Lifestyle Migranten als aktive Bürger. Sie produzierte aber auch einen an alle BewohnerInnen des Ortes gerichteten Imperativ, die Potentiale des Raumes zu nutzen. Zu Personen, die dem Ideal der an einem Seil ziehenden Gemeinschaft aktiver Gemeindemitglieder vermeintlich nicht entsprachen, spürten beide hier zu Wort kommenden Lifestyle Migranten deutliche Distanz. Auf der Suche nach Erklärungsmustern diente ihnen in beiden Fällen insbesondere die Wiederbesiedlung der Region nach der Vertreibung der deutschen Bevölkerung als eine wirkmächtige Deutungsfolie und ein kultureller Marker. Die Bedeutung, die hier dem Ankunftszeitpunkt in der Gemeinde zugeschrieben wird, erinnert unter umgekehrten Vorzeichen an das von Norbert Elias und John L. Scotson (2002) in ihrer berühmten Gemeindestudie »Etablierte und Außenseiter« aufgezeigte Prinzip: Waren es in der

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untersuchten englischen Gemeinde die LangzeitbewohnerInnen, die die Neuen ausgrenzten und von Ressourcen fern hielten, so scheint aus der Perspektive der Lifestyle MigrantInnen die »frühe« Ankunft in der Gemeinde als ein Stigma zu fungieren. In den Narrationen der beiden Lifestyle Migranten greifen also drei Interpretationsrahmen zusammen: Die soziale Imagination ländlicher Räume als Möglichkeitsräume, das Ideal der Partizipation und die vermeintliche kollektive Entwurzelung und Handlungsunfähigkeit als Langzeitfolgen der Wiederbesiedlung der Region. Hieraus entfalten sich Fremd- und Selbstbilder, die die schichtspezifische Position der neuen lokalen AkteurInnen verdecken und soziale Unterschiede kulturalisieren. Das Othering entlang der genannten Kriterien dient zur Distinktion und zur Begründung von Deutungs- und Machtansprüchen durch Angehörige einer hochreflexiven Gruppe, die mit vielen Ressourcen (Mobilität, Bildung) ausgestattet ist und sich als eine ländliche Avantgarde erfährt. Für die Anthropologie ländlicher Räume eröffnen sich aus dem hier exemplarisch umrissenen Nexus von Mobilität/Migration, ländlichem Wandel und narrativen Grenzziehungen an einem konkreten Ort, der historisch, sozial und ökonomisch situiert ist, zahlreiche Anknüpfungspunkte und weiterführende Fragen. Zunächst wären Fallstudien aus anderen mittel- und osteuropäischen Regionen, die mit Bevölkerungs- und Grenzverschiebungen konfrontiert waren, erkenntnisfördernd, da sie eine Vergleichsbasis schaffen würden. Bedarf besteht auch an einer weiterführenden Untersuchung des Diskurses um das tschechische Grenzland als Raum, der als Anzugspunkt von MigrantInnen zu unterschiedlichen Zeiten jeweils spezifische Subjekte produziert hat, die seine heutige Entwicklung prägen. Im Zuge der Suche nach Erklärungsmodellen für die zum Teil erheblichen sozialen Probleme und den mitunter deutlich höheren Zuspruch für nationalistische und populistische Bewegungen in vielen Regionen des tschechischen Grenzlandes hat sich in den letzten Jahren in Tschechien eine öffentliche Debatte um die Spätfolgen der Vertreibung und der Wiederbesiedlung des Grenzlandes entspannt, die bislang unzureichend von der Kultur- und Sozialanthropologie reflektiert oder kommentiert wird. Kritisch zu hinterfragen, welche milieuspezifischen Narrative des Anderen in diesem Suchprozess sichtbar werden und wie diese sich in Selbstbilder und Praxen der kulturellen Eliten einschreiben, könnte ein wesentlicher Beitrag einer engagierten Kultur- und Sozialanthropologie des östlichen Europas sein. Neben Medienanalysen, Interviews und teilnehmenden Beobachtungen bietet sich hier auch die Analyse von Ego-Dokumenten und aktivistisch-engagierten Texten an (z. B. Selbstrepräsentation in sozialen Medien, Projektanträge oder öffentliche Reden). Weitergedacht stellt sich auch die hier nur in Ansätzen bearbeitete Frage danach, welche Gegennarrative, Umdeutungen und widerständige Praxen möglich sind. Erkenntnisfördernd dürfte auch sein, das Material stärker auf gruppenübergreifende Narrationen und Sichtweisen sowie auf geschlechtsspezifische Deutungen, Erfahrungsräume und Praxen zu prüfen. Zuletzt erscheint es mir angesichts der Tatsache, dass viele der Lifestyle MigrantInnen ihren Aufenthalt in den Gemeinden als ergebnisoffen auffassten und ihre Migration temporär oder unvollständig bleibt,

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gewinnbringend, Lifestyle Migration in ländliche Räume unter dem Aspekt der zeitlichen Dynamik zu untersuchen.

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Fremdes im Eigenen

»It is Jewish, it is Polish, it is European and cosmopolitan at the same time!« »Jewishness« als politische Demonstration im Kontext des polnischen Nationalkonservativismus der Gegenwart Peter F. N. Hörz

Abstract: »It is Jewish, it is Polish, it is European and cosmopolitan at the same time«. Jewishness as a spiritual path, an alternative way of life, and a political statement in the context of present-day Polish national conservatism While for non-Jewish tourists Kazimierz, Cracow’s old Jewish quarter, may appear as an urban space characterized by its quality as a place of remembrance and a Disneyesque theme park of Polish Jewish history, young urban Cracovians perceive it primarily as the city’s vibrant and diverse amusement district. Beyond that the quarter, which was rediscovered as the city’s Jewish district over the last 25 years, also serves as an arena for performative acts for which Ruth E. Gruber has coined the term »Virtually Jewish«: acts of »doing Jewish« per­formed by non-Jewish actors in the halakhic sense of the term. This appropriation of Jewish culture by members of the liberal intelligence can be understood as a search for spiritual pathways aside from predominant Polish Catholicism, as an alternative lifestyle in a society animated with enhanced patriotism and also as a statement against the national conservativism of the ruling PiS-Party and its sociopolitical achievement of national uniformity. Based on observations and narrative interviews carried out in 1992–2017, the paper addresses acts of identity politics, self-images and images of the others of border crossers between different cultures who understand their alterity as a statement for a pluralistic and diverse Polish society.

C afé A riel – eine eigenartige E ntdeckung Vor 25 Jahren, im Januar 1993, machte ich in Krakau eine eigenartige Entdeckung: Eigentlich auf dem Weg in das Ethnografische Museum, überquerte ich – den Stadtplan

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in der Hand – die ulica Szeroka, die Breite Straße, die mehr Platz als Straße ist. Längs der Straße: zwei Zeilen alter Häuser, teils »malerisch«, teils ruinenhaft. Auffällig auf den ersten Blick: Die Polizeiautos vor dem Kommissariat in einem Haus der östlichen Häuserzeile. Auffällig erst auf den zweiten Blick: Der Kerzenschein hinter den Fenstern eines frisch getünchten Häuschens in der westlichen Häuserzeile. Die Aufschrift: Café Ariel. Nach wie vor entschlossen, das Ethnografische Museum zu finden, wagte ich einen Abstecher auf die westliche Straßenseite, lugte durch das Fenster und sah etwas, das es in jener Zeit in Krakau nicht häufig gab – ein Lokal, das »Behaglichkeit« und »Stil« versprach und sich somit von der Kühle spätsozialistischer Cafeterien und der grellen Buntheit postsozialistischer Gastronomie-Neugründungen abhob. Das wirklich Eigenartige dieses Cafés nahm ich indessen erst wahr, nachdem ich eingetreten und in eine Erlebniswelt eingetaucht war, die ich nicht zu entdecken erwartet hatte, weil kein Reiseführer auf ihre Existenz hinwies und niemand davon sprach. Denn das Café präsentierte sich als ein jüdisches, was sich nicht nur an vergilbten Fotos und Grafiken an den Wänden und an der Menora auf der Theke, sondern auch daran festmachen ließ, dass man koscheres Bier 1 ausschenkte und gefillte Fisch servierte. Durch Teilnahme an Lehrveranstaltungen in Wien und Tübingen ein Stück weit mit jüdischer Geschichte und Kultur wie auch mit seinerzeit verbreiteten Formen des Gedenkens und Verhandelns jüdischer Geschichte und Kultur vertraut, war ich mir sicher, etwas Außergewöhnliches entdeckt zu haben – etwas, das »authentisch« wirkte und »Jüdisches« auf »vitale« Weise thematisierte. Man mag darüber lächeln und zweieinhalb Jahrzehnte später schmunzle ich selbst über meine seinerzeitige Naivität, aber mir gefiel dieses Café. Nicht nur weil es draußen bitterkalt und drinnen behaglich war, sondern auch, weil sich dessen Ambiente – der Begriff shabby chic war noch nicht in aller Munde – von den koscheren Restaurants, die ich bis dahin kannte, abhob. Und nachdem mich der Kellner auf ein Klezmer-Konzert hingewiesen hatte, das hier noch am selben Abend stattfinden sollte, verließ ich das Ariel nach einer Stunde, verschob den Besuch des Ethnografischen Museums auf unbestimmte Zeit, eilte zu meinen Krakauer Freunden und kehrte mit ihnen gemeinsam noch am selben Abend wieder, um andächtig den Klezmer-Interpretationen eines aus akademischen Musikern aus der Ukraine bestehenden Quartetts zu lauschen. Was sich an diese Entdeckung anschloss war die sukzessive Erkundung des jüdischen Teils des Stadtquartiers Kazimierz, von dem auch meine Freunde wenig mehr zu sagen wussten, als dass es »früher« jüdisch gewesen sei und seit 1945 vor allem von den »Randgruppen« der sozialistischen Gesellschaft bewohnt werde – nichtjüdischen 1 | Monate später sollte ich lernen, dass das von der Okocim-Brauerei hergestellte und mit dem Hinweis »[i]ch, Rabbiner CWI Abramowicz, bestätige, dass dieses Produkt koscher ist« versehene Abram Kosher-Bier zu den damals besonders populären Bieren in Polen zählte. Ein Umstand, der den französischen Karikaturisten Willem dazu veranlasste, sich im »Liberation« darüber lustig zu machen, dass er in einem Land, in dem 40 Prozent der Bevölkerung angäben, keine jüdischen Nachbarn haben zu wünschen, zuallererst koscheres Bier vorgefunden habe (vgl. Willem 1994: 19).

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»Jüdische« Gastronomie in der ulica Szeroka: Im Bild ganz rechts das Café Ariel, das den Ausgangspunkt des Booms »jüdischer« Erlebnisangebote bildete, sodann von r. n. l.: Aleph (Restaurant und Hotel), Bąbelstein, Awiw, Rubinstein, Klezmer Hois. Foto: Verf., 2007

Randgruppen natürlich.2 Was weiter folgte war die Besichtigung des jüdischen Friedhofs, die Entdeckung baufälliger und ungenutzter Synagogen und einer winzigen Judaica-Buchhandlung sowie der Besuch des jüdischen Museums, das in der Spätphase der Volksrepublik errichtet worden war und von dem kein Reiseführer kündete.3 Eindrücke, die mein Interesse steigerten und meinen Willen bestärkten, wiederzukommen und weiterzumachen, wo ich im Januar 1993 aufgehört hatte. Tatsächlich bin ich seither häufig wiedergekommen – mindestens einmal, mitunter mehrmals im Jahr. Oft als privat Reisender, 1996 als Mitreisender einer von Rabbiner Joel Berger geführ2 | Folgt man den seinerzeitigen Erzählungen über »diese Bevölkerungsgruppen«, so zeichneten sich die Randgruppen durch Alkoholismus und Erwerbslosigkeit aus. Das Anfang/Mitte der 1990er Jahre gratis verteilte englischsprachige Magazin »Inside Krakow« (1994: 4), das neben Werbung auch Hinweise auf aktuelle Kulturveranstaltungen und touristische Tipps enthielt, thematisierte Kazimierz in der mit einem Totenschädel-Symbol (!) markierten Rubrik »[p]laces to avoid«. 3 | Die Suche nach Relikten der jüdischen Geschichte in Krakau gestaltete sich ebenso schwierig wie die Suche nach einschlägiger Literatur: Möglicherweise kompetente (ältere) Personen wollten oft nicht mit mir oder meinen Freunden (über diese Thematik) sprechen, jüngere Menschen verfügten oft nicht über die entsprechenden Kenntnisse. Die wenigen damals bereits erschienenen Schriften zu dieser Thematik waren oft nicht lieferbar. Bis ich die »Krakowskie judaika« (Duda 1991) erwerben konnte, vergingen zwei Jahre.

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ten Seminargruppe des Tübinger Ludwig-Uhland-Instituts, seit 2005 wiederholt als Leiter eigener Exkursionsgruppen, in den letzten zehn Jahren immer wieder vorsätzlich empirisch forschend.4 Im Laufe der 1990er Jahre wurde ich dabei Zeuge eines einzigartigen wirtschaftlichen Booms, der von Akteurinnen und Akteuren getragen wurde, die das jüdisch-kulturelle Erbe als Startkapital nutzten. Ich wurde Beobachter der rapiden Gentrifizierung des Stadtteils und Rezipient kontroverser Stellungnahmen zu den sich dort vollziehenden Dynamiken – Dynamiken, die im Spätherbst 1993 mit der Weltpremiere von »Schindlers Liste« (Spielberg 1993) ihren Ausgangspunkt hatten. Die 2002er Ausgabe des »Lonely Planet«-Führers für Polen fasst treffend zusammen: »During the communist rule Kazimierz was largely a forgotten place on Kraków’s map, partly because the government did not want to touch the sensitive Jewish question. In the early 1990s the suburb slowly made the way onto the pages of tourist publications but its grubby appearance didn’t much help to promote it. Then came Steven Spielberg  […] and everything changed overnight  […]. [»Schindler’s List«] turned the world’s attention to Kraków’s Jewry as a whole […] »Schindler’s Tourism« now draws in crowds of visitors […] to the place, which hardly saw any tourists a decade ago« (Dydynski 2002: 200).

K oscher und » kosher style « Tatsächlich hatte sich zwei Jahre nach meinem ersten Besuch die Anzahl der jüdischen Cafés auf der ulica Szeroka bereits verdreifacht, die Rehmuh-Synagoge und der Friedhof wurden gegen Eintrittsgeld geöffnet, und eine Agentur bot Exkursionen auf Spuren jüdischer Geschichte und zu Schauplätzen von Spielbergs Film an. 1996 als frisch Graduierter mit Rabbiner Berger und der Tübinger Exkursionsgruppe vor Ort,5 vernahm ich, dass sich das Betreiber-Duo des Ariel getrennt hatte, so dass zwei Ariels entstanden waren, eines davon als Teil eines jüdischen Romantik-Hotels, in dem ich – nicht ohne Stolz ob der exklusiven und stimmigen Hotel-Auswahl – ein Zimmer für den Rabbiner reserviert hatte. Mein Stolz sollte jedoch alsbald in sich zusammenbrechen, musste ich doch als Teilnehmer eines Trialogs, an dem der Rabbiner und eine Hotelmitarbeiterin beteiligt waren, zur Kenntnis zu nehmen, dass das jüdische Hotel kein koscheres Frühstück zu servieren in der Lage war, und dass zwischen einem solchen und einem, das nur »kosher style« zubereitet wird, ein durchaus prekärer Unterschied besteht.6 4 | 2015 ausgestattet mit einem Kretzenbacher-Stipendium des Georg R. Schroubek-Fonds Östliches Europa. 5 | Die Exkursion fand vom 17. bis 23. 2. 1996 statt. 6 | In der Lobby des Hotels, die u.a. mit Fotos verziert war, die Steven Spielberg als Gast des Lokals zeigten, sagte die Mitarbeiterin wörtlich: »I am sorry, but we can not serve kosher food«. Den meinerseits vorgebrachten Einwand, dass sich das Haus als »jüdisches Hotel« deklariere, konterte die Mitarbeiterin mit den Worten: »I am really sorry, but what we are serving is not kosher, it is only kosher style« (Notizen,

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Doch damit nicht genug: Im Verlauf der Exkursion wurde ich höchst wirksam meiner Illusionen über die »Vitalität« jüdischen Lebens in Kazimierz beraubt, stellte sich doch heraus, dass weder die Ariel-Betriebe, noch die anderen Unternehmen, die mit dem jüdischen Erbe arbeiteten, von jüdischen Menschen betrieben wurden. Die jüdische Gemeinde erwies sich als kleine Gruppe betagter Menschen, die allesamt nichts mit dem zu tun hatten und haben wollten, was sich entlang der ulica Szeroka entwickelt hatte. Entsprechend zerknirscht schrieb ich 1997 in der »Wiener Zeitung« einen kultur- und kommerzkritischen Artikel über die »jüdische« Kulturindustrie in Kazimierz (Hörz 1997). Diese Kritik bildete nicht nur meine Irritation ab, sondern auch die des Rabbiners, der den Stadtteil als ein »Potemkin’sches Dorf« bezeichnet hatte.7 Fünf Jahre später sollte die in Italien lebende jüdische US-Journalistin Ruth E. Gruber ähnliche Irritationen artikulieren und in ihrem Buch über »Reinventing Jewish Culture in Europe« für das skizzierte Phänomen den Begriff »[v]irtually Jewish« prägen (Gruber 2002). Mit gemischten Gefühlen hatte Gruber wahrgenommen, dass es vielerorts in Europa zu Aneignungen »jüdischer Kultur« durch nichtjüdische Akteurinnen und Akteure gekommen sei, die teils mit dem moralisch begründeten Vorsatz des Gedenkens, teils in kommerzieller Absicht, pflegten, was sie für »jüdische Kultur« hielten.8 Zugleich hatte die Journalistin schon mit ihrem Buchtitel klar zwischen »jüdisch« und »virtuell jüdisch« und – damit implizit verbunden – »Juden« und »virtuellen« Juden unterschieden. Grubers Buch und das in ihm vertretene essentialistische Identitätskonzept ist, wenn man von einem von Klaus Hödl (2005) herausgegebenen Sammelband absieht, in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften weitgehend unbeachtet geblieben. Dies ist umso erstaunlicher als das Unbehagen über die Prozesse in Kazimierz Anfang der 2000er Jahre die Medien erreichte, Henryk M. Broder (2006) den von einem Krakauer Juden geprägten Begriff »Żydoland«9 bekannt machte und die Anthropologin Erica Lehrer (2003), weniger emotional und kulturkritisch, dafür ironisierend und abgeklärt über jene Holzfiguren schrieb, die stereotypisch ostmitteleuropäische Klezmorim und Chassidim abbilden und in Kazimierz an jeder Ecke feilgeboten werden.

20. 2. 1996). Missverständnisse um (scheinbar) koschere Gastronomieangebote thematisiert auch Nina Gorgus (2001) mit Blick auf das Pariser jüdische Viertel le Marais. 7 | Notizen zur Exkursion [P. H.], 22. 2. 1996. 8 | Gruber (2002) selbst erörtert die Frage, was (»jüdische«) Kultur sei nur implizit, indem sie anhand zahlreicher Beispiele aus weiten Teilen Europas darauf verweist, dass nichtjüdische Menschen in ihrem Handeln auf Bestände »jüdischer« Musik (vor allem Klezmer), »jüdischen« Theaters und »jüdischer« Kulinarik zurückgriffen. 9 | Der aus dem polnischen »Żyd« und dem englischen »land« gebildete pejorativ gemeinte Begriff verweist auf die Wahrnehmung von Kazimierz als einen »disneyesken« jüdischen Erlebnispark.

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J ewish S pace , »I ntersection «, Freiraum und L aboratorium Doch gleich, ob man die Verkitschung »jüdischer Kultur« kritisieren und für »seriöses« Erinnern eintreten oder, wie ich, dafür werben möchte, die erlebnisorientierte Darreichungsform jüdischer Kultur als Chance für Bildungsprozesse und die Deessentialisierung von Kultur und Identität zu begreifen10 – fest steht, dass Kazimierz, Dank des breiten Spektrums gewerblicher wie non-kommerzieller Erinnerungsrituale und Folkloreveranstaltungen, im Laufe des skizzierten Prozesses (wieder) zu einem »Jewish space«11 geworden ist: Ein Jewish space, in dem sich – wie in Anlehnung an Joachim Schlör (1997: 209) gesagt werden kann – die Sehnsucht nach Wiederherstellung dessen abbildet, was mit der Shoah zerstört wurde. Und nicht nur das: Angesichts der internationalen Aufmerksamkeit für das jüdische Krakau ist das Viertel auch geworden, was Susan Frohlick (2013: 17  ff.) in anderem Zusammenhang als »busy intersection« bezeichnet hat. Eine »busy intersection« insofern als sich in diesem nur etwa zweieinhalb Quadratkilometer umfassenden jüdischen Stadtraum die Wege unzähliger Menschen unterschiedlichster »Herkunft« und mit verschiedenen Absichten kreuzen: Jüdische und nichtjüdische Touristinnen und Touristen aus weiten Teilen der Welt, Bildungsreisende und Spurensuchende, Geschäftemacherinnen und Geschäftemacher, Kunstschaffende12, Studierende der Judaistik, Akteurinnen und Akteure des »holocaust pilgrimage«13, Kritikerinnen und Kritiker der Gentrifizierung, die die Wiederentdeckung der jüdischen Geschichte des Ortes verfluchen und sozialistischen Zeiten nachtrauern14, party people und Bobos, Mitglieder der jüdischen Gemeinde und Philosemiten, Sushi-Liebhaber, Schwule, Lesben und Transpersonen15. Unterschiedliche Menschen, die am Zusammenspiel von Topografie und Physis, 10 | Siehe auch Hörz 2008; 2010; 2011. 11 | Siehe z. B. Ernst/Lamprecht 2010; Lehrer/Meng 2015. Im kulturanthropologischen Kontext wurden jüdische Räume der Gegenwart auch im Rahmen eines Lehrforschungsprojektes an der LMU München thematisiert – siehe hierzu Habit/Heikaus 2015. 12 | Solange die Immobilienpreise noch günstig waren, ist Kazimierz bevorzugte Adresse für (junge) Künstlerinnen und Künstler gewesen (Działek/Murzyn 2017). Im Laufe des Gentrifizierungsprozesses (aus ökonomischer Sicht beschrieben bei Murzyn 2006) entwickelte sich das Quartier zu einem der teuersten der Stadt. 13 | Zu mitunter aggressiv und provokativ auftretenden (jugendlichen) jüdischen Gruppenreisenden und deren Wahrnehmung in der lokalen Öffentlichkeit siehe Lehrer 2013: 54 ff. 14 | In den 1990er Jahren wurde ich wiederholt Zeuge aggressiven Verhaltens von Stadtteilbewohnerinnen und -bewohnern, die sich verbal gegen fotobegeisterte Touristinnen und Touristen wehrten oder diese mit Kartoffeln bewarfen. Auch die von Rabbiner Berger geführte Tübinger Studierendengruppe geriet seinerzeit zum Ziel verbaler Angriffe (Notizen, 20. 2. 1996, 23. 8. 1996). Siehe hierzu auch Waligórska 2015. 15 | Bis Ende der 1990er Jahre befanden sich die einzigen LSBT-Bars der Stadt in Kazimierz. Auch heute konzentrieren sich hier LSBT-relevante Angebote. In den Jahren 2001–2003 befand sich überdies auf dem Gehsteig in der ulica Miodowa, unmittelbar vor der Tempel-Synagoge, ein Regenbogen-Graffiti mit der

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Diskursen und Performanz mitwirken und einen Raum konstituieren. Dieser Raum ist zugleich eindeutig jüdisch und kosmopolitisch, wobei die Vielfalt der Bilder von »Jewishness« der Diversität der den Raum konstituierenden Akteurinnen entspricht, so dass dieser Jewish space nur als fluider Prozess, nicht als eine festgelegte oder abgeschlossene Entität begriffen werden kann (Gromova/Heintert/Voigt 2015: 13).16 Gleichwohl sind diese Bilder nicht völlig beliebig, sondern Bilder von »Jewishness«. Zum einen weil »Jüdisches« Dank baulicher Zeugnisse und zahlreicher kommerzieller und zivilgesellschaftlicher Angebote omnipräsent ist. Zum anderen, weil diese Angebote von Menschen gemacht werden, die »Jüdisches« zumindest wertschätzen und Menschen anziehen, die sich für »Jüdisches« interessieren.17 Und weil diese Gruppen das Viertel das ganze Jahr über beinahe rund um die Uhr bevölkern und somit die soziale Kontrolle über Straßen und Plätze übernehmen, ist Kazimierz – anders als andere Krakauer Viertel und viele andere Orte in Polen – frei von antisemitischen Graffitis und Übergriffen auf gesellschaftliche Minderheiten. Das jüdische Gepräge des Quartiers schafft somit einen Freiraum für geplante und zufällige Begegnungen von Menschen, die so in anderen Krakauer Stadtteilen nicht möglich wären und, im Nebeneffekt, Entfaltungsräume für Kunst und Tinnef, zivilgesellschaftliche Initiativen, sexuelle Minderheiten, neue Geschäfte und Lokale, die es in Krakau in dieser Kombination nur in Kazimierz gibt. Diese Qualität macht Kazimierz auch zu einem sozialen Ort für Menschen mit Lebensentwürfen, die sich als »non-normativ« oder »alternativ« begreifen lassen, so dass der Stadtteil auch ein Laboratorium ist, in dem sich die Versuchsanordnungen zur Erprobung neuer Lebensweisen im Alltag und die Herausbildung neuer Identitäten arrangieren lassen. Lebensweisen und Identitäten, die (gewollt) »anders« sind als die jener Bevölkerungssegmente, die im Polen der Gegenwart als »normal« verhandelt werden – darunter Lebensweisen, die sich explizit auf Vorstellungen vom Jüdischsein beziehen. Und natürlich sind es wiederum die lebensstilistisch Experimentierenden selbst, welche an der Konstitution von Kazimierz als jüdischem und kosmopolitischem Raum und an seiner Qualität als soziales und kulturelles Laboratorium mitwirken …

Parole »Miłość nie zna granic« [Liebe kennt keine Grenzen]. Bemerkenswert ist nicht nur, dass dieses Graffiti überhaupt entstand, sondern auch, dass es unzerstört blieb und nur allmählich verblasste. 16 | Ich lasse ich mich von Lily Kongs (2001) These leiten, wonach ein (durch Religion oder religiöse Identität definierter) Raum kontingent und offen und mindestens so sehr Ergebnis wie Voraussetzung komplexer sozialer Prozesse ist. 17 | Auch wenn sich Individuen oder Gruppen nicht für jüdische Dinge sondern vielmehr für Antiquitäten, Jazz, asiatische Küche oder LSBT-Bars interessieren und somit das kosmopolitische Gepräge des Raumes zugleich erleben und mit konstituieren, bleibt der Raum dennoch auch ein jüdischer, weil erst die Wiederentdeckung des »Jüdischen« und dessen Revitalisierung die Voraussetzung dafür geschaffen haben, dass der Stadtteil auch ein kosmopolitischer werden konnte.

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»M y life is much different than the average life in P oland « Beispielhaft lässt sich hierfür Tomasz heranziehen, der nicht in Krakau aufgewachsen ist und im Interview18 deutlich machte, dass er größten Wert darauf lege, dass weder seine Herkunftsregion noch sein richtiger Name wo auch immer jemals genannt würden, weil er dies als Sicherheitsrisiko betrachte.19 Im hallachischen Sinne ist Tomasz Nichtjude, denn nur väterlicherseits hat der 1991 geborene Mann jüdische Vorfahren aufzuweisen. Aber auch dies sei bis 2011 in seiner Familie ein wohl gehütetes Geheimnis gewesen und habe, von seinem Großvater kurz vor dessen Tod ausgesprochen, »an explosion in my family« ausgelöst, schließlich sei die offizielle Politik der Volksrepublik, wie auch die öffentliche Meinung im postsozialistischen Polen alles andere als judenfreundlich gewesen. In seiner Familie selbst, so Tomasz, sei vor diesem Hintergrund seit der ersten Aufregung nicht mehr über dieses Thema gesprochen worden, wie auch der kleinbürgerliche und mehr durch »catholic tradition« als durch »real beliefs« geprägte Alltag nicht in Frage gestellt worden sei. Für Tomasz selbst indessen, dessen Coming Out als gleichgeschlechtlich orientierter Mann zeitlich mit der Lüftung des Familiengeheimnisses und der bevorstehenden Aufnahme eines Studiums (verbunden mit dem Auszug aus dem Elternhaus) zusammenfiel, sei die Information über die jüdische Herkunft seiner Familie Ausgangspunkt eines verstärkten Interesses an jüdischer Kultur und Geschichte gewesen: Eine mit Lektürestudium und mit der Wahrnehmung von Bildungsangeboten verbundene Auseinandersetzung mit jüdischen Themen, in deren Verlauf sich herauskristallisiert habe, dass der Glaube seiner längst verstorbenen jüdischen Familienmitglieder der für ihn richtige Glaube sei. Und zwar ungeachtet dessen, dass konservative Juden gleichgeschlechtlichen Lebensformen gegenüber wenig Toleranz zeigten. Mit diesen »conservatives«, die Tomasz vor allem in der jüdischen Gemeinde verortet sieht, habe er im Alltag jedoch wenig Berührungspunkte, da seine »Gemeinde« das weltoffen-konziliante Jewish Community Center sei, das von dem als liberal beschriebenen, aus New York nach Krakau zugewanderten Jonathan Ornstein geleitet wird. Vorbehalte wegen seiner im hallachischen Sinne nichtjüdischen Herkunft habe Tomasz somit nicht erlebt, was aus seiner Sicht aus dem Gemeinschaftserlebnis des Marginalseins resultiert, denn: »In today’s Poland we are all scorned […] Jews, gays, and open minded people in general«. Meine Frage, inwiefern sich das heutige Polen von anderen polnischen Verhältnissen in der Geschichte unterscheide, konterte der junge Mann mit dem Verweis auf das 16. Jahrhundert, als Polen als des Juden Himmelreich und Krakau als Stadt und Mutter Is18 | Mit den Akteurinnen und Akteuren habe ich narrative Interviews von einer Dauer zwischen eineinhalb und vier Stunden geführt (teilweise mit Tonaufzeichnung). In allen Fällen wurden am Tag oder Folgetag des Gesprächs Notizen angefertigt. Das Interview mit Tomasz fand am 2. 7. 2015 statt. Hier und im Folgenden stütze ich mich auf Notizen vom 3. 7. 2015 und auf auszugsweise Transkriptionen aus der Tonaufzeichnung. Eine weitere »zwanglose« Unterhaltung mit Tomasz und Paulina ergab sich am 26. 8. 2015. 19 | Tomasz’ Sicherheitsbedenken sprechen für sich. Auch alle anderen Akteurinnen und Akteure, auf die ich in diesem Text Bezug nehme, wurden pseudonymisiert.

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raels20 gegolten hatten. Ich sollte mir nämlich, so Tomasz in diesem Zusammenhang, nicht vorstellen, dass die Historie Polens nur von dunklen Perioden gekennzeichnet gewesen sei. Diese seien zwar zahlreich in der Geschichte; in einigen Perioden jedoch sei Polen allen anderen europäischen Staaten »in its level of civilization«, der sich in einem symbiotisch-multikulturellen Zusammenleben unterschiedlicher Gruppen von Menschen ausgedrückt hätte, überlegen gewesen. Dies sei nicht nur an den goldenen Zeiten der jüdisch-christlichen Zusammenlebens in Polen zu belegen, sondern auch daran, dass die polnisch-christliche Bevölkerung »peaceful and without problems« mit den muslimischen Lipka-Tataren zusammengelebt hätte, die vor 600 Jahren immigriert seien und noch heute im Land lebten.21 Auf solche multikulturellen »original Polish traditions« und darauf, dass die dunklen historischen Epochen vor allem deshalb dunkel gewesen wären, weil »foreign kings or other states like Russia, Austria or Germany« über das Land geherrscht hätten, müsse verstärkt hingewiesen und deutlich gemacht werden, dass Polen auch heute eine fortschrittliche Rolle in Europa spielen könnte, wenn es sich nur seiner eigentlichen Qualitäten erinnerte. So lange im Land jedoch eine »neo-fascist« Regierung herrsche, ginge es darum, zu argumentieren, aufzuklären und ungebildete Menschen auf Epochen hinzuweisen, welche die eigentlichen »prime ages« des Landes gewesen seien. In der Praxis bilde sich dies darin ab, dass er mit Menschen, welchen er ein Mindestmaß an Toleranz und Bildung unterstellt – seinem Umfeld an der Universität oder Menschen, die bewusst Informationen über jüdische Geschichte und Kultur suchten – genau darüber spräche und deutlich mache, dass es historische Vorbilder für alternative Entwürfe einer vielfältigen und toleranten polnischen Gesellschaft in Gegenwart und Zukunft gäbe. In seinem alltäglichen »doing Jewish«22 hat der junge Mann – so ließen sich Tomasz« Darlegungen zusammenfassen – im Verlauf von zwei Jahren einen Transformationsprozess durchlaufen, der ihn vom polnischen »average young man« zu einem Menschen gemacht habe, der seine Zugehörigkeit zu einer marginalisierten religiös-kulturellen Minderheit und zu einer mindestens ebenso marginalisierten sexuellen Minderheit entdeckt habe.23 Beide Gruppenzugehörigkeiten anthropologisiert 20 | Vgl. Kłanska 1994: 18 f. 21 | Zu dieser Bevölkerungsgruppe, auf die sich nach den Anschlägen vom 11. 9. 2001 eine Zeit lang die Aufmerksamkeit der polnischen Medien richtete, siehe zum Beispiel Dziekan 2011; Warminska 2014. 22 | Tomasz versteht sich als gläubig, begeht den Sabbat und andere Feiertage und »orientiert« sich an den Speisevorschriften. 23 | Tatsächlich darf unterstellt werden, dass der Grad der Feindseligkeit gegenüber LSBT-Personen jenen gegenüber jüdischen Menschen übertrifft: So wird vergleichsweise häufig über gewalttätige Übergriffe auf LSBT-Personen berichtet, für jüdische Einzelpersonen oder Gruppen ist dergleichen jedoch nicht bekannt. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass sämtliche jüdische Einrichtungen in Kazimierz– anders als in vielen anderen europäischen Städten – ohne Sicherheitspersonal und Polizeipräsenz auskommen. Ebenso auffällig ist, dass LSBT-relevante Einrichtungen im öffentlichen Raum eher diskret markiert sind und meistens von einem Türsteher geschützt werden. Zur Situation von LSBT-Personen in Polen siehe zum Beispiel Amnesty International 2006. Überdies bietet eine regelmäßig aktualisierte und mit zahlrei-

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Tomasz insofern, als er sie als durch sein Schicksal vorbestimmte Eigenschaften hält. Mit beiden Eigenschaften geht Tomasz in der Öffentlichkeit vorsichtig um – mit seiner sexuellen Orientierung auch in Kazimierz. Seine als solche empfundene Gruppenzugehörigkeit zur polnisch-jüdischen Bevölkerung indessen trägt er zumindest in den »geschützten« sozial-räumlichen Kontexten von Kazimierz und der Universität durchaus selbstbewusst nach Außen und verkörpert damit ein auch und gerade politisch zu begreifendes »Anderssein«, das sich allgemein auf (katholisch-)polnische »Normalität« und , ganz besonders aber auf die Realitäten in PiS-Polen24 bezieht und diesen im Bekenntnis »I am Jewish« einen alternativen Lebensentwurf entgegenstellt. Dass dies im Falle von Tomasz, der politische Protestmärsche meidet, weil er Ausschreitungen fürchtet, mit einem auf Kazimierz und die Universität beschränkten Radius geschieht, stellt diese Deutung nicht in Frage, ginge es ihm doch, wie er sagt, darum, diese beiden Schutz- und Freiräume zugleich zu nutzen, zu erhalten und mit zu gestalten. Freiräume, in welchen andere Werte Verbindlichkeit hätten als andernorts in Polen. Freiräume, in welchen ein Leben gelebt werden könne wie das von Tomasz, wie er selbst sagt: »As you may have noticed, my life is much different from the average life in Poland: I am Jewish; and I am gay and while other people may go out to party, I am attending classes in Yiddish. I travel and I speak three languages – and in fall I will start to study Hebrew too … Insofar my life is quite different … It is Jewish, it is Polish, it is European and cosmopolitan at the same time.«

Zumindest den jüdischen Anteil dieses »anderen Lebens«, das Tomasz verkörpert, stellt er in den sozialräumlichen Kontexten zur Schau, die ihm hierfür hinreichend sicher erscheinen. Dass er diese Form politischen Handelns auf Grund seiner Wahrnehmung der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Realitäten nur an der Universität und in Kazimierz ausüben kann und damit primär Personen erreicht, die ohnehin bereits als vergleichsweise tolerant verstanden werden können, ist Tomasz bewusst, doch sei Toleranz weder gleichbedeutend mit Wissen über (polnisches) Judentum in Vergangenheit und Gegenwart noch mit einem aktiven Eintreten für eine offene und vielfältige Gesellschaft. Nicht zuletzt aber gelte es auch, den kommerziellen und kitschigen Angeboten, die »Jüdisches« nur unter den Gesichtspunkten der Nostalgie und der Exotik präsentierten, etwas Seriöses entgegenzusetzen und das Missverständnis auszuräumen, »that Polish Jewry is only a phenomenon of the past, that is displayed in museums or discussed in history books«.

chen Verweisen auf Dokumente und Pressebeiträge ausgestattete Wikipedia-Seite (2018) einen Überblick über die Verhandlung von LSBT-Rechten in Polen. Siehe auch die Beiträge von Agnieszka Balcerzak und Julia Austermann in diesem Band. 24 | Die Regierungspartei PiS (Prawo i Sprawiedliwość) [Recht und Gerechtigkeit] ist eine rechtsgerichtete Partei. Sie wird als EU-skeptisch, nationalkonservativ, christdemokratisch und (rechts-)populistisch bezeichnet.

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»B uilding a J ewish future in K raków « Letzteren Satz würden vermutlich die meisten meiner Gesprächspartnerinnen und -partner in dieser Form unterschreiben. Und auch Tomasz« Statement wonach sein Leben zugleich ein jüdisches, polnisches und kosmopolitisches sei, würden sich etliche der beforschten Personen anschließen. Denn mag im Einzelfall auch der spirituelle Weg des Jüdischseins, der für Tomasz große Relevanz hat, von geringerer Bedeutung sein, so ist es dennoch die Amalgamierung von Vorstellungen vom »Jüdischen« mit solchen des multikulturellen Zusammenlebens, und der Weltoffenheit, die in den Narrativen rund um »das Judentum« immer wieder vorkommen und somit offenbar die Attraktivität des »Jüdischen« mit bedingen. Dies gilt definitiv für Marta (31),25 die für sich in Anspruch nimmt, »European values« zu verteidigen und für ein weltoffenes Polen einzutreten.26 Dass die offizielle Politik in Polen bislang nicht durch Antisemitismus, sondern »nur« durch Antiislamismus aufgefallen ist, sei für Marta kein Zeichen dafür, dass die PiS-Partei etwas Weltoffenes aufweise, weswegen sie – anders als Tomasz – auch jenseits von Kazimierz selbstbewusst als deklarierter Teil der »Jewish community« auftrete und keiner Diskussion aus dem Wege gehe. Zudem müsse ich – so Marta im Blick auf die PiS-Partei – begreifen, dass die Basis der Partei wie auch ihre Wählerschaft gegen alles seien, »what appears to be different in any way«. Und wenn es in der Partei selbst und in ihrem Umfeld tatsächlich um »Recht« und »Gerechtigkeit« ginge, dann bezöge sich dies ausschließlich auf weiße, katholische Menschen polnischer Abstammung, nicht aber auf Menschen, die diesem Bild nicht entsprächen. Zum Zeitpunkt unseres ersten Gespräches lagen ihre ersten Annäherungen an jüdische Kultur und jüdische Menschen bereits mehr als zehn Jahre zurück, wobei sich diese Annäherungen zunächst auf die Teilnahme an Kultur- und Bildungsveranstaltungen beschränkt hätten, ehe Marta »volunteer« im Jewish Community Center geworden ist, bei der Veranstaltung von Seniorennachmittagen mitgeholfen und als Zuhörerin der biografischen Erzählungen betagter Menschen viel gelernt hätte: viel über tragische Schicksale, über Einsamkeit und Ängste, aber auch über den Lebenswillen jenes Teils der jüdischen Bevölkerung Polens, die es nach 1945 nicht nur ausgehalten habe, »to live on a gigantic mass grave«, sondern auch nach dem »anti-Semitic turn of the communist party« in den späten 1960er Jahren dem Land immer noch nicht den Rücken gekehrt hätten.27

25 | Einer ersten Begegnung am 9. 7. 2015 folgten Interviews am 12. und 26. 7. 2015 sowie 7. 2. 2016. 26 | Interview vom 12. 7. 2015, Notizen vom selben Tage. 27 | Ob sich der Antisemitismus im Kontext der Polska Zjednoczona Partia Robotnicza (Polnische vereinigte Arbeiterpartei) als plötzlicher »turn« darstellen lässt oder vielmehr eine längere Geschichte hatte, muss hier nicht verhandelt werden, weil es um Martas Sicht der Dinge geht. Was sie als »turn« beschreibt ist eine Überlagerung der offiziellen Parteinahme zugunsten der Palästinenser und des propagierten Antizionismus infolge des Sechstagekriegs (1967) mit der in Staats- und Parteiführung aufgestellten Behaup-

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Selbst atheistisch erzogen, habe Marta zunächst Vorbehalte gegenüber dem Judentum als religiösem Weg gehabt; zugleich aber sei sie fasziniert gewesen von einer Kultur, die in der Diaspora immer »counter culture« gewesen sei und für jede alltägliche Problemstellung und jede philosophische Frage eine weise Antwort entwickelt habe und nur deshalb in der Diaspora habe überleben können, weil Juden stets – auch über territoriale Grenzen hinaus – Solidargemeinschaften gebildet hätten. Und genau diese Solidargemeinschaft ließe sich auch heute wieder dort ausmachen, wo jüdische oder der jüdischen Kultur verbundene Menschen in Krakau zusammenkämen um das zu tun, was auf den T‑Shirts steht, die die »volunteers« des Community Centers gerne tragen und das Marta auch bei unserer ersten Begegnung trug28: »Building a Jewish future in Cracow«. Dabei spiele es keine Rolle, ob die Menschen, die diese Solidargemeinschaft formierten, Juden im hallachischen Sinne seien oder sich einfach »jüdisch« fühlten. Vielmehr komme es darauf an, dass die gemeinschaftlich avisierte Zielsetzung, die darin bestünde, die Jahrhunderte lange Geschichte der Juden in Polen in die Zukunft fortzusetzen und zu verhindern, dass diese Geschichte mit dem Tod der Überlebenden der Shoah und ihrer Kinder, die in den 1960er und 70er Jahren nicht ausgewandert seien, ihr Ende fände. Zugleich käme es Martas Worten zufolge darauf an, zu zeigen, dass Polen »much more colorful and diverse« sei als der rechtskonservative polnische Mainstream und der – aus ihrer Sicht – zum sinnentleerten Bekenntnis degenerierte polnische Katholizismus es gerne hätten. Und weil »das Judentum« in sich – anders als »die Katholiken« – wenig allgemein verbindliche Dogmen kenne und nicht von einem Zentrum aus dirigiert würde, sondern in viele unterschiedliche Gemeinden unterschiedlicher Strömungen gegliedert sei, sei das Judentum als solches bereits ein Musterbeispiel für eine Gesellschaft, die sich durch Debattenkultur und Meinungsvielfalt auszeichne. Dies gelte für das durch die Shoah zerstörte historische »Judentum«, und dies gelte auch »for all the diverse women and men, who are celebrating Jewishness in Kraków today«.29 Mit den Jahren in den jüdischen Kalender, in Rituale und Handlungsweisen »der Juden«30 hineingewachsen, lebt Marta heute, wie sie sagt, einen nicht besonders religiösen, jedoch an »Traditionen« orientierten jüdischen Alltag, in dem nicht koscher, wohl aber häufig nach »jüdischen« Rezepten gekocht werde, in dem die jüdischen Feste im Jahreslauf eine größere Rolle spielen als die nichtjüdischen und in dem der Freundeskreis hauptsächlich aus Menschen besteht, die selbst Jüdischsein verkörpern oder sich dem Judentum verbunden fühlen. Dies sei deshalb von Vorteil, weil dann klar sei, dass diese Menschen kein Teil jener Bevölkerungskreise seien, die keine jüdischen Menschen in ihrer Nähe haben wollten. Nicht weniger klar sei dann auch, tung, dass die März-Unruhen des Jahres 1968 von jüdischen Akteuren maßgeblich mitbestimmt gewesen seien. Siehe hierzu zum Beispiel die Beiträge des von Kosmala (2000) herausgegebenen Sammelbandes. 28 |  Anders als Marta tragen etliche andere volunteers dieses T‑Shirt nur in Kazimierz. 29 | Interview vom 26. 7. 2015, Notizen vom 27. 7. 2015. 30 | Genau genommen hineingewachsen in ein urban-liberales, eher säkularisiertes Judentum wie es in Krakau – jenseits des Judenviertels Kazimierz (!) – Anfang des 20. Jahrhunderts lebte.

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dass diese Menschen sich gemeinsam für Polen eine Zukunft wünschten, die anders aussieht als die PiS-polnische Gegenwart. Dass die Umsetzung dieses Wunsches eine »Sisyphean task« ist, ist Marta bewusst, doch Mehrheiten seien stets bestimmten Bewusstseinslagen geschuldet, die wandelbar seien. Dies zeige das Beispiel »Kazimierz« auf eindrucksvolle Weise, sei hier doch seit der politischen Wende ein Ort entstanden, der früher nicht weniger antisemitisch gewesen sei als der polnische Mainstream. Heute indessen sei das Viertel ein Ort, an dem mehr Freiheit herrsche als anderswo in Polen, und wiewohl andere sich verändernde Stadtteile nicht unbedingt jüdische Orte seien, strahle der »spirit of Kazimierz« zwischenzeitlich auch in andere Quartiere aus.31

»You have to talk about J edwabne « Auf den ersten Blick wenig Gemeinsamkeiten mit Tomasz und Marta hat Paulina aufzuweisen: Nicht nur, weil sie mit 43 Jahren deutlich älter ist als alle meine Interviewpartnerinnen und -partner, sondern auch, weil ihre heutige Zielsetzung weniger an tagespolitischen Ereignissen, als an langfristigen Entwicklungen und daran orientiert ist, was sie das »conscience of the nation« nennt. Natürlich wünscht sich Paulina, die »those periods in my life, when I wished I was Jewish […], when I started to feel Jewish and […] to express myself in a Jewish manner« inzwischen hinter sich gelassen habe und sich heute schlicht als »female human being« verstehe, die unverzügliche Rückkehr Polens in den Kreis der »civilized European states«.32 Dies sei aber ebenso wenig realistisch wie die Vorstellung, dass die PiS-Partei den Kern des polnischen Problems mit Juden und anderen Minderheiten bilde. Dieser liege tiefer als viele Menschen annähmen, habe doch die polnische Geschichte seit 1945 gezeigt, dass sich Polen stets nur als Opfer darstellen wolle und nie Verantwortung für das übernehmen wolle, was Einzelne, Gruppen oder die gesamte Nation zu bestimmten Zeiten auch gewesen seien: »Perpetrators, collaborators, and paid or unpaid helpers in respect of the persecution oft the Jews.« Diese hätten in Polen zwar auch goldene Zeiten erlebt, wovon Kazimierz und sein Friedhof zeugten, auf dem brillante Rabbiner begraben seien, die heute noch von gläubigen Juden aus den USA und Israel wertgeschätzt würden; dies gelte aber nur für einige lang vergangene Abschnitte der Historie. Für jüngere historische Epochen könne man dies definitiv nicht behaupten, »but nobody in this country was ever willing to talk about it – not during the ›red years‹ 33 […], not after communism finally collapsed […] not until today. […] We had pogroms in the 18 th and 19 th century, we had anti-Semitism throughout the 20 th century, we had traitors during the [German] occupation, we had 31 | Interview und Notizen vom 12. 7. 2015. 32 | Interview vom 18. 7. 2015. 33 | Direkte Übersetzung des umgangssprachlichen Begriffs »czerwony lata« (rote Jahre) für die Periode der Volksrepublik Polen.

158 | Peter F. N. Hörz ›Jedwabne‹ 34, and we had the communist anti-Semitism. But nobody knows or nobody wants to know, and nobody wants to talk about it … But if you want to know what is wrong with this sick country you have to talk about Jedwabne … about collaboration and Polish anti-Semitism!« 35

Ihre Mission sieht Paulina somit vor allem darin, jene unbequemen »historical facts« anzusprechen, die in der polnischen Gesellschaft häufig ausgeblendet bleiben und eine Vergangenheitsbewältigung voranzutreiben, von der sie sagt, dass sie »überall« (Deutschland, Frankreich, Österreich) ehrlicher sei als in Polen, wo man sich stets zugleich als das einzig wirkliche Opfer der Geschichte darzustellen versuche und permanent über die Heldentaten derer sprechen wolle, die in das nationalkonservative Bild passten. Mit dieser Position ist Paulina freilich schon öfter angeeckt – in der Universität, an der sie einige Semester lang auch Geschichte studiert hat, in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld, mitunter aber auch im Kontext derer, mit deren Anliegen sie durchaus eine Schnittmenge hat: Mit Tomasz habe sie bereits häufig gestritten36, halte sie doch dessen Religiosität für eine Flucht vor den Realitäten im Lande und seinen Verweis auf die guten Seiten der polnischen Geschichte für den Ausdruck einer Hoffnung auf einen »verlogenen« gesellschaftlichen Konsens. Am Ende lieferten derlei Erzählungen über die guten judenfreundlichen Perioden der polnischen Geschichte doch nur einen weiteren Grund, die Nation zu glorifizieren. Vor diesem Hintergrund könnte man annehmen, dass Paulina mit Kazimierz und der dort verbreiteten Präsentation jüdischer Kulturgeschichte hart ins Gericht ginge. Dies ist aber durchaus nicht der Fall. Vielleicht weil sich in Paulinas Erinnerung ein Hauch von Sentimentalität einschleicht, wenn sie davon berichtet, dass sie selbst  – damals in ihren Zwanzigern – Touristinnen und Touristen durch das Viertel geführt 34 | Infolge des Hitler-Stalinpaktes zur Sowjetunion gelangt, war die im Nordosten von Polen gelegene Kleinstadt Jedwabne am 10. 7. 1941 (nach Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion) Schauplatz eines von Angehörigen der nichtjüdischen Bevölkerung verübten Massakers an Jüdinnen und Juden des Ortes. Zu Zeiten der Volksrepublik wurde für diesen Vorfall stets die bereits am Ort präsente deutsche Besatzungsmacht verantwortlich gemacht, wiewohl 1949 in einem Strafverfahren etliche polnische Bürger verurteilt worden waren. Nach der »Wende« pluralisierte und polarisierte sich der Diskurs über das Pogrom. Aktuell ist davon die Rede, dass das so genannte »Holocaust-Gesetz«, das Personen, die Polen in die Nähe der NS-Verbrechen rücken, mit Freiheitsstrafen droht, auch dazu dienen soll, den Diskurs über die Rolle polnischer Staatsangehöriger bei dem Pogrom »abzuwürgen«. Zu Jedwabne siehe zum Beispiel Gross, J. 2001; Kowitz 2004; Polonsky/Michlic 2004. Stellvertretend für die Presseberichte über das »Holocaust-Gesetz« sei auf Zeit Online (2018) verwiesen. 35 | Interview vom 18. 7. 2015. Tatsächlich wurde in den letzten 20 Jahren über Jedwabne gerade nicht geschwiegen – zumindest nicht in allen gesellschaftlichen Kontexten. Gemeint ist von Paulina, dass ein breiter öffentlicher Diskurs über das Massaker ebenso ausbleibe, wie die offizielle Ankerkennung moralischer Verantwortung. 36 | Eine solche Kontroverse zwischen Paulina und Tomasz entspann sich angesichts des zu dritt geführten Gesprächs vom 26. 8. 2015.

»It is Jewish, it is Polish, it is European and cosmopolitan at the same time!« | 159

und mitunter in einem »Jewish themed café« ausgeholfen habe und davon, dass in den 1990er Jahren in diesem Stadtteil vieles möglich gewesen sei, weil ungeklärte Eigentumsverhältnisse und andere administrative Unklarheiten die Chance geboten hätten, einfach »etwas« zu tun. Dabei seien es gerade auch die vielfach kritisierten Unternehmerinnen und Unternehmer gewesen, die mit Hilfe der jüdischen Geschichte und Kultur etwas zustande gebracht hätten, was sonst nie zustande gekommen wäre: einen massenhaft besuchten Ort, an dem Jüdisches thematisiert würde. Im Rückblick auf die 1990er Jahre sagt Paulina: »Those people who did something in respect of things Jewish were the businessmen, not the municipal administration … The administration was not interested in anything Jewish and if they would have started something, it would have been something that aims to point out the glory of the Polish nation. Imagine what would have happened if the administration would have taken over the responsibility back then [in the 1990ies]  … Probably nothing! At least not something that puts Jews in the center of attention  […]. As you can see in the Schindler-museum, they 37 are just not willing to place the Jewish victims in the center of attention …38 They pretend to focus the Jews, but actually they are focusing the [non-Jewish] Polish victims.« 39

J üdische S ichtbarkeit Ein junger Mann und zwei Frauen – die eine Anfang dreißig, die andere zehn Jahre älter. Drei Menschen mit unterschiedlichen Biografien – alle nichtjüdisch im hallachischen Sinne und doch eng verbunden mit »dem Jüdischen« und damit mit dem »virtually Jewish« im Sinne von Gruber (2002) – zugleich in ihrem »doing Jewish« vielleicht nicht weniger jüdisch wie manch andere Juden, deren Jüdischsein hallachisch begründet ist. Und sieht man von soziodemografischen und biografischen Details ab, so ließe sich dies im Grundsatz auch für andere Interviewpartnerinnen und -partner, aus jüngerer oder älterer Zeit konstatieren, denn sie alle bewegten sich 37 | Das »they« bezieht sich auf die Macherinnen von Ausstellungen und Gedenkprojekten, die von Stadtgemeinden, Wojewodschaften oder der Zentralregierung initiiert werden. 38 | Tatsächlich thematisiert die Dauerausstellung im Oskar-Schindler-Museum, das zum Historischen Museum der Stadt Krakau gehört, primär die Historie der Okkupation im weitesten Sinne und – in diesem Kontext – auch den Umgang mit der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung. Die Figur von Schindler, die jüdischen Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter, nehmen hierbei nur einen verhältnismäßig kleinen Raum der Gesamtpräsentation ein. 39 | So gesehen wäre Kazimierz in seiner heutigen Gestalt – als Jewish space, Freiraum und Experimentierfeld letztlich eine Folge der in (auch) kommerziellem Interesse vorangetriebenen Re-Formation des Quartiers als ein jüdisches. Und wiewohl die kommerziellen Angebote heikle Fragen wie jene zu Jedwabne freilich auch nicht thematisierten, so ließe sich dennoch argumentieren, dass diese Angebote zumindest die Voraussetzung geschaffen haben, dass diese Fragen schließlich doch noch (von einer Minderheit) der Akteurinnen und Akteure angesprochen worden sind.

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irgendwo zwischen possessiven Identifikationen und »appreciating Jewishness« auf der einen und dem informellen oder gar formellen Grenzgang zwischen den Kulturen auf der anderen Seite. Verstehen ließe sich dieses Phänomen sicherlich als distinktive Praxis im Sinne des Habitus-Konzepts von Pierre Bourdieu (1982), das sich dann anbietet, wenn man die praktizierte »Jewishness« als einen (in Bezug auf polnische »Normalitäten« »alternativen«) Lebensstil begreift, der sich dadurch auszeichnet, dass über das Feiern »anderer« Feste, das Praktizieren bestimmter Rituale, die Präferenz für eine »jüdisch« inspirierte Küche und spezifische Gesprächsthemen distinktive Praxen ausgeübt werden. Verstehen ließe sich das Phänomen auch unter dem Gesichtspunkt spätmoderner Sinnsuchen nach dem von Jean-François Lyotard (1999) konstatierten Verlust der großen Erzählungen, von dem sich sagen ließe, dass er im postsozialistischen Polen besonders dramatisch auftritt, weil der Sozialismus diskreditiert und die gegen den Sozialismus gerichteten Erzählungen von Solidarność und katholischer Kirche obsolet geworden sind und der polnische Nationalkonservativismus der Gegenwart für liberal denkende (urbane) Eliten – und diesen lassen sich alle beforschten Akteurinnen und Akteure zuzählen – kein attraktives Angebot macht.40 Doch soll es mir – angesichts des Generalthemas dieses Buches – weniger um die lebensstilistischen Aspekte des Phänomens und die mit diesem verbundene Sinnsuche gehen. Vielmehr möchte ich das Phänomen, wie ich es entlang der mit Tomasz, Marta und Paulina geführten Interviews skizziert habe, ein Verstehensangebot machen, das die Handlungsweisen der Akteurinnen und Akteure in Anlehnung an George Herbert Mead (1934: 152 ff.) als »play« begreift, das darin besteht, dass die oder der signifikante Andere performiert wird. Dabei verharrt das Spiel aber nicht an der Oberfläche der Darstellung, sondern nimmt, wie im Falle des bei Mead primär verhandelten Kindes, das die signifikanten Anderen innerhalb seines Horizontes verkörpert, einen Perspektivwechsel im Blick auf das Selbst- und Fremderleben vor. Damit korrespondiert dieses Spiel mit dem, was Naomi Seidman (1998: 266) als »[p]olitics of [v]icarious [i]dentity« begreift, die darin besteht, sich gegenüber dem bisherigen, »angeborenen« Selbst zu verfremden, sich neu zu verorten und sich am »struggle for ›someone else‹« zu beteiligen. Dabei werden die Anderen imitiert, nacherlebt und repräsentiert, wird die Sache der Anderen zur eigenen gemacht und, wie in Meads Theorie, das wahrgenommen, was zwischen dem durch das Spiel geschaffenen Ich und den Anderen (einschließlich des »angeborenen« Ichs) vorgeht.41 Dass dieses Spiel Lücken und Brüche aufweist, stets imitativ ist und nie »perfekt« gelingt, weil das spielende Subjekt die signifikanten An40 | Nicht weniger als eine Form des Umgangs mit dem Verlust großer Erzählungen ließe sich das Phänomen als eine von den Spezifika der polnisch-postsozialistischen Gesellschaft mit bedingte Form spätmodernen Kontingenzmanagements (Gross, P. 2001) begreifen, das neue Gewissheiten in einer als kontingent erlebten Welt zu schaffen hilft. 41 | Begreift man dieses Spiel in Anlehnung an jüngere Überlegungen zur Gewinnung von Geschlechtsidentität (z. B. Butler 2009) als zentrales Moment bei der Herausbildung von Identitäten im Allgemeinen, so wird einerseits das grundsätzlich Imitative wie auch das grundsätzlich Kontingente in der Identität of-

»It is Jewish, it is Polish, it is European and cosmopolitan at the same time!« | 161

deren nur so gut spielen kann wie es diese versteht und die zur Verfügung stehenden Ressourcen erlauben42, ist nachvollziehbar. Nachvollziehbar ist auch, dass die kulturelle Neuverortung nicht notwendigerweise zu einem abgeschlossenen Transformationsprozess führen muss, sondern (vorläufig) in einem uneindeutig-transformatorischen »Dazwischen« (Marta) enden kann. Und nachvollziehbar ist nicht zuletzt, dass dieses Spiel irgendwann abgebrochen werden kann, wie das Beispiel Paulina zeigt. Aber selbst dann scheinen, wie wiederum an Paulina zu sehen ist, Sympathie und Empathie für die und Solidarität mit den signifikanten Anderen aufrecht zu bleiben, weil im »play« deren Weltsicht nacherlebt worden ist. Die nachempfundenen signifikanten Anderen erhalten in diesem Spiel ihre Signifikanz dadurch, dass sie Traditionen, religiöse Bekenntnisse oder kulturelle Merkmale verkörpern, die sich von jenen unterscheiden, die das »angeborene Eigene« auszeichnen, von dem sich das Subjekt distanziert und distanzieren will, weil die polnische Gesellschaft diese Merkmale (nicht erst, aber besonders in PiS-Polen) gegenüber jenen der Anderen ausspielt. Die Handlungen in den jüdischen Alltagen von Tomasz und Marta43 lassen sich demnach verstehen als Distanznahme von dem, was »normale« zeitgenössische polnische Alltage auszeichnet und als Teil einer Lebensführung, die modellhaft für eine andere, eine bessere, weil durch religiösen, lebensstilistischen und kulturellen Pluralismus ausgezeichnete, polnische Gesellschaft steht. Indem dieses Spiel jedoch nicht ausschließlich im Privaten, sondern mehr oder minder sichtbar gespielt wird,44 ist dem Spiel auch ein suggestiver Charakter zu eigen, der darauf abzielt, Pluralität und Diversität für »Dritte« (positiv) erlebbar zu machen und somit dazu anzuregen, Normalisierungs- und Homogenisierungstendenzen im Kontext der vom Nationalkonservatismus gekennzeichneten polnischen Gegenwartsgesellschaft zu hinterfragen. Mit ihrer Präsenz in Kazimierz (oder anderen Orten), mit ihren Aktivitäten, Diskussionsbeiträgen (Tomasz, Marta und Paulina) und ihrem Auftritt als Jüdin und Jude (Marta und Tomasz) machen sich die Akteurinnen und Akteure für »Dritte« sichtbar, was sie zugleich zu Demonstrantinnen und Demonstranten für die zur eigenen Sache gemachten Sache macht, die »eigentlich« Sache der Anderen wäre.45 Auf diese Weise demonstrierend tragen Menschen wie Tomasz, Marta und Paulina dazu bei, dass Menschen, deren Wege sie (in Kazimierz) kreuzen, dazu motiviert werden, Selbst- und Fremdbilder zu reflektieren, erhärtete Lesarten von Geschichte in Frage stellen und dazu, dass Räume entstehen, in welchen, wie bell

fenbar und es wird deutlich, dass die Vorstellung von »virtuellen Jüdinnen/Juden«, der notwendigerweise stets »authentische Jüdinnen/Juden« gegenüberstehen muss, in eine Sackgasse führt. 42 | Ein gutes Beispiel für das Problem der Ressourcen bildet die Frage nach der (wirtschaftlich machbaren) Beschaffung und Verfügbarkeit koscherer Lebensmittel. 43 | In einem früheren biografischen Abschnitt trifft dies auch für Paulina zu. 44 | Sichtbar zumindest auf dem Schauplatz Kazimierz, teils auch darüber hinaus. 45 | Zum Verhältnis von Sichtbarkeit und Macht, beziehungsweise Selbstermächtigung siehe Mesquita 2008; Fuchs 2016.

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hooks (1992: 36) in verwandtem Zusammenhang schreibt, »boundaries can be transgressed and new and alternative relationships can be formed«.

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Die Unsichtbaren? Zur Wahrnehmung christlicher Minderheiten am Beispiel der Griechen von Istanbul Sebastian Gietl

Abstract: The Invisibles. On the perception of Christian minorities in Istanbul, on the example of the Greeks and Armenians Over recent decades, nearly every part of everyday urban life in Istanbul has become vastly more dynamic, setting in motion both far-reaching cultural transformations and a search for cultural identity. External images and self-images alike are subject both to a continuous change in values and to a complex process of construction and deconstruction by a wide range of actors and audiences. At closer examination it soon becomes clear how large the discrepancy is between the external and the internal perspectives of the city and its inhabitants and, as a consequence, how great the risk is of growing mutual resentment and misinterpretation. The paper examines the Greek minority, the stereotypes attributed to it, the associated cultural ascriptions of value as well as the effects on the German image of Istanbul. These frequently stereotypical images of Istanbul and its population include both negative resentments that continue to have an effect to the present day, unfolding over the course of current events, as well as passionate devotion, providing valuable insights into the respective commentators and their audience. The perception is dynamic, not static, and always depends on a range of factors: cultural and social transformations, media projections and various forms of subjective distinction or identification. At present, these processes are taking on an increasingly global character and need to be seen within the context of the likewise increasing economic and cultural globalization of the community that simultaneously evokes regional identification due to the fear of losing one’s own identity.

S chweinemetzger in I stanbul? D er O rt des G eschehens Im Jahr 2008 trug ein Beitrag von Sarah Rainsford bei der britischen Rundfunkanstalt BBC den Titel »Niedergang der türkischen Schweinemetzger« (Rainsford 2008).

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In seinem Mittelpunkt stand mit Lazaros Kozmaoğlu der letzte aus der griechischen Minderheit Istanbuls stammende Schweinemetzger. Allein dieser Titel lässt schon aufhorchen, denn »Schwein und Istanbul« oder »Schwein und Islam« – beides will so gar nicht in unser festgefahrenes Istanbul-Bild passen. Denken wir an die Stadt, erscheinen vor unserem inneren Auge eher Stereotype wie Döner, Baklava oder Hähnchenfleisch (Gietl 2015: 291). Die vordergründige Wahrnehmung ist also verstellt. Wir denken an »Tausendundeine Nacht«, an Moscheen und Minarette, aber weniger an Kirchen und schon gar nicht an Schwein. Hier zeigt sich, wie Tischler und Doğan (2010: 105) feststellen, dass »bis weit ins 20. Jahrhundert nicht das Bild einer dem osmanischen Kontext entstammenden kosmopolitischen Metropole dominiert, sondern das einer nichtosmanischen und damit historisch entkontextualisierten türkischen (Haupt‑)Stadt mit Moscheen, Palästen und ›türkischen‹ Häusern«. Für die vorliegende Forschung wurde als Materialbasis die Reiseliteratur in Form von Reiseführern und Reiseberichten gewählt. Begibt man sich auf die Suche nach dem Ursprung der vielen Ressentiments häufig zugrundeliegenden Stereotypen (Roth 1998: 23), so zeigen sich Reiseberichte und Reiseführer als aufschlussreiche Quelle. Einerseits waren sie  – historisch gesehen  – für breitere Bevölkerungsgruppen lange Zeit eine der wenigen Möglichkeiten, sich ein Bild der Fremde zu machen, andererseits stellen wir auch heute noch fest, dass neben persönlichen Reiseerfahrungen, dem Gesamtphänomen »Tourismus«, das in all seinen Facetten den Alltag heute mehr denn je durchdringt (Gerndt 2001: 13), die Reiseliteratur in Form von Reiseführern, -berichten oder -magazinen weiterhin die Fremdwahrnehmung ganz entscheidend prägt. Dabei spiegeln sie den jeweiligen Blick der Autoren und der Rezipienten ebenso wie die kulturellen Wertigkeiten ihrer Zeit wider. Oder wie Susanne Müller (2012: 12) in ihrem Buch »Die Welt des Baedeker« konstatiert: »Somit handelt es sich auch um eine Reise zu den Wünschen und Träumen der Menschen; der Menschen nämlich, die den Baedeker lesen, um sich von der Welt ein Bild zu machen, die – von der Kulturkritik verhöhnt – von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit hetzen, aber auch derjenigen, die den Baedeker zu Hause lesen, auf dem Sofa sitzend, von der Ferne träumend, wohlwissend, dass sie die vertraute Heimat nie verlassen werden. So oder so: Die Reise nach Baedeker ist eine Geschichte der Sehnsucht und der Seh-Sucht.«

Historisch entwickelte Fremd- und Selbstbilder unterliegen dabei einem fortschreitenden kulturellen Wertewandel und einer komplexen, durch unterschiedlichste Akteure und Rezipienten beeinflussten Konstruktion und Dekonstruktion. Dabei unterstützen und tradieren sie einen Blick auf das Fremde, der stark konstruiert und segregiert, und verstärken dadurch die Distanz in der Wahrnehmung zwischen Realität und konstruierter alternativer Realität. Oder anders ausgedrückt: Sie schildern nicht den Ort des Geschehens, sondern das Bild des Ortes aus dem Blickwinkel des jeweiligen Betrachters.

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Das vorliegende Forschungsobjekt ist uns unter den drei Namen Konstantinopel, Byzanz und Istanbul geläufig und wird stereotyp als Stadt zwischen Kulturen und Kontinenten, zwischen Asien und Europa oder auch zwischen Orient und Okzident bezeichnet. Wie sieht aber die Realität aus? Sind diese Bilder zu halten? Realität und Größe der Stadt sind heute schwer zu vermitteln, und so wird sie in vielen Fällen eher zu einer Stadt der Bilder, Projektionen und Sehnsuchtskonstrukte. Diese wiederum sind fluide, nicht statisch und eng verbunden mit kulturellen Wert- und Normzuschreibungen und an das gekoppelt, was gemeinhin als »gesellschaftlicher Wandel« bezeichnet wird. Im Laufe ihrer Entwicklung von der Hauptstadt des Oströmischen und des Byzantinischen bis hin zum Zentrum des Osmanischen Reiches und zum touristischen, kulturellen und ökonomischen »Leuchtturm« der modernen Türkei nahm die Stadt eine keineswegs geradlinige Entwicklung. Die Wahrnehmungen der Stadt sind so mannigfaltig wie die Wendungen in ihrer Geschichte und die damit verbundenen Änderungen der Namen und der dahinterliegenden kulturellen Konzepte. Die heutige Multi-Millionen-Einwohner-Stadt ist für uns Weltmetropole und Dritte-Welt-Stadt in einem. Noch vor drei Jahren galt sie als Boom-Town. Heute ist sie – viel mehr als die Hauptstadt Ankara – der Spiegel des politischen Geschehens in der Türkei und niemand will (traut) sich mehr hin. Dies macht sie in Europa zu einem einzigartigen Phänomen. Kaum eine andere Stadt blickt auf eine ähnliche Historizität zurück. Keine andere heute existierende Hauptstadt in Europa war Kapitale dreier völlig unterschiedlicher Weltreiche. Heute ist Istanbul nach außen dieses Status beraubt, und dennoch strahlt keine andere Stadt in Europa eine ähnlich hohe Faszination und gleichzeitige Zerrissenheit aus. An einer geographischen Nahtstelle zwischen Europa und Asien gelegen, erfuhr Istanbul in den letzten Jahrzehnten in nahezu allen Bereichen eine immense Dynamisierung. Gleichzeitig wandelte sich die Stadt im vergangenen Jahrhundert von der multiethnischen Metropole zu einer weitgehend monoethnischen  – mit einem kulturdominanten religiösen Schwerpunkt auf dem sunnitisch interpretierten Islam. Damit einher gingen und gehen nach wie vor weitreichende kulturelle und gesellschaftliche Transformationsprozesse und natürlich auch die Suche nach kultureller Identität und Verankerung.

»The L ady in R ed «. D er mediale B lick und die S piegelung kultureller W erte und N ormen Wie stark dieser Einfluss sein kann, zeigte sich erst in jüngerer Vergangenheit: Genannt seien nur die massive Berichterstattung im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise und des Verfassungsreferendums 2017. Die mediale Präsenz und die Darstellung Istanbuls veränderten sich aber bereits mit den Gezi-Park-Protesten im Jahr 2013 deutlich; es zeigte sich, wie das Foto »Die Dame in Rot« dokumentiert, eine dramatisch veränderte Wahrnehmung der Stadt, die im Scheinwerferlicht der globalen Medienwelt auf einmal ein völlig anderes Gesicht erhält. Zum Symbol dieses Protests

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Abb. 1: Foto »Die Dame in Rot«. Badische Zeitung: Ein Foto wird zum Symbol der Protestbewegung. 8. 6. 2013

wurde dabei eine global medial als Lady in Red oder Frau in Rot transportierte junge Frau (Rogg 2013). Auf diesem Bild ist neben einem Großaufgebot an Polizisten mit Helmen, Polsterungen, Schlagstöcken und Tränengaspistolen eine junge Frau mit dunklen Haaren, einem einfachen roten, dekolletierten Kleid und einer weißen Jute-Umhängetasche zu sehen. Aus der Masse der Polizisten löst sich dabei einer. Er beschießt die Frau aus kürzester Entfernung mit Tränengas und verfolgt sie, obwohl diese sich abwendet. Diese Szene kann völlig unterschiedlich gedeutet werden – und sie wurde es auch. Der tatsächliche Grund für diesen Anfall von Brutalität bleibt dabei im Hintergrund. In jedem Fall sieht der Betrachter auf dem Bild eine mutige junge Frau, die sich einer Übermacht an Polizeikräften quasi schutzlos in den Weg stellt. Aus deutscher Perspektive wird damit nicht nur die Polizei zur Projektionsfläche brutaler staatlicher Autorität, sondern auch die junge Frau. Sie allerdings wird vor dem Hintergrund eines hierzulande auf vielen Ebenen ausgehandelten gesellschaftlichen Frauendiskurses und den 2013/14 medial sehr präsenten Auftritten der ­FEMEN-Aktivistinnen zu einem Symbol für Frauenrechte. Gleichzeitig wird das rote Kleid, das per se vielen, ganz unterschiedlichen kulturellen Aufladungen und Bewertungen unterliegt, ebenfalls zur Projektionsfläche – steht die Farbe Rot doch für Aggression, aber auch für Liebe oder etwa für den türkischen Nationalstaat in Form seiner Flagge. Die Flagge wiederum aber stand lange Zeit stereotyp für die moderne säkulare Türkei Atatürks und damit für den Staatsapparat und nicht gegen ihn. Der

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Frau und der Einstellung, die sie repräsentiert, steht also die Farbe Rot als Nationalsymbol nicht zu. Betrachtet man hier noch die Örtlichkeit des Geschehens und ihren historischen Kontext und damit die symbolische Aufladung näher, (das Gelände um den Gezi-Park und den angrenzenden Taksim-Platz war seit Staatsgründung Symbol der säkularen Türkei und davor vor allem militärisch und nichtmuslimisch belegt), dann steht auch die Umetikettierung des Nationalsymbols im Rahmen des Möglichen und könnte neben emanzipatorischen Hintergründen auch zu einem Auslöser der Wutreaktion geworden sein. Aber dies bleibt der jeweiligen subjektiven Projektion und Interpretation überlassen und kann und soll an dieser Stelle nicht geklärt werden. Jedoch zeigt dieses Beispiel, wie sehr sowohl der individuelle als auch der mediale Blick von gesellschaftlichen Diskursen und den darin enthaltenen Spiegelungen kultureller Werte und Normen gelenkt wird, vor allem, wenn der Blick auf das vermeintlich Fremde gelenkt wird. Tatsächlich verschleiert, wie Karlheinz Wöhler (2005: 86) konstatiert, in den meisten Fällen die »touristische Inszenierung der Realität die Realität des gelebten Raumes«. Diese inszenierte Realität findet sich heute in großem Maße in jeder Form medialer Berichterstattung wieder. Oder wie Helge Gerndt festhält, lässt sich die Alltagswirklichkeit als in zwei Schichten unterteilt deuten, einer Wahrnehmungs- und einer Vorstellungsebene. Denn wer »dem Bedingungsverhältnis von Objektivationen und Subjektivationen nachgeht, muß die äußere Welt der Kulturerscheinungen ebenso wie die innere Welt der Meinungen und Vorstellungen veranschaulichen, bevor er sie argumentativ aufeinander beziehen kann« (Gerndt 1988: 9).

B evölkerungsentwicklung in Statistik und R eiseliteratur Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist Istanbul heute an Einwohnern gemessen die größte Stadt Europas. Schätzungen divergieren zwischen 15 Millionen und 21 Millionen Einwohnern. In der deutschen Wahrnehmung schlägt sich dies zumeist nicht nieder. Vielmehr haftet(e) der Stadt spätestens seit dem Verlust der Hauptstadtfunktion mit der Gründung der modernen Türkei das Manko der Provinzhaftigkeit an. Das Wort Metropole für Istanbul zu verwenden, geht vielen bis heute schwer über die Lippen. Dabei scheint die Stadt über alle Voraussetzungen einer solchen zu verfügen. Es umwehen sie eine schier unermessliche historische Dimension und eine kulturelle Vielfalt, die viele andere Metropolen, wie Paris oder London, sich erst im Zuge eines ungebremsten Imperialismus erwarben. Beides erreicht den deutschen Betrachter erst auf den zweiten oder gar dritten Blick. Scheinen Paris und London ganz automatisch auf eine lange, ungebrochene kosmopolitische Tradition zurückzublicken, so erkennt man diese im Falle von Istanbul häufig nicht. Ein wesentlicher Aspekt dürfte auch in der Lage am geographischen und heute auch kulturellen Rande Europas zu finden sein, und sicher spielt auch die relativ überschaubare räumliche touristische Wahrnehmung der Stadt eine Rolle, die keine

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Rückschlüsse auf ihre tatsächliche Größe zulässt. Ganz wesentlich für den sich über Jahre verfestigenden Eindruck der Provinzialität und Kleinbürgerlichkeit dürfte aber die Entwicklung der Stadt vornehmlich in den letzten rund hundert Jahren gewesen sein, die in ihrer auf einem »nationalen Türkentum« und der kulturellen Basis eines sunnitischen Islam fußenden monokulturellen Erscheinung jegliche Wurzeln einer kosmopolitischen Stadt über lange Zeit leugnete und diese auch touristisch vergessen ließ. Basierend auf diesem Setting wird ein Blick in die Wahrnehmungsgeschichte der Istanbuler Bevölkerung in Reiseführern geworfen. Exemplarisch blickt dieser Beitrag auf die im Friedensvertrag von Lausanne 1923 offiziell anerkannte christliche Minderheit der Griechen. Zunächst sei hier zur besseren Orientierung kurz auf die Genese und Zusammensetzung der Istanbuler Bevölkerung eingegangen, wie sie sich nach Klaus Kreiser (2010) historisch ergibt. Kreiser nimmt tabellarisch eine Stichprobe aus dem Jahr  1477, also 25 Jahre nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen, und eine weitere des Jahres 1885 und damit gegen Ende des Osmanischen Reichs. Abb. 2: Bevölkerung 1477. Kreiser, Klaus (2010): Geschichte Istanbuls. München, S. 69 Bevölkerung 1477: Muslime (in der Mehrzahl Türken) Griechen (Rum) Juden Kefeli (Christen von der Krim) Armenier Armenier aus Karaman (Anatolien) Zigeuner (Çingene) Franken (Katholiken) Haushalte insgesamt

Istanbul 8951 3151 1647 267 372 384 31 0

Haushalte

Galata 535 592 0 62 0 0 0 332

16 324

Danach zählten die 1477 angelegten osmanischen Register 16.324 Haushalte. Bei einem Multiplikator von fünf ist in diesem Fall von rund 80.000 Einwohnern auszugehen. Im Vergleich dazu hatte Rom noch 1525 nur ungefähr 50.000 Einwohner (Kreiser 2010: 69). Von den genannten Haushalten gehörten zum damaligen Zeitpunkt 42 Prozent nichtmuslimischen Bevölkerungsgruppen an. Viele dieser Bevölkerungsgruppen können auf eine Tradition zurückblicken, die weit ins Byzantinische Reich zurückführte, wie etwa die Armenier, die sich nach Kreiser (2010: 69) ab dem 8. Jahrhundert in der Stadt ansiedelten und damals in höchste Regierungsämter inklusive die des Feldherren oder des Kaisers aufsteigen konnten. Darüber hinaus siedelten auch bereits zum damaligen Zeitpunkt Juden in Istanbul, deren Anteil aber durch die »Abwerbung« einiger tausend sephardischer Juden aus dem westlichen Mittelmeerraum durch Beyazit II. im Jahr 1492 deutlich ausgeweitet wurde (Kreiser 2010: 69). Den größten Anteil der nichtmuslimischen Bevölkerung aber machte damals die orthodoxe Minderheit der Griechen aus, die sich in ihrem Selbstverständnis

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als Römer oder Rum (übrigens auch heute noch) bezeichneten. Dabei zeigt sich heute im persönlichen Gespräch hier in Deutschland häufig, dass den Gesprächspartnern diese multikulturelle Dimension der Stadt während des Osmanischen Reichs wenig geläufig ist. Ganz im Sinne einer Dominanz der siegreichen Kultur gehen viele unterbewusst ganz automatisch davon aus, dass mit der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen die gesamte nichtmuslimische Bevölkerung entweder die Stadt verließ, zum muslimischen Glauben übertrat oder, ihrer Bedeutung beraubt, ein Schattendasein führte. Weitere Statistiken zeigen jedoch, dass genau das Gegenteil der Fall war. Das aber spiegelt die Mental Map der Deutschen überhaupt nicht wider. Für seine Zahlen aus dem Jahr 1885 beruft sich Klaus Kreiser (2010: 72) auf eine amtliche Bevölkerungsstatistik: Abb. 3: Amtliche Bevölkerungszahlen für 1885. Kreiser, Klaus (2010): Geschichte Istanbuls. München, S. 72 Gemeinschaft Muslime Griechisch-Orthodoxe Armenier Bulgaren Unierte Katholiken (Armenier) Juden Protestanten Römische Katholiken Ausländer und Menschen mit »zweifelhafter Nationalität« Summe

Einwohner 384 910 152 741 149 590 4 377 6 442 44 361 819 1 082 129 243 873 565

Auch diese Statistik attestiert der Stadt ein schier unglaubliches multikulturelles Fundament. Bei 873.565 Einwohnern werden Muslime zu dieser Zeit mit rund 44 Prozent der Gesamtbevölkerung sogar von den nichtmuslimischen Bevölkerungsgruppen überflügelt. Christliche Glaubensformen nehmen den Hauptteil der Bevölkerung ein, und die Begriffe »Türken« oder »Türkisch« treten hier nicht in Erscheinung. Die heutige Multi-Millionen-Einwohner-Stadt hatte also 1885 »nur« knapp 900.000  Einwohner, davon waren rund 150.000  Armenier und genauso viele Griechen. Ergänzt wurden diese nichtmuslimischen Minderheiten um knapp 50.000 Juden und Ausländer und Menschen mit »zweifelhafter Nationalität«, die heute wohl unter dem Oberbegriff »Expatriats« zusammengefasst würden, sodass der muslimische Teil der Bevölkerung deutlich kleiner war als der nichtmuslimische – eine Tatsache, die weder der hiesigen Gesellschaft noch breiten Teilen der heutigen Istanbuler Stadtbevölkerung bekannt ist. Konsultiert man an dieser Stelle die zeithistorische Reiseliteratur, so zeigen sich mit der Darstellung in Meyers »Reisebuch Türkei und Griechenland« von 1892, das hier exemplarisch für die Ausgaben von 1882 bis 1898 steht, einige Unterschiede:

172 | Sebastian Gietl »Die Bevölkerung beläuft sich nach der amtlichen Statistik von 1885 auf 873,565  Seelen, von denen 384,910 Türken (richtiger Mohamedaner), 152,741 Griechen, 149,590 gregor. Armenier, 6442 kath. Armenier, 4377 Bulgaren, 44,361 Juden, 819 Protestanten, 1082 Lateiner, d. h. türkische Unterthanen katholischen Glaubens, und 129,243 fremde Unterthanen; unter letztern sind auch ca. 50.000 Hellenen, d. h. königlich griechische Unterthanen, inbegriffen. Doch ist diese Zählung nicht genau; auch umfasst sie nur die der Stadtverwaltung unmittelbar unterstehenden 10 Gemeindebezirke […], rechnet also die Bevölkerung der außerhalb des Stadtkreises gelegenen Ortschaften, wie San Stefano und Makriköi, der Prinzeninseln und der ihnen gegenüberliegenden, mit Skutari durch Eisenbahn verbundenen Dörfer des asiatischen Ufers, Erenköi, Kysyltoprak, Maltepe, Kartal, Pendik, nicht mit« (Bibliographisches Institut 1892: 200).

Zum einen fügen die Autoren als bewussten Kontrapunkt zum »Griechen« vor dem Hintergrund der Thematik des Reiseführers den »Türken« ein, der beide Länder – oder besser gesagt Reiche, denn Griechenland war zum damaligen Zeitpunkt ein Königreich  – thematisierte. Die Deutung »türkische Unterthanen katholischen Glaubens« erscheint für die römisch-katholische Bevölkerung, mit der mit großer Wahrscheinlichkeit die levantinische Bevölkerung von Istanbul gemeint war, die sich aber gemäß Kreiser (2010: 69) weniger aus Nachfahren der genuesischen Bevölkerung speiste als vielmehr aus früheren Bewohnern griechischer Inseln. Diese hatten lange Zeit unter genuesischer oder venezianischer Herrschaft gestanden und waren zum katholischen Glauben übergewechselt beziehungsweise hatten aus hier sesshaft gewordenen französischen Händlern oder aus »orientalischen« Katholiken syrischer oder armenischer Herkunft bestanden (Kreiser 2010: 69). Der Begriff »Türken« greift dem späteren Nationalstaat vor und spiegelt den im ausgehenden 19.  Jahrhundert im gesamten europäischen Raum stark verbreiteten Nationalstaatsgedanken wider. Eine Ausdifferenzierung innerhalb dieser Gruppierung (Stichwort »Kurden«) entfällt. Dabei definiert und forciert der Begriff »Untertan«, der für alle nichtmuslimischen Bevölkerungsgruppen benutzt wird, ein Zwei-Klassen-Denken. Thematisch äußerst interessant ist vor allem der »Grieche« mit »griechischem Pass«, der dem philhellenen Leser nochmals separat als »Hellene« präsentiert wird. Nimmt man alle Hinweise zusammen, erscheint die griechischsprachige als stärkste Bevölkerungsgruppe, wobei diese durch die Verwendung der Begrifflichkeit »Untertane« oder später Rajah (raca) charakterisiert wird. »Mit dem Begriff ›Rajah‹ (d. h. Herde) wird die gesamte nicht moslemische Bevölkerung von den Türken bezeichnet; im engern Sinne ist derjenige ›Rajah‹, welcher türkischer Unterthan wurde, ohne zum Islam überzutreten« (Bibliographisches Institut 1882: 380, 1892: 133, 1898: 148).

Die nichtmuslimischen Bevölkerungsgruppen werden daher in jedem Fall als unterdrückt und nicht auf einer Ebene mit den herrschenden Eliten wahrgenommen. Dies impliziert aus deutscher Perspektive aber auch keine Teilhabe an Handel, Wirtschaft oder Bildung, die gerade im europäischen Raum zu diesem Zeitpunkt in vielen Bereichen privilegierten Kreisen vorbehalten waren. Das traf jedoch keinesfalls auf die Minderheiten Istanbuls zu, die nicht nur zum damaligen Zeitpunkt das wirtschaft-

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liche, das wissenschaftliche und in vielen Bereichen auch das politische Geschehen (mit-)bestimmen durften. Ferner zeigt sich, dass mit der bei Kreiser (2010) wiedergegebenen Statistik nicht der gesamte Großraum rund um das damalige Konstantinopel erfasst wird, der später durch Eingemeindungen ebenfalls Teil Istanbuls wurde. Angesichts der Tatsache, dass gerade die Küstengebiete des Schwarzen Meeres, des Marmarameeres und der ionischen Mittelmeerküste von griechischen Bevölkerungsteilen bevorzugt besiedelt waren, ergibt sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein noch höherer Anteil nichtmuslimischer Bevölkerungsgruppen. Die Bevölkerungsverteilung im Stadtbereich von Konstantinopel war von Regierungsseite gesteuert, indem der willkürliche Zuzug aus dem anatolischen Hinterland immer wieder eingeschränkt und über lange Strecken bewusst vermieden wurde (Kreiser 2010: 71). Darüber hinaus zeichnet der Reiseführer auch vom Rest des heutigen Nationalstaates Türkei, der freilich zum damaligen Zeitpunkt noch größere Gebiete umfasste, ein sehr multikulturelles Gemälde: »Nach Rassen geschieden, zerfällt die Bevölkerung der Türkei in Türken (Osmanli, Turkmenen, Tataren), Araber und Syrer, Kurden, Armenier, Tscherkessen, Georgier und Lazen, Griechen, Albanesen, Slawen (Serben und Bulgaren), Walachen und Juden. […] Ihrer Religion nach zerfallen die Bewohner der Türkei in Mohammedaner, Christen und Juden.  […] Die Mohammedaner der europäischen Türkei gehören nicht ausschließlich der türkischen, sondern zum Teil auch der slawischen […], albanesischen […] und selbst der griechischen Rasse an« (Bibliographisches Institut 1892: 133).

Auch hier fällt der mit dem gewachsenen Nationalbewusstsein an Gewicht zunehmende Rassegedanke auf, der die tatsächlich als »türkisch« bezeichneten Bevölkerungsgruppen beinahe in die Minderheit rückt, indem die Einwohner der europäischen Türkei islamischen Glaubens hinsichtlich ihres Aussehens als Mohammedaner slawischer, griechischer oder albanischer Herkunft betrachtet werden. Damit wird indirekt auch der interkonfessionelle Wechsel zum Ausdruck gebracht, der zwar in den meisten Fällen mit der Konvertierung zum Islam einherging, aber auch gerade in christlich besiedelten Gebieten die umgekehrte Richtung nahm, oder um es in den Worten Karl Sigismund Kramers (1988: 66) zu formulieren: »Vorurteile richten sich immer auf Andersgeartetes, auf Elemente des eigenen Bewußtseins, die sich als andersgeartet erweisen. Insofern haben Vorurteile eine gewisse Verwandtschaft mit dem Aberglauben, der auch immer den Glauben des Anderen meint und je nach Standort des Urteilenden wechselt.«

Letztlich unterstreicht die Schilderung, dass es nicht das statisch nationale Gebilde des »Türken« oder der »Türkei« gibt, sondern dass das gesamte Gebilde des Osmanischen Reichs auf breiter Ebene und über lange Zeit multikulturell geprägt war. Des Weiteren zeigt sich indirekt, ohne dies groß herauszustellen, dass zumindest Konstantinopel zum damaligen Zeitpunkt in sehr hohem Maße auch von seiner christlichen und jüdischen Bevölkerung geprägt wurde.

174 | Sebastian Gietl

I stanbul und seine griechische B evölkerung in der R eiseliteratur Die griechische Bevölkerung bildet bis heute, wenngleich die Einwohnerzahl zwischenzeitlich auf nur rund 1.000  Personen geschrumpft ist, eines der kulturellen Fundamente Istanbuls. Gleichzeitig veränderte sich die öffentliche Wahrnehmung der seit 1923 anerkannten Minderheit über die Jahre hinweg stark. Der Fokus der folgenden Untersuchung liegt auf der Zeit zwischen 1892 und 2014, weil dies in etwa den Zeitraum der größten Veränderung in der Wahrnehmung dieses Bevölkerungsteils abdeckt. 1892 beschreiben die Autoren von »Meyers Reisebuch. Türkei und Griechenland« die Istanbuler Griechen folgendermaßen: »Die Griechen sind, dank den vorzüglichen Lehranstalten, die sie besitzen, unstreitig das gebildetste und intelligenteste unter den Völkern der Türkei, zeigen aber vielfach eine bedauerliche Gleichgültigkeit gegen die Vorschriften der Moral. Das ›Grecis nulla fides‹ gilt auch von den heutigen Griechen. Sie beschäftigen sich vorwiegend mit Handel und Schiffahrt und gelangen oft sehr schnell zu Reichtum. Den europäischen Kaufleuten bereiten sie durch ihre Rührigkeit, Geschmeidigkeit, Verschlagenheit und ihre ausgebreiteten Beziehungen im Land schwere Konkurrenz. Die Verbrecherwelt der türkischen Hauptstadt rekrutiert sich größtenteils aus Individuen griechischer Nationalität. Aus den unteren Klassen der griechischen Bevölkerung rekrutiert sich das Gesindel Konstantinopels, welches namentlich in den christlichen Vorstädten ein Gemälde von Liederlichkeit und Verworfenheit darbietet, wie es abschreckender kaum gedacht werden kann« (Bibliographisches Institut 1892: 139).

Diese Darstellung lässt die griechische Bevölkerung Istanbuls für den Leser pauschal als in weiten Bereichen sehr gebildet und intelligent erscheinen. Dieser positive Eindruck wird aber im selben Moment wieder durch das Bild ihrer »Gleichgültigkeit gegen die Vorschriften und Sitten« aufgehoben, was durch die Nutzung des lateinischen Zitats »Grecis nulla fides« unterstrichen wird, das sinngemäß mit »Vertraue keinem Griechen« wiederzugeben ist und damit quasi als über die Zeiten hinweg allgemein gültig zementiert wird. Zugleich werden die Griechen dargestellt als »geschickte«, will heißen verschlagene Kaufleute und Seefahrer, die es verstehen, Geld zu verdienen. Hier zeigt sich auch schnell, worauf diese negative Wahrnehmung unter anderem wahrscheinlich beruht: auf der großen Konkurrenzsituation zu den als »eigen« wahrgenommenen Kaufleuten. Dieses Geschick der Griechen zeigt sich sowohl im »Positiven« als auch im »Negativen«, wenn sich die Istanbuler Unterwelt hauptsächlich aus der griechischen Bevölkerung speist. Zusammenfassend haben wir das Bild einer schlauen, aber verschlagenen, hinterhältigen, auf den eigenen Vorteil und wenig auf Gemeinwohl achtenden und zugleich wenig vertrauenswürdigen Bevölkerungsgruppe vor Augen. Diese Charakterisierung der Griechen ist gleichzeitig mit dem Christentum verknüpft, insbesondere mit dem griechisch-orthodoxen, da »der Grieche« in weiten Teilen als orthodox und weniger als katholisch wahrgenommen wird. Tatsache war aber, dass ein nicht zu vernachlässigender Anteil der griechischen Bevölkerung Istanbuls zu dieser Zeit katholischen

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Glaubens war und von den lange Zeit durch Venezianer und Genuesen besetzten griechischen Inseln kam: »Die Griechen bekennen sich zu der (seit 857) vom Papst unabhängigen griechisch-orthodoxen Kirche, deren geistliches Oberhaupt im Türkischen Reich der Patriarch von Konstantinopel ist. Er führt den Titel ›Erzbischof von Konstantinopel, Neurom und ökumenischer Patriarch‹ und wird mit ›Ew. Allerheiligkeit‹ angeredet. […] Drei andere Patriarchen residieren zu Jerusalem, Alexandrien und Antiochien« (Bibliographisches Institut 1892: 139).

Ferner zeigt die Darstellung eine Bevölkerungsgruppe, die nicht nur auf Konstantinopel beschränkt ist, sondern sich in Anbetracht der genannten Patriarchate über die gesamte Fläche des damaligen Osmanischen Reiches verbreitet hat. Jedoch sehen die Autoren die Siedlungsgebiete der Griechen 1892 in einem ganz konkreten Raum: »Der griechische Volksstamm nimmt mit einzelnen Unterbrechungen fast das ganze Gestade des Archipels, des Marmara- und des Schwarzen Meers ein, vom Golf von Lamia bis Varna und von der kilikischen Küste bis Trapezunt.  […] In Konstantinopel (wo sie in den Stadtteilen Fanar, Pera und Galata, in den Bosporusdörfern, namentlich Arnautkjöi, in Kadiköi und auf den Prinzeninseln wohnen) zählen sie ungefähr 200,000 und mit Einschluß der hellenischen Unterthanen 250,000  Seelen« (Bibliographisches Institut 1892: 139 f.).

Der Schilderung nach siedelten die Griechen also vorzugsweise im Küstenbereich und zwar weitestgehend an allen Küsten der heutigen Türkei vom Südosten bis zum Nordosten des heutigen Staatsgebietes. Zusammen mit den damals als »griechisches« Element der osmanischen Küche wahrgenommenen Fisch- und Meeresfrüchtegerichten ergibt sich ein stimmiges Bild, denn im Umkehrschluss verweist es auf wenig Interesse sowohl der armenischen als auch der muslimischen Bevölkerungsteile an küstennahen Siedlungsgebieten. Diesen Eindruck bekräftigt auch die Schilderung der Situation innerhalb Istanbuls, wo die Griechen ebenfalls vorwiegend in Küstennähe zu sehen sind. Zudem ist im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die griechische Bevölkerungsgruppe mit rund 250.000 Angehörigen die zweitgrößte hinter der muslimischen und damit im Rahmen ihrer Möglichkeiten innerhalb des Machtgefüges des Osmanischen Reiches äußerst einflussreich. Zugleich schildern die Autoren auch weitgreifende Akkulturationsprozesse, die damals den Alltag bestimmten, wenn in verschiedenen Gebieten ganz pragmatisch die Sprache, Kultur und/oder Religion der Mehrheitsbevölkerung angenommen wurden: »Im Innern Kleinasiens haben die Griechen in gewissen Distrikten (Brussa, Kaisarije und Karamanien) ihre griechische Sprache mit der türkischen vertauscht, bedienen sich aber, wenn sie in letzterer Sprache schreiben, der griechischen Schrift; ein Beispiel hierfür bietet die in Konstantinopel erscheinende Zeitung: ›Anatoli‹. Auf den Inseln Kreta und Cypern herrschen die Griechen so vor, daß selbst die Türken ihre Sprache sprechen, wobei allerdings zu erwägen ist, daß letztere vielfach zum Islam übergetretene Griechen sind. Auch in gewissen Gegenden Kleinasiens, z. B. Isparta, im Bezirk von Adalia, haben die mos-

176 | Sebastian Gietl lemischen Griechen, obgleich fanatische Anhänger des Islam, ihre Sprache vollkommen rein bewahrt« (Bibliographisches Institut 1892: 140).

Dass im Osmanischen Reich »Grieche« nicht gleich »Grieche« bedeutete, zeigt ein weiteres Beispiel: »Die Griechen in der Türkei nennen sich von der byzantinischen Zeit her ›Römer‹ (Romai, Ρωμαιοι) und werden auch von den Türken Rum genannt. Zum Unterschied von den griechischen Rajah (Rum) nennen sich die Einwohner des Königreichs Griechenland ›Hellenen‹ (türk. Junan, d. h. Ionier). Neugriechisch heißt ›romaika‹, während ›ellinika‹ gleichbedeutend mit altgriechisch ist, das in den Schulen gelehrt und mehr geschrieben als gesprochen wird« (Bibliographisches Institut 1892: 140).

Hier tritt ein wichtiges Detail in der Wahrnehmung der Istanbuler Griechen zutage, das für ihr Selbstverständnis von essentieller Bedeutung ist, aber in späterer Zeit außerhalb des griechischen Kulturraumes auf popularmedialer Ebene weitgehend übersehen wird: Der Istanbuler Grieche sieht sich im Kern noch heute in erster Linie als »Römer« und damit als Ahne des Byzantinischen Reiches, das sich auf eine weitreichende römische Tradition berief, und erst in zweiter Linie als »Grieche« hellenistischer Tradition. Dies unterscheidet ihn in seinem Selbstverständnis von den übrigen Griechen. Dieses Selbstverständnis gilt als weitgehend ausgehandelt, was sich im Einfließen in die türkische Sprache zeigt. Bei genauerer Betrachtung beinhaltet dieses Selbstverständnis eine höchst distinktive Haltung der eigentlich zum Herrschen legitimierten, in der früheren Hauptstadt verbliebenen Elite gegenüber der herrschenden muslimischen Bevölkerungsgruppe. Des Weiteren akzentuieren die Autoren von »Meyers Reisebuch« die griechischen Bevölkerungsanteile, die hier allerdings wieder als »Griechen« und nicht als griechischsprachige »Römer« erscheinen, aber auch über deren Esskultur und differenzieren zum damaligen Zeitpunkt noch zwischen »türkischer« und »griechischer« Küche: »Die griechische Küche unterscheidet sich nicht viel von der türkischen; doch spielen bei den Griechen Fische, Oliven, Käse, Öl und Tomaten eine vorwiegende Rolle. Wein und Raki wird von ihnen in großen Mengen genossen, und es gibt unter ihnen viele Säufer. Die Fasten werden von Griechen und Armeniern streng beobachtet; sie enthalten sich während derselben aller Fleischspeisen. Oliven und Öl sind fastenmäßig erlaubt, Milch, Butter und Eier dagegen verboten; in der Nähe der Küste bilden Austern, Polypen und andere Seetiere ein Hauptnahrungsmittel während der Fasten« (Bibliographisches Institut 1892: 166 f.).

Die Schilderung definiert die griechische Küche also vorwiegend über den Fisch- und Meeresfrüchtekonsum und die Vorliebe für Olivenöl, Käse und Tomaten, was sich mit der Präferenz für küstennahe Siedlungsgebiete deckt, aber weniger mit dem heute weitverbreiteten stereotyp tradierten touristischen Griechenlandbild in Form einer von Fleischbergen dominierten Küche korrespondiert (Bibliographisches Institut 1892: 166 f.). Aus heutiger Perspektive ergibt sich daraus das Bild einer als gesund und ausgewogen betrachteten mediterranen Küche, die hier den Griechen zugeschrieben

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wird. Tatsächlich wurde gerade Fisch aber zum damaligen Zeitpunkt als quasi im Überfluss vorhandenes »Arme-Leute-Essen« betrachtet und weist aus dieser Perspektive den Griechen in der wahrgenommenen Hierarchie innerhalb der Bevölkerungsgruppen der Stadt eine eher niedrigere Position zu. Diese Tendenz verstärkt die Zuschreibung eines übermäßigen Alkoholkonsums, was vor dem inneren Auge des heutigen Betrachters wiederum das Bild des »Feiergriechen« entstehen lässt, damals aber weniger unter gesundheitlichen Aspekten als vielmehr als Indikator für Liederlichkeit und Lasterhaftigkeit gedeutet wurde. Diesem Eindruck entgegen wirkt aber die Betonung der Autoren auf das Fasten, das in seiner Konsequenz als kulturelle Reaktion auf den islamischen Fastenmonat Ramadan gedeutet werden könnte und gerade unter den christlichen Minderheiten als stark ausgeprägt geschildert wird, gleichzeitig aber zum damaligen Zeitpunkt ein integraler Bestandteil des Jahreslaufs aller christlichen Gemeinschaften war. Auch die Speisenauswahl würde aus heutiger Perspektive wohl ebenfalls weniger als Verzicht als vielmehr als kulinarisches Highlight gedeutet. Zum damaligen Zeitpunkt spielte jedoch der Fisch sowohl in den orthodoxen als auch in den katholischen und protestantischen Traditionen als verbindendes Element der frühen Christenheit mit Jesus als Person eine wichtige Rolle in der Symbolsprache des Fastens und mit der damit einhergehenden Vorbereitung auf hohe Feste. Mit den 1930er Jahren und der sich entwickelnden Türkischen Republik verändert sich auch der Blickwinkel auf die griechische Bevölkerungsgruppe der Stadt, die in der Übergangszeit und den damit verbundenen Homogenisierungsprozessen in vielen Bereichen nicht mehr als ethnische Bevölkerungsgruppierung, sondern im Selbstverständnis der Türkei ausschließlich als religiös anders wahrgenommen wurde. Diesen Gedanken transportiert auch Ernest Mamboury in seinem 1930 erschienen »Stambul Reiseführer«: »Stambul (Stadtviertel) wird heute vor allem von den beinahe überall ansässigen mohammedanischen Türken sowie von den orthodoxen Türken des Phanar, den armenischen Türken von Kum Kapu und Psamatia und den israelitischen Türken von Balat bewohnt […] die Griechen [bewohnen] die Viertel Tarla Baschi und Kurtulusch (Tatawla)« (Mamboury 1930: 71).

Da Mamboury (1930) aber in der Benennung der Bevölkerungsgruppe wenig Konsequenz erkennen lässt und immer wieder auf die als natürlich empfundene Bezeichnung »Griechen« zurückfällt, ergibt sich nach außen ein äußerst konfuses Bild, wenn einerseits von den »orthodoxen Türken des Phanar« und andererseits von den »Griechen« die Rede ist, obwohl es sich offensichtlich nur um eine Gruppierung handelt. Im Detail betrachtet zeigen sich gerade an dieser Schilderung die veränderten Umstände, mit denen in diesem Fall die griechische Minderheit innerhalb des neuen Nationalstaates zu kämpfen hatte: reduziert auf die Religion und den Versuch der kulturellen Assimilierung der einzelnen Volksgruppen unter einem konstruierten nationalen Türkeibegriff.

178 | Sebastian Gietl

Des Weiteren zeigt sich eine räumliche Reduzierung der griechischen Minderheit auf einen engeren Rahmen als 30 Jahre zuvor mit den Stadtteilen Fener, Tarlabaşı und Kurtuluş, die in letzterem Fall auch nicht mehr mit ihrer griechischen Bezeichnung Tatavla, sondern der türkischen in Erscheinung treten. Dies bedingt in der Außenwahrnehmung eine starke Reduktion oder fallweise Absorption integraler kultureller Spezifika einer der stärksten Bevölkerungsgruppen der Stadt. Auch im weiteren Verlauf zeichnet Mamboury (1930) ein sehr differenziertes Bild der einschneidenden Ereignisse von 1922/23, das in der Außenwahrnehmung das Gefühl der »Freiwilligkeit« und »Einvernehmlichkeit« entstehen lässt, wenn er den Bevölkerungsaustausch beider Länder mit Begriffen wie »Abreise« oder »niederlassen« kaschiert: »Eine dem Bevölkerungsaustausch unterworfene beträchtliche Anzahl von Griechen reiste nach Griechenland ab, während zugleich aus diesem Lande zahlreiche Türken eintrafen, um sich in der Türkei niederzulassen« (Mamboury 1930: 33). Die Art der Schilderung wird in seiner Untertreibung keineswegs der Tragweite der Ereignisse, der damit verbundenen Schicksale und dem folgenden kulturellen Wandel gerecht und muss wohl als Zeichen politischer Einflussnahme auf die touristische Wahrnehmung der Türkei betrachtet werden (Balta 2014: 23 ff.). Gleichzeitig erweist sich Mambourys Schilderung als richtungsweisend für die lange Zeit in Deutschland unreflektierte Wahrnehmung dieser kulturellen Transformationsprozesse. Die Folge sowohl dieser Politik als auch der begleitenden touristischen Darstellung des Landes ist eine Limitierung der kulturellen Wahrnehmung der Griechen Istanbuls als religiöse Einheit unter vielen. Diese Reduktion bekräftigen Robert Boulangers bereits angeführte Zeilen zur Türkisierung des Landes im 1968 erschienenen »Blauen Führer Türkei« (Boulanger 1968: 24) sowie der 1967 erschienene »Polyglott Reiseführer Istanbul«, der sich auf Statistiken zur Türkei beschränkt: »Gegenwärtig beträgt die Zahl der Einwohner etwas über 32 Millionen; davon sind mehr als 90 % Türken. Außer diesen leben im Lande noch 1,9 Mill. Kurden, 310 000 Araber und 90 000 Griechen« (Becker 1967: 5). Über diese Zahlen hinaus erfährt der Leser lediglich, dass hier »ein moslemischer Mufti, der Ökumenische Patriarch der Griechisch-Orthodoxen Kirche und ein römisch-katholischer Erzbischof« (Becker 1967:  4) ihren Sitz hätten. Der Prozess einer Homogenisierung der Istanbul-Wahrnehmung findet zu diesem Zeitpunkt seinen Höhepunkt. In der Reihe Polyglott, die sich bis heute vorwiegend an Touristen wendet, die schnell und unkompliziert die wichtigsten Informationen bekommen wollen, ändert sich an Konzept, Art und Inhalt der Darstellung und dem Informationsgehalt auch in den folgenden 20 Jahren nichts. Gerade durch den deutlichen Verweis auf eine rasante Islamisierung des Landes im »Blauen Führer Türkei« zeigt sich im gleichen Atemzug der Bedeutungsverlust der christlich geprägten griechischen Kultur, die auf die offizielle religiöse Repräsentanz reduziert wird und damit mehr und mehr der weltlichen Existenz beraubt erscheint. Der Grund dafür ist die staatlich gelenkte Verdrängung der Minderheiten, wenn nicht aus dem Land, dann aus dem öffentlichen in den privaten Raum, die sich in Form von Repressalien wie der Existenzsteuer von 1942 (Güven 2012: 110 ff.),

Die Unsichtbaren? | 179

Abb. 4: Vormontierter Vermerk zur Handhabung. Baedeker, Karl (Hrsg.) 1905: Baedeker’s Konstantinopel und Kleinasien. Leipzig, s. p.

den S­ eptember-Pogromen von 1955 (ebd.: 136 ff.) und der Ausweisung griechischer Staatsbürger 1964, die natürlich indirekt auch die angeheirateten Familienmitglieder mit türkischem Pass betraf, manifestierte. Diese Ereignisse fehlen allerdings in der historischen Aufarbeitung der Zeit (Boulanger 1968: 67 f.; Becker 1967: 6 ff.), was ein stilles und schleichendes Ende dieser Kultur ohne Deutung und Erklärung bedingte und für die weitreichende Unkenntnis dieser kulturellen und ethnischen Transformation mit verantwortlich zeichnet – bei zeitgleich ganz selbstverständlicher Wahrnehmung Istanbuls als traditioneller und ausschließlich muslimischer Stadt. Der maßgebliche Grund dafür mag in der Namensänderung der Stadt hin zu »Istanbul« liegen, das in der deutschen Wahrnehmung im Gegensatz zu »Konstantinopel« eindeutig muslimisch konnotiert ist und damit einen »Wahrnehmungs-Cut« verursacht bei einem gleichzeitig stark orientalisierenden, touristischen Desinteresse an zeithistorischen gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Auch in den 1980er Jahren erscheint die historische Dimension für die Autoren vieler Reiseführer zur weiteren Deutung der Stadt wichtig, wie das Beispiel des »APA-Guide« von 1988 zeigt: »Der letzte Versuch Griechenlands, Konstantinopel zurückzugewinnen, wurde vom Widerstand der Türken im Jahr 1922 vereitelt. 1964, während der ersten Zypernkrise, wurden die meisten der verbliebenen 100.000 ›Überlebenden von Byzanz‹  – diejenigen, die freiwillig die griechische Staatsbürgerschaft angenommen hatten – allesamt deportiert. Die wenigen Stadtteile, die den Anstürmen der Zeit bis dahin standgehalten hatten, verdanken ihren verbliebenen Charme der Tatsache, daß die Eigentumsrechte der Deportierten nie geregelt wurden« (Goltz 1988: 64).

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Hier treten exemplarisch zwei Wendepunkte mit dem Bevölkerungsaustausch 1922/23 und der Ausweisung der Griechen mit griechischem Pass in den Vordergrund. Gleichzeitig verortet der Reiseführer die griechische Minderheit als native Bevölkerungsgruppe Istanbuls, wenn er ihr – auch unter Anführungszeichen – Kontinuität bis in die byzantinische Zeit zurück zuspricht. Andererseits entfremdet die Darstellung aber auch die Minderheit von ihren Wurzeln, wenn sie davon spricht, dass die meisten der verbliebenen Griechen eine griechische Staatsbürgerschaft angenommen hätten. Diese Erklärung greift etwas zu kurz, indem sie ebenfalls die Ereignisse innerhalb der Stadt unberücksichtigt lässt und dadurch eine weitere Schieflage in der zeithistorischen Deutung und Wahrnehmung Istanbuls schafft, denn viele der in Istanbul ansässigen Griechen hatten Verwandtschaft und Freunde in Griechenland; gleichzeitig kamen viele Ehen zwischen Nationalstaatsgriechen und Istanbuler Griechen zustande. Darüber hinaus animierten die Repressalien und Erfahrungen der damaligen Zeit natürlich einen Großteil der Griechen, es nicht darauf ankommen zu lassen, nochmals das gleiche Schicksal wie 1942 und 1955 zu erleiden, weshalb sie sich parallel eine Rückzugsmöglichkeit in Griechenland schufen. Gleichzeitig fungieren aber auch hier die griechischen Bewohner der Stadt und deren Hinterlassenschaften in Form von verlassenen Immobilien als (unfreiwillige) Bewahrer des alten europäischen Istanbul, da ihre Häuser wegen ungeklärter Besitzansprüche nicht dem die ganze Stadt transformierenden Zeitgeist weichen durften. Dabei ist diese Wahrnehmung unter vielen Aspekten dem damaligen deutschen Zeitgeist geschuldet, der vor dem Hintergrund des Denkmalpflege-Gedanken zunehmend Freude am Alten zu Lasten weiterer groß angelegter Infrastrukturmaßnahmen entwickelte und damit auch deutlich mehr Aufmerksamkeit für das alte europäische Istanbul abseits von Orient-Stereotypen zeigt. Auch im weiteren Verlauf zeigt sich das Schicksal der Istanbuler Griechen und deren Kultur eng verbunden mit Repressalien und Vertreibungen, denn auch der in den 1970er und 1980er Jahren zunehmend an Eigendynamik gewinnende Zuzug ärmlicher Landbevölkerungsteile erscheint in direktem Zusammenhang mit den Vertreibungen anlässlich der Zypernkrise. Gerade dieser Akt der Vertreibung bemittelter und über viele Generationen ansässiger Bevölkerungsgruppen sowie das Ersetzen derselben durch minderbemittelte kultur- und ortsfremde Bevölkerungsgruppen führte zu einem starken Identitätsverlust innerhalb der Stadt und veränderte maßgeblich deren Selbstverständnis (Gietl 2016: 255  ff.). Für den Betrachter erscheint Istanbul in diesem Zusammenhang als slumartige, richtungslose Stadt, die ihren Fokus auf pure Masse zur Überformung der traditionellen kulturellen Identität setzt, wenn Hütten und Verschläge stattliche Häuser ersetzen, die Stadtmauern mit ebensolchen be- oder umbaut werden und Parkanlagen als Symbole für Großstadtkultur verschwinden. Auch diese Entwicklung ist eng mit dem (scheinbaren) Verschwinden der Griechen und ihrer sie repräsentierenden Kultur verbunden, da gerade ihre Siedlungsgebiete als am härtesten von dieser Entwicklung betroffen gezeichnet werden. Zusammenfassend ist hier festzuhalten, dass mit den Griechen, wie die Autoren des »APA-Guide Istanbul« es beschreiben, stereotyp der »letzte Charme« (Goltz 1988: 64) die Stadt verlassen hat, was in vielerlei

Becker (1967): Polyglott-Reiseführer Istanbul, S. 5: »Bevölkerung Gegenwärtig beträgt die Zahl der Einwohner etwas über 32  Millionen; davon sind mehr als 90 % Türken. Außer diesen leben im Lande noch 1,9 Mill. Kurden, 310 000 Araber und 90 000 Griechen. Auch unter den Türken gibt es rassische Verschiedenheiten: hellhäutige und schmalköpfige Typen, dunkelhäutige und im Osten Menschen mit breiten, flachen Gesichtern, die an Turkmenen und Kirgisen erinnern. […] Religion 98 % der Bevölkerung sind Moslems. Während in den Großstädten der Westküste und in Istanbul das religiöse Leben kaum in Erscheinung tritt, sieht man im Landesinnern zur Gebetszeit oft ganze Straßenzüge durch Betende versperrt.«

Becker (1981/82): Polyglott-Reiseführer Istanbul. 11. Aufl., S. 5: »Bevölkerung Gegenwärtig beträgt die Zahl der Einwohner etwas über 43  Millionen; davon sind die meisten Türken. Außer diesen leben im Lande noch mehrere Millionen Kurden, etwa eine halbe Million Araber sowie in Istanbul je 10 000 Armenier, Griechen und spanische Juden. Auch unter den Türken gibt es rassische Verschiedenheiten: hellhäutige und schmalköpfige Typen, dunkelhäutige und im Osten Menschen mit breiten, flachen Gesichtern, die an Turkmenen und Kirgisen erinnern. […] Religion 98 % der Bevölkerung sind Moslems. Während in den Großstädten der Westküste und in Istanbul das religiöse Leben kaum in Erscheinung tritt, sieht man im Landesinnern zur Gebetszeit gelegentlich ganze Straßenzüge durch Betende versperrt.«

Becker (1987/88): Polyglott-Reiseführer Istanbul. 16. Aufl., S. 4: »Bevölkerung Der überwiegende Teil der Bevölkerung sind Türken, die zu den Turkvölkern gehören, die im 11. und 12. Jahrhundert nach Kleinasien kamen. Die aus den verlorengegangenen Gebieten des Osmanischen Reichs wie dem Balkan, Arabien und Nordafrika in die Türkei emigrierten Türken haben sich mit der dortigen Bevölkerung vermischt. Die größte nationale Minderheit sind die fast neun Millionen Kurden, deren Existenz offiziell bestritten wird, obwohl sie eine autochthone anatolische Bevölkerung sind. Entlang der syrischen Grenze leben annähernd eine Million Araber und in der Provinz Mardin noch 20 000 aramäisch sprechende syrischorthodoxe Christen. Einen offiziellen Minderheitenstatus genießen einige zehntausend Griechen, Armenier und spanische Juden in Istanbul. Andere Gruppen wie Lasen, Georgier, Tscherkessen und Turkmenen verschwinden nicht zuletzt wegen der offiziellen Assimilierungspolitik. Nach offiziellen Angaben sind 98 % der Bevölkerung der Türkei Muslime – eine Zahl, die nichts darüber aussagt, wie hoch der Anteil derjenigen ist, die die islamischen Gebote und Verbote befolgen«.

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Hinsicht die europäische Kultur meinen soll. Gleichzeitig erscheint die griechische Kultur und mit ihr die griechische Bevölkerungsgruppe vor dem Hintergrund der massenhaften Abwanderung ins Ausland und der noch größeren Zuwanderung aus dem anatolischen Hinterland durch muslimische Bevölkerungsgruppen durch diese Schilderung als Schatten der Vergangenheit bzw. nicht mehr existent, was sich wiederum für die weitere Wahrnehmung der Stadt als entscheidend herausstellt. Dies zeigt sich allem voran an der weiteren Verknappung der Darstellung historischer Ereignisse, die sich in den 1990er Jahren in den meisten Fällen auf den Bevölkerungsaustausch von 1922/1923 begrenzt und damit für die Stadt wichtige zeithistorische Daten und mit ihnen Jahrzehnte der Entwicklung ausblendet und so die jüngere griechische Geschichte und deren Einfluss auf das Selbstverständnis und die Deutung der Stadt übersieht. »Der ehemals große Bevölkerungsanteil kleinasiatischer Griechen ist nach der Umsiedlungsaktion im Jahr 1923 erheblich reduziert worden. Etwa 1,5  Millionen Griechen mußten das Land verlassen und 390 000 Türken kamen aus Griechenland hierher. Heute gibt es nur noch 4000 Griechen in der Türkei, von denen wenige in Izmir und der überwiegende Teil in Istanbul leben. […] Der Stadtteil Fener am Goldenen Horn beherbergt das Griechisch-Orthodoxe Patriarchat und einige griechische Schulen, in denen jedoch von Jahr zu Jahr weniger Kinder unterrichtet werden. Griechen wie Armenier und andere Minderheiten unterliegen je nach Regierungssituation einer mehr oder weniger starken Assimilierungspolitik, die nicht selten deutliche Abwanderungsschübe mit sich bringt« (Stegemann/Weisser 1998: 12).

Auch hier zeigt sich der griechische Teil der Bevölkerung vorwiegend in den Kontext der orthodoxen Kirche zurückgezogen, die als kultureller Schild und Bewahrer von Tradition und Identifikation fungiert und damit in Erscheinung tritt als Widerpart einer kaum näher erklärten politisch initiierten Assimilierungspolitik. Für den Istanbuler Alltag scheint diese Bevölkerungsgruppe keine weiterführende Rolle mehr zu spielen. Gleichzeitig erscheinen die Darstellungen dieser gesellschaftstransformierenden Ereignisse gerade im Zeitraum von 1930 bis 1998 als wertneutral, unkritisch und touristisch distanziert. In den meisten Fällen wird hier eine neutrale Deutungsposition eingenommen. Dies ändert sich erst mit den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts, wenn zuerst in englischen Reiseführern und anschließend auch in deutschen dezidiert auf diese Ereignisse und damit das gegenüber den eigenen ethnischen Bevölkerungsgruppen in der Türkei respektive Istanbul begangene Unrecht auch in Bildform eingegangen wird. Ein Beispiel hierfür ist der »Time Out Reiseführer« (Sales 2007) von 2007, der unter der Rubrik In Context einen Eindruck von den Verwüstungen auf der İstiklal Caddesi vermittelt, deren Opfer vorwiegend griechische Einwohner und Geschäftsleute waren, und der damit einen bewussten Fokus auf den Kontext der historischen und sozialen Entwicklung der Stadt richtet: »However, Istanbul’s indigenous religious minorities, who at the time still accounted for around one-third of the city’s population, were less fortunate. In 1942, on the pretext of combatting war profiteering, the Turkish government introduced an ›asset tax‹, which was levied primarily on Jews, Armenians and Greeks.

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Abb. 5: »Anti-Greek riots of 1955 hastened the end of the Greek community in Istanbul« (Sales, Ros (2007): Time Out. Istanbul. London, S. 26)

Fortunes accumulated over generations were wiped out overnight, as many were forced to sell off their assets to Muslims at a fraction of their worth. Thousands of those who were still unable to meet their payments were deported to labour camps in eastern Turkey. Although repealed in 1944 under pressure from the British, the tax dealt the minorities of Istanbul a crippling financial and psychological blow from which they have never recovered. The result was a steady flow of emigrants to Greece, the US and, after 1948, the new state of Israel.  […] But the Boom proved short-lived. Menderes became increasingly nationalistic and authoritarian. In September 1955, he attempted to exploit tensions over Cyprus by encouraging anti Greek protests in Istanbul. The protests became a riot and then a pogrom, as mobs attacked the Greek population, killing and looting. The police, apparently under orders not to intervene, stood back and watched. The pogrom sounded the death knell for the Greek community. Emigration accelerated. Today there are only 2,500 Greeks left in Turkey, fewer than the number of expatriate Britons« (Sales 2007: 26).

Sales zeichnet hier ein starkes Bild der Repressalien, die die Minderheiten Istanbuls von politischer Seite erdulden mussten, und gibt damit auch eine Erklärung für den rasanten Transformationsprozess der Stadt, bei dem die griechische Bevölkerung aus dem Alltag und damit auch aus dem kollektiven touristischen Gedächtnis verschwand.

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Eine ähnliche Aufarbeitung erfolgt in deutschsprachigen Reiseführern zeitversetzt erst 2014, jedoch in abgeschwächter Intensität, wenn Christoph K. Neumann (2014) neben dem Bevölkerungsaustausch vor allem die für Istanbul entscheidenden Ereignisse in den Mittelpunkt seiner Darstellung rückt und dezidiert auf die Minderheiten der Stadt fokussiert: »Nach außen hin blieb Istanbul davon fast unberührt: Die meisten Istanbuler Armenier hatten überlebt, die Orthodoxen der Stadt durften bleiben, wie auch die Juden. Der Friedensvertrag von 1923 sah für sie Schutzmechanismen vor, die von der türkischen Regierung aber immer weiter untergraben wurden. In Wellen kam es zu Maßnahmen gegen diese Bürger der Republik, die nicht in deren Ideologie passten: eine Sondersteuer während des Zweiten Weltkriegs, die viele in die Armut trieb, und das Pogrom von 1955 vor allem gegen die Orthodoxen sind am bekanntesten. Massenhafte Abwanderung war die Folge. Juden zog es nach Israel, Orthodoxe nach Griechenland, Armenier meist nach Frankreich und Nordamerika« (Neumann 2014: 107).

Neumann (2014) zeigt in seinem Essay »Im Fokus: Christen und Juden in Istanbul« im »Merian momente-Reiseführer« von 2014 eine ähnliche Schwerpunktsetzung; jedoch ist seine Darstellung weniger drastisch als diejenige des englischen Autorenteams. Gleichzeitig fällt auf, dass die griechische Minderheit nicht als solche bezeichnet, sondern unter dem Oberbegriff »Orthodoxe« subsumiert wird, was sich zwar unter dem religiösen Aspekt als korrekt erweist, der Bevölkerungsgruppierung aber den zugestandenen Minderheitenstatus durch eine weiterführende Reduktion auf die Religion entzieht und gleichzeitig die katholischen Griechen ausschließt. Auch hier zeichnet sich der Nebeneffekt ab, dass Griechen als solche im kollektiven touristischen Gedächtnis des 20. und auch des 21. Jahrhunderts in Deutschland weiterhin eine nachrangige Rolle spielen, da sie nicht als solche, sondern als unspezifische religiöse Gruppierung von »Orthodoxen« in Erscheinung treten. Diese Verneinung ihrer Existenz wird noch deutlicher, wenn im »Merian momente« von 2014 zu lesen ist: »Heute leben in Istanbul nur wenige Tausend Orthodoxe, oft aus der Provinz Hatay zugezogen: Araber, keine Griechen sowie einige Juden und Armenier. Viel größer ist die Zahl christlicher ›Expats‹ – Fachkräfte internationaler Unternehmen, die die Stadt kosmopolitisch machen« (Neumann 2014: 107).

Hier erlebt der Begriff des Orthodoxen eine völlig andere Aufladung, ohne dass dies dem Leser bewusst wäre. Wird im vorhergehenden Absatz orthodox mit griechisch gleichgesetzt, so erfolgt hier ohne weiterführende Erklärung eine Gleichsetzung zwischen orthodox und syrisch. Aus Rezipientenperspektive ist dies schwer nachzuvollziehen; stattdessen würde der Leser automatisch diese syrischen Zuwanderer als griechisch-orthodox verorten, wäre da nicht der Hinweis, dass es keine Griechen in der Stadt mehr gebe. Diese Übertreibung hat wiederum zur Folge, dass Griechen auch weiterhin für die gegenwärtige Stadtwahrnehmung keine Rolle spielen, obwohl sie nach wie vor – und gerade seit der Euro-Krise in Griechenland – wieder in zunehmender Zahl in der Stadt zuhause sind. Dies bestätigte zum einen 2013 Erzpriester

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Apostolos Dositheos bei einem Besuch durch eine Studentengruppe der Universität Regensburg beim Ökumenischen Patriarchen in Istanbul, zum anderen zeigt sich dies auch an der Umtriebigkeit der griechischen Schulen und Kirchen, die in jüngerer Vergangenheit bei abnehmender Repression wieder vermehrt in die Öffentlichkeit treten können (Gietl 2016: 277). Vor allem das griechische Element drängt sich – neben dem aller anderen nichtmuslimischen Minderheiten  – wegen der tieferen historischen Verankerung im Selbstverständnis der Stadt in jüngerer Zeit wieder verstärkt in den Mittelpunkt – gerade in der Suche nach Identität abseits eines zunehmend erstarkenden religiösen Bewusstseins. Beispiele hierfür sind die Wiederentdeckung der alten griechischen Namen, wie Pera für den Stadtteil Beyoğlu, im gastronomischen oder touristischen Rahmen, oder die Rückbesinnung auf gemeinsame musikalische Traditionen, wie die Musiker der Istanbuler Formation Cafe Aman Istanbul mit ihrer CD-Veröffentlichung »Fasl-i Rembetiko« zeigen. Auch hier stellt sich die Frage, warum dieser Teil der Geschichte gerade heute wieder in den Vordergrund und damit auch in die touristische Außenwahrnehmung Istanbuls rückt. Einen Grund dafür liefert Neumann (2014: 107) im weiteren Verlauf gleich mit, wenn er im Zusammenhang mit der Ermordung Hrant Dinks erklärt: »Gerade deswegen sind die Demonstrationen, die immer noch jedes Jahr zu Dinks Todestag seiner gedenken und völlige Aufklärung des Mordes fordern, so wichtig. Ohne einheimische Juden und Christen kann Istanbul auf Dauer nur verlieren: seine Identität und seine Besonderheit. Für die Existenz dieser Gruppen ist es aber nötig, dass die gesamte Gesellschaft nicht nur ihre Institutionen anerkennt, sondern ihnen auch in der Erinnerung den Platz gibt, der ihnen gebührt. Hrant Dink hat das eingefordert. Zu leisten ist es noch.«

Die gesamte Geschichte, die Vielschichtigkeit und damit auch der Reiz der Stadt gehen von ihrem kosmopolitischen, multikulturellen Erbe aus. Dies zu negieren, ist verlorenes Potential und bedeutet zugleich eine Verleugnung der eigenen Identität. Dazu ist Pluralismus nötig, und dieser findet ausgerechnet seit der Regierung Recep Tayyip Erdoğans wieder Eingang in die türkische Politik, was wiederum der Wahrnehmung in Deutschland widerspricht. Für die griechische Minderheit zeigt sich dies zuallererst in der Rückgabe konfiszierten Eigentums in Form von Schulen und Institutionen und darüber hinaus im Angebot an Griechenland, Griechen zum Arbeiten nach Istanbul zu übersiedeln. Eine weiterführende Bedeutung und Wahrnehmung im deutschsprachigen Raum erlangt diese Entwicklung und damit auch die Existenz der Griechen in Istanbul auch abseits der touristischen nicht; sie bleibt heutzutage von Lifestyle-Bildern der Stadt überlagert. Dies vor allem, wenn man bedenkt, dass der weitreichende Schritt zwischen Papst Franziskus und dem ökumenischen Patriarchen Bartholomäus zur Überwindung der Spaltung der orthodoxen und der katholischen Kirche im Jahr 2015 nach knapp 1.000 Jahren Trennung (Reuscher/Kálnoky 2014) als eigentlicher Höhepunkt und kirchengeschichtlicher Meilenstein ganz im Gegensatz zum Besuch in Erdoğans neu erbautem Luxuspalast (Bild 2014) nur als Randnotiz den Einzug

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in die Nachrichten des Tages schaffte. Auch das ist ein deutlicher Hinweis auf den Wandel kultureller Wertvorstellungen, der in hohem Maße durch weitreichende Informationslücken oder Desinformation in Form stereotyper Pauschalisierungen der jüngeren und älteren Geschichte der Stadt und damit einer ihrer kulturellen Säulen, der Griechen, bedingt ist. Zusammenfassend zeigt sich auch hier deutlich die Folge stereotyper Verknappungen, die gerade auf interkultureller Ebene oft in eine direkte oder indirekte Legitimation politischen Handelns münden, da die Wahrnehmungsebenen keine Deckung mehr finden und damit auch für jede Form der Manipulation anfällig werden. Die Griechen, die über weite Zeiträume eine der größten Bevölkerungsgruppen der Stadt bildeten, erhielten nie eine angemessene Repräsentanz in Reiseführern, da sie zum einen vor allem in der Endzeit des Osmanischen Reiches viel zu sehr das Eigene verkörperten und dadurch häufig durch das Raster der Fremdwahrnehmung fielen, zum anderen aber auch durch konfessionelle Ressentiments lange Zeit immer eine Zwischenstellung einnahmen. Silke Meyer (2003: 362) sieht dies so: »Fremdbilder konzentrieren sich […] auf die Aspekte einer anderen Nation, die für die eigene eine Bedrohung darstellen.« Vor dem Hintergrund der muslimischen Mehrheitsbevölkerung ging diese Gefahr für den Reisenden von der griechischen Bevölkerung nicht aus – abgesehen von den verbliebenen, negativen Stereotypen aus den Darstellungen des 19.  Jahrhunderts, die »den Griechen« vor allem als verschlagen und trickreich schilderten und eine in die Gegenwart ausstrahlende Wirkung besitzen. Des Weiteren zeigt sich aber auch, dass die Homogenisierungspolitik des türkischen Nationalstaates die Bedeutung und Wahrnehmungsmöglichkeit der Minderheit auf ein Minimum reduzierte. In der Folge fiel deren Repräsentanz im Verlauf der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse und Hand in Hand mit der Abnahme der Bevölkerungszahlen immer geringer aus. Dies wiederum verweist auf ein deutliches Desinteresse der deutschsprachigen Rezipienten, das sich vor allem in der Reduktion auf statistische Bevölkerungswerte manifestiert, die den gesellschaftlichen und kulturellen Transformationsprozess, der die Stadt noch oder gerade heute umtreibt, einfach in Vergessenheit geraten ließen. Gleichwohl ergeben sich mit der Nationalstaatsgründung und vor allem der jüngeren Geschichte vor dem Hintergrund der Gezi-Proteste, der Geschehnisse rund um 9/11, aber auch die vorderasiatischen und nordafrikanischen Krisenphänomene einige Anlässe, auf der Suche nach Antworten den Blick wieder zunehmend in die Vergangenheit zu wenden. Dieses Lernen setzt im Grunde gerade erst wieder ein. Das zeigen die Ereignisse beginnend bei den Gezi-Parkprotesten 2013, aber auch heute im Zuge der Flüchtlingsund Türkeikrise und einem für den deutschen Betrachter neu entstehenden Türkeibild. Letztlich fluktuiert die touristische Wahrnehmung der Stadt und mit ihr ihrer Bewohner kontinuierlich zwischen kulturellen Zwängen, die auf sich ändernden ethischen und moralischen Normengerüsten basieren, und touristischen Projektionen, also Erwartungshaltungen, die vorwiegend auf stereotypen Tradierungen beruhen. Istanbul und seine Bewohner werden sich weiter wandeln: faktisch vielleicht in geringerem Maße, am stärksten wohl auf der Betrachterebene. Auch unser Betrach-

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tungswinkel wird sich weiter verändern – es werden andere Facetten herausgestellt, heute wichtige Wahrnehmungsmuster werden in den Hintergrund treten –, und der innere sowie der äußere Wandel der Betrachtungsweise werden sich weiterhin gegenseitig beeinflussen und bedingen. Die Wahrnehmung ist prozesshaft, nicht statisch, und sie wird immer von verschiedenen Faktoren abhängig sein: von kulturellen und gesellschaftlichen Transformationen, medialen Projektionen und von verschiedenen Formen der subjektiven Distinktion oder der Identifikationen. Derzeit haben diese Prozesse einen zunehmend globalen Charakter und müssen im Kontext einer ebenso zunehmenden ökonomischen und mit ihr kulturellen Globalisierung des Gemeinwesens gesehen werden, die gleichzeitig eine regionale Identifizierung und im zweiten Schritt eine Nationalisierung aus Angst vor dem Verlust der eigenen Identität evoziert – in Istanbul ebenso wie in vielen anderen Städten und Ländern der Welt.

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Homophobie und queere Interventionen in Polens visueller Kultur ab 1980 Julia Austermann

Abstract: Homophobia and queer interventions in P oland’s visual culture since 1980 This paper presents an overview of the author’s PhD project. It explores the collection of Polish textual and pictorial images of national, parochial, political and activist origin that provides information about homophobia and its visualization as well as its contestation. Homophobic hate is represented in posters, pictograms, graffiti etc. by national, church-based and politically right-wing groups. They are spread via the Internet and find their way to the public sphere through street protests, influencing fundamentally Poland’s visual culture. My focus is on analyzing the production and handling of these pictures, their specific iconography and emotional strategies as well as queer interventions. My hypothesis is that a public icono-sphere of homophobia has developed in Poland’s visual culture that is influenced by nationalist, right-wing and catholic groups. In their attempt to confront this development, queer activists use integrative visualizations against the discrimination of homosexuality. My research questions are: What kind of emotional stereotypes characterize the discourse about homophobia in Poland since 1980? What influence did communism have on gay and lesbian activism in Poland? What meaning do queer protest images have for the fight against homophobia? And finally, how did the discourse, the media practice and the protest culture change after 1989?

E inleitung: H omophobie in P olen – zur A ktualität der Thematik In Polen werden immer wieder Diskriminierungsfälle und auch Gewalttaten, sogenannte »hate crimes«, gegen Schwule und Lesben bekannt (Makuchowska 2011). Diese Entwicklung wird auch durch die mangelhafte polnische Gesetzgebung unterstützt, hat Polen bislang doch zu wenig getan, um die Antidiskriminierungsrichtlinie der Europäischen Union umzusetzen. Nach wie vor gilt das Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1969, das in den vergangenen Jahrzehnten kaum modifiziert wurde (Godzisz 2016: 7). Das Antidiskriminierungsgesetz, das 2011 in Kraft trat, bietet lediglich ar-

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beitsrechtlichen Schutz (Kitliński/Leszkowicz 2013a: 204). Der Entwurf für ein Lebenspartnerschaftsgesetz scheiterte zuletzt 2013 und die aktuelle Regierung unter der Führung von Jarosław Kaczyński und seiner Partei »Recht und Gerechtigkeit« [Prawo i Sprawiedliwość, PiS] hat wenig Interesse daran, dies zu ändern (Vetter 2017: 14 f.). Homophobie wird hier als gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gegen Schwule, Lesben, Bi- und Trans-Personen verstanden, die sich auf psychologischer und ideologischer, das heißt heterosexistischer Ebene manifestiert (European Parliament 2006). Der Begriff wird im polnischen Kontext in der Regel als »umbrella term« für alle Personen verwendet, deren Sexualität nicht der Heteronorm entspricht (Mizielińska 2011: 90). »It may be too general […] but not necessarily so in Polish reality, where all people who do not fit into a rigid gender binary system […] are called freaks, dykes, faggots interchangeably« (ebd.). Insbesondere die katholische Kirche und national-konservative PolitikerInnen tragen seit der Wende 1989 zur Legitimation der extremen Rechten sowie der nationalistischen Tendenzen in Polen bei (Balcerzak 2017: 267). Diese demokratiefeindliche Entwicklung hat sich mit der Wiederwahl der nationalkonservativen PiS-Partei im Oktober 2015 und Kaczyńskis Politik des »guten Wandels« [dobra zmiana] weiter verschärft: Der gegenwärtige politische Diskurs in Polen wird durch ein »ethno-nationalistisches, polenzentristisches Bewusstsein« dominiert, bei dem der Katholizismus als Inbegriff nationaler Zugehörigkeit [»Polakkatolik«] fungiert (Stoll/Stach/Sariusz-Wolska 2016: 1). Es ist naheliegend, dass dieses Konzept des katholischen Nationalismus bestimmte Gruppen von vorneherein ausschließt, insbesondere ethnische, religiöse und sexuelle Minderheiten (Graff 2009: 133). Ein Rückblick in die Geschichte mag aufgrund der aktuellen Situation verwundern, war doch Polen unter den ersten Ländern in Europa, die Homosexualität entkriminalisierten, und zwar lange vor 1989, bereits im Jahr 1932 (Keinz 2014: 127). Die aktuelle Brisanz des Themas zeigte sich im Jahr 2018, als Polen seine 100-jährige Unabhängigkeit feierte. Eine selbst gestaltete Regenbogenflagge, die während der Gleichheitsparade [Parada Równości] in Tschenstochau, einem katholischen Wallfahrtsort hoch gehalten wurde, sorgte für mediales Aufsehen und wurde zum nationalen Politikum (Ciastoch 2018). Die TeilnehmerInnen, darunter der polnische Aktivist Bartosz Staszewski der Danziger LGBT-Gruppe »Stonewall«, trugen eine Flagge, die den polnischen Wappenadler vor dem Hintergrund einer Regenbogenflagge zeigte und die polnische Nation so symbolisch queerte. Nationalkonservative Politiker, vor allem der polnische Innenminister Joachim Brudziński, sahen in der Flagge eine unnötige »Provokation« und leiteten ein juristisches Verfahren aufgrund der »Verunglimpfung nationaler Symbole« ein (Ciastoch 2018). Unterstützung bekamen die LGBT-AktivistInnen von der »Aktion Demokratie« [Akcja Demokracja], der »Kampagne gegen Homophobie« [Kampania Przeciw Homofobii, KPH] und dem Verein »Liebe schließt nicht aus« [Miłość Nie Wyklucza], die die Kampagne »Der Regenbogen ist keine Beleidigung« [Tęcza nie obraża] initiierten und 10.000 Stimmen sammelten. Die Akteure übergaben die Petition im September 2018 und protestierten mit der umstrittenen Flagge vor dem polnischen Innenministerium (Jazwiecki 2018).

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Es ist vor allem der Regenbogen, heute Symbol der globalen LGBT*-Community, der immer wieder als Feindbild stilisiert und angegriffen wird. Homophober Hass rechtsradikaler und christlich-fundamentalistischer Gruppierungen auf Schwule, Lesben und nicht-heterosexuell orientierte Personen wird in Form von Plakaten, Piktogrammen, Fotografien, Graffities repräsentiert und ideologisch geframed (Fahlenbrach 2016: 251). Diese homophoben Bilder werden im Internet weiter verbreitet, finden durch rechtsradikale Straßenproteste, insbesondere an Polens Unabhängigkeitstag am 11. November, Eingang in den urbanen Raum und beeinflussen so die visuelle Kultur Polens.1 Meine Hypothese lautet: Mit dem Einsetzen der institutionalisierten Emanzipationsbewegung und Sichtbarmachung der LGBT-Community entstand nach 1989 auch eine öffentliche Ikonographie der Homophobie in der visuellen Kultur Polens, die sich vor allem durch nationalistische, rechtspopulistische sowie christlich-fundamentalistische Gruppierungen manifestiert. Im Gegenzug nutzen LGBT-AktvistInnen in Form von Kampagnen und Protestaktionen Visualisierungen, die der Diskriminierung von Homosexualität entgegen wirken sollen. Um ihre Kritik zu artikulieren, haben Protestbewegungen immer schon spezifische Bildstrategien verfolgt, doch fehlt es bislang an Forschung zu homophoben bzw. queeren Bewegungen in Polen und ihren jeweiligen Visualisierungs- und Emotionalisierungsstrategien.2 Aus den bisherigen Ausführungen ergeben sich folgende Forschungsfragen: Durch welche emotional aufgeladenen Stereotype ist der Bilddiskurs zu Homophobie in Polen seit 1980 gekennzeichnet? Welche Bedeutungen hatten und haben queere Bildpraktiken für die Anerkennung einer Vielfalt von Lebensformen jenseits der Heteronormativität? Ziel ist es, anhand einer Auswahl von Artikeln polnischer Tagesund Wochenzeitungen und Archivalien aus privaten und öffentlichen LGBT-Archiven Homophobie und die queeren Interventionen in Polen seit 1980 zu skizzieren. Meine forschungstheoretischen und methodischen Zugänge kommen aus der Visuellen Kultur, der feministischen Gender/Queer-Forschung, der Emotionsgeschichte, Protestforschung und Praxeologie.3

1 | Vgl. Balcerzak 2017: 279; Czarnecki 2009a: 17; Esch 2016: 106. 2 | Vgl. Balcerzak 2017; Czarnecki 2009b; Chetaille 2011; Graff 2006/2009/2010; Gruszczyńska 2009; Keinz 2008; Kitliński/Leszkowicz 2013a; Kulpa/Mizielińska 2011; Szulc 2017a; Warkocki 2014. 3 | Der Beitrag basiert auf Forschungen im Rahmen meines Promotionsprojektes »Visualisierungen des Politischen: Homophobie und queere Protestkultur in Polen ab 1980«, das angesiedelt ist am Lehrstuhl Mediengeschichte/Visuelle Kultur der Universität Siegen.

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V isuelle K ultur : B ilddiskurse und B ildpraktiken des homosexuellen P rotests Mein Beitrag ist angesiedelt in den Forschungsfeldern der Visuellen Kultur4 und Gender/Queer Studies.5 Die Forschungsperspektive der Visuellen Kultur fokussiert auf die Funktion der Bilder und ihre Gebrauchsweisen und auf ihre »Beteiligungen an Praktiken der Willens- und Wissensbildung« (Holert 2000: 18). Mein methodischer Zugang stellt die Bild-Diskurs-Analyse dar (Maasen 2006: 7). Ich frage danach, wie der Homophobie in Polen mit queeren Gegen-Bildern begegnet wurde beziehungsweise wird. Ein transdisziplinärer Zugang ist für die visuelle Analyse homophober beziehungsweise queerer Proteste bedeutsam, in dem die Frage der (Un-)Sichtbarkeit der Homosexualität in den Vordergrund rückt. Homosexuelle in den Industriestaaten haben bereits in den 1970er Jahren damit begonnen, der Unsichtbarkeit etwas entgegenzusetzen, nämlich »das Konzept der Sichtbarmachung und der Sichtbarkeit« (Nord 2000: 157). Die globale Homosexuellenbewegung griff bereits seit den 1970er Jahren auf visuelle Codes wie etwa den rosa Winkel6 und später auf das Motiv des Regenbogens7 als Symbole »habitueller Zugehörigkeiten« zurück (Fahlenbrach 2002: 21). Unter Rückgriff auf Bourdieus Habituskonzept ist die »emotionale Struktur visueller Protestcodes« (ebd.) hervorzuheben. Das heißt, die Funktion visueller Zeichen und Symbole innerhalb von Protestbewegungen dient der emotionalen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Sie kommunizieren habituelle Innen- und Außengrenzen (ebd.). Hinsichtlich der visuellen Analyse von »protest images« (Fahlenbrach 2016: 245), darunter sind Bilder zu verstehen, die Proteste zeigen und entweder von den AkteurInnen selbst stammen oder durch die Medien erzeugt wurden, differenziere ich mit Fahlenbrach (2016: 251) zwischen den Funktionen, also den Motiven der Bildproduzenten und ihrem Framing. Diese Perspektivierung fragt danach, wie die Medien die Protestbilder mittels ihrer Ideologien und Werte rahmen und so zur (De‑)Legitimation von Protest beitragen (ebd.). Die Protestimages dienen sowohl der externalen Mobilisierung, also der direkten Ansprache der medialen Öffentlichkeit, als auch der internalen Mobilisierung. Sie erfüllen eine wichtige identitätsstiftende 4 | Vgl. Holert 2000; Mitchell 1995; Neumüller 2018; Regener 2006. 5 | Vgl. Butler 1991/2016; Hoenes/Paul 2014; Krass 2005; Lünenborg/Maier 2013; Nord 2000. 6 | Der rosa Winkel, während der NS-Zeit Symbol zur Kennzeichnung der Homosexuellen, entwickelte sich in der deutschen Homosexuellenbewegung in den 1970er Jahre zum Protestsymbol. Als Kompromiss auf die Frage des »richtigen Auftretens« in Folge des sogenannten »Tuntenstreits« (1973) innerhalb der »Homosexuellen Aktion Westberlin« (HAW), wurde im November 1973 im »Feministen-Papier« festgeschrieben, dass jeder Homosexuelle sich einen rosa Winkel anheften sollte. Der rosa Winkel wurde erstmals am 17. Mai 1975 auf dem Kurfürstendamm in Berlin öffentlich getragen und entwickelte sich später zum internationalen Symbol der Homosexuellenbewegung. Vgl. Holy 2017: 55 f. 7 | Das Motiv der Regenbogenflagge, heute Symbol der globalen LGBT-Community, geht zurück auf den US‑amerikanischen Schwulenaktivisten Gilbert Baker, der die Flagge 1978 für die »Gay Pride« in San Francisco gestaltete (vgl. Baker).

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Funktion (ebd.: 248). Beide Perspektivierungen sind sinnvoll, um die Funktionalität der homophoben und queeren Bildpraktiken zu ermitteln und auch die ikonografische Spezifizität und ideologische Kontextgebundenheit zu untersuchen. Ich begreife die zu analysierenden Visualisierungen mit der Kulturwissenschaftlerin Monique Scheer (2012: 209) als »mobilisierende emotionale Praktiken«, um das affizierende Potenzial der Bilder herauszustellen. Für den Zeitraum der 1980er Jahre greife ich exemplarisch auf Archivalien aus dem Lambda Archiv Warschau zurück, die ich mit alternativen Medienerzeugnissen aus privaten Archiven homosexueller Aktivisten, unter anderem von Ryszard Kisiel (Danzig), Waldemar Zboralski (Warschau) und Andrzej Selerowicz (HOSI Wien) verknüpfe.8 Diese queeren privaten Archive sind deswegen bedeutsam, weil sie den Übergang der homosexuellen Emanzipationsbewegung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit skizzieren und die Bedeutsamkeit amateurhafter, das heißt aus der Subkultur heraus agierender Gruppen gegen staatliche Verfolgungsmaßnahmen in dieser Zeit deutlich machen. Nach der Wende gelangte der Sexualitätsdiskurs zunehmend in die öffentliche und mediale Sphäre und es verlagerte sich der queere und homophobe Protest vor allem nach 2004, also dem Jahr, als Polen Mitglied der Europäischen Union wurde, in den urbanen Raum. Analysiert werden für diesen Zeitabschnitt beispielhaft die Bildpraktiken der rechtsradikalen Partei »Nationale Wiedergeburt Polens« [Narodowe Odrodzenie Polski, NOP] während des sogenannten »Marsches der Unabhängigkeit« [Marsz Niepodłegości], der alljährlich am 11. November, dem Unabhängigkeitstag Polens ausgerichtet wird. Diesen explizit homophoben Visualisierungen werden anschließend die queeren Protest-Images der LGBT-AktivistInnen während der Warschauer Gleichheitsparade (2017) gegenübergestellt.

H omophobie im kommunistischen P olen: die A ktion »H yacinth « (1985–1987) Homosexuelle Handlungen wurden im unabhängigen Polen nicht gesetzlich verfolgt.9 Die Besatzungsmächte Russland, Preußen und Österreich führten im 19. Jahrhundert Gesetze ein, die Homosexualität unter Strafe stellten. Mit der Rückerlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1918 änderte sich die Gesetzgebung und homosexuelle Handlungen wurden nicht mehr kriminalisiert. Das Strafgesetzbuch von 1932 sah kein Verbot der Homosexualität mehr vor. Diese liberale Rechtslage förderte nicht 8 | Für die Analyse der polnischen LGBT-Bewegung sind queere Bewegungs-Archive bedeutsam: »Eine Antwort auf das heteronormative Archiv im Sinne Foucaults vermögen die queeren Archive zu geben […]. Sie können helfen, den kritischen Blick auf das Archiv der Heteronormativität zu schärfen und das Dispositiv der Sexualität zu dekonstruieren. Sie stellen einen Speicher bereit für jenes Wissen, das sich heteronormativen Gewissheiten entzieht und ihre Grundlagen erschüttert« (Krass 2016: 160). 9 | In der BRD wurden homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen erst 1969 entkriminalisiert; in der DDR ein Jahr früher, im Jahr 1968 (Holy 2017: 39–79; Thinius 1994: 9–89).

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das Ansehen der Homosexuellen in der Öffentlichkeit (Szulc 2017a: 98). Auch die Einstellung der Gewerkschaftsbewegung Solidarność zur Homosexualität war eindeutig, schlug sie sich doch früh auf die Seite der Katholischen Kirche (ebd.: 136). In den Großstädten formierten sich sogenannte »Cruising-Plätze«, also Treffpunkte der Homosexuellen in Bars, Toiletten, öffentlichen Bädern oder Parks.10 In den USA wurden zur Zeit der Mc-Carthy-Ära homosexuelle Männer bezichtigt, mit den Kommunisten zu kollaborieren. Analog dazu wurden in Polen und der Sowjetunion Homosexuelle als »Landesverräter« konstruiert, die mit vermeintlichen Emigranten aus dem »promiskuitiven Westen« zusammenarbeiteten (Kitliński/Leszkowicz 2013a: 195). Dieses homophobe Klima machte sich die kommunistische Regierung zunutze, um homosexuelle Männer zu drangsalieren und zu erpressen. Sie führte immer wieder Razzien an informellen Treffpunkten durch. Bereits seit den 1960er Jahren registrierte die kommunistische Partei gemeinsam mit der polnischen Bürgermiliz [Milicja Obywatelska, MO] homosexuelle Männer in speziellen »rosa Karteien«. Dieses Streben nach staatlicher Kontrolle gipfelte in den Jahren zwischen 1985 und 1987, also in einer Zeit, in der die Oppositionsbewegung in Polen immer stärker wurde (Borodziej 2010: 370), in der Polizeiaktion »Hyacinth«, bei der rund 11.000 Männer festgenommen, verhört, katalogisiert und zwangsgeoutet wurden. Im November 1985 führte die polnische Bürgermiliz regelmäßig Razzien in Bars, Toiletten und öffentlichen Bädern in ganz Polen durch (Kitliński/Leszkowicz 2013a: 195). Auskunft über die polizeilichen Repressionen geben auch Zeitzeugenberichte, etwa jener des Schwulenaktivisten und Herausgebers des polnischen Gay-Zines »Filo« (1986–1990) Ryszard Kisiel, der in einem Interview mitteilte: »They took me to the station of the Citizen Militia, where they tried to take my fingerprints and my photograph. In the beginning I tried to protest, but they intimidated me very quickly« (Radziszewski 2009: 30). Offiziell sollte die Polizeiaktion dem »Opferschutz« dienen, da sich kriminelle Handlungen gegen Homosexuelle in dieser Zeit häuften. Außerdem wurde die Aktion mit Maßnahmen zur HIV/AIDS-Prävention begründet, weil sich das Virus besonders in homosexuellen Kreisen weiter verbreitete. Inoffiziell ging es aber um die Sicherung der Kontrolle eines autoritären Regimes über das Privatleben seiner Bürger und darum, die sich formierenden homosexuellen Gruppen einzuschüchtern und ihre Organisation zu unterbinden. Homosexualität ließ sich gut für Erpressungen ausnutzen und die Staatssicherheit versuchte, Homosexuelle als Spitzel im Kampf gegen die anti-kommunistische Bewegung zu gewinnen. Es standen in erster Linie schwule Männer im Fokus der Bürgermiliz. Lesbische Frauen waren von der Polizeiaktion nicht betroffen. Die Diskriminierung homosexueller Frauen äußerte sich vor allem in ihrer Unsichtbarmachung (Borgos 2015: 89). Homosexualität war zur Zeit der Volksrepublik ein gesellschaftliches Tabu. Sie wurde in strafrechtlichen und medizinischen Kontexten pathologisiert und mit bestimmten »Outsidergruppen« in Verbindung gebracht: »In the PRL’s public discourse until 1980, male homosexuality 10 | Vgl. Kitliński/Leszkowicz 2013a: 195; Sobolczyk 2015: 19; Szulc 2017a: 72.

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was usually represented in stereotypical ways, either in a criminal context, especially in newspapers, or in a comical context, especially in films« (Szulc 2017a: 99).11 Im Verlauf der 1980er Jahre trat eine Art soziokulturelle Liberalisierung ein und es wurden zunehmend Themen medial verhandelt, die zuvor nicht angesprochen worden waren (Warkocki 2014: 144).

M ediale Fremdbilder : die D iskursivierung der polnischen H omosexuellenbewegung in den 1980 er J ahren Der polnische Historiker Błażej Warkocki (2014: 144), der die polnische LGBT-Bewegung in drei historische Phasen unterteilt (1981–1990, 1990–2003, 2003 bis heute) bezeichnet die erste Periode als »frühe Emanzipationsphase«. Agata Fiedotow widmet sich der Verhandlung der Homosexualität im öffentlichen Diskurs. Zwischen 1981 und 1989 sei das Thema etwa einhundert Mal aufgetreten (vgl. Warkocki 2014: 144). 1981, also zur Zeit der Solidarność-Bewegung, publizierte Barbara Pietkiewicz im Magazin »Polityka« ihren Artikel »Gorzki Fiolet« [Bitteres Violett], der sich für mehr Toleranz gegenüber Homosexuellen in Polen aussprach (vgl. Szulc 2017b).12 Von besonderer Bedeutung für die homosexuelle Emanzipationsbewegung in Polen war der Artikel »Wir sind anders« [Jesteśmy inni] des polnischen Publizisten Dariusz Prorok (auch bekannt als Krzysztof T. Darski), der am 23. 11. 1985 ebenfalls im Magazin »Polityka« erschien und als queere Reaktion auf die Aktion »Hyacinth« gelesen werden kann (vgl. Szulc 2017b) (vgl. Abb. 1). Warkocki (2014: 145) bezeichnet es gar als erstes »polnische[s] schwule[s] Emanzipationsmanifest«. Der vormals negativ konnotierte Begriff »anders« [inaczej] wurde hier positiv umcodiert und als euphemistische Selbstbezeichnung genutzt (ebd.: 148).13 Darski spricht in seinem Artikel offen die Diskriminierung der Homosexuellen in Polen an. Viele Homosexuelle würden, aufgrund des gesellschaftlichen Zwangs der Heteronormativität, in heterosexuellen Ehen leben. Darski führt die Ausbreitung von HIV/AIDS auch zurück auf die Stigmatisierung der Homosexualität. Darski griff für die Illustration seines Artikels auf eine Fotografie zurück, die 1985 auch in einem SPIEGEL-Artikel publiziert wurde. Auskunft darüber gibt eine 11 | Vgl. auch Piotrowska 2010: 123 f. 12 | Szulc hat eine Auswahl an polnischen Zeitungsartikeln zu Homosexualität aus den 1970er und 1980er Jahren auf der Homepage seines Buches »Transnational Homosexuals in Communist Poland. Cross-Broder Flows in Gay and Lesbian Magazines« online gestellt. Einer der ersten Zeitungsartikel, der sich um eine liberale Berichterstattung zu Homosexualität bemühte, erschien bereits 1974 im Literaturmagazin »Literarisches Leben« [Życie Literackie] unter dem Titel »Homosexualität und Meinung« [Homoseksualizm a opinia] von Tadeusz Gorgol, einem katholischen Pfarrer (Szulc 2017b). 13 | Ab 1990 erschien das polnische Homosexuellenmagazin »Inaczej« [Anders], das die selbstbewusste Aneignung des Begriffs als Konzept einer schwulen Selbstidentifikation performativ fortsetzte (vgl. Kitliński/Leszkowicz 2013a: 205).

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Abb. 1 (links): Prokop, Dariusz (alias Darski, Krzysztof) (1985): Wir sind anders (Jesteśmy inny) Abb. 2 (rechts): Paul, Rainer (1985): Warten auf die Hinrichtung

Kopie des Artikels aus dem SPIEGEL-Online Archiv (Paul 1985) (Abb. 2). Der Text integrierte ein Plakat des sog. »Aids Project[s]/Los Angeles« (1985) von »L.A. Care«. Die Aufnahme zeigt sechs Männer, die mit freiem Oberkörper und langen Hosen nebeneinander stehen, darunter sind auch zwei Schwarzafrikaner. Die Männer werden von einer kleinen Frau, die im Vordergrund positioniert ist, mit ausgestreckten Armen der Leserschaft präsentiert. Rechts neben dem Bild wurde der Slogan »Play Safely« und »L.A.CARES … like a mother« hinzugefügt. Leitfigur der Safer Sex-Kampagne, so ist es in dem SPIEGEL-Artikel zu lesen, war eine kleine »Mutter«, die ihren homosexuellen »Lieblingssöhne[n]« rät, wie sie »sicher spielen« können, insbesondere durch die Verwendung von Präservativen (ebd.). Das Plakat wurde in dem polnischen Text auf die Darstellung der sechs Männer und der Frau im Vordergrund beschnitten. In der Bildunterschrift lesen wir die Frage, die mehr als Aufforderung erscheint: »Was versteht ein durchschnittlicher Homosexueller unter Gesellschaft« [Kim jest dla przeciętnego homoseksualisty społeczeństwo?] (Szulc 2017b). Darski nutzt die Fotografie in seinem Artikel als Bildstrategie für ein homosexuelles Empowerment. Es fällt auf, dass zwei der abgebildeten Männer Schwarzafrikaner sind, sodass das »Andere« im tendenziell eher homogenen, das heißt weißen Polen, auch durch die Intersektionalität von »sex« und »race« visualisiert wurde. Ikonographisch findet eine Solidarisierung der Homosexuellen mit den Schwarzen statt. Die Illustration weckt auch Assoziationen an die US-amerikanische

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Band »Village People«, die mit ihrem Song »YMCA« homosexuelle Musikgeschichte geschrieben haben. Auf den polnischen Kontext übertragen, kommen Assoziationen auf zum Topos der »Matka Polka« [Mutter Polin] als Hüterin der polnischen Nation. Der Begriff der Mutter Polin geht zurück auf die Epoche der Romantik, in der sich die Idee der Nationsbildung entwickelte. Die Fremdherrschaft führte zu neuen solidarischen Bündnissen auch zwischen den Geschlechtern. Die Erziehung der Kinder zum Polentum war eine wichtige politische Aufgabe der Frauen und sie beteiligten sich auch am nationalen Kampf. In der Zeit des sich ankündigenden Novemberaufstands 1830/1831 schrieb Adam Mickiewicz sein berühmtes Gedicht »An die Mutter Polin« [Do Matki Polki] und prägte damit diesen Topos. Die Mutter Polin erfährt hier auch eine christliche Konnotation und steht symbolisch für Maria, die Mutter Gottes (Chołuj 2000: 1).14 In Darskis Text erscheint die Mutter Polin nun als Beschützerin der polnischen Homosexuellenbewegung. Beide Artikel belegen beispielhaft transnationale mediale Bildwanderungen im Kontext von Homosexualität und HIV/AIDS. Darskis Artikel erschien in einer Zeit, als sich die ersten homosexuellen Gruppen in Polen konstituierten. Diese Gruppen publizierten ihre eigenen alternativen Medien, wie inoffizielle Flugblätter, Pamphlete oder Zines (Szulc 2017a: 125 f.). Weitgehend unbeachtet lässt die Forschung bislang die Bedeutung der Selbstdarstellungspraktiken als homosexuelle Empowerment-Strategien.

S chwule S elbstbilder : B ildstrategien polnischer H omosexuellengruppen Als queere Reaktion auf die Aktion »Hiacynth« formierten sich in ganz Polen in den 1980er Jahren informelle homosexuelle Gruppen und zirkulierten alternative Medien (Szulc 2017a: 125 f.). Insofern lieferte die Aktion »Hiacynth« gewissermaßen den »Startschuss« für die polnische Homosexuellenbewegung. Im Vergleich zu den Stonewall-Aufständen in New York 1979 rief die Polizeiaktion in Polen keine massiven Straßenproteste der Community hervor (ebd.: 162). Zwischen 1986 und 1987 entstanden die Gruppen »Etappe« [Etap] in Breslau, »Filo« [griech. Freund] in Danzig und die »Warschauer Homosexuellenbewegung« [Warszawski Ruch Homoseksualny, WRH]. Seit März 1983 gab der nach Wien emigrierte Pole Andrzej Selerowicz, der sich bei der »Homosexuellen Initiative Wien« [HOSI Wien], engagierte, sein »Bulletin« [Builetyn], ab 1986 »Bulletin/Etappe« [Builetyn/Etap] genannt, heraus. Hierbei bekam er von der Breslauer Gruppe Unterstützung bei der Distribution des Magazins in Polen (ebd.: 63). Die transnationalen Netzwerke der polnischen Aktivisten formierten sich zu Beginn der 1980er Jahre: Zwischen 1982 und 1985 gaben die Mitglieder der »HOSI Wien«, Andrzej Selerowicz, sein Partner John Clarke und Kurt Krickler, den »Eastern European Information Pool« [EEIP] heraus. Die Aktivisten waren bei der »IGA« [In14 | Zur Stellung Marias in der religiösen und politischen Kultur Polens vgl. Gasior 2007.

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ternational Gay Association] organisiert, später »ILGA« [International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association] genannt (ebd.).15 Anstoß für die Etablierung des EEIP war die dritte Jahreskonferenz der ILGA in Turin, die sich 1981 der Situation der Homosexuellen in Polen und Osteuropa widmete. Der EEIP sammelte und verbreitete Informationen über die rechtliche und soziale Situation der Homosexuellen in Zentral- und Osteuropa. 16 Andrzej Selerowicz war der Hauptakteur, er war der polnischen und deutschen Sprache mächtig, und arbeitete in einer österreichischen Handelsfirma, die regelmäßiges Reisen nach Zentralund Osteuropa erforderte, sodass er Kontakte aufbauen und Informationen sammeln konnte (Szulc 2017a: 65). Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Möglichkeiten des freien Publizierens in Ost und West lag vor allem in der Intensität der Zensur im kommunistischen Polen, die auch Formen »präventiver Zensur« miteinschloss. Während die Zensur in der Zeit des Kriegsrechts, also zwischen 1981 und 1983, verschärft wurde, trat ab 1986 eine Lockerung ein, die auch auf den politischen Strategiewechsel der UdSSR unter Michail Gorbatschow zurückzuführen ist (ebd.: 135). Die Zensur in Polen war nicht immer undurchlässig und es durften auch nicht-staatliche Publikationen veröffentlicht werden, so lange dahinter kollektive Institutionen und Organisationen standen und keine Privatunternehmen (ebd.: 148). Die polnischen Homosexuellengruppen nutzten ab Ende der 1980er Jahre verstärkt Visualisierungen zur homosexuellen Selbstdarstellung. Sie griffen auch auf das Bilderrepertoire der globalen Gay Community zurück. Es finden sich beispielsweise in Ryszard Kisiels »Filo« Illustrationen von Aubrey Beardsley, Illustrator von Oscar Wildes Büchern17, die bereits seit den 1970er Jahren in europäischen Homosexuellenzeitschriften zirkulierten.18 Die polnischen Aktivisten »queerten« auch nationale Motive: Ein Beispiel ist das Logo der Warschauer Homosexuellenbewegung aus dem Jahr 1987 (vgl. Abb. 3).19 Zu sehen ist das Profil eines »Meerjungmannes«. Das Logo nimmt unmittelbar Bezug auf das Warschauer Stadtwappen (1938) mit der »Warschauer Sirene« [Warszawska Syrenka] und homosexualisiert damit symbolisch die polnische Geschichte und Nation (vgl. Abb.  4).20 Die WRH, unter der Leitung des 15 | Auskunft über transnationale Protestaktionen im Zuge der ILGA- und EEIP-Konferenzen geben Fotografien des Aktivisten Jerzy Krzyszpien (Lambda Krakau), die sich im Archiv des Schwulen Museums Berlin befinden. 16 | Agata Fiedotow hat etwa 280 Briefe an den EEIP analysiert und listete wesentliche Themen auf, mit denen sich die polnischen Homosexuellen in dieser Zeit konfrontiert sahen, darunter Feindseligkeit und Intoleranz, die Klage über schwierige Lebensbedingungen, Ängste und Depressionen. Ferner beschrieb Fiedotow Strategien des Versteckens, das Doppelleben in heterosexuellen Ehen bis zur selbst gewählten Einsamkeit (vgl. Warkocki 2014: 147). 17 | Filo, Nr. 2, 1986, S. 1 (Quelle: Lambda Archiv Warschau). 18 | Rosa Flieder, Nr. 1, 1979, S. 19 (Quelle: Rosa Flieder Archiv Siegen). 19 | Archiv Waldemar Zboralski, Warschau, https://en.wikipedia.org/wiki/Warsaw_Gay_Movement#/ media/File:Herb-wrh.jpg (letzter Zugriff: 15. 4. 2019). 20 | https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Coat_of_arms_of_Warsaw.png (letzter Zugriff: 15. 2. 2018).

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Abb. 3 (links): Logo der Warschauer Homosexuellenbewegung (1987) Abb. 4 (rechts): Warschauer Sirene (1938)

Aktivisten Waldemar Zboralski, verwendete das selbst gestaltete Logo am 24. März 1988 für einen offiziellen Registrierungsantrag beim Warschauer Stadtrat. Daraufhin wurde Zboralski verstärkt von Mitarbeitern des polnischen Sicherheitsdienstes beschattet, die ihn dazu bringen wollten, den Antrag wieder zurückzunehmen. Aus dem Grund emigrierte Zboralski nach Dänemark (Szulc 2017a: 112). Die Ursprungsgeschichte der Warschauer Sirene verweist auf die symbolische Funktion der Frau als Schöpferin und Bewahrerin der polnischen Nation und Kultur, der Mutter Polin (Chołuj 2000:  1). Ähnlich wie die Warschauer Sirene wird der Meerjungmann der Warschauer Homosexuellenbewegung mit Fischschwanz, Schild und Schwert ausgestattet und trägt anstelle der Krone einen Helm. Die männliche Sirene erscheint so als Schutzpatron und Kämpfer für die Rechte der Homosexuellen in Polen. Durch die Visualisierung einer männlichen Sirene wurde der Gründungsmythos der Stadt Warschau semantisch umcodiert und mit einem homoerotischen Subtext belegt. Das Logo der WRH lässt sich als visueller Protestcode der homosexuellen Selbstdarstellung beschreiben, es fungierte als kollektives Symbol der Zugehörigkeit.21 In diesen Bildpraktiken manifestierten sich homosexuelle »habituelle Protest-Identitäten« im semi-öffentlichen Raum (Fahlenbrach 2002: 237). Bruns (2013: 21 | Das Motiv der Meerjungfrau gehört heute zum festen Bildrepertoire polnischer LGBT-NGOs. Die Grafik einer regenbogenfarbenen Sirene wurde zum Beispiel als Logo der ILGA (International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association)-Europe Konferenz in Warschau im Jahr 2017 verwendet. Siehe ILGA-Europe 2017.

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170) hebt in dem Kontext die Bedeutung der sich etablierenden neuen Medientechniken in den 1970er und 1980er Jahren hervor, die es ermöglichten, dass die zahlreichen homosexuellen Gruppen in den »Enkodierungs-Dekodierungszyklus der Medien« aktiv eingriffen und »sich selbst am Entwickeln von prototypischen Bildern und Logos massiv [beteiligten]«.

H omophobie im N ach -W ende P olen: das Wiedererstarken der   polnischen N ation und die R olle der katholischen K irche Mit dem Ende des kommunistischen Regimes gelangte der Sexualitätsdiskurs zunehmend in die mediale Öffentlichkeit. Das Post-Solidarność, das Post-Kommunistische Lager und die Katholische Kirche bezogen sich jeweils unterschiedlich auf die Sexualität, was die gesellschaftliche und politische Spaltung Polens in den folgenden Jahren weiter beförderte (Herzog 2011: 189 f.). Die erste Phase der sogenannten »Dritten Republik« war geprägt durch die Regierung des aus der Solidarność hervorgegangenen »Bürgerkomitees« und seiner Allianz mit der Katholischen Kirche, die nach 1989 ihre Stellung durch die zunehmende Säkularisierung gefährdet sah. Zwischen 1993 und 1997 regierte das »Bündnis der Demokratischen Linken« [Sojusz Lewicy Demokratycznej, SLD] und von 1997 bis 2000 bildete die gemäßigt konservative »Wahlaktion Solidarność» [Akcja Wyborcza Solidarność, AWS] eine Koalition mit der liberalen »Freiheitsunion« [Unia Wolnośći, UW] und regierte bis 2001 als Minderheitsregierung (Buras/Tewes 2005: 261). Zwischen 2001 und 2004 regierte eine SLD-geführte Regierung unter Leszek Miller und führte Polen in die Europäische Union (ebd.: 281). 1993 unterzeichnete Polen das Konkordat mit dem Vatikan, das 1998 offiziell in Kraft trat (Buzalka 2006: 43). Nach einer heftigen »Schwulendebatte« verabschiedete die SLD-geführte Regierung 1997 die neue Verfassung. Im Entwurf für Artikel  32 wurde zwar explizit das Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung mit eingeschlossen, dieser Entwurf wurde aber verworfen und zugunsten der allgemeineren Formulierung »aus welchem Grund auch immer« ersetzt (Kitliński/ Leszkowicz 2013a: 199). Abgelehnt wurde der ursprüngliche Entwurf nicht nur von der katholischen Kirche, sondern auch von Lech Wałęsa, dem Anführer der Solidarność-Bewegung, der darin eine Gefahr für die Familie sah (ebd.: 200). Homophobie wurde in Polen nach 1989 salonfähig (Biedroń 2009: 9). Anika Keinz (2008: 96) weist auf die besondere historische Rolle der Katholischen Kirche in Polen hin, bot sie doch in der Zeit der Teilungen und Fremdherrschaften eine besondere Kontinuität. Sie ist eine wichtige Institution in Polen und hat bis heute Einfluss auf viele Lebensbereiche, auch wenn sie sich im Zuge der Modernisierungsund der Säkularisierungsprozesse bedroht sieht. Suggeriert wird diese Bedrohung durch Gemeindepriester, Pfarreien und durch »Radio Maria«, das der polnische Pater Tadeusz Rydzyk 1991 gründete, und das bis heute täglich rund eine Million Menschen

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erreicht (Jarosz 2012: 64).22 Im Verlauf der 1990er und 2000er Jahre intensivierten nationalkonservative, aber auch links gerichtete PolitikerInnen und die Katholische Kirche die Debatte über die sexuelle und moralische Ordnung im Land, die mit einer Pathologisierung und Stereotypisierung der Homosexuellen als »Abnormale«, »Perverse«, »Devianten« und »Pädophile« einher ging (Czarnecki 2009a:  17  f.). Homosexualität wird im nationalistisch-klerikalen Diskurs als Gefahr für die »öffentliche Moral« und sogar für die polnische Nation stilisiert, sie gilt als »Sünde« und fungiert stellvertretend für das »universale Böse« (ebd.). Der Sexualitätsdiskurs nach 1989 wurde von der Katholischen Kirche, nationalkonservativen und links gerichteten PolitikerInnen dazu genutzt, die polnische Nation zu festigen. Keinz (2008: 238) zufolge verliefen die Grenzen einerseits zwischen Hetero- und Homosexualität und spalteten Polen in »Nationale und Anti-Nationale, Katholiken und Anti-Katholiken; gleichermaßen verlief die Grenze jedoch auch zwischen Polen und Europa«, sodass Homosexuelle als »Produkt des Westens« und der Globalisierung stilisiert wurden. Laut der Historikerin Claudia Kraft (2015: 188) ist noch eine andere Lesart möglich, nämlich »die Stigmatisierung der im Sozialismus (trotz Unterdrückung) gelebten Homosexualität«. Zwischen 2005 und 2007, unter der Regierung der nationalkonservativen PiS-Partei und ihres Bündnispartners, der klerikal-nationalistischen »Liga Polnischer Familien« [Liga Polskich Rodzin, LPR], wurde Polen zur »europäischen Hochburg der Homophobie« (Kitliński/Leszkowicz 2013a: 197). Lech Kaczyński und sein Zwillingsbruder Jarosław, der der PiS vorstand, interpretierten die Parlamentswahlen als Mandat zur Etablierung einer »Vierten Republik.« Rein formal ging es ihnen um den Bruch mit der 1989 am Runden Tisch entstandenen »Dritten Republik«. Die Verfechter der »Vierten Republik« forderten nicht nur Lustration, sie plädierten für einen grundlegenden Umbau der staatlichen Institutionen, eine Änderung der polnischen Verfassung und sie forderten eine »moralische Revolution« (Vetter 2008: 37 f.). Wesentlicher Motor war der EU-Beitritt Polens 2004, der eine »konservative Gegenbewegung auf den Plan« rief (Kitliński/Leszkowicz 2013a: 197). Ein weiterer Einschnitt bildete der Tod von Papst Johannes Paul II. im April 2005 (Krzoska 2015: 143). Die PiS-Partei, die immer mehr als »politisch-religiöse Sekte« (Jarosz 2012: 65) in Erscheinung trat, stilisierte sich als Beschützerin der polnischen Kultur im patriotischen Kampf gegen die sogenannten »Homosexuellen Propaganda« (Kulpa 2011: 55). Die homophobe Rhetorik richtet sich gegen die Sexualaufklärung in Polens Schulen, die Legalisierung der Homoehe und das Adoptionsrecht für Schwule und Lesben (Kitliński/Leszkowicz 2013a: 197). Die Allianz aus nationalkonservativen PolitikerInnen und kirchlichen AnhängerInnen bot einen guten Nährboden für das Erstarken rechtsradikaler Strömungen nach 1989 (Balcerzak 2017: 267 f.), sodass sich der homophobe Protest nach 2004 zunehmend auf die Straße verlagerte (Graff 2006: 436 f.).

22 | Der Großteil der Zuhörerschaft sind Frauen und etwa die Hälfte gehört der älteren Generation zwischen 60–75 Jahren an. Vgl. Stróżyk/Wybranowski 2011.

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P olen in E uropa : homophobe Strassenproteste Zentrale Bildagenten der Homophobie in Polen sind neben rechtsradikalen Organisationen23 insbesondere katholische beziehungsweise christlich-fundamentalistische Gruppierungen.24 Massenmediale Wirksamkeit findet die Homophobie durch »hate pictures«25, die den Hass auf Homosexuelle in multimediale Formen transformieren und im Internet verbreitet werden (Kowalski 2009: 23). Eng verknüpft ist der Rechtsextremismus in Polen mit der Hooligan-Szene, beginnt die politische Karriere zahlreicher Rechtsextremisten in den polnischen Fußballstadien, wo antisemitische und rassistische Symbole, Gesänge und Transparente weit verbreitet sind (Balcerzak 2017: 267; Esch 2016: 7). Ein Beispiel für ein homophobes »hate picture«, das sich explizit gegen homosexuelle Männer richtet und als Ikone der Homophobie in Polen bezeichnet werden kann, ist das Piktogramm »Strampel-Verbot« [Zakaz Pedałowania], das von der rechtsradikalen Partei »Nationale Wiedergeburt Polens« [Narodowe Orodzenie Polski, NOP] als offizielles Symbol genutzt wird.26 Es zeigt, in Form eines Verbotsschildes, einen stilisierten Sexualakt zwischen zwei männlich konnotierten Figuren (ebd.). Etymologisch nimmt das Piktogramm Bezug auf das polnische Verb »pedałowac« [in die Pedale treten, strampeln] und verweist indirekt auf die aus heteronormer Perspektive stigmatisierte Praxis des Analverkehrs. Der Begriff »Pedał« [Schwuler, Schwuchtel] fungiert hier als Beleidigung. Keinz (2008: 160) weist auf die sprachliche Nähe zum Begriff der Pädophilie [Pedofilia] hin. Epistemologisch kann das Piktogramm übersetzt werden mit »Schwulen- bzw. Pädophilie-Verbot«. Beim sogenannten »Marsch der Unabhängigkeit« [Marsz Niepodłegości] am 11. November, »der schon lange nicht mehr nur ein Randphänomen der polnischen Protestkultur ist« (Balcerzak 2017: 278), findet das Piktogramm in Form von Transparenten, Postern oder Aufdrucken auf T‑Shirts und Pullovern Eingang in den urbanen Raum (K. G. 2011). Innerhalb der Protestforschung wird in dem Kontext auf die Analogie zwischen Protest und Ritual hingewiesen, insbesondere hinsichtlich der Wiederholbarkeit und der Symbolhaftigkeit von Protesten (Szymanski 2012: 157 f.). Eine Fotografie des polnischen Fotografen Robert Kowalewski, die in einem Artikel der »Gazeta Wyborcza« am 24.11.11 publiziert wurde, zeigt das Piktogramm als 23 | Dazu zählen die »Narodowe Orodzenie Polski« [Nationale Wiedergeburt Polens, NOP], »Młodziez Wszeczpolska« [Allpolnische Jugend, MW], »Oboz Narodowe-Radykalne« [National-Radikales Lager, ONR] und »Ruch Narodowy« [Nationale Bewegung, RN] (vgl. Balcerzak 2017: 273). 24 | Dazu gehören die »Liga Polskich Rodzin« [Liga der Polnischen Familie, LPR] oder die Organisation »Fundacja Pro – Prawo do życia« [Bewegung Pro – das Recht zu Leben]. Letztere ist auch für ihre restriktive Abtreibungspolitik bekannt (Vgl. Balcerzak 2017: 273). 25 | Der Begriff geht zurück auf den gleichnamigen Forschungsverbund der TU Berlin: https://www. tu-berlin.de/fakultaet_i/zentrum_fuer_antisemitismusforschung/menue/forschung/forschungsver​ bund​_ hate_pictures/ (letzter Zugriff: 8. 2. 2018). 26 | Nacjonalista.pl: Zakaz Pedałowania, http://www.nacjonalista.pl/akcja-zakaz-pedalowania/ (letzter Zugriff: 15. 2. 2018).

Homophobie und queere Interventionen in Polens visueller Kultur ab 1980 | 205

Abb. 5: Graffiti »Zakaz Pedałowania« (»Strampel-Verbot«), Warschau 2011

schwarzes Graffiti auf einer grauen Litfaßsäule in Warschau (Siedlecka 2011) (vgl. Abb. 5). Die Fotografie ist, bedingt durch den Ausschnitt und die Position der Säule mit dem Graffiti am linken Bildrand, geprägt durch eine Diagonale, die von links oben nach rechts unten verläuft und die Fotografie in zwei Teile teilt. Die rechte Seite der Aufnahme zeigt die Straße und zwei Passanten im Hintergrund. In der Fotografie manifestiert sich so eine ikonographische Grenze zwischen »Wir« und »den Anderen«. Das Piktogramm prägt in Form von Graffities das Stadtbild und fungiert im Hooligan-Milieu dazu, die gegnerische Mannschaft zu kompromittieren, zu effeminieren und zu beleidigen (Esch 2016: 94). Diese Graffiti-Praxis lädt den urbanen Raum sexistisch auf (ebd.: 106).27 Das Piktogramm nimmt unmittelbar Bezug auf den Analverkehr als stigmatisierte, weil als »anormal« geltende Sexualpraktik. Männliche Homosexualität wird hier in erster Linie sexualisiert, entindividualisiert und moralisch herabgewürdigt. Solche Bildstrategien wollen den Hass auf Homosexuelle weiter verbreiten, nutzen dafür gezielt aversive Emotionen wie Scham‑ und Ekelgefühle, und können mit Monique Scheer (2012: 209) als »mobilisierende emotionale Praktiken« beschrieben werden. 27 | Im Jahr 2013 etablierte die polnische NGO »Projekt Polen« [Projekt Polska] die Kampagne und App »hejtstop.pl«. Mittels der App können homophobe bzw. xenophobe Graffities, Poster und so weiter in der Stadt fotografiert, mit dem jeweiligen Ort getaggt und an die App geschickt werden. Daraus entstand eine Art Online-Archiv über xenophobe Bilder in Polens Städten. Die Organisation nutzt das Wissen um den Ort auch dazu, die Hassbilder zu überstreichen, und setzt damit ein deutliches Zeichen gegen Xenophobie in Polens visueller Kultur. Siehe Projekt Polska: http://www.hejtstop.pl (letzter Zugriff: 15. 2. 2018).

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Der Bezug auf Gender und Sexualität fungiert hier als Marker der In- und Exklusion der polnischen Nation (Graff 2009: 138). Das heißt, das »wahre« Polen wird mit der Heteronormativität verknüpft, also klaren Gender/Sex-Differenzen, während die »Anderen«, also homosexuelle Männer, als sexuell deviant und pädophil beschrieben und als Gefahr für die polnische Kernfamilie und die Nation konstruiert werden. Graff (ebd.) folgend wird diese Verknüpfung vor allem in Zeiten politischer Krisen betont. Die Homophobie in Polen kann auch als Resultat einer bestehenden Männlichkeitskrise gelesen werden, stellten doch nach 1989 die polnische Homosexuellenund auch die Frauenbewegung traditionelle Rollenbilder und patriarchale Strukturen massiv in Frage (Arcimowicz 2014: 57). »Man sollte […] betonen, dass die gewaltigen Änderungen im ökonomischen und kulturellen Bereich von dem gesellschaftlichen Gefühl eines Wertechaos begleitet waren – und weiterhin sind« (ebd.). Neben dem oben beschriebenen Piktogramm greifen rechte und auch christlich-fundamentalistische Akteure in Polen vor allem das Motiv des Regenbogens als Feindbild an. In den Jahren 2013 und 2014 wurde der »Warschauer Regenbogen«, eine Kunst-Installation der feministischen Aktionskünstlerin Julita Wójcik, die im Juni 2012 auf dem Warschauer Erlöserplatz aufgebaut wurde, mehrfach von Rechtsradikalen in Brand gesetzt (Kitliński/Leszkowicz 2013a: 200). Der riesige Regenbogen, bestehend aus Plastikblumen, wurde mit Hilfe von Freiwilligen konstruiert und fungierte als »Symbol für Frieden und Toleranz« (ebd.). Ursprünglich war er im Zuge Polens EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2011 vor dem Europäischen Parlament in Brüssel errichtet worden. Laut Kitliński und Leszkowicz (2013a: 200) müsse die polnische Regierung daher ein verstärktes Interesse daran gehabt haben, den Regenbogen zu erhalten, um dem »[…] Bild von Polen als rückständigem, schwulenfeindlichem Land nach außen entgegenzuwirken«. Ein Flyer katholischer Fundamentalisten mit dem Slogan »Gefährliche Symbole! Vorsicht Katholiken! [Niebezpieczne znaki! Uważaj Katoliku], der in verschiedenen Internetforen zirkuliert, zeigt »gefährliche Symbole«, darunter auch den Regenbogen.28 Homophobie in Polen äußert sich wesentlich in einem Kampf um die Deutungshoheit nationaler und globaler Symbole und Bildwelten. Männliche Homosexualität wird in den Bildern sexualisiert, mit der Pädophilie gleichgesetzt und als eine gesamtgesellschaftliche Bedrohung für die polnische Nation und die traditionelle Kernfamilie stilisiert. Wenn die Mitglieder der LPR TeilnehmerInnen der polnischen LGBT-Paraden als »Eurosodomiten« bezeichnen (Kulpa 2012: 50), zeigt sich außerdem, dass Homosexualität als ein Konstrukt stilisiert wird, das »von außen« kommt, vornehmlich aus dem »Westen«, und im Zuge der Europäisierung und Globalisierung nach Polen »eingeschleppt« wurde. Der homophobe Diskurs in Polen ist geprägt von einem ikonographischen Othering: Er rekurriert auf Ressentiments, denen zufolge einige sich anmaßen, die ganze Gesellschaft zu repräsentieren, indem sie zwischen den Patrioten (»Wir«) und »den Anderen« differenzieren. 28 | Vgl. Queer.pl 2010. Auf ihrem Twitter-Kanal postet die Allpolnische Jugend regelmäßig »patriotische Grafiken«, die den Regenbogen zu ihrem Feindbild stilisieren (vgl. Młodzież Wszechpolska 2018).

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Q ueerer P rotest : visualisierungen der »G leichheitsparaden « Mit dem Systemwechsel etablierten sich ab den 1990er Jahren erste offizielle schwul-lesbische Vereine. Als symbolisches Datum gilt die rechtmäßige Eintragung der All-polnischen Vereinigung der Lambda-Gruppen [Ogolnopolskie Stowarzyszenie Grup Lambda] im Februar 1990 (Shibata 2013: 182). Die ersten Lambda-Gruppen wurden in Warschau, Danzig und Breslau gegründet. Lambda setzt sich seitdem mittels Kampagnenarbeit nicht nur für HIV/AIDS-Prävention, sondern auch für ein positives Ansehen von Schwulen und Lesben in der Öffentlichkeit ein. In den folgenden Jahren kam es zu internen Konflikten, sodass sich der Dachverband 1997 auflöste. Im selben Jahr wurde Lambda Warschau neu gegründet (ebd.). Polenweit etablierten sich homosexuelle Zeitschriften, wie zum Beispiel das Magazin »Anders« [Inaczej] (1990) in Posen, das zwölf Jahre lang erschien (Warkocki 2014: 147). 1995 fand die erste kleine Schwulendemonstration in Warschau statt und 1996 folgte die erste Ausstellung zu Homosexualität und AIDS »Ich und AIDS« in der Galerie des Warschauer Kinos »Stolica« (Kitliński/Leszkowicz 2013a: 206). 2001 konstituierte sich die schwul-lesbische Organisation »Kampagne gegen Homophobie« [Kampania Przeciw Homofobii, KPH] in Warschau, die bis heute die einflussreichste Lobby für LGBT-Themen in Polen bildet (Warkocki 2014: 150). Die KPH stand für den Wandel im emanzipatorischen Denken: Es sollte nicht mehr die »Normalität« von Homosexualität »bewiesen« werden, sondern es ging darum, Homophobie konkret als politisches Problem zu benennen (ebd.). Die Kampagne der KPH »Sie sollen uns sehen« [Niech naz zobaczą]29, die 2003 homosexuelle Paare in Polens Städten Händchen haltend zeigte, kann als Durchbruch für den schwul-lesbischen Aktivismus und die öffentliche Sichtbarmachung nichtheteronomer Begehrensweisen im urbanen Raum gelesen werden. Sie löste auch homophobe Reaktionen aus.30 Auf die ersten öffentlichen Protestaktionen folgten ab 2001 die »Gleichheitsparaden« [Parada Rówsności], die seitdem regelmäßig in den polnischen Städten Warschau, Krakau, Posen, Breslau und Danzig ausgerichtet werden.31 Ich begreife die Gleichheitsparaden als »Symbol für die Emanzipation geschlechtlich und sexuell vielfältig positionierter Menschen« (Tietz 2016: 193). Mediale Aufmerksamkeit erfuhren die Paraden erst, als der damalige Bürgermeister und PiS-Politiker Lech Kaczyński die Parade in Warschau im Jahr 2004 verbot (Gruszczyńska 2009: 37 f.). Im selben Jahr kam es zu Ausschreitungen in Posen, bei denen rechtsradikale Akteure, 29 | Breguła 2003. 30 | Vgl. Kitliński/Leszkowicz 2007; Kitliński/Leszkowicz 2013a: 209 f.; Kitliński/Leszkowicz 2013b; Kulpa 2012: 51  f.; Mizielińska 2011: 89  f.; Mizielińska/Stasińska 2017: 1801  f.; Shibata 2013: 184  f.; Warkocki 2014: 149 f; Balcerzak in diesem Band. 31 | Die Organisatoren wechselten über die Jahre. Die ersten Paraden richteten Mitglieder von ILGCN-Polska aus, ab 2005 unterstützt durch die KPH und Lambda. Seit 2011 richtet die »Stiftung Gleichheit« [Fundacja Równości] in Kooperation mit einem unabhängigen Komitee die Parade aus. Siehe Parada Równości: http://www.paradarownosci.eu/en/equality-parade-history/ (letzter Zugriff: 15. 2. 2018).

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insbesondere Mitglieder der NOP und der Allpolnischen Jugend, die TeilnehmerInnen mit schwulenfeindlichen und antisemitischen Rufen diffamierten (Warkocki 2014: 150 f.). Hinsichtlich der Intersektionalität von Homophobie und Antisemitismus zieht Czarnecki (2008: 327) in seinem Beitrag Analogien zwischen dem aktuellen homophoben Diskurs und dem Antisemitismus aus der Vorkriegszeit: Ihm zufolge werden die Homosexuellen und die Juden als »krank« konstruiert aufgrund ihrer »devianten Sexualität«. Sie sind eine Gefahr für die polnische Nation, da sich ihre destruktive Macht gegen die polnische Kernfamilie richte.32 2005 fand die Parade in Warschau zwar wieder statt, allerdings illegal, da Kaczyński sie mit erneutem Verbot belegte. Ab 2006 wurden die Gleichheitsparaden wieder jährlich ausgerichtet (Kitliński/Leszkowicz 2013a: 206). In den darauf folgenden Jahren kam es immer wieder zu Ausschreitungen zwischen den LGBT-AktivistInnen und Mitgliedern rechtsradikaler Gruppen (Graff 2006: 436 f.). Die wirtschaftsliberale, aber wertkonservative »Bürgerplattform« [Platforma Obywatelska, PO], die zwischen 2007 und 2015 regierte, war ebenfalls nicht frei von homophoben Ressentiments (Kowalski 2009: 23 f.). Dass der queere Protest und die mediale Sichtbarkeit nicht-heterosexueller Begehrensformen in Polen steigt, insbesondere nach der Widerwahl der PiS-Partei im Oktober 2015, belegt die wachsende Anzahl der TeilnehmerInnen: Am 3. Juni 2017 gingen mehr als 50.000 Menschen in Warschau auf die Straße. Laut der »Gazeta Wyborcza« war es die »größte Gleichheitsparade in der Geschichte« (Borys 2017a). Die visuelle Kultur der Warschauer Gleichheitsparade (2017) ist gekennzeichnet durch die Kombinationen nationaler und globaler Symbole und Bildwelten: Die Regenbogen-, die Europa- und die polnische Nationalflagge, die Warschauer Sirene und der Anker [Kotwica], Symbol des Widerstandskampfes im Zweiten Weltkrieg, und die queeren Protest-AkteurInnen treffen hier aufeinander (ebd.). Unter der Verwendung nationaler Symbole inszenieren sich die LGBT-AktivistInnen während der Paraden bewusst als Teil der polnischen Gesellschaft, um dem homophoben Ausgrenzungsdiskurs zu begegnen. Diese nationale Bildpraxis muss auch in Kontext gesetzt werden zur Wiederwahl der PiS-Partei im Jahr 2015. Hinsichtlich »vestimentärer Performanzen« (Tietz 2016: 194), also durch Kleidung und Kostümierung zum Ausdruck gebrachte queer-politische Botschaften, fielen auf der Warschauer Parade Männer in Priester-Kostümierungen mit regenbogenfarbenem Epitrachelion heraus, die so für die Akzeptanz nicht-heterosexueller Lebensweisen seitens der Katholischen Kirche warben (Borys 2017b). Auf ihre Transparente schrieben die TeilnehmerInnen der Parade Slogans wie »Polen den Schwulen« [Polska dla Pedałów]. In dem Kontext nahmen die AktivistInnen direkt Bezug auf das Motto »Polen für die Polen. Die Polen für Polen« [Polska dla Polaków. Polacy dla Polski] des Warschauer Marschs der Unabhängigkeit im Jahr 2015 (Jakubowski 2015). Eine Fotografie von Marta Modzelewska, die am 5. 7. 2017 in der »Krytyka Polityczna« publiziert wurde, zeigt eine Nahaufnahme des Plakats (vgl. Modzelewska 2017) (vgl. Abb. 6). Im Vordergrund links ist ein weiteres Plakat zu sehen mit dem Konterfei der damaligen Premierministerin Beata 32 | Zur Intersektionalität von Homophobie und Antisemitismus vgl. Biedroń 2009: 10; Kowalski 2009: 37.

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Abb. 6: Gleichheitsparade, Warschau 2017

Szydło, einer Regenbogenflagge und dem Slogan »Ich hätte die Königin dieser Parade sein können« [A mogłam być khólową tej pahady].33 Diese Bildpraxis macht auch die Verspottung nationalkonservativer PolitikerInnen deutlich. Im Hintergrund ist eine weitere Regenbogenflagge zu sehen, die direkt über dem Wort »Polen« [Polska] positioniert ist, sodass die polnische Nation hier symbolisch gequeert wird. Die Akteure eigneten sich den negativ konnotierten Begriff »Schwuler« [Pedał] an, der im homophoben Bilddiskurs zirkuliert und der in diesem Kontext, ähnlich wie der Queer-Begriff, als affirmative Selbstbezeichnung fungiert (Szulc 2017a: 161). Der Verwendung von Plakaten während der Gleichheitsparaden kommt eine wichtige Bedeutung zu, um eine machtvolle Gegenöffentlichkeit im urbanen Raum zu etablieren (Richter 2018: 258  f.). Der Rückgriff auf nationale Symbole und Bildwelten, auch durch die Kombination der Regenbogen- und der polnischen Nationalflagge, haben eine zentrale Bedeutung, um dem homophoben Ausgrenzungsdiskurs zu begegnen. Hinsichtlich der Aneignung nationaler Symbole innerhalb der polnischen LGBT-Community muss jedoch auf die Gefahr eines »Homonationalismus« (Puar 2008: 1), insbesondere vor der Kontrastfolie der aktuellen Flüchtlingssituation, hingewiesen werden (vgl. Wielowieski 2018).

33 | Der polnische Slogan verhöhnt den Sprachfehler von Beata Szydło, die nicht den »r«-Laut ausspricht. Die Begriffe »Königin« [królową] und »Parade« [parady] werden mit »r« und nicht mit »h« geschrieben. Korrekt würde der Slogan also lauten: »A mogłabym być królową tej parady« [Ich hätte die Königin dieser Parade sein können].

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Mit Butler (2016: 80) ist die Vulnerabilität homosexuell begehrender Körper, ihre »Prekarität«, verstanden als »ein gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Zustand« in einer heteronormen Welt, ein wesentliches Element von Protest. Es konstituieren sich durch solche Protestaktionen wie den polnischen Gleichheitsparaden spezifische »Körperallianzen« (ebd.: 37), denn es kann keinen Eintritt in den »Erscheinungsraum« (Arendt 1960: 32) geben ohne eine Allianz der Gefährdeten, um neue Erscheinungsformen hervorzubringen. Damit »prekäre Körper« öffentlich in Erscheinung treten, sind Solidaritätsnetzwerke und eine angemessene Infrastruktur notwendig (ebd.: 175 f.). Bedeutsam für die Sichtbarmachung des queeren Protestes in Polen ist ebenfalls eine Infrastruktur der Solidarität aus LGBT-NGOs, ausländischen Stiftungen, LGBT-freundlichen PolitikerInnen und Medien, um eine politische Gegenöffentlichkeit zur Homophobie in Polen zu etablieren (Fraser 1990: 67). Entscheidend für die politische Wirkung der Gleichheitsparaden, wie generell für Proteste, ist die mediale Berichterstattung und die öffentliche Sichtbarmachung von Protest (Butler 2016: 123  f.). In dem Kontext ist sowohl die wechselseitige Abhängigkeit protestierender Körper und der Medien als auch die wachsende Rolle mobiler Medien und sozialer Netzwerke in der queeren und homophoben Protestkultur Polens hervorzuheben (ebd.: 126 f.). Die Protestbilder der polnischen Gleichheitsparaden dienen der externen wie auch der internen Mobilisierung (Fahlenbrach 2016: 248). Das heißt, sie richten sich einerseits an die massenmediale Öffentlichkeit und übernehmen andererseits eine wichtige identitätsbildende Funktion innerhalb der polnischen LGBT-Community im Kampf gegen die Homophobie.

Z usammenfassung Als Reaktion auf die homophobe Polizeiaktion »Hiacynth« formierten sich Ende der 1980er Jahre erste inoffizielle Homosexuellengruppen, die auf ein globales Bilderrepertoire der homosexuellen Community für ihre Selbstdarstellung zurückgriffen, aber auch nationale Symbole und Zeichen verwendeten und semantisch umcodierten. Diese Bildstrategien fungierten dazu, sich einerseits als Teil der globalen homosexuellen Community zu konstituieren und gleichzeitig Homosexualität in der polnischen Zeitgeschichte fest zu verankern. Mit dem Anstieg des nationalistischen Diskurses nach 1989 verschärfte sich die Ausgrenzungspolemik gegen die Homosexuellen und ging mit der Re-Ideologisierung der Heteronormativität einher. Durch die moralische Aufladung der Kernfamilie, familiärer Reproduktion und der Nation wurde die Heterosexualität zum Symbol nationaler Stabilität (Hark 2017: 26). Nationalkonservative PolitikerInnen und KirchenanhängerInnen boten einen guten Nährboden für das Erstarken rechtsradikaler Strömungen. Gleichzeitig institutionalisierte sich die LGBT-Bewegung. Im Verlauf der 2000er Jahre, im Kontext der EU-Beitrittsverhandlungen, verlagerte sich der queere und homophobe Protest zunehmend auf die Straße, wie der Unabhängigkeitsmarsch am 11. November oder die Gleichheitsparaden deutlich machen. Es hat sich gezeigt, dass die homophoben Akteure (wie die rechtsradi-

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kale NOP) für die Verbreitung der Homophobie in erster Linie sexualisierte wie entindividualisierte Bildpolitiken verwenden. Sie setzen Homosexualität mit Pädophilie gleich, um so bei ihrer Anhängerschaft auch Scham- beziehungsweise Ekelgefühle vor der Kontrastfolie der Heteronormativität hervorzurufen. Diese homophoben Bildpraktiken stilisieren Homosexualität als ein Konstrukt des »degenerierten« Westens, um die Zwangsheterosexualität der polnischen Nation bildstrategisch zu manifestieren und kontinuierlich zu reproduzieren (Keinz 2014: 127). Auf diese homophoben Bildpolitiken reagieren die LGBT-Kampagnen und auch die Gleichheitsparaden mit integrativen beziehungsweise »polonisierenden« Bildstrategien. In dem Kontext ist die Kombination des Regenbogens mit nationalen Symbolen und Bildwelten hervorzuheben, um sich als Teil der polnischen Gesellschaft zu inszenieren. Der Bilddiskurs ist gekennzeichnet durch die konfliktreichen Praktiken der Aneignung nationaler und queerer Zeichen und Symbole, wie vor allem die Verwendung des Regenbogenmotivs deutlich gemacht hat. Homophobie in Polen äußert sich, vor der Kontrastfolie eines katholischen Nationalismus, damit verstärkt in einem Kampf um die Deutungshoheit nationaler Bilder.

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»(Un-)Sichtbare Andere« Identitätspolitik und Protestkultur der LGBT-Bewegung im Nach-Wende-Polen1 Agnieszka Balcerzak

Abstract: »(In-)Visible Others«. The politics of identity of the LGBT movement in Poland after the political changes The presented paper concerns the identity politics and protest culture of the Polish LGBT movement after 1989. In contrast to the national-conservative movement’s basic principle »God-Honour-Fatherland«, the Polish LGBT movement aims with its visual representations and performative practices the fight for more diversity and tolerance in Poland. While supporting the minority politics, the activists reject a nationalist ultra-Catholic »Poland for Poles« promoted by the far-right homo- and xenophobic narratives. In order to achieve its goals, the Polish LGBT community produces a wide range of performative practices (demonstrations, happenings) and visual forms of representation (posters, street art). By presenting a selection of examples, I would like to outline which symbolic (counter-)narratives are characteristic for Poland, answer the question about their (trans-)national networks and their role in the process of democratization in Poland as well as present what do they reveal about

1 | Der vorliegende Artikel stellt einen Auszug aus meinem 2018 abgeschlossenen Dissertationsprojekt zum Thema Zwischen Kreuz und Regenbogen  – Eine Ethnographie kultureller Formen und Praxen der polnischen Protestlandschaft nach 1989 dar. Die Forschung verortet sich in Anlehnung an George Marcus (1995) und Mark-Anthony Falzon (2009) in der Tradition einer multilokalen Ethnographie, die Diskurs- und Dispositivanalyse, teilnehmende Beobachtung sowie qualitative Interviews kombiniert. Die Offline-Forschung umfasste einen zeitlich-räumlichen Referenzrahmen von 2010–15 mit Breslau, Danzig, Krakau, Posen und Warschau als zentralen Forschungsräumen. Parallel erfolgte eine Analyse protestrelevanter Online-Räume (Homepages, Info-Plattformen und Facebook-Profile), die ich in Form asynchroner teilnehmender Beobachtung untersucht habe. Die analysierte Protestlandschaft positioniere ich auf der soziopolitischen Rechts-Links-Achse und unterteile sie in vier polarisierte Bewegungsfamilien  – national-konservativ, klerikal-religiös, liberal-proeuropäisch (LGBT-Bewegung), freiheitlich-anarchistisch. Zum Begriff »Bewegungsfamilie« siehe Rucht 1994: 157.

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the socio-political structures and the conditio humana of the Polish society since the collapse of the communism. Polen ist kein multikulturelles Land, sondern ein schwerer Monolith […], in dem die katholische Ethik an der Spitze steht. […] Deshalb sind LGBT-Personen in Polen immer noch in der Kategorie der Anderen, viele Polen betrachten sie im negativen Licht. Renata Kin 2012 2

E inleitung Die gegenwärtige polnische LGBT-Bewegung3 führt seit der Wende von 1989 einen ununterbrochenen Kampf um gesellschaftspolitische Anerkennung und Gleichberechtigung für Menschen, die nicht den heteronormativen Vorstellungen entsprechen4. Polen verwandelt sich nicht zuletzt seit dem Wahlsieg der rechtskonservativen Partei Prawo i Sprawiedliwość [Recht und Gerechtigkeit, PiS] 20155 in ein europäisches Bollwerk von Nationalismus und Homophobie, wie zahlreiche (inter‑)nationale Studien belegen. Nationalen Berichten zu Lebensqualität und Gleichberechtigung von LGBT-Personen (Makuchowska/Pawlęga 2012; Świder/Winiewski 2017) zufolge leiden Homosexuelle, trotz Novellierung der Gesetze und Aufklärungskampagnen, immer noch unter Diskriminierung und werden täglich mit Hass und Gewalt konfrontiert. Zu diesen Schlussfolgerungen kommen auch internationale Untersuchungen, unter anderem der Bericht der Europäischen Kommission gegen Rassismus und

2 | Renata Kin ist LGBT-Aktivistin und gehört seit 2011 zum Organisationskomitee des Posener LGBTEvents Dni Równości i Tolerancji [Tage der Gleichheit und Toleranz]: http://www.dnirownosci.pl (letzter Zugriff: 20. 11. 2015). Sie wurde von mir am 15. 11. 2012 in Posen interviewt. 3 | LGBT ist die Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender [Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender]. Zur Geschichte der polnischen LGBT-Bewegung siehe Biedroń 2010; Kitliński/Leszkowicz 2013; Sypniewski/Warkocki 2004a. 4 | Schätzungen diverser LGBT-Organisationen (vgl. Weseli 2009: 3) zufolge leben in Polen um die 2.000.000 LGBT-Personen, was fünf Prozent der polnischen Bevölkerung ausmacht. 5 | Seit dem absoluten Sieg der europaskeptischen PiS in den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2015 erlebt Polen eine konservative Revolution sowie die stärkste politische Umwälzung und gesellschaftliche Spaltung seit 1989. Der rasant fortschreitende Rechtsruck, den die Regierung durch die Verabschiedung umstrittener Gesetze besiegelt, führt zum permanenten Konflikt zwischen den konservativen und liberalen Gesellschaftsteilen. Kritischen Stimmen zufolge bekommt Europa mit Polen einen im Umgang komplizierten Nationalstaat nach russisch-ungarischem Vorbild. Zum Rechtsruck Polens siehe Balcerzak 2017; Sapper/Weichsel 2016.

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Intoleranz (ECRI 2015), laut dem Polen heute eine blühende Oase von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Homophobie darstelle.6 Doch obwohl Polen den Ruf eines homophoben Staates »genießt«, wäre es nicht ganz gerecht, »das Land als rückwärtsgewandte Provinz darzustellen, als Gegenbild zu den westeuropäischen Staaten mit einer progressiven Sexualpolitik« (Kitliński/ Leszkowicz 2013: 196). Die Lebensumstände sexueller Minderheiten in Polen sind nämlich paradoxal, verankert zwischen einer durch starke Ressentiments weit verbreiteten Homophobie und einer durch lebendigen Dialog geprägten Toleranz für »Andersartigkeit«. Die von dieser soziopolitischen Polarisierung geprägten Identitätspolitik wie Protestkultur der LGBT-Bewegung im Nach-Wende-Polen sollen im vorliegenden Beitrag am Beispiel urbaner Straßendemonstrationen und theatralisierter Happenings, popkultureller Medien wie Plakat und visueller Street-Art-Aktionen veranschaulicht werden. In Anlehnung an Gisela Welz (1996: 84) werden die genannten kulturellen Formen der queeren Community in Polen als Produkte der alltäglichen »Repräsentationspraxis« begriffen, oder, wie es Karl H. Hörning und Julia Reuter (2004) formulieren, des »doing culture«. Die Praxis folgt je nach Darstellungsweise den Konventionen der audio-visuellen, performativen, emotionalen und medialen Herstellung, Vermittlung und Rezeption. In diesem Sinne produzieren die AktivistInnen der LGBT-Bewegung »kulturelle Ordnungen und Taxonomien« (Welz 1996: 85), die in ihren Eigenlogiken als »Ausdruck und Erzeuger von Machtstrukturen« (ebd.) im Rahmen der soziopolitischen Diskurse und Narrationen gelesen werden.

»R egenbogen -R evolution «. P olens H omosexuelle » kommen aus dem S chrank heraus « Einerseits wurden in Polen, früher als in anderen europäischen Ländern oder den USA, sexuelle Beziehungen zwischen gleichgeschlechtlichen Personen entkriminalisiert.7 Darüber hinaus entwickelten sich in den vergangenen Jahren in den Bereichen Kunst und Kultur, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zahlreiche Initiativen, Kampa6 | Diese Angaben bestätigt auch der europäische Zweig der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association [ILGA-Europe] in der Rainbow Map 2017: http://www.ilga-europe.org/resources/rainbow-europe/rainbow-europe-2017 (letzter Zugriff: 19. 7. 2017). Ihr zufolge befinde sich Polen auf dem homophoben »EU-Podium«. Mit 18 Prozent belegt es den vorletzten Platz nach Litauen und Lettland, die ex aequo das EU-Schlusslicht bilden. 7 | Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1918 führte das Land das französische Zivilgesetzbuch ein, das Homosexualität nicht mehr pönalisierte. Schließlich bekam die II.  Polnische Republik 1932 ein recht liberales Strafgesetzbuch, das homosexuelle Beziehungen entkriminalisierte. Der Passus über die Bestrafung homosexueller Prostitution wurde aus dem Strafgesetzbuch 1969 gestrichen. 1991 erfolgte dann die Streichung der Homosexualität von der Liste psychischer Krankheiten. Vgl. dazu Warkocki 2014: 2.

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gnen und NGOs, dank derer sich die Öffentlichkeit an die Präsenz der Queer-Thematik gewöhnen konnte. Auch im Umgang mit Homosexualität in der Politik ist Polen nicht weniger fortschrittlich als andere Länder.8 Andererseits sind hartnäckige Vorurteile – unterstützt durch die katholische Kirche und ihr heteronormatives Familienbild  – weit verbreitet und werden durch eine zunehmende Radikalisierung der politischen Bühne begünstigt. Verbale und physische Angriffe auf offen homosexuell lebende Menschen sind in Polen erschreckende Realität.9 Im polnischen Bildungsund Gesundheitssystem werden LGBT-Personen weitgehend »unsichtbar« gemacht. Überdies gibt es bis heute kein eindeutiges Verbot von Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung.10 Dem Bericht Haltungen gegenüber der Ehegleichheit in Polen (Mulak u. a. 2015) zufolge sind sich über 60 Prozent der Polinnen und Polen im Klaren darüber, dass homosexuelle Paare in Polen keine Gleichberechtigung genießen. Vor diesem Hintergrund unterstützen 55 Prozent der Bevölkerung die Institutionalisierung von eingetragenen Partnerschaften.11 Trotzdem werden gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften bis heute rechtlich und gesellschaftlich nicht anerkannt.12

8 | Genannt sei unter anderem Robert Biedroń, der »polnische Harvey Milk« (Kurc 2010), ein langjähriger LGBT-Aktivist und Sejm-Abgeordneter. 2014 wurde er als erster geouteter Homosexueller in Polen zum Bürgermeister der nordpolnischen Kleinstadt Słupsk gewählt. Anna Grodzka wiederum, Transgender-Aktivistin, war Sejm-Abgeordnete, trat bei der Präsidentschaftswahl 2015 für die linke Partei Zieloni [Die Grünen] an. 9 | Seit Jahren kommt es in Polen regelmäßig zu verbalen und physischen Angriffen auf sexuelle Minderheiten. Einer neueren Studie (Górska u. a. 2016: 65) zufolge wurden im Zeitraum 2010–15 über 29 Prozent der LGBT-Community homo- oder transphob motivierter Gewalt ausgesetzt. 10 | Obwohl nach Artikel 32 der Verfassung alle BürgerInnen das Recht auf Gleichbehandlung im gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben haben, ist der rechtliche Schutz von LGBT-Personen immer noch unzureichend. Bis heute fordert die LGBT-Gemeinschaft eine Änderung des Strafgesetzbuches in puncto Hassverbrechen aufgrund von Sexualität, Alter oder Behinderung. Mit Polens EU-Beitritt 2004 wurde das polnische Arbeitsgesetzbuch entsprechend novelliert, nichtsdestotrotz weist die Anpassung der Gesetzeslage an die in den EU-Richtlinien vorgeschriebene Gleichberechtigung immer noch Mängel auf. Zur rechtlichen Lage von Homosexuellen in Polen siehe Śmieszek 2011; Wieruszewski u. a. 2010. 11 | Deutlich zurückhaltender fällt allerdings die Zustimmung für konkrete rechtliche Lösungen aus und wird umso geringer, je näher ein Vorschlag an die Institution der Ehe rückt. Ganze 49 Prozent stimmen einem notariellen Vertrag zu, 37 Prozent der eingetragenen Lebenspartnerschaft und nur 15 Prozent einer Hochzeit (Mulak u. a. 2015: 5). 12 | Nach einer heftigen Debatte, bei der die GegnerInnen von »sich befriedigenden Herren«, »überflüssigen Bürgern« und »unfruchtbaren Partnerschaften« sprachen (vgl. Kim 2013; Kośmiński 2013), wurden alle Gesetzesentwürfe zur Legalisierung eingetragener Lebenspartnerschaften 2013 durch den Sejm abgelehnt. Aktuell gehört Polen – neben Bulgarien, Lettland, Litauen, Rumänien und der Slowakei – zu den letzten sechs EU-Staaten, in denen queere Lebenspartnerschaften für Kontroversen sorgen und in deren Nationalrecht sie nicht vorgesehen sind. Zur Ehegleichheit in Europa siehe Knut/Kwaśniewska/Lendzion 2015.

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Die jüngsten Entwicklungen zeigen jedoch, dass das jahrzehntelang marginalisierte und pathologisierte Thema Homosexualität aktuell mit offener Politisierung konfrontiert wird und zum Entstehen eines lebendigen LGBT-Aktivismus führt. In Anlehnung an den Literaturwissenschaftler Błażej Warkocki (2014), der sich mit der Thematik beschäftigt, können drei Emanzipationswellen der polnischen LGBT-Bewegung ausgemacht werden. Die Anfänge des queeren Aktivismus gehen auf die soziokulturelle Liberalisierung der letzten Phase in der Volksrepublik Polen zurück. Die frühe Emanzipationswelle (1981–1990) kennzeichnet die Herausbildung der ersten Existenz- und Identitätsmuster der Homosexuellen als inni [Andere], in Abgrenzung zu den allgemein verbreiteten Stereotypen von »Sonderlingen« oder »Perversen«. Die meisten LGBT-Personen sahen von einem Outing ab, denn trotz der Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen blieb das Thema Homosexualität im Alltagsleben tabuisiert und pathologisiert, sowohl durch die kommunistischen Machthaber als auch durch die kirchlichen Amtsträger.13 Während der zweiten Emanzipationswelle (1990–2002) erfolgte ein Wandel der überwiegend »privaten Homosexualität«, wie sie der LGBT-Aktivist Krzysztof Tomasik (2012: 18) bezeichnet, in eine »halböffentliche Form des gesellschaftlichen Verkehrs« (Warkocki 2014: 4). In den 1990er Jahren blieben zwar die »außerhalb der Heteronorm« (Weseli 2009) lebenden sexuellen Minderheiten unter sich, es wurden aber die ersten LGBT-NGOs sowie queere Initiativen und Medien ins Leben gerufen, die den Weg der Community aus der »Unsichtbarkeit« ebneten und zur Stabilisierung der nicht-heterosexuellen Identität beitragen sollten. In dieser Phase der Emanzipation entstanden die Pionierinnen des LGBT-Aktivismus im Nach-Wende-Polen  – die NGOs Lambda Warszawa [Lambda Warschau, LW] und Kampania Przeciw Homofobii [Kampagne gegen Homophobie, KPH].14 Warschau wurde zum wichtigsten LGBT-Zentrum: 2000 fand dort die dritte globale Kulturkonferenz der Schwulen und Lesben und ein Jahr später erstmals die Parada Równości [Parade der Gleichheit]15, die bis heute wichtigste LGBT-Demonstration Polens. Die 2003 initiierte dritte Emanzipationswelle brachte die gesellschaftliche Entmarginalisierung der LGBT-Thematik in Polen mit sich. Als das »polnische Stonewall«16 (Leszkowicz 2004: 86), als symbolträchtiger Durchbruch gilt die KPH-Bill13 | Zur Homosexualität in Polen bis 1989 siehe Fiedotow 2012; 2012 und Austermann in diesem Band. 14 | Siehe die Webseiten von LW: http://www.lambdawarszawa.org und KPH: https://www.kph.org.pl (letzter Zugriff: 28. 11. 2017). 15 | Siehe die Homepage von Parada Równości: http://www.paradarownosci.eu (letzter Zugriff: 28. 11. ​ 2017). 16 | Den Stonewall-Aufstand sieht die internationale LGBT-Bewegung als symbolischen Wendepunkt in ihrem Kampf um Gleichberechtigung an. Die Konfrontationen zwischen den Homosexuellen und der Polizei begannen am 28. 6. 1969 mit einer Razzia im Stonewall Inn, einer LGBT-Szene-Bar in der Christopher Street in New York, in der viele LGBT-Personen der verstorbenen Schauspielerin Judy Garland, einer Ikone der LGBT-Community, gedachten. Zum ersten Mal ließen sich die sexuellen Minderheiten das gewalttätige Vorgehen der Polizei nicht gefallen und leisteten erfolgreich Widerstand. Zum Gedenken an diesen

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board-Kampagne Niech nas zobaczą [Sie sollen uns sehen]. Die emanzipatorischen Aktivitäten führten zur »Sichtbarmachung« queerer Milieus, auf die eine offene Politisierung der homosexuellen Frage im öffentlichen Diskurs folgte. In diesem Zeitraum erfolgte auch ein Wandel im emanzipatorischen Denken der Community, die es gewagt hatte, »aus dem Schrank herauszukommen«17. Durch ihre »Sichtbarkeit« wurde die Bewegung aber auch zunehmend zur Zielscheibe homophoben Aktivismus, unter anderem seitens der national-konservativen und klerikal-religiösen Gruppen. Die von ihnen propagierten Vorurteile von Homosexualität als »Nest des Sittenverfalls und des Bösen«18 wurden allgegenwärtig und salonfähig. Ausschlaggebend für die dritte Etappe der Emanzipation der polnischen LGBT-Bewegung ist die Formalisierung und Professionalisierung der bereits existierenden Organisationen sowie die Gründung neuer lokaler Formationen. Zu nennen wären hier das Wolontariat Równości [Volontariat der Gleichheit, WR], seit 2012 offiziell zuständig für die Ausrichtung der Parade der Gleichheit, und die Trans-Fuzja [Trans-Fusion, TF], die einzige NGO mit Transsexualität als Schwerpunkt.19 Als der demokratischen Linken zugeordnete Organisationen, sind die präsentierten vier LGBT-NGOs – LW, KPH, WR und TF – organisatorisch sowie strukturell weitgehend formalisiert. Zu ihren wichtigsten Zentren gehören Großstädte wie Breslau, Danzig, Krakau, Posen und Warschau. Der Personenbestand der gesamten liberal-proeuropäischen Bewegungsfamilie umfasst junge AktivistInnen, vorwiegend im Alter zwischen 15 und 45 Jahren, StudentInnen, Berufstätige, junge WissenschaftlerInnen.20 Als Vorbild für die LGBT-NGOs gelten die liberalen Demokratien Westeuropas, in denen Homosexuelle gesellschaftliche wie juristische Gleichberechtigung genießen und darüber hinaus als Akteure eines dichten Netzwerks von Kulturprojekten, pädagogischen und wissenschaftlichen Aktivitäten sowie städteplanerischen und symbolischen Anfang wird jedes Jahr weltweit im Juni der Christopher Street Day beziehungsweise Gay Pride gefeiert. Zum Stonewall-Aufstand siehe Carter 2004. 17 | Der Ausdruck »to come out of the closet« [aus dem Schrank herauskommen] ist ein international verwendeter Begriff für den individuellen Prozess, sich seiner von heterosexuellen Normvorstellungen, Geschlechterrollen und Stereotypen abweichenden Empfindungen bewusst zu werden, diese zu akzeptieren und sie anschließend der Familie und dem sozialen Umfeld mitzuteilen. Auch die polnische LGBT-Community greift gerne auf diese Metapher zurück, zum Beispiel die LGBT-Aktivistin Anna Laszuk (2006) in der in Buchform publizierten Interviewreihe Mädels, kommt aus dem Schrank heraus! 18 | So die Volontärin der Parade der Gleichheit Katarzyna. Sie wurde von mir am 2. 6. 2012 in Warschau interviewt. 19 | Siehe die Webseiten von WR: http://www.wolontariatrownosci.pl und TF: http://www.transfuzja.org (letzter Zugriff: 28. 11. 2017). 20 | Diese Angaben bestätigen die ehemalige Pressesprecherin der Parade der Gleichheit Jej Perfekcyjność im Interview am 17. 1. 2012 in Warschau und Marietta Wróblewska, Sozialpolitikerin und ehemaliges WR-Vorstandsmitglied, im Interview am 24. 2. 2012 in Warschau. Die Anzahl der AktivistInnen aller vier LGBT-NGOs beträgt circa 250 aktive Mitglieder und VolontärInnen, einige Hundert AnhängerInnen und mehrere Tausend SympathisantInnen.

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wirtschaftlichen Unternehmen agieren. Das Aktionsrepertoire der LGBT-Bewegung umfasst neben Straßendemonstrationen und queeren Kulturfestivals auch soziale Kampagnen, Bildungsmaßnahmen, psychologische und juristische Beratung sowie Verlagsarbeit. Die Organisationen arbeiten mit Menschenrechtsorganisationen zusammen und sind überdies Mitglieder internationaler LGBT-Netzwerke.21 Finanzielle Unterstützung bekommen sie dank Spenden und größtenteils durch die Zusammenarbeit mit (inter-)nationalen Organisationen, die die Entwicklung der Demokratie und Zivilgesellschaft fördern. Hinzu kommt die Kooperation mit ausländischen Botschaften, unter anderem von Großbritannien, Schweden sowie den Niederlanden und der USA. Die LGBT-Community baut auch kontinuierlich ihre mediale Infrastruktur aus.22 Darüber hinaus erscheinen seit den 1980er Jahren literarische und populärwissenschaftliche Werke zum Thema Homosexualität, LGBT-Bewegung und Homophobie, die zusammen einen umfangreichen »Regenbogen-Kanon« bilden.23 Und seit 2010 findet in mehreren Städten das größte queere Filmfestival Polens, das LGBT Film Festival, statt.24 Diese Entwicklungen im Rahmen der dritten Emanzipationswelle führten dazu, dass die Frage der sexuellen »Andersartigkeit« im Rahmen öffentlicher Debatten über die nationale Identität und den Patriotismus in Polen hitzig diskutiert wird. »Im kollektiven Diskurs ist der sexuell Andersartige vom Anderen zum Fremden geworden«, wie der Literaturwissenschaftler Przemysław Czapliński (2008: 119) treffend beobachtet. Sichtbar wurde diese soziale Haltung während der PiS-Regierungszeit 2005– 07, als Polen als »europäische Hochburg der Homophobie« (Kitliński/Leszkowicz 2013: 197) galt. Signifikant für die dritte Emanzipationswelle sind insbesondere die Gleichheitsmärsche, die im öffentlichen Raum zum wohl prägnantesten Ausdruck der polnischen »Regenbogen-Revolution« (Kurc/Tomasik 2011) wurden.

21 | Auf (inter-)nationaler Ebene kooperieren die NGOs etwa mit Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International Poland: http://www.amnesty.org.pl oder Human Rights Watch: http://www.hrw.org (letzter Zugriff: 5. 9. 2017). Darüber hinaus sind sie Mitglieder transnationaler Netzwerke wie International Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer and Intersex Youth and Student Organisation [IGLYO]: http:// www.iglyo.com, International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association [ILGA]: http://www. ilga.org und Transgender Europe [TGEU]: https://www.tgeu.org (letzter Zugriff: 5. 9. 2017). 22 | Diese umfasst eine Reihe von Zeitschriften wie Replika [Replik]: http://www.replika-online.pl, die wichtigste LGBT-Zeitschrift mit über 60 veröffentlichten Nummern und einer Auflage von 3500 Exemplaren, sowie Portale wie die seit 2012 aktive Info-Plattform Queer.pl: https://www.queer.pl (letzter Zugriff: 5. 9. 2017), die älteste solcher Art, die bereits 1996 unter dem Namen InnaStrona.pl [AndereSeite.pl] gegründet wurde. 23 | Viele der LGBT-Publikationen erschienen in spezialisierten Verlagen wie Queermedia.pl: http://www. queermedia.pl http://www.queermedia.pl (letzter Zugriff: 5. 9. 2017), AdPublik: https://www.facebook. com/adpublik (letzter Zugriff: 5. 9. 2017). Sie sind unter anderem in der LGBT-Online-Buchhandlung Bearbook.pl: http://www.bearbook.pl (letzter Zugriff: 5. 9. 2017) erhältlich. Siehe hierzu Śmieja 2010. 24 | Siehe die Homepage LGBT Film Festival: http://www.lgbtfestival.pl (letzter Zugriff: 7. 9. 2017).

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»A lle wollen lieben «. D ie »Parade der G leichheit« als LGBT-R itual im H erzen Warschaus Der Kommunikationswissenschaftlerin Kathrin Fahlenbrach (2009: 98) zufolge »stellen Straßenproteste die älteste und bis heute wichtigste Form des öffentlichen Protestes dar« und »weisen historisch tradierte, rituelle Qualitäten auf, die auch im Zeitalter der Massenmedien und des Internets unabdingbar sind für die erfolgreiche Formierung einer Bewegung«. In diesem Sinne ist die alljährliche Parade der Gleichheit in Warschau »a pure form of symbolic power« (Günther 2016: 57). Eine zentrale Rolle bei der Analyse der Demonstration spielt ihr ritueller Charakter. In Anlehnung an den Soziologen Hans-Georg Soeffner (1986: 22), der das Ritual als »Verknüpfung von Symbolen und symbolischen Gesten in gleichbleibenden und vorstrukturierten Handlungsketten« definiert, fungiert sie als Indiz sozialer Zugehörigkeit und der ästhetisch-expressiven Artikulation der LGBT-Community. Dafür sprechen sowohl ihre Wiederkehr und die Wiederholbarkeit im Ablauf, als auch das beachtliche Arsenal an semiotischen Zeichen und Codes, unter anderem visuell-expressive Ausdrucksmittel: Von Transparenten und Slogans über (Ver-)Kleidung und szenentypische Protestrequisite bis hin zu Akustik und Gestik. Kochaj bliźniego swego [Liebe deinen Nächsten], Żyj, Kochaj, Bądź! [Lebe, liebe, sei!], Wszyscy chcą kochać [Alle wollen lieben], Równe prawa. Wspólna sprawa [Gleiche Rechte. Gemeinsame Sache] oder 2017 erstmals auf Englisch: Make Warsaw Proud. Unter diesen Losungen findet seit 2001 die älteste polnische LGBT-Demonstration statt, die Parade der Gleichheit. Dieses Großevent 25 mit buntem Karneval-Charakter und Auftritten schriller Drag Queens hat einen festen Platz im Kalender der polnischen LGBT-Bewegung. Zum organisatorischen Rahmen gehören Begleitevents und Marketingaktionen: Before- und After-Partys, Workshops, Filmvorführungen, Kooperationen mit Mediengiganten wie Google oder MTV.26 Die Demonstration verzeichnet stetig steigende Teilnehmerzahlen: Während 2012 nur 5000  Personen partizipierten, war das Event 2017 mit rund 50.000 TeilnehmerInnen die bislang teilnehmerstärkste Demonstration dieser Art im Nach-Wende-Polen.27 Diese bunte, karnevaleske und an westliche Vorbilder erinnernde Veranstaltung kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Parade auf eine schwierige Etablierungsgeschichte zurückblickt, begleitet von ideologischen Gegendemonstrationen und brisanten politischen Entscheidungen. Zu einem Politikum wurde sie erstmals 2004–2005, als der damalige Oberbürgermeister Warschaus und spätere Präsident Lech Kaczyński die Parade verbot mit der Begründung, es handle sich um das »Pro-

25 | Zur Eventisierung des Protests siehe Della Porta 2008; Hitzler 2011. 26 | Als Zeichen ihrer Solidarität mit der Parade der Gleichheit 2015 und dem begleitenden Festival der Gleichheit färbten die polnischen Ableger von Google und MTV ihre Logos in Regenbogen-Optik. 27 | So die Angaben der OrganisatorInnen (vgl. Dubrowska/Karpieszuk 2012; Borys/Karpieszuk/Kucharski 2017).

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pagieren von Homosexualität«.28 Als Reaktion auf dieses verfassungswidrige Verbot veranstaltete die LGBT-Community 2004 das Event Wiec Wolności [Kundgebung der Freiheit] vor dem Warschauer Rathaus. Gegen das Verbot von 2005 ist das LGBT-Milieu zum einen rechtlich vorgegangen.29 Zum anderen organisierte die LGBT-Community die Parade der Gleichheit trotz Verbots, wodurch sie zur größten illegalen Demonstration in Polen nach 1989 wurde.30 Auf das Verbot und die illegale Parade reagierte das national-konservative Milieu.31 Als weitere wichtige Zäsur in der Geschichte der Parade der Gleichheit gilt die Ausrichtung der EuroPride 2010, deren Motto an die Ideale der Französischen Revolution Wolność, Równość, Tolerancja [Freiheit, Gleichheit, Toleranz] anknüpfte. Sie fand in Warschau und somit erstmals in einer osteuropäischen Stadt statt 32 und war ebenso von Kontroversen und Gegendemonstrationen begleitet. Während der offiziellen Debatte im städtischen Rathaus zur Frage Ist Warschau für die EuroPride bereit? äußerte sich der PiS-Abgeordnete Stanisław Pięta (s. Karpieszuk 2010) kritisch: »Die Homo-Parade ist kein kulturelles Festival. Es ist eine Art der Anti-Kultur« und eine »Bedrohung der öffentlichen Moral«. Die Allpolnische Jugend organisierte eine Gegendemonstration und bewarf die Teilnehmenden mit Eiern und Flaschen, fundamentalistische KatholikInnen protestierten mit Christus-Bildern, Kreuzen und Rosenkränzen und bespritzten die TeilnehmerInnen mit Weihwasser. Die EuroPride wurde zwar als Zeichen der veränderten Wahrnehmung in Bezug auf Schwule und 28 | Als offiziellen Grund nannte das Warschauer Rathaus (vgl. Karpieszuk 2016) »die Behinderung des öffentlichen Verkehrs«. 29 | 2005 erfolgte die juristische Klage »Bączkowski und Andere gegen Polen«. Der LGBT-Aktivist Tomasz Bączkowski reichte mit Unterstützung von KPH- und LW-Mitgliedern eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ein mit der Begründung, die Entscheidung Lech Kaczyńskis verstieße gegen die Versammlungsfreiheit. Der Europäische Gerichtshof entschied 2007 einstimmig, dass Polen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention in Bezug auf die Versammlungsfreiheit und das Diskriminierungsverbot verstoßen habe. 30 | Der KPH-Mitarbeiter Jan Świerszcz betonte im Interview am 31. 5. 2012 in Warschau, dass an der Manifestation 8000 Personen teilnahmen, darunter die damalige stellvertretende Ministerpräsidentin Izabela Jaruga-Nowacka und von der deutschen Partei Bündnis 90/Die Grünen Claudia Roth und Volker Beck. 31 | Allen voran die rechtsradikale Młodzież Wszechpolska [Allpolnische Jugend], die eine legale, durch Kaczyński genehmigte Gegendemonstration, Parada Normalności [Parade der Normalität], organisierte. Der damalige Vorsitzende Wojciech Wierzejski warb für eine Null-Toleranz-Politik gegenüber der LGBT-Community und die TeilnehmerInnen skandierten homophobe Hassparolen wie Pedofile, pederaści to są Unii entuzjaści [Pädophile, Päderasten, das sind die EU-Enthusiasten]. Zu den rechtsradikalen Bewegungen siehe die Homepage von Młodzież Wszechpolska: http://www.mw.org.pl (letzter Zugriff: 7. 8. 2017) und Balcerzak 2017. 32 | Seit 1991 vergibt die Londoner European Pride Organizer’s Association: http://www.epoa.eu (letzter Zugriff: 7. 9. 2015) jedes Jahr an eine andere Stadt die Ausrichtung von EuroPride, der paneuropäischen LGBT-Parade. Neben Warschau gehörte bislang nur das lettische Riga (2015) zu den osteuropäischen EuroPride-Organisatoren.

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Abb. 1: Gestylte Teilnehmerin der Warschauer Parade der Gleichheit 2015 trägt die Regenbogen-Fahne als Symbol der LGBT-Bewegung

Lesben verstanden, unterm Strich fiel die Bilanz jedoch ernüchternd aus. In dem Bericht über die EuroPride schrieb die New York Times (Kulish 2010) deshalb Folgendes: »Rainbow flags flying, Village People [Hvh. A.  B.] and Madonna songs pumping from the floats, drag queens waving like royalty to the crowds: [S]ome things are the same at gay pride parades everywhere. But the thousands of police officers holding back clusters of jeering, egg-throwing youths served as a reminder that Poland was not quite Holland when it came to gay demonstrations.«

Seit 2006 verläuft die Parade legal in einem stets ähnlichen audio-visuellen Rahmen: Jubelnde Menschen werden von geschmückten Musikplattformen begleitet, sie singen, tanzen und tragen mit Stolz regenbogenfarbene Accessoires und Fahnen (Abb.  1).33 Bis 2015 marschierten sie an der aus 20.000  Plastikblumen bestehenden 33 | Die Regenbogen-Fahne – das Symbol des Stolzes von Homosexuellen und der Vielfalt queerer Lebensweisen  – entwarf der US-amerikanische Künstler Gilbert Baker und schwenkte diese während der Gay Freedom Day Parade 1978 in San Francisco. Tatsächlich trugen Homosexuelle bereits 1969 Regenbogen-Fahnen beim Begräbnis der Schauspielerin und LGBT-Ikone Judy Garland. Es heißt, Baker sei beim Entwurf der Flagge vom Lied Over the Rainbow von Judy Garland aus dem Film Der Zauberer von Oz über einen Ort, »an dem alles besser und gerechter ist«, inspiriert worden. Die Regenbogenfahne wurde erstmals 1978 zum Protest- und Trauermarsch aus Anlass der Ermordung Harvey Milks, des ersten geouteten US-Politikers und Bürgerrechtlers der LGBT-Bewegung, massenproduziert. Seitdem kommt sie heute weltweit zum Einsatz, oft in Verbindung mit religiösen Symbolen, etwa dem christlichen Kreuz, dem jü-

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Regenbogen-Installation von Julita Wójcik am Warschauer Erlöser-Platz vorbei. Als verhasstes LGBT-Symbol wurde sie mehrmals in Brand gesetzt, unter anderem während der größten landesweiten rechtsradikalen Demonstration Marsz Niepodległości [Marsch der Unabhängigkeit]34 am 11. 11. 2013, dem polnischen Unabhängigkeitstag. Um den Nationalisten das Monopol auf die Diskursivierung des Patriotismus streitig zu machen, gehört die weiß-rote Nationalfahne wie das gemeinsame Singen der Nationalhymne seit einigen Jahren zum festen Ritual des LGBT-Großevents. Bislang wurde überdies auch eine Regenbogen-Illumination vom Kulturpalast, dem Wahrzeichen der Hauptstadt, unter anderem anlässlich der Parade der Gleichheit 2011 genehmigt. Dem linken Politiker Sebastian Wierzbicki zufolge habe man damit Europa gezeigt, dass »die Hauptstadt Polens eine Stadt der Toleranz, Freiheit und Gleichheit ist, so wie es sich für eine wahre Hauptstadt des XXI. Jahrhunderts gehört« (s. Szpala/ Dubrowska 2011). Trotzdem hat keiner der Oberbürgermeister oder Staatspräsidenten die symbolträchtige Geste gewagt und die Schirmherrschaft über die seit mehr als 15 Jahren im Herzen Warschaus organisierte Parade offiziell übernommen.35 Die erwähnten Kontroversen, Gegendemonstrationen und die fehlende Unterstützung seitens der Regierenden belegen – trotz steigender Teilnehmerzahlen – einmal mehr, dass es in Bezug auf Schwule- und Lesbenparaden ein »Europa der zwei Geschwindigkeiten« (Dobrzyński 2016) gibt.

»Paramobil«. E in theatralisiertes antihomophobes P rotest‑H appening Zum Repertoire kultureller Praxen der LGBT-Bewegung gehören neben Demonstrationen theatrale Interventionen im öffentlichen Raum. Als Inspirationsquelle gelten die durch die »Ästhetik des Performativen« (Fischer-Lichte 2004) geprägten, oft fließenden Übergänge zwischen Protest und theatralen Formaten, aber ebenso verschiedene historische Kunstströmungen und avantgardistische Protestbewegungen.36 Das dischen Davidstern oder dem muslimischen Halbmond, aber auch mit politischen oder staatlichen Emblemen. Zur Regenbogenfahne siehe Fijałkowski 2014: 176 f. 34 | Siehe die Homepage von Marsz Niepodległości: https://www.marszniepodleglosci.pl (letzter Zugriff: 28. 11. 2015). 35 | Einer Art historische »Ausnahme« fand 2015 statt. Noch vor dem spektakulären PiS-Sieg übernahm Małgorzata Fuszara, Gleichstellungsbeauftragte der damaligen Regierung, die Schirmherrschaft über das Event. 36 | Drei große Einflussbereiche können hier ausgemacht werden: Die avantgardistische Kunst der 1920er Jahre, unter anderem der Dadaisten und Surrealisten; die alternativen, oftmals subversiven linken Bewegungen der 1950–60er Jahre in Westeuropa, etwa die Situationistische Internationale, die Provos, die Kabouter-Bewegung, aber auch die polnische Pomarańczowa Alternatywa [Orangene Alternative] der 1980er Jahre; die Aktionskunst der 1950er Jahre, verstanden als Oberbegriff für diverse performative Formen von Straßentheater und Happening, damals besonders populär in Deutschland und den USA (Kraus 2016:

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Ziel besteht darin, mit Hilfe audiovisueller und ästhetisch-expressiver Werkzeuge des Theatralen und Karnevalesken wie Musik, Verfremdung, des Spiels mit Utopien und Identitäten, eine ideologische »Politisierung von Straße« (Kraus 2007) herbeizuführen. Die Happenings sollen dadurch ebenso witzig wie provokativ sein, komplexe entwicklungspolitische Zusammenhänge satirisch darstellen und Identitäten wie Narrationen in Frage zu stellen. In Anbetracht der intoleranten und homophoben Politik der PiS-Regierung 2005–2007 unter der Leitung der Kaczyński-Brüder organisierte die queere Community 2007 in Breslau eine Reihe solcher satirischer Happenings. Besondere Aufmerksamkeit verdient hierbei das Paramobil, das im Rahmen des Festivals Lesbijki, Geje i Przyjaciele [Lesben, Schwule und Freunde] stattfand und von der KPH und der damals entstehenden TF organisiert wurde. Wie der Ideengeber und Transgender-Aktivist Antyfacet 37 (2007) betont, bestand das Ziel des theatralisierten Happenings in der »Verspottung der pseudotoleranten Haltung, die ihren Ausdruck in dem Spruch: ›[I]ch bin nicht gegen sexuelle (und andere) Minderheiten, aber mir wäre es lieber, wenn sie diese in der Öffentlichkeit nicht zeigen würden‹ findet. Eine solche Haltung ist im Grunde genommen eine Negation der Toleranz, denn ein Verbot von ›Zur-Schau-Stellung‹ ist de facto eine ANORDNUNG, sich mit seiner Andersartigkeit in den eigenen vier Wänden zu verstecken.«

Die ideologische Grundlage für das Happening bildeten Antyfacets bissige »Empfehlungen« an die PiS-Regierung zur Lösung des »Problems« der Homosexualität in Polen. Sein Vorschlag umfasste einerseits einen »fiktiven Gesetzesentwurf, der die Bürger kategorisieren und ihre Freiheiten im Geiste des katholischen Fundamentalismus und des allgemeinen Primitivismus der damaligen Regierungsriege diversifizieren sollte«. Das würde, so Antyfacet (ebd.) weiter, die Klassifizierung Homosexueller als »Bürger II. Kategorie« ermöglichen, deren »öffentliches Auftreten eine Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung und eine Beleidigung der öffentlichen Moral darstellt«. So könne man eben diesen »Bürgern II. Kategorie« die Pflicht auferlegen, sich in der Öffentlichkeit ausschließlich mit Hilfe eines alternativen Verkehrsmittels fortzubewegen, nämlich des Paramobils (Abb.  2). Entsprechend erinnerte das eigentliche Happening an eine Produktpräsentation, bei der Antyfacet (ebd.) in der Rolle einer Transgender-Hostess versuchte, die Vorzüge des Paramobils für »Personen die zu der polnischen Gesellschaft nicht passen«, anzupreisen. Geeignet sei es folglich für alle »Anderen«, zum Beispiel Homosexuelle oder Ausländer, was dem Straßenspektakel 384 ff.). Kennzeichnend für diese Aktivitäten war ein taktisches Vorgehen mit Humor und Fantasie, das die Entwicklung der Kommunikationsguerilla sowie der diversen Popkultur-Formate beeinflusste. Zum Straßentheater in Polen und Europa siehe Balcerzak 2011; Jappe 1993. 37 | Antyfacet, eine Abkürzung von Naczelny Antyfacet Rzeczypospolitej Polskiej [Oberster Anti-Mann der Republik Polen] ist ein in dem LGBT-Milieu bekannter Transgender-Aktivist, Mitbegründer der Stiftung Trans-Fusion und Koautor mehrerer queerer Happenings: http://www.antyfacet.com.pl (letzter Zugriff: 9. 11. 2015).

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Abb. 2: Antyfacets Paramobil für Homosexuelle als »Bürger II. Kategorie« vorbereitet für das gleichnamige LGBT-Happening 2007 in Breslau

einen universellen Charakter verlieh. Zentral für das Happening war eine sarkastische Lobrede auf das Paramobil, die Antyfacet in dem früheren Text Ein Rat für die Kaczyńskis (2006) zusammenfasste: »Das Paramobil ist eine hybride Bildung, bestehend aus den Wörtern ›Paravent‹ und ›mobil‹, d. h. […] das Wesen des Geräts besteht in der Fähigkeit zum Verdecken bei gleichzeitiger Bewegungsmöglichkeit. […] In Herstellung würden Schmalrumpfmodelle (für eine Person) und Großraummodelle (für eine höhere Personenzahl) gehen, darunter auch Langmodelle  – für Lesben- und ›Schwuchtel‹-Paare, die aufgrund bestimmter Lebensverwirrungen Kinder haben  […]. Das Gerät würde aus modernen, leichten und stabilen Materialien […] produziert werden, so dass Treppen-Steigen an öffentlichen Orten kein Problem darstellen würde  […]. Ein überdachtes Paramobil würde Schutz vor Eiern bieten, geworfen während Manifestationen durch ›[A]llpolnische Verteidiger der Normalität‹ [Hvh. A. B.] […]. Für alte und kranke ›Perverslinge‹ [Hvh. A.  B.] könnte das Paramobil durch einen elektrischen Antrieb sogar selbstfahrend sein […] und Versionen mit einer verstärkten Konstruktion könnten als Gehhilfe genutzt werden. […] Die Rechtsgrundlage […] für den Paramobil-Gebrauch wäre das ›Gesetz über die Rechte und Pflichten von gesellschaftlich nicht vollwertigen Personen‹, umgangssprachlich als ›Versteck-Dich-Gesetz‹ [Hvh. im Orig.] genannt. Die Paramobile, die in den Verkauf kommen würden, müssten über zwei Bescheinigungen verfügen: [E]ine Homologation des Instituts für den Fahrzeugtransport  […] sowie ein Attest des neuen und mit Hilfe des Gesetzes sanktionierten ›Amtes für die Unterstützung der Tugend und des Kampfes gegen Frevel und Unsitte‹ [Hvh. A. B.] […]. Ich bin davon überzeugt, dass die Brüder, die immer uneingeschränkter in Polen regieren, meinen technischen und gesetzlichen Entwurf annehmen und dadurch Europa und die restliche Welt, bezüglich der schon fast salomonischen Lösung des akuten Problems, mit dem die westlichen Demokratien anscheinend nicht zurechtkommen, in Erstaunen versetzten werden […]. Mögen unsere ›Großen-Kleinen Brüder‹ [Hvh. A. B.] durch dieses Gesetz dem Rest der Welt zeigen, dass in Polen der sogar durch Gott verhasste und de facto keines rechtlichen Schutzes würdige Abschaum der Gesellschaft sich trotzdem eines fürsorglichen Schutzes des Staates erfreuen kann, was

232 | Agnieszka Balcerzak gleichzeitig (eine Lektion für das verdorbene Europa sein sollte!) keinen Verzicht auf die Wahrung der traditionellen heterosexuellen und sexistischen Werte bedeuten muss, auf denen nicht nur unsere ganze Zivilisation, sondern auch die Familie basiert […]. Amen.«

Im Anschluss erfolgte eine Demonstration der praktischen Funktionsweise des Paramobils, vorgeführt durch zwei Paare  – »Widerliche Päderasten« und »Ekelhafte Lesben« – wie Antyfacet (2007) sie in seiner Präsentation nannte. Sie küssten sich, versteckt im Paramobil, eben ohne Anstoß zu erregen oder »die auf Aberglauben und Vorurteilen basierende öffentliche Moralordnung zu gefährden« (ebd.). Abschließend verkündete Antyfacet die Pointe des provokativen Happenings: »Es ist kaum vorstellbar, dass man sich für eine geliebte Person schämt, so dass das Paramobil eigentlich gar nicht existieren und stattdessen zum Symbol sozialer Blamage werden sollte« (ebd.).

»S ie sollen uns sehen «. V isualisierungen des Q ueer -S eins im   öffentlichen R aum Des Weiteren setzten die LGBT-NGOs in ihrer alltäglichen Praxis auf großangelegte Plakat-Kampagnen im öffentlichen Raum. Während für Theater, Kabarett oder Film die große Zeit des Werbeplakats erst Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung einsetzte, etablierte sich das politische Plakat als Massen- und Protestmedium bereits im Zuge der Französischen Revolution um 1789 und ist seitdem aus dem gesellschaftspolitischen Kampf nicht mehr wegzudenken.38 Ob an Litfaßsäulen, Hauswänden oder unter Brücken – das Plakat hat ein Ziel: Aufmerksamkeit erregen. Der Kulturhistoriker Kai Artinger (2000: 15 f.) definiert das Plakat entsprechend als »ein Medium der Massenkommunikation zur Übermittlung von Ideen und Emotionen in Schrift und Bild mit dem Ziel, den Betrachter […] in seinem Handeln zu beeinflussen«. Um auch die uninteressierten BetrachterInnen zu erreichen, muss das Plakat eingängig und wirkungsvoll gestaltet sein. Der Effekt wird primär durch ein großes Format, markante Schriftart, Farbgebung sowie bildhafte Gestaltungsformen erzielt. Federführend im Hinblick auf die Nutzung des Mediums Plakat ist die KPH, die 2003 mit der bereits angesprochenen Billboard-Kampagne Sie sollen uns sehen, der ersten visuellen Aktion dieser Art in Polen, einen Meilenstein setzte und »in einem bis dato einmaligen Ausmaß die ›schwul-lesbische Frage‹ in den öffentlichen Diskurs in Polen einführte« (Sypniewski/Warkocki 2004b: 5). Die soziale Kampagne, initiiert durch die KPH-Aktivistin und Fotografin Karolina Breguła, bestand aus einer Fotoausstellung und einer anschließenden landesweiten Billboard-Aktion im öffentlichen Raum. Das einfache Konzept bestand aus Fotos von 30 homosexuellen Paaren, 15 schwulen und 15 lesbischen. Anzumerken ist, dass es der Autorin schwer 38 | Zur Theorie und Geschichte des politischen Plakats siehe Hundhausen/Horvat-Pintarić/Ronneberger 1975; Kämpfer 1985.

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Abb. 3: KPH-Plakat für die bahnbrechende visuelle LGBT-Kampagne Sie sollen uns sehen 2003

fiel, 60 Personen zu finden, die genug Mut besaßen, sich für die brisante Bildergalerie ablichten zu lassen.39 Dabei sind Bregułas Portraits alles andere als kontrovers und weit entfernt von der gängigen Vorstellung einer »bunten medialen Sensation« mit »verkleideten Schwulen, behängt mit Ketten und Federn« (Osęka 2003). Im Gegenteil, die Fotos wirken fast monoton, geradezu alltäglich, und zeigen die Paare bei einem Spaziergang. Ungestylt und ungeschminkt, in normaler Winterkleidung, halten sie Händchen und lächeln (Abb. 3). Da Homosexualität in Polen keineswegs alltäglich ist, bestand die Provokation gerade in diesem schlichten, Normalität und soziale Sichtbarkeit vermittelnden Effekt mit dem Ziel, dass »diejenigen, die Juden, Araber, Immigranten […], Homosexuelle hassen […], anfangen, über sie anders zu denken, wenn sie sie ein wenig besser kennenlernen – wenn sie sie auf einem Foto sehen, ihrem Blick begegnen, merken, dass es die gleichen gewöhnlichen Menschen wie sie sind« (ebd.). Also »schlichte Bilder, welche die Passanten mit unserer Anwesenheit feinfühlig vertraut machen sollen«, fasst sehr treffend der damalige KPH-Vorsitzende Robert Biedroń (s. Szczygieł 2003) das grafische Konzept zusammen. Ähnlich dem Effekt der Demos erwies sich die Kampagne einerseits als bahnbrechend im Kampf gegen die Homophobie und Diskriminierung. Andererseits löste auch sie eine hitzige Debatte und eine Welle der Empörung über diese Art Visualisierung von sexueller »Andersartigkeit« aus. Die AusstellungskuratorInnen wurden entlassen, die Plakate zerstört oder entfernt. Infolge der intensiven Kritik seitens rechts39 | Zur Kampagne siehe die Homepage Sie sollen uns sehen: http://www.niechnaszobacza.queers. pl (letzter Zugriff: 20. 1. 2015) und Stasińska 2011. Auf der Homepage: http://www.niechnaszobacza. queers.pl/strony/galeria.htm (letzter Zugriff: 20. 1. 2015) befindet sich auch die vollständige Bildergalerie der homosexuellen Paare.

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Abb. 4 (links): Provokatives Plakat mit dem Motiv lesbischer KrakowiankaTrachtenpuppen für das Queer-Mai-Festival 2012 in Krakau Abb. 5 (rechts): MW-Plakat mit einem traditionellen Folklore-Trachtenpaar aus Kleinpolen für das rechtsradikale Festival der Normalität 2012 in Krakau

gesinnter PolitikerInnen und Organisationen zogen auf Außenwerbung spezialisierte Kunstgalerien und Firmen ihre Teilnahme zurück. Die Allpolnische Jugend (s. Osęka 2003) sprach von aggressiver »Werbung für sexuelle Entartung  […], Perversionen und Depravation  […] im Namen der sog. Toleranz«. Die erzkonservative Tageszeitung Nasz Dziennik [Unsere Tageszeitung] des umstrittenen Redemptoristen Tadeusz Rydzyk40 empörte sich ebenfalls über die »skandalöse  […] entartete Kampagne« (Anonymus [CK] 2003) und über die finanzielle Unterstützung des Projekts durch die Regierung41. Die Medienhetze führte im Endeffekt dazu, dass eine »einfühlsame

40 | Der für seine fremdenfeindliche und homophobe Hasssprache bekannte Redemptoristenpater Tadeusz Rydzyk gründete 1991 in Toruń das erzkatholische Radio Maryja: http://www.radiomaryja.pl (letzter Zugriff: 15. 9. 2016), aus dem sich ein riesiges klerikal-religiöses Medienimperium entwickelte. Die Soziologin Mirosława Grabowska (2011: 2) schätzt den Marktanteil des Radiosenders auf zwei bis vier Prozent, was etwa 1.500.000 HörerInnen entspricht. Das einflussreiche, millionenschwere Medienimperium umfasst neben dem Radiosender eine Tageszeitung, einen TV-Sender, eine Journalistenhochschule, drei Stiftungen sowie ein Sakral- und Unterhaltungszentrum. Zu Rydzyk und seinem Medienimperium siehe Głuchowski/Hołub 2013; Żurek 2009. 41 | Die Kampagne wurde durch die Kanzlei des damaligen Ministerpräsidenten Leszek Miller von Sojusz Lewicy Demokratycznej [Bündnis der Demokratischen Linken], die damalige Beauftragte der Regierung

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Kampagne gegen die Homophobie eine verbissene Kampagne gegen die Anderen als Antwort auslöste« (Osęka 2003). Bei den Postern für die alljährlichen landesweiten Gleichheitsmärsche setzt die queere Community hingegen auf farbenfrohe Entwürfe und lokale Symboliken. Diese Darstellungsmittel kamen unter anderem beim Plakatentwurf für den Marsch der Gleichheit 2012 zum Einsatz, koorganisiert durch die KPH als Kulminationspunkt des Krakauer Queer-Mai-Festivals.42 Unter dem Titel Krakowianki: Gra wstępna [Die Krakauerinnen: Das Vorspiel] designte Julie Land ein buntes Plakat, das Regenbogen-Optik mit dem Krakowianka-Motiv kombiniert. Die Trachtenpuppe, erhältlich in regionalen Folkloreläden, trägt normalerweise die traditionelle Kleidung aus der Region Kleinpolens mit pompösem Blumen-Haarschmuck und zwei Zöpfen. Die Designerin spielt jedoch mit dem Motiv aus der queeren Perspektive und platziert bewusst zwei sich umarmende gleichgeschlechtliche Krakowianka-Puppen in die Mitte des Plakats. Diese sind außerdem, im Gegensatz zum Original, in überspitzt grellen Farbtönen dargestellt, was einmal mehr den Bruch mit der Tradition symbolisiert (Abb. 4). Diese provokative Darstellungsweise der Trachtenpuppen löste prompt eine aus dem Repertoire der Kommunikationsguerilla schöpfende Protestreaktion der Allpolnischen Jugend aus. Als Antwort auf das LGBT-Festival veranstaltete die rechtsradikale Organisation eine ideologisch konträre Eventreihe mit dem krönenden Abschluss Spacer Normalności [Spaziergang der Normalität] am Tag des Marsches der Gleichheit. Um Werbung für die Demonstration zu machen, entwarfen die OrganisatorInnen ein dem LGBT-Original stark nachempfundenes Plakat. Die resemiotisierte »rechte« Variante zeigt in der Mitte ein klassisches heterosexuelles Trachtenpuppen-Paar in der kleinpolnischen Folklorekleidung und einer reduzierten Farbskala (Abb.  5). Mit Hilfe dieser Darstellungsmittel wurde der Protest gegen die queeren Lebensweisen, die als Negation des »wahren Polentums« sowie der traditionellen, heteronormativen Gesellschaftsnormen zu lesen sind, einmal mehr eindrucksstark visualisiert.

»H etero? N icht in unserem Tal«. V irtuelle Street-A rt-K unst auf   städtischen M auern Das Repertoire der Protestpraxis der LGBT-Bewegung rundet die Straßenkunst ab. Die Street-Art, auch »Urban Painting« oder »Alternative Art« (Reinecke 2012) genannt, ist ein vielschichtiges Medium der Protestkommunikation, angesiedelt zwischen globaler Popkultur, subversiver Kunst und kommerzieller Werbung. Im Kontext sozialer Bewegungen ist das expressive und flüchtige Medium Straßenkunst dem für die Geschlechtergleichstellung Izabela Jaruga-Nowacka sowie die Botschaften Schwedens und der Niederlande finanziell unterstützt (Mancewicz 2003; Pietkiewicz 2003: 104). 42 | Siehe die Homepage Festiwal Queerowy Maj [Queer-Mai-Festival]: http://www.queerowymaj.org (letzter Zugriff: 5. 7. 2015).

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Kunsthistoriker Johannes Stahl (2016: 229) zufolge, »a continious factor in the history of protest«, das seine erste wichtige Entwicklungsphase im Vorfeld und als Folge der 1968er-Revolte in den USA und Westeuropa erlebte. »Wir lernen Rassisten zu sein, dann können wir auch lernen, wie wir zu keinen werden. Rassismus ist nicht genetisch vererbbar. Das ist alles eine Frage der Macht.« Dieses Zitat der berühmten US-amerikanischen Antirassismus-Aktivistin Jane Elliott ziert die Homepage des multimedialen Projekts Bagaż podręczny [Handgepäck]. Veranstaltet wurde es 2011–2013 durch den Posener Verein Nastawnia [Stellwerk], spezialisiert auf Projekte zur Förderung von Toleranz und sozialer Inklusion.43 Das Herzstück der Initiative, organisiert unter der Schirmherrschaft von KPH, Replika und Queer.pl, bildete ein Hörspiel mit Antidiskriminierungscharakter im Posener Rundfunk, in dem die AutorInnen des Projekts das Auditorium auf eine Reise durch eine »verkehrte Welt« mitnahmen. Es wurde eine fiktive Realität vorgeführt, bewohnt von HeldInnen mit sexuellen Orientierungen und gesellschaftlichen Haltungen, die im Widerspruch zu allem Bekannten standen.44 Die AutorInnen des Hörspiels Agnieszka Wasilczyk-Kryger und Kajetan Hajkowicz 45 wählten in Anbetracht wachsender Homophobie in Polen bewusst den Titel ihres facettenreichen Projekts: »Die Leitidee von Handgepäck ist eine absolut verkehrte Weltordnung, um das Problem der Diskriminierung von einer anderen Perspektive betrachten zu können. Das Titel-›Handgepäck‹ ist einerseits eine Sammlung von Charakteristika, die verursachen können, dass wir zu einer der ausgegrenzten Gruppen gehören. Andererseits – sind es die Vorurteile und gedanklichen Stereotype, mit Hilfe derer wir die Welt wahrnehmen. So wie das Handgepäck tragen wir sie überall mit uns, eingepackt und scheinbar unsichtbar, und doch enorm wichtig, denn sie erschweren unser freies Bewegen in der Welt, nehmen uns gewissermaßen unsere Freiheit weg.«

Gerahmt wurde das innovative Hörspiel durch ein Theaterstück, eine multimediale Performance sowie eine von Kajetan Hajkowicz erstellte Galerie aus virtuellen Murals, die ebenfalls in der Konvention einer »auf den Kopf gestellten Welt« gehalten wurde. »Stellt euch eine Welt vor, in der die homosexuelle Mehrheit die heterosexuelle Minderheit angreift? In der Heterophobie allgegenwärtig ist? In der Heteros Angst haben, sich mit ihrer ›widerlichen‹ Orientierung zu outen?«, schreiben provokativ die InitiatorInnen der Aktion.46 Hajkowicz liefert die Antworten auf diese Fragen in Form von über sechs Dutzend an Gebäuden, Mauern oder sonstigen urbanen Flä43 | Siehe Bagaż podręczny: http://www.bagazpodreczny.pl, http://www.facebook.com/bagazpodreczny und die Homepage von Nastawnia: http://www.nastawnia.com.pl (letzter Zugriff: 5. 7. 2015). Das Zitat wurde der Homepage von Bagaż podręczny entnommen. 44 | Das Hörspiel wurde auch 2013 im Rahmen des Krakauer Queer-Mai-Festivals live präsentiert. 45 | Siehe die Homepage von Nastawnia: http://www.nastawnia.com.pl/bagaz-podreczny-2011 (letzter Zugriff: 5. 7. 2015). 46 | Siehe Bagaż podręczny: http://www.facebook.com/bagazpodreczny/about (letzter Zugriff: 5. 7. 2015).

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Abb. 6 (links): Plakat mit der Kleinen My und dem Slogan »Hetero? Nicht in unserem Tal« entworfen für das KPH-Antidiskriminierungsprojekt Handgepäck Abb. 7 (rechts): Pater Rydzyk predigt mit erhobenem Zeigefinger auf einem fiktiven Posener Mural in der Konvention einer »auf den Kopf gestellten Welt«

chen in Posen und anderen Großstädten, wie zum Beispiel London oder Venedig, in Form virtuell platzierter Murals mit Botschaften auf Polnisch und Englisch. Beim Design der fiktiven Street-Art-Grafiken griff der Autor einerseits auf popkulturelle HeldInnen-Motive aus Cartoons und Filmen zurück, die aufgrund ihres hohen Wiedererkennungswerts sowohl dem polnischen als auch dem internationalen Publikum bekannt sein dürften. Bereits auf dem beabsichtigt schwarz-weißem Handgepäck-Plakat verkündet die zornige Kleine My aus Tove Jassons Mumin-Werken Hetero? Nie w naszej dolinie [Hetero? Nicht in unserem Tal] und stützt dabei demonstrativ ihre Hände in die Seiten (Abb. 6). Auch Pu der Bär offenbart seinem besten Freund Ferkel seine Überlegungen zur sexuellen Andersartigkeit und der damit verbundenen »Unsichtbarkeit« mit dem Satz The more you’re straight Piglet, the more you disappear. Der muskulöse, in kampfbereiter Pose dargestellte Superman geht wiederum in die Offensive und warnt seine Feinde mit der klaren Ansage: Just try calling me straight again! Diese weltweit bekannten Figuren und die Orte ihres Auftretens verleihen der Problematik der sozialen Exklusion und der Diskriminierung Universalität und eine (trans-)nationale Dimension. Andererseits versucht Hajkowicz aber mit seinen virtuellen Grafiken, das Problem in den spezifisch polnischen Kontext einzubetten, um dadurch auf die Probleme der einheimischen LGBT-Community hinzuweisen. Als symbolischer Feind des queeren Milieus im Nach-Wende-Polen ziert zum Beispiel als eines der größten Murals in der Galerie der für seine homophobe Haltung bekannte Redemptoristenpater und Gründer des erzkatholischen Radio Maryja Tadeusz Ry-

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dzyk. Das Wandbild zeigt den Kleriker, während er wie üblich von der Kanzel predigt: Wenn du nationale Symbole mehr als Menschen respektierst, wenn du jemanden verprügeln willst, weil er anders ist, und wenn du meinst, dass nur du Recht hast, dann bist du HETERO! Dabei visiert er den Betrachter mit ernsthafter Miene und erhobenem Zeigerfinder an (Abb. 7). Mit den »kämpfenden Murals« im Cyberspace thematisiert der Autor die Problematik der Diskriminierung sexueller Minderheiten in einer äußerst kreativen und Aufmerksamkeit erregenden Weise. Einfach und effektiv demaskiert Hajkowicz die Ängste sowohl der Mehrheit als auch der Minderheit der polnischen Gesellschaft. Die Murals sollen schockieren und sie tun es auch dank dem Konzept der »verkehrten Welt«. Durch die Verlagerung der Street-Art in den Cyberspace rüttelt der Designer die Öffentlichkeit wach, und zwar ohne die Zerstörung der Kunstwerke befürchten zu müssen.

R esümee Die präsentierten Ausdrucksformen veranschaulichen die Vielschichtigkeit und Dynamik der Identitätspolitik und Protestpraxis der LGBT-Community im Nach-Wende-Polen. Für die queeren Milieus besteht die Herausforderung nicht mehr darin, die Normalität der Homosexualität zu »beweisen«, sondern vielmehr im Widerstand gegen die Homophobie und die vielerseits geforderte kulturelle Homogenität des Landes, in dem sich die Intoleranz gegenüber »Anderen« in den letzten Jahren immer tiefer zu verankern scheint. Somit gehört zur Aufgabe der LGBT-Bewegung auch die Veränderung der öffentlichen Debatte über die Rolle von queeren Personen, die der Feministin Agnieszka Graff (2013) zufolge bis dato von einer Rechts-Links-Polarität geprägt wird: »[A]uf der einen Seite der familienfreundliche Konservative, auf der anderen Seite – der individualistische Liberale, der Linke, der Schwule und die Lesbe. […] Wir, allein und verbittert, die Anderen – von einer Schar süßer Knirpse umgeben. Diese Teilung ist unsinnig. Es ist an der Zeit, den Konservativen das Monopol auf das ›Familiäre‹ streitig zu machen.«

Gleichzeitig wird die Frage der sexuellen »Andersartigkeit« zum Brennpunkt der nationalen Identität und des Patriotismus-Diskurses in Polen, das unter der konservativen PiS-Regierung erneut zum europäischen Bollwerk der Homophobie und Fremdenfeindlichkeit avanciert. Die durch das rechtsgesinnte Milieu propagierten Vorurteile über Homosexualismus als »Nest des Sittenverfalls und des Bösen«47 werden durch den Rechtsruck des Landes salonfähig gemacht. In diesem Zusammenhang kann abschließend Paweł Leszkowicz (2004: 109) scharfsinnige Diagnose des gesellschaftlichen Umgangs mit der sexuellen »Andersartigkeit« in Polen zitiert werden: 47 | Vgl. Anm. 18.

»(Un-)Sichtbare Andere« | 239 »Der Zustand der gegenwärtigen Sexualkultur in Polen kann mithilfe eines Verweises auf den Kultfilm Matrix der Brüder Wachowsky beschrieben werden. […] [In Polen] dominiert immer noch ein erstaunliches Sittenbewusstsein, laut dem wir heterosexuell sind oder sein sollten. Die Homosexualität ist etwas von ›außerhalb‹. Ihre Nennung ruft immer noch Verwunderung, Schock oder Belustigung hervor. Ein Schwuler und eine Lesbe müssen verdammt oder ausgeschlossen sein. Die Heterosexualität wird nicht nur als Norm, sondern als eine universelle conditio humana behandelt.«

In Anbetracht dieser Entwicklung sind die analysierten Identitätspolitik und Inszenierungspraxis der polnischen LGBT-Bewegung ein vielschichtiges Abbild der Brüche, entstanden in der polnischen Gesellschaft im Zuge des postkommunistischen Wandels. Das »doing culture« (Hörning/Reuter 2004) der queeren Milieus als Bestandteil der antagonistischen Nach-Wende-Protestlandschaft ist dabei nicht nur ein Panorama der Gespaltenheit Polens in extreme Bewegungen, Organisationen und Netzwerke von Verbündeten. Es ist zugleich auch das Spiegelbild der Orientierungskämpfe um politische und kulturelle Macht, um den Gehalt der öffentlichen Diskurse und ihre soziopolitischen Legitimationen sowie die Positionierung Polens auf der Landkarte Europas und der Welt.

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»(Un-)Sichtbare Andere« | 245

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A bbildungsverzeichnis Abb. 1: Gestylte Teilnehmerin der Warschauer Parade der Gleichheit 2015 trägt die Regenbogen-Fahne als Symbol der LGBT-Bewegung. Quelle: Fot. Andrzej Stawiński, Homepage der Parade der Gleichheit: http://www.paradarownosci.eu/ galeria/parada-rownosci-2015 (18. 7. 2015). Abb. 2: Antyfacets Paramobil für Homosexuelle als »Bürger II. Kategorie« vorbereitet für das gleichnamige LGBT-Happening 2007 in Breslau. Quelle: Fot. Antyfacet, Antyfacets Homepage: http://www.antyfacet.com.pl/Antyfa2L.html (20. 11. 2013). Abb. 3: KPH-Plakat für die bahnbrechende visuelle LGBT-Kampagne Sie sollen uns sehen 2003. Fot. Karolina Berguła, Homepage der Kampagne Sie sollen uns sehen: http://www.niechnaszobacza.queers.pl (15. 2. 2012). Abb. 4: Provokatives Plakat mit dem Motiv lesbischer Krakowianka-Trachtenpuppen für das Queer-Mai-Festival 2012 in Krakau. Quelle: Julie Land, Homepage des Queer-Mai-Festivals: http://www.queerowymaj.wordpress.com/page/3 (7. 4. 2014). Abb. 5: MW-Plakat mit einem traditionellen Folklore-Trachtenpaar aus Kleinpolen für das rechtsradikale Festival der Normalität 2012 in Krakau. Quelle: Anonymus, MW-Homepage: http://www.mw.org.pl/2012/05/krakow-walka-z-homopropa​ gan​da (12. 11. 2014). Abb. 6: Plakat mit der Kleinen My und dem Slogan »Hetero? Nicht in unserem Tal« entworfen für das KPH-Antidiskriminierungsprojekt Handgepäck. Quelle: Kajetan Hajkowicz, Privatarchiv 2012. Abb. 7: Pater Rydzyk predigt mit erhobenem Zeigefinger auf einem fiktiven Posener Mural in der Konvention einer »auf den Kopf gestellten Welt«. Quelle: Kajetan Hajkowicz, Facebook-Profil des Projekts Handgepäck: http://www.facebook.com/ bagazpodreczny/photos_stream (17. 2. 2013).

Identitätspolitiken

»We are Bucharest. We make things different.« Ein Beitrag zur Selbstverständigung der Stadt Daniel Habit

Abstract: »We are Bucharest. We make things different«. About the logics of separation in the urban context This article deals with the Romanian capital of Bucharest struggling with its socialist past and both the built and mental consequences. Following the concept of »urban ethics«, due to which urban discourses can be analysed as moral configurations, the various stakeholders that (re-)produce the urban environment are presented. Taking the (re-)naming of streets after 1989 as a case study, this paper argues that the urban identity of the city deploys in a permanent negotiation between these stakeholders, relying on historic and actual imaginations of a »good« city, producing new forms of urban governance and institutional arrangements. For the case of Bucharest, these new forms of collaboration in, and appropriation of, the city lead to a new urban generation that take their »right to the city« seriously and develop their very own vision of an urban identity. »Eine komplexe Haßliebe verbindet mich mit der Stadt, in der ich mein ganzes Leben verbracht habe. […] Gelegentlich überkam mich ironisches Selbstmitleid bei dem Gedanken: Joyce hatte Dublin, Borges Buenos Aires, Durrell Alexandria, aber mir hat der ewige und gute Gott keine dieser mythischen Städte geschenkt […]. Wo sind die phantastischen Sonnenuntergänge von St. Petersburg, mit dem verträumten Studenten, der von einer Brücke auf die Wasser der Neva blickt?  […]. Durrell mochte sein Alexandria behalten, Cortázar sein Buenos Aires und Joyce sein Dublin. Ich hatte nur mein Bukarest« (Cărtărescu 2003: 16).

Mit diesen Worten beschreibt einer der populärsten Schriftsteller und bedeutendsten Vertreter des rumänischen Postmodernismus, Mircea Cărtărescu, seinen persönlichen Zugang zu der Stadt, der er in einem 14  Jahre dauernden Schreibprozess mit seiner Romantrilogie »Orbitor« (»Der Blender«) ein monumentales Denkmal setzt. Insbesondere der dritte Band, »Die Flügel«, eignet sich für die in diesem Beitrag zu verhandelnde Thematik der Selbstverständigung der Stadt, thematisiert er doch das

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Bukarest der 1980er Jahre.1 Die Allgegenwärtigkeit von Kälte und Hunger, Armut und Dreck, das Schlange-Stehen nach rationierten Lebensmitteln und Alltagsgegenständen, die Überwachung und Bespitzelung, Lüge, Diffamierung, Demütigung und Angst werden ebenso zum literarischen Spielball wie die standrechtliche Hinrichtung des Diktatorenehepaars, der Höhepunkt der sogenannten »Revolution« im Dezember 1989. Die von Cărtărescu eingangs angesprochene Hassliebe gipfelt schließlich in der finalen Zerstörung der Stadt, ihre Statuen erwachen zum Leben und ziehen zur Stätte des »Jüngsten Gerichts«, das der Autor in den monumentalen »Palast des Volkes« verlegt – das kontroverseste Gebäude Bukarests, für das Nicolae Ceauşescu Ende der 1970er Jahre ganze Stadtviertel abreißen und mehr als 40.000 Menschen umsiedeln ließ. Diese Hassliebe bleibt allerdings nicht auf den sicherlich speziellen Zugang des immer wieder für den Literaturnobelpreis gehandelten Schriftstellers beschränkt, sondern findet sich als wiederkehrendes Motiv in Gesprächen mit Bukarester Bürgerinnen und Bürgern, in Alltagserzählungen, Witzen, Karikaturen, Liedtexten und Videosequenzen – das Schimpfen und Beklagen über die Stadt verbunden mit ironischen Spitzen und sarkastischen Kommentaren begleitet immer wieder Situationen, die das Leben und alltägliche Situationen in der rumänischen Hauptstadt behandeln. Die Kritikpunkte drehen sich dabei um genuin urbane Themenfelder, die angespannte Verkehrslage, die steigenden Lebenshaltungskosten, der Mangel an Grünflächen, die fehlenden Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser, die Rücksichtslosigkeit im Alltag gepaart mit einer gefühlten Unsicherheit und Angst vor Kriminalität, die schlechte Bausubstanz vieler Häuser aus sozialistischen Zeiten, mangelnde öffentliche Investitionen in Sozialleistungen und die städtische Infrastruktur und vor allem in den öffentlichen Personennahverkehr, das allgegenwärtige Erdbebenrisiko, die visuelle, olfaktorische und akustische Verschmutzung des öffentlichen Raums, die in vielen Lebensbereichen zu erlebende Korruption, das Versagen von großen Teilen der politischen Klasse – die Bandbreite an als negativ Wahrgenommenem ist facettenreich. Vor dem Hintergrund der Debatte um Arbeitsmigration in der EU ist es nicht zuletzt diese durch Unzufriedenheit gekennzeichnete Stimmungslage, die zu verschiedentlich motivierten Abwanderungsbewegungen führt. Vor allem Teile der sogenannten urbanen Mittelschicht mit höheren Bildungsabschlüssen sind es, die entweder auf der Suche nach besser bezahlter Arbeit ins europäische Ausland auswandern oder aber dem Leben in der Stadt durch den Umzug in die zahlreichen neu-

1 | Dieser Beitrag basiert auf Feldforschungen im Rahmen der interdisziplinären DFG-Forschergruppe »Urbane Ethiken« an der LMU München (2015–2018). Die Forschergruppe untersucht in insgesamt zwölf Städten auf der ganzen Welt Vorstellungen und Aushandlungsprozesse des guten Lebens in der Stadt – beziehungsweise die damit verbundenen Subjektivierungen, Governancestrukturen und Regierungstechniken, die reziprok das städtische Leben prägen, konterkarieren und in alltagsweltlichen Kontexten immer wieder aushandeln. Für eine ausführliche Darstellung siehe Habit 2016; Moser/Ege 2018 und http:// urbane-ethiken.uni-muenchen.de.

»We are Bucharest. We make things different.« | 251

en Vorortsiedlungen entkommen wollen.2 Letzteres führte in den vergangenen zehn Jahren zum Entstehen zahlreicher Gated Communitites im Norden der Stadt – ein Bautyp, der sich an den Rändern vieler osteuropäischer Städte antreffen lässt und der das suburbane Siedlungswachstum stark beeinflusst.3 Die mit der Suburbanisierung verbundenen Prozesse der Stadtentwicklung, Raumaneignung und sozialen Segregation sind vor allem aus geographischer und politologischer Perspektive für verschiedene Agglomerationsräume Osteuropas ausgearbeitet und begleitet worden – zeigen sich doch gerade in der Wohnsuburbanisierung besonders deutlich die Folgen des Transformationsprozesses im urbanen Zusammenhang (McKenzie 1994; Smigiel/ Brade 2011; Hirt 2012; Marcińczak u. a. 2013). Die hier kursorisch angerissenen und im weiteren Verlauf genauer beleuchteten Themenfelder verweisen auf die Perspektivierungen des Sammelbandes. Wie viele andere osteuropäische Städte auch befindet sich Bukarest seit der Wende in einem stetigen Prozess der Neuerfindung und der Selbstverständigung. Doch gerade das bauliche Erbe der Ära Ceauşescu sucht im europäischen Vergleich seinesgleichen und stellt die rumänische Hauptstadt immer wieder vor existentielle Fragen. Die historische Bewertung, der praktische Umgang, und die diskursive Einordnung etwa des Parlamentspalasts verweisen auf die andauernde Identitätssuche einer Stadt, der ihr urbanes Selbstverständnis durch die ironisch als »goldene Epoche« bezeichnete Phase des Sozialismus abhanden gekommen scheint – ein Umstand, der immer wieder auf Tagungen, in Ausstellungen, Theaterprojekten und in verschiedenen künstlerischen und popkulturellen Interventionen aller Art sichtbar zu Tage tritt.4 Fremd- und Selbstbil-

2 | Auch wenn die sogenannte »Armutsmigration« aus Südosteuropa den medialen Diskurs gerade auch in Deutschland beherrscht, ist gleichzeitig ein Braindrain aus der Region zu konstatieren. Seit dem EU‑Beitritt Rumäniens 2007 haben sich über 4.500  Ärzte allein in Deutschland niedergelassen. Diese hochqualifizierten Arbeitskräfte fehlen wiederum auf dem heimischen Arbeitsmarkt und verschlechtern durch ihre Abwanderung die Versorgungslage im rumänischen Gesundheitssystem (Jobelius 2014). 3 | Im Falle Bukarests tragen diese Gated Communities klangvolle Namen wie Green Lake Residence, Palace Estate, Felicity Residence, Sunflower Grand Residence, Avantgarde Forest, Cosmopolis, Oxford Gardens, Green Vista Residence, Ibiza Sol oder Jasemine Gardens, die mit durch die auffallende Häufung von Naturbezügen nicht zuletzt Exklusivität, Internationalität und Fortschrittlichkeit suggerieren sollen. Letztlich verweist diese Form der Suburbanisierung aber vor allem auf ein geändertes Politikverständnis seit dem Systemumbruch – der Rückzug des Staates auch aus dem Bereich der Wohnraumplanung führte zu einem vor allem durch Deregulierung, Dezentralisierung und Privatisierung gekennzeichneten Wohnungsmarkt, »bei dem die Doktrin des Marktes zur bestimmenden Maxime des Handelns der öffentlichen Hand geworden ist« (Smigiel/Brade 2011: 29). 4 | Als ein Beispiel unter vielen kann die (letztlich erfolglose) Bewerbung Bukarests um den Titel der Kulturhauptstadt 2021 gesehen werden, die den skizzierten Moment der Selbstverständigung unter dem Titel »The invisible city« zum Aufhänger der gesamten Bewerbungskampagne machte: »Bucharest’s paradoxical nature is the source of both its strengths and its weakness. It is what is cyclically and abruptly interrupting its development and makes for the city’s fantastic potential« (ARCUB 2015: 7).

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der stoßen dabei immer wieder aufeinander, potenzieren oder behindern sich, zeigen sich in aller Deutlichkeit und Öffentlichkeit oder in kleinen Alltagssituationen.

U rbane E thiken – D iskurse um die » gute « Stadt Diese eingangs skizzierte Hassliebe und die verschiedentlich geäußerte Kritik an der Stadt sollen im Folgenden als Zugang zur urbanen Landschaft dienen, um vorherrschende Selbst- und Fremdbilder, Stereotypisierungen sowie die spezifische Logik von Abgrenzungen und damit verbundenen Ein- und Ausschlüssen in diesem spezifischen Kontext nachzuzeichnen. Sowohl das sozialistische Projekt als auch die bis heute andauernden Diskussionen um die historische Einordnung der nationalen Vergangenheit sowie die in der Transformationsphase einsetzenden Debatten um die neue Stadtgestalt können neben allen politischen, sozialen und ökonomischen Facetten auch als ethische Diskurse gelesen werden: Sie implizier(t)en jeweils neue Formen von Subjektivität, von Arbeit am Selbst, von ethischer Lebensführung, vom »guten« im Sinne vom »richtigen« Leben im urbanen Umfeld. Die Darstellung des Sozialismus als geschichts- und morallose Phase führte zu einem »rethinking of history«, in dem der »politische Systemwechsel als ein moralischer Akt dargestellt und interpretiert wird bzw. der Postsozialismus als die moralische Gegenseite des Sozialismus, als die ethische Reflektion auf den Sozialismus« inszeniert wird (Niedermüller 2004:  11). Sowohl Sozialismus als auch die daran anschließende, als postsozialistisch gekennzeichnete Phase rekurrieren in ihrer moralischen Legitimierung auf die Nation und verorten ihren jeweils spezifisch gesellschaftlichen Repräsentations- und Erziehungsauftrag nicht zuletzt in der (Um-)Gestaltung des städtischen Raums. Die Fokussierung auf urbane Ethiken als Legitimationsmuster urbaner Raumgestaltung ermöglicht einen Zugriff auf die damit verbundenen Versionen und Repräsentationsmuster von historischer Wahrheit. Der Fokus dieses Projekts liegt auf verschiedenen Spielarten dieser Selbstverständigungen. Diese produzieren im Sinne einer Anthropologie in der als auch der Stadt – immer auch eine räumliche Materialität beziehungsweise sind von dieser reziprok geprägt, wie Martina Löw in ihrem Ansatz eines relationalen Raummodells ausführt (Löw 2001). Theoretisch gerahmt werden die folgenden Ausführungen durch Überlegungen zu einem Konzept der »Urbanen Ethik(en)«, wie sie seit 2015 im Zusammenhang der gleichnamigen DFG-Forschergruppe an der LMU München angestellt und ausgearbeitet werden. Die Grundannahme lautet dabei, dass praktische Auseinandersetzungen um das gute und richtige Leben in der Stadt neben allen politischen, ökonomischen und sozialen Facetten immer auch eine ethische Komponente beinhalten, die im oftmals konfliktreichen Wechselspiel zwischen einerseits verbal-diskursiven Reflektionen und Debatten und andererseits in konkreten materiellen Setzungen zu Tage tritt. Manuel Castells (1983: 302) folgend lässt sich das Urbane als konflikthafter Aushandlungsprozess charakterisieren – Städte in ihrer kulturellen Textur beruhen nicht nur auf Deutungen und Zuschreibungen, sondern verweisen auf eine soziale

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Praxis im materiellen Sinne, die ökonomische, religiöse, politische, soziale und technologische Operationen umfasst – und in einem Verständnis von urbanen Ethiken folgend wurden und werden diese Prozesse auch ethisch ausgehandelt und legitimiert. Einem praxeologischen Kulturbegriff folgend, der sich seinem Feld im Sinne einer »Anthropology of the City« nähert und auf die lebensweltliche Komplexität dieser Textur abzielt, zeigen sich ethische Facetten und Äußerungsformen in ganz unterschiedlichen Bereichen des städtischen Lebens.5 Ethik beziehungsweise Ethiken werden dabei als spezifischer Modus der Problematisierung verstanden, der in seinem jeweiligen historischen, sozialen und kulturellen Bedingungsgefüge kontextualisiert werden muss. Die damit verbundenen stadtethischen Diskursfelder umfassen dabei alle Bereiche urbaner Alltags- und Politikpraxis, die sich im Sinne einer »anthropology of ethics« beziehungsweise einer »moral anthropology« (vgl. Zigon 2007: 147; Faubion 2011) als Antworten auf eine gemeinsame Frage begreifen lassen: »Wie soll man in der Stadt leben?«6 Aus einer an diskursanalytische Herangehensweisen angelehnten Aufschlüsselung dieser Kernfrage ergibt sich ein Bündel an spezifischen Zugängen und Konkretisierungen: Ausgehend von den Imaginationen des guten Lebens (»wie«), über den Grad der Normativität (»soll«) und die damit verbundenen konkreten wie abstrakten Subjektivierungsprozesse (»man«) in einem urbanen Setting (»in der Stadt«) wird so den lebensweltlichen Entwürfen in der alltäglichen Aushandlung (»leben«) nachgespürt. Ziel ist es dabei, stadtethische Debatten beziehungsweise den Anteil ethischer Argumentationsmuster und Logiken in urbanen Diskursfeldern zu identifizieren und nachzuzeichnen – allerdings diese weder hinsichtlich ihrer inneren Konsistenz oder ihren Auswirkungen auf die Stadt zu bewerten noch eigene ethische Maßstäbe zu entwickeln. Denn wie Didier Fassin (2012: 6) in seiner Einführung zu einer Critical Moral Anthropology anmerkt: »A moral anthropology has no moralizing project.« Und weiter: 5 | Im Rahmen des DFG-Projekts wurden sechs Phänomene urbanen Lebens identifiziert, die als Raumzeitkonfigurationen konzipiert zur Analyse der urbanethischen Auseinandersetzungen herangezogen werden. Die Auswahl dieser Orte erfolgt dabei hinsichtlich ihrer jeweiligen Funktion im städtischen Gefüge. Sie weisen unterschiedliche Entstehungszeiträume und -zusammenhänge auf, können hinsichtlich ihrer Nutzbarkeit und Zugänglichkeit als öffentliche Räume verstanden und entlang der Kategorien Wohnen, Versorgung und Konsum, Erinnerung, bauliches Erbe und Religiosität unterschieden werden. Als konkrete spezifische Orte in der Stadt stehen sie einerseits für sich selber, andererseits weisen sie auch über sich hinaus und stehen stellvertretend für das damit verbundene Diskursfeld urbanethischer Aushandlungsprozesse. 6 | Die Frage nach dem guten Leben stellt sich natürlich sowohl ganz allgemein und im speziellen auch in nichturbanen Räumen, oftmals nicht zuletzt als explizite Gegenpositionen zu städtischen Lebensformen. Aber wie Ash Amin (2006: 1012) argumentiert, »no discussion of the good life can ignore the particularities of the urban way of life, ranging from the trials of supply, congestion, pollution and commuting, to the swells of change, scale, inequality, distribution and sensory experience in urban life. The daily negotiation of the urban environment has become central in defining the privations, provisions, prejudices and preferences of a very large section of humanity«.

254 | Daniel Habit »Rather than defining what is morality and verifying whether people’s deeds and judgments correspond to the definition, they [social scientists] tend to apprehend morality in acts and discourses, to understand what men and women do which they consider to be moral or good or right or generous« (Fassin 2012: 6). 7

Aus einer kulturwissenschaftlichen-ethnologischen Perspektive zeigen sich urbane Ethiken in den Aushandlungsprozessen, in deren Kontext städtisches Leben geplant, gebaut, verwaltet, politisch gesteuert, alltagskulturell ausgestaltet und letztlich wiederum in öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskursen reflektiert und bewertet wird. Daraus ergibt sich der Fokus auf das konfliktreiche Zusammenspiel zwischen den an der städtischen Raumproduktion beteiligten Akteursgruppen und ihren jeweiligen Vorstellungen von »guter« und »richtiger« Lebensführung  – und auf den Grad der Erfahrbarkeit, Sichtbarkeit und Unmittelbarkeit der ethischen Setzungen, die mit diesen Vorstellungen verbunden sind. Legislative Setzungen hingegen, die auf eine Verbesserung der Lebensverhältnisse abzielen, lassen sich durch einen größeren Abstraktionsgrad definieren; erst durch die Übersetzungsarbeit verschiedener Institutionen und gouvernementaler Arrangements erreichen sie eine Unmittelbarkeit und werden, je nach vorherrschendem Verständnis von Bürgernähe, moderiert und in alltagspraktische Handlungsanweisungen transformiert. Dabei weist sowohl der ethisch zu decodierende Inhalt der Setzung als auch das verwaltungspolitische Gefüge ebenso auf die dahinterstehende Vorstellung von Regierungsführung in der Stadt wie der öffentliche Diskurs und mögliche zivilgesellschaftliche Gegenstrategien auf soziale Kreativität, urbanes Selbstverständnis und Responsabilität verweisen. Wie der Architekturhistoriker Alexandru Răuţă (2013: 107) kontastiert, kann die Geschichte der rumänischen Stadt als exemplarisch für das generelle Handeln des sozialistischen Regimes gesehen werden – als Differenz zwischen Diskurs und Praxis, als stillschweigende Fortführung von bestehenden Ideen aufgrund Ideenmangels, aber auch als Phase pompöser aber nicht überzeugender Projekte.

Was und wenn ja wie viele ist B ukarest? Für eine Analyse urbanethischer Diskurse bedarf es einer genaueren Aufschlüsselung der Akteurskonstellationen, die in unterschiedlicher Intensität an der Raumproduktion in der rumänischen Hauptstadt beteiligt sind und vor allem hinsichtlich ihres zu Verfügung stehenden Aktionsrepertoires, ihrer Deutungshoheit, Kapitalsorten und

7 | Für den oben kurz skizzierten Fall der zunehmenden Suburbanisierung Bukarests geht es also explizit nicht darum, diese Entwicklung moralisch zu bewerten oder ethisch einzuordnen  – sondern vielmehr darum, die Argumentationsmuster der verschiedenen Akteursgruppen gegenüber zu stellen und auf ihren ethischen Gehalt hin zu befragen – beispielsweise, was sie sich von dem Leben in diesen Siedlungen gegenüber dem Leben in der Stadt erwarten.

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Aufmerksamkeitsstrategien unterschieden werden können.8 Dabei handelt es sich zunächst um (1) das vorherrschende politische System und seinen Einfluss auf den Stadtraum. Hier zeigt sich deutlich, dass Bukarest vor allem durch seine Hauptstadtfunktion in einem zentralistischen Staatsgefüge in allen drei Perioden eine besondere Rolle und Bedeutung innerhalb der rumänischen Städtelandschaft inne hatte. Während des Sozialismus und vor allem in seiner Endphase konzentrierte sich der Großteil der rumänischen Wirtschaftsleistung auf die Umgestaltung Bukarests und den Bau des »Palast des Volkes«. In der Transformationsphase entstand durch das Fehlen eines Bebauungsplans, undurchsichtige Genehmigungspraxen, Privatisierungsmaßnahmen und ungeklärte Eigentumsverhältnisse eine unzusammenhängende und funktional nicht sinnvolle Stadtstruktur. Hinzu kommt, dass seit dem EU-Beitritt 2007 mit der Europäischen Union eine weitere Größe im städtischen Gefüge agiert, die neue Finanzierungsmöglichkeiten, Regierungstechniken, Regularien und Abhängigkeiten produziert und in den städtischen Raum einschreibt.9 Neben diesem auf der systemischen Makroebene zu verortenden Akteur agierte das (2) politische System auf der städtischen Mesoebene im Sozialismus getreu der Parteidoktrin; in der Transformationsphase und bis heute anhaltend zeigen sich enge Verbindungen und Überschneidungen in die (3) Wirtschaft, die im urbanen Raum zu illegalen und fragwürdigen Hochhausprojekten (Bancorex-Gebäude, Armenească Millennium Tower, Cathedral Plaza), zu politischen Prestigeprojekten (Berzei-Uranus-Boulevard) und einer »Mallisierung« (Prisching 2009: 106) der Stadtlandschaft führen, die wiederum mit der Zerstörung historischer Bausubstanz und sozialen Verdrängungs- und Diskriminierungsprozessen einhergehen.10 Die politische Kultur und das damit verbundene Selbstverständnis der politischen Eliten auf städtischer wie auf staatlicher Ebene bietet nicht zuletzt immer wieder Anlass zur Kritik von Seiten der Zivilgesellschaft und Teilen der unabhängigen Medien, deren nicht gesellschaftliche sondern vielmehr eigene und/oder ökonomische Interessen als zentrales 8 | Dieses im Bereich der (historischen) Stadtanthropologie angesiedelte Projekt fußt methodologisch auf einem breiten, kulturanalytischem Zugang; neben Experteninterviews, teilnehmender Beobachtung, (informellen) Akteursgesprächen, Archiv- und Medienrecherche, Foto- und Filmanalyse wird für neuere Entwicklungen das weite Feld sozialer Medien miteinbezogen, da sich hier digitale Aneignungsprozesse urbaner Räume ausmachen lassen. 9 | Ion konstatiert in diesem Zusammenhang, dass viele der mit EU-Mitteln geförderten Projekte vor allem auf schnellen Geldfluss ausgerichtet waren, nur bedingt beziehungsweise auf dem Papier die EU-Kriterien erfüllten und nicht auf die konkreten lokalen Bedürfnisse ausgerichtet waren, »far from delivering on the promised agenda of infrastructure modernization and boosting economic growth and job creation, these projects resulted in increased disparities, made worse by the redirection of funding that could be used for more pressing needs« (Ion 2014: 17). 10 | Insbesondere die Gruppe der Roma sah sich, nicht zuletzt bedingt durch die Wirtschaftskrise 2012, massiven Verdrängungsprozessen, Abrissaktionen, Zwangsumsiedlungsmaßnahmen und einem latenten Alltagsrassismus ausgesetzt. Gerade »leerstehende« Gebäude aus der Zwischenkriegszeit, die oftmals von Roma bewohnt wurden, erfuhren in den letzten Jahren Umnutzungs- und Aufwertungsmaßnahmen.

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Handlungsmotiv ausgemacht werden – die politische Praxis gewinnt patrimonialen Charakter. Subversion, Ausweich- und Verschleierungsmanöver, gezielter Einsatz von Fake News-Strategien und die Diskreditierung von Diskursteilnehmenden bilden nicht mehr die Ausnahme des politischen Tagesgeschäfts, sondern werden als »regelmäßige Unregelmäßigkeiten« (Bourdieu 1997: 62) zu routinierten Handlungen, die durch ihre quantitative Häufung und qualitative Steigerung die Parameter des Sagbaren immer weiter verschieben. Diese enge Verbindung zwischen Politik, Wirtschaft und (4) Verwaltung und die erheblichen Defizite in der politischen Kultur machen Rumänien besonders anfällig für Korruption, Veruntreuung, Patronage-Systeme und Amtsmissbrauch, die erst in den letzten Jahren durch die Arbeit der Anti-Korruptionsbehörde DNA strafrechtlich verfolgt werden.11 Der ethische Gehalt zeigt sich hierbei vor allem in Form von individueller Selbstbereicherung und Profitmaximierung. Nach Jahrzehnten des verordneten Denkens in Kollektiven ergeben sich durch das Fehlen staatlicher und moralischer Kontrollinstanzen und den Übergang in eine neoliberale, radikal-freie Marktwirtschaft ökonomische Spielräume und rechtliche Grauzonen, die von Geschäftsleuten, Investoren und der neuen ökonomischen Elite zu ihren Gunsten ausgenutzt werden konnten. Das gesellschaftspolitische Anliegen des Sozialismus dient in diesem Zusammenhang als ultimative Negativfolie, um soziale Forderungen im Keim zu ersticken. Einschränkungen der neuen Wirtschaftsform werden in den postsozialistischen Transformationsjahren Slavoj Žižek (2001: 4) zufolge als »ethically dangerous and unacceptable« denunziert, »resuscitating the ghost of totalitarianism«. Gerade auch der öffentlichen Verwaltungsstruktur fehlten einerseits in den Transformationsjahren die entsprechenden Instrumentarien und das Knowhow, um aktiv in städtebauliche Projekte eingreifen zu können, andererseits fungierte sie ihrerseits nicht zuletzt als Erfüllungsgehilfe verschiedener Großprojekte.12 Neben dem politischen System, den Parteien, der Wirtschaft und der Verwaltung können drei andere prägende Akteure in der städtischen Diskurslandschaft identifiziert werden. Zunächst die (5)  Stadtbevölkerung(en), die auf der alltagsweltlichen Mikroebene agieren und den Setzungen der genannten Akteure eigene Vorstellungen des guten Lebens entgegenbringen. Für die in der Endphase des Sozialismus vorherrschende »Kultur des öffentlichen Misstrauens« (Giordano 2007: 27) lässt sich ein sehr eingeschränkter Aktionsradius für eine freie Teilhabe am städtischen Leben und damit verbunden ein Rückzug in den privaten Raum konstatieren, nicht zuletzt durch die Immobilisierung der Subjekte durch Warten und notwendige Versorgungsgän11 | In den letzten zwei Jahren wurden fast täglich Politiker, Bürgermeister und Privatleute wegen den genannten Delikten verhaftet. Die derzeitige Bukarester Bürgermeisterin Gabriela Fiera erklärte dementsprechend, dass unter Bürgermeistern die derzeit gebräuchliche Begrüßung lautet: »Wir freuen uns, dass wir gesund und frei sind« (Agerpres 2017). 12 | Im Interview beklagte ein Sektoren-Bürgermeister sehr offen die Schwäche seiner eigenen Verwaltung, durch die niedrigen Löhne in der öffentlichen Verwaltung seien sie nicht in der Lage, mit privatwirtschaftlichen Unternehmen um gut qualifizierte und engagierte Angestellte zu konkurrieren.

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ge – ein Zustand, den die Kulturanthropologin Katherine Verdery 1996 als »etatization of time« treffend beschrieben hat.13 Durch die Abkehr vom Kollektivgedanken und die in der Transformationsphase einsetzende Individualisierung der rumänischen Gesellschaft kommt es zu tiefgreifenden Veränderungen innerhalb des Stadtbevölkerung, die sich durch den Versuch der Teilhabe an den Versprechungen des einsetzenden Kapitalismus verbunden mit einer steigenden Privatverschuldungsrate kennzeichnen lassen.14 Während der Sozialismus auf eine Nivellierung der Einkommensunterschiede und Lebensverhältnisse abzielte, lassen sich seit den 2000er Jahren Zeichen einer weiter wachsenden Kluft innerhalb der Bevölkerung konstatieren, die sich nicht zuletzt durch eine sozialräumliche Segregation auszeichnet (Chelcea 2006; Diaconu 2011; Soaita 2014; Chelcea 2015). Parallel zu diesen Entwicklungen kommt es seit Mitte der 2000er Jahre zu einem Erstarken (6) zivilgesellschaftlicher Bewegungen, die sich dezidiert mit dem städtischen Raum in unterschiedlicher Schwerpunktsetzung (sozialer Wohnungsbau, Armutsreduktion, Nachbarschaftsentwicklung, Quartierserneuerung, Erhalt historischer Bausubstanz, Ökologie) auseinandersetzen und in den politischen Diskurs einbringen.15 Die Stadt wird dabei nicht mehr nur als gegeben hingenommen, sondern verstärkt als Terrain zur Austragung ökonomischer und ideologischer Konflikte gesehen, auf dem sich mehr und mehr Vertreter einer jungen (20 bis 40 Jahre) urbanen Generation für eine andere Art der Politikgestaltung engagieren, sich eigenverantwortlich einbringen und mit der Gründung der Partei »Uniunea Salvați România« (»Union zur Rettung Bukarests«) 2015 ihre politische Etablierung erreichten.16 Höhepunkt des zivilgesellschaftlichen Engagements waren die Proteste von 300.000 Menschen gegen eine geplante Änderung der Strafprozessordnung und gegen eine Gesetzesinitiative zur Begnadigung von Hunderten wegen Amtsmissbrauchs angeklagten Amtsträgern im Februar 2017, die neben den politi13 | Unter »Etatization of Time« versteht Verdery die Immobilisierung der Körper durch Warten und notwendige Versorgungsgänge, »the effect was an astounding immobilization of bodies that stopped the time contained in them, rendered them impotent, and subtracted them from other activities by filling up all their time with a few basic activities such as essential provisioning and elementary movements to and from work« (Verdery 1996: 46). 14 | Dementsprechend traf die Wirtschaftskrise von 2009 vor allem die Unter- und Mittelschichten, die sich angesichts niedriger Zinsraten und anfangs steigender Löhne stark verschuldeten. Im Krisenjahr mussten mehr als 55 Prozent der rumänischen Haushalte mehr als 20 Prozent ihres Nettoeinkommens zur Schuldentilgung aufbringen (Gabanyi 2014). Gleichzeitig kam es zu Steuererhöhungen, Einkommenskürzungen im Öffentlichen Dienst, Rentenkürzungen und zum Abbau von Sozialleistungen. 15 | In geringerem Maße lassen sich auch für die sozialistische Phase zivilgesellschaftliche Bewegungen wie etwa die Gewerkschaft SLOMR (»Sindicatul Liber al Oamenilor Muncii din România« – »Freie Gewerkschaft der Werktätigen von Rumänien«) oder die Anhänger des regimekritischen Autors Paul Goma identifizieren (vgl. Gal/Kligman 2000). 16 | Zunächst als Partei auf kommunaler Ebene geplant, trat die USB als USR (»Uniunea Salvați Bucureștiul« – »Union zur Rettung Rumäniens«) zu den Parlamentswahlen im Dezember 2016 an und erreichte neun Prozent der Stimmen.

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schen Forderungen vor allem auch als ethische Proteste im Sinne eines Eintretens für ein besseres Leben interpretiert werden können (vgl. Ghyka 2015). Ihrem Selbstverständnis nach füllen die NGOs mit ihrer Arbeit die Lücke, die das politische System und die Verwaltung hinterlassen, sei es aus politischem Kalkül, aus Unorganisiertheit, oder (und das wird besonders in Gesprächen mit Vertretern von NGOs deutlich), weil die Stadtpolitik in ihren Augen falsche Schwerpunkte setzt und sie ein anderes Bild der Stadt im Kopf haben – im Sinne einer besseren Stadt. Darüber hinaus lassen sich im Sinne einer wissenssoziologischen Diskursanalyse eine Reihe weiterer Sprecherpositionen identifizieren, die an der Wissensproduktion und -distribution über Aushandlungen des Urbanen beteiligt sind. Einerseits Experten, die zu der jeweiligen Zeit an der Imagination und Gestaltung der Stadtlandschaft beteiligt waren; hierzu gehören vor allem Architekten, Urbanisten und Städteplaner aus dem Umfeld der Ion Mincu Universität für Architektur und Urbanität, die vor allem nach 1989 und verstärkt seit den 2000er Jahren auf einer diskursiven Ebene die Entwicklung des Stadtraums kritisch begleiten. Zum anderen künstlerische Aktivisten und Aktivistinnen, die durch verschiedentliche Interventionen etablierte Wahrnehmungsmuster des Urbanen durchbrechen und diesem neue, kreative Interpretationen des gebauten Raums als auch des diskursiven Aushandelns desselbigen entgegensetzen.17 Eine weitere wichtige Rolle spielt in Rumänien die sehr heterogene Medien- und vor allem Fernsehlandschaft, die auch als meinungsbildender Akteur Inhalte produziert und durch entsprechende Formate Plattformen für den Meinungsaustausch bietet – ein Umstand, der durch den Begriff »telerevoluţia« seit der »Revolution« 1990 traditionell eine gewichtige Rolle in der Aushandlung politischer Themen in Rumänien spielt (Jäckel 2001; Hogea 2010).18 Neben die traditionelle Medienlandschaft treten in den letzten Jahren verstärkt Soziale Medien in unterschiedlicher Ausprägung (wie beispielsweise die Facebookgruppe »Coruptia Ucide« (»Korruption tötet«) mit mehr als 108.000 Abonnenten), deren Mobilisierungspotential sich insbesondere bei den Protestbewegungen der Jahre 2016/17 zeigte (Rammelt 2017).

17 | Die Liste an künstlerischen Interventionen ist umfangreich und gerade seit den 2010er Jahren exponentiell steigend – als besonders gelungenes Beispiel, das sich mit der gebauten Realität der Hauptstadt auseinandersetzt, sei hier auf das Projekt 1990 von Ioana Ciocan verwiesen, die, auf die Idee des Anti-Monuments zurückgreifend, den symbolträchtigen Platz vor der Casa Presei Libere (»Haus der freien Presse«) und ehemaligen Standort der Bukarester Lenin-Statue mit Lenininterpretationen umgestaltete (Preda 2016). 18 | Der Ausdruck »telerevoluţia« zielt auf die nach wie vor diskutierten Umstände und Hintergründe der Ereignisse vom Dezember 1989 und die Rolle der Medien. Die anhaltende Aktualität zeigt sich in der Verhaftung und Anklageerhebung gegen Teodor Brateş im April 2018, den damaligen Chefredakteur des Staatsfernsehens, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Romania Insider 2018).

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Systembrüche und der öffentliche R aum Die verschiedenen politischen Macht- und Systemwechsel im Rumänien des 20. Jahrhunderts bedeuteten auch immer eine Neuinterpretation der nationalen Geschichtsschreibung mit unterschiedlicher politischer Schwerpunktsetzung. Allen Umbrüchen gemein ist die Einschreibung in den öffentlichen Raum durch eine systemspezifische Architektursprache, die Errichtung von Monumentalbauten und Denkmälern als sichtbare Repräsentation der Macht und die Zerstörung von nicht in die Parameter der neuen historischen Selbstlegitimierung passender Bausubstanz. Während sich diese Mechanismen für alle ehemaligen sozialistischen Hauptstädte nachzeichnen lassen, sind im Falle des sozialistischen Rumäniens vor allem das sogenannte »sistematizarea satelor« (Programm zur Systematisierung der Dörfer 1972/74) und die sozialistische Neuorganisation der Kreishauptstädte als spezifische urbane Modernisierungsprogramme auf nationaler Ebene hervorzuheben; beide stehen in engem Zusammenhang mit der Vorstellung des »guten« sozialistischen Lebens, das sich von nun an in den Städten ausbilden sollte.19 Von zentraler Bedeutung für beide Politiken war das städtische Zentrum, das zum einen durch die Zerstörung historischer (meist bürgerlicher) Wohn- und Verwaltungsgebäude, Umsiedlungsmaßnahmen und die Errichtung einheitlicher Memorialarchitektur mit dem Ziel einer Homogenisierung der Bevölkerung entlang der Parteidoktrin umgebaut wurde. Zum anderen wurden durch die Errichtung neuer Gebäude auf Loyalitätsbekundungen abzielende Machtund Parteisymbole in den öffentlichen Raum implantiert und letztlich durch die verordnete Nutzung dieser Räume das Alltagshandeln im Sinne des oben genannten Konzeptes Verderys der »Etatization of Time« maßgeblich bestimmt – »by offering contexts and pretexts for an ethics of individual and mass-mobilization necessary to the regime for occupying, directing and unifying both working and spare time of ordinary citizens« (Răuţă 2013: 105). Diese deutlichen Eingriffe in den urbanen Raum finden sich in vielen rumänischen Innenstädten. Insbesondere den südlich der Karpaten gelegenen Städten wurde durch den osmanischen Einfluss und die vor allem auf Landwirtschaft ausgerichteten ökonomischen Strukturen bereits nach 1918 in der Zwischenkriegszeit eine infrastrukturelle Rückständigkeit attestiert (Ene 2014). Sowohl in funktionaler wie auch in stadtgestalterischer Hinsicht entsprach Bukarest zu Beginn der sozialistischen Herrschaft keineswegs den Vorstellungen einer »sozialistischen Stadt«.20 Mit der endgültigen Machtübernahme Ceauşescus 1967 ge19 | Im Todesurteil gegen Elena und Nicolae Ceauşescu vom 25. Dezember 1989 wird explizit auf die Systematisierung Bezug genommen: »Eingenommen von der Idee, pharaonische Gebäude zu bauen, haben die beiden Megalomanen mit der Begründung der Systematisierung der Ortschaften und der Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung wahrhaftige Programme der Zerstörung der Städte und Dörfer des Landes ausgearbeitet und durchgeführt« (zit. nach Trappe 2008: 196). 20 | »Sozialistische Stadt« soll dabei nicht als zu operationalisierender Fachterminus gelten, sondern vielmehr im Sinne eines »Projekts sozialistische Stadt« und einer »Stadt im Sozialismus« verstanden werden (vgl. dazu Häußermann 1996). Ähnlich wie »postsozialistische Stadt« zeigt sich die Verwendung des

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rieten die Städte, der urbane Raum und die generelle territoriale Organisation Rumäniens zunehmend in den Fokus der politischen Aufmerksamkeit; das neue Gesellschaftsmodell, der Staat und die Partei sollten sich auch in der räumlichen Ordnung wiederfinden (vgl. Popescu 2006). Breite Straßenzüge (Magistralen), einheitliche Wohnblocks, ein hierarchisiertes Dienstleistungsnetz und die sogenannte »Restrukturierung« von bebauten Flächen entsprachen dabei den Vorstellungen einer sozialistisch ausgerichteten Gesellschaft, während die weiterhin vor allem im Norden Bukarests bestehenden Villenviertel mit Individual- und Privathäusern im Widerspruch zur kollektiven Natur der neuen Gesellschaftsform standen.21 Neben diesen direkten baulichen Eingriffen in die Stadtstruktur schreibt sich das neue System im wahrsten Sinne des Wortes auch auf andere Weise in den urbanen Raum ein und produziert auf einer alltagspraxeologischen Ebene eine Sicht- und Erfahrbarkeit, um das neue Verständnis von »Gut und Böse«, von erinnerungswerter Geschichte an die Bürgerinnen und Bürger der Stadt weiterzugeben. Durch die Änderung von Straßennamen werden durch die Bezugnahme auf historische Personen, Ereignisse oder Räume neue, meist nationale und sozialistische Narrative in die urbane Topographie implementiert, die gleichzeitig als historische Legitimierung der neuen Machtverhältnisse fungieren. Diese Rekonfiguration von Raum und Zeit wird an den beiden großen Zäsuren im 20. Jahrhundert sichtbar: die sozialistische Machtübernahme in den 1940er und 1950er Jahren und die mit der Revolution von 1989 einsetzende Transformationsphase. Im Gegensatz zu den stadtplanerischen Eingriffen und dem symbolischen Entfernen von Denkmälern und Statuen der jeweils überwundenen Periode sind diese Umbenennungen im Erlebnisraum Stadt als ein Akt politischer Propaganda mit hoher Außenwirkung zu interpretieren, »through renamings, the new regime proclaims the beginning of a new era while demonstrating both its resoluteness and its self-confidence, renaming streets is both a celebration of triumph and a mechanism for settling scores with the vanquished regime« (Azaryahu 1996: 318). Verstanden als Top-Down-Strategie einer nicht zuletzt urbanethisch zu lesenden Markierung des Raums zeigen sich in den beiden Umbenennungsphasen das herrschende historische Selbstverständnis, das durch die Sichtbarmachung in der städtischen Landschaft die neue Gesellschaftsordnung postuliert und legitimiert.22

Begriffs der »sozialistischen Stadt« in den letzten Jahren eher als eine heuristische Kategorie denn als kategorisches Konzept, sind diese Städte doch immer auch gleichzeitig als postmodern, postimperial, postkolonial, postindustriell, multikulturell und kosmopolitisch zu kennzeichnen. 21 | Allerdings blieben diese Viertel von den Umbaumaßnahmen weitestgehend verschont, da sie eine bessere Bauqualität aufwiesen, ein hohes Maß an Lebensqualität boten und dementsprechend vor allem von der Nomenklatura bewohnt waren (und sind). 22 | Auch in der volkskundlichen Fachgeschichte findet sich im Anschluss an die Straßenumbenennungen in der DDR nach dem Fall der Mauer eine Beschäftigung mit dem Thema, Gottfried Korff (1992: 322) sieht in ihnen eine »durch Verwaltungsbeschluss verordnete, in jedem Fall aber entschiedene Widerrede zu einem politisch etablierten Symbolschema, welches über Jahrzehnte hinweg daran beteiligt war, die

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Diese Umbenennungen stellten sowohl für die sozialistische als auch die postsozialistische Bukarester Stadtverwaltung ein administratives Werkzeug zur Verfügung, um das Ende beziehungsweise den Anfang der neuen politischen Ordnung mit ihrem jeweils spezifischen Verständnis von symbolischem Raum und historischer Selbstverortung sichtbar zu machen  – einerseits nach innen für die lokale Bevölkerung, andererseits nach außen für Touristinnen und Touristen. Markantestes Beispiel in Bukarest hierfür ist sicherlich der Revolutionsplatz (Piaţa Revoluţiei), der nach der Abwendung Ceauşescus von seinem geistigen Ziehvater von Piaţa Gheorghe Gheorghiu Dej nach dem 1960 fertiggestellten »Palastsaal« in Piaţa Palatului umbenannt worden war. Nach 1989 markiert er prominent gerade auch für ausländische Besucher den Systemwechsel, manifestiert sich doch an diesem Platz sowohl die offizielle und umstrittene Erinnerungsstätte an die sogenannte »Revolution« als auch künstlerische Interventionen, die auf ein »countermemory« beziehungsweise eine alternative Erinnerungskultur sowohl in ästhetischer als auch inhaltlicher Hinsicht hinweisen.23 Ähnlich demonstrativ wie die Einschreibung der sozialistischen Ausrichtung in den städtischen Raum in den 1940er und 1950er Jahren abgelaufen war, verlief auch die Abkehr von dieser Periode. In der ersten Umbenennungsphase lässt sich eine Abkehr von politischen Persönlichkeiten der Monarchie und der Zwischenkriegszeit sowie eine klare Ausrichtung auf das sowjetische System festhalten – die allerdings durch die Abwendung von Moskau Mitte der 1960er Jahre abermals rückgängig gemacht wurde  – die Stalin- und Leninalleen verschwanden wieder. Diente diese (Über‑)Ideologisierung des städtischen Raums zunächst als sichtbares Zeichen der neuen Gesellschaftsordnung und der neuen Phase der rumänischen Geschichtsschreibung, wurde sie zum Ende des sozialistischen Systems in den 1980er Jahren zu einem ebenso sichtbaren Zeichen des Versagens desselbigen, »in this context, the street names of Bucharest which celebrated socialist achievements were regarded by an alienated and disenfranchised urban population as further symbols of an oppressive and detested regime« (Light 2004: 159). Für Bukarest lassen sich insbesondere im Innenstadtbereich eine Vielzahl von Umbenennungen aufzeigen, aber auch in periphereren Wohnvierteln wie Drumul Taberei zeigen sich diese offensichtlichen »Zeichenelemente eines bewußtseinsformierenden stadtgeographischen Notationssystems« (Korff 1992: 327).24 Vier zentrale ideologischen Leitwerte eines politischen Systems in das Bewusstsein der Bevölkerung zu implantieren und dieses im Sinne autoritärer Ordnungsvorstellungen zu formieren«. 23 | Die verschiedentlich geäußerte Kritik an dem Denkmal richtete sich gegen dessen Erscheinungsform, eine 25  Meter hohe Marmorstehle mit einer metallenen Krone, das den Kritikern zufolge dem Ausmaß und dem Leiden der Ereignisse vom Dezember 1989 mit über 1.500 Toten nicht gerecht werde. Diese Kritik manifestierte sich wiederum 2012 in einer Farbbeutelattacke auf das Denkmal, so dass seitdem die Krone, von einem roten Fleck geziert, zu bluten scheint. 24 | Drumul Taberei bildet ein zentrales Forschungsfeld dieses Projekts, steht es doch mit seinem Wohnraumangebot von 350.000 beispielhaft für die angestrebte 100 Prozent Unterbringung der Stadtgesellschaft in Plattenbausiedlungen. An der unterschiedlichen Bewertung dieser klassischen sozialistischen

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Achsen in diesem Stadtviertel trugen bis in die 1950er Jahre einfache Ortsbezeichnungen, die Straßen waren nach den Umlandsiedlungen Bucşeneşti, Bistra, Bolintin und Bintinisti benannt. Im Zuge der symbolischen Ausrichtung auf das neue Herrschaftssystem wurden sie nach den Parteifunktionären Alexandru Moghioroş und Miron Constantinescu, nach der Volksarmee und im Sinne der sozialistischen Internationalen nach Ho-Chi-Min benannt. Nach 1989 wurden die ersten drei nach den transsilvanischen Städten Braşov, Timişoara und Sibiu benannt, in denen die Revolution von 1989 ihren Anfang genommen hatte, letztere wurde zu Ehren eines der ersten Todesopfer vom Dezember 1989, der 21‑jährigen Studentin Mihaela Marcu Ruxandra umgewidmet. Der nach anfänglichem Zögern im Frühjahr 1990 von der Nationalen Rettungsfront (Frontului Salvării Naţionale FSN) unter Ion Iliescu initiierte und durch die (von den Kommunalverwaltungen eingesetzte) Kommissionen umgesetzte Prozess der Umbenennung zeigt einerseits einige (wenn auch zaghafte) Ansätze zur Einbeziehung der Bevölkerung durch Aufrufe in der Zeitung Adevărul in einen politischen Prozess  – eine Sichtbarmachung eines anderen Politikstils, wenn auch lediglich in einem eher symbolischen Bereich, in dem letztendlich die Deutungshoheit trotz neuer Formen der Bürgerbeteiligung in den Händen der FSN blieb. In der Hauptphase dieses stadtpolitischen Projekts zwischen 1990 und 1997 wurden letztendlich 288 (von 4.369) Straßen umbenannt, die Mehrheit von ihnen, um die Spuren des Sozialismus zu tilgen, einige aber auch, um das durch die Umbaumaßnahmen Ceauşescus entstandene, auch Straßennamen betreffende Chaos im öffentlichen Raum zu beseitigen (Cavalcanti 1997).25 Die neuen Namen demonstrierten dabei die postsozialistische Ausrichtung durch drei unterschiedliche Strategien: durch die direkte Bezugnahme auf die Revolution von 1989, durch die Wiedereinführung der in der Zwischenkriegszeit gebräuchlichen Namen und durch eine neue Verortung in der vorsozialistischen Geschichte. Das oben erwähnte Beispiel der Studentin Mihaela Marcu Ruxandra zeigt dabei die Bestrebungen der neuen Regierung, die aufkommenden Debatten über die Revolution beziehungsweise die Deutung als Staatsstreich auch im öffentlichen Raum zu beantworten, sich selbst als demokratischen Vertreter des neuen Rumäniens zu deklarieren und zu legitimieren und die Revolution als kollektives Momentum ins Gedächtnis der Stadtlandschaft einzuschreiben.26 Wohnviertel lassen sich wiederum die verschiedentlich an den städtischen Raum angelegten ethischen Markierungen ablesen. 25 | Mit dieser Quote liegt Bukarest weit vor Städten wie Berlin (80) oder Moskau (153), die, um ein Vielfaches größer, dennoch geringere Umbenennungszahlen aufweisen (vgl. Azaryahu 1997; Argenbright 1999). 26 | An dieser Stelle sei nur kurz auf die anhaltende Debatte über die historische Einordnung der Ereignisse vom Dezember 1989 verwiesen, die auch fast 30 Jahre nach der Revolution sowohl im wissenschaftlichen als auch im politischen und populären Diskurs weiter anhält – und, so ist zumindest in Gesprächen immer wieder zu hören, auch niemals die »Wahrheit« ans Licht bringen wird (vgl. Siani-Davies 1996; Hogea 2010; Verdery 2015).

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Diese politische Praxis der posthumen Heldenerschaffung findet sich auch auf dem »Friedhof der Opfer der Revolution vom 23. Dezember 1989«, auf dem ausgewählte Leichname (oftmals ohne Abstimmung mit den Angehörigen) zur Instrumentalisierung und Stilisierung als Revolutionshelden inszeniert wurden und so ein »politisches Nachleben« erfahren (Verdery 1999).27 Daneben treten andere Strategien, die die Abkehr vom Sozialismus deutlich machen: Die Resakralisierung des Raums durch Bezugnahmen zu Heiligen, Bischöfen oder Kirchen und damit die deutliche Wiederaufnahme der Beziehung zur rumänisch-orthodoxen Kirche, die Verbindung zu liberalen und konservativen Politikern des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (z. B. der zentrale Boulevard Bratianu), die etwas verzögert 1995 einsetzende Royalisierung der städtischen Landschaft (König Carol I. und König Ferdinand) und vor allem der Rekurs auf die Zwischenkriegszeit, die im nationalen beziehungsweise insbesondere im städtischen Bewusstsein als »goldenes Zeitalter« eine zentrale Rolle einnimmt. Der Mythos dieser »Perioada interbelică« fußt einerseits auf dem aufblühenden kulturellen und intellektuellen Leben in dieser Phase (Boia 2014), andererseits auf der territorialen Ausdehnung des großrumänischen Königreichs. Dementsprechend wurden neue Namen von Städten und Gebieten etabliert, die nach den Pariser Friedensverträgen von 1947 der Sowjetunion zugesprochen worden waren. Unter den knapp 100 Straßen, die nach Persönlichkeiten aus dieser Zeit benannt wurden, finden sich neben Komponisten, Schriftstellern, Architekten, Schauspielern, Wissenschaftlern und Philosophen allerdings auch eine Reihe von Namen, die den Vertretern des zunehmenden Nationalismus, Faschismus und Antisemitismus rumänischer Prägung zugerechnet werden müssen und enge Verbindungen zur »Eisernen Garde« aufweisen; aktuell sind diese Strömungen durch Parteien wie die Partidul România Mare (Großrumänien-Partei) im politischen Geschehen vertreten und auch durch eine Vielzahl an Graffiti im Stadtbild deutlich sichtbar (Schmitt 2016).

S elbstverständigungen – E ine Stadt auf der S uche nach sich selbst Im Sinne der »guten« Stadt, verstanden hier als Neucodierung der städtischen Landschaft im Prozess der Nationalstaatsbildung im und durch den öffentlichen Raum nach 1989, zeigt sich das neue politische Selbstverständnis in den Versatzstücken, die als brauchbar klassifiziert, aus ihrem Kontext herausgelöst und in das urbane Ge27 | So etwa der Fall von Marius (44 Jahre), einem Interviewpartner, dessen Vater während der Revolution im Kugelhagel starb, die damalige Obduktion ergab 22 Einschüsse aus nächster Nähe. Zunächst auf einem öffentlichen Friedhof beerdigt, wurde der Leichnam 2004 unangekündigt in einer Nacht-und-Nebel-Aktion exhumiert und zusammen mit 140 anderen Leichnamen auf einem neu eingerichteten »Heldenfriedhof« bestattet. Die Hintergründe des an eine Hinrichtung erinnernden Todesfalls wurden nie geklärt, auch wenn die verwendete Munition darauf hinweist, dass vom sozialistischen Regime eingesetzte Milizen für die Bluttat verantwortlich sein müssen.

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füge neu eingeflochten werden können. Dem gegenüber stehen aber auch die historischen Bezugsgrößen, die in diesem Zusammenhang nicht aufgerufen und in den urbanen Gedächtnisspeicher der Hauptstadt übernommen werden, »in the context of the chauvinism and emphasis on national values which dominated the early 1990s, street renamings in Bucharest have attempted to inscribe a distinctly Romanian and Orthodox narrative of history and identity onto the landscape of the capital« (Light 2004: 166).28 Darüber hinaus illustriert dieses Beispiel das neue Verständnis von städtischer Governance nach 1989 durch die zumindest in Ansätzen erkennbare Aufrufung und Einbeziehung des städtischen Bürgers und durch eine stärkere Einbindung selbstverantwortlicher Kommunal- und Stadtteilverwaltungen – eine Neuformierung des Politikstils, die sich auch in anderen Lebensbereichen der rumänischen Hauptstadt widerspiegelt; wie für viele andere Städte lassen sich neue Formen des Regierens gerade auch auf lokaler Ebene verorten.29 Gemeinsam ist diesen Strategien eine stärkere Bürgerbeteiligung beziehungsweise die Anrufung der Stadtbürger als aktive Politik(mit)gestaltende. Inwiefern diese Strategien einen nachhaltigen Einfluss auf die Politikgestaltung haben oder vor allem als kosmetische Augenwischerei zu begreifen sind, wird sich erst noch herausstellen müssen. Doch Beispiele, wie die oben erwähnte Partei USB, das Erstarken von NGOs und der Zivilgesellschaft im Rahmen der Protestbewegungen der letzten Jahre sind ein Indiz für die erwähnte »neue urbane Generation«, die ihr Lefèbvre’sches »Recht auf die Stadt« wahrnimmt und beispielsweise im Bereich der Erinnerungskultur der offiziellen Geschichtsschreibung ein »countermemory« beziehungsweise eine »unofficial truth« entgegensetzt, »the most significant Romanian unoffifcial truth projects include the unauthorized release of secret information a citizens’ opinion tribunal, and numerous art, theater, movie, and literature projects focused on the communist past« (Stan 2012: 208). Während in vielen anderen Städten (gerade auch im Kontext des erwähnten DFG-Projekts) Begriffe wie Community, Commons, Collaboration oder Responsibilisierung als Ausdruck neuer Formen städtischer Teilhabe und Aneignung beschrieben werden können und einen Bewusstseinswandel der an der städtischen Raumund Politikgestaltung Beteiligten dokumentieren, zeigt sich für Bukarest eine immer noch anhaltende »sozialistische Vergiftung« dieser Konzepte. Ähnlich wie Planung, Freiwilligkeit oder Zusammenarbeit, rufen diese Konzepte im politischen Diskurs in erster Linie Abwehrreflexe hervor und erschweren eine Verständigung zwischen den Akteuren. Die rumänischen Soziologen Liviu Chelcea und Oana Druţă charak28 | Von den 214 nach Personen benannten Straßen erinnern lediglich zehn an Frauen und elf an Personen nicht-rumänischer Herkunft, zwei an Rumänen jüdischer Herkunft, eine an einen Rumäniendeutschen – aber keine an Vertreter der ungarischen Minderheit oder der Roma. 29 | Das Konzept der Governance, verbunden mit den daraus resultierenden Techniken des Regierens, ist im Rahmen des DFG-Projekts »Urbane Ethiken« eine zentrale Perspektivierung, verstanden als das Zusammenspiel von nichtstaatlichen Akteuren, deren Anteil an der Stadtproduktion sowie an dem Zusammenwirken im Machtfeld Staat – Markt – Zivilgesellschaft.

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terisieren diesen Mechanismus als »Zombie-Sozialismus«, der vor allem neoliberalen Strömungen diene, ihre primär auf Kapitalgewinn ausgerichteten Projekte voran zu treiben und ethisch zu legitimieren, indem dem politischen Gegner Nähe zum Sozialismus unterstellt wird, »Zombie socialism arguments have become a convenient and strategic ideological device for furthering social dumping, increasing inequalities and reducing support for redistributive policies« (Chelcea/Druţă 2016: 532). Der Fülle an Literatur zu Identitätskonstruktionen nationaler, regionaler, sozialer, ethnischer, religiöser und sexueller Spielart steht in diesem Zusammenhang eine erstaunliche Leerstelle für urbane Identitätskonstruktionen gegenüber. Allerdings finden sich in der kulturwissenschaftlichen Stadtforschung in den letzten Jahren eine Fülle an Ansätzen wie Eigenlogik und Habitus, Text und Textur, Konnex und Doxa, Geschmackslandschaften und Selbstkulturalisierung, Image und Imaginaire sowie sound und smell-scapes-Konzepte, deren Vielfalt die Heterogenität ihres Untersuchungsgegenstands abbilden.30 Den gemeinsamen Nenner bildet dabei die Idee einer Stadtindividualität, einer spezifischen atmosphärischen Ordnung, die Städte identifizierbar macht und im Gegensatz zu der vermeintlichen Austauschbarkeit von Orten, Akteuren und Materialitäten in der Global City eine kulturelle Figuration mit eigener Ordnung entgegensetzt. Die Identität der Stadt wäre demnach ihre Urbanität, ihre spezifische Aushandlung von sozialer Heterogenität, kultureller Vielfalt und symbolischer Vielsprachigkeit, der alltägliche Kampf zwischen unterschiedlichen Lebens-, Werte- und Wissenskonzepten, immer auch vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der Stadt, »und dazu: ein gewachsenes Chaos der Lebensstile, die sich an einem bestimmten Ort in einem bestimmten Moment kreuzen« (Wietschorke 2013: 218). Im Gegensatz zu anderen Identitätskonzepten, die vor allem in der Phase neuer Nationalismen nicht zuletzt nach einenden Elementen suchen, nach den Gemeinsamkeiten des Eigenen mit denen es sich von der Andersartigkeit der und des Fremden abgrenzen lässt, steht Stadt und Urbanität immer schon für Diversität, für Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen, für Vielstimmigkeiten, auch wenn das die Stadt nicht gegen Ausgrenzungsprozesse und soziale Segregation immunisiert – ganz im Gegenteil. Damit ergibt sich für eine kulturwissenschaftliche Stadtforschung mit dem Fokus auf »urbane Ethiken« einerseits die Aufgabe, einen Beitrag zur Wissensproduktion über die verschiedenen Erinnerungsschichten des städtischen Palimpsests beizutragen und andererseits die diversen agencies und Handlungsoptionen im Möglichkeitsraum Stadt auszuleuchten. Auf Bukarest bezogen, mit all seinen Brüchen, seinen Problemen, seiner in vielerlei Hinsicht urbanen Narbenkultur lässt sich dann auch mit Wolfgang Kaschuba (2005: 28) schließen, der (zwar sicherlich andere Städte als Bukarest im Sinn habend) als letzten Kern urbaner Identität denn auch »leidenschaftliche Leidensfähigkeit« ausmacht. 30 | Auffallend in diesem Zusammenhang ist allerdings die Tatsache, dass sich die hier kursorisch genannten Konzepte fast ausschließlich auf »europäische« Städte (bzw. Städte, die sich dem Modell der europäischen Stadt verpflichtet fühlen) beziehen und ihrer Übertragung auf außereuropäische Kontexte harren.

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»Das ist unser Sieg!« Die Wahrnehmung des Zweites Weltkriegs als Teil der Identitätskonstruktionen russischsprachiger Migranten in Deutschland Andrey Trofimov

Abstract: »This is our victory!« The perception of the Second World War and the identity constructions of Russian language migrants in Germany The article presents first results of field research begun in May 2017 with the support of the Schroubek Fonds Östliches Europa. For this research I studied eight events dedicated to the Victory Day of the »Great Patriotic War« organized by Russian speaking migrants or the Russian consulate in the (German) Province of Hesse. My main aim was to identify features of the former Soviet Union, of present-day Russia and of present-day Germany (such as symbols, rhetoric, patterns of dealing with history) visible in these events. On another conceptual level, the question was to discern in such events and in the perception of World War II by the Russian speaking migrants the mechanisms of exclusion and of drawing boundaries on the one hand and attempts to work out a common perspective on the other hand. My conclusion is that the Russian speaking migrants in Germany live between the two poles of a »Russian« and a »German« perspective on World War II, the leading role, however, being played by the old Soviet as well as the contemporary Russian narratives. Im Jahr 2006 schlug Olga Kurilo (2006: 16 f.), Historikerin aus Moskau, die zu diesem Zeitpunkt seit zehn Jahren in Deutschland in Forschung und Lehre tätig war, in einem Aufsatz vor, den Zweiten Weltkrieg »vor allem als eine gemeinsame Tragödie des deutschen und russischen Volkes zu betrachten. In der Kriegszeit herrschten in der UdSSR und in Deutschland totalitäre Regime, die viele Merkmale gemein hatten«. In der Praxis sah die Sache allerdings ganz anders aus. Kurilo (2006: 21) skizziert die Unterschiede in der Wahrnehmung des Krieges in beiden Ländern und merkt an: »Der Große Vaterländische Krieg1 besitzt im postsowjetischen Russland eine außer1 | Ich verwende den Begriff »Großer Vaterländischer Krieg«, wenn es um die Feierlichkeiten am 9. Mai geht. Ansonsten benutze ich den Terminus »Zweiter Weltkrieg«. In diesen Begrifflichkeiten spiegelt sich auch ein Stück weit die Geschichtspolitik der UdSSR und – als Nachfolger – auch des heutigen Russland

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ordentlich hohe identitätsstiftende und gesellschaftspolitische Relevanz. […] Das politische System legitimiert sich durch Kriegserfahrungen, die es in Denkmälern, Jahrestagen und Jubiläumsfeiern umsetzt«. Seit dem Erscheinen dieser Publikation hat sich diese Tendenz noch verstärkt, was auch in feierlichen Veranstaltungen zum Tag des Sieges zu beobachten ist (Ušakin 2014). Außerdem bezeichnen die Forscher diesen Feiertag als den einzigen, der nicht nur das Ende der Sowjetzeit überdauerte, sondern auch »vor allem in Russland und Belarus mit noch größerem Aufwand gefeiert [wird] als in der spätsowjetischen Periode« (Gabowitsch/Gdaniec/Makhotina 2017b: 11). Dennoch bleibt die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen über die Feierlichkeiten zum »Tag des Sieges«2 sehr gering. Darauf weisen auch die Herausgeber des Sammelbandes »Kriegsgedenken als Event. Der 9.  Mai 2015 im postsozialistischen Europa« (Gabowitsch/Gdaniec/Makhotina 2017a) hin, der die Ergebnisse eines großangelegten Projekts zur Erforschung von Gedenkveranstaltungen in mehreren Ländern Europas zusammenfasst. Die Aufmerksamkeit der KulturwissenschaftlerInnen, die sich mit der Wahrnehmung des Zweites Weltkriegs beschäftigen, konzentriert sich eher auf den Bereich der oral history oder der Erinnerungskultur (vgl. Gabovič 2005; Kurilo 2006), was übrigens auch Forschungen zu den Russlanddeutschen3 betrifft, und lässt Formen und Inhalte öffentlicher Veranstaltungen zum »Tag des Sieges«4 außer Acht. Seltene Ausnahmen bilden die Beiträge zu einigen Zeremonien in der UdSSR (Dimke 2014) und zur sowjetischen Prägung der offiziellen Sprache der Feierlichkeiten zum Tag des Sieges (Tumarkin 1994; Tumarkin 2003). Mit der Entstehung neuer Formen des Feierns und Gedenkens und der Aktivierung beziehungsweise Uminterpretation der Bedeutung des Zweiten Weltkriegs im russischen öffentlichen Diskurs und innerhalb der Gesellschaft erschienen auch Arbeiten, welche die mit dem Tag des Sieges verbundenen manipulativen Praktiken der russischen politischen Elite analysieren (Oushakine 2013; Ušakin 2014). Thematisiert werden darüber hinaus die neuen performativen Formen der Feierlichkeiten zum 9. Mai, die den Teilnehmern eine direkte Verbindung zur Geschichte und eine Identifizierung mit den Siegern erlauben (Archipova u. a. 2017). Auch Sara Reith (2016: 172 f.) interpretiert die Bedeutung des Sieges in verschiedenen Ausdrucksformen, unter anderem wider: Mit der Verwendung des Terminus »Großer Vaterländischer Krieg« lässt sich die erste Periode des Zweiten Weltkriegs, als die UdSSR und das nationalsozialistische Deutschland noch Koalitionspartner waren, im öffentlichen Diskurs ausschließen. 2 | Die Feierlichkeiten zum »Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg« finden in Russland und einigen anderen ehemaligen Republiken der UdSSR am 9. Mai statt im Unterschied zum »Tag der Befreiung« (8. Mai). Grund dafür ist, dass die Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 um 23:01 Uhr in Kraft trat, danach aber eine zweite Kapitulationserklärung am 9. Mai um 0:16 Uhr unterschrieben wurde. 3 | Vgl. Radenbach/Rosenthal/Stephan 2011; Radenbach/Rosenthal 2015. 4 | Zahlreiche methodische Artikel mit dem Deutungsangebot, die Feierlichkeiten zum Tag des Sieges als Mittel der »Erziehung zum Patriotismus« (vgl. Dračenkova 2013; Solov’eva 2017; Čepinitckaja 2012) oder zur »Formierung der Gender-Sozialisation im Kindergarten« (Dolotenkova/Derevnina 2017) zu betrachten, lasse ich hier außer Acht.

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auf staatlichem Niveau, als Inszenierung und Konstruktion Russlands als geeintes, triumphales Land. Betont wird jedoch stets, dass das Thema Krieg und die damit verbundenen Feierlichkeiten in der russischen Gesellschaft umstritten bleiben. Den Feierlichkeiten russischsprachiger Migranten in Deutschland wurden ebenfalls einige Arbeiten gewidmet, etwa der Verflechtung differierender Traditionen der Kriegswahrnehmung (insbesondere wird hier die Dichotomie zwischen »West« und »Ost« während der deutschen Teilung aufgegriffen) sowie der Rolle der Gedenkorte in Zusammenhang mit Migration aus den ehemaligen Sowjetrepubliken nach Berlin und Potsdam (Gabowitsch 2017). Mehrere Autoren betonen, dass sowohl während der Sowjetzeit als auch in der Gegenwart verschiedene, sich wandelnde Deutungsmuster und Formen der Feierlichkeiten zu beobachten sind (Gabowitsch/Gdaniec/ Makhotina 2017b: 12 f.; Archipova u. a. 2017: 85). Im vorliegenden Beitrag präsentiere ich einige Ergebnisse meiner mehrwöchigen Feldforschung bei verschiedenen Veranstaltungen, die im Mai 2017 stattfanden und dem »Tag des Sieges« gewidmet waren. Ich machte teilnehmende Beobachtungen und führte zahlreiche Gespräche. Die Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs durch russischsprachige Migranten in Deutschland erweist sich als sehr aufschlussreich hinsichtlich der Erforschung von Identitätskonstruktionen. Jan Assmann (1988: 15) betrachtet das kollektive Gedächtnis als identitätsstiftendes Phänomen, nämlich als »den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchstexten, Bildern und Riten […], in deren ›Pflege‹ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt«. Und da »das Konzept der Identität […] untrennbar vom Konzept der Alterität« ist (Keupp u. a. 1999: 95), spielen dabei die Konstruktionen der Anderen (Fremdbilder) sowie bestimmte Narrative5 die wichtigste Rolle. Da die russischsprachigen Migranten in Deutschland durch soziale Netzwerke und Medien eng mit ihren Herkunftsländern verbunden sind, lohnt es sich, zunächst einen Blick auf den Diskurs in der Russischen Föderation zu werfen. Deshalb möchte ich mit einigen Beispielen beginnen, die die Wahrnehmung des Krieges in der heutigen russischen Gesellschaft prägnant und treffend charakterisieren.

R ussland: »D as ist unser S ieg . P unkt« Ich möchte mit einigen Zitaten aus der Rede »Das ist unser Sieg. Punkt«6 beginnen, die der Rektor der Moskauer Universität für Geisteswissenschaften und Präsident des Bündnisses russischer nichtstaatlicher Universitäten, Professor der Philosophie Igor’ Il’inskij (2010) anlässlich des 65.  Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg 5 | Unter Narrativ verstehe ich »eine Erzähleinheit von Geschichte« (vgl. Bürger 2018: 20). 6 | Die Zitate aus russischen Quellen wurden von mir ins Deutsche übersetzt.

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vor Studierenden und Mitarbeitern der Universität gehalten hat. Diese Rede wurde in einer Zeitschrift publiziert. Der zwölfseitige Artikel ist bezeichnend für die Ansichten und Interpretationen, die heute im russischen offiziellen Diskurs vertreten werden. Am Anfang zählt Il’inskij (2010) die feierlichen Veranstaltungen auf, die an der Universität stattfanden, unter anderem den Besuch des letzten Verteidigungsministers der UdSSR Marschall Dmitri Jasov, die Organisation eines Musikfestivals und die Teilnahme an der Aktion »Georgsband«7. Dann geht er zu den Feierlichkeiten im ganzen Land über und erwähnt die Teilnahme von Veteranen aus den USA und Großbritannien, den Koalitionspartnern im Krieg, an der Parade auf dem Roten Platz in Moskau. Darauf folgt scharfe Kritik am Westen, der die Rolle der Sowjetunion beim Erringen des Sieges absichtlich unterbewerte und so auf die Diskreditierung und gar Vernichtung Russlands abziele. Als Nachweis der entscheidenden Rolle der UdSSR für den Sieg führt er Zahlen über die personellen Verluste an und vergleicht sie mit jenen der Gefallenen in anderen Ländern. Es folgt die Verherrlichung Iosef Stalins, begleitet von angeblich von Winston Churchill stammenden Zitaten. Am Ende der Rede, die dem Sieg über den Faschismus gewidmet ist, zieht Professor Il’inskij (2010: 14), sich an die Studierenden wendend, folgendes Resümee: »Ihr müsst gründlich begreifen und euch erinnern: Die russische Nation, das russische Volk sind eine Genie-Nation, ein Sieger-Volk. […] Ihr seid Enkel- und Urenkel der Helden, ihr seid die Erbfolger des großen Sieges. Lasst den Ruhm unserer großen Ahnen uns zu neuen Heldentaten anregen! Sei er eure Inspiration, derjenige Blitzstrahl, welcher aus der Finsternis der Nacht erscheinen und den Weg zu neuen Siegen im Namen Russlands beleuchten wird! Hoch lebe das große russische Volk, das Sieger-Volk! Hoch lebe unsere brave Jugend, die Hoffnung Russlands! Hoch lebe das mächtige Russland!«

Es wäre ein Fehler, diese Rede als bloße Wiederholung alter sowjetischer Formeln und Formen zu betrachten. Diese sind freilich auch vorhanden. Als solche identifizierbar wären beispielsweise die Erwähnung des Besuchs eines Veteranen (in diesem Fall sogar des prominenten Dmitri Jazov8), der Ausrichtung einer Musikveranstaltung oder die ausführlichen vergleichenden Angaben zu den Opfern des Krieges, ohne dabei 7 | Die Aktion »Georgsband« wurde  im Jahr  2005 von RIA »Nowosti« (Russian Informational Agency »News«) und der Jugendorganisation »Studenčeskaja Obščina« [Studentengemeinde] initiiert. Im Rahmen der Aktion wurden Millionen schwarz-orange Bänder verteilt. Von einem Symbol des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg ist das Georgsband zum Symbol einer neuen Bewegung umgedeutet worden: Die prorussischen Demonstranten in der Ostukraine trugen im Frühling 2012 diese Bänder, und auch danach blieben sie Teil der Uniformen der sogenannten »prorussischen Separatisten«. 8 | Dmitri Jazov war zudem eines der acht Mitglieder des Staatskomitees für den Ausnahmezustand, die im August 1991 den Putsch gegen Michail Gorbatschow organisiert haben. Das Ziel war es, die Perestroika zu beenden und zum »Sozialismus« zurückzukehren.

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allerdings die Verantwortung der sowjetischen Militärführung für ebendiese hohen Opferzahlen zu erwähnen. Es sind aber auch neue Formen und Ideen der Erinnerungskultur präsent, etwa die Aktion »Georgsband«, die seit 2005 durchgeführt wird und eine enorme Popularität genießt (Ušakin 2014; Archipova u. a. 2017). Stalins Verehrung ist auch erst seit Ende der Perestroika im offiziellen Diskurs anzutreffen,9 und das weit kolportierte, angeblich von Churchill stammende Zitat fiel erstmals im Jahr 1988.10 Stark verändert wurde auch die sowjetische Rhetorik über das »Sieger-Volk«: Zuzeiten der UdSSR ging es um die Konfrontationsverhältnisse zwischen kapitalistischen und sozialistischen Systemen. Infolgedessen wurde die BRD als Nachfolgerstaat des nationalsozialistischen Deutschlands angesehen, die DDR hingegen nicht, es ging also um Klassenkampf im weitesten Sinne. In der Rede von Il’inskij (2010) wird die »russische Nation« nach rein nationalistischem und rassistischem Muster konstruiert, was eher an die Reden aus der Zeit des Dritten Reiches in Deutschland erinnert. Es wäre zu kurz gegriffen, diese Rede der marginalen nationalistischen Szene zuzuordnen, die keinen bedeutenden Einfluss auf die russische Gesellschaft hat. Diese Rhetorik ist nämlich nicht selten in den Reden russischer Staatsfunktionäre anzutreffen. Den konstruierten direkten Zusammenhang zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Gegenwart, die Übertragung des Sieges auf die heutige politische und gesellschaftliche Situation möchte ich mit einem weiteren Beispiel illustrieren. Nach dem Sieg der russischen Mannschaft über die deutsche im Eishockey-Finale der Olympischen Spiele 2018 in Pyeongchang erschienen in russischen sozialen Netzwerken mehrere Memes, in denen dieser Sieg mit dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg direkt in Verbindung gebracht wurde. Besonders weite Verbreitung hatte die Photoshop-Bearbeitung des inszenierten Fotos von Evgenij Chaldei »Auf dem Berliner Reichstag, 2. Mai 1945« (Jahn 2005: 40): Der Rotarmist hält keine rote Fahne mit Hammer und Sichel, sondern einen Eishockeyschläger mit der russischen Trikolore. Der Artikel in der Zeitung »Sovetskij Sport«, in dem mehrere solche Bilder unter dem Titel »Noch mal geschafft: In russischen sozialen Netzwerken hat man Eishockey mit Krieg verglichen« gesammelt wurden, endete mit 9 | Nach seinem Tod 1953 wurde Stalin nicht mehr verehrt, aber auch nicht öffentlich verurteilt, über ihn wurde geschwiegen. Dies wird zum Beispiel beim Vergleich von Schulbüchern deutlich. Trifft man im Geschichtslehrbuch von 1952 allein auf der ersten Seite des dem »Großen Vaterländischen Krieg« gewidmeten Abschnitts ganze fünf Mal auf den Namen »Stalin« (Bazilevič u. a. 1952: 366), so findet man ihn im 85‑seitigen Kapitel zum Thema in einem Lehrbuch von 1982 nur drei Mal (Baleev u. a. 1980: 31–117). Den ersten Versuch, Stalin zu »rehabilitieren«, findet man in einem 1988 erschienenen Anti-Perestroika-Artikel von Nina Andreeva http://www.revolucia.ru/nmppr.htm. 10 | Zum Ersten Mal ist das »Zitat« von Churchill in dem Artikel von Nina Andreeva (ebd.) aufgetaucht und lautet: »Stalin hat Russland mit dem Hakenpflug übernommen und mit der Atombombe entlassen«. Forscher haben nachgewiesen, dass das Zitat nicht von Churchill, sondern von dem Historiker Isaak Deutscher (1966: 250) stammt. Auf Internet-Portalen professioneller Historiker werden solche Fälschungen ausführlich analysiert und kritisiert (z. B. Krasilnikov, Sergej u. a. 2013: 30–31).

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der Darstellung der Gegenposition: »Der Gerechtigkeit wegen sei gesagt, dass nicht alle die Idee, den Sieg im Weltkrieg mit Millionen von Opfern auf die gleiche Stufe mit einem Matchgewinn von millionenschweren Sportlern zu stellen, anerkennen.« Weiter wird ein Kommentar in Facebook zitiert, in dem die Autoren und Fans solcher Bilder scharf kritisiert und die entsprechenden Vergleiche als absolut inakzeptabel bewertet werden (Sovetskij Sport, 25. 2. 2018). Andere Sichtweisen auf den Zweiten Weltkrieg sowie die Versuche, ein alternatives Deutungsmuster zu etablieren, erregen Anstoß in der russischen Gesellschaft. Am 19. 11. 2017, dem Volkstrauertag, hat Nikolaj Desjatničenko, ein russischer Schüler aus der Stadt Novij Urengoj im Ural, im Rahmen einer deutsch-russischen Schülerlesung eine kurze Rede im Bundestag in Berlin gehalten. Darin brachte er sein Mitleid mit dem Schicksal des Wehrmachts-Soldaten Georg Johann Rau zum Ausdruck, der im Alter von 21 Jahren in einem sowjetischen Lager für Kriegsgefangene starb. Nikolai beschrieb seinen Besuch auf dem Friedhof, wo auch andere Deutsche begraben wurden, folgendermaßen: »Ich sah die Gräber unschuldig ums Leben gekommener Menschen, unter denen viele in Frieden leben und nicht kämpfen wollten. Sie haben während des Krieges unwahrscheinliche Mühen durchlebt, über die mir auch mein Urgroßvater erzählte, der als Kommandeur einer Schützenkompanie am Krieg teilnahm« (Hebel 2017).

Seine Rede löste in Russland eine Welle von Hass aus: Die Reaktionen von Obrigkeit und Gesellschaft ließen nicht auf sich warten und waren unerbittlich. Laut mehreren Politikern und regierungstreuen Medien sei der Junge ein Verräter und die Lehrerinnen und Lehrer in seiner Schule müssten überprüft und bestraft werden. Der ukrainische Nachname »Desjatničenko« sei eine Erklärung für solch eine empörende Rede: »›Wir haben eine Anfrage vom Geheimdienst bekommen, sie haben Informationen über mögliche Verwandte von Nikolaj in der Ukraine gesucht‹, erzählte ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung« (Znak.com 2017). In sozialen Netzwerken erschienen mehrere Posts, in denen die Autoren nicht nur Nikolaj verurteilten und beschimpften (Abb. 1), sondern auch die heutigen »Deutschen«, die sie in eine Reihe mit Nazis stellen. Liberale Intellektuelle hingegen sahen in Nikolais Rede ein positives Beispiel für eine neue Beziehung zur Kriegsgeschichte, da sie im Unterschied zum heutigen russischen offiziellen Narrativ nicht auf Hass gegen die »Nazis« (und darüber hinaus auf die Ukraine und den Westen) abziele und nicht die üblichen Feindbildkonstruktionen und Heldennarrative bediene, sondern auf Trauer, Mitgefühl und Menschlichkeit basiere.11 Und auch sie wurden als Verräter angeprangert. Die Historikerin Irina Ščerbakova, Leiterin der Bildungsprogramme der Menschenrechtsorganisation »Memorial«, weist darauf hin, dass dieser Konflikt u.a. von der Inexistenz einer pas11 | Z. B. Rubinštejn 2017. Solche Meinungen wurden in sozialen Netzwerken oder unabhängigen Internet-Portalen und nicht in offiziellen staatlichen russischen Medien veröffentlicht.

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Abb. 1: »Danke, Kolja, guter Junge«. Eine von mehreren Karikaturen, die nach der Rede von Nikolaj Desjatničenko im Bundestag im Internet erschienen (19. 11. 2017)

senden Sprache des kulturellen Gedächtnisses in Russland zeugt, da einige Stellen in der Rede nicht treffend formuliert seien: »Sicherlich, das Zitat ›unschuldig umgekommene Menschen‹ ist nicht gut formuliert. Besser wäre es sicherlich gewesen, wenn Desjatničenko gesagt hätte, dass nicht alle Wehrmachtssoldaten freiwillig in den Krieg gezogen waren« (Hebel 2017). Diese und zahlreiche andere Beispiele zeigen deutlich, dass die Verhandlung beziehungsweise Interpretation des Zweiten Weltkriegs im heutigen Russland eine noch sehr heikle Angelegenheit darstellt und dass sie vom Heldennarrativ und von Feindbildkonstruktionen der heutigen Deutschen wie des Westens generell stark geprägt sind. Diese Ansichten werden durch verschiedene russischsprachige Medien wie Fernsehen, Internet-Seiten, sozialen Netzwerke weltweit verbreitet.12

12 | Alle meine Gesprächspartner teilten in den Interviews mit, dass sie überwiegend russische Medien nutzen.

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D er »Tag des S ieges « 2017 in H essen Mit den Feierlichkeiten russischsprachiger Migranten in Deutschland zum 9.  Mai befasste ich mich zum ersten Mal 2015, als ich bei einer Veranstaltung in einer Synagoge in Mittelhessen eine teilnehmende Beobachtung im Rahmen einer Pilotstudie durchführte. Es fiel mir auf, dass das wohl wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts, an dem sowohl das Herkunftsland als auch das Ankunftsland der Anwesenden beteiligt waren, in der »herkömmlichen« sowjetischen Weise thematisiert wurde. In den Texten der ModeratorInnen fand außerdem die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs beziehungsweise des Holocaust im heutigen Deutschland keine Erwähnung. Auch keine der neuen Symbole oder Gedenkformen wie das »Georgsband« oder der Umzug »Unsterbliches Regiment«, die sich in den letzten zehn Jahren in Russland durchsetzten, waren Teil des offiziellen Programms. Ablauf und Inhalt erschöpften sich in der Reproduktion des sowjetischen Narrativs,13 dessen Tradierung vor allem deshalb stark auffiel, weil die Feierlichkeiten von 2015 in Russland ausnehmend prachtvoll ausfielen. Hieraus erwuchs die Idee, das Phänomen der Aufrechterhaltung von Ritualen sowjetischer Prägung unter russischsprachigen Migranten in Deutschland im Kontext der deutschen Erinnerungskultur sowie der neuen Formen und Rituale des Gedenkens in Russland anhand solcher Gedenkveranstaltungen zu untersuchen. Vom 6. bis 14. Mai 2017 besuchte ich insgesamt acht Veranstaltungen dieser Art und führte Beobachtungen sowie eine Reihe von Interviews mit Teilnehmern und Organisatoren vor Ort und im Nachhinein durch. Meine Forschungsfrage bei der teilnehmenden Beobachtung lautete: Welche Symbole, Rhetorik und Aufarbeitungsmuster, die bei diesen Veranstaltungen zu beobachten sind, können der ehemaligen UdSSR, dem heutigen Russland und dem heutigen Deutschland 14 zugeordnet werden? Daraus ergibt sich eine weitere Fragestellung: Welche Ausgrenzungs- beziehungsweise Grenzziehungsmechanismen und welche Versuche, eine gemeinsame Perspektive herauszuarbeiten, treten bei solchen Veranstaltungen und folglich in den Wahrnehmungen der Geschichte des Zweiten Weltkriegs zutage? Ein Teil der Veranstaltungen richten sich in erster Linie an Kinder. Sie haben ein striktes Programm und sind von Lehrern organisiert. Dazu gehören etwa Schulunterrichtsstunden (ich besuchte zwei solche in einer Samstagsschule) und Veranstaltungen mit Kinderauftritten von verschiedenen russischen Vereinen. Es handelt sich dabei um Veranstaltungen im »halböffentlichen« Raum, die nur für die unmittelbar Beteiligten und eingeladene Personen zugänglich sind. Bei solchen Veranstaltungen wird überwiegend das traditionelle »sowjetische« Narrativ bemüht: von den Lehrenden geschilderte ausgewählte Episoden des Krieges sowie Vorführungen, in deren Rahmen Gedichte und Lieder aus der sowjetischen Zeit zum Thema Krieg von 13 | Siehe auch Bernstein 2008. 14 | Darunter wird »die westdeutsche Kultur von betroffenen Schuldbekenntnissen, Ritualen der Aufarbeitung und Identifizierung mit bestimmten Opfergruppen« (Gabowitsch 2017: 203) verstanden. Ausführlicher dazu siehe Aleida Assmann (z. B. 2011).

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Kindern deklamiert und gesungen werden. Zum Repertoire gehören zum Beispiel »Erinnert euch!« von Evgenij Jewtuschenko (1832–2017) oder »Schönheit, die uns die Natur schenkt …« von Alexej Surkov (1899–1983). Diesen Kanon kenne ich selbst aus den 1980 Jahren, als ich eine Grundschule in Moskau besuchte. Als Ziel solcher Veranstaltungen bezeichnen die Organisatoren die »Bewahrung der Traditionen« und die Vermittlung der »richtigen« Geschichte an Kinder, was deutsche Schulen nicht leisten würden. Implizit ist darin eine Gegenüberstellung der »deutschen« und »russischen« Herangehensweise an die Kriegsgeschichte zu finden, ohne dass ein expliziter Vergleich stattfinden würde. Automatisch wird die »russische« Darstellung von den Organisatoren als die wahrhaftigere und vollständigere verstanden. So etwa, als eine Schülerin auf das Jahr des Kriegsbeginns 1939 zu sprechen kam und die Lehrerin mit der Bemerkung konterte, das sei unwichtig, bedeutend sei nämlich das Jahr 1941, als Deutschland die Sowjetunion angriff. Bei den anderen von mir besuchten Veranstaltungen zählten nicht die Kinder zur Hauptzielgruppe. Sie konnten selbstverständlich mitkommen, es waren aber auch Einzelpersonen und Paare zugegen. Ich möchte mich hier vor allem auf Gedenkveranstaltungen beschränken, die auf Friedhöfen stattfanden, auf denen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene begraben waren. Diese Gedenkfeiern haben nämlich einen anderen Fokus: Im Zentrum steht die Erinnerung an die Opfer des Krieges und an die konkreten Leistungen von Veteranen. Oft handelt es sich dabei um Verwandte der Anwesenden (die natürlich nicht exakt an dieser Stelle begraben sind) und deren Ehrung. Es kommen verschiedene Gründe und Formen des Gedenkens bei den einzelnen Veranstaltungen zum Vorschein. Bei den von mir besuchten handelte es sich zum einen um eine fast reine »Familien-Veranstaltung«, an der nur die Familienmitglieder (mit Ausnahme einer Bekannten des Leiters des russischen Vereins) teilgenommen haben, zum anderen um eine Art Pilgerschaft, bei der eine Gruppe von Menschen im Verlaufe eines Tages Gottesdienste auf drei solchen Friedhöfen abhielt. Eine weitere Veranstaltung fand auf dem Zentralfriedhof in Frankfurt statt und wurde vom russischen Konsulat organisiert, sie war für alle Interessierten offen. Aufgrund einer halbstündigen Verspätung konnte ich leider selbst die Reden zu Beginn nicht hören. Eine davon hatte ein Mitglied des Deutschen Freidenkerverbands gehalten.15 Ein Teilnehmer charakterisierte sie im Anschluss als dermaßen prorussisch (etwa in Bezug auf die Situation in Syrien), »als wäre der Redner kein Deutscher«. An diesem Beispiel ist zweierlei bemerkenswert: zum einen sehen meine Gesprächspartner eine deutliche Diskrepanz zwischen dem jeweils üblichen Duktus in Russland und in Deutschland, und wenn ein Mensch »prorussisch« spricht, fällt es ihnen schwer, ihn als »Deutschen« zu identifizieren; zum anderen herrscht gegenwärtig Spannung zwischen Russland und Deutschland beziehungsweise dem Westen,16 sodass zur Ver15 | Linksorientierte Organisation, die unter anderem Russlands Politik in Syrien und Baschar al-Assad unterstützt (https://www.freidenker.org). 16 | In Bezug auf die Annektierung der Krim, auf Russlands Unterstützung der Separatisten in Osten der Ukraine, auf den Konflikt in Syrien.

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anstaltung vor allem »angenehme« Gäste wie jene vom Deutschen Freidenkerverband eingeladen wurden (und keine beliebigen Vertreter der Stadtverwaltung oder andere Bedienstete), von denen man annehmen konnte, dass sie auf Russlands Seite stehen.17 Der Kontakt zur deutschen Gesellschaft wurde hier eher simuliert, umso sichtbarer ist bei solchen Gedenkveranstaltungen dafür der Konflikt zwischen Russland und dem Westen. Die prorussische Grundhaltung der Veranstalter spiegelt sich in der Relativierung der heutigen außenpolitischen Situation und in der Betonung von Russlands Rolle als »Sieger über den Faschismus«, worauf dessen Machtposition in der heutigen Weltpolitik gründe. Dieses Argumentationsmuster wird dauernd in den russischen Medien verwendet, um etwa die Unterstützung der Separatisten im Osten der Ukraine oder des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad zu legitimieren und die politischen Gegner sowohl in Russland als auch in anderen Ländern anzuprangern. Während meiner Feldforschung konnte ich eine weitere Veranstaltungsform beobachten: das »Unsterbliche Regiment« in Frankfurt am Main. Das »Unsterbliche Regiment« ist ursprünglich die Initiative eines Fernsehsenders aus der russischen Stadt Tomsk. Am 9. Mai 2011 fand dort ein Umzug statt, bei dem Menschen mit Porträts von Verwandten, die am Krieg teilgenommen hatten, durch die Straßen zogen. Heute findet diese Art des Umzugs in mehreren Städten Russlands (Archipova u. a. 2017) und auch in anderen Ländern (Gabowitsch/Gdaniec/Makhotina 2017) statt, wobei diese Initiative sogar von Macht- beziehungsweise Staatsorganen und Konsulaten im Ausland aufgegriffen wird. Die Veranstaltung in Frankfurt wurde von Privatpersonen organisiert, die weder zum Konsulat noch zu russischen Vereinen gehören, und fand 2017 zum ersten Mal statt. Am 26. März 2017 wurde auf der Internetplattform »Unsterbliches Regiment« folgender Text auf Russisch veröffentlicht: »Sehr geehrte Heimatgenossen! Wir laden alle, die der Helden-Veteranen, der Kriegsteilnehmer und aller Kämpfer gegen den Faschismus in Ehren gedenken wollen, ein, an der internationalen Aktion »Unsterbliches Regiment« teilzunehmen. 7. Mai 2017 um 11.00h Ins Glied des Regiments kann jeder Mensch treten, unabhängig von seiner Konfession, Nationalität und seinen politischen Ansichten. Er muss ein Foto von einem Kriegsteilnehmer tragen, von jemandem, der in den rückwärtigen Gebieten oder in der Arbeitsarmee gearbeitet hat, einem Gefangenen in einem faschistischen Lager, einem Opfer der Leningrader Blockade oder einem Mitglied des Widerstands, welcher selbst nicht mehr ins Glied treten kann« (moypolk.ru 26. 3. 2017).

Einen Monat später erschien auch eine Einladung auf Deutsch: »Sehr geehrte Damen und Herren, wir möchten Sie zum internationalen Gedenkmarsch ›Unsterbliches Regiment‹ zur Ehrung der Soldaten, die im Kampf gegen den Faschismus umgekommen sind, einladen: 17 | 2018 habe ich zwei Veranstaltungen beigewohnt, bei denen Mitglieder des Vereins Reden gehalten und unter anderem den Konflikt in Syrien in prorussischer Weise thematisiert haben.

»Das ist unser Sieg!« | 281 am 07. 05. 2017 um 11:00 Uhr an der Hauptwache Frankfurt am Main. In vielen Familien gibt es Helden, die im Zweiten Weltkrieg gegen den Faschismus gekämpft haben, aber nicht mehr viele von ihnen sind noch am Leben […] Es ist unsere heilige Pflicht, die Erinnerung an ihre Heldentat zu bewahren und an unsere Nachkommen weiterzugeben. Das ›Unsterbliche Regiment‹ ist eine unpolitische, gemeinnützige Bürgerinitiative. Jeder kann an dem Gedenkmarsch teilnehmen und ein Porträt seines Helden mitbringen, der am Kampf gegen den Faschismus teilgenommen hat« (moypolk.ru 27. 4. 2017).

Auf der Internetseite auf diesem Flyer steht der folgende Text (in Russisch): »Liebe Heimatgenossen! In der Zeit des Zweites Weltkriegs gab es in Deutschland eigene Helden, die gegen das Naziregime gekämpft haben, mehrere wurden umgebracht, mehrere wurden in KZ-Lager verbannt. Und jetzt ist ihr heroischer Kampf den Einheimischen einfach lästig und wird gern vergessen! Wenn Sie Freunde oder Verwandte haben, welche Verwandte aus dem einheimischen deutschen Widerstand haben oder hatten, die gegen das Naziregime in Deutschland gekämpft haben, erzählen Sie ihnen bitte von unserem ›unsterblichen Regiment‹ und laden Sie sie ein, an unserer Veranstaltung teilzunehmen« (moypolk.ru 27. 4. 2017).

Schon eine oberflächliche Textanalyse zeigt, dass, obwohl die Organisatoren zur Teilnahme an der Veranstaltung auch Deutsche einladen, nur diejenigen erwünscht sind, die bestimmten, eher für Russland relevanten Kriterien entsprechen. Die Organisatoren leiten aus der Geschichte eine bestimmte Kontinuitätslinie ab, stellen eine direkte Verbindung zwischen den Generationen her: An der Veranstaltung dürfen nur diejenigen teilnehmen, die zum Widerstand gehörende Ahnen haben. So wird ein großer Teil der heutigen deutschen Gesellschaft von diesen Gedenkveranstaltungen ausgegrenzt, weil sie implizit als Erbfolger der Nationalsozialisten wahrgenommen werden. Am 7. Mai versammelten sich die Teilnehmer an der Hauptwache in Frankfurt, es erschienen circa 200 Personen. Mehrere trugen selbstgemachte Schilder mit Porträts von Veteranen, viele Familien mit Kindern waren zugegen. Die Organisatorin hielt eine Rede in Russisch und Deutsch, betonte, dass diese Veranstaltung der Versuch einer internationalen Vereinigung sei, da die »deutschen Kollegen auch eingeladen wurden«. Die Rede fiel allerdings in jeder der Sprachen deutlich anders aus: Auf Russisch sprach sie allgemein über die anonyme »Widerstandsbewegung in Deutschland«, auf Deutsch erwähnte sie die Widerstandsgruppe »Weiße Rose«. Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass auch Narrativmuster zum Thema Widerstand in Russland und Deutschland stark differieren. Die Rede wird nicht direkt aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt, sondern angepasst. Die Narrative blieben somit getrennt. Nach den Reden fand ein Umzug statt, der in einem Park mit einer Gruppenaufnahme endete (Abb. 2). Die Atmosphäre war entspannt, die Menschen lernten sich kennen, die Organisatorinnen waren begeistert. Und weil auch die Polizisten sehr freundlich waren und die Organisation der Veranstaltung lobten, wurde die Hoffnung geäußert, im nächsten Jahr eine weitere auf die Beine zu stellen.

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Abb. 2: Gruppenfoto der Teilnehmenden am Umzug »Unsterbliches Regiment«, Frankfurt am Main, 7. Mai 2017

Am 1.  November 2017 führte ich ein Interview mit den Organisatoren und Organisatorinnen in Frankfurt am Main. Zum einen ging es darum, wie sie auf die Idee zur Organisation einer solchen Veranstaltung in Deutschland gekommen sind. Ausschlaggebend sei dafür der Umzug des »Unsterblichen Regiments« in Moskau gewesen, dem sie vor zwei Jahren zufällig beigewohnt hätten und von dessen Atmosphäre der Einigkeit sie begeistert gewesen seien. Des Weiteren äußerten sie sich über die Reaktion der Medien zum »Unsterblichen Regiment« in Frankfurt: über die der russischen mit großer Zufriedenheit, über die der deutschen dagegen mit Verärgerung: »Ich habe die ›Frankfurter Rundschau‹ gelesen. Dort steht: ›Alles hat Putin bezahlt.‹ Ich mag Putin sehr, doch habe ich alles selbst im Baumarkt für mein eigenes Geld gekauft!« Die angeführten Beispiele zeigen, dass die neuen Formen der Feierlichkeiten zum 9. Mai grundsätzlich aus Russland kommen und dass durch diese Veranstaltungen kein Kontakt beziehungsweise Dialog mit der deutschen Gesellschaft hergestellt wird. Als letztes möchte ich zwei Veranstaltungen erwähnen, die im Unterschied zu den bereits beschriebenen wesentlich mehr auf Verständigung und die Suche nach gemeinsamen Herangehensweisen zur Kriegsgeschichte ausgerichtet waren. Die erste fand am 7. Mai 2017 in Raunheim statt, einer Stadt in der Nähe von Frankfurt am Main, deren Zentralplatz vor dem Rathaus an diesem Tag nach dem deutsch-russi-

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schen Widerstandskämpfer Alexander Schmorell benannt und eingeweiht wurde.18 Alexander Schmorell wurde 1917 in Orenburg (Russland) geboren und emigrierte mit vier Jahren mit seiner Familie nach Deutschland. Er war einer der Organisatoren der Gruppe »Weiße Rose«, 1943 wurde er verhaftet und hingerichtet. Im Jahr 1981 begann ein durch die russische Auslandskirche initiierter Prozess der Heiligsprechung von Alexander Schmorell, und seit 2012 gilt er als Heiliger der Russisch-Orthodoxen Kirche. Seine russische Herkunft wurde oft betont (Chramow 2013), sie war auch Kernpunkt bei der Zeremonie. An der Namensgebung nahm auch der Bürgermeister teil. Gedichte und Lieder,19 die im Rahmen der Feierlichkeit von der Tribüne erklangen, wurden ins Deutsche übersetzt. Schmorell wurde als ein Verbindungsglied zwischen der russischen und der deutschen Wahrnehmung des Krieges dargestellt. Als ein weiteres Beispiel für den Versuch, Brücken zu schlagen und einen Weg zur Versöhnung zu finden, kann die Theateraufführung »Liebesbriefe« des russischen Vereins aus Mainz gelten, die seit zwei Jahren zum 9.  Mai aufgeführt wird. Dem Skript liegen reale Briefwechsel sowjetischer und deutscher Soldaten mit ihren Familien zugrunde, die Geschichte ist in der Vor- und in der Kriegszeit angesiedelt. Die Briefe sind voller Liebeserklärungen, auch an die Kinder, und der Tod eines der Helden verstärkt die emotionale Wirkung. Die Aufführung findet in zwei Sprachen jeweils mit Übersetzung statt, was deutlich darauf hinweist, dass Verständnis und Versöhnung, also der Dialog zwischen Deutschen und Russen ein wichtiges Ziel der Veranstalter der Aufführung waren. Dies wurde auch immer wieder betont: Als ich anrief, um mich zur Aufführung anzumelden, sagte der Mann am Telefon: »Wissen Sie, auch die Deutschen kommen und mehrere weinen.« Der Satz wurde wortwörtlich wiederholt, als wir in seinem Auto saßen (im Internet stand die falsche Adresse und er holte die Angemeldeten selbst ab). Diese Aufführung, in der der Krieg als Tragödie der »kleinen Menschen« emotional dargestellt wird, hatte eine sehr starke Wirkung auf das Publikum, wie ich beobachten konnte. Abschließend möchte ich einige Beobachtungsergebnisse vorstellen, die eher die privaten Verhaltensweisen der Veranstaltungsteilnehmer wie auch anderer russischsprachiger Migranten betreffen. Die Gedenkfeiern sind nicht per se wandlungsresistent: Neben Formen, die schon in der Sowjetunion existierten, kommen auch neue Muster und Symbole zum Einsatz. Dazu gehören beispielsweise Gottesdienste, die in der Sowjetzeit verboten waren, und auch andere, die in Russland entstanden sind (Abb. 3). Die deutsche Erinnerungskultur spielt dabei kaum eine Rolle. Der Krieg ist für die russischsprachigen Migranten, die in Deutschland leben, ein sehr heikles Thema. Zwei Gesprächspartnerinnen, mit denen ich vor der Veranstaltung »Unsterbliches Regiment« gesprochen habe, erzählten mir, sie würden nicht kommen, weil sie sich unbehaglich fühlten, wenn sie an solchen Umzügen teilnäh18 | Siehe dazu den Artikel in der Frankfurter Neuen Presse 2017. 19 | Zum Beispiel »Warte auf mich« von Konstantin Simonov (1915–1979), »Kraniche« von Rasul Gamsatov (1923–2003) und dem Komponisten Jan Frenkel (1920–1989).

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Abb. 3: Gruppenfoto nach dem Gottesdienst an der Grabstätte sowjetischer Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg mit Porträts der Veteranen, Georgsbändern, russischer Flagge, roter Fahne, sowjetischer Uniform, Kreuz. Der Tag des Sieges vereinigt Symbole aus verschiedenen Zeiten, 9. Mai 2017

men: »Ich will nicht mit dem öffentlichen Verkehr [mit dem Porträt eines Verwandten] fahren, da wird man lachen und Fragen stellen« (Feldnotizen, 6. 5. 2017). Die Organisatoren teilten mit, dass einige Freunde sie von ihrem Vorhaben abzubringen versuchten oder dass Eltern die Teilnahme ihrer Kinder an feierlichen Konzerten absagten (Feldnotizen, 8. 5. 2017). Als Begründung hätte man angeführt, dass es unkorrekt wäre, den Sieg in Deutschland zu feiern. Diese Unsicherheit und die damit verbundenen Befürchtungen zeugen von der Selbstmarginalisierung und der Abgrenzung einiger russischsprachiger Migranten von der deutschen Gesellschaft. Während der Veranstaltungen, bei Gesprächen und Interviews habe ich selbst keine Merkmale solch einer sensiblen Haltung gegenüber den Deutschen bemerkt. Auf die Fragen seitens zufälliger Passanten, die sich über die Veranstaltung erkundigten, erklärten die Teilnehmer sehr freundlich, das Ziel sei »eine Erinnerung an die in Kriegszeiten Gefallenen«.

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Bei den Feierlichkeiten fielen negative Äußerungen in Bezug auf bestimmte Gruppen, beispielsweise Flüchtlinge20 oder Ukrainer21. So sagte eine Frau zu einem Mädchen, vermutlich ihrer Enkelin, bei der Aktion »Unsterbliches Regiment«: »Siehst du, alle diese Menschen, unsere Ahnen, haben ihre Heimat verteidigt, haben sich nicht versteckt, und diese Flüchtlinge entwischen jetzt nach Europa!« Die heroische Darstellung der sowjetischen Soldaten wird somit als Anlass genutzt, um andere abzuurteilen. Noch häufiger wurden die Ukraine und die Ukrainer geschmäht. Das passierte vor allem in privaten Gesprächen mit mir oder unter den Teilnehmern während der Veranstaltungen. So etwa nannte ein Priester die Ukrainer »gewissenlos«, weil sie die Aktion »Unsterbliches Regiment« verboten haben. Als ich einen Teilnehmer auf diese angeblich negative Haltung der Ukrainer ansprach, erzählte er mir bereitwillig, wie er wegen seines Auto, das mit dem Georgsband sowie verschiedenen Inschriften über den Sieg und die Superiorität »des russischen Soldaten« über den »NATO-Soldaten« dekoriert ist, mehrmals in Konflikt mit Ukrainern in Deutschland geraten sei, und äußerte sich ausgesprochen abfällig über sie (Feldnotizen, 9. 5. 2017). Ebenso bezeichnend war ein Vorfall auf dem Hauptfriedhof in Mainz. Vor dem Gottesdienst lag bereits ein Kranz des ukrainischen Konsulats am Denkmal, der wohl am 8.  Mai niedergelegt worden war. Eine der Organisatorinnen begann, das gelb-blaue Band der ukrainischen Fahne mit Georgsbändern zu umwinden. Als eine Teilnehmerin eine Frage stellte, die allerdings nichts mit der betreffenden Situation zu tun hatte, reagierte die Organisatorin recht aggressiv: »Ich mache alles richtig! Die Ukrainer töten die Menschen, sie schmeißen unsere Georgsbänder weg! Ich mache alles richtig!« Dieses Beispiel veranschaulicht den Kampf um das Recht auf den Sieg: Die Organisatorin überdeckt mit den »eigenen« russischen Symbolen die »fremden« ukrainischen (Abb. 4). Dieser Kampf hat sich mit dem Konflikt im Osten der Ukraine verschärft, aber die Voraussetzungen dafür waren auch schon früher gegeben. Der Leiter eines russischsprachigen Vereins erzählte mir, dass vor 10 Jahren ein Denkmal auf dem Friedhof durch die Mitfinanzierung des russischen Konsulats eingerichtet wurde (Feldnotizen, 8. 5. 2017). Die Initiatoren wollten auf der Tafel die Inschrift: »Zum Andenken aller im Krieg gefallenen sowjetischen Bürger« eingravieren lassen, doch die Konsulatsbeamten verlangten nur »der im Krieg gefallenen russischen Bürger«. Schließlich hätten sie das Denkmal finanziert, ohne die Beteiligung des uk20 | Die »von den Flüchtlingen ausgehende Gefahr für Europa« ist in den russischen Medien dauerhaft präsent. 21 | Mehrere Forscher weisen darauf hin, dass die Ereignisse in der Ukraine von 2014, die russische Annexion der Krim und der Anfang des bewaffneten Konflikts im Osten der Ukraine die Wahrnehmung des Krieges beeinflussen (Archipova u. a. 2017: 90; Gabowitsch/Gdaniec/Makhotina 2017b: 20). In den russischen Medien werden »die Ukrainer« zum Beispiel für das Beschmieren von Kriegsdenkmälern verantwortlich gemacht. Hierzu kann ich aus persönlicher Erfahrung anmerken, dass mir im Juni 2017 auf der Durchreise in der ukrainischen Stadt Tschop von einem Passanten, der meine Moskauer Aussprache bemerkte, empfohlen wurde, das Kriegsdenkmal des Ortes zu besuchen – es war nämlich in sehr gepflegtem Zustand.

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Zentraler Friedhof in Mainz, Grabstätte der sowjetischen Opfer im Zweiten Weltkrieg. Kampf der Symbole: »russische« Georgsbänder auf dem ukrainischen Kranz, 9. Mai 2017

rainischen Konsulats. Seit Beginn der Krise in der Ostukraine finden feierliche Veranstaltungen des ukrainischen Konsulats am 8. Mai statt, damit mögliche Konflikte vermieden werden. Die Gesprächspartner sprachen in den Interviews vor, nach den und während der Veranstaltungen sehr wenig über die Kriegsereignisse oder die Verwandten, die am Krieg teilgenommen hatten. Thema waren vielmehr die aktuellen Veranstaltungen selbst sowie die damit verbundenen Gefühle und Erfahrungen.

S chlussfolgerungen Zusammenfassend ergibt sich folgende These: Russischsprachige Migranten in Deutschland bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen der »russischen« und der »deutschen« Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs, wobei sowohl alte sowjetische als auch heute in Russland (re-)produzierte Narrative eine führende Rolle spielen. Deutsche Deutungsmuster des Zweiten Weltkriegs spielen in der Erinnerungskultur russischsprachiger Migranten in Deutschland kaum eine Rolle, die Suche nach Anknüpfungspunkten ist selten anzutreffen, und sie ist nicht immer erfolgreich. Das erkennt man vor allem daran, dass es neue in Russland in den letzten Jahren entstandene Formen des Gedenkens und der Erinnerung sind, die angenommen und integriert werden. Aleida Assmann (2011: 159) schreibt: »Das Jahr 1945 zum Beispiel war 1962 oder 1975 viel weiter von uns entfernt als 2003 oder 2005«, was von Sergej Ušakin (2014) bezüglich der Feierlichkeiten zum Tag des Sieges und deren Darstellung

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in Russland bestätigt wurde: »Der Erinnerungsakt wird zum Mittel der Reproduktion der Identität: Wichtig sind nicht die Ereignisse der Vergangenheit, sondern die Teilnahme am kollektiven Ritual.« Dies gilt in gewissem Maße auch für die Teilnehmer an den Veranstaltungen zum 9. Mai in Deutschland: Das Selbstbild wurde nicht aufgrund der vergangenen Ereignisse selbst konstruiert, sondern durch die Abgrenzung von Anderen beziehungsweise von deren Wahrnehmung derselben Ereignisse. So distanzierte man sich etwa von den »Ukrainern«, die aus dem heutigen Russland stammende Symbole ablehnen, aber auch von den »Deutschen«, die angeblich weniger wissen und die Feierlichkeiten falsch interpretieren. Diese Auffassung nährt unter anderem die Ablehnung beziehungsweise Marginalisierung der Formen der Kriegsaufarbeitung in Deutschland seitens der russischen Migranten. Die Vorstellung nämlich, dass sie korrekter als die Anderen den Tag des Sieges feiern, mehr über den Zweiten Weltkrieg wissen und diesen deshalb auch besser verstehen, sind neben dem Verwandtschafts- beziehungsweise Zugehörigkeitsgefühl zur Generation der Sieger die wichtigsten Faktoren bei der Konstruktion des Selbstbildes der TeilnehmerInnen an den Feierlichkeiten. Zudem entsteht der Eindruck, dass die Erinnerung an Ereignisse aus der Vergangenheit zur Verurteilung heutiger vermeintlicher Bedrohungen instrumentalisiert wird: Der Zweite Weltkrieg wird mit gegenwärtigen Konflikten im Mittleren Osten verglichen und die Flüchtlinge werden als Menschen dargestellt, die – im Unterschied zu den sowjetischen Soldaten – ihre Heimat nicht verteidigen wollen und nach Europa auf der Suche nach einem guten Leben auswandern.

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Angeeignete Fremde Figuren von Juden aus der Volksrepublik Polen1 Uta Karrer

Abstract: Ambiguous Poland. Discourses on sztuka ludowa and Polish naive art The paper discusses the role and functionalisation of Jewish figurines in the sztuka ludowa (»folk art«) of the People’s Republic of Poland. It argues that the wooden figurines, whose production and public presentation were supported by the government, gained significance as representations of a constitutive »Other« due to the political situation during the 1970s and 1980s. By analysing the iconography and the contextualization of the figurines, this paper claims that Jews were conceived to be a domestic, yet historical »Other«. It further argues that with the support of the Polish government, non-Jewish Polish folk artists appropriated Jewish memory and custom into the broader Polish culture.

E inleitung Männer mit langen Bärten und chassidischen Kappen. Manche tanzen, einige spielen Geige, andere tragen religiöse Attribute. Solche Figuren von Juden zählten zu der international gehandelten sztuka ludowa2 [Volkskunst] aus der Volksrepublik Polen zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem politischen Systemwechsel 1989/91 und teilweise darüber hinaus. Die Figuren wurden in den großen ethnografischen Museen Polens, aber auch in Westdeutschland ausgestellt. In den letzten Jahren sind etwas jüngere Figuren zum Gegenstand kontroverser Diskussionen geworden. Denn seit der Jahrtausendwende haben sich kleine, zum Großteil in Massenproduktion hergestellte Figuren von Juden mit Geldstücken zu 1 | Dieser Beitrag ging hervor aus dem Dissertationsprojekt »Ambigues Polen. Diskurse zu sztuka ludowa und polnischer naiver Kunst« an der LMU München und Universität Basel. Es wurde gefördert durch den Georg R. Schroubek Fonds Östliches Europa. 2 | Um auf die Unterschiede in der Verwendung und der historischen Entwicklung des Konzepts der sztuka ludowa zum deutschsprachigen Begriff Volkskunst hinzuweisen, verwende ich den polnischen Begriff.

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populären Handelsobjekten entwickelt (Lehrer 2014b). Als Glücksbringer sollen sie ihren Besitzern zu Geld und Wohlstand verhelfen. Kritisch wird diskutiert, ob diese Figuren als Ausdruck oder Auslöser antisemitischer Einstellungen gedeutet werden können und daher zu verurteilen sind (Lehrer 2014a; Lehrer 2014b; Goldberg-Mulkiewicz 2014; Krajewski 2014; Tokarska-Bakir 2014). Andererseits wird die Frage gestellt, inwiefern sie eine Art kapitalistische Heiligenfiguren bilden und einen Jahrhunderte zurückreichenden historischen, originären Ausdruck polnischer Kultur aufgreifen (Całą 2014; Klekot 2015). Während letztere Argumentation die Vorstellung einer historisch gewachsenen polnischen Kultur impliziert, sind die Entstehungsbedingungen und Funktionalisierungen der Figuren von Juden aus den 1970er und 1980er Jahren in den aktuellen Debatten bisher kaum berücksichtigt worden. An dieser Stelle setzt der vorliegende Beitrag an. Er untersucht, unter welchen Voraussetzungen es zur Entstehung der Figuren von Juden in der Volksrepublik Polen kam und mit welchen Funktionen und Deutungen die Figuren versehen wurden: Sztuka ludowa wurde in der 1944/45 gegründeten Volksrepublik Polen von staatlichen Institutionen als Ausdruck polnischer Kultur präsentiert, die bis in die Zeit der Jagiellonen zurück verfolgbar sei. In der Mehrzahl zeigen die Kunstobjekte christlich geprägte Motive, Szenen des Landlebens und historische Persönlichkeiten aus der polnischen Geschichte, seltener Figuren von Juden. Bezüglich dieser Figuren ist zu fragen, inwiefern sie von Seiten der staatlichen Kulturpolitik als Teil und Ausdruck zeitgenössischer polnischer Kultur betrachtet wurden, inwiefern sie auf eine frühere Epoche der Geschichte Polens verwiesen, und ob die Figuren vom Polnischen abgegrenzte, konstitutive Andere verkörperten.

Figuren von J uden als konstitutive A ndere Vor dem Zweiten Weltkrieg umfasste die jüdische Bevölkerung in Polen mit knapp drei Millionen einen Anteil von etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung (Zubrzycki 2006: 55). Seit dem Statut von Kalisz im Jahr 1264 war Polen zur Heimat einer jüdischen Bevölkerung geworden (Haumann 1998: 19 f.). Besonders im 17. und 18. Jahrhundert bildete sich eine osteuropäische jüdische Kultur mit eigenständiger Identität und Sprache heraus. »Schtetl«, Siedlungen mit einem hohen Anteil jüdischer Bevölkerung, standen für eine spezifische Lebensweise und Kultur. Einen katastrophalen Bruch stellte die nationalsozialistische Vernichtungspolitik während des Zweiten Weltkriegs dar. Mehr als 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung Polens fielen dem Vernichtungsfeldzug Hitlers zum Opfer (Ziółkowski 2002: 14). Angesichts dieser Geschichte kommt den Figuren von Juden innerhalb der sztuka ludowa und den sie umgebenden Diskursen eine Sonderrolle zu, die hier untersucht werden soll. Seit der Gründung der Volksrepublik Polen nahm sztuka ludowa als staatlich legitimierte Kunst der arbeitenden ländlichen Bevölkerung eine zentrale kulturpolitische Rolle ein. Die staatliche Kulturpolitik verfolgte mit deren Förderung eine ganze Reihe ineinander verflochtener Ziele. Dabei stützte sie sich auf feste Institutionen

Angeeignete Fremde | 293

wie die zahlreichen ethnografischen und regionalen Museen, die staatliche Handelsorganisation Cepelia und den Verband der Volkskunstschaffenden (Stowarzyszenie Twórców ludowych). Die ideologische Ausrichtung des sozialistischen Staates sollte durch Kunstobjekte der arbeitenden Bevölkerung untermauert werden, die zugleich an die nationale Geschichte anknüpften. Weiterhin wurde entsprechend der zentralistischen Ausrichtung des Staates eine kulturelle Homogenisierung angestrebt. Unter anderem diente dies der Legitimation und Festigung der verschobenen Landesgrenzen. Bereits 1948 fand in Krakau eine Ausstellung statt, die sztuka ludowa aus sämtlichen Landesteilen miteinbezog (Seweryn 1948). Sie zeigte Kunstobjekte sowohl aus Regionen, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg zu Polen gehört hatten, als auch aus solchen, die im Westen und Norden des Landes ehemals zum Deutschen Reich gehört hatten. Die Territorialverluste im Osten wurden hingegen ausgeblendet. Aufgrund der Betonung einer nationalen Kultur und einer Jahrhunderte überspannenden kulturellen Kontinuität nahmen katholisch geprägte Motive in der sztuka ludowa auch während der Zeit des sozialistischen Systems der Volksrepublik Polen einen zentralen Stellenwert ein. Zu den häufigen Motiven gehören religiöse Figuren wie Jesus, die Heilige Familie und Heiligenfiguren. Vereinzelt finden sich auch Darstellungen religiöser Bräuche. Die staatlich gebilligte – sogar betonte – Deutung religiöser Motive als Ausdruck nationaler Kultur unterscheidet die Kulturpolitik der Volksrepublik Polen stark von ihren sozialistischen Nachbarländern. Erklärtes Ziel der Kulturpolitik der Sowjetunion war das Ersetzen religiöser Motive der Vergangenheit durch Themen des modernen sowjetischen Lebens. Künstler und Künstlerinnen bis hin zu Ikonenmalern sollten ihre künstlerischen Fertigkeiten auf diese Gebiete übertragen (Bakushinsky 1939: 15; Hilton 1995: 257–268). In der sogenannten Volkskunst beziehungsweise Laienkunst der Sowjetunion und der von ihr dominierten Staaten herrschten weltliche Motive vor.3 Auch in der Volksrepublik Polen wurden ab den 1940er Jahren durch die staatlichen Institutionen weltliche Motive eingeführt (Gołąb-Marciniak 1995). Allerdings rückten Motive mit Bezug auf den sozialistischen Fortschritt ab der Mitte der 1950er Jahre zunehmend in den Hintergrund, während Darstellungen eines vormodern geprägten Lebens auf dem Land und Figuren von nationalen Helden ins Zentrum gelangten (Jackowski 1974a; Pokropek 1978; Fryś-Pietraszkowa/Iracka/Pokropek 1988). Vor dem Hintergrund dieser beiden Motivgruppen stechen die Figuren von Juden deutlich heraus. Ihr Verkauf in die USA und nach Westdeutschland ist zwar seit den 1950er Jahren belegt (Goldberg-Mulkiewicz 2014: 214 f.). Anders als die anderen Motive wurden Figuren von Juden aber erst ab dem Ende der 1960er Jahre staatlich gefördert und in gedruckter Form publiziert. Die Figuren wurden sowohl zusammen mit Kunstobjekten anderer Motivik (Pokropek 1978; Olędzka 1988; Makulski 1988; Fryś-Pietraszkowa 1988) als auch separat (Goldberg-Mulkiewicz 1980; Pilichowska 1989; Całą 1992) der Öffentlichkeit präsentiert. Als Erinnerungen an den Holocaust 3 | Vgl. Heisig 1952; Jackowski 1974b; Pronin/Pronin 1975; Razina/Cherkasova/Kantsedikas 1989; Hilton 1995; Herzog 2012.

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Abb. 1: Fotografien jüdischer Figuren (Goldberg-Mulkiewicz 1980: 221). Bildunterschrift in der Publikation: »II. 5. Wędrowny handlarz, glina wypalana, wyk. Klara Prillowa. Kcynia, woj. bydgoskie. Il. 6. Żyd, drewno polichr., wyk. Stanisław Ciszek, Ostojów, woj. kieleckie. II. 7. Karczmarz, drewno, wyk. Władysław Naumiuk, Bielsk Podl., woj. Białostockie.« [Ill. 5. Wanderhändler, gebrannter Ton, gefertigt von Klara Prillowa. Kcynia, Wojewodschaft Bydgoszcz. Ill. 6. Jude, polychromes Holz, gefertigt von Stanisław Ciszek, Ostojów, Wojewodschaft Kielce. Ill. 7. Gastwirt, Holz, gefertigt von Władysław Naumiuk, Bielsk Podl. Wojewodschaft Białostok.]. Fotografien: Jan Świderski

und das jüdische Leben der Vorkriegszeit wurden sie international geschätzt (Zimmerer 1979; Heigl/Orth/Orth 1980; Schauß 1986). Die Figuren weisen Attribute auf, die sie von den übrigen Personendarstellungen unterscheiden. Abb. 1 zeigt Fotografien, die Goldberg-Mulkiewicz (1980: 221) in einem Artikel in der Zeitschrift Polska Sztuka ludowa, herausgegeben vom Institut für Kunst der Polnischen Akademie der Wissenschaften, veröffentlichte: Alle Figuren tragen Kopfbedeckungen. Dabei handelt es sich bei zwei Figuren um eine chassidische Kopfbedeckung und bei der Figur auf der rechten Seite um eine Kippa. Auf der in der Mitte abgebildeten Skulptur ist deutlich ein langer schwarzer Mantel erkennbar. Die Figur auf der rechten Seite trägt eine Schürze, die auf der linken Seite trägt einen Sack auf dem Rücken. Betitelt sind die Figuren als »Wanderhändler«, »Jude« und »Gastwirt«. Zahlreich sind zudem Figuren, die religiöse Praktiken betonen. Prominent abgebildet wurde eine Figur von Adam Zegadło (1910–1988). Die Skulptur wurde als Einstieg in ein Interview in der Zeitschrift Polska Sztuka ludowa platziert (Pacewicz/ Sabak 1989: 103). Sie zeigt einen Mann mit Bart, dunkler Bekleidung und einer chassidischen Kopfbedeckung. In seinen Händen ist ein jüdischer Gebetsschal erkennbar.

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Abb. 2: Darstellungen nichtjüdischer polnischer Personen in der sztuka ludowa (Jackowski 1976b: 212). Bildunterschrift in der Publikation: »Il. 27. Zenon Adamski, Sobiska, wys. 44 cm. 1971 r. II. 28 Rzeźba Henryka Wierzchowskiego, Zawidz Kościelny, woj. płockie, wys. 26 cm. 1969 r.« [Illustration 27. Zenon Adamski, Sobiska, Höhe 44 cm. Jahr 1971 IIustration 28 Skulptur von Henryk Wierzchowski, Zawidz Kościelny, Wojewodschaft Płock, Höhe 26 cm. Jahr 1969]. Fotografien: S. Deptuszewski; Jan Świderski

Ein weiteres Sujet bilden jüdische Hochzeiten (Zimmerer 1979; Goldberg-Mulkiewicz 1980: 226; Schauß 1986: 197). Eine Skulptur von 1971 aus dem Bestand des Museums für sztuka ludowa in Otrębusy bei Warschau von Zegadło zeigt beispielsweise ein tanzendes Brautpaar (Lehrer 2014b: 100). Der Mann ist durch eine chassidische Kopfbedeckung als jüdisch ausgewiesen und hebt ein Bein zum Tanz, was der Figur einen fröhlichen, beschwingten Ausdruck verleiht. Stets handelt es sich um Darstellungen anonymer Personen. Namentlich benannte oder historische Persönlichkeiten finden sich nicht (Pokropek 1978; Olędzka 1988; Makulski 1988; Fryś-Pietraszkowa 1988; Goldberg-Mulkiewicz 1980; Pilichowska 1989; Całą 1992).4 Aus diesem Grund verwende ich hier die Bezeichnung »Figuren«. Deutlich ist die Kennzeichnung von Juden durch spezifische Attribute, am offensichtlichsten Kopfbedeckungen (ebd; Lehrer 2014b). Neben der Kippa erscheint 4 | Pokropek 1978; Olędzka 1988; Makulski 1988; Fryś-Pietraszkowa 1988; Goldberg-Mulkiewicz 1980; Pilichowska 1989; Całą 1992.

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die Kappe, angelehnt an die Bekleidung chassidischer orthodoxer Juden im Polen der Vorkriegszeit. Hinzu treten lange schwarze Mäntel und elegante Kleidung. In vielen der Figuren und Objekttitel werden bestimmte berufliche Tätigkeiten, insbesondere solche als Wanderhändler, Kaufleute, Wirte und Musiker hervorgehoben. Diese beruflichen Ausrichtungen werden in den Publikationstexten als charakteristisch für das jüdische Leben der Vorkriegszeit beschrieben (Goldberg-Mulkiewicz 1980; Pilichowska 1989). Auch die Hochzeiten werden als spezifisch jüdisch beschrieben und solchermaßen von nichtjüdischen polnischen Bräuchen unterschieden (Goldberg-Mulkiewicz 1980: 226). Nichtjüdische Personen dagegen werden mit einer Vielzahl von Attributen dargestellt. Abb. 2 zeigt exemplarisch Darstellungen nichtjüdischer polnischer Personen, die in der Zeitschrift Polska Sztuka ludowa veröffentlicht wurden (ebd.). Die Figuren verweisen einerseits auf Festlichkeiten, andererseits auf im ländlichen Alltag zu verrichtende Arbeiten. Die eine Skulptur zeigt eine Gruppe von Musikern von Zenon Adamski (1952–2012), die andere einen zwei Eimer tragenden Mann von Henryk Wierzchowski (*1937). Die Figuren tragen verschiedenfarbige Kleidungsstücke und unterschiedliche Kopfbedeckungen. Dass sie eine starke Diversität kennzeichnet, grenzt sie gerade von den Figuren von Juden ab, die durch besagte Einheitlichkeit geprägt sind. Durch ihre Kategorisierung als sztuka ludowa und als künstlerischer Ausdruck von auf dem Land lebenden twórcy ludowi (VolkskünstlerInnen) werden die Figuren implizit als Darstellungen von nichtjüdischen Polen und Polinnen präsentiert. Darstellungen von jüdischen Figuren heben sich also von solchen nichtjüdischer Personen durch spezifische Attribute ab (Całą 1992; Całą 2012; Lehrer 2014b; Klekot 2015). Nichtjüdische Polen und Polinnen bedürfen keiner ikonografischen Sondermerkmale, die sie als polnisch ausweisen würden. Ihre scheinbar selbstverständliche polnische Identität konstituiert sich unversehens in der Epoche zwischen 1945 und 1989 durch die ikonografisch als different gekennzeichneten Darstellungen von Juden mit. Hinzu kommt, dass als twórcy ludowi bis auf wenige Ausnahmen nur nichtjüdische und nicht christlich-orthodoxe, das heißt, in der Regel katholische Personen staatlich anerkannt wurden. Kein twórca ludowy mit jüdischem Hintergrund wurde bekannt. Eine homogenisierende polnische Identität wird durch die sztuka ludowa normalisiert, die Einordnung als jüdisch ausgeschlossen. Verstärkt wird die Funktion der Figuren von Juden des konstitutiven »Anderen« dadurch, dass die Kunstobjekte – wie geschildert – keine konkreten oder namentlich bekannten historischen Personen darstellen. Entindividualisierte Figuren werden zu Repräsentanten des Jüdischen als dem »Anderen«. Durch die mit einer Stereotypisierung verbundene Herstellung von Differenz wird in einem binären Gegensatz das Eigene und dessen Bedeutung mitgeschaffen (Laclau 1996: 38; Hall 2004: 117–144). Die Darstellungen jüdischer Figuren fungieren in der öffentlichen Repräsentation der sztuka ludowa, pointiert ausgedrückt, als das konstitutive »Andere« gegenüber dem als durch Gemeinsamkeiten verbunden vorgestellten »Polnischen«.

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Abb. 3: Figuren von Juden zum Verkauf auf der Emmauskirmes in Krakau (Fryś, Ewa; Iracka, Anna; Pokropek, Marian 1988: o. S.). Bildunterschrift in der Publikation: »451 ›Żydżi‹ – zabawki z krakowskiego odpustu Emaus Ok. 1980 r.« [»Juden« – Spielzeuge von der Krakauer Emmauskirmes. Um das Jahr 1980.]. Fotografien: Jacek Kubiena

Kritisch betrachtet, schuf die homogenisierende Kulturpolitik der zentralistisch organisierten Volksrepublik Polen die Notwendigkeit eines konstitutiven Anderen. Während vor dem Zweiten Weltkrieg vor allem »Ukrainer« im Rahmen des »Grenzlanddiskurses« die Funktion konstitutiver Anderer einnahmen (Bakuła 2007), war dies, sowie das damit zusammenhängende Thematisieren der »Kresy« während der Volksrepublik Polen nicht möglich, da diese nun Teil der östlich angrenzenden Sowjetrepubliken geworden waren. Die christlich-orthodoxe Religion fiel als konstitutives Anderes gleichfalls aus. Trotz der emotionalen Aufladung durch den Zweiten

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Weltkrieg konnten auch Deutsche, zumindest jene in der DDR, aufgrund der offiziellen »sozialistischen Freundschaft« zur Deutschen Demokratischen Republik nicht als konstitutive Andere präsentiert werden (Madajczyk 2007: 136–139). Diese Situation machte eine Substitutionsstrategie notwendig. Die Juden füllten diese Lücke als konstitutive Andere. Die Figuren waren die Praxis, mit der nationale Identität hergestellt wurde.

Figuren von J uden als Teil von O sterbräuchen Einen Schritt weiter führen die Emmausfiguren: In großer Zahl und mit starker Öffentlichkeitswirksamkeit wurden ab Ende der 1970er Jahre jüdische Figuren für die Krakauer Emmauskirmes hergestellt. Abb. 3 zeigt eine Seite des Katalogs Sztuka ludowa w Polsce [Volkskunst in Polen] (Fryś-Pietraszkowa/Iracka/Pokropek 1988). Skulpturen, die orthodoxe jüdische Männer darstellen, stehen dort auf einem Verkaufstisch der Emmauskirmes anlässlich des Ablassfestes am Ostermontag in Zwierzyniec bei Krakau. Neben den chassidischen Kopfbedeckungen tragen die Figuren Gebetsschals, die auf ihre Religionszugehörigkeit verweisen. Explizit wird damit auf religiöse Praktiken verwiesen. Zentral herausgestellt wird auf der Abbildung und in ihrer Beschriftung die Funktion der Figuren als Teil der katholischen Osterbräuche. Betitelt werden sie als »›Żydżi‹ – zabawki z krakowskiego odpustu Emaus Ok. 1980 r.« [»Juden« – Spielzeuge von der Krakauer Emmauskirmes um 1980]. Die weiteren Abbildungen auf der Katalogseite  – Gebäck zu christlichen Bräuchen im Jahres- und Lebenslauf, und zwar zu Ostern, St. Nikolaus sowie zur Hochzeit – umgeben die Figuren mit dem christlichen Jahreslauf. In der ethnologisch-wissenschaftlichen Klassifizierung des Katalogs werden sie als Ausdruck und Teil eines von weiten Bevölkerungsteilen geteilten katholischen Brauchs verstanden. In der Konsequenz dieser Kategorisierung als »Volksbrauch-Objekte« im Unterschied zu Kunst-Objekten werden die Namen der Schnitzer nicht angegeben (Pilichowska 1989; ebd.). EthnologInnen wiesen diese Figuren von Juden auf der Krakauer Emmauskirmes einer polnischen Tradition zu, die mindestens bis in das 19. Jahrhundert zurückreiche. Mit dieser Begründung wurden die Figuren staatlicher Förderung für würdig befunden (Pilichowska 1989; Goldberg-Mulkiewicz 1980; Lasocka 1980). Die Wiederaufnahme ihrer Herstellung nach der Unterbrechung während des Zweiten Weltkriegs wurde ab 1977 als Erfolg der Kulturförderung durch das Historische Museum Krakau und den Spółdzielnie »Milenium«, den Genossenschaftsverein der Volksund Kunsthandwerker in Krakau, verstanden (Pilichowska 1989: 133). Den Figuren von Juden maß die Ethnologin Bogdana Pilichowska (1989) daraufhin aus zwei verschiedenen Richtungen ethnografischen Wert zu. Zum einen interpretierte sie die Figuren als Zeugnisse einstiger jüdischer Lebensweise. Dazu verwies sie auf Darstellungen religiöser Praktiken und historischer Berufsausübungen. Die häufige Darstellung von Musikern etwa würde, so Pilichowska (1989), die historische Popularität dieses Berufs bei Juden zeigen. Zum anderen deutete sie die Figuren als

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Abb. 4: Abbildung der Figur eines Teufels mit der Figur eines Juden (Pilichowska 1989: 132). Bildunterschrift in der Publikation: »Zabawki z Muzeum Etnograficznego w Krakowie« [Spielzeuge aus dem Ethnografischen Museum Krakau]. Fotografie: Jacek Kubiena

Ausdruck polnischer, implizit nichtjüdischer mündlich tradierter Folklore. Als Manifestation der Lebendigkeit dieser Folklore bildet Pilichowska (1989) Figuren von Juden im Verbund mit dem Teufel ab. Abb. 4 zeigt die gehörnte Figur eines Teufels, der eine Schubkarre mit der Figur eines Juden schiebt. Der Schtreimel als Kopfbedeckung verweist auf einen chassidischen Juden. Der erhobene linke Arm und der Gesichtsausdruck suggerieren eine einvernehmliche Handlung zwischen der Figur und dem Teufel. Als Beleg für die historische Tiefe der dargestellten Relation zwischen Teufel und Juden in der polnischen Folklore führt Pilichowska (1989: 133) die Sprichwörter an »Gdy diabeł nie może Żyd mu dopomoże« [»Wenn der Teufel nicht kann, hilft ihm der Jude«] und »Jak nie ma wady bez diabła tak nie ma biedy bez Żyda« [»Wenn es keinen Schaden ohne einen Teufel gibt, gibt es keine Armut ohne einen Juden«]. Die zitierte Folklore ist also nicht nur Verniedlichung. Sie tradiert auch eine antisemitisch geprägte Verbindung von Juden mit dem Teufel. Deshalb irritiert, dass sie staatlich-institutionell normalisiert und als Ausdruck nationaler polnischer Kultur indirekt legitimiert wurde. Vorsichtiger gesagt, werden die Figuren von Juden nicht nur als Andere gegenüber dem Polnischen verortet, sondern werden auch in eine gesellschaftliche und historische Distanz gestellt. Denn die Figuren von Juden werden sowohl als Darstellungen jüdischen Lebens in der Vorkriegszeit als auch als Ausdruck einer historisch tradierten nichtjüdisch und manchmal antijüdisch-polnischen Folklore betrachtet. Bezeichnenderweise gewannen die Darstellungen von Juden in der sztuka ludowa nach der letzten großen Emigrationswelle jüdischer Bevölkerung aus der Volksrepublik Polen Ende der 1960er Jahre an Popularität: In Folge des israelisch-arabischen Sechstagekriegs von 1967 kam es zu einer staatlich organisierten antisemitischen

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Kampagne. Zahlreiche Menschen jüdischer Abstammung verloren ihre Posten in Militär, Sicherheitsorganen, Staats- und Parteiinstitutionen sowie an Hochschulen. Die große Mehrheit der nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen verbliebenen jüdischen Bevölkerung – über 25.000 Menschen – verließ das Land (Tych 2012: 89; Breuer 2015: 85). In der Folge wurde das jüdische Leben in Polen kaum noch sichtbar. Dazu passt, dass in der Repräsentation der Figuren das jüdische Leben der Vorkriegszeit betont, zeitgenössisches jüdisches Leben innerhalb Polens und weltweit dagegen ausgeklammert wird. Die Historisierung von Vorstellungen des »Jüdischen« ermöglichte die Bildung und Zementierung einer stereotypen Vorstellung jüdischen Lebens in der Vorkriegszeit.

Figuren jüdischer O pfer

der nationalsozialistischen V ernichtungspolitik Lange Zeit wurden in den Figuren von Juden der sztuka ludowa die NS-Okkupation und der Holocaust kaum thematisiert. Darstellungen explizit erkennbarer jüdischer Opfer des Zweiten Weltkriegs finden sich in den Publikationen selten, und wenn, dann erst ab den 1980er Jahren. Eine dieser wenigen Darstellungen zeigt Abb. 5. Die Skulptur mit dem Titel »Oni byli pierwsi« (»Sie waren die Ersten«) wurde im Jahr 1986 im Rahmen des landesweiten Wettbewerbs »Przeciw wojnie« [»Gegen den Krieg«] des Museums in Majdanek in Kooperation mit der »Stowarzyszenie Twórców Ludowych« [Verband der Volkskunstschaffenden] erworben. Die Skulptur wurde mit dem zweiten Preis ausgezeichnet (Januchowski 1986: 55). Die Abbildung zeigt eine Personengruppe: Eine junge Frau und ein junger Mann stützen einen dritten älteren Mann in ihrer Mitte. Die Männer tragen die bereits mehrfach thematisierte chassidische Kappe, alle drei Personen gelbe Davidsterne an ihrer Kleidung. Das weist sie als durch die Nationalsozialisten verfolgte Juden aus. Der zu der Skulpturengruppe angegebene Titel »Oni byli pierwsi« [»Sie waren die Ersten«] unterstreicht das: Die dargestellten jüdischen Menschen sind die ersten Opfer der Verfolgung. Zugleich verweist die Bezeichnung der dargestellten jüdischen Opfer im Objekttitel als die »Ersten« auf weitere Opfergruppen. Im Kontext der sztuka ludowa in der Volksrepublik Polen und einer Ausstellung »Gegen den Krieg« sind dies nichtjüdische Opfer, am Ausstellungsort Majdanek vor allem die polnischen Zivilisten und die von anderen Orten verlegten Kranken sowie Kriegsgefangene, die von der SS ausgebeutet und ermordet wurden. Durch das Kunstobjekt wird somit die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung betont und zugleich zu weiteren Opfergruppen in Relation gesetzt. Auf diese Weise eröffnet die Skulptur Lesarten, die neben den jüdischen auch die nichtjüdischen Opfer einbeziehen. Größere Sichtbarkeit erlangten Figuren leidender Juden in Publikationen für den ausländischen Markt. Als Reaktion auf internationale Kritik wurde seit dem Juni 1968 in der staatlichen Propaganda offiziell auf antijüdische Inhalte verzichtet. Die

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Abb. 5: Abbildung der Skulptur »Oni byli pierwsi« [Sie waren die Ersten] von Jerzy Kaczmarek (Januchowski 1986: 55). Bildunterschrift in der Publikation: »Jerzy Kaczmarek, Oni byli pierwsi, rzeźba w drewnie, polichromowana, Wróblew, woj. sieradzkie II nagroda w ogólnopolskiej wystawie ›Przeciw wojnie‹«. [Jerzy Kaczmarek, Sie waren die Ersten, Holzskulptur, polychrom, Wróblew, Wojewodschaft Sieradź II Preis in der polenweiten Ausstellung »Gegen den Krieg«]. Fotografie: Leszek Kistelski

Parteiführung suchte das internationale Polenbild aufzubessern (Zaręba 2012: 164 f.). Als Teil dieses Versuchs kann die Herausgabe eines deutschsprachigen Ausstellungskatalogs anlässlich einer Ausstellung im Ruhrfestspielhaus Recklinghausen 1973 betrachtet werden, die durch das Polnische Nationalmuseum Warschau organisiert wurde. Der Katalog (Szajna-Sierosławska/Piprek 1973) zeigte auf dem Titelbild die Skulptur einer jüdischen Familie von Tadeusz Cąkala aus dem Jahr 1968. Die Familie ist, eng zusammengerückt, aus einem Stück Holz geschnitzt. Ihre Gesichter blicken ernst und leidend. Dieser Ausdruck wird vor allem durch die nach unten gerichteten Augen hergestellt. Die Mutter und das Kind, das sie in den Armen hält, tragen keine Schuhe. Dem Publikum der BRD gegenüber wird somit eine öffentliche Anerkennung des Leidens der jüdischen Bevölkerung vor Augen gestellt und damit der Kritik an einer staatlich betriebenen antijüdischen Politik ein Stück weit der Wind aus den Segeln genommen. Kritisch betrachtet, bleiben die jüdischen Opfer aber auch in den wenigen veröffentlichten Darstellungen der sztuka ludowa namenlos. Sie werden typisiert und ohne individuelle Merkmale dargestellt, einer persönlichen, das eigene Leben ändernden Anerkennung und einem personalisierten Gedenken entzogen (Pollack 2014: 64 f.). Durch die weit häufigere Darstellung wohlhabender und sogar fröhlicher jüdischer Figuren der Vorkriegszeit wird die Erinnerung an das der jüdischen Bevölkerung zugefügte Leid an mancher Stelle sogar verdeckt. Als ein Sonderfall der Darstellung einer namentlich benannten Person mit jüdischem Hintergrund sind an dieser Stelle immerhin Darstellungen von Janusz Korczak

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(1878–1942) zu nennen. Dieser wurde in einigen Kunstobjekten der Zeit als Opfer und Märtyrer des Holocaust dargestellt, der mit den Kindern des von ihm geführten Waisenhauses in Treblinka ums Leben kam (Pokropek 2009: 21–27). Allerdings wurde Korczak sowohl in den Kunstobjekten als auch in den zeitgenössischen Publikationen nicht als jüdisch, sondern als katholisch eingeordnet und somit zu einem der polnisch-katholischen Nationalhelden (Stomma 1978; Jackowski 1986).5 Die Figuren, die ihn zeigen, stellten damit das durch die Figuren von Juden suggerierte Bild nicht in Frage. Weitaus sichtbarer wurden zudem Darstellungen von Pater Maksimilian Kolbe6 als Märtyrer und Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik (Jackowski 1976b; Lasocka 1980; Błachowski 1983). Ein weiteres häufiges Sujet ist das Leid der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung unter der Zwangsarbeit (Pokropek 1978; Engels 1979; Schauß 1986). Ein Beispiel für die gemeinsame Thematisierung des Leids nichtjüdischer und jüdischer Bevölkerung ist eine Abbildung im Atlas sztuki ludowej i folkloru w Polsce 7 von Marian Pokropek (Abb. 6) (Pokropek 1978 o. S., Abb. 309 und 310). Sie zeigt die Skulptur eines jüdischen Mannes von Wacław Czerwiński (*1911) neben einer Skulpturengruppe von Wiktor Rysio (*1902), die eine polnische halbjüdische Familie zeigt. Der jüdische Mann trägt die chassidische Kappe, ist lang und sehr hager, dunkel gekleidet und hat einen Bart. Da der Mann die Arme eng anlegt und mit über das Kinn hochgezogenen Schultern dargestellt ist, wirkt er bucklig und eingeschüchtert. Einen direkten Bezug zur Okkupation Polens durch die Nationalsozialisten stellt die daneben abgebildete Personengruppe her. Sie zeigt einen Mann, eine Frau und ein Kind. Der Mann trägt einen Hut, ist bartlos und mit Jacke und Hose bekleidet, die Frau trägt ein Kopftuch und einen gestreiften Rock, der mit seinem Streifenmuster an regionale Trachten erinnert, das Kind trägt eine kurze Hose. Auffällig ist der Buchstabe »P« auf der Jacke der Frau. Es handelt sich um die Kennzeichnung polnischer ZwangsarbeiterInnen in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs. Diese mussten den Buchstaben P für Polen auf ihrer Kleidung tragen. Die Skulptur verweist auf das Leid der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung, die zu Zwangsarbeit verschleppt und ausgebeutet wurde.

5 | Ermöglicht wurde dies durch den selbstgewählten Künstlernamen Janusz Korczak, mit dem er sich auf einen Roman des polnischen Schriftstellers Józef Ignacy Kraszewski (1812–1887) bezog, und den er statt seinem Geburtsnamen Henryk Goldszmit verwendete. Janusz Korczak wurde folglich während der Volksrepublik nicht als Jude, sondern als (nichtjüdischer) Pole präsentiert. Auch GesprächspartnerInnen, mit denen ich während meiner Forschungen sprach, nahmen Janusz Korczak nicht als jüdisch wahr; seine jüdische Herkunft war ihnen unbekannt. 6 | Der 1894 in Warschau geborene Franziskaner Maksymilian Kolbe wurde 1941 nach Auschwitz deportiert, wo er für einen Mithäftling in den Hungerbunker ging. Nach seinem gewaltsamen Tod wurde er als christlicher Märtyrer verehrt. 1982 wurde Kolbe von dem polnischen Papst Johannes Paul  II. heiliggesprochen. 7 | 1983 erschienen in deutscher Übersetzung unter dem Titel »Atlas der Volkskunst und Folklore«.

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Abb. 6: Abbildung der Figur eines jüdischen Mannes von Wacław Czerwiński zusammen mit einer Skulpturengruppe von Wiktor Rysio (Pokropek 1978 o. S. Abb. 309 und 310). Bildunterschrift in der Publikation: »309 Świnice, rzeźba W. Czewrwińskiego; 310 Świnice, rzeźby W. Rysia«. [309 Świnice, Skulptur W. Czewrwiński; 310 Świnice, Skulpturen W. Rysio]. Fotografie: Marian Pokropek

Im Unterschied zu der Skulpturengruppe wird in der jüdischen Figur kein expliziter Bezug zum Zweiten Weltkrieg und der nationalsozialistischen Verfolgung hergestellt. Die Figur verweist vielmehr, indem kein Davidstern dargestellt wird, auf die Vorkriegszeit und somit auf eine historisch weiter zurückliegende Epoche. Die Darstellung jüdischer Figuren als bucklig war in der Volksrepublik Polen weit verbreitet und spätestens seit dem 19. Jahrhundert in eine antisemitische Bildwelttradition eingebettet, wie Erica Lehrer (2014a: 28) analysiert. Ihrer Ausführung zufolge verweist diese Haltung auf das moralische Scheitern, das in einer Linie christlicher Kosmologie mit dem Jüdischsein verbunden werde. In der Tat werden in der sztuka ludowa ausschließlich jüdische Figuren als bucklig dargestellt, Darstellungen nichtjüdischer polnischer Personen als bucklig sind mir nicht bekannt. Solchermaßen betrachtet, eröffnet die Skulptur mit ihrer Körperhaltung und Hagerkeit zwar Deutungen als Ausdruck erfahrenen Leids, aber auch als Repräsentation eines »Anderen«. Mehr Raum als die Erinnerung an die Verfolgung jüdischer Menschen erhält das Schicksal der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung. Wie die Hervorhebung Maksimilian Kolbes als polnischem Nationalheld konnte dieses als Teil nationaler Martyriologie gedeutet werden (Assmann 2011: 262).

Twórcy ludowi (Polnische Volkskünstler ) als E rinnerungsträger jüdischer K ultur Auch auf einer weiteren Ebene werden nichtjüdische Polen in den Vordergrund gerückt: Die twórcy ludowi als HerstellerInnen der Figuren nehmen eine zentrale Rolle in den Publikationen ein. Implizit werden sie, wie oben geschildert, als nichtjüdisch präsentiert und mit der katholischen Religion verbunden. Das lässt sich an den Publikationen ablesen. Dort werden die twórcy ludowi namentlich genannt sowie ihre Wohnorte in Polen angegeben (Czarnecka 1958; Grabowski 1967; Jackowski 1974b; Jackowski 1976a; Rajczak 1976; Fryś-Pietraszkowa 1988). In Kombination mit den

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zahlreichen christlich geprägten Motiven der sztuka ludowa unterstreichen die angegebenen Namen und Wohnorte die Verortung der KünstlerInnen als polnisch-katholisch, da polnische Leser Namen wie Adam Zegadło, Wacław Czerwiński, Wiktor Rysio, Zenon Adamski und Henryk Wierzchowski schon aufgrund der polnischen Schriftzeichen als polnisch deuten und alttestamentliche Vornamen in der Regel als katholisch verstehen. Das wird dadurch unterstützt, dass kein twórca ludowy als jüdisch eingeführt wird. Scheinbar selbstverständlich werden die twórcy ludowi als Repräsentanten des katholischen Polens präsentiert. Der Tatsache, dass die polnisch-katholischen twórcy ludowi das Thema jüdischer Figuren aufgriffen, ist daraufhin zentrale Aufmerksamkeit beigemessen worden. Denn wie erwähnt sehen die Veröffentlichungen in den Darstellungen jüdischer Figuren eine Dokumentation und Erinnerung an die jüdische Kultur der Vorkriegszeit (Goldberg-Mulkiewicz 1980: 225). Die twórcy ludowi werden zu TrägerInnen des dazu notwendigen, einzigartigen Erinnerungswissens über das jüdische Leben in Polen. Das birgt von vornherein ein Problem in sich. Goldberg-Mulkiewicz (1980: 225  f.) schreibt8: »Aber gerade deshalb, weil vornehmlich solche Leute Juden schnitzen, die die alten Zeiten erinnern, die auf ihre Erinnerungen und Erlebnisse zurückgreifen, kann man erwarten, dass das Thema der Juden in naher Zukunft verschwinden wird, nämlich dann, wenn Leute fehlen, die noch mit der jüdischen Bevölkerung direkten Kontakt hatten. […] Die Erinnerung an den Juden verschwindet.«

Das heißt, die Figuren von Juden werden als persönliche Erinnerungen von twórcy ludowi an die jüdische Bevölkerung der Vorkriegszeit gedeutet. Auf diese Weise werden ihnen Bedeutung und Authentizität verliehen. Der besondere Wert aber bedeutet zugleich eine drohende Krise. Die sieht die Ethnologin in dem hohen Alter der Vorkriegsgeneration der twórcy ludowi begründet: Mit den älteren twórcy ludowi, allen voran mit Adam Zegadło, stürben nämlich die Erinnerungen an die jüdische Kultur. Die jüdische Kultur wurde durch die twórcy ludowi als Wissens- und Kulturträger zum Teil der polnisch-katholischen Kultur. Umgekehrt werden jüdische Überlebende der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik als Erinnerungsträger nicht erwähnt. Das Ende gelebter jüdischer Kultur in Polen in der nationalsozialistischen Besatzungszeit wird durch die in den twórcy ludowi verorteten Wissensbestände von außen – nicht in direkter Würdigung des Judentums – in die Zeit der Volksrepublik Polen verschoben. Der Fokus wird von der Katastrophe des Holocaust abgelenkt hin zur Wertschätzung der vom Aussterben bedrohten älteren Generation der twórcy ludowi.

8 | Originaltext: »Ale właśnie dlatego, że postacie Żydów rzeźbią z reguły ludzie, którzy pamiętają dawne czasy i sięgają do swych wspomnień i przeżyć można sądzić, że temat Żydia zniknie już w niedalekiej przyszłości, kiedy zabraknie ludzi, którzy mieli jeszcze bezpośredni kontakt z ludnością żydowską. […] Pamięć Żyda zanika.« Alle folgenden deutschen Übersetzungen durch die Verfasserin.

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Der Hervorhebung des Erinnerungswissens der twórcy ludowi entspricht es, dass der twórca ludowy Adam Zegadło direkt zitiert wird. In dem oben erwähnten Interview in der Zeitschrift sztuka ludowa wird Adam Zegadło zum jüdischen Leben in der Vorkriegszeit im Allgemeinen befragt. Seine Aussagen im Interview beginnen wie folgt: »Vor dem Krieg waren viele Juden hier. Jetzt gibt es keine mehr, aber es gab welche. Und wir waren hier. […] Sie waren hier und plötzlich gibt es sie nicht mehr. In meinen jungen Jahren arbeitete ich in einer Fabrik, einer privaten Gießerei. Sie wurde von Juden geführt. […] Juden gründeten sie. Schließlich stellte sich der Bauer nicht selbst an; was hätte der für Geschäftsinteressen gehabt. Nur Juden waren Führungskräfte; der Jude war Vorarbeiter, Dreher, die besseren Fachkräfte. Die Leute vom Dorf wurden erst angelernt« (Pacewicz/Sabak 1989: 103). 9

Weitergehend werden Zegadło und seine Frau zum Zusammenleben mit und zu den wirtschaftlichen Tätigkeiten der »jüdischen« Bevölkerung befragt. Die jüdische Geschichte Polens wird solchermaßen aus einer Außenperspektive thematisiert. Das trennt die »jüdische« Bevölkerung von der »polnischen« Bevölkerung, die scheinbar selbstverständlich als nichtjüdisch und katholisch präsentiert wird. Gottesdienstbesuche werden als Teil des Alltags geschildert. Jüdische Personen stehen dem als »Andere« gegenüber. Gestellt wird dem Künstler unter anderem die Frage, inwiefern Juden Wechsel gegeben und daran verdienten hätten. Bezüglich der Nachfrage zu Beziehungen zur jüdischen Bevölkerung im Alltag schildert Zegadłos Frau, man sei auf jüdische Hochzeiten gegangen. Diese seien sehr schön gewesen, die Leute hätten sich weder betrunken noch geschlagen. »Juden« seien nicht auf polnische Hochzeiten gegangen, da sie sich vor dem rauen Umgang auf den dörflichen Hochzeiten gefürchtet hätten. Insgesamt wird die »jüdische« Bevölkerung im Unterschied zur »nichtjüdischen« als verhältnismäßig wohlhabend, gebildet, gesittet und unternehmerisch erfolgreich geschildert. Das Zusammenleben wird aufgrund der genannten unterschiedlichen wirtschaftlichen und religiösen Grundlagen als ungleich beschrieben, jedoch als weitestgehend friedlich. Erst im letzten Teil des Interviews wird Zegadło auf sein Kunstschaffen angesprochen. Dabei beruft er sich wiederum auf seine Erinnerungen und Lebenserfahrungen. Schließlich endet der Artikel mit der Frage, ob die Menschen die Juden gemocht hätten. Zegadłos Frau antwortet wie folgt:

9 | Originaltext: »Żydów tu było bardzo dużo przed wojną. Teraz już nie ma, ale było. I my byli. […] Byli i nagle ich nie ma. Ja za młodych lat pracowałem w fabryce, takiej prywatnej odlewni. Ona była przez Żydów prowadzona.  […] Żydzi obsadzali się. Przecież nie chłop obsadzał się; co on miał o interesie za pojęcie? […] Prowadzili tylko Żydzi; Żydem był majster, tokarze, tacy lepsi fachowcy. A ludzie ze wsiów to się dopiero przyuczali.«

306 | Uta Karrer »Kommt darauf an wer: manche mochten Juden, manche nicht. Ich mochte damals Juden. Ich schaue sogar gerne an, wie mein Mann diese Juden macht. Die gefallen mir sehr gut. Mein Mann macht schöne Juden« (Pacewicz/Sabak 1989: 104).10

Das Kunstschaffen Zegadłos setzt in der Logik seines Interviews die Vorkriegsgeschichte der jüdischen Bevölkerung Polens fort. Für die Menschen der Vorkriegszeit und die Skulpturen der sztuka ludowa der Volksrepublik Polen wird mit »Żydzi« die gleiche Bezeichnung verwendet. Zegadło ist in der Nachkriegszeit Hersteller von »Juden«, und zwar von »schönen Juden«. Die Aneignung des Jüdischen in der sztuka ludowa durch Zitate der twórcy ludowi über ihre Lebenserfahrungen setzt sich bis in die Gegenwart fort. In ihrem Ausstellungskatalog »Na szczęście to Żyd. Polskie figurki Żydów – Lucky Jews: Poland’s Jewish Figurines« zitiert Erika Lehrer ebenfalls Adam Zegadło zu seinen Darstellungen von »Juden«. Zu der abgebildeten Skulptur eines jüdischen Brautpaares zitiert Lehrer (2014b: 101) ihn in der Abbildungsbeschriftung: »Vierzehn Jahre arbeitete ich in einer jüdischen Fabrik. Da waren gute Leute, die sich um mich kümmerten und mir etwas beibrachten. Ich machte diese Figuren als Ausdruck des Respekts für die Erinnerung an sie […]. Ich ging auch in die Synagoge, um etwas über ihren Glauben zu erfahren. Mein Ziel ist es, die Spuren der alten Kultur nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.« 11

Auffällig ist die im Vergleich zu dem von Pacewicz und Sabak (1989) veröffentlichten Interview positivere Art und Weise, in der über die jüdische Kultur gesprochen wird. Lehrer (2014b) greift im Übrigen nicht auf das Interview von Pacewicz und Sabak (1989) zurück, sondern auf ein von dem ostdeutschen Sammler Hans-Joachim Schauß (1986: 198) publiziertes Interview mit Zegadło. Die Funktion der Zitate besteht jedoch übereinstimmend darin, die Darstellungen von Juden als Ausdruck der persönlichen Erinnerungen des twórca ludowy zu präsentieren. Die Deutung und Repräsentation des Jüdischen wird in Form einer Erinnerung an die Vergangenheit von außen zum Bestandteil der polnischen Kultur. Die Erinnerung und die Deutung jüdischer Kultur wird angeeignet und vereinnahmt. Zugleich bekommt die Darstellung des Jüdischen in der sztuka ludowa die Funktion eines inneren Anderen gegenüber dem »Polnischen«.

10 | »Zależy kto: jedni lubili, drudzy nie lubili. Ja tam lubiłam Żydów. I nawet lubię patrzeć jak mąż robi tych Żydów. Bardzo mi się podobają. Mąż pięknych Żydów robi!« 11 | »Czternaście lat pracowałem w żydowskiej fabryce. Byli tam dobrzy ludzie, którzy opiekowali się mną i uczyli. Wyrabiam te figurki w dowód szacunku dla pamięci po nich  […]. Poszedłem też do synagogi, żeby się dowiedzieć czegoś o ich wyznaniu. Moim celem jest nie pozwolić, żeby ślady po dawnej kulturze odeszły w zapomnienie.«

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Fazit Die Figuren von Juden in der sztuka ludowa wurden, wie sich zeigte, auf mehrere Arten und Weisen während der Volksrepublik Polen funktionalisiert und politisch vereinnahmt. Kritisch gelesen, wurden die Figuren von Juden während der Volksrepublik Polen zur Integration nach Innen instrumentalisiert. Denn in ihnen wurde das für die Selbstvergewisserung konstitutive Andere in der sztuka ludowa darstell- und abgrenzbar. Die Figuren von Juden untermauerten die Vorstellung von Zusammengehörigkeit und kultureller Gemeinsamkeit des nichtjüdischen »Polnischen«, indem diese Gruppe durch die Gegenüberstellung zum »Jüdischen« ikonografisch als »normal« dargestellt wurde. In der Repräsentation historischer »jüdischer Figuren« als konstitutive Andere wird ein defensives, selbstreferentielles Nationenkonzept deutlich. Es wurden nicht äußere Andere dargestellt wie Deutsche, Ukrainer oder Russen, sondern mit den Figuren von Juden innere, und noch dazu historisierte Andere. Die Figuren nehmen Bezug auf Vorstellungen chassidischer Juden in der polnischen Geschichte. Zudem wird immer wieder betont, dass die Herstellung der Figuren durch die twórcy ludowi Teil der historisch gewachsenen polnischen Kultur sei. Das »Andere« wird im Eigenen eingemeindet. In Konsequenz dessen eröffneten die Figuren von Juden als Kunstobjekte verschiedene, ambigue Deutungsweisen. Einerseits erinnerten sie an die jüdische Kultur der Vorkriegszeit. Andererseits fungierten sie als konstitutives »Anderes« für das kulturpolitisch als homogen propagierte »Polnische«. Dieser Funktion des konstitutiven Anderen gemäß handelt es sich um durch ikonografische Merkmale gekennzeichnete, entindividualisierte und sinnbildliche Darstellungen. Der Erinnerung an die jüdische Kultur der Vorkriegszeit dienten viele oftmals fröhliche Motive. Daneben stehen zahlenmäßig wenige und lange nur ausnahmsweise ausgestellte Szenen der Verfolgung. Zugleich wurden die Figuren als Ausdruck historisch tradierter polnischer Kultur gedeutet. Der historische Verlust der jüdischen Kultur in Polen wurde kompensiert durch ihre Vereinnahmung in die polnische Kultur, verkörpert durch die Figuren von Juden in der sztuka ludowa. Diese Vielschichtigkeit und Deutungsoffenheit ermöglichte die Verbreitung der Darstellungen auf internationaler Ebene und sogar deren außenpolitische Funktionalisierung. Sie bildet den Ausgangspunkt für die anhaltende Popularität des Verkaufsund Exportguts der Figuren von Juden aus Polen. In den letzten Jahrzehnten wandelten sich die Motive und Funktionen der Figuren. Die Funktion des konstitutiven Anderen tritt hinter die des Glücksbringers zurück. Als konstitutive Andere werden seit 1990 andere beziehungsweise mehrere Personengruppen präsentiert, die nun in anderen Medien wie dem Internet, den Zeitschriften und dem Fernsehen sichtbar gemacht werden können. Anknüpfungen an antisemitische Darstellungsformen bleiben dabei mehr oder weniger verborgen bestehen.

308 | Uta Karrer

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Angeeignete Fremde | 309

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Angeeignete Fremde | 311

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Autorinnen und Autoren

Austermann, Julia (MA) arbeitet seit 2015 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Mediengeschichte/Visuelle Kultur an der Universität Siegen. Sie promoviert zu Homophobie und queeren Interventionen in Polen. 2015 und 2016 war Julia Austermann Forschungsstipendiatin am Deutschen Historischen Institut Warschau. Balcerzak, Agnieszka (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dort promovierte sie 2018 zum Thema »Zwischen Kreuz und Regenbogen. Eine Ethnografie der polnischen Protestkultur nach 1989«. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Transformationsprozesse im östlichen Europa, soziale Bewegungen, Genderforschung, Alltags- und Erinnerungskultur sowie Visuelle Anthropologie. Decker, Anja (MA) ist Doktorandin am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag. Sie ist Mitbegründerin und Sprecherin der Kommission Kulturanalyse des Ländlichen der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde (dgv). Gietl, Sebastian (Dr. phil.) ist seit 2011 Wissenschaftlicher Assistent und Akademischer Rat am Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft im Institut für Information und Medien, Sprache und Kultur der Universität Regensburg. Nach dem Studium der Volkskunde, Geschichte und Kunstgeschichte in Regensburg leitete er 2004–2011 das Kultur- und Tourismusamt der Stadt Freising. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Stereotypen und Bildkulturen. In aktuellen Projekten untersucht er unter anderem den in der Bayerischen Verfassung formulierten Kulturauftrag und seine Aushandlung im kommunalen Alltag. Habit, Daniel (Dr. phil.) ist Akademischer Oberrat am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universi-

314 | Autorinnen und Autoren

tät München und Mitglied in der DFG-Forschergruppe »Urbane Ethiken«, in der er ein Forschungsprojekt zu den Transformationsprozessen in Bukarest bearbeitet und der Frage nachgeht, wie sich verschiedene Visionen des »guten Lebens« im urbanen Kontext seit den 1970er Jahren ausgestalten. Hörz, Peter F.  N. (Dr. phil.) lehrt Soziologie und Erziehungswissenschaft, Genderund Queer Studies an der Hochschule Esslingen/Neckar und Kulturanthropologie an der Karl-Franzens-Universität Graz und an der Universität Wien. Er studierte Empirische Kulturwissenschaft/Volkskunde und Erziehungswissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und an der Universität Wien und promovierte 2001 in Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: Jüdische Kultur, Arbeitskulturen, Mobilität/Verkehr und Geschlecht/Sexualität. Karrer, Uta (Dr. phil.) ist Kulturanthropologin und Leiterin des Vogtländischen Freilichtmuseums Landwüst/Eubabrunn. Als Stipendiatin des Georg R. Schroubek Fonds Östliches Europa promovierte sie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Universität Basel. In ihrer Dissertation analysiert sie die politische Funktionalisierung von Kunstobjekten der sztuka ludowa/polnischen naiven Kunst in der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland und diskutiert auf dieser Grundlage staatliche Selbstdarstellungen und Polenbilder. Lütz, Katharina (MA) ist Ethnologin und Kulturwissenschaftlerin. Sie hat an der Humboldt-Universität zu Berlin, an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/ Oder sowie in den USA und in Slowenien studiert. Gegenwärtig lebt und arbeitet sie in Berlin. Reith, Sara (MA) promoviert am Institut für Film-, Theater- und Empirische Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zu Remigration in die Russische Föderation. Sie beschäftigt sich aus kulturanthropologischer Perspektive mit der Wirkweise des staatlichen Programmes zur Rückkehr auf Akteure und Institutionen. Roth, Klaus (Prof. Dr. Dr. h. c.) ist emeritierter Professor für Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind neben der Erzählforschung die Kulturen der Länder des südöstlichen Europa, insbesondere die gegenseitigen Vorstellungen der Gesellschaften Südosteuropas und jener des westlichen Europa. Er ist Herausgeber der Zeitschrift Ethnologia Balkanica und Vorsitzender des Georg R. Schroubek Fonds Östliches Europa. Samida, Stefanie (PD Dr. phil.) hat Geschichte und Medienwissenschaft studiert und an der Universität Tübingen promoviert über »Die ›archäologische Entdeckung‹ als Medienereignis. Quellenkritisch-vergleichende Studien«. Sie ist Nachwuchsgruppenleiterin im Cluster »Kulturelles Erbe« der Heidelberg School of Education sowie Privatdozentin für das Fach Populäre Kulturen an der Universität Zürich.

Autorinnen und Autoren | 315

Schuchardt, Katharina (Dr. phil.) hat Europäische Ethnologie, Klassische Archäologie und Volkswirtschaftslehre in Kiel und Valencia studiert. Als Stipendiatin des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa promovierte sie an der Universität Kiel zu Identitätsprozessen bei der heutigen deutschen Minderheit in Oppeln, Polen. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Minderheiten, Grenzräume, Migrationsforschung und Erinnerungs- und Gedächtnisforschung. Świder, Malgorzata (Prof. Dr.) ist Professorin für Neueste Geschichte an der Pädagogischen Universität Krakau. Ihre Forschungsschwerpunkte sind deutsch-polnische Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Geschichte Polens sowie der Allgemeinen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Trofimov, Andrey (MA) promoviert an der Philipps-Universität Marburg am Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft zum Thema »Diaspora zwischen Staaten und Kulturen: Identitätskonstruktionen russischsprachiger Migranten in der BRD«. Die in diesem Artikel vorgestellte Forschung wurde dank einem halbjährigen Forschungsstipendium des Georg R. Schroubek Fonds Östliches Europa durchführt. Woniak, Katarzyna (Dr. phil.) ist Historikerin und Ethnologin. Sie studierte Geschichte an der Universität Posen sowie Neuere und Neueste Geschichte, Mittelalterliche Geschichte und Europäische Ethnologie/Volkskunde an der Universität Augsburg. 2012 wurde sie im Rahmen einer binationalen Promotion zwischen der Universität Augsburg und der Universität Posen mit der Dissertation »Von Verdrängen bis Wiederentdecken. Die Erinnerungskulturen in den west- und nordpolnischen Kleinstädten Labes und Flatow seit 1945. Eine vergleichende Studie« promoviert. Zurzeit forscht sie zum Thema »Lebenswelten polnischer Zwangsarbeiter in Berlin 1939–1945«.

Kulturwissenschaft Johannes F.M. Schick, Mario Schmidt, Ulrich van Loyen, Martin Zillinger (Hg.)

Homo Faber Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2018 2018, 224 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3917-9 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3917-3

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur + Kritik (Jg. 7, 2/2018) 2018, 176 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4455-5 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4455-9

María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3

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Kulturwissenschaft Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Rainer Guldin, Gustavo Bernardo

Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3

Stephan Günzel

Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung 2017, 158 S., kart., zahlr. Abb. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3972-8 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3972-2

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