Russisch-jüdische Gegenwart in Deutschland: Interdisziplinäre Perspektiven auf eine Diaspora im Wandel 9783666300752

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Russisch-jüdische Gegenwart in Deutschland: Interdisziplinäre Perspektiven auf eine Diaspora im Wandel
 9783666300752

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Schriften des Jüdischen Museums Berlin Band 3

Russisch-jüdische Gegenwart in Deutschland Interdisziplinäre Perspektiven auf eine Diaspora im Wandel

Herausgegeben von Karen Körber im Auftrag des Jüdischen Museums Berlin

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 10 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-30075-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. Mit Unterstützung der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Stiftung Jüdisches Museum Berlin e. V. Umschlagabbildung: Julia Bernstein: »Die Ankunft auf einem neuen Planeten«, Jüdisches Museum Berlin © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Dieses Werk ist als Open-Access-Publikation im Sinne der Creative-CommonsLizenz BY-NC-ND International 4.0 (»Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen«) unter dem DOI 10.13109/9783666300752 abzurufen. Um eine Kopie dieser Lizenz zu sehen, besuchen Sie http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/. Jede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Karen Körber Zäsur, Wandel oder Neubeginn? Russischsprachige Juden in Deutschland zwischen Recht, Repräsentation und Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Melanie Eulitz Die jüdisch-liberale Bewegung in Deutschland nach 1990. Eine Gemeindeanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Alina Gromova Jüdische Vergemeinschaftung als Praxis der Distinktionen. Auf den Spuren der kulturellen Praktiken und sozialen Positionierungen in der Migrationsgesellschaft . . . . . . . . . . 60 Victoria Hegner »I am what I am …« Identitätskonzepte junger russischsprachiger Juden in Chicago . . . . . . 82 Darja Klingenberg Komische Leute. Selbstverständnisse und Erfahrungen von Rassismus und Antisemitismus russisch-jüdischer Migrant_innen im scherzhaften Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Julia Bernstein »Dichte und Dichtung der neuen Lebenswelten: Das Bolschoi-Theater in der Aldi-Tüte« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Dmitrij Belkin Wir könnten Avantgarde sein. Die Zukunft des Patchwork-Judentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Einleitung

»Im Sommer 1990 breitete sich in Moskau ein Gerücht aus: Honecker nimmt Juden aus der Sowjetunion auf, als eine Art Wiedergutmachung dafür, dass die DDR sich nie an den deutschen Zahlungen für Israel beteiligte. […] Es sprach sich schnell herum, alle wussten Bescheid, außer Honecker vielleicht.«1

Mit diesem Zitat fasst der russisch-jüdische Schriftsteller Wladimir Kaminer lakonisch den Beginn einer Migrationsbewegung zusammen, in deren Verlauf sich das jüdische Leben in Deutschland von Grund auf verändert hat. Tatsächlich war es nicht der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker, sondern im Gegenteil, die letzte Volkskammerregierung der DDR , die sich angesichts eines sichtbaren Antisemitismus in der Sowjetunion im Sommer 1990 dafür aussprach, ausreisewillige Juden aufzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits die ersten jüdischen Migranten mit einem Touristenvisum nach Ostberlin eingereist und im Laufe des Jahres sollte die Zahl der Einreisenden stetig anwachsen. Im Januar 1991 beschloss schließlich die erste gesamtdeutsche Ministerpräsidentenkonferenz ein Verfahren, das künftig die Aufnahme von sowjetischen Juden als »jüdische Kontingentflüchtlinge« in das vereinigte Deutschland ermöglichen sollte. Seitdem sind über 200.000 Jüdinnen und Juden nebst ihren nichtjüdischen Familienangehörigen aus der Sow­ jetunion und den postsowjetischen Staaten nach Deutschland eingewandert und haben damit eine Revitalisierung jüdischen Lebens in Gang gesetzt, die historisch nicht vorauszusehen war. Über den Wandel der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ist seit den 1990er Jahren viel geschrieben worden. Unter denjenigen, die diesen Prozess als Beobachter kommentieren, haben sich, grob gesprochen, zwei Fraktionen herausgebildet: Die eine Seite betrachtet die Entwicklung der letzten 25 Jahre als eine Erfolgsgeschichte. Dank der Einwanderung konnte sich die kleine Zahl der stark überalterten jüdischen Gemeinden in Ost- und in Westdeutschland seit Ende der 1980er Jahre vervielfachen. Heute existieren nicht nur über hundert jüdische Gemeinden, sondern diese haben sich auch in ihrem religiösen Selbstverständnis ausdifferenziert. Es gibt wieder ein plurales religiöses Judentum, das neben den dominierenden gemäßigt orthodoxen Gemeinden sowohl über liberale wie ultraorthodoxe Gemeinden verfügt, deren jeweilige Rabbiner_innen mittlerweile wieder in Deutschland ausgebildet 1 Wladimir Kaminer, Russendisko, München 2000, S. 9.

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Einleitung

werden. Daneben hat sich ein breit gefächertes Bildungsangebot entwickelt, das auf verschiedene Weise kulturell und religiös verstandenes Judentum vermittelt. Das gegenwärtige jüdische Leben präsentiert sich jedoch nicht nur durch religiöse Vielfalt, sondern auch durch eine neue kulturelle Pluralität, für die symbolisch vor allem Berlin als urbanes Zentrum steht, in dem bundesweit die größte Zahl an russischsprachigen Juden lebt, gemeinsam mit alteingesessenen und amerikanischen Juden sowie einer wachsenden Zahl von eingewanderten Israelis. Judentum wird hier als urbane, kosmopolitische Kultur verstanden, die die Einzelnen individuell interpretieren und praktizieren; ein Lifestyle, der kulinarisch koschere Akzente in einer globalisierten Kultur setzt und in seiner Offenheit anschlussfähig ist für alle möglichen Formen und Verständnisse von Jüdischsein. Skeptische Stimmen betonen dagegen zuerst einmal, dass die Einwanderung der russischsprachigen Juden eine Zäsur in der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte markiert, aber noch nicht auszumachen ist, ob sich mit diesem Vorgang tatsächlich eine Erneuerung jüdischen Lebens verbindet. Schließlich handelt es sich bei den Eingewanderten mehrheitlich um eine säkularisierte, der jüdischen Religion und Tradition entfremdete Gruppe, die sich nur in Maßen darum bemüht, sich in Deutschland dem Judentum zuzuwenden. Vor diesem Hintergrund droht für die große Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft der »Faden der Tradition« zu zerreißen. Betrachtet man zudem die Mitgliedschaft in einer jüdischen Gemeinde als einen Marker für den Grad an Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft, so lässt sich beobachten, dass die jüdischen Gemeinden durch die Migration in den ersten Jahren zwar enorm gewachsen sind, mittlerweile jedoch wieder mit Überalterung und rückläufigen Mitgliederzahlen zu kämpfen haben, insbesondere in der Gruppe der jungen Erwachsenen. So besagen Schätzungen, dass von den circa 200.000 in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden nur die Hälfte einer jüdischen Gemeinde angehört. Beiden Erzählungen liegen Vorstellungen darüber zugrunde, wie eine jüdische Gemeinschaft auszusehen hat. Während für die einen die beschriebene Pluralisierung selbst das positive Merkmal gegenwärtiger jüdischer Existenz darstellt, treibt die anderen die Sorge um, dass Pluralisierung allein nicht hinreicht, wenn sie nicht rückgebunden bleibt an kulturell-religiöses Wissen, sowie entsprechende Lebensformen und Praxen, die zur Erneuerung des Judentums in Deutschland beitragen. Der vorliegende Band liegt gewissermaßen quer zu den beiden oben skizzierten Positionen. Er geht zurück auf ein Kolloquium, das ich in meiner Zeit als Fellow am Jüdischen Museum Berlin (2012–2014) durchgeführt habe. Im Mittelpunkt der Vortragsreihe stand das Anliegen, Forschungen zur jüdischen Gegenwart mit Fragen und Perspektiven zu verbinden, die sich mit dem Wandel Deutschlands hin zu einer modernen Einwanderungsgesell-

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schaft befassen. Den Ausgangspunkt bilden hierbei also jene Prozesse einer ethnischen, kulturellen und religiösen Pluralisierung, die in Deutschland wie in den europäischen Nachbarstaaten dazu geführt haben, dass das Konzept der Nation  – verstanden als eine »imaginierte Gemeinschaft«2, die eine gemeinsame ethnisch-nationale Herkunft und gemeinsame Glaubensbestände teilt  – nach innen erodiert. Allerdings endet die Herausforderung moderner Einwanderungsgesellschaften, nämlich anzuerkennen, dass sie ohne kulturelles Zentrum und ohne hegemoniale Mehrheiten existieren müssen, keineswegs an den vermeintlichen Mauern der jeweiligen Gemeinschaften, die dahinter die »Reifizierung ihrer vorausgesetzten Gruppenidentitäten«3 betreiben. Vielmehr hat das soziale Faktum der Vielfältigkeit Folgen für die nationalstaatliche Verfasstheit unserer Gegenwartsgesellschaften wie auch für das Verständnis und den Zusammenhalt der darin existierenden diasporischen Gemeinschaften und damit auch für die jüdische Diaspora selbst. Im Zuge von transnationalen Mobilitäten und einer wachsenden Individualisierung ist die jüdische Gemeinschaft in Deutschland mit der Heterogenität von Zugehörigkeitskonstruktionen konfrontiert, die ihre Grenzen fortwährend infrage stellt. Das gilt beispielsweise für die Konkurrenz der Narrative sowie für die divergierenden kulturellen und religiösen Selbstentwürfe, in denen innerhalb der jüdischen Diaspora unterschiedliche Erinnerungs- und Erfahrungsräume aufeinandertreffen, die aus den jeweiligen Herkunftsgesellschaften resultieren. Es gilt aber auch für die Diversifizierung von Lebensstilen, für Patchwork-Identitäten und das Entstehen von Jewish Spaces, die allesamt dazu beitragen, gegenwärtiges jüdisches Leben kreativ zu gestalten, sich zugleich aber jeglicher Vorstellung einer jüdischen Gemeinschaft verweigern. Und es gilt nicht zuletzt für eine Entwicklung, die in den letzten Jahren – gerade auch in Deutschland – durch eine sichtbare religiöse Plura­ lisierung gekennzeichnet ist, zu deren zentralen Merkmalen es jedoch gehört, dass die Zahl derjenigen Jüdinnen und Juden sinkt, die einer organisierten jüdischen Gemeinschaft angehören und in der ein säkulares Verständnis von Jüdischsein beständig an Bedeutung gewinnt. Diese Schilderungen werfen eine Reihe von Fragen auf, denen sich die hier versammelten Beiträge aus der Perspektive soziologischer und kulturwissenschaftlicher Forschungen exemplarisch annähern. Gerüstet mit dem Repertoire qualitativer Forschungsmethoden haben sich die Autor_innen »ins Feld« begeben und gewähren uns Einblicke in das gegenwärtige jüdische Leben in Deutschland. Sie berichten über kulturelle Praktiken und neue Formen von 2 Benedikt Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983. 3 Sheyla Benhabib, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt am Main 1999, S. 44.

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Vergemeinschaftung und schildern Herausforderungen für ein religiöses Judentum. Sie lassen uns teilhaben an den ambivalenten, widersprüchlichen und oftmals schwierigen Prozessen einer Migration, die sich mit schmerzhaften Erfahrungen von Entwertung, Diskriminierung und Antisemitismus in der deutschen Aufnahmegesellschaft verbinden. Sie zeigen individuelle und kollektive Entwürfe jüdischer Zugehörigkeit innerhalb und außerhalb jüdischer Gemeinden und, damit verbunden, die Konflikte und Spannungen einer diasporischen Gemeinschaft, deren Grenzen sich unter den Bedingungen von Migration und Mobilität fortwährend verschieben. Karen Körber widmet sich in ihrem Beitrag der kurzen Geschichte der Migration der russischsprachigen Juden bis in die Gegenwart. Sie rekonstruiert die Fallstricke der deutschen Politik, die das Recht auf die russischjüdische Migration mit einer besonderen historischen Verantwortung gegenüber Juden begründet, die sich jedoch zugleich der Tatsache verweigert, ein Einwanderungsland zu sein. Die Autorin analysiert, welche Konflikte und Dilemmata daraus für die jüdischen Gemeinden entstehen und wie durch die Einwanderung der russischsprachigen Juden die öffentlich-symbolische Rolle der jüdischen Gemeinden in eine Krise gerät. Anhand einer bundesweit durchgeführten Studie mit jungen russischsprachigen Juden untersucht Körber deren individualisierte Lebensläufe, die Heterogenität jüdischer und anderer Zugehörigkeiten sowie die Pluralisierung von Narrativen. So zeigt sie, dass diese Prozesse neue Formen von Vergemeinschaftungen jenseits der etablierten Strukturen der jüdischen Gemeinden hervorbringen, die für die jüdische Diaspora in Deutschland künftig maßgeblich sind. Melanie Eulitz präsentiert in ihrem Beitrag ein Beispiel für die gegen­ wärtige religiöse Pluralisierung jüdischen Lebens in Deutschland, die nicht erst mit der Migration der russischsprachigen Juden beginnt. Auf der Grundlage einer Feldforschung analysiert sie die Gründung und Entwicklung einer liberalen jüdischen Gemeinde in einer westdeutschen Stadt in den 1990er Jahren. Sie rekonstruiert die Konflikte, die schließlich zur Spaltung zwischen der gemäßigt orthodoxen Gemeinde und der neuen liberalen Gemeinde führen, schildert die zentralen Akteur_innen und ihre jeweiligen Beweggründe sowie deren Positionierungen im lokalen Raum. Eulitz skizziert das Selbstverständnis der Gemeinde, insbesondere im Hinblick auf die Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter und entwirft das Porträt einer Gemeinde, die an die zerstörte Geschichte des liberalen Judentums in Deutschland anknüpft, welches sich nun schrittweise wieder zu etablieren beginnt. Während Melanie Eulitz zeigt, welche neuen Formen eines religiös verstandenen Judentums innerhalb der jüdischen Gemeinden entstehen, wendet sich Alina Gromova solchen Prozessen der Vergemeinschaftung zu, die außerhalb der institutionalisierten Gemeinden zu beobachten sind und insbesondere für die junge Generation der eingewanderten russischsprachigen

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Juden an Bedeutung gewinnen. Die Autorin hat für ihre ethnografische Untersuchung die Stadt Berlin ausgewählt, jenen urbanen Raum also, der durch eine besondere Dichte aufeinandertreffender Gemeinschaften gekennzeichnet ist und in der die größte Zahl der eingewanderten russischsprachigen Juden heute lebt. Gromova fragt nun danach, wie die jungen Erwachsenen in den Begegnungen, Konflikten und Abgrenzungen mit anderen ethnischen und religiösen Gruppierungen Selbstbilder produzieren und wie sie darin die Kategorie einer jüdischen Zugehörigkeit situativ verschieden konstruieren. Gromova begreift die beobachteten Formen von Vergemeinschaftung als eine Praxis von Distinktionen, mit denen die jungen russischsprachigen Jüdinnen und Juden symbolische Rangordnungen aushandeln, die auch Auskunft über ihre sozialen Positionierungen in der deutschen Aufnahmegesellschaft geben. Ähnlich wie Alina Gromova befasst sich auch Viktoria Hegner mit der Gruppe der jungen russischsprachigen Juden in einem besonderen urbanen Raum. Allerdings verlassen wir mit ihr Deutschland und folgen ihr in die USA, wo sie sich in Chicago, inspiriert durch die stadtsoziologischen Studien der Chicago School, den dort lebenden russisch-jüdischen Migrant_innen ethnografisch nähert. Sie geht dort der Frage nach, in welcher Weise sich der spezifische nationale Kontext der US -amerikanischen Gesellschaft in den Re­definitionen jüdischer Zugehörigkeit der Migrant_innen niederschlägt. Hegner schildert, wie ihre mehrheitlich säkular geprägten Gesprächspartner_ innen heterogene, bisweilen widersprüchliche Vorstellungen vom eigenen Jüdischsein entwickeln und welche Bedeutung darin den Kategorien von »Religion«, »Natio­nalität« und »russischer Kultur« zukommt. Ihr Beitrag verweist auf eine Praxis der Migrant_innen, bei der die jüdische Identität wesentlich der Distinktion gegenüber einer Aufnahmegesellschaft dient, um deren Anerkennung die Eingewanderten zugleich bemüht sind. Auch Darja Klingenberg richtet ihren konversationsanalytisch geschulten Blick auf das säkular geprägte russisch-jüdische Milieu in Deutschland und fragt in ihrem Beitrag nach der Bedeutung von Witzen und Anekdoten – russisch: Bajkas – im Prozess der Migration. Klingenberg geht von der These aus, dass das Komische einen wichtigen Rahmen für die Verhandlung von Grenzund Übergangserfahrungen und für Prozesse der Selbstverständigung in Minderheitenpositionen bietet. Eingebettet in eine Theorie des Komischen, analysiert sie Alltagskommunikationen einer Gruppe von postsowjetischen Jüdinnen und Juden und deren nicht-jüdischen Partner_innen, in denen das eigene säkulare Jüdischsein sowie Erfahrungen von Rassismus und Antisemitismus in der deutschen Aufnahmegesellschaft verhandelt werden. Ihre Untersuchung zeigt, dass es den Gesprächsteilnehmer_innen im Medium scherzhafter Anspielungen und Überzeichnungen gelingt, oftmals schwierige, bisweilen widersprüchliche und schmerzhafte Erfahrungen alltäglicher Diskriminierung zu Gehör zu bringen und diesbezüglich einen »Zwischen-

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raum« zu etablieren, der Positionierungen jenseits der mehrheitsgesellschaftlichen Zuschreibungen ermöglicht. Julia Bernstein nähert sich auf eine andere Weise ebenfalls der Frage, mit welchen Mitteln der Darstellung eine angemessene Form der Repräsentation migrantischer Erfahrungswelten erfolgen kann, in der Raum für Wahrnehmungen und Artikulationsformen bleibt, die in der Gattung des wissenschaftlichen Textes unsichtbar (gemacht) werden. In einer eigenen »Collage« aus wissenschaftlichem Text, Notizen aus ihren Feldforschungstagebüchern und eigenen künstlerischen Arbeiten, den »Migrationscollagen«, lässt sie uns an den oftmals als widersprüchlich empfundenen und verstörenden Erfahrungen der ersten Generation der russisch-jüdischen Migrant_innen teil­ haben. In einem jahrelangen Prozess des »Ankommens« sind diese mit den Um- und vor allem Entwertungen ihrer Biografien, ihrer beruflichen Leistungen und ihrer kulturellen Deutungsmuster konfrontiert, und Bernstein versucht, mit ihrer Arbeit diesen Migrant_innen ein Stück ihrer Würde zurückzugeben. Dmitrij Belkin beschließt den Band mit einem Essay, der einige der zuvor angesprochenen Themen noch einmal aufnimmt, um sie aus seiner Perspektive zuzuspitzen. Sein Text spiegelt den Versuch, vor dem Hintergrund derjenigen Brüche, Neuanfänge und Konflikte, die für das jüdische Leben in Deutschland seit nunmehr 25 Jahren kennzeichnend sind, zu fragen, wie sich diese jüdische Gemeinschaft gegenwärtig angemessen beschreiben lässt und welche neuen Möglichkeiten und Formen der politischen, religiösen und kulturellen Artikulation ihr eigentlich zur Verfügung stehen. Belkin plädiert nachdrücklich dafür, die vielfältigen Entwürfe jüdischer Lebensformen als selbstbewussten Ausdruck eines Patchwork-Judentums zu begreifen, das aus einem solchen Verständnis heraus aktiv an der Gestaltung der Zivil­ gesellschaft mitwirkt und seine Stärke gerade in der Öffnung der Gemeinschaft nach außen begreifen sollte, anstatt erneut eine Politik der Abgrenzung zu praktizieren. Der Weg vom gesprochenen Wort zum geschriebenen Text ist lang, gelegentlich umwegig und streckenweise holpriger als anfangs gedacht. Gut also, wenn ein solcher Weg nicht alleine bestritten werden muss. Dem Jüdischen Museum Berlin danke ich für Möglichkeit, die vorliegenden Beiträge in der Reihe Schriften des Jüdischen Museums Berlin zu publizieren. Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle Marie Naumann, Christine Marth und Antje Korsmeier für ihre heiter-professionelle Unterstützung, ein gutes Zeit­ management und ein sorgfältig-kluges Lektorat. Karen Körber

Karen Körber

Zäsur, Wandel oder Neubeginn? Russischsprachige Juden in Deutschland zwischen Recht, Repräsentation und Realität

Der Fall der Mauer 1989 leitet nicht nur das Ende der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte und die Wiedervereinigung ein. Mit diesen Ereignissen nimmt auch ein Prozess seinen Anfang, der ein neues Kapitel in der deutschjüdischen Geschichte aufschlägt, nämlich die Einwanderung von russischsprachigen Juden nach Deutschland. Ausgelöst wird diese Migration durch die Initiative von Angehörigen der Bürgerrechtsorganisationen in der DDR , die als Mitglieder des »Runden Tischs« angesichts der Medienberichte über antisemitische Übergriffe in der Sowjetunion im Januar 1990 die Aufnahme sowjetischer Juden fordern.1 Sechs Monate später beschließt die letzte Volkskammerregierung der DDR in einer gemeinsamen Erklärung: »[…] ausländischen jüdischen Bürgern, denen Verfolgung und Diskriminierung droht, aus humanitären Gründen Aufenthalt«2 zu gewähren. Die ersten jüdischen Emigranten reisen mit einem Touristenvisum nach Ostberlin und sind damit Vorboten eines Vorgangs, der historisch nicht vorauszusehen war. Der Jüdische Weltkongress hatte 1948 gefordert, dass sich nach dem nationalsozialistischen Massenmord an den europäischen Juden nie wieder jüdisches Leben in Deutschland etablieren sollte. Zwar hatten sich entgegen dieser Devise in beiden deutschen Staaten frühzeitig wieder jüdische Gemeinden gegründet, in denen deutsch-jüdische Überlebende, Rückkehrer aus dem Exil und diejenigen, die den Holocaust in Osteuropa überlebt hatten – die sogenannten DPs (Displaced Persons)  – zusammentrafen. Zudem sorgte der staatliche Antisemitismus in den osteuropäischen Nachbarländern für eine zahlenmäßig kleine, aber dauerhafte Zuwanderung nach Westdeutschland. Gleichwohl saß die jüdische Minorität jahrzehntelang auf »gepackten Koffern«. Dieses Selbstverständnis sollte sich mit dem Heranwachsen der zweiten Generation von Juden in Deutschland ändern, wobei Ende der 1980er Jahre die stark überalterten jüdischen Gemeinden in Westdeutschland noch 1 Irene Runge, Vom Kommen und Bleiben. Osteuropäische jüdische Einwanderer in Berlin, Berlin 1992. 2 Neues Deutschland, 3.7.1990.

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rund 30.000 Mitglieder zählten, in der DDR waren es etwa 380 Gemeindemitglieder. Ohne die Einwanderung der russischsprachigen Juden wäre die jüdische Gemeinschaft in den kommenden Jahren kaum noch überlebensfähig gewesen.3 Mittlerweile lebt in Deutschland die zweitgrößte jüdische Gemeinschaft in Europa. Seit 1991 sind rund 220.000 Juden und ihre nichtjüdischen Familienangehörigen als sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge aus der ehema­ ligen Sowjetunion nach Deutschland emigriert.4 Im Verlauf der 1990er Jahre hat diese Einwanderung dazu geführt, dass die Zahl der jüdischen Gemeinden in Deutschland auf 108 angewachsen ist. Rund 101.000 Personen gehören einer jüdischen Gemeinde an, davon sind circa 98 Prozent russischsprachige Juden.5 Laut Schätzungen verbleibt eine etwa ebenso große Zahl außerhalb der Gemeinden. Rechnet man die kleine, aber beständige Zahl amerikanischer Juden und die seit den 2000er Jahren wachsende Zahl junger israelischer Juden dazu, die sich in Berlin niedergelassen haben, so lässt sich sagen, dass die demografische Zusammensetzung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland sich von Grund auf geändert hat. Doch es sind nicht allein die Zahlen, die einen Wandel dokumentieren. Die jüdische Gemeinschaft ist in den letzten zwei Jahrzehnten nicht nur größer, sondern auch sichtbarer geworden und hat sich kulturell und religiös plu­ ralisiert. Lässt sich also von einer Revitalisierung jüdischen Lebens sprechen, so verbinden sich mit diesem Prozess auch zahlreiche Konflikte, in denen es vor allem um das künftige Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland geht. Der Historiker Dan Diner hat in diesem Zusammenhang prognostiziert, dass mit der Einwanderung der russischsprachigen Juden »[…] die Geschichte der bundesrepublikanischen Juden an ihr Ende gelangt« ist.6 Er verweist damit auf eine Zäsur, die insbesondere in den jüdischen Gemeinden zum Gegenstand von Konflikten zwischen alteingesessenen und neuen Mitgliedern geworden ist, nämlich die Differenz der Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Diese divergierenden Holocaust­erinnerungen sind nun nicht allein Bezugspunkt innerjüdischer Ausein­andersetzungen, in ihnen manifestiert sich auch ein verändertes Verhältnis zu Deutschland, das nicht ohne Folgen für die deutsch-jüdischen Beziehungen bleibt.

3 Anthony Kauders, Unmögliche Heimat. Eine deutsch-jüdische Gesichte der Bundesrepublik, München 2007, S. 197. 4 http://www.zentralratdjuden.de/de/topic/62.html. 5 http://www.zentralratdjuden.de/de/topic/5.mitglieder.html. 6 Dan Diner, Deutsch-jüdisch-russische Paradoxien oder Versuch eines Kommentars aus Sicht des Historikers, in: Dmitrij Belkin/Raphael Gross (Hg.), Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik, Berlin 2010, S. 18.

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Doch nicht nur die jüdische Gemeinschaft ist eine andere geworden, sondern auch das Aufnahmeland Deutschland. Im westlichen Nachkriegsdeutschland waren die deutsch-jüdischen Beziehungen insbesondere durch die politisch-symbolische Funktion der jüdischen Minderheit gekennzeichnet, durch ihre Anwesenheit die Demokratisierung des deutschen Staates zu legitimieren.7 Nach der Wiedervereinigung Deutschlands zeichnet sich nun ein umkämpfter Prozess ab, in dessen Zentrum die schrittweise politischrechtliche Anerkennung steht, eine moderne Einwanderungsgesellschaft zu sein. Die gesellschaftliche Erfahrung einer ethnischen, kulturellen und religiösen Pluralisierung hat in jüngster Zeit auch Fragen in Bezug auf ein nationales Selbstverständnis aufgeworfen, das aus der historischen Verantwortung für den Holocaust erwachsen ist und erinnerungspolitisch zwei Kollektive konstruiert: Juden als Opfer und Deutsche als Täter. Diese Konstruktion einer Erinnerungsgemeinschaft8, so der Einwand von Kritiker_innen, folgt nicht nur einer binären Logik, sondern trägt in der Konsequenz ethnisierende Züge, weil die Erfahrungen und Erinnerungen all jener ausgeschlossen bleiben, die im Zuge von Migrationen nach Deutschland gekommen sind und im nationalen Gedenken keinen Platz haben.9 Wie ich im Folgenden am Beispiel der eingewanderten russischsprachigen Jüdinnen und Juden zeigen möchte, hält diese binäre Logik auch für das Verständnis der jüdischen Diaspora in Deutschland etliche Fallstricke bereit. Zum einen läuft das symbolische Bild der Opfergemeinschaft Gefahr, in Konflikt mit jenen heterogenen Entwürfen jüdischen Lebens zu geraten, die für die Gegenwart kennzeichnend sind. Zum anderen gerät es zunehmend in Widerspruch zu den vielfältigen Narrativen, die im Zuge der russisch-jüdischen Migration an Bedeutung gewonnen haben und in deren Folge sich das Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland verändert hat. In einem ersten Schritt möchte ich das Aufnahmeverfahren für die russischsprachigen Juden erläutern. Im Mittelpunkt steht somit das Aufnahmeland Deutschland, dessen Migrationsregime durch zwei Elemente gekennzeichnet war, die für die jüdischen Immigranten folgenreiche Effekte produziert haben: erstens das jahrzehntelange Beharren Deutschlands, kein Einwanderungsland zu sein, und zweitens das nationale Selbstverständnis einer Erinnerungsgemeinschaft, die historische Verantwortung für die Vergangenheit trägt. In einem zweiten Schritt zeige ich anhand der

7 Vgl. Kauders 2007. 8 Hanno Loewy, Ein kurzer, verschämter, paradoxer Augenblick des Einverständnisses. Deutsche Identitäten vor und nach dem Holocaust, in: Frankfurter Rundschau, 7.10.2000. 9 Vgl. Viola B. Georgi, Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg 2003; Jan Motte/Rainer Ohliger (Hg.), Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik, Essen 2004.

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zentralen Konflikte und Dilemmata in den jüdischen Gemeinden auf, dass durch die Einwanderung der russischsprachigen Juden die öffentlich-symbolische Rolle der jüdischen Gemeinschaft in eine Krise geraten ist. Abschließend soll mit Blick auf die zweite Generation der eingewanderten Juden das Augenmerk auf Prozesse der Pluralisierung und Transnationalisierung gelegt werden, die für die jüdische Diaspora in Deutschland künftig maß­ geblich sind.

Aufnahmeland Deutschland: Das Nicht-Einwanderungsland nimmt jüdische Migranten auf Im Januar 1991 beschließt die erste gesamtdeutsche Ministerpräsidenten­ konferenz das Aufnahmeverfahren für »jüdische Kontingentflüchtlinge«.10 In den Verhandlungen darüber, wie die Einwanderung der russischsprachigen Juden geregelt werden könnte, treffen zwei Kennzeichen der deutschen Politik aufeinander, die fortan miteinander in Konflikt geraten. Auf der einen Seite beharrt das vereinigte Deutschland weiterhin darauf, kein Einwanderungsland zu sein, obgleich seit den 1950er Jahren im Zuge von Arbeitsmigrationen Menschen nach West- und Ostdeutschland eingewandert sind und sich dort niedergelassen haben. Auf der anderen Seite setzt sich auch nach der deutschdeutschen Vereinigung fort, was der Journalist Jörg Lau die »Gedenkphase« Deutschlands nennt. Dieser Ausdruck meint jene Reihe von öffentlichen und politischen Ereignissen und Manifestationen, die  – beginnend mit der berühmten Rede von Richard von Weizsäcker am 8.  Mai 1985 und endend mit der Eröffnung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas im Jahr 2005 – hauptsächlich durch die Debatten über das richtige Erinnern an die deutschen Verbrechen, an die Täter und deren Opfer definiert war.11 Der Literatur- und Medienwissenschaftler Hanno Loewy hat bereits in den Debatten um eben jenes Mahnmal auf das unauflösliche Dilemma eines nationalen Selbstverständnisses verwiesen, das die Notwendigkeit anerkennt, das »Unaussprechliche« zu erinnern, und zugleich mit der »Unmöglichkeit« konfrontiert ist, »nationale Identität auf dieses Geschehen zu gründen, ohne das Projekt einer ethnischen Nation« fortzusetzen.12 Was Loewy hier als Konflikt beschreibt, nämlich jenen Wandel von einem nationalen Selbst­ 10 Paul A. Harris, Russischsprachige Juden in Deutschland, in: Klaus J. Bade (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 37–38. 11 Jörg Lau, Gründe für ein jüdisches Museum, in: JMB Journal, Berlin 2011, S. 20–23. 12 Loewy 2000.

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verständnis als Erinnerungsgemeinschaft hin zu einer politisch zu gestaltenden Gegenwart einer modernen Einwanderungsgesellschaft, zeigt sich paradoxerweise bei einem Rückblick auf jene medialen Bilder und öffentlichpolitischen Diskurse, die sich in den 1990er Jahren über die russisch-jüdische Migration durchgesetzt haben. In der Rechtskonstruktion des jüdischen Kontingentflüchtlings kommen noch einmal jene Fallstricke einer deutschen Politik zur Geltung, die im Gestus einer moralisch begründeten Verantwortungsgemeinschaft verfolgte Juden aufnimmt, sich jedoch enttäuscht zeigt, als Migranten jüdischer Herkunft einwandern. Die Einwanderung der sowjetischen Juden offenbart zum Zeitpunkt der deutsch-deutschen Vereinigung ein Dilemma der deutschen Politik, das zunächst zur Folge hat, dass die Aufnahmeregelung der letzten DDR-Regierung gestoppt wird.13 Einerseits will sich der neue deutsche Staat in seiner Geburtsstunde nicht geschichtsverdrossen geben und sucht nach einem geeigneten Aufnahmeverfahren für die einreisewilligen sowjetischen Juden. Andererseits ist Deutschland »per definitionem kein Einwanderungsland«14 und fürchtet durch die Grenzöffnungen eine massenhafte Armutswanderung aus Osteuropa. Als dann im Herbst 1990 im Deutschen Bundestag eine Debatte zur Frage der Aufnahmeregelung geführt wird, finden sich rasch jene Elemente eines Deutungsmusters versammelt, welches fortan für den medialen und politischen Diskurs über die jüdische Einwanderung maßgeblich sein wird. Der Selbstentwurf Deutschlands als »Erinnerungsgemeinschaft« und damit als Nation, die für die Verbrechen der deutschen Vergangenheit haftet, bildet den Kontext für die symbolische Deutung der russischsprachigen Juden als Angehörige einer Opfergemeinschaft. Dieses Selbstverständnis begründete in den letzten Jahrzehnten wesentlich das immer auch ambivalente Verhältnis zur jüdischen Minorität in Deutschland, das Dan Diner einmal als »negative Symbiose« bezeichnet hat.15 Vertreter aller Fraktionen unterstreichen in der Bundestagssitzung, dass »bei diesem höchst sensiblen Thema«16 Einigkeit zu demonstrieren sei. Die jüdische Einwanderung nach Deutschland wird befürwortet und besondere »Großzügigkeit und Großmütigkeit« gegenüber jüdischen Immigranten angemahnt, angesichts »unserer Verantwortung gegenüber unserer eigenen deutschen Geschichte«.17 Ein Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen verweist auf die vielen Reaktionen aus der Bevölke13 Jüdische Allgemeine, 19.9.1990; Der Tagesspiegel, 13.9.1990. 14 Interview mit Wolfgang Schäuble vom 8.7.2009, in: Belkin/Gross (2010), S. 53. 15 Dan Diner, Negative Symbiose, in: ders., Ist der Nationalsozialismus Geschichte?, Frankfurt am Main 1987. 16 Aktuelle Stunde des Bundestages zur Einwanderung von Juden aus Osteuropa, in: Der Tagesspiegel, 26.10.1990. 17 Ebd.

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rung zum Aufnahmestopp und verliest aus einem öffentlichen Aufruf: »Der neue deutsche Staat sollte nicht in seiner Geburtsstunde denen Hilfe verweigern, die der alte Staat verfolgte und vernichtete.«18 Der besondere Zeitpunkt der Debatte – Oktober 1990 – verleiht der Diskussion zusätzliches Gewicht. Im Kontext der deutschen Vereinigung wird die jüdische Einwanderung zu einem Faktor, an dem sich die Legitimität des neuen gesamtdeutschen Staates messen lassen muss. Die jüdische Emigration aus der Sowjetunion wird damit vor allem im Deutungshorizont der deutschen Geschichte wahrgenommen. Dies hat Folgen für das Bild, das sich die deutsche Gesellschaft von den russischsprachigen Juden macht: Sie erscheinen vor allem als Angehörige der Opfergemeinschaft, die durch die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten entstanden ist. Die Differenz zwischen den Opfern des Holocaust, den Überlebenden und den jüdischen Immigranten der Gegenwart scheint symbolisch aufgehoben. Der gesetzliche Rahmen, der die Aufnahme regeln soll, scheint dieser besonderen Gruppe von Immigranten gerecht zu werden. Das Kontingentflüchtlingsgesetz, das erstmals 1980 im Zusammenhang mit der Aufnahme vietnamesischer Boatpeople Anwendung gefunden hatte, dient nun als rechtliche Grundlage, um die Einwanderung zu steuern.19 Die Konstruktion des »jüdischen Kontingentflüchtlings« stattet die russischsprachigen Juden mit einem Flüchtlingsstatus aus, obwohl sie in einem regulären Asylverfahren kaum Chancen auf Anerkennung als politische Flüchtlinge gehabt hätten. Faktisch ist auf diesem Weg jedoch ein rasches und unbürokratisches Einreiseverfahren geschaffen, das das Risiko der Ablehnung ausschließt.20 Nach dem Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz im Januar 1991 wird auf ein »formelles Beweiserhebungsverfahren« verzichtet, das auf einer eindeutigen Definition jüdischer Identität basiert. Mit anderen Worten, vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit will Deutschland nicht erneut in die Situation geraten, zu bestimmen, wer Jude ist. Andererseits bedarf es, wie bei jeder Einwanderung, einer überprüfbaren Einreiseregelung. Das entscheidende Kriterium für die Aufnahme bildet dementsprechend die ethnische Zugehörigkeit: Wer den Nachweis einer jüdischen Abstammung erbringt, kann nach Deutschland einwandern.21 18 Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, 15.11.1990. 19 Das Kontingentflüchtlingsgesetz von 1980 erlaubt die Zuerkennung des Flüchtlings­ status der Genfer Konvention, wenn sich die Antragsteller noch im Herkunftsland oder in einem Drittstaat befinden, ohne dass ein ordentliches Asylverfahren durchlaufen werden muss. Vgl. Kay Hailbronner, Ausländerrecht. Ein Handbuch, Heidelberg 1989. 20 Vgl. Paul A. Harris, The Politics of Reparation and Return. Soviet Jewish and Ethnic­ German Immigration to the New Germany, PhD diss., Auburn University 1997. 21 Die Verteilung der jüdischen Kontingentflüchtlinge wurde vom Bundesverwaltungsamt in Köln in Absprache mit den Bundesländern auf der Grundlage des Asylverteilungs-

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Kommt in der politischen Entscheidung für ein gesondertes Aufnahmeverfahren die besondere historische Verantwortung der Deutschen gegenüber verfolgten Juden zum Ausdruck, so bleibt dahinter ein strukturelles Dilemma verborgen, welches für das erklärte Nicht-Einwanderungsland Deutschland maßgeblich ist. Da generelle Richtlinien für eine Einwanderungspolitik fehlen, bleibt allein der juristische Schritt, die sowjetischen Juden als Kontingentflüchtlinge zu kategorisieren, um somit ihre Einreise zu erleichtern.22 Im Vergleich mit anderen Migrantengruppen privilegiert die gewählte Aufnahmeregelung die jüdischen Immigranten: Sie sind berechtigt, nach acht Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, und können mit der gesamten Familie einwandern, während sich etwa im Fall von Arbeitsmigrationen der Aufenthaltsstatus auf die Arbeitsuchenden beschränkt. Der Historiker U ­ lrich Herbert verweist darauf, dass dieses Vorgehen, Wanderungsprozesse in unzählige Gesetze und Verfahren zu zerlegen, zu der jahrzehntelangen politischen Praxis Deutschlands passt, die Faktizität von Einwanderungen zu negieren.23 Erst mit dem um- und erkämpften Zuwanderungsgesetz aus dem Jahr 2005 wird ein migrationspolitischer Rahmen geschaffen, der Prozesse der Einwanderung als gegeben anerkennt. In den lokalen und überregionalen Medien stellt sich im Laufe der 1990er Jahre eine gewisse Enttäuschung ein, als die jüdischen Immigranten weder dem Bild des Opfers noch dem des Kulturträgers entsprechen wollen und zudem auch die Figur des verfolgten Flüchtlings Risse bekommt. Aus kulturell gebildeten und mit akademischen Bildungstiteln versehenen »Pro­fessoren, Künstlern und Doktoren«24, die als Flüchtlinge ihre »privaten B ­ ibliotheken«25 schlüssels, das heißt nach der Einwohnerdichte der jeweiligen Bundesländer, übernommen. Darauf erfolgte die Einreisegenehmigung. Es bestand ein verbriefter Anspruch auf unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis und auf Sozialleistungen wie Eingliederungshilfen (zum Beispiel Sprachkurse), Sozialhilfe, Wohnungsgeld, Kindergeld oder BaföG. Mit Abschluss eines anerkannten Sprachkurses konnten Leistungen des Arbeitsamtes (Weiterbildung, Umschulung oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) in Anspruch genommen und nach acht Jahren konnte die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt werden. Vgl. Julius H.  Schoeps/Willi Jaspers/Bernhard Vogt (Hg.), Russische Juden in Deutschland. Integration und Selbstbehauptung in einem fremden Land, Weinheim 1996, S. 31 ff. 22 Die Kontingentregelung war zudem hilfreich, um diplomatische Spannungen zu vermeiden. Schließlich sollte zum einen nicht der Eindruck erweckt werden, dass Deutschland den GUS -Staaten die Verfolgung von Juden unterstellen würde. Zum anderen galt es, Israel gegenüber loyal zu bleiben. Vgl. Madelaine Tress, Soviet Jews in the Federal Republic of Germany. The Rebuilding of a Community, in: Jewish Journal of Sociology 37, 1 (1995), S. 39–54. 23 Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangs­ arbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001. 24 Der Tagesspiegel, 12.1.1991. 25 Ebd.

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zurücklassen mussten, wird der »schwer vermittelbare Ingenieur«, der sich nicht in die Rolle des Bittstellers fügen will. Auch in deutschen Behörden wachsen Zweifel an den »wahren« Motiven der Emigration angesichts von Klienten, die als »Frau Doktor« und »Herr Professor« darum kämpfen, dass ihre erworbenen Bildungstitel auch im Aufnahmeland anerkannt werden. Vermutungen werden laut, wonach vor allem wirtschaftliche Gründe bei der Ausreise eine Rolle gespielt hätten – da sei man wohl froh gewesen, noch einen »Tropfen jüdischen Bluts« in der Verwandtschaft gefunden zu haben.26 Als sich zudem herausstellt, dass die Migranten neben der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis auch die Heimatpässe ihrer jeweiligen Herkunftsstaaten besitzen, regt sich insbesondere in den deutschen Behörden Unwillen. Das Reisen oder auch Pendeln steht in scharfem Kontrast zur Definition des Flüchtlings als Klient im Wohlfahrtsstaat. Flüchtlinge genießen Schutz, weil sie ihr Land verlassen müssen. Die periodische Rückkehr in die Herkunftsländer verweist demgegenüber auf transnationale Zugehörigkeiten und damit auf Handlungsspielräume von Immigranten, die die nationalen Grenzen überschreiten und dem staatlichen Zugriff entzogen sind. Eine Erkenntnis, die auf deutschen Amtsfluren Zweifel an der Rechtmäßigkeit des erworbenen Status aufkommen lassen. Mehr als alles andere erweckt jedoch der Umstand Misstrauen, dass sich die Eingewanderten nicht in dem Maße den jüdischen Gemeinden anschließen, wie es von ihnen erwartet worden war. Mit der wachsenden Einsicht, dass eine beträchtliche Anzahl der jüdischen Einwanderer wenig religiös geprägt sind und außerhalb der Gemeinden bleiben, wächst daher der Vorwurf eines bloß instrumentellen Verhältnisses zur eigenen Identität, der man sich gleichsam optional, zum Zweck der Ausreise, bedient habe, ohne weitere Bindungen daran zu knüpfen. Damit steht die Rechtmäßigkeit der jüdischen Emigration insgesamt infrage. Tatsächlich veröffentlicht die Zeitschrift Der Spiegel Anfang 1996 unter dem Titel »So leise wie möglich« ein Schreiben des Auswärtigen Amtes, in dem über ein Ende der »zu großzügigen« Aufnahmeregelung nachgedacht wird. Die Begründung lautet, der Tatbestand antisemitischer Diskriminierung in der ehemaligen Sowjetunion sei hinfällig geworden und die Stärkung der Gemeinden sei nicht in dem Maße erfolgt, wie gewünscht.27 Stattdessen würden die jüdischen Migranten diese Einrichtungen nur als materielle und soziale Starthilfe nutzen und dann wieder verlassen. Der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, kann den Aufnahmestopp verhindern. 26 Siehe hierzu ausführlich: Karen Körber, Juden, Russen, Emigranten. Identitätskonflikte jüdischer Einwanderer in einer ostdeutschen Stadt, Frankfurt am Main 2005, S. 67–69. 27 Der Spiegel 22 (1996).

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Aus dem diskriminierten sowjetischen Juden ist mit dem Grenzübertritt ein Wirtschaftsmigrant geworden, der mit seiner jüdischen Identität instrumentell verfährt, ohne sich zu dieser zu bekennen oder sich der Gemeinschaft dauerhaft verpflichtet zu fühlen. Er bedient damit das von Zygmunt Bauman analysierte Zerrbild des illoyalen, nicht fassbaren Juden, der seine Identität eben darin beweist, dass er sie versteckt, verleugnet, Mimikry betreibt.28 Auffällig an diesen Deutungen ist nicht allein die Wiederkehr antisemitischer Stereotype. Sichtbar wird daran auch, dass das Nicht-Einwanderungsland Deutschland die jüdische Einwanderung in erster Linie durch die Stärkung der jüdischen Gemeinden legitimiert sieht. Andere Wege in die Aufnahmegesellschaft können nur im Kontrast dazu gesehen werden, werden aber nicht als Varianten der Selbsteingliederung im Zuge einer Immigration begriffen.

Eine neue deutsch-jüdische Gemeinde? In den überhöhten Erwartungen an die russischsprachigen Juden und an eine Erneuerung jüdischen Lebens zeigt sich die besondere politisch-symbo­ lische Rolle, die der jüdischen Gemeinschaft in den Nachkriegsjahrzehnten in Westdeutschland zugewiesen wurde. Anthony Kauders weist in seiner deutsch-jüdischen Geschichte der Bundesrepublik darauf hin, dass sowohl jüdische wie nichtjüdische Funktionäre aus unterschiedlichen Gründen ein gemeinsames Interesse daran hatten, der jüdischen Gemeinschaft eine öffentlich wahrgenommene Funktion zuzuweisen.29 Ziel dieses »Gabentauschs«30 war die wechselseitige Rückgewinnung von Legitimität und, damit verbunden, die wachsende internationale Anerkennung des deutschen Staates und der darin lebenden, kleinen jüdischen Gemeinschaft, die durch ihre Anwesenheit den Nachweis einer gelungenen Demokratisierung erbrachte. Autoren, wie Micha Brumlik und Y. Michal Bodemann haben bereits in den 1980er Jahren Kritik an der Politik der jüdischen Repräsentanten geübt und auf den prekären Charakter eines privilegierten Status verwiesen, der sich wesentlich einer öffentlich-symbolischen Rolle verdankte und wenig über den Alltag der kleinen, eher zurückgezogenen Gemeinschaft aussagte.31 28 Vgl. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992. 29 Kauders 2007, S. 126. 30 Ebd., S. 129. 31 Y. Michal Bodemann/Micha Brumlik, Juden in Deutschland – Deutschland in den Juden. Neue Perspektiven, Göttingen 2010.

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Diese Differenz zwischen der öffentlichen Rolle und der Realität der jüdischen Gemeinschaft wird noch einmal in den Konflikten sichtbar, die mit der Einwanderung der russischsprachigen Juden nach 1990 aufbrechen. Die Bereitschaft des deutschen Staates, mit der Aufnahmeregelung die jüdische Minorität zu stärken, geht mit der Erwartung einher, dass es die Aufgabe der jüdischen Gemeinden ist, »ihre« Einwanderer zu integrieren. Dieses Vorgehen entspricht auch einer institutionellen Struktur, die kennzeichnend für die Organisation der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ist. In Abgrenzung zu den Rassenkonstruktionen der Nationalsozialisten wird das Judentum im Nachkriegsdeutschland als Religionsgemeinschaft definiert. Als solche verfügt sie nach dem deutschen Staatskirchenrecht über den Status einer »Körperschaft des öffentlichen Rechts«.32 Dieser Status ist ansonsten allein den christlichen Kirchen und kleinen christlichen Gemeinschaften vorbehalten, während die rund vier Millionen Muslime seit Jahren um die Anerkennung des Titels als Religionsgemeinschaft kämpfen. Im Zuge der Einwanderung wächst nun den jüdischen Gemeinden eine strukturelle Rolle im Ordnungsmodell des deutschen Wohlfahrtsstaats zu. Ausgestattet mit einer »korporativen Identität«33 gelten sie sowohl aus der Perspektive des deutschen Staates als auch in ihrem eigenen Selbstverständnis als zentrale Instanzen der Integration der eingewanderten russischsprachigen Juden. Die Bereitschaft der jüdischen Gemeinden, den Vorstellungen des deutschen Staates zu entsprechen, beruht auch auf einer geteilten Konzeption darüber, was als eine erfolgreiche Einwanderung gilt. Anders als beispielsweise in den Vereinigten Staaten gelten Prozesse der Selbsteingliederung von Migranten, wie etwa ethnische Enklavenbildung, normativ als problematisch und unerwünscht. Stattdessen dominiert die Vorstellung, dass sich die jüdischen Einwanderer sowohl in die deutsche Gesellschaft als auch in ein spezifisches jüdisches Selbstverständnis integrieren sollen, welches sich innerhalb der bestehenden jüdischen Institutionen verwirklicht. Wie ein solches Selbst­verständnis aussieht, zeigen exemplarisch die Aussagen von den Gemeindevorsitzenden einer ost- und einer westdeutschen jüdischen Gemeinde: 32 Der Körperschaftsstatus geht zurück auf das deutsche Staatskirchenrecht, das 1919 in der Weimarer Reichsverfassung festgelegt und 1949 unverändert in das deutsche Grundgesetz übernommen wurde (Art. 140 GG/Art. 137 V). Danach gilt zwar ein grundsätzliches Recht auf Religionsfreiheit für alle, doch obliegt es einer rechtlichen Entscheidung, welche Religion diesen Status und damit die öffentliche Anerkennung als eine vor dem Gesetz gleichberechtigte Religionsgemeinschaft erwerben kann. Der Körperschaftsstatus stellt faktisch eine Bevorzugung dar, denn er erlaubt beispielsweise das Recht auf Steuereinzug und Stiftungseigentum sowie das Recht auf soziale Wohlfahrtspflege mit staatlicher Unterstützung. 33 Seyla Benhabib, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt am Main 1999, S. 35.

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»Ich habe mir – eingebildet –, muss ich heute sagen, dass ich hier eine deutsche-jüdi­ sche Gemeinde wieder aufbauen kann.«34 »Ich sage den Leuten, wisst ihr überhaupt, warum ihr nach Deutschland gekommen seid? Wenn sie sagen, ja, uns ist es in Russland schlecht gegangen, sag ich, das Abkommen zwischen dem Zentralrat und der Bundesrepublik sagt expressis verbis: Sie sollen die von den Nazis zerstörten jüdischen Gemeinden wieder mit aufbauen. Und das bedeutet, dass ihr euch der Gemeinde anzuschließen habt und die Gemeinde ist kein Kulturverein, sondern eine religiöse, eine Glaubensinstitution.«35

In diesen Aussagen artikuliert sich ein zweifacher Integrationsauftrag, der das Verhältnis zwischen Alteingesessenen und Neuzugewanderten eindeutig definiert. Ziel dieses Auftrags ist die Eingliederung der eingewanderten Juden in eine deutsch-jüdische Religionsgemeinschaft. Eine Anforderung, die voraussetzt, was der Mehrheit der jüdischen Immigranten vorerst fremd ist, nämlich das Verständnis erstens des Judentums als Religion und zweitens der jüdischen Geschichte als Geschichte der Juden in Deutschland. Insbesondere die Tatsache, dass sich mit ihrem Grenzübertritt eine Redefinition ihrer kollektiven Identität vollzieht, gehört für die russischsprachigen Juden zu einer der zentralen und problematischen Erfahrungen ihrer Migration. Waren sie in der Sowjetunion Angehörige einer nationalen Minderheit gewesen, so gelten sie in Deutschland als Mitglieder einer Religionsgemeinschaft. Für die mehrheitlich säkularisierten Juden stellt dieser Wandel von einer nationalen zu einer religiösen Minderheit einen umstrittenen Prozess dar, der innerhalb der Gemeinden dauerhaft zu Konflikten führt.36 Aufseiten der alteingesessenen Gemeindemitglieder stellt sich in den ersten Jahren nach Beginn der Einwanderung Enttäuschung darüber ein, dass die Gemeinden zwar neue Mitglieder gewinnen, diese aber nicht den Weg in die Synagoge finden würden. Stattdessen herrsche bei den russischsprachigen Juden eine Anspruchshaltung vor, welche vor allem das Ziel verfolge, die Gemeinden in Versorgungseinrichtungen zu verwandeln, die ansonsten der Pflege der russischen Kultur dienen sollten.37 Die demografische Entwicklung durch die Einwanderung stellt den Integrationsanspruch der alteingesessenen Gemeindemitglieder bald infrage. Faktisch verwandeln sich die jüdischen Gemeinden in Immigrantengemeinden, die sich aus einer Minderheit aus Alteingesessenen und einer großen Mehrheit neuer Mitglieder zusammensetzen. In den deutschen Medien findet sich in den kommenden 34 35 36 37

Der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, Transkript 4.  Der Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, Transkript 12.  Vgl. ausführlich hierzu Körber 2005. Vgl.: Jüdische Gemeinden streiten über echte Mitglieder, in: Frankfurter Rundschau, 5.12.1995; Ein Fall für den Mond, in: Süddeutsche Zeitung, 13.10.1997.

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Jahren angesichts der fortlaufenden Konflikte zwischen den beiden Gruppen die Deutung einer zerrissenen Gemeinschaft, die in »Juden« und »Russen« zerfällt. In diesen Darstellungen bleibt unsichtbar, in welcher Weise die atheistische und repressive antisemitische Politik der Sowjetunion unter den dort lebenden Juden ein spezifisches Gruppenbewusstsein hervorgebracht hat, das der Soziologe Zvi Gitelman als eine »latente Ethnizität«38 beschreibt. Kennzeichnend für diese symbolische Gruppenzugehörigkeit ist eine wachsende Distanz zu einem religiös-kulturell verstandenen Judentum im Zuge der Sowjetisierung, welche mit einer erzwungenen wie auch freiwilligen Akkulturation einhergeht.39 Allerdings blieb das erhoffte Ergebnis der vollzogenen Übernahme sowjetischer Normen und Werte aus. Die Assimilation scheiterte an der kollektiven Erfahrung eines alltäglichen und institutionellen Antisemitismus, der sich am prägnantesten im berüchtigten Artikel 5 im Personalausweis niederschlug, dort nämlich, wo die nationale Zugehörigkeit vermerkt wurde. Der Eintrag Jevrej entschied über berufliche und andere Zugangschancen in einem inoffiziellen, aber wirkmächtigen ethnischen Quotensystem, ebenso wie eine von der Umwelt als jüdisch empfundene äußere Erscheinung oder ein jüdisch klingender Name.40 Die spezifische Erfahrung, einerseits akkulturiert und andererseits als Juden gesellschaftlich und institutionell stigmatisiert zu sein, trägt zu einer jüdisch-ethnischen Identität bei, die auch in den Konflikten um die jüdischen Gemeinden in Deutschland zur Geltung gebracht wird. Darin wird eine Zugehörigkeit eingeklagt, die sich im Wesentlichen passiv über die Herkunft begründet, ohne einen Bezug zur jüdischen Religion und Tradition zu besitzen. Kreisen die Auseinandersetzungen in den jüdischen Gemeinden zwischen den russischsprachigen Juden und den alteingesessenen Mitgliedern um die Differenz zwischen einem ethnisch-säkularen und einem religiös-kulturellen Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaft, so existiert seit den 1990er Jahren ein weiteres Konfliktfeld, das im Gemeindealltag wiederholt aufbricht, nämlich die Konkurrenz der Narrative. Für die jüdischen Gemeinden im Nachkriegsdeutschland bildete die Erinnerung an den Holocaust den zentralen Bezugspunkt ihres Selbstverständnisses, der auch ihr Verhältnis zur Bundesrepublik wesentlich strukturierte. Dan Diner spricht in ­diesem 38 Zvi Gitelman, Becoming Jewish in Russia and Ukraine, in: Zvi Gitelman u. a. (Hg.), New Jewish Identities. Contemporary Europe and Beyond, Budapest 2003. 39 Michael Stanislawski, Russian Jewry, the Russian State, and the Dynamics of Jewish Emancipation, in: Pierre Birnbaum/Ira Katznelson (Hg.), Paths of Emancipation. Jews, States and Citizenship, Princeton 1995, S. 262–284. 40 Gitelman 2003, S. 106.

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Zusammen­hang von einem »Bann«41, der in den ersten Nachkriegsjahrzehnten über die in Deutschland lebenden Juden verhängt worden war, da sich das jüdische Volk in Abgrenzung zu all dem konstituiert hatte, was der Holocaust war. Auch wenn sich mit dem Heranwachsen der zweiten Generation abzeichnete, dass Juden in Deutschland bleiben würden, blieb das Verhältnis zum »Land der Täter« ambivalent und problematisch, ein Umstand, der sich auch an den Publikationen und Selbstzeugnissen von Juden in Deutschland bis in die 1980er Jahre ablesen lässt. Ein kurzer Blick auf die zunehmend verstaatlichte Erinnerungskultur unterstreicht noch einmal die symbolische Rolle, die der jüdischen Gemeinschaft im Nachkriegsdeutschland zuwächst. Während die Gedenkveranstaltungen an den Holocaust in den 1950er Jahren noch von Juden sowie anderen Verfolgtengruppen organisiert wurden und eher zurückgezogen oder privat stattfanden, so lässt sich bereits in den 1960er Jahren eine Entwicklung hin zu öffentlichen Formen des Gedenkens beobachten, bei denen neben den jüdischen Gemeinden teilweise die christlichen Kirchen sowie die lokale und die staatliche Politik involviert sind.42 Dieser Prozess eines zunehmend staatlichen Gedenkens an den Holocaust findet seinen Höhepunkt in den 1980er Jahren und wird in den jährlichen Gedenkveranstaltungen zu den Novemberpogromen am 9. November 1938 bis in die Gegenwart symbolisch repräsentiert. Bei den verschiedenen Formen öffentlichen Gedenkens nehmen die jüdischen Gemeinden einen selbstverständlichen Platz als Repräsentanten des Opferkollektivs ein. Mit der Einwanderung der russischsprachigen Juden zieht in die Gemeinden nun eine andere kollektive Erinnerung ein, in deren Zentrum nicht der Holocaust, sondern der »Große Vaterländische Krieg« steht, und, damit verbunden, der Sieg über Deutschland.43 In vielen Gemeinden hat sich die Differenz in den unterschiedlichen Narrativen am Konflikt um die Feier des 9. Mai entladen. Der 9. Mai, Tag des Sieges über den Faschismus, galt in der Sowjetunion als höchster Feiertag. In öffentlichen Paraden wurde den Kriegsveteranen gedankt und der gefallenen Soldaten gedacht, in den Familien an die vielen Toten erinnert, die dieser Krieg gekostet hatte. Insbesondere die Generation der Kriegsteilnehmer fordert in den Gemeinden selbstverständlich ein, dass dieses Datum öffentlich begangen wird. Dazu gehört die ordensgeschmückte Brust der Veteranen ebenso wie das gemeinsame Singen der­ 41 Dan Diner, Im Zeichen des Banns, in: Michael Brenner (Hg.), Geschichte der Juden in Deutschland, München 2012, S. 15–66. 42 Vgl. Y. Michal Bodemann, Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung, Hamburg 1996. 43 Vgl. Sveta Roberman, Memory in Migration. Red Army Soldiers in Israel, Jerusalem 2005.

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alten Kampfeslieder und die gelegentliche Forderung, anlässlich der Feierlichkeiten vor den jüdischen Gemeinden die russische Fahne zu hissen. Auch in den Erzählungen der Zeitzeugen sowie bei den nachfolgenden Generationen nimmt der »große Krieg« einen wichtigen Platz ein, schließlich gibt es kaum eine sowjetische Familie, die keine Opfer zu beklagen hat. Zur schwierigen Geschichte der russischsprachigen Juden gehört jedoch der Umstand, dass der Holocaust im offiziellen sowjetischen Gedenken keine Berücksichtigung fand. Die jüdischen Opfer wurden den zivilen Kriegsopfern zugerechnet und das Gedenken an den Holocaust war im Zuge der antizionistischen Politik der Nachkriegsjahrzehnte verboten.44 Es durften weder Gedenkorte noch Denkmäler errichtet werden, die gesondert an die jüdischen Opfer erinnern sollten. Nach dem Sechstagekrieg 1967 steigerte sich die antizionistische Propaganda noch weiter und untersagte selbst das Niederlegen von Kränzen mit jüdischen Symbolen an Orten der Massenvernichtung von Juden als antisowjetische Tätigkeit. Erst Mitte der 1980er Jahre leiteten die Reformprogramme Perestroika und Glasnost einen erinnerungspolitischen Umbruch ein, in dessen Folge, wenn auch nur zögerlich, ein Gedenken an die jüdischen Opfer des Holocaust möglich wurde. Gleichwohl stehen bis in die Gegenwart der Sieg im »Großen Vaterländischen Krieg« und die heldenhaften Veteranen beziehungsweise die zivilen Opfer im Mittelpunkt, was sich alljährlich an den Paraden zum 9. Mai ablesen lässt. Auf den ersten Blick stehen sich in den jüdischen Gemeinden also zwei Erinnerungskulturen gegenüber, in denen die einen Sieger des Krieges und die anderen die Opfer des Holocaust sind. Auf den zweiten Blick offenbaren die Familienerzählungen der russischsprachigen Juden jedoch generationsübergreifend einen Vorgang, in dem sich eine Umwertung, Verschiebung oder Überlappung verschiedener Erinnerungen beobachten lässt. In diesen Er­ zählungen kommen sowohl der Krieg als auch das besondere Schicksal der Juden in der Sowjetunion zur Geltung. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida­ Assmann beschreibt das persönliche Erinnern als einen »dynamischen Prozess, in dem man sich von den Bedingungen und Bedürfnissen der Gegenwart aus immer wieder anders auf die Vergangenheit einlässt und dabei gerade so viel von ihr zulässt, wie man gebrauchen oder ertragen kann.«45 Zur Erfahrung der Gegenwart gehört im Fall der eingewanderten Juden die Begegnung mit der Geschichtsschreibung Deutschlands und dem Selbstverständnis der jüdischen Gemeinden, in denen der Holocaust ein elementarer Teil des kollektiven Gedächtnisses geworden ist. Entsprechend der sowjetischen Ideologie, 44 Ilja Altman, Shoah: Gedenken verboten! Der weite Weg vom Sowjettabu zur Erinnerung, in: Osteuropa 55, 4 (2006), S. 149–164. 45 Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Bonn 2007, S. 175.

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die kein Interesse daran hatte, das besondere Schicksal der jüdischen Minderheit im Zweiten Weltkrieg zu betonen, weisen viele unserer Gesprächspartner darauf hin, wie wenig sie in der Vergangenheit über die Schoa gewusst hätten. Die Begegnung mit der Erinnerungskultur der jüdischen Gemeinden hat nun zur Folge, dass der Holocaust in das eigene postsowjetische Bewusstsein schrittweise Eingang findet. In welcher Weise sich dieser Prozess vollziehen kann, lässt sich exemplarisch an den folgenden Zitaten von Zeitzeugen und Nachgeborenen zeigen, in denen sich die Einflüsse aus Familienerzählungen, politischem Gedenken und Traditionen überlagern. Dabei fällt jedoch auf, dass die Erinnerungen an das besondere jüdische Schicksal generationenübergreifend in den Kontext des Zweiten Weltkriegs eingebettet bleiben.46 »Die Blockade [von Leningrad] hat mich als Kind und als Mensch sehr geprägt. Das war die schwerste Zeit meines Lebens. […] Die Menschen hungerten und starben. Meine Mutter ist am 22.  September 1942 von einem Luftangriff getroffen worden. Sie wurde dabei schwer verletzt und starb einen Tag später […] Die Stadt, wo meine Schwester lebte, wurde von den Deutschen besetzt. Ich bekam Jahre später einen Brief, wo ausführlich beschrieben ist, wie sie sämtliche Juden ermordet haben. Sie wurden zusammengetrieben, nackt ausgezogen und in einem Massengrab erschossen.«47 »Es geht nicht darum, dass eine Diktatur die andere Diktatur besiegt hat. Tausende, Hunderttausende von Juden haben in der Roten Armee gekämpft, weil, wenn Hitler die Sowjetunion besiegt hätte, wären alle Juden umgebracht worden. Und das haben alle gewusst. Und die Juden haben keine andere Wahl gehabt. Sie haben auch gekämpft für ihr eigenes Leben, für ihre Familien, gegen diese nationalsozialistische Diktatur. Wenn die sowjetische Macht diesen Krieg verloren hätte, was wäre dann passiert? Wer von den Juden wäre am Leben geblieben? Niemand. Und leider, wenn wir anfangen zu diskutieren, die alteingesessenen Juden verstehen das nicht.«48 »Mein Großvater ist im Krieg gewesen als Bombenentschärfer, deswegen hat er immer versucht, so diese Jiddischkeit zu vermitteln. Das ist einfach auf Grund dieser Zeit von 1938 bis 1945, das hat mein Opa natürlich auch irgendwie verfolgen können. Wenn dann die Hälfte des Volkes einfach ausgelöscht wird, dann muss man schon irgendwie versuchen, doppelt so viel zu geben, um das nicht zu verlieren. Und das meine ich halt so mit der Jiddischkeit.«49 46 Die Zitate entstammen Interviews mit russischsprachigen Mitgliedern jüdischer Gemeinden aus einer vergleichenden Gemeindestudie, die von 2005–2008 in einem Kooperationsprojekt der Fachhochschule und der Universität Erfurt durchgeführt wurde. Vgl. Karen Körber, Pushkin oder Thora? Der Wandel der jüdischen Gemeinden in Deutschland, in: José Brunner/Shai Lavi (Hg.), Juden und Muslime in Deutschland. Recht, Religion, Identität, Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 37, Göttingen 2009, S. 233–54. 47 Alexander P., Jahrgang 1924, Transkript 2.  48 Nikolaj S., Jahrgang 1964, Transkript 9. 49 Sascha N., Jahrgang 1984, Transkript 3.

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Der Krieg bildet das Leitmotiv der Erzählungen, aber seine Bedeutung für die russischsprachigen Juden verändert sich im Zuge der Migration. Die sowjetische Erinnerungskultur und die Erinnerung an den Holocaust stehen sich also nicht unverbunden gegenüber. Vielmehr beziehen sich die eingewanderten Juden als transnationale Akteure auf beide Formen des kollektiven Gedächtnisses, um darin eigene Formen der Erinnerung auszubilden, die auch für die jeweilige Positionierung in der Gegenwart von Bedeutung sind. Das Zitat des Zeitzeugen der Blockade von Leningrad und der jüdischen Massenerschießungen macht in diesem Zusammenhang einmal mehr darauf aufmerksam, dass der Holocaust keine große einheitliche Erzählung ist, sondern aus vielfältigen Erfahrungsschichten besteht, die durch die Geschichte(n) der russischsprachigen Juden erneut sichtbar werden. Zudem zeigen die Zitate, dass das Geschichtsverständnis der Eingewanderten eine neue Figur bereithält, die durchaus Identifikationspotenziale bietet. Neben das Bild der Opfergemeinschaft, welches bislang in den Gemeinden dominierte, tritt nun die Erinnerung an den »kämpfenden jüdischen Soldaten«, der den Sieg über die nationalsozialistische Diktatur davonträgt und sein eigenes Volk befreit. Die Umdeutung vom sowjetischen zum jüdischen Soldaten, richtet sich gegen die offizielle sowjetische Erinnerungskultur und die Deutung eines Krieges, der nur Faschisten und sowjetische Menschen kennt. Stattdessen wird auf den besonderen Überlebenskampf der Juden verwiesen, die im Namen des »großen Krieges« gegen ihr eigenes Schicksal der Vernichtung gekämpft haben. Freilich ist die Figur des jüdischen Soldaten unter den jüdischen Immigranten nicht unumstritten. Insbesondere in der Gruppe der jungen Erwachsenen distanzieren sich die Interviewpartner_innen nachdrücklich von den ideologischen Versatzstücken der Herkunftsgesellschaft, die diesem Bild noch eingeschrieben sind. Gleichwohl zollen auch die Nachfahren den besonderen Erfahrungen ihrer Angehörigen während der Kriegsjahre ihre Anerkennung. In diesen Schilderungen dominiert weniger der Sieg der Roten Armee über Deutschland als vielmehr die unzähligen Formen des Überlebens in einem jahrelang andauernden, unmenschlichen Krieg, worauf in den letzten beiden Jahren in unterschiedlicher Weise die beiden russisch-jüdischen Autorinnen Katja Petrowskaja50 und Lena Gorelik eindrücklich hingewiesen haben. Letztere hat 2013 ein bewegendes Vorwort zu dem Tagebuch von Lena Muchina geschrieben, einem jungen Mädchen, welches einen Teil  der Blockade von Leningrad in den Jahren 1941 und 1942 erlebt und geschildert hat.51 Goreliks Familie stammt aus Leningrad, das heute wieder St. Petersburg heißt. Die Blockade war Teil ihres Geschichtsunterrichts und der sowjetischen Propaganda, 50 Vgl. Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther, Berlin 2014. 51 Lena Gorelik, Die Blockade war immer da, in: Lena Muchina, Lenas Tagebuch, München 2013, S. 7–13.

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aber auch die Geschichte ihrer Familie, in der Erzählungen vom Hunger, vom Sterben und vom Überleben jener Jahre zum familiären Gedächtnis gehören. Ihr Text macht deutlich, dass sich das kommunikative Gedächtnis der jüdischen Gemeinschaft mit der Einwanderung der russischsprachigen Juden um Dimensionen von leidvollen und anderen Erfahrungen pluralisiert, die um das zentrale Narrativ des Holocaust herum einen Platz beanspruchen. Anstelle einer Gegenerinnerung handelt es sich also eher um eine Erweiterung des kollektiven jüdischen Gedächtnisses, in deren Folge sich auch das Selbstverständnis der jüdischen Gemeinden in Deutschland weiter wandelt.

Jüdische Gegenwart in Deutschland: Lebenswirklichkeiten junger russischsprachiger Juden Die Konflikte, die sich mit der Einwanderung der russischsprachigen Juden seit Beginn der 1990er Jahre herausgebildet haben, geben Auskunft darüber, wie eine Minorität, die in der öffentlichen Selbst- und Fremdwahrnehmung wesentlich über den Holocaust definiert war, mehr und mehr gekennzeichnet ist von internen Aushandlungsprozessen über die künftige Gestalt einer heterogenen Gemeinschaft, die zunehmend selbstverständlich ihren Platz in Deutschland behauptet. Die geschilderten Auseinandersetzungen gewinnen zusätzlich an Gewicht vor dem Hintergrund der Tatsache, dass im Zuge dieses Wandels die jüdischen Gemeinden mit erheblichen Problemen konfrontiert sind und gut zwei Jahrzehnte nach Beginn der Einwanderungsbewegung mit einem Bedeutungsverlust zu kämpfen haben. Insbesondere Vertreter_innen kleiner und mittlerer jüdischer Gemeinden außerhalb der großen Städte blicken eher pessimistisch in die Zukunft, wenn es um das Überleben ihrer Gemeinden geht.52 Ähnlich wie 1989 kämpfen sie mit Problemen der Überalterung und sinkenden Mitgliederzahlen. Der hohe Altersdurchschnitt der Eingewanderten, Sprachbarrieren sowie eine hohe Arbeitslosigkeit haben zur Folge, dass in den Gemeinden der Anteil an Aufgaben der sozialen Fürsorge seit den 1990er Jahren dramatisch gewachsen ist. Gleichzeitig lässt sich ein Prozess der sozialen Entwertung beobachten, den die Mitarbeiterin einer jüdischen Gemeinde wie folgt zusammenfasst: »Zu uns kommen die, die es draußen nicht schaffen.« Mit einem Wort: Es fehlen die Jungen, genauer, die jungen Berufstätigen. Eine Untersuchung am Jüdischen Museum Berlin, die 2014 abgeschlossen wurde, gibt nun erste Auskünfte darüber, wie es um die Lebenswirklichkeiten 52 Vgl. ausführlich Körber 2009, S. 233–54.

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dieser jungen Erwachsenen zwischen zwanzig und vierzig Jahren steht, die als Kinder mit ihren Familien im Rahmen des Kontingentverfahrens eingewandert sind.53 In der quantitativ und qualitativ durchgeführten Erhebung haben wir Frauen und Männer aus der Gruppe der jungen russischsprachigen Juden unter anderem nach ihren Bildungs- und Berufsverläufen, ihren privaten Lebensformen, ihren jüdischen Identitätsmustern und Praxen und nach der Wahl ihrer sozialen Zugehörigkeiten gefragt sowie danach, wie sich die Zugehörigkeit zu Deutschland gestaltet. Die Ergebnisse der Studie bestätigen die Aussagen der oben zitierten Gemeindemitarbeiterin in zweierlei Hinsicht. Im Unterschied zu ihren Eltern, die nach der Einwanderung in hohem Maße von Arbeitslosigkeit und prekären Erwerbssituationen betroffen waren, erweist sich die Migration für die jungen Erwachsenen als sozialer und ökonomischer Erfolg. Sie profitieren von hohen Bildungsabschlüssen und verfügen über eine überdurchschnittlich gute Erwerbssituation. Dieser Aufstieg geht jedoch mehrheitlich mit einem säkularen Verständnis ihrer jüdischen Identität einher und mit sinkenden Zahlen, was die Mitgliedschaft in einer jüdischen Gemeinde angeht. Die Gretchenfrage, oder: Wie hältst Du es mit der Religion?

In unserem Survey haben wir gefragt, wie die jungen Frauen und Männer das Judentum verstehen. Unsere Proband_innen nennen mit 51 Prozent an erster Stelle die ethnische Zugehörigkeit, danach folgt mit 23,9 Prozent die Vorstellung einer kulturellen Gemeinschaft. Die Definition als Religionsgemeinschaft landet mit 13,1 Prozent erst auf Platz drei. Gefragt danach, ob sie einer jüdischen Gemeinde angehören, antworteten 40,8 Prozent, dass sie einer der gemäßigt orthodoxen Einheitsgemeinden angehören, 13,5 Prozent gehören einer der neo-orthodoxen Gemeinden von Chabad Lubawitsch und Lauder an, 6,4 Prozent sind Mitglieder einer liberalen Gemeinde, 2,2 Prozent haben eine andere Religionsgemeinschaft gewählt und 37,1 Prozent gehören keiner Gemeinde an. Ihr eigenes Jüdischsein beschreibt die absolute Mehrheit der Befragten als liberal und säkular.54 Diese Antworten fallen bei Gemeinde­ mitgliedern und Nichtmitgliedern nur geringfügig verschieden aus.

53 Das Projekt Lebenswirklichkeiten. Russisch-Jüdische Gegenwart in Deutschland wurde von 2012–2014 am Jüdischen Museum Berlin durchgeführt. Ich danke Jens Ambrasat für die Durchführung der Onlinebefragung und Alina Gromova für die Durchführung von Interviews im Raum Berlin. 54 Karen Körber, Lebenswirklichkeiten. Russisch-Jüdische Gegenwart in Deutschland. Eine Onlinebefragung unter jungen russischsprachigen Juden. Unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 2014, S. 9–12.

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Die Ergebnisse verweisen auf einen Trend, der sich ähnlich in den jüngsten Ergebnissen der PEW Study 55 von 2013 für die Altersgruppe der nach 1980 geborenen US -amerikanischen Juden abzeichnet. In unseren Interviews wird sichtbar, worin die Distanz zu den etablierten Gemeinden gründet. Die Kritik äußert sich zum einen an dem oftmals als starr, abweisend und unbeweglich wahrgenommenen religiösen Selbstverständnis der jüdischen Gemeinden  – ein Befund, der immer wieder beispielhaft am Ausschluss der nicht-halachischen Juden festgemacht wird. Zudem, und darin sind die jungen russischsprachigen Juden nicht anders als alle anderen Angehörigen dieser Generationengruppe, entsprechen die ortsgebundenen und biografisch langfristig gedachten Mitgliedschaftsstrukturen der etablierten Gemeinden oftmals nicht den eigenen Bedürfnissen, Interessen und mobilen Lebens­ formen, die flexible, vorübergehende Formen der Zugehörigkeit bevorzugen. Allerdings bedeutet die wachsende Distanz zur Institution der Gemeinde bei unseren Befragten nicht notwendig, dass sie sich vollständig von der jüdischen Religion und Tradition abwenden. Vielmehr lässt sich bei unseren Interviewpartner_innen ein Wandel im Verhältnis zwischen Religion und Individuum beobachten, der längst nicht nur auf die jüdische Gemeinschaft beschränkt ist, aber dort vor dem besonderen Hintergrund der Migrationserfahrung der russischsprachigen Juden deutlich hervortritt. Die jungen Erwachsenen in unserer Studie sind oftmals erst im Zuge des Grenzübertritts nach Deutschland damit konfrontiert worden, dass neben einem familiär ethnisch-säkular verstandenen Jüdischsein ein religiöses Judentum existiert. Die Annäherung an die jüdische Religion vollzieht sich also nicht im Prozess der Vermittlung von einer Generation auf die andere, sondern stellt vielmehr eine individuelle Entscheidung dar. Damit verlagert sich jedoch der Akzent in Richtung des Subjekts: Nicht die religiöse Tradition steht im Zentrum, sondern die Sinnsuche des Einzelnen, der sich aus einem Reservoir gesellschaftlich verfügbarer Sinnangebote seine Überzeugungen und Praktiken selbst zusammenbastelt. Die Religionssoziologin Danièle Hervieu-Léger56 beschreibt diesen Prozess als das Ergebnis eines kollektiven Gedächtnisschwundes, in dem die Kette des Erinnerns, also die Abfolge der Vermittlung des religiösen Wissens, abgebrochen ist. Aus dieser Erfahrung, so Hervieu-Léger, folgt jedoch nicht das Ende der Religion; vielmehr kehren Elemente des Religiösen wieder, die neu gemischt und an veränderte Lebensverhältnisse angepasst werden. Nicht selten entsteht daraus auch bei unseren Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern ein nicht widerspruchsfreier Synkretismus, in dem beispielsweise die jüdische Orthodoxie als das »richtige Judentum« gilt, 55 A Portrait of Jewish Americans, 1.10.2013, S. 1–20. http://www.pewforum.org/files/2013/ 10/jewish-amrican-full-report-for-web.pdf. 56 Vgl. Danièle Hervieu-Léger, Religion as a Chain of Memory, New Brunswick 2000.

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die Beschneidung wegen ihrer möglichen psychosozialen Folgen jedoch abgelehnt wird; man zwar den Schabbat hält, aber die Speisegesetze nicht befolgt. Fluchtpunkt dieses Wandels ist das aufgewertete Subjekt und seine individuelle Sinnsuche. Der Einzelne entscheidet selbst darüber, ob, wann und zu welchem Zweck er sich den institutionalisierten jüdischen Einrichtungen zuwendet oder stattdessen lieber neue, posttraditionale Formen jüdisch-religiöser und kultureller Vergemeinschaftung aufsucht und selbst initiiert  – mit Freunden, in Clubs, auf privaten Partys und Feiern, an Orten also, die nicht durch fest definierte Mitgliedschaften oder Zugehörigkeitskriterien gekennzeichnet sind, sondern in denen verschiedene Praktiken der Sozialität erfahren und produziert werden.57 Mehrfachzugehörigkeiten

Lässt sich also ein Wandel der religiös-kulturellen Praxen und Zugehörigkeitsmuster innerhalb des jüdischen religiösen Feldes in Deutschland beobachten, so finden sich ebenfalls Unterschiede, was die Bedeutung und die Form von staatlicher und kultureller Zugehörigkeit betrifft. Während sich die Angehörigen vergangener jüdischer Migrationsgenerationen in den Nachkriegsjahrzehnten ihren Herkunftsstaaten wenig verbunden fühlten, finden wir heute sowohl in der ersten als auch in der zweiten Generation der russischsprachigen Juden Formen der Mehrfachzugehörigkeit vor. Ein Beispiel dafür ist die deutsche Politikerin Marina Weisband, die 1993 als Kind mit ihrer ukrainisch-jüdischen Familie aus der Ukraine nach Deutschland eingewandert ist. In ihren Erzählungen über die Migration ihrer Familie wird sichtbar, was die jüdische Einwanderung zu Beginn der 1990er Jahre in der deutschen Öffentlichkeit noch in Misskredit gebracht hatte: wie schwer einzelnen Familienmitgliedern der Abschied aus der Ukraine gefallen ist, dass die Mutter die Ausreise verzögert hat, weil sie ihren Arbeitsplatz nicht aufgeben wollte, wie selbstverständlich Kontakte in die Herkunftsregion sind. Marina Weisband ist Jüdin, Deutsche und russischsprachige Ukrainerin. Sie besitzt beide Pässe und hat im vergangenen Jahr wochenlang auf dem Majdan in Kiew und anderswo in der Ukraine zugebracht, um während der gegenwärtigen Konflikte die Demokratiebewegungen zu unterstützen. Damit steht sie exemplarisch für jene simultanen oder »bewegten Zugehörigkeiten«,58 wie sie die österreichische Kulturanthropologin Sabine Strasser untersucht hat. 57 Vgl. Alina Gromova, Generation Kosher light. Urbane Räume und Praxen junger russischsprachiger Juden in Berlin, Bielefeld 2013; Caryn Aviv/David Shneer, New Jews. The End of the Jewish Diaspora, New York 2005. 58 Sabine Strasser, Bewegte Zugehörigkeiten. Nationale Spannungen, Transnationale Praktiken, Transversale Politik, Wien 2009.

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Ihr Beispiel zeigt nicht nur, dass in einer globalisierten Welt Zugehörigkeiten und Biografien in Bewegung geraten sind, sondern dass Menschen gleichzeitig in unterschiedlichen Welten leben und sich in diesem Bewegt-Sein selbstständig positionieren können. Dass Mehrfachzugehörigkeiten nicht nur das Ergebnis individueller Entscheidungen seitens der russischsprachigen Juden sind, sondern auch die Folge von negativen Bewertungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft, zeigt sich in unserem Online-Survey bei der Frage nach Diskriminierungserfahrungen. 42 Prozent der Befragten antworteten, dass sie wegen ihres Jüdischseins diskriminiert worden seien, während 50 Prozent ihren Migrationshintergrund als Merkmal für Diskriminierung angaben. Mittlerweile haben Angehörige der zweiten Generation diese Erfahrungen öffentlich zu Gehör gebracht. Die bereits erwähnte Autorin Lena Gorelik hat 2012 anlässlich der Debatte um die fremdenfeindlichen Thesen des deutschen Politikers Thilo Sarrazin ein Buch geschrieben, in dem sie ihre Erfahrungen als Migrantin in einem Land beschreibt, das auch zwanzig Jahre und vier erfolgreiche deutschsprachige Romane später mit Erstaunen registriert, dass sie aber wirklich gut deutsch spreche.59 In ähnlicher Weise hat sich in einer anderen Debatte die Schriftstellerin Olga Grjasnowa geäußert, die ebenfalls im Zuge des Kontingentverfahrens eingewandert ist.60 Beide Autorinnen beschreiben Erfahrungen von Diskriminierung, die nicht mit ihrer jüdischen Herkunft zusammenhängen, sondern mit ihrem Status als Migrantinnen in Deutschland. Sie kritisieren die Nicht-Anerkennung von mitgebrachten Bildungstiteln und die Missachtung von Bildungserfolgen. Beides kennzeichnen sie als strukturelles Versagen einer Gesellschaft, die auf die Herausforderungen von Einwanderungen noch immer mit Abschottung reagiert.

Schlussfolgerungen In den Auseinandersetzungen um ein neues Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland seit 1989 zeichnen sich Widersprüche und Dilemmata der deutschen Politik ab, die den schwierigen Wandel von einem nationalen Selbstverständnis als »Erinnerungsgemeinschaft« hin zu der politisch zu gestaltenden Gegenwart einer modernen Einwanderungsgesellschaft vollziehen muss. Dazu gehört die Anerkennung von Diversität innerhalb der 59 Lena Gorelik, »Sie können aber gut Deutsch!« Warum ich nicht mehr dankbar sein will, dass ich hier leben darf, und Toleranz nicht weiterhilft, München 2012. 60 Olga Grjasnowa, Deutschland Deine Dichter  – bunter als behauptet, in: Die Welt, 8.2.2014.

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jüdischen Gemeinschaft ebenso wie die Erkenntnis, dass gelungene Formen der Einwanderung wesentlich davon abhängen, in welcher Weise die aufnehmende Gesellschaft strukturelle Chancen auf Teilhabe gewährt. Die geschilderten Konflikte und Problemlagen dokumentieren insofern auch die ambivalenten Effekte einer institutionellen und symbolischen Ordnung, die bislang für die Organisationsform der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland prägend war und im Zuge der russisch-jüdischen Einwanderung einen Bedeutungswandel erfährt. Sichtbar wird darin vor allem, dass die jüdische Gemeinschaft in Deutschland weniger ein »neues deutsches Judentum« darstellt, sondern vielmehr das umkämpfte Ergebnis einer sich neu formierenden jüdischen Diaspora-Gemeinschaft ist, deren Sinnbezüge und Organisationsformen eben nicht nur in Deutschland liegen. Für die Forschung bedeutet dies nicht nur, die Diversifizierung jüdischer Identitäten und kultureller Praktiken intensiver zu beobachten, sondern auch, sichtbar zu ­machen, in welcher Weise die Vervielfältigung jüdischer Zugehörigkeiten neue Formen von Vergemeinschaftung, aber auch neue Konflikte hervorbringen, die sich jenseits der oder quer zu den etablierten Strukturen der jüdischen Gemeinden vollziehen. Allgemeiner gesprochen: Im Wandel der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland dokumentieren sich exemplarisch Spannungsverhältnisse und Konflikte, die für diasporische Gemeinschaften der Gegenwart insgesamt kennzeichnend sind. Dieser Wandel macht auf eine zentrale Herausforderung unserer Zeit aufmerksam: Es gilt, Zugehörigkeiten als heterogen zu akzeptieren und damit die Grenzen einer Gemeinschaft fortwährend infrage stellen zu lassen.

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Karen Körber ist promovierte Soziologin und Vertretungsprofessorin am Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Von 2012 bis 2014 war sie die erste Fellow am Jüdischen Museum Berlin und hat sich mit dem gegenwärtigen Wandel der jüdischen Diaspora in Deutschland befasst. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören modernes Judentum, Migration und Transnationalismus sowie Zugehörigkeitskonstruktionen in der Einwande­ rungsgesellschaft. [email protected]

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Die jüdisch-liberale Bewegung in Deutschland nach 1990 Eine Gemeindeanalyse

Seit einigen Jahren wird das Judentum in Deutschland in den Medien und in der Forschungsliteratur als plural beschrieben.1 Damit ist zum einen gemeint, dass die Zusammensetzung der Gemeinden durch die Zuwanderung von russischsprachigen Jüdinnen und Juden heterogener geworden ist. Vor allem aber gibt es heute verschiedene Wege, das Judentum in Deutschland zu leben. Als einen wesentlichen Grund für die Pluralität wird die Entstehung oder auch Wiederbelebung des liberalen Judentums in Deutschland genannt.2 Mittlerweile gibt es 24 liberale jüdische Gemeinden in Deutschland und ihnen gehören ungefähr 4.500 Mitglieder an. Das ist verglichen mit den rund 100.000 Personen, die Mitglied im Zentralrat der Juden sind und oftmals zu den orthodox ausgerichteten Einheitsgemeinden gehören, relativ wenig.3 Jedoch ist es zugleich eine Größe, die nicht mehr zu übersehen ist. Überdies gibt es seit 1999 ein progressiv ausgerichtetes Ausbildungsseminar für Rabbiner und Kantoren, und Akteure des liberalen Judentums prägen die inhaltliche Diskussion im deutschen Judentum in den letzten Jahren ganz wesentlich mit. Die jüdisch-liberale Bewegung in Deutschland wurde etwa von Heinz-­ Peter Katlewski oder Gilbert Rosenthal und Walter Homolka ausführlich charakterisiert, ihr Ritus erklärt und auch ihre Entstehung nach 1990 be1 Zum Beispiel Andrea Jeska, Kein besseres Land für Juden, in: Die Zeit 15 (2012), S. ­13–15; Jörg Lau, Leben statt mahnen, in: Die Zeit 6 (2010), S. 8–9; Eliezer Ben-Rafael/Yitzhak Sternberg/Olaf Glöckner, Juden und jüdische Bildung im heutigen Deutschland, Berlin 2010; Alexander Jungmann, Jüdisches Leben in Berlin. Der aktuelle Wandel in einer metropolitanen Diasporagemeinschaft, Bielefeld 2007; Heinz-Peter Katlewski, Judentum im Aufbruch. Von der neuen Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Berlin 2002; Gilbert S. Rosenthal/Walter Homolka, Das Judentum hat viele Gesichter. Die religiösen Strömungen der Gegenwart, Bergisch-Gladbach 2006. 2 Ebd. 3 Einige Gemeinden sind auch zugleich Mitglied im Zentralrat der Juden und in der Union progressiver Juden.

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schrieben.4 Eine eingehendere Analyse des Aufbauprozesses nach 1990 anhand der dazugehörigen Akteure, wozu sowohl Organisationen als auch Mitglieder zählen, wurde aber bisher nicht vorgenommen. So bleiben zum Beispiel Fragen nach den Trägern der Bewegung, den Schlüsselmomenten und dem Selbstverständnis der Gemeinden offen. An der Stelle möchte dieser Beitrag ansetzen, der die liberale Bewegung in Deutschland anhand einer Beispielgemeinde analysiert. Das Herausgreifen einer Gemeinde ermöglicht es, die lokalen Bedingungen in Betracht zu ziehen und so zu einem umfassenden Verständnis des Entstehungsprozesses zu gelangen. Auch wenn die Ergebnisse nicht für alle liberalen Gemeinden in Deutschland generalisierbar und in jedem Fall die lokalen Besonderheiten zu beachten sind, können somit entscheidende Strukturen für die liberale Bewegung in Deutschland herausgearbeitet werden. Die Analyse der Gemeinde wird in zwei Schritten vorgenommen: Als erstes wird ihr Entstehungsprozess untersucht. Das ermöglicht zu verstehen, welche Wurzeln die Bewegung hat und von welchen Akteuren sie getragen wird. Hier sollen also die Fragen beantwortet werden, wie es nach 1990 zu der Entstehung einer liberalen Gemeinde in Deutschland gekommen ist, und ob es sich dabei um eine neue Bewegung handelte oder ob diese an das liberale Judentum in Deutschland vor 1939 anknüpfte. Im zweiten Schritt wird der Frage nachgegangen, was die Gemeindemitglieder selbst mit »ihrem« liberalen Judentum verbinden. Was ist ihnen dabei wichtig, was weniger wichtig? Das für die Analyse verwendete empirische Material entstand während der Feldforschung der Autorin in zwei Gemeinden einer westdeutschen Stadt, im Folgenden Weststadt genannt, in den Jahren 2010 und 2011. Neben biografisch-narrativen Interviews umfasst das Material teilnehmende Beobachtungen, Materialien aus den Gemeinden wie Gemeindezeitschriften, historische Abhandlungen über die Gemeinden und bereits vorliegende biografische Skizzen der Interviewten.5 Der Gemeindeanalyse ist ein kurzer historischer Überblick über die liberale Bewegung in Deutschland vorangestellt. Als erstes wird beschrieben, wie das liberale Judentum im 19.  Jahrhundert entstanden ist und mit welchen 4 Vgl. Katlewski 2002, Rosenthal/Homolka 2006. Jungmann 2007 beschreibt die Entwicklung der liberalen Synagoge Hüttenweg in Berlin. 5 Die Verwendung der verschiedenen Materialen geschieht nach dem Prinzip »all is data« der Grounded Theory, vgl. Barney Glaser, Remodeling Grounded Theory, in: Günter Mey/Katja Mruck (Hg.), Grounded Theory Reader, Köln 2007, S. 57. Die Auswertung der biografischen Interviews und der Beobachtungsprotokolle erfolgte sequenzanalytisch (vgl. u. a. Aglaja Przyborski/Monika Wohlrab-Sahr, Qualitative Sozialforschung, München 2009, S. 249 f.). Zur Wahrung der Anonymität der untersuchten Personen werden Pseudonyme verwendet und die persönlichen Angaben leicht modifiziert. Dies schließt auch die Anonymisierung des Ortes mit ein.

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Ideen es damals verbunden war. Danach wird die Phase nach 1945 betrachtet, in der das Gemeindeleben durch eine pragmatische orthodoxe Einheit im Ritus charakterisiert wurde. Das liberale Judentum schien bis 1990 keinen Platz in den Gemeinden der Bundesrepublik und der Deutschen Demokra­tischen Republik zu haben, doch waren schon seit den 1980er Jahren Veränderungen in den Gemeinden zu beobachten.

Die liberale Bewegung im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland: Ein Exkurs Die Aufklärung sowie die damit verbundene jüdische Emanzipation, also der Prozess der politischen Gleichstellung, stellte die Jüdinnen und Juden in Deutschland Anfang des 19. Jahrhunderts vor die Herausforderung, das Judentum neu zu erklären. Schon seit dem Aufkommen der aufklärerischen Idee Mitte des 18. Jahrhunderts, Religion nicht mehr als politische Angelegenheit, sondern als Frage des persönlichen Gewissens zu denken, versuchten sie, Antworten zu finden auf die Frage »Was bedeutet es, Jude zu sein?«.6 Die gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der Emanzipation – etwa die Erklärung zu Staatsbürgern oder die Gewährleistung von Niederlassungsfreiheit, Handelsfreiheit und Gewerbefreiheiten  – führten unter ihnen zur Auflösung der festgesetzten Gemeinschaftsgrenzen und auch zu einer teilweisen Entfremdung von althergebrachten Glaubensinhalten. Damit ging eine immer stärkere Integration in die christliche Mehrheitsgesellschaft einher. Gleichzeitig erstarkte im 19. Jahrhundert der Antisemitismus.7 In dieser Situation war eine neue Auslegung der jüdischen Tradition notwendig geworden, die die eigenständige religiöse Bedeutung des Judentums und damit dessen Weiterbestehen rechtfertigte und trotzdem mit den Gegebenheiten der modernen Gesellschaft zu vereinbaren war. Eine erste Antwort auf diese religiösen und sozialen Herausforderungen gab Israel Jacobson: Er gründete 1801 in Seesen (Westfalen) eine Reform6 Vor allem die Äußerungen von Moses Mendelssohn, David Friedländer und Leopold Zunz zu diesem Thema prägten viele nachfolgende Generationen; diese jüdischen Denker gelten als Wegbereiter der jüdischen Emanzipation. Vgl. u. a. Arno Herzig, Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn 2005, S. 149 ff.; Michael A. Meyer, Antwort auf die Moderne. Geschichte der Reformbewegung im Judentum, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 35 ff.; ders., Die Anfänge des modernen Judentums. Jüdische Identität in Deutschland 1749–1824, München 2011. 7 Vgl. u. a. Lou Bohlen: Jüdische Vergemeinschaftung nach 1900, in: Michael Geyer/Lucian Hölscher (Hg.), Die Gegenwart Gottes in der modernen Gesellschaft. Transzendenz und religiöse Vergemeinschaftung in Deutschland, Göttingen 2006.

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schule, glich den jüdischen Gottesdienst an den protestantischen Ritus an und gestaltete auch das Innere der Synagoge radikal um. Zudem ließ er Gebete und Lieder ins Deutsche übertragen und lud auch regelmäßig Prediger nach Seesen ein, damit der Wochenabschnitt auf Deutsch vorgetragen werden konnte. Ein weiteres Merkmal des reformierten Gottesdienstes war, dass im Gottesdienst jetzt Chor und Orgel zum Einsatz kamen. Zudem wurde statt der Tradition der jüdischen Bar Mizwa die Konfirmation für Jungen und Mädchen eingeführt.8 Dahinter stand die Idee eines Judentums, das, ohne sich aufzulösen, von den Christen als gleichwertige Religion anerkannt wurde und in der »Mitte« der christlichen Gesellschaft bestehen konnte.9 Somit beschränkte sich das Judentum auf die Religion. Es entstand die jüdische Religion, die parallel etwa zur römisch-katholischen oder lutherischen Kirche als Konfession aufgefasst wurde und als Privatangelegenheit galt.10 Jacobson führte seine reformierten Gottesdienste auch in Berlin durch, wo sie jedoch 1823 durch die preußische Regierung verboten wurden.11 In der Zwischenzeit hatte sich aber 1817 in Hamburg eine Reformsynagoge gegründet. Von dort wurde ein verändertes Gebetbuch herausgegeben, das zum Beispiel mit einer deutschen Transliteration für die hebräischen Texte versehen war. Durch die Formierung einer dauerhaften Gemeinde sowie durch die Herausgabe des Gebetbuches war die Kontinuität der Bewegung ge­sichert, was heute als Geburtsstunde des sogenannten liberalen Judentums be­zeichnet wird.12 In anderen Synagogen Westeuropas kam es zu ähnlichen Änderungen wie in Hamburg oder Seesen, was zu dem Wunsch führte, die Neuordnungen untereinander zu koordinieren. Eine wesentliche Figur bei der Verknüpfung der verschiedenen Reformbewegungen und damit bei der Entstehung der liberalen Strömung war Abraham Geiger, ein Rabbiner der zweiten Reformer­ generation. Er bündelte die Reformbewegungen, die im Rekurs auf die Hamburger Entwicklungen entstanden waren, und baute sie »in eine Ideologie für die Bewegung« aus.13 Neben seinen Schriften zur Reformbewegung und seinem Wirken als Rabbiner schaffte er das vor allem durch die Einberu-

8 Vgl. Herzig 2005, S.  161, Rosenthal/Homolka 2006, S.  41 f.; Ismar Elbogen/Eleonore­ Sterling, Die Geschichte der Juden in Deutschland, Hamburg 1993, S. 203. 9 Meyer 2000, S. 74. 10 Günter Stemberger, Jüdische Religion, München 2009, S. 7; Bohlen 2006, S. 321. 11 Der preußischen Obrigkeit schien nach der Französischen Revolution und den napoleonischen Reformen jegliche Art von Wandel verdächtig, weshalb sie dem Drängen jüdischer Traditionalisten nachgaben und die neuen Gottesdienste verbaten. Vgl. Rosenthal/Homolka 2006, S. 42. 12 Rosenthal/Homolka 2006, S. 43. 13 Meyer 2000, S. 138.

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fung der ersten Versammlung verschiedener Reformrabbiner im Jahre 1837 in Wies­baden. Auch wenn hier nur erste kleine Übereinstimmungen festgelegt wurden und in den folgenden Jahren noch drei weitere Treffen stattfanden, gab es zum ersten Mal eine Form der Institutionalisierung der Reformbewegung. Nach der letzten Rabbinerversammlung 1848 existierten zwar noch zahlreiche Kontroversen, doch es herrschte Einigkeit über die Verwendung der 30 Jahre zuvor in Hamburg festgelegten liturgischen Form des Gottesdienstes,14 und ein bedeutender Teil der deutschen Rabbiner unterstützte die in den Jahrzehnten zuvor formulierte Konzeption der jüdischen Religion.15 So stand das wesentliche Prinzip der historischen Veränderbarkeit des Judentums außer Frage. Im Jahr 1870 wurde schließlich die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin gegründet, eine Ausbildungsstätte für progressive Rabbiner. Damit kann die Formation der liberalen Bewegung in Deutschland als abgeschlossen angesehen werden. Das liberale Judentum wuchs schnell und ihm gehörte schon bald die Mehrheit der Jüdinnen und Juden in Deutschland an.16 Als Reaktion auf das liberale Judentum waren auch Gegenbewegungen entstanden wie die Neo-Orthodoxie oder das konservative Judentum, denen sich aber insgesamt nur zehn bis zwanzig Prozent der jüdischen Gesamtbevölkerung zurechneten.17 Die progressive Bewegung in Deutschland beeinflusste zudem das Judentum anderer europäischer Länder wie Groß­ britannien oder Frankreich, wo Anfang des 20. Jahrhunderts liberale Vereinigungen entstanden. Im US -amerikanischen Judentum wurden die Reformen gleichfalls aufgenommen. Schließlich entstand 1926 in London als gemeinsames Dach für alle progressiven Jüdinnen und Juden der Welt die World Union for Progressive Judaism.

Die jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik von 1945 bis 1990 Nach der weitgehenden Vernichtung des jüdischen Lebens in Deutschland durch die Nationalsozialisten entstanden 1945 in Deutschland nur wenige jüdische Gemeinden. In den westlichen Besatzungszonen beziehungsweise in 14 Zum Beispiel fehlten in den Gebetbüchern diejenigen Gebete, die eine Hoffnung auf die Rückkehr nach Israel ausdrückten. Auch gab es keine Stellen mehr, die als gegen das Christentum gerichtet verstanden werden konnten, vgl. Herzig 2005, S. 198. 15 Meyer 2000, S. 211. 16 Bohlen 2006, S. 321. 17 Bohlen 2006, S.  320. Ausführlicher zu den Bewegungen der Neo-Orthodoxie und des Konservatismus vgl. z. B. Meyer 2000 u. Rosenthal/Homolka 2006.

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der späteren Bundesrepublik waren diese als Einheitsgemeinden konstituiert und führten ihren Gottesdienst nach dem orthodoxen Ritus durch. Die Gründe für diesen orthodoxen Charakter waren vielfältig: Diejenigen, die religiöse Kenntnisse mit in die Gemeinden brachten, waren die sogenannten Displaced Persons sowie die Zuwander_innen der 1950er und 1960er Jahre aus Osteuropa. Und diese waren mit der orthodoxen Tradition verbunden. Zudem wurde die liberale Bewegung von vielen als zu deutsch abgelehnt. Und schließlich gab es keine liberalen Rabbiner_innen.18 Das heißt aber nicht, dass die orthodox geführten Gemeinden besonders religiös waren; die überwiegende Mehrheit der Mitglieder war persönlich nicht besonders observant, die wenigsten hielten sich zum Beispiel an die religiösen Speisegesetze, und in den Großgemeinden gingen nur circa fünf Prozent zum Schabbat in die Synagoge.19 Eine Ausnahme bildete die jüdische Gemeinde in Berlin, wo es auch nach 1945 liberale Gottesdienste sowie einen liberalen Rabbiner gab.20 Zudem gab es zum Beispiel in Berlin und Süddeutschland Militär­ gottes­dienste der liberalen US -amerikanischen Rabbiner, die seit den 1980er Jahren zunehmend von Zivilpersonen besucht wurden. Für viele, insbesondere ältere Jüdinnen und Juden, war dies aber schon aus sprachlichen Gründen keine wirkliche Alternative zu den orthodox ausgerichteten Einheits­ gemeinden.21 In der sowjetischen Besatzungszone und der späteren Deutschen Demokratischen Republik entstanden auch wieder kleinere jüdische Gemeinden. Unter anderem aufgrund der staatlichen Repressionen und der antisemi­ tischen Stimmung im Jahr 1953 verringerte sich die Anzahl der Gemeinde­ mitglieder jedoch erneut, und die Gemeinden hatten um ihren Erhalt zu kämpfen. Gottesdienste fanden  – außer in Ostberlin und Leipzig  – nur an Feiertagen statt, es kamen kaum die nach jüdischem Gesetz nötigen zehn Männer zum Gebet zusammen. Im Jahr 1970 wurde festgelegt, dass in allen Synagogen der Gottesdienst bei Anwesenheit von drei – statt zehn – männlichen, erwachsenen Juden durchgeführt werden kann. Diskussionen um die Durchführung der religiösen Praxis waren diesen Problemen untergeordnet und so existierten die verschiedenen Richtungen nebeneinander. Einerseits wurden liberale Traditionen wie Chor und Orgelbegleitung weitergeführt, anderseits hielten die Gemeinden an der orthodoxen Liturgie fest, die Gebete

18 Vgl. Michael Brenner, Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945–1950, München 1995; Jael Geis, Übrig sein – Leben »danach«. Juden deutscher Herkunft in der britischen und amerikanischen Zone Deutschlands 1945–1949, Berlin 1999. 19 Brenner 1995, S. 107. 20 Vgl. Rosenthal/Homolka 2006, S. 70 f. 21 Christine Müller, Zur Bedeutung von Religion für jüdische Jugendliche in Deutschland, Münster 2007, S. 80.

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wurden auf Hebräisch gesprochen und die liturgischen Aufgaben im Gottesdienst blieben den Männern vorbehalten.22 Sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR kam es in den 1980er Jahren zu strukturellen Veränderungen in den Gemeinden. Seit den 1970er Jahren war vor allem in Westdeutschland eine Kluft zwischen den alten Gemeindefunktionären und der in den 1970er und 1980er Jahren heran­ wachsenden zweiten Generation entstanden, was zu Auseinandersetzungen zwischen der alten und der jungen Generation führte. Diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen fanden im traditionellen Gemeindeleben keinen Platz für ihre Interessen und Fragen an das Judentum. Die gesamtgesellschaftliche Thematisierung des Holocaust seit Ende der 1970er Jahre führte auch für junge säkulare Jüdinnen und Juden, die außerhalb der Gemeinden standen, zu verstärkten Auseinandersetzungen mit der familiären Vergangenheit beziehungsweise mit den eigenen jüdischen Wurzeln.23 Teilweise kam es dadurch zu Gemeindeeintritten. In der DDR wurde dieser Prozess dadurch verstärkt, dass die Politik sich in den 1980er Jahren gegenüber der jüdischen Geschichte und auch den jüdischen Gemeinden offen verhielt. Hier waren es vor allem Kinder von Kommunist_innen, die auf der Suche nach den eigenen Wurzeln den jüdischen Gemeinden beitraten.24 Zudem entstand, zu­ mindest in der Bundesrepublik, eine »weltlich, jüdisch gebildete Schicht«.25 In dieser waren es besonders die gut gebildeten Frauen, die ein größeres Interesse am Judentum entwickelten und versuchten, eine neue Rolle in der bisher von Männern dominierten Gemeindewelt einzunehmen.26 Diesen Akteuren war gemeinsam, dass sie den Wunsch verspürten, das jüdische Gemeinde­ leben aktiv mitzugestalten und an ihre eigene Lebenssituation anzupassen. Allerdings stießen sie damit in den meisten Gemeinden auf Widerstand seitens der etablierten Gemeindefunktionäre, die mithilfe des Status quo ihren

22 Ulrike Offenberg, »Seid vorsichtig gegen die Machthaber«. Die jüdischen Gemeinden in der SBZ und DDR 1945–1990, Berlin 1998, S. 117 ff. 23 Vgl. Daniel Levy/Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: der Holocaust, Frankfurt am Main, 2007. 24 Vincent Wroblewsky, Eine unmögliche Liebe. Juden in der DDR , Berlin/Wien 2001, S. 24. Zur Hinwendung der zweiten Generation zum Judentum vgl. auch Y. Michal Bode­ mann, Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung, Hamburg 1996; Richard Chaim Schneider, Wir sind da! Die Geschichte der Juden in Deutschland von 1995 bis heute, Berlin 2000; Stephanie Tauchert, Jüdische Identitäten in Deutschland. Das Selbstverständnis von Juden in der Bundesrepublik und der DDR 1950 bis 2000, Berlin 2007 und Bettina Völter, Judentum und Kommunismus. Deutsche Familien­geschichten in drei Generationen, Opladen 2003. 25 Y. Michal Bodemann, In den Wogen der Erinnerung. Jüdische Existenz in Deutschland, München 2002, S. 92. 26 Ebd.

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Einfluss und ihre Bedeutung sichern wollten.27 Seit den 1990er Jahren änderte sich die Gemeindestruktur jedoch wesentlich: Durch die Zuwanderung von jüdischen Migrant_innen aus der ehemaligen Sowjetunion wuchsen die Gemeinden von circa 28.000 Mitgliedern im Jahr 1990 auf knapp 110.000 im Jahr 2013.28 Damit bilden die zugewanderten Jüdinnen und Juden die Mehrheit in den jüdischen Gemeinden Deutschlands, insgesamt machen sie mehr als 95 Prozent aus, in den einzelnen Gemeinden stellen sie zwischen 50 und 100 Prozent der Mitglieder.29 Durch diesen immensen quantitativen Wandel schien es nun möglich, neue Allianzen zu bilden und die bestehenden Ideen umzusetzen. Am Beispiel von Weststadt soll im Folgenden gezeigt werden, wie dieser Prozess von der Idee zur Institution verwirklicht wurde.

Der Weg zu einer liberalen Gemeinde: Eine Analyse Die Entstehung einer neuen Gruppe

Die hier zu betrachtende liberale Gemeinde entstand aus der sogenannten Einheitsgemeinde von Weststadt. Die Einheitsgemeinde wurde im Jahr 1945 von deutschen Jüdinnen und Juden, die bereits vor dem Krieg in der Stadt lebten, gegründet. Gleichzeitig entstand vor Ort eine Organisation der sogenannten Displaced Persons, die aus Osteuropa gekommen waren. Zu einem Zusammenschluss der beiden Organisationen kam es erst Anfang der 1950er Jahre, als bereits die meisten Displaced Persons emigriert waren und ein eigenständiges Weiterbestehen ihrer Gemeinde nicht mehr möglich schien. Der gemeinsame Gottesdienst lehnte sich weitestgehend an den orthodoxen Ritus an und wurde von Juden geleitet, die vor dem Krieg in Osteuropa gelebt hatten und über ausreichend religiöse Kenntnisse verfügten. Immer wieder hatte die Gemeinde auch Rabbiner oder Gastrabbiner, die den Gottesdienst begleiten. Dabei wurde darauf geachtet, dass der Rabbiner weder ultra-orthodox noch zu liberal war und man so sowohl den eher liberalen deutschen Juden als auch den eher orthodoxen osteuropäischen Juden entgegenkam. Doch insgesamt gab es wenig aktive Gemeindemitglieder, über die Gestaltung des Gemeindelebens und die Ausrichtung des Gottesdienstes diskutierten die meisten Mitglieder nicht und akzeptierten stattdessen das Bestehende. An der 27 Vgl. Anthony D. Kauders, Unmögliche Heimat. Eine deutsch-jüdische Geschichte der Bundesrepublik, München 2007. 28 Vgl. Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland e. V. 2013. 29 Vgl. Ben-Rafael/Sternberg/Glöckner 2010; Tobias Brinkmann, Migration und Transnationalität. Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte, Paderborn 2012, S. 182.

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Spitze der Gemeinde entschied der Vorstand über die meisten Dinge in Eigenverantwortung. Wenn auch der Gottesdienst weitestgehend nach orthodoxem Ritus durchgeführt wurde, bedeutete dies nicht, dass die Gemeindemitglieder besonders religiös waren. In den 1960er und teilweise in den 1970er Jahren wurde das Gemeindeleben durch viele Feiern belebt, zu denen auch nichtjüdische Gäste kamen. Das nahm jedoch immer mehr ab, sodass Anfang der 1980er Jahre eine wenig lebendige und immer weiter schrumpfende Gemeinde bestand. Zu diesem Zeitpunkt gehörte sie mit knapp 400 Mitgliedern zu den mittelgroßen Gemeinden in Westdeutschland.30 Doch auch hier fanden die oben beschriebenen Veränderungen der 1980er Jahre statt: Die Nachkriegsgeneration interessierte sich wieder mehr für »ihr« Judentum und nahm auch wichtige Positionen in den Gemeinden ein. Die Jugendarbeit wurde stärker unterstützt und es gab Versuche, mithilfe einer Zeitschrift die Kommunikation untereinander wieder zu beleben und die starren Strukturen aufzubrechen. Diese Aufbruchsstimmung wurde noch dadurch unterstützt, dass zwei neue religiöse Experten, ein neuer Rabbiner und ein neuer Kantor, in die Gemeinde kamen.31 Diese hatten vor ihrer Anstellung in anderen Ländern gewirkt, wie den USA beziehungsweise England, und wussten so, wie sich das jüdische religiöse Leben anderswo gestaltet. Beide hatten dabei vor allem Erfahrung mit liberalen Gemeinden gesammelt. Der Rabbiner, eine charismatische Figur, hatte zudem bereits kleine Gemeinden ohne eine wesentliche religiöse Aktivität neu gestaltet und wiederbelebt. Bei einer zufälligen Begegnung zwischen dem Ersten Gemeindevorsitzenden, Herrn Müller, und dem Rabbiner, Herrn Günther, fiel die Entscheidung für den neuen religiösen Experten, der aus Deutschland stammte, schnell: Seit über zwei Jahren gab es keinen Rabbiner in der Gemeinde, überhaupt herrschte in der Bundesrepublik ein Mangel an Rabbinern. Insbesondere gab es so gut wie keine deutschsprachigen Rabbiner, was dem Gemeindevorsitzenden im Hinblick auf eine gute Zusammenarbeit mit der Gesamtgesellschaft jedoch überaus wichtig war. Er selbst war in der Nachkriegszeit in Weststadt geboren worden, als Universitätsprofessor gut in die Stadtgesellschaft integriert und eine anerkannte Persönlichkeit.32 Als Vorsitzender der Gemeinde war es für ihn zentral, gegen Antisemitismus und Rassismus vorzugehen und zu zeigen, dass die Gemeinde ein Teil der Stadt ist. Sowohl im Interview als auch in seinen öffentlichen Statements wird deutlich, dass für ihn der Erhalt der Gemeinde zentral ist und nicht die religiöse Ausrichtung ihres Gottesdienstes.33 30 31 32 33

Vgl. historische Abhandlung über die Geschichte der Juden in Weststadt ab 1945. Vgl. Interviewpartner, Jahrgang 1929, Transkript 9.  Vgl. Interviewpartner, Jahrgang 1950, Transkript 4.  Vgl. ebd. und historische Abhandlung über die Geschichte der Juden in Weststadt ab 1945.

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Die Arbeit des neuen Rabbiners war erfolgreich. Im Zusammenarbeit mit dem Kantor gelang es ihm sehr bald, »eine wahrlich betende und singende«34 Gemeinde aufzubauen. Die Gottesdienste waren im Vergleich zu anderen in der Bundesrepublik gut besucht. Da es in der Gemeinde kaum re­ligiöse Experten beziehungsweise religiös engagierte Gemeindemitglieder gab, hatte er viel Gestaltungsfreiheit und versuchte so gut wie möglich, das bestehende Vakuum zu füllen. Dies geschah auch, indem er Schritt für Schritt liberale Elemente einführte, von bestimmten Liedern oder Gebeten bis hin zu einem Familiengottesdienst, bei dem Frauen und Männer nebeneinander sitzen konnten. Die Jüdinnen und Juden der Nachkriegsgeneration hatten kaum religiöse Kenntnisse und beherrschten zum Beispiel selten Hebräisch. Jedoch waren sie offen für die Vermittlung von jeglichem jüdischen Wissen und dankbar für gewisse liberale Elemente, wie Gebete auf Deutsch, die sie leicht verstanden. Insgesamt entstand eine Atmosphäre des Aufbruchs, verbunden mit dem Gefühl, dass es verschiedene Wege gibt, das Judentum zu leben – und nicht nur den bisher praktizierten des strengen traditionellen Gottesdienstes. Davon angezogen, wollten auch einige Frauen aus der Gemeinde mehr über das Judentum lernen.35 Sie bekamen durch Rabbiner Günther den Eindruck, dass auch sie in der Gottesdienstliturgie eine aktivere Rolle einnehmen könnten und ihnen dadurch im religiösen Judentum mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten offen stehen würden. Der Rabbiner wiederum nahm diese Wissbegierde gerne auf, da es ihm darum ging, das Judentum zu lehren und zu diskutieren und so mit Leben zu füllen. Auf diesem Weg entstand ein Studienkreis von Frauen. In diesem Kreis befanden sich sowohl Frauen, die schon lange Jahre Mitglied in der Einheitsgemeinde waren, aber auch solche, die sich erst seit Kurzem mit ihren jüdischen Wurzeln beschäftigten und zu den neuen Mitgliedern zählten. Da ist zum Beispiel Frau Köhler, die Anfang der 1970er Jahre als Jugendliche der Gemeinde beigetreten war. Ihrer Mutter, einer deutschen Jüdin, war die Gemeinde zu orthodox geprägt, weshalb sie sich gegen einen Gemeindeeintritt entschieden hatte. Frau Köhler beschreibt den Rabbiner und die Möglichkeit, bei ihm zu lernen, als eine Art Erlösung von einem ausgrenzenden und langweiligen Judentum: »Und bei den kleineren Gottesdiensten habe ich dann sogar hinter einem Vorhang gesessen, einem zugezogenem Vorhang, auf dem sich lauter Entchen befanden und habe dann aus lauter Langeweile die Enten gezählt. Das war mein Judentum bis zu dem Zeitpunkt als der Rabbiner kam, der eben auch mit Frauen gemeinsam Tora studiert und gelernt hat, und dann hat sich mein Interesse auch an den 34 Interviewpartner, Jahrgang 1929, biografische Skizze. 35 Vgl. Interviewpartnerin, Jahrgang 1951, Transkript 6; Interviewpartnerin, Jahrgang 1953, Transkript 7; Interviewpartner, Jahrgang 1929, Transkript 9. 

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religiösen Themen entwickelt.«36 Oder Frau Franke, die erst seit den 1970er Jahren in Weststadt lebt, und in deren Familie so gut wie gar nicht über das eigene Judentum gesprochen wurde. Durch die Suche nach ihren eigenen jüdischen Wurzeln war sie sehr lerninteressiert und schloss sich kurz nach ihrem Gemeindebeitritt Mitte der 1980er Jahre der Frauengruppe an. In dem Studienkreis setzten sich die Frauen mit verschiedenen Texten der Tora auseinander und diskutierten die Rolle der Frau im Judentum. Das war für sie auch in Bezug auf ihre Töchter interessant: »Denn wir haben gefragt, was machen denn eigentlich unsere Töchter, wenn sie mal zwölf Jahre alt sind und auch im Konfirmations- oder Bat Mizwa-Alter sind?«37 Die Frauen entwickelten eine immer konkreter werdende Anschauung vom Judentum: ein Judentum, das sich stetig weiterentwickelt und verändert, das pluralistisch ist, und in dem Männer und Frauen im synagogalen Leben gleichberechtigt sind.38 Je mehr die Frauen über das Judentum lernten, desto mehr merkten sie, dass ihre Vorstellung und auch die des Rabbiners nicht mit den Ansichten der Gemeindeführung und einiger anderer Gemeindemitglieder übereinstimmten. So gab es etwa Gemeindemitglieder, die nach dem Krieg als sogenannte Displaced Persons oder in den 1960er und 1970er Jahren aus Osteuropa, vor allem aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn, nach Deutschland emigriert waren. Sie waren mit der orthodoxen Tradition aufgewachsen und verstanden diese als die richtige Art des jüdischen Gottesdienstes. Wiederum andere Gemeindemitglieder lehnten einen Wandel generell ab, da sie ihre Gemeinde als einen Ort der Tradition betrachteten.39 Hinzu kam, dass die Frauen durch den Frauenkreis immer stärker in das Gemeindeleben eingebunden wurden und sich auch aktiv an der Gemeindepolitik beteiligen wollten. Sie waren außerhalb der Gemeinde durchaus erfolgreich: Frau Köhler arbeitete zum Beispiel als niedergelassene Ärztin, Frau Franke als Führungskraft in einem Lebensmittelunternehmen, und nun wollten sie auch das Gemeindeleben aktiv mitbestimmen. Das stieß aber auf Widerstand seitens der Gemeindeführung, besonders seitens des Vorsitzenden Müller. Der Gemeindevorsitzende verfügte in dieser Gemeinde traditionell über viel Macht, er vertrat die Organisation nach außen und bestimmte alle Personalien. Bisher gab es auch kaum Bestrebungen seitens der Gemeindemitglieder, bei den Entscheidungen mitzu­bestimmen. Die Gemeindeführung war daran interessiert, den Status quo zu erhalten, 36 Interviewpartnerin, Jahrgang 1953, Transkript 7. 37 Interviewpartnerin, Jahrgang 1951, Transkript 6. 38 Vgl. zum Beispiel auch Jonathan A. Romain/Walter Homolka, Progressives Judentum. Leben und Lehre, München 1999; Union progressiver Juden in Deutschland (Hg.), Liberales Judentum. 35 Grundsätze, Berlin 2003. 39 Vgl. Monika Wohlrab-Sahr, Religion als Heimat? Vortrag beim 31. Deutschen Evange­ lischen Kirchentag, Köln 2007, unveröffentlicht.

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weil ihre Mitglieder um deren Führungsposition fürchteten. Neue Ideen allerdings bergen die Gefahr, dass der Status der Gemeindeführung als Experten infrage gestellt wird beziehungsweise sie sich gegenüber »dem Neuen« beweisen müssen.40 In der Gemeinde entstanden durch die unterschiedlichen Interessen Spannungen – auf der einen Seite stand der Wunsch nach Erneuerung und Mitbestimmung, auf der anderen Seite die Erhaltung des bisherigen Zustandes. Bei den Frauen breitete sich Unzufriedenheit aus, weil sie merkten, dass sie mit ihren Wünschen sehr schnell an Grenzen stießen. Jedoch war es ihnen mit dem Rabbiner möglich, weiter zu lernen, und sie sahen immer mehr Freiräume für sich entstehen. So bestanden in den 1980er Jahren die verschiedenen jüdischen Wege nebeneinander und es gab keine offenen Konflikte. Anfang der 1990er Jahre kamen auch in diese Gemeinde viele jüdische Zuwander_innen aus dem Gebiet der Sowjetunion. Schnell verdoppelte und verdreifachte sich die Mitgliederzahl. Die neuen Mitglieder wurden herzlich empfangen, aber bald ergaben sich neue Herausforderungen und Fragen. Die neuen Gemeindemitglieder waren – nicht zuletzt aufgrund der Restriktionen unter dem Sowjetregime – zum größten Teil säkular orientiert, religiöse Praktiken hatten oftmals für sie keinerlei Relevanz. Judentum verstanden sie als Nationalität, weniger als Religion.41 Den Zuwander_innen fiel es aufgrund ihrer geringen Hebräisch- und Deutschkenntnisse sowie der mangelnden Erfahrung mit den religiösen Riten schwer, dem Gottesdienst zu folgen. Die zahlenmäßige Überlegenheit der Zuwanderer_innen führte wiederum bei vielen der deutschen Jüdinnen und Juden der Nachkriegsgeneration, auch bei den Frauen aus dem Frauenkreis, zu der Befürchtung, dass sie auf die Gestaltung des Gemeindelebens und des Gottesdienstes keinen Einfluss mehr nehmen könnten, dass also die gerade begonnenen Erneuerungsbewegungen damit gestoppt wären.42 Hinzu kamen Irritationen zum Beispiel darüber, dass sich die Neuen im Gottesdienst unterhielten, oder dass Russisch immer mehr zur Gemeindesprache wurde. Für die Gemeindeführung hingegen stand im Vordergrund, dass mit der Zuwanderung die jüdische­ Gemeinde zahlenmäßig stabilisiert wurde. Außerdem mussten von ihr viele büro­k ratische Angelegenheiten in Verbindung mit den Aufnahmeregelungen, 40 Vgl. zu den Auseinandersetzungen zwischen Orthodoxie und Heterodoxie zum Beispiel Pierre Bourdieu, Religion. Schriften zur Kultursoziologie 5, Konstanz 2009. 41 Vgl. unter anderem Franziska Becker, Ankommen in Deutschland. Einwanderung als biographische Erfahrung im Migrationsprozess russischer Juden, Berlin 2001; Ben-­ Rafael/Sternberg/Glöckner 2010; Larissa I. Remennick, Russian Jews on Three Continents. Identity, Integration and Conflict, New Brunswick 2007. 42 Vgl. historische Abhandlung über die Geschichte der Juden in Weststadt ab 1945, S. 441: »Anlaß für diese Neugründung war zunächst die Befürchtung alter Mitglieder, wegen der zahlenmäßigen Überlegenheit der neuen russischen Mitglieder keinen Einfluss mehr auf die Gemeindearbeit nehmen zu können.«

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der Unterbringung und der Versorgung der Migrant_innen erledigt werden.43 Die Auseinandersetzungen um Erneuerung oder Bewahrung innerhalb der Gemeinde wurden durch die Zuwanderung also noch verstärkt. Die Zuwander_innen hingegen waren in der Anfangsphase damit beschäftigt, in der neuen Gesellschaft anzukommen, und mussten sich im Gemeindeleben erst orientierten; zur Gemeindeentwicklung bezogen sie höchstens Position, wenn Freundschaften mit der einen oder anderen Seite entstanden waren. Ein wesentlicher Konflikt innerhalb der Gemeinde fand zwischen zwei Schlüsselfiguren statt, zwischen dem religiösen Experten, Rabbiner Günther, und dem administrativen Experten, dem Ersten Gemeindevorsitzenden Müller. Dieser Konflikt scheint ein struktureller Konflikt zu sein, der wiederholt in jüdischen Gemeinden auftritt und auch in Weststadt seit 1945 öfter aufgetreten ist.44 Beide Personen sind in ihrer Funktion für die Gemeinden eine Auto­rität. Doch immer wieder tritt die Frage auf, wer wie viel entscheiden darf, und ob der Gemeinderabbiner nur ein normaler Angestellter ist oder das religiöse Oberhaupt der Gemeinde. Ein entscheidender Streitpunkt zwischen diesen beiden Experten war die Errichtung eines Mahnmals in Weststadt, bei dem beide ihre unterschiedliche Meinung öffentlich kundtaten und sich auf diese Weise gegeneinander positionierten. In der Gemeinde entstand Anfang der 1990er Jahre somit ein Machtkampf zwischen den beiden Gruppen der alteingesessenen Juden, der durch den Konflikt ihrer beiden Führungsfiguren noch verstärkt wurde. Besonders intensiv war das Ringen um die Macht, weil auf beiden Seiten hochgebildete Personen mit großem gesellschaftlichen Ansehen standen. Sie wollten folglich auch in der Gemeinde nicht auf die Durchsetzung ihrer Interessen verzichten. In diesem Konflikt besaß der Erste Gemeindevorsitzende einen entscheidenden Trumpf: Es war ihm möglich, den Rabbiner zu entlassen. Das geschah Mitte der 1990er Jahre. Diese Eskalation der Auseinandersetzungen beschleunigte die weitere Entwicklung. Diejenigen, die mit der Gestaltung und den Geschehnissen in der Einheitsgemeinde unzufrieden waren, trafen sich und überlegten, wie es weitergehen solle.45 Ihnen war bewusst, dass sie ohne den ihnen wohlgesonnenen Rabbiner so gut wie keine Möglichkeit haben würden, ihre Interessen in der Gemeinde durchzusetzen. Sie wollten jedoch selbst entscheiden, wie zum Beispiel der Umgang mit den Zuwander_innen oder der Ablauf des Gottesdienstes gestaltet werden könnte, und dafür benötigten sie ihre eigenen Strukturen. Sie kamen zu dem Entschluss, eine neue Gemeinde zu gründen. Dafür waren aufgrund des Wachstums durch die 43 Vgl. Interviewpartnerin, Jahrgang 1951, Transkript 6; Interviewpartnerin, Jahrgang 1953, Transkript 7.  44 Historische Abhandlung über die Geschichte der Juden in Weststadt ab 1945, S. 415. 45 Ebd.

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Zuwander_innen genügend potenzielle Gemeindemitglieder vorhanden, die Einheitsgemeinde hatte eine Größe erreicht, bei der eine Teilung denkbar erschien, ohne dass dies zur Auflösung oder Funktions­unfähigkeit geführt hätte. Der liberalen Gruppe gelang es, weitere Gemeindemitglieder, auch einige wenige der Zuwanderer_innen, für die Idee zu begeistern. Meist geschah dies durch persönliche Kontakte, die sich mittlerweile herausgebildet hatten. Marina Hilb, damals noch eine Jugendliche, gehörte mit ihrer Familie zu den Zuwanderern, die die neue Gemeinde mitgründeten: »Und wir wurden, glaub ich, eingeladen […] und deswegen waren wir von Anfang an mit dabei und haben diese Entwicklung auch sozusagen miterlebt.«46 Schließlich wurde eine neue Gemeinde gegründet, der von Anfang an knapp hundert Personen angehörten. Die Initiativgruppe bestand ausschließlich aus Jüdinnen und Juden, die schon vor 1945 in Weststadt gelebt hatten, darunter auch Frau Köhler und Frau Franke. Allerdings bedeutete die Entscheidung, die Einheitsgemeinde zu verlassen, noch nicht, dass es einen ausgereiften Plan für eine neue Gemeinde gegeben hätte: »Und da haben wir uns einfach gegründet, aber wir haben nicht überlegt, wie geht es dann weiter. Wir waren dann gegründet. Na und, wunderbar, wir hatten nichts, gar nichts. Keine Tora­ rollen, keinen Raum, kein Nichts.«47 In diesem Fall war es also möglich, dass sich Personen zusammenfanden, die das Judentum in einem anderen Sinne verstanden, als es in der orthodox ausgerichteten Gemeinde gelebt wurde. Der Rabbiner war in diesem Prozess die Schlüsselfigur. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es in vielen Gemeinden Jüdinnen und Juden mit liberalen Ansichten gab, doch scheint vielerorts der Impuls von außen gefehlt zu haben, sodass sich dort keine Frauenkreise oder liberale Gruppen bildeten. In diesem Fall erhielt die Gruppe nach ihrer Entstehung bald viel Zuspruch, sie wurde größer und ihre Meinung erlangte innerhalb der Gemeinde Gewicht. Als Ergebnis von gemeindeinternen Auseinandersetzungen zwischen etablierten Gemeindemitgliedern entstand somit eine neue Gemeinde. Die Institutionalisierung einer von der Einheitsgemeinde abweichenden Meinung war aber nur möglich, weil durch die Zuwanderung genügend Akteure vorhanden waren. In einer weniger konfliktiven Situation ist es jedoch auch denkbar, dass die liberale und die orthodoxe Gruppe gemeinsam unter dem Dach der Einheitsgemeinde verbleiben.48 Im Folgenden wird analysiert, wie aus der auf dem Papier neu gegründeten liberalen Gemeinde eine funktionierende Organisation wurde. 46 Interviewpartnerin, Jahrgang 1983, Transkript 15. 47 Interviewpartnerin, Jahrgang 1951, Transkript 6.  48 In Deutschland existieren auch liberale Gruppen beziehungsweise liberale Gottesdienste unter dem Dach einer Einheitsgemeinde. Vgl. z. B. Barbara Goldberg, Raum für Pluralismus, in: Jüdische Allgemeine, 2.1.2014, http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/ id/17972.

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Der Aufbau einer liberalen Gemeinde

Für die Mitglieder der neuen Gemeinde war das wöchentliche Treffen zum Gottesdienst zentral. Das stellte sie aber auch gleich vor das erste Problem: Sie hatten keine eigenen Räume. In dieser Situation wurden sie, dank ihrer guten Kontakte, Gäste bei christlichen Kirchen und Vereinen. Ihre Gottesdienste sprachen sich schnell herum und die neue Gemeinde hatte nach zwei Jahren ungefähr 200 Mitglieder. Die so lange währende Kontinuität und der damit verbundene Erfolg, der sich in diesem Wachstum zeigte, führte bei den verantwortlichen Mitgliedern der Gemeinde, vor allem Frauen aus dem ehemaligen Frauenkreis, zu der Entscheidung, einen eigenen Raum anzumieten. Es wurde ein Büroraum unweit der Einheitsgemeinde gewählt. Die lokale Verortung kann als ein weiterer Schritt bei der Institutionalisierung der Gemeinde angesehen werden. Die Einrichtung des Raumes wurde improvisiert  – Bekannte spendeten Stühle, Gardinen wurden selbst genäht und für jede Neuanschaffung wurden nach dem Kiddusch Spendengelder gesammelt. Entscheidend bei dem Aufbau der Gemeinde waren die Kontakte zu anderen Gemeinden. Mitte der 1990er Jahre hatten sich weitere jüdische Gemeinden mit einer liberalen Ausrichtung in Deutschland gegründet. Dies verdeutlicht, dass die Zuwanderung es vielerorts den liberal eingestellten Gemeindemitgliedern der Einheitsgemeinden möglich machte, ihren eigenen Weg zu gehen. Zum einen konnte so die neue Gemeinde mit anderen progressiven Gemeinden im selben Bundesland einen Landesverband gründen. Damit wurde sie nach außen hin sichtbarer und hatten mit diesem rechtlichen Status auch Anspruch auf öffentliche Gelder von Bund und Land. Zum anderen schlossen sich alle liberalen Gemeinden in Deutschland zusammen und es entstand die Union Progressiver Juden in Deutschland e. V. Diese wurde wiederum Mitglied in der World Union for Progressive Judaism. Die An­ mietung und Einrichtung des neuen Gemeinde- und Betraumes wurde finanziell durch die World Union unterstützt. Die Vernetzung mit anderen liberalen Institutionen half nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch durch ständigen Austausch und Beratschlagung bei auftauchenden Problemen. All diese Gemeinden waren neu entstanden und hatten dadurch mit ähnlichen organisatorischen und bürokratischen Hürden zu kämpfen. Außerdem mussten sich alle religiös neu orientieren: Die liberale Richtung stand fest, doch gab es bei den Gemeindemitgliedern keinerlei Erfahrung mit dem liberalen Judentum. Ausnahmen waren diejenigen, die längere Zeit im Ausland Mitglied in einer liberalen Gemeinde gewesen waren. So war ein inhaltlicher Austausch zwischen den Gemeinden unerlässlich. Auch wenn die hier betrachtete Gemeinde von Anfang an den jüdischprogressiven Ideen anhing, so kristallisierte sich ihre eindeutige Verortung

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als liberale Gemeinde erst in den ersten zwei Jahren ihres Bestehens heraus und mündete in die Benennung als liberale Gemeinde. Damit einher ging die Konstituierung als Verein, was ihr rechtliche Sicherheit verschaffte. Die liberale Positionierung wurde unterstützt durch die eben beschriebene Vernetzung mit anderen liberalen Organisationen. Das geschah auf der Landes­ebene, auf nationaler und auch auf internationaler Ebene. Neben der finanziellen Unterstützung durch die World Union zeigt sich letzteres besonders daran, dass die erste Torarolle ein Geschenk von einer progressiven amerikanischen Gemeinde war. Eine zentrale Rolle bei der Verortung als liberale Gemeinde spielten zudem die religiösen Expertinnen und Experten. Zum einen war da Frau Bergmann aus dem Frauenkreis, die aufgrund ihrer Kindheit und Jugend in Israel über Hebräischkenntnisse verfügte und sich in die religiösen Fragen einarbeitete; zum anderen Herr Bartos, der auch in Israel gelebt hatte und Hebräisch beherrschte sowie Erfahrungen als Gemeindevorsitzender besaß. Beide wurden für die Gemeinde zu Experten in Fragen der Religion, während Frau ­Köhler und Frau Franke, die über juristische Kenntnisse verfügten und vor Ort gut vernetzt waren, die organisatorischen Aufgaben und damit auch die Repräsentation der Gemeinde nach außen übernahmen. Diese zügige Aufgabenverteilung gewährleistete einen funktionierenden Aufbau der liberalen Gemeinde. Die Gemeinde wuchs weiter, sie bekam ihren eigenen Rabbiner und konnte Mitte der 2000er Jahre eine eigene Synagoge beziehen. Zu den neuen Gemeindemitgliedern gehören vor allem Migrant_innen aus der ehemaligen Sowjetunion. Vielen von ihnen kommt es sehr entgegen, dass die Mitglieder der neuen Gemeinde ihrerseits Wert auf einen verständlichen Gottesdienst legen, denn sowohl die Etablierten als auch die Neuen verfügten über wenig religiöses Wissen und wollten sich dieses erst erschließen. Marina Hilb formuliert das folgendermaßen: »Und da habe ich auch viel besseren Anschluss gefunden, weil es war nicht alles auf Hebräisch und dann wurden Zettel verteilt, wo es sozusagen transkribiert wurde.«49 Die Zugewanderten bilden auch in dieser Gemeinde die Mehrheit. Jedoch haben die etablierten Jüdinnen, viele von ihnen aus der Initiativgruppe, nach wie vor die Gemeindeführung inne. Sie verstehen sich als verantwortlich für die Integration der Migrant_innen in die Gemeinde sowie in die deutsche Gesellschaft: »Also die jüdischen Gemeinden haben auch nicht nur die Aufgabe, eben die Menschen wieder ans Judentum heranzuführen, sondern auch die Integration hier in diesen Kulturkreis, der ihnen total fremd war.«50 Die beiden Vorstandsvorsitzenden der Gemeinde sind Frau Köhler und Frau Franke, insgesamt gehören

49 Interviewpartnerin, Jahrgang 1983, Transkript 15. 50 Interviewpartnerin, Jahrgang 1951, Transkript 6.

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zum Vorstand sieben Personen, davon sind nur zwei Migrantinnen. Und die sind wiederum für die sozialen und kulturellen Aufgaben in der Gemeinde zuständig.51 Ein Bereich, der eine besondere Bedeutung für die Gemeinde hat, und in dem ein gleichberechtigtes Miteinander zwischen den Zugewanderten und den Etablierten herrscht, ist der Kinder- und Jugendbereich. Dort gilt auch das Prinzip des gemeinsamen Herantastens an religiöse Themen, zugleich wird die jüngere Generation als Garantie des Fortbestehens des jüdisch-liberalen Lebens in Deutschland gesehen. Damit kann resümiert werden, dass eine erfolgreiche Institutionalisierung des liberalen Judentums vor Ort stattgefunden hat. Letzteres ist nicht nur für die dort ansässigen Jüdinnen und Juden attraktiv, sondern findet darüber hinaus lokal und national sowohl in der jüdischen Gemeinschaft als auch in der Mehrheitsgesellschaft Anerkennung. Als entscheidend kristallisiert sich bei diesem Weg heraus, dass die führenden Figuren, meist etablierte Jüdinnen, doppelt verankert sind: Sie sind anerkannte Personen, die in Weststadt über einen hohen Status verfügen, weshalb sie von dieser Seite beim Aufbau der Gemeinde Unterstützung bekommen. Außerdem haben sich schnell Netzwerke zu anderen liberalen Gemeinden gebildet, was ebenfalls eine große Hilfe ist. Die Positionierung der liberalen Gemeindemitglieder

Die Gründung der neuen Gemeinde rief schnell viele Kritiker_innen auf den Plan: Die neue Gemeinde sei nur ein Kulturverein, es werde Judentum »light« praktiziert, sie sei ein Club von rechthaberischen Frauen.52 Dies forderte die Gründer_innen der Gemeinde heraus, sich hinsichtlich des von ihnen vertretenen Judentums und dessen Praktizierung zu positionieren. Im Folgenden wird dargestellt, was für sie dabei die wichtigsten Punkte waren. Dabei liegt der Fokus auf den in der Gesamtgesellschaft etablierten Gründungs­ mitgliedern, die die neue Gemeinde führen, und die durch ihre ehemalige Mitgliedschaft in der Einheitsgemeinde immer wieder einem starken Druck ausgesetzt sind, ihre Neuausrichtung zu legitimieren. Der wichtigste Grund, der für die Verortung im liberalen Judentum genannt wird, ist die gleichberechtigte Stellung der Frau, wie es etwa Frau 51 Interviewpartnerin, Jahrgang 1953, Transkript 7.  Zum Zeitpunkt des Interviews sind drei Männer im Vorstand, lange Zeit waren es nur zwei. Vgl. Festschrift zum zehnjährigen Bestehen der liberalen Gemeinde. Auch wenn sich die Männer-Frauen-Verteilung innerhalb der Gemeinde nicht wesentlich von anderen jüdischen Gemeinden unterscheidet, wird die Führungsarbeit von Frauen übernommen. 52 Vgl. u. a. Interviewpartnerin, Jahrgang 1953, Transkript 7.

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Franke im folgenden Zitat betont:53 »Und das ist vor allen Dingen die Rolle der Frau. Wir leben heute nicht mehr so wie unsere Urgroßmütter. Oder Ur-Urgroßmütter. Wir haben ganz andere Lebensbedingungen und unsere Stellung im gesellschaftlichen Leben ist eine ganz andere. Und dann soll also den Mädchen, denen wir die gleiche Schulausbildung, die gleiche Universitätsausbildung geben, und dann kommen die in die Religionsgemeinschaft, und dann heißt es, so, du bist ein Mädchen, du gehst auf die Empore und du hast auch sonst – du kannst aktiv nichts gestalten im Judentum, sondern das musst du schon den Männern und den Jungs überlassen.«54 Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte der Gemeinde ist dieses Statement zur Rolle der Frau nur konsequent: Frau Franke lässt keinen Zweifel daran, dass für sie die Gleichberechtigung der Geschlechter der wichtigste Punkt im liberalen Judentum ist. Das begründet sie jedoch nicht positiv mit Bezug auf das liberale Judentum, sondern in Abgrenzung zum orthodoxen Judentum, wie sie es zuvor in der Einheitsgemeinde kennengelernt hatte. Mit ihrem Statement charakterisiert die Interviewpartnerin das liberale Judentum als zeitgemäß, das orthodoxe Judentum hingegen als rückständig. Die zentrale Begründung für die Gleichberechtigung im Judentum ist für sie die gesellschaftliche Gleichberechtigung von Mann und Frau. Für sie existiert keine logische Trennung zwischen den Sphären der Religion und der Öffentlichkeit, beides steht für sie in einem evidenten Zusammenhang. So soll der Gleichheitsanspruch, der sich etwa im Bildungssystem durchgesetzt hat, auch in der Synagoge gelten. Oder allgemeiner formuliert: Die Anerkennung in der öffentlichen Sphäre sollte auch in der religiösen Sphäre nicht verwehrt bleiben. Diese Aussagen stehen durchaus im Kontext der jüdischen Emanzipation. Das Mitspracherecht in Gemeindebelangen hängt für Frau Franke vom Können beziehungsweise der Bildung der Person ab, nicht vom Geschlecht. Die Wortwahl »den Mädchen« zeigt, dass sie hier besonders an die Töchter der Gemeindemitglieder denkt – deren Zukunft und Rolle im Gemeinde­ leben war auch schon bei der Bildung des Frauenkreises ein zentrales Motiv. Die Mitglieder des Kreises wollen, dass die Mädchen im Leben alles erreichen können, was die Erwähnung der Universitätsausbildung zeigt, doch das orthodoxe Judentum kann ihnen das nicht bieten. Auch der Interviewpartner Herr Bartos, der für die religiösen Aufgaben in der Gemeinde zuständig ist, sieht die Gleichberechtigung der Frauen als das zentrale Element der liberalen Gemeinde an: »Und natürlich die Rolle der Frau, na, das ist das Wichtigste. Die Rolle der Frau im liberalen und konser53 Alle Interviewpartner_innen sehen sich sowohl mit dem globalen als auch mit dem historischen liberalen Judentum verbunden. Dies wird als Tatsache betrachtet und nicht weiter infrage gestellt. 54 Interviewpartnerin, Jahrgang 1951, Transkript 6.

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vativen Judentum ist gleichberechtigt. Alle Pflichten, alle Rechte haben die Frauen.«55 Er unterstreicht hier noch einmal den Konsens, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter die Substanz der Gemeinde bildet. Dabei profitieren die Frauen nicht nur von den Vorteilen, sondern sie müssen zum Beispiel auch Hebräisch lernen, damit sie aus der Tora vorlesen können. Somit verweist er darauf, dass die Gleichberechtigung nicht einfach nur gegeben ist, sondern auch erarbeitet werden muss. Frau Köhler betont, dass die Einbindung der Frauen im liberalen Judentum erst dazu führt, dass sich die Frauen – meist stellen sie über die Hälfte der Gemeindemitglieder – aktiv mit dem Judentum auseinandersetzen und beginnen, die Tora zu lesen und über religiöse Themen nachzudenken. Erst so wird es möglich, eines der wichtigsten Gebote des Judentums, das Lernen, zu erfüllen.56 Und noch eine weitere Thematik spricht für sie dafür, dass das liberale Judentum eine intensivere Auseinandersetzung mit den Inhalten ermöglicht: »Und das hat auch eine ganz andere Tiefe, einen ganz anderen Inhalt, allein schon dadurch, dass vieles eben auch auf Deutsch gemacht wird.«57 Das sprachliche Verstehen der Texte sichert ihr auch ein inhaltliches Verstehen zu. Dabei ist es für sie selbstverständlich, dass die Gemeindemitglieder Deutsch beherrschen, jedoch setzt sie keine Hebräischkenntnisse voraus. Die öffentliche Sphäre ist für sie zentraler als die religiöse Tradition. Auch diese Interviewpartnerin grenzt sich von der Orthodoxie ab, begründet dies jedoch mit den positiven Auswirkungen des liberalen Judentums für das jüdische Leben und das Lernen der Gemeindemitglieder. Ein weiterer Punkt, der den Interviewten zufolge für das liberale Judentum spricht, ist die Positionierung zum Messianismus. Dies erläutert Frau Franke wie folgt: »Und es gibt dann noch einen Unterschied, dass wir sagen, dass wir nicht, wie die orthodoxe Richtung es sagt, dafür streben, den Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem, sondern wir sagen, die Synagogen in aller Welt haben die Rolle des Tempels übernommen, und für uns ist es wichtig zu sagen, dass nicht irgendwann der Messias kommt, sondern wir streben eine messianische Zeit an.«58 Auch hier ist die Abgrenzung gegenüber dem orthodoxen Judentum ganz zentral, das liberale Judentum zeichnet ein Bild von sich, das moderner, zeitgemäßer und realistischer ist. Hinsichtlich der Aspekte der Gleichberechtigung und des Messianismus ist seitens der deutschen Gesellschaft weitgehend Zustimmung zu erwarten. Gleichberechtigung von Mann und Frau, auch in religiösen Belangen, erscheinen vielen Deutschen als selbstverständlich. Die Erwartung, dass eines Tages der Messias kommt und damit 55 56 57 58

Interviewpartner, Jahrgang 1939, Transkript 11.  Interviewpartnerin, Jahrgang 1953, Transkript 7. Interviewpartnerin, Jahrgang 1953, Transkript 7. Interviewpartnerin, Jahrgang 1951, Transkript 6.

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die Gottesherrschaft beginnt, wirkt in der säkularisierten deutschen Gesellschaft hingegen eher märchenhaft. Die Interviewpartnerin setzt bei ihrer Abgrenzung gegenüber dem orthodoxen Judentum also nicht beim Kern der Orthodoxie an – ihrem Festhalten an der schriftlichen und mündlichen Lehre –, sondern an ihren Schwachstellen, das heißt dort, wo die Orthodoxie kaum Verständnis oder Sympathie der deutschen Öffentlichkeit erwarten kann. Ein zentraler Punkt der Positionierung der Gemeindegründer_innen wurde bereits in den ersten beiden Argumenten deutlich. Sie sehen sich in einem positiven Verhältnis zur deutschen Gesellschaft und bedienen sich einer Semantik der Offenheit: »Wir wollen auch etwas zum kulturellen Leben beitragen, dieser Stadt, dieser Region und wir wollen kein closed shop sein, also keine geschlossene Gemeinschaft.«59 Dass sie sich als Teil der Stadtgesellschaft begreifen, zeigte sich schon in der Erzählung über den Gemeindeaufbau. Nach der Eröffnung der Synagoge bietet die Gemeinde viele Führungen an und lädt die Nachbarn zum Kaffeetrinken ein. Zudem steht sie in regem Austausch mit Vertretern anderer Religionen. Indem ihre Mitglieder zeigen, wer sie sind, und sie anderen ihre Praktiken erklären, wollen sie Vorurteilen und Antisemitismus begegnen. Der Schwerpunkt auf die Kooperation mit Akteuren aus der Mehrheitsgesellschaft ist in der liberalen Gemeinde stärker ausgeprägt als in der Einheitsgemeinde. Auch wenn die Einheitsgemeinden kontinuierlich an der Öffnung nach außen arbeiten, verkörpern die liberalen Gemeinden vielmehr den Neubeginn nach 1990, der auch ein positives Verhältnis zum nicht-jüdischen Umfeld beinhaltet. Das fällt den liberalen Gemeinden schon deshalb leichter, weil im Vorstand mehrheitlich deutsche Jüdinnen und Juden sind, während die Leitungsfunktionen in der Einheitsgemeinde, abgesehen vom Vorsitzenden, von Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ausgeübt werden, die weniger mit lokalen Akteuren verbunden sind. Ein weiterer entscheidender Punkt, der bereits mehrfach angesprochen wurde, ist das gemeinsame Erlernen von religiösen Inhalten. Durch Hilfen, wie zum Beispiel die Gebetbücher, die sowohl in deutscher als auch in russischer Sprache vorliegen, und in denen hebräische Texte transkribiert und übersetzt sind, ist es auch Menschen mit sehr geringen Kenntnissen möglich, sich im Gottesdienst zurechtzufinden und sich langsam ein größeres Wissen anzueignen. Diese niedrigschwelligen Möglichkeiten zum Mitmachen und Lernen kommen sowohl den zugewanderten als auch den etablierten Mitgliedern zugute.60 Gerade die russischsprachigen Migrant_innen fühlen sich 59 Interviewpartnerin, Jahrgang 1951, Transkript 6. 60 Zudem sind solche Angebote auch für potenzielle Konvertiten interessant. Konvertiten spielen in der Gemeinde nur eine untergeordnete Rolle, jedoch gab es schon vereinzelte Übertritte seit dem Bestehen der liberalen Gemeinde, die vom Gemeinderabbiner begleitet und von der Gemeinde unterstützt wurden.

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dadurch ernst genommen und eingebunden. Sie sehen dies auch als einen Vorteil gegenüber den Gottesdiensten in der Einheitsgemeinde an, bei denen es keine Hilfestellungen gibt und wodurch sich gerade die Hinzugekommenen oft verloren fühlen. Zudem gibt es zahlreiche andere Formen des Austauschs in der Gemeinde, durch die versucht wird, alle Mitglieder aktiv einzubinden und das Miteinander zu fördern, wie der Kiddusch, zu dem alle etwas zu Essen mitbringen können, Gemeindefeste oder kulturelle, soziale und sportliche Veranstaltungen. Die Aufbruchsstimmung zeigt sich also nicht nur bei der Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen Akteuren, sondern auch bei den Aktivitäten, die im religiösen und kulturellen Bereich für die eigenen Gemeindemitglieder angeboten werden. Dafür gibt es mittlerweile auch Anerkennung aus innerjüdischen Kreisen, und es findet eine positive Abgrenzung gegenüber den orthodoxen Einheitsgemeinden statt: »Inzwischen denk ich, hat auch der Zentralrat erkannt, dass es gerade die liberalen Gemeinden sind, und so wird das auch kommuniziert, dass die eben sehr viel auf die Beine bringen in ihren Gemeinden.«61

Zusammenfassung: Ein Weg zum liberalen Judentum Die Analyse des Entstehungsprozesses sowie der Positionierung einer liberalen Gemeinde ermöglicht die Einnahme einer Innenperspektive, die wiederum Aufschluss über Strukturen und Prozesse der liberalen Bewegung gibt. Entscheidend für die Neugründung dieser liberalen Gemeinde waren die Transformationen innerhalb der Einheitsgemeinden in den 1980er Jahren und die Zuwanderung der Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Weder das eine noch das andere waren für sich genommen dafür ausreichend. Getragen wurde die Veränderung hier hauptsächlich von alteingesessenen Jüdinnen. Doch ist fraglich, ob sich ohne den Rabbiner eine Gruppe gebildet hätte, die zielstrebig ihre Interessen verfolgt hat. Er ist also als Schlüsselfigur dieses Veränderungsprozesses zu betrachten. Ein maßgeblicher Konflikt entstand um die Frage, welche Rolle die Frauen im Judentum einnehmen sollen. Dementsprechend ist dies auch bei der aktuellen Positionierung der liberalen Gemeinde ein zentraler Punkt. Anlässlich der Rolle der Frau wird zugleich die Frage gestellt, wie sich das Judentum zu seiner Umgebungsgesellschaft zu verhalten hat. Soll es sich mit den gesellschaftlichen Veränderungen auch wandeln? Oder steht die religiöse Sphäre für sich und ist nicht dem Zeitgeist unterworfen? Es sind die gleichen Fragen, 61 Interviewpartnerin, Jahrgang 1953, Transkript 7.

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die auch im Zuge der jüdischen Emanzipation gestellt wurden. Damals bezogen sie sich allerdings auf die Einrichtung der Synagoge oder auf die Nutzung von Orgel und Chor, die Frauenfrage war zu dem Zeitpunkt kaum relevant.62 Der enge Zusammenhang zwischen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen wie Säkularisierung und Emanzipation und der Veränderung in den jüdischen Gemeinden wird an diesem Beispiel sehr gut deutlich. Ein weiterer Unterschied gegenüber dem 19. Jahrhundert liegt darin, dass sich jetzt die liberale Minderheit von der orthodoxen Mehrheit abgrenzen muss. Damals war es die orthodoxe Minderheit, die ihren Standpunkt gegenüber der liberalen Mehrheit beweisen musste.63 Die Notwendigkeit, immer wieder die eigene Position zu begründen und immer wieder den eigenen Weg zu hinterfragen, ist sicherlich ein Grund für die be­eindruckende Vitalität der jüdisch-liberalen Gemeinden in Deutschland.

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62 Michael Brenner, Einheit der Gemeinde oder Reinheit des Glaubens? In: Y. Michal Bodemann/Micha Brumlik (Hg.), Juden in Deutschland – Deutschland in den Juden, Göttingen 2010, S. 102–105. 63 Vgl. ebd.

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Melanie Eulitz ist Diplom-Soziologin und aktuell Promovendin an der Universität Leipzig. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit den Entwicklungen der jüdi­ schen Gemeinden in Deutschland nach der Zuwanderung der sowjetischen Jüdinnen und Juden. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Religions- und Organisa­ tionssoziologie, Migration, Transnationalismus und modernes Judentum. [email protected]

Alina Gromova

Jüdische Vergemeinschaftung als Praxis der Distinktionen Auf den Spuren der kulturellen Praktiken und sozialen Positionierungen in der Migrationsgesellschaft

Es ist inzwischen nahezu ein Gemeinplatz, zu behaupten, dass die kulturelle, ethnische und religiöse Identität einer Gruppe, das »Wir-Gefühl« einer Gemeinschaft, zu einem großen Teil durch Abgrenzungen der Gruppenmitglieder von den Mitgliedern anderer ähnlich strukturierter Gruppen hergestellt wird. Nachdem sich die Wissenschaft von der Vorstellung holistischer, homogener Kulturen mit einem festen, unbeweglichen Kern verabschiedet und sich ein dynamischer, fließender und flexibler Kulturbegriff durchgesetzt hatte, rückten sowohl interkulturelle als auch intrakulturelle Grenzziehungen verstärkt in den Mittelpunkt der Analyse von Vergemeinschaftungsprozessen und auch von Kultur und Ethnizität per se.1 Um die Rolle und die Wirkung der kulturellen Abgrenzungspraktiken für die Konstruktionen der eigenen und der Gruppenidentität plastischer und greifbarer zu machen, entwickelte der französische Kulturanthropologe und Soziologe Pierre Bourdieu eine Distinktionstheorie der »feinen Unterschiede«. Sie besagt, dass kulturelle Praktiken zur sozialen Abgrenzung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen dienen und sich in solch »feinen Unterschieden« wie Geschmacksrichtungen, Kleidungsstilen, Intonation oder Gestik kenntlich machen.2 Dabei lassen sich bei der Betrachtung verschiedener Situationen mit Bourdieu 1 Die grundlegende Arbeit in der Erforschung des postmodernen Kulturbegriffs leisteten Homi Bhabha und Stuart Hall, deren Arbeiten in der postkolonialen Tradition stehen: vgl. exemplarisch Homi K. Bhabha, The Location of Culture. London/New York 1994; Stuart Hall, Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, hg. von Ulrich Mehlem u. a., Hamburg 1994. Vgl. außerdem Fredrik Barth (Hg.), Ethnic Groups and Boundaries, Nachruck, Long Grove, Illinois 1998; Akhil Gupta/James Ferguson, Beyond »Culture«.Space, Identity, and the Politic of Difference, in: Cultural Anthropology 7, 1 (1992), S. 6–23; Wolfgang Welsch, Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen, in: Irmela Schneider/Christian W. Thomson (Hg.), Hybridkultur. Medien, Netze, Künste, Köln 1997, S. 67–90. 2 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1982.

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verschiedene »soziale Räume« identifizieren, die durch Diskurse, Rollenspiele und vor allem durch Machtverhältnisse unter den beteiligten Akteuren konstruiert werden.3 Der Frage, wie soziale Positionierungen entlang der kulturellen und ethnischen Grenzziehungen ausgehandelt werden und welche Rolle dieser Aushandlungsprozess nun für Formen der Vergemeinschaftung spielt, soll in diesem Beitrag am Beispiel jüdischer Einwanderer aus der ehemaligen Sow­ jetunion, die heute in Berlin leben, nachgegangen werden. Im Folgenden werden Kontakte und Konflikte, Zuordnungen und Abgrenzungen mit und zu anderen ethnischen und religiösen Gruppen untersucht, die eine zentrale Rolle in dem Vergemeinschaftungsprozess der russischsprachigen Juden spielen. Mit ethnografischen Werkzeugen wie Interviews, teilnehmender Beobachtung und Wahrnehmungsspaziergängen wird den Stereotypen und Vorurteilen nachgespürt, die den russischsprachigen jüdischen Einwanderern dazu dienen, ihre Selbstbilder und Zugehörigkeiten zu konstruieren und zu reproduzieren. Das Augenmerk richtet sich dabei auf die junge Generation der jüdischen Einwanderer. Laut Christine Riegel und Thomas Geisen findet die Auseinandersetzung mit Zugehörigkeiten zwar bei allen Menschen statt, jedoch gestaltet sie sich bei jungen Menschen mit Migrationshintergrund deshalb besonders komplex, weil deren Zugehörigkeit grundsätzlich umstritten ist oder abgelehnt wird. Die vielfältigen ethnischen, religiösen und kulturellen Identitätsbezüge, die junge Einwanderer mitbringen, werden im nationalen oder ethnischen Kontext der Aufnahmegesellschaft als »anders« und »fremd« konnotiert. Dadurch begleitet die Frage der Zugehörigkeit die jungen Migranten permanent in ihrem Alltag und zwingt sie dazu, sich zu positionieren.4 In Berlin treffen besonders viele Migranten- und Minderheitengruppen aufeinander, die durch den Hauptstadtcharakter der Metropole angezogen werden und dort auf engem Raum zusammenleben.5 Eine entsprechend hohe 3 Pierre Bourdieu, Sozialer Raum, symbolischer Raum, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 354–368. 4 Christine Riegel/Thomas Geisen, Zugehörigkeit(en) im Kontext von Jugend und Migration – eine Einführung, in: dies. (Hg.), Jugend, Zugehörigkeit und Migration. Subjektpositionierung im Kontext von Jugendkultur, Ethnizitäts- und Geschlechterkonstruktionen, 2. Aufl., Wiesbaden 2010, S. 7–8. 5 Nach den Angaben des Amts für Statistik Berlin-Brandenburg lebten in Berlin im Jahr 2010 872.000 Menschen mit Migrationshintergrund. Darunter rund 170.000 mit türkischen, 90.000 mit polnischen und 60.000 mit arabischen Wurzeln. Fast 100.000 Berliner stammen außerdem aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, wobei die Bewohner der östlichen Bezirke hauptsächlich deutsche Aussiedler und die der westlichen Bezirke jüdische Kontingentflüchtlinge sind. Vgl. ohne Verfasser: Zahlen mit Migrationshintergrund, in: Jüdisches Berlin 135, Juni 2011.

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Dichte und Größe der kulturellen Gruppierungen, die in der Großstadt zu beobachten ist, trägt dazu bei, dass hier die Vergemeinschaftungs­prozesse stärker durch Abgrenzungsmechanismen und durch Grenzziehungen bestimmt sind als an den nicht urbanen Orten. Die russischsprachigen jüdischen Einwanderer stehen dabei in Berlin vor der Herausforderung, sich in der deutschlandweit beispiellos vielfältigen Landschaft an jüdischen Gemeinden und gemeindeunabhängigen Einrichtungen zurechtzufinden, über die die rund 25.000 jüdischen Berliner verfügen. Ihr Spielraum wird außerdem von nichtjüdischen Berlinern etwa arabischer, türkischer, deutscher und russlanddeutscher Herkunft bestimmt, die im stark umkämpften Stadtraum dicht nebeneinander leben und durch die gegenseitigen Begegnungen und Provokationen jeweils die eigenen Gruppenformationen aushandeln. Im Zeitalter der Migration, in dem sich die Vielfalt an unterschiedlichen Gruppen mit ihren je eigenen kulturell und religiös geprägten Sprechweisen, Kleidungsstilen und Geschmacksrichtungen verdichtet, gewinnen bei der Aushandlung ihrer kollektiven Identitäten die Differenzvorstellungen vom »Eigenen« und vom »Fremden« immer mehr an Bedeutung.6 Um in diese an Chaos und Desorientierung grenzende Vielschichtigkeit eine gewisse Ordnung zu bringen, werden von Migranten Strategien der Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen genutzt, um sich auf diese Art und Weise der eigenen Werte und Normen zu versichern. Solche Abgrenzungsmechanismen lassen »soziale Räume« entstehen, deren Analyse Einblicke in die Zusammenhänge zwischen sozialen Positionierungen und kulturellen Praktiken ermöglichen.

Die »Araber« und die »Türken« in der urbanen Landschaft Kreuzberg Die größte ethnische Minderheit in der deutschen Hauptstadt bilden türkischstämmige Berliner. Einer der Stadtteile, in dem sich die aus der Türkei stammenden Frauen und Männer und ihre Nachkommen bevorzugt niedergelassen haben, ist Berlin-Kreuzberg.7 Diesen zu Zeiten der Mauer am 6 Wolfgang Kaschuba, Urbane Identität: Einheit der Widersprüche? in: Urbanität und Identität zeitgenössischer europäischer Städte: Dokumentation der Fachtagung vom 11. November 2003 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, Ludwigsburg 2005, S. 8–28. 7 Laut des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg stammten 30 Prozent der Einwohner in Kreuzberg im Jahr 2010 direkt oder über ihre Eltern aus einem islamischen Land. Vgl. Neue Daten zur Bevölkerungsentwicklung in Berlin. Pressemitteilung, Berlin, 30.3.2011, http://www.berlin.de/lb/intmig/presse/archiv/20110330.1000.338135 (letzter Zugriff 6.8.2014).

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Ostrand von Westberlin gelegenen Ortsteil, der traditionell für seine alternative Kultur, die Hausbesetzerszene und die günstigen Mietpreise bekannt war, der als Arbeiter- und Migrantenviertel galt und heute von Gentrifizierung überrollt wird, nehmen junge russischsprachige Juden, die nur vereinzelt in diesem Stadtteil wohnen, als einen Ausflugsort wahr. Als Touristen in der eigenen Stadt fühlen sie sich zwar vom mediterranen Kreuzberger Flair angezogen, distanzieren sich aber zugleich von den dortigen muslimisch geprägten, türkisch- und arabischstämmigen Bewohnern. In einem Interview zeichnet Stanislav, der mit zwei Jahren aus dem lettischen Riga nach Deutschland kam und heute dreißig Jahre alt ist, folgendes Bild: »Also, ich finde Kreuzberg auch ganz großartig, weil man da ’ne Menge machen kann, aber das ist mir wahrscheinlich am Ende doch ein bisschen zu laut und zu verroht teilweise, und multiethnisch. Das ist für mich dann eher ein Naherholungsgebiet, genauso wie ich jetzt auf Teufelsberg fahre, mich da mal raufstelle und mir da den Grunewald angucke, so fahre ich auch nach Kreuzberg, ich mag das auch total gerne, aber wohnen muss ich da nicht. Oder, ja, also prinzipiell ist es, es könnte auch, ich meine Zehlendorf ist ja die andere Richtung, ja Zehlendorf ist total grün, total ruhig, schön, gute Luft, aber dann ist es aber zu ruhig.«8

Auf meine Nachfrage, ob das Multiethnische in Kreuzberg für ihn ein Problem darstelle, fährt Stanislav fort: »Es muss kein Problem sein, aber es stellt Wahrscheinlichkeit dar für Probleme, die ich jetzt gerade einfach nicht möchte. Es ist ein Teil  des Reizes genauso wie es ein Teil des Problems ist. Ich weiß nicht, ich bemerk’ einfach teilweise ein starkes Aggressionspotenzial genauso wie ich ein starkes Feierpotenzial bemerke in mediterranen Völkern. Es kann gut sein, es kann schlecht sein, und oftmals ist es einfach schlecht und mit diesem Testosteron von Fahrern von tiefergelegten BMWs kann ich einfach sehr, sehr wenig anfangen, und ich bin auch kein Typ, der sich da immer großartig so wegdrehen könnte, ich würde mal hingucken und mich darüber aufregen, dass da das Radio 25 Dezibel spielt, ich bin ja nicht so: oh, ist doch lustig, ist doch schön, weißt du. Bin ich halt nicht, muss man sich irgendwann mal eingestehen. Und dass der Antisemitismus unter arabischen Jugendlichen steigt und ›Jude‹ einfach mittlerweile Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen ist, das steht auf ’nem anderen Blatt, ja, dass ich mir nie so sicher bin, mit wem ich eigentlich zu tun habe, nicht dass ich das machen würde, aber es ist mein gutes Recht, das ist eine Demokratie und ich kann machen, was ich will. Theoretisch kann ich ein Israelaufkleber an meinen Heck hängen, ist doch nicht absurd, ja. Da müsste ich Angst haben, dass mein BMW abgefackelt, vielleicht nicht abgefackelt, aber einfach Kratzer drinne sind, und alleine das, 8 Interview 31.7.2010. Die Interviewabschnitte und Feldtagebuchnotizen in diesem Artikel stammen aus der ethnografischen Studie der Autorin, die 2010 und 2011 in Berlin durchgeführt wurde: Alina Gromova, Generation »koscher light«. Urbane Räume und Praxen junger russischsprachiger Juden in Berlin, Bielefeld 2013.

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weiß du, das geht in meinem Kopf rum, das möchte ich nicht. Ich möchte nicht darüber nachdenken, ich möchte mich nicht damit aufhalten. Insofern ist es, glaub’ ich, besser für alle Beteiligten, dass ich Kreuzberg als Naherholungsgebiet betrachte und nicht dahin ziehe.«9

Den Rahmen für Stanislavs Wahrnehmung von Kreuzberg bildet zu einem Teil der politische Nahostkonflikt. So wie auf dem Territorium der autonomen palästinensischen Gebiete in Israel das offene Bekenntnis zur jüdischisraelischen Zugehörigkeit nicht ungefährlich sein kann, wird Kreuzberg als ein Raum innerhalb Berlins wahrgenommen, in dem Solidarisierung mit Israel durch sichtbare Symbolik oder Äußerungen aufgrund der hohen Zahl der dort lebenden muslimischen Berliner gemieden werden sollte. In Berlin, wo sich die türkisch- und arabischstämmige Bevölkerung in einzelnen Stadtteilen wie Kreuzberg, Neukölln oder Wedding stark konzentriert, wird durch eine solche Konzentration der Raum geschaffen, in dem junge russischsprachige Juden ihre Solidarität mit Israel bekunden beziehungsweise zu einer solchen Solidarisierung aufgrund von Provokationen verführt werden. Somit lässt sich Kreuzberg einerseits als eine besondere lokale Kulturlandschaft bezeichnen, andererseits ist es aber auch ein globaler Ort, an dem WeltKonflikte wie der Nahostkonflikt oder die Differenzwahrnehmung als europäisch und nicht-europäisch präsent sind. Dank der kulturellen und religiösen Vielfalt, die dort vorzufinden ist, erlaubt die urbane Landschaft Kreuzberg somit eine vielseitige Auslegung und wird von jungen russischsprachigen Juden als lokal und global zugleich wahrgenommen. Auch Dina, die mit zwölf Jahren aus dem ukrainischen Zhitomir nach Deutschland kam und heute 27 Jahre alt ist, schätzt Kreuzberg in erster Linie wegen des exzellenten kulinarischen Angebots. Den muslimischen Stadtteilbewohnern, die das Straßenbild Kreuzbergs prägen, begegnet sie jedoch mit Ressentiments: »Ich komme manchmal mit meinem Freund nach Kreuzberg, um hier zu essen. Man kann hier wunderbar essen, es gibt viele gute Restaurants. Wir gehen immer zum Türken am Kotti, manchmal zum Araber. Essen kann man hier sehr gut, aber sonst… Ich weiß nicht. Wohnen will ich hier definitiv nicht, weil es hier zu viele Türken gibt. Es ist hier alles so anders als bei mir in Charlottenburg. Die ganzen Frauen mit Kopftüchern auf der Straße, das gefällt mir nicht. Ich mag Charlottenburg sehr und ich will dort wohnen bleiben. Auch die Schulen sind hier schlecht. Ich will nicht, dass meine Kinder mit Murats und Alis auf die Schule gehen. Sie haben ja gar kein Bildungsniveau. In Berlin gibt es entweder ganz schwache oder ganz starke Schulen, etwas dazwischen gibt es nicht.«10 9 Interview 31.7.2010. 10 Feldnotizen 6.4.2010.

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Während unseres Spaziergangs macht Dina deutlich, dass ihre Identifikation als Jüdin mit Charlottenburg, einem alten Westberliner Stadtteil, der traditionell eine hohe Zahl jüdischer Bewohner beherbergt, gleichzeitig auf einer Abgrenzung von den türkischen Bewohnern Kreuzbergs beruht. Dabei fungiert Bildung als eine Kategorie, die Dina als identifikatorische Abgrenzungsfolie dient. Vor dem Hintergrund von Dinas Äußerungen erweist sich das Jüdischsein weniger als traditionale Zugehörigkeit, sondern vielmehr als »Differenzidentität« und selbstgewählte Zuordnung, die erst durch den Vergleich mit anderen Gruppen konstruiert und manifestiert wird. Bemerkenswert ist auch, dass Dina ihr Jüdischsein je nach Kontext und Situation immer wieder neu wählt. Jüdisch zu sein bedeutet für sie nicht zwangsläufig, mit allen Juden eine Seelenverwandtschaft zu verspüren. Ob sie etwas Gemeinsames mit einem Juden oder einer Jüdin empfindet, hängt für sie davon ab, welche Menta­ lität die jeweilige Person mitbringt, welche Sprache sie spricht und welche Geschichte sie hat, denn Dina behauptet: »Aber mit Juden aus den arabischen Ländern oder auch mit äthiopischen Juden kann ich nicht reden, es gibt da nichts Gemeinsames. Die äthiopischen Juden haben gar keine Bildung und die arabischen Juden sind arrogant. Ich habe sie in der Synagoge in Hamburg kennengelernt. Sie sagten damals, sie wollen nicht mit Russen zusammen in einer Synagoge sitzen. Wir haben mit ihnen nichts Gemeinsames. Mit den Deutschen haben wir das Deutsche gemeinsam, das Europäische, die Bildung.«11

So begreift man sich in erster Linie als jüdisch, wenn man sich mit »Türken« vergleicht, die in Kreuzberg wohnen, beziehungsweise wenn man sich von diesen distanziert, weil sie »kein Bildungsniveau« haben. Wenn man sich aber mit Juden vergleicht, die aus anderen Ländern stammen, eine andere Sprache sprechen und nach Dinas Ansicht »gar keine Bildung« haben und »arrogant« sind, tritt die Zuordnung »jüdisch« auf der Basis von Kategorien wie »gebildet«, »europäisch« oder »zivilisiert« in den Hintergrund, sodass man sich in diesem Kontext eher als »russisch« oder sogar als »deutsch« empfindet. Das Jüdischsein kann im Sinne einer »Wir-Identität« zwar verbindend wirken, muss es aber nicht. Denn kommen Erfahrungen mit den sogenannten »Bindestrich-Identitäten« wie jüdisch-äthiopisch, jüdisch-arabisch und insbesondere jüdisch-russisch ins Spiel, wird deutlich, dass der Austausch zwischen den Kulturen heute dazu führt, dass im Binnenverhältnis einer Kultur »tendenziell ebenso viele Fremdheiten wie im Außenverhältnis zu anderen Kulturen« existieren.«12 Somit lässt sich das »Eigene« mit Ortfried Schäffter

11 Feldnotizen 6.4.2010. 12 Welsch 1997, S. 86.

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auch als »Lernfeld« mit Mängeln und Lücken begreifen, das durch Entfremdung eine Chance zur Ergänzung und Vervollständigung bekommt.13 Die Bilder von »bildungsfremden Türken« und von als »rückständig« und »bedrohlich« empfundenen verschleierten Frauen, die Dinas Wahrnehmung von Kreuzberg prägen, wirken auf sie faszinierend und abschreckend zugleich – so wie jene merkwürdige Kraft der Neugier, die uns seit Jahrtausenden auf Reisen in das Unbekannte treibt. Bei Dinas Ausflug nach Kreuzberg ist eines ihrer Hauptziele daher, sich immer wieder dessen zu versichern, was ihr schon längst bekannt ist: dass sie dort nicht wohnen möchte, sondern viel lieber in Charlottenburg bleiben will  – einem Stadtteil, in dem sie und ihr Freund sich mittlerweile auch eine Wohnung gekauft haben, und in dem die gemeinsamen Kinder später eine Schule mit einem hohen Unterrichtsniveau besuchen können. Ein anderes Phänomen, das im Umgang junger russischsprachiger Juden mit Kreuzberg bemerkenswert ist, ist das Phänomen der »Selbst-Exoti­ sierung«. Während man in anderen Situationen seine jüdische Identität nicht in den Vordergrund rückt, sondern »ein Deutscher unter Deutschen« sein möchte, bezeichnet man sich gerade in Kreuzberg mit dessen vielen türkisch- und arabischstämmigen Bewohnern in erster Linie als Jude und fantasiert, wie Stanislav, darüber, »theoretisch« einen Israelaufkleber auf dem Heck seines Autos anzubringen, um dadurch die eigene jüdische Herkunft durch die Nationalsymbolik des jüdischen Staates zu visualisieren. Während man sich in Kreuzberg als jüdisch und israelisch zugleich zeigt, ist in anderen Kontexten der Zusammenhang zwischen diesen beiden Identifizierungen alles andere als selbstverständlich. Wie Stanislav mir im selben Interview später sagte, mag er Israel gar nicht und will dort auch nicht wohnen: »Ich hab keine, ich weiß nicht… ist einfach sehr, sehr laut das Land und sehr heiß, so richtig heiß, Touristenströme«.14 Auch Lena erzählt, dass sie von den häufigen Fragen, was sie über die Politik Israels denke, genervt sei, und behauptet: »Die Politik Israels interessiert mich nicht, und jüdisch und israelisch zu sein sind zwei unterschiedliche Dinge.«15 Tom Holert und Mark Terkessidis, die die gegenwärtige »Touristisierung« der Großstädte beobachten, weisen darauf hin, dass dazu nicht nur Palmenstrände gehören, die einen an Zeiten erinnern, die man an solchen »echten« Stränden zubrachte, sondern auch die »Tou­ristisierung« der ethnischen Be-

13 Ortfried Schäffter, Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit, in: ders. (Hg.), Das Fremde: Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen 1991, S. 11–44. 14 Interview 31.7.2010. 15 Feldnotizen 16.1.2010.

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völkerung.16 Auf der Suche nach dem Außeralltäglichen werden die Einwanderer exotisiert und folklorisiert. So stellt Elisabeth Beck-Gernsheim fest, dass das Bild der Migranten, das in der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland vor­herrscht, durch ihre Traditionsgebundenheit bestimmt wird und somit in einem deutlichen Kontrast zu den Deutschen steht, die sich selbst der Moderne zuordnen: »Kein Bericht über Türken ohne Kopftuch, Moscheen und Döner Kebap, kein Film über Juden ohne Davidstern und Klezmermusik: In der massenmedialen Aufbereitung dominiert, was ›Fremdländisches‹ signalisiert. Damit wird aufgenommen und bestätigt, was auch in der Alltagswahrnehmung den Blick auf sich zieht, nämlich exotische Melodien, Farben und Stoffe, nämlich Essensgewohnheiten, Kleidungs­formen, religiöse und kulturelle Riten, die auf ferne Länder verweisen. Und also heißt es: Die Migranten sind traditionsorientiert. Sie bewahren die Sitten von Herkunft und ­Heimat.«17

Um sich einer solchen Wahrnehmung als »Fremde« im Alltag zu entziehen, bedienen sich junge russischsprachige Juden einer unter Migranten weitverbreiteten Strategie: Sie bean­spruchen für sich ein Stück Normalität, indem sie andere Einwanderergruppen als »fremd« klassifizieren und sich von diesen distanzieren. In Berlin, wo ethnische Zugehörigkeit oft mit einzelnen Stadtteilen in Verbindung gebracht wird, geschieht diese Distanzierung auf der räumlichen Ebene. So wird Kreuzberg mit seinem großen Anteil an arabisch- und türkischstämmigen Einwohnern von ihnen als »fremd« wahrgenommen. Wenn sie diese Gegend im touristischen Jargon als »Naherholungsgebiet« bezeichnen und als Ausflugsziel nutzen, das eine Reise wert ist, spiegelt sich in dieser Terminologie der Berliner Alltagsdiskurs wieder, den der Anthropologe Levent Soysal in Bezug auf Kreuzberg folgendermaßen zusammenfasst: »In everyday conversation […] Turkish youths occupy Kreuzberg, a district known for its eccentricity and where one is sure to find the ›real‹ action. As prescribed ›marginals,‹ Kreuzberg is said to belong to them, for it epitomizes the exotic, the ghetto, and the hip.«18

16 »Touristisierung« der Größstädte bedeutet, dass durch Barstrände und Liegewiesen auf der einen und Restaurants, die ethnische Küche anbieten, auf der anderen Seite, die Stadt sich gewissermaßen sich selbst entfremdet. Tom Holert/Mark Terkessidis, Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen, Köln 2006, S. 203–204, S. 234. 17 Elisabeth Beck-Gernsheim, Wir und die Anderen. Kopftuch, Zwangsheirat und andere Mißverständnisse, Frankfurt am Main 2007, S. 20–21. 18 Levent Soysal, Beyond the »Second Generation«. Rethinking the Place of Migrant Youth Culture in Berlin, in: Daniel Levy/Yfaat Weiss (Hg.), Challenging Ethnic Citizenship. German and Israeli Perspectives on Immigration, New York/Oxford 2002, S. 127.

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Weil bestimmte Berliner Stadtteile als bedrohlich und anziehend zugleich empfunden werden, rufen sie gelegentlich »Angstfantasien« hervor. Solche Fantasien gehören laut Thomas Herdin und Kurt Luger »zu den Ursachen für die Produktion von Fremd- und Feindbildern, von deren Existenz man auf die Veränderungspotenziale einer Gesellschaft schließen kann.«19 Die Tatsache, dass russischsprachige Juden von der Mehrheitsgesellschaft selbst als »fremd« wahrgenommen werden, schützt sie somit keinesfalls davor, die anderen Gruppen als »fremd« zu apostrophieren. Dabei kann eine solche Stereotypisierung des Ethnischen als Reaktion auf die Bilder von migrantischen Lebenswelten gedeutet werden, die im deutschen öffentlichen Diskurs als vorherrschend gelten. So bemerkt Soysal, dass die Migranten in Deutschland auf einer Skala, deren »einer Pol Tradition und der andere Moderne« seien, bei der Tradition angesiedelt werden. In seiner Analyse der Jugendkulturen türkischer Einwanderer in Berlin malt Soysal folgendes Bild, das die Wahrnehmung der Migranten in Deutschland bestimmt: »The Turkish migrant brings her tradition, not her modernity, to Germany and lives her culture and otherness within but outside of modernity.«20 Es ist bemerkenswert, dass das Bild eines in der Familientradition verwurzelten, rückwärtsgewandten »Türken«, das die Wahrnehmung junger russischsprachiger Juden bestimmt, dem medial-gesellschaftlichen Bild ihrer eigenen Gruppe entspricht. Wenn Beck-Gernsheim behauptet, dass es in Deutschland »kein[en] Film über Juden ohne Davidstern und Klezmermusik«21 gäbe und man dabei sofort an den Film »Alles auf Zucker!«22 oder die ARD -Serie »Im Angesicht des Verbrechens«23 denken muss, so wird deutlich, dass die Wahrnehmung des Jüdischseins durch nichtjüdische Filmemacher oder durch Juden, die nicht in Deutschland leben, von der inner­ jüdischen Selbst­wahrnehmung stark divergiert. Zum Beispiel dann, wenn das Jüdische von vielen russischsprachigen Juden jenseits von Religion und Folklore verortet und primär mit Bildung, Humor und Neugierde auf andere Orte, Menschen und Kulturen in Zusammenhang gebracht wird. Die Aushandlung von Eigenbildern ist somit eng mit Fremdzuschreibungen verbunden. An dieser Stelle wird auch die Behauptung der Kulturwissenschaftlerin Ina Greverus lebendig, der zufolge es ein Kennzeichen der modernen Gesellschaft ist, dass »Identität weniger durch die Kontinuität der Eigenart als vielmehr durch die Neugestaltung oder Wiederbelebung von Eigenart ihre 19 Thomas Herdin/Kurt Luger, Der eroberte Horizont. Tourismus und interkulturelle Kommunikation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 47 (2001), S. 6–17. 20 Soysal 2002, S. 124. 21 Beck-Gernsheim 2007, S. 20. 22 »Alles auf Zucker!« Ein Spielfilm von Dani Levy, Deutschland 2004. 23 »Im Angesichts des Verbrechens«, Eine zehnteilige Krimiserie von Dominik Graf, Deutschland 2010.

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Bestätigung erfährt.«24 Die Eigenart wird daher durch die Abgrenzung nach außen wiedergewonnen. Je breiter dabei die Auswahl an Identifikationsmöglichkeiten ist, desto aktiver ist der Prozess der Aushandlung eigener Identität. Im Unterschied zu vielen anderen Gruppen, die etwa durch ihre Hautfarbe als »sichtbare Minderheiten«25 ethnisch »markiert« und in bestimmte soziale, kulturelle und religiöse Kategorien hineingedrängt werden, können junge russischsprachige Juden es sich mehr oder weniger frei aussuchen, als wer und was sie sich identifizieren. Sie werden nicht mehr zwangsläufig in eine Kategorie wie jüdisch oder christlich, israelisch oder russisch, bürgerlich, reich oder arm hineingeboren und hineinsozialisiert. Vielmehr hängt es von Situationen und Kontexten wie Provokationen oder Konkurrenzkämpfen ab, welchen von diesen Kategorien man sich gegenwärtig zuordnet. Tritt einem ein »Araber« oder ein »Türke« entgegen, positioniert man sich als­ »Israeli«; einer jüdischen Forscherin gegenüber wird stattdessen die Aussage gemacht, Israel nicht leiden zu können. Ähnlich verhält es sich mit dem eigenen Jüdischsein: Man ist »jüdisch«, wenn man sich von den »bildungsfernen und rückständigen Türken« abgrenzen will, aber gegenüber den äthiopischen oder arabischen Juden gibt man sich nicht mehr als »jüdisch«, sondern in erster Linie als »deutsch«. In den urbanen Praktiken junger russischsprachiger Juden lässt sich somit eine Wende von Zu­gehörigkeiten hin zu Zuordnungen beobachten, wobei letztere für die Gleichzeitigkeit der Differenzierungen und Identifizierungen sorgen.

Spätaussiedler und »Homo Sovieticus« – Kleidung als »soziale Haut« Würde man die Bewohner Berlins nach ihrer Muttersprache kategorisieren, so ließe sich neben der türkischsprachigen Community die Gruppe der Russischsprachigen als eine der größten Minderheiten der Stadt bezeichnen. Den Großteil der russischsprachigen Einwanderer bilden die deutschstämmigen Spätaussiedler, die seit Beginn der 1990er Jahre mehrheitlich aus Russland und Kasachstan nach Deutschland kamen. In Berlin haben sich die meis24 Ina-Maria Greverus, Kultur und Alltagswelt. Eine Einführung in Fragen der Kulturanthropologie, München 1978. 25 Der Begriff »sichtbare Minderheit« wurde in Kanada im Rahmen des Gesetzes für Gleichbehandlung am Arbeitsplatz (Employment Equity Act) von 1996 geprägt. Darin werden die sogenannten »sichtbaren Minderheiten« als »Personen, die weder Ureinwohner noch von kaukasischer Abstammung oder weißer Hautfarbe sind«, bezeichnet. Vgl. dazu: Jennifer Elrick, Länderprofil: Kanada. Ethnische Zugehörigkeit, 2012. http://www. bpb.de/themen/1VX5QV,0,Ethnische_Zugehoerigkeit.html (letzter Zugriff 27.2.2015).

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ten von ihnen im östlichen Marzahn-Hellersdorf und im westlichen Spandau niedergelassen. Aufgrund der gemeinsamen Sprache werden die beiden Ein­wanderergruppen, die Juden und die ethnischen Deutschen, im Volksmund häufig verallgemeinernd als »Russen« bezeichnet. Dabei vertreten die Juden und die mehrheitlich protestantischen Spätaussiedler nicht nur in religiöser, sondern auch in kultureller Hinsicht oftmals unterschiedliche Lebenshaltungen. Da die jüdische Bevölkerung in der Sowjetunion vorwiegend in Großstädten lebte, während sich die Spätaussiedler in ländlichen Gegenden konzentrierten, kam es vor ihrer Emigration nach Deutschland selten zu intensiven Begegnungen. In Berlin dagegen leben sie auf einem engen Stadtraum dicht beieinander. Infolge dieser zwangsläufigen Begegnung sind gegenseitige Abgrenzungsmechanismen am Werk, die die jeweiligen Gruppenidentitäten mitprägen.26 Ein auf der gegenseitigen Abgrenzung basierendes »Wir-Gefühl« wird außerdem durch die deutsche Einwanderungspolitik gefördert, deren Gesetze den Spätaussiedlern aufgrund ihrer deutschen ethnischen Zugehörigkeit die Staatsbürgerschaft binnen sechs Monaten einräumen, während die jüdischen Einwanderer im Schnitt sieben Jahre auf ihre Einbürgerung warten müssen.27 All diese Faktoren tragen dazu bei, dass gegenseitige Stereotype, Vorurteile und Abgrenzungen entstehen, die in den Äußerungen der Interviewpartner zur Sprache kommen: »In Spandau, wo meine Großmutter lebt, da sind mittlerweile gut ’n Viertel bis ’n Drittel in dem Haus, also Spandau ja sowieso, sind Russlanddeutsche. Ich weiß nicht, ich erlaube mir mittlerweile zu verstehen, wenn ich den Menschen angucke, wessen Geistes ­K ind der ist. Und ob ich an dem Interesse haben könnte. Ich will gar nicht sagen, dass er jetzt irgendeine böse Partei wählt, ich sag nur: Ist es ’n lustiger Kerl, ist ja interessant, hat was zu erzählen. So. Also, Deichmann Schuhe, irgendwelche komischen Kik-Hosen, so ungesunde Haut vom zu viel Rauchen, Schnurrbart, der 1972 schon unmodern war, und so glasige Augen und ’ne Deutschlandflagge auf’m… oder Deutschland- und Russlandflagge, zurzeit [es ist die Zeit der Fußballweltmeisterschaft] auf’m Auto.«28

Die Kleidung, die wir tragen, hat eine bedeutendere Funktion, als »nur« unseren nackten Körper zu verdecken. Durch diese »soziale Haut«29 wird unser 26 Franziska Becker, Ankommen in Deutschland: Einwanderungspolitik als biographische Erfahrung im Migrationsprozess russischer Juden, Berlin 2001; Astrid Baerwolf, Identitätsstrategien von jungen »Russen« in Berlin. Ein Vergleich zwischen russischen Deutschen und russischen Juden, in: Sabine Ipsen-Peitzmeier/Markus Kaiser (Hg.), Zuhause fremd, Bielefeld 2006, S. 173–196. 27 Oswald spricht in diesem Zusammenhang von verschiedenen »Migrationstoren«. Vgl. Ingrid Oswald, Migrationssoziologie, Konstanz 2007, S. 85. 28 Interview 31.7.2010. 29 Terence Turner, The Social Skin, in: Jeremy Cherfas (Hg.), Not Work Alone: A Cross-­ Cultural View of Activities Superfluous to Survival, Beverly Hills 1980, S. 112–140.

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Kontakt zur Umwelt inszeniert und gestaltet. Die Kleidung und andere Mode­ accessoires helfen uns, einen Status zu erreichen, über den wir Zugehörigkeit und Anerkennung, aber auch Ablehnung und Abhängigkeit erfahren.30 Sie zeigt, dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem, wie wir die Person, die in der Kleidung steckt, wahrnehmen und dem, wie die Person selbst wahrgenommen werden will.31 Insofern ist Kleidung dafür prädestiniert, die Spannung zwischen zwei kulturellen Gruppen sichtbar zu machen. Auch Mila, die mit 17 Jahren aus dem ukrainischen Dnepropetrowsk nach Deutschland einwanderte, heute 27 Jahre alt und mit einem Spätaussiedler aus Kasachstan liiert ist, macht in einem Interview die Unterschiede zwischen russischsprachigen Juden und Spätaussiedlern deutlich, indem sie auf Kleidung als kulturelles Kapital abstellt: »Für Georg ist es sehr schwierig, in eine jüdische Disko zu gehen. Du musst dort perfekt aussehen. Wenn du einen Rock von Gucci anhast, kannst du nicht ein Oberteil von Chanel dazu anziehen. Es passt sonst nicht zusammen, und man wird dir sagen: Das geht so nicht. Du musst also alles von vorne bis hinten durchdenken. Einmal sind wir zusammen ins The Home am Ku’damm gegangen und ich habe ihm vorher erklärt, was er anziehen soll. Das, das und das. Weil man das muss. Das versteht er nicht. Aber… hat er gemacht. Für mich war es auch schwierig, mich an seine Gesellschaft zu gewöhnen, sie unterscheiden sich auch von uns.«32

Das Jüdische wird von Mila mit einem starken Bewusstsein für Markenkleidung in Verbin­dung gebracht. Der Kleidergeschmack fungiert als einer der berühmten »feinen Unterschiede«, die der französische Soziologe Pierre Bourdieu als Bestandteil des sogenannten »Habitus« einer Gruppe beziehungsweise einer sozialen Klasse identifizierte. Darunter verstand er »ein System verinnerlichter Muster«, »die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen  – und nur diese.«33 Dennoch basiert der unterschiedliche Kleidergeschmack in diesem Fall weniger auf ethnischen Unterschieden, sondern bildet eine Abgrenzungslinie, die sich durch die neuen sozialen Verteilungsordnungen der postsowjetischen Gesellschaft erklären lässt. Für Mila ist das Markenbewusstsein direkt mit der symbolischen Aufwertung ihrer eigenen Individualität und der der eigenen Gruppe verbunden; zugleich werden die anderen, in diesem Fall die Gruppe der Spätaussiedler, symbolisch abgewertet. Während das Russische 30 Wilfried Ferchhoff, Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert. Lebensformen und Lebensstile, 2., aktualisierte Aufl., Wiesbaden 2011, S. 293–298. 31 Turner 1980. 32 Interview 19.3.2010, Übersetzung aus dem Russischen. 33 Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Nachdruck, Frankfurt am Main 2003, S. 143.

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einen Berührungspunkt in den Identifikationen beider Migrantengruppen darstellt, werden ihre Eigenbilder durch Abgrenzung von der anderen Gruppe konstruiert. Bei Mila manifestiert sich dies im Bild der »urbanen und modebewussten Juden« im Unterschied zu »sich unmodisch kleidenden, ländlichen und einfach gestrickten Spätaussiedlern«.34 Durch die Distinktion bleibt Milas ökonomisches und kulturelles Kapital, die zugleich ihr Sozialkapital bilden, exklusiv und unangreifbar.35 Milas Worte bestätigen auch die Annahme von Fredrik Barth, dass für die Bildung ethnischer Identitäten eine Abgrenzung von Akteuren anderer ähnlich strukturierter Gruppen, also ethnische Grenzziehungen, eine zentrale Rolle spielen.36 Allerdings reklamieren nicht alle Interviewpartner die »russisch-jüdische« Vorliebe für Markenkleidung als einen Teil ihres eigenen Habitus. Zum Beispiel erzählt Max, ein 28-jähriger Einwanderer aus dem ukrainischen Czer­ nowitz, in einem Interview folgendes: »Wenn ich jüdische Orte in Berlin zeichnen sollte, dann gehört dazu eigentlich auch das KaDeWe. Obwohl da würden wir uns ein bisschen zu weit bewegen und diesen Vorurteilen von russischen Juden folgen. Die russischen Juden sind ein bisschen komplexbehaftet was so Statussymbole angeht, weil in der Sowjetunion konnte man sich nicht großartig differenzieren und hier haben selbst Leute, die in der Kantstraße im Neubau wohnen, eine Nanny und fahren teure Autos und tragen teure Designerkleidung, deswegen wäre das ein bisschen schablonenhaft. Meine Eltern sind Gott sei Dank überhaupt nicht so drauf, meine Schwester auch nicht. Sie sagt sogar, ich sei zu sehr fixiert auf Marken. Ich würde sagen, ich bin auf Qualität fixiert bei meinen Sachen. Auf keinem meiner Hemden oder Krawatten steht so ’ne Marke drauf, so innen vielleicht irgendwo. Irgendjemand hat es so schön gesagt: Das ist ein Komplex, der durch sowjetische Uniformität entstanden ist.«37

Tsypylma Darieva spricht von verschiedenen »Semantiken des Russischen«, welche sie in ihrer Analyse der kulturellen Praxis der russischsprachigen Migranten­zeitungen im Berlin der 1990er Jahre identifiziert. Als gemeinsamer Nenner für alle Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion gehört neben der Identifikation mit der russischen Sprache auch die Bedeutung 34 Baerwolf zeigte in ihrer Vergleichsstudie über die jungen russischsprachigen Juden und Aussiedler, dass solche Verallgemeinerungen nicht zuletzt durch die Medien aufgenommen und reproduziert werden, vgl. Baerwolf 2006. 35 Vgl. Heinz Abels, Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt, Wiesbaden 2006, S. 212–215. 36 Fredrik Barth, Introduction, in: ders. (Hg.), Ethnic Groups and Boundaries, Nachdruck, Long Grove, Illinois 1998, S. 9–38. 37 Mental Mapping-Sitzung 17.6.2010.

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der sowjetischen Vergangenheit.38 Entlang dieser letzteren Konnotation des Russischen zieht Max die symbolische Grenze zwischen sich selbst und seiner Herkunftsgruppe. Dabei ist diese Grenze weniger eine kulturelle als vielmehr eine soziale: »Das Russische ist definitiv ein Teil von mir, es ist das, wo ich herkomme. Wobei die Familie meines Vaters war eine etwas elitäre deutsche Familie mit österreichischem Ursprung, die sogar back in the days nicht mal Jiddisch, sondern straight Deutsch gesprochen hat.«39 Indem Max sich von der angeblichen »sowjetischen Uniformität« abgrenzt, hebt er die westeuropäische Herkunft der eigenen Familie hervor und wertet dadurch sein »soziales« und »kulturelles Kapital« auf. Nicht nur bei Max, sondern auch bei Einwanderern, die aus dem Baltikum stammen, konnte ich die Tendenz beobachten, an die europäische, hauptsächlich deutsche, jüdische Familientradition anzuknüpfen, indem sie sich von der sowjetisch-jüdischen NichtTradition ihrer Einwanderungsgenossen aus Russland und dem östlichen Teil der Ukraine distanzierten. Diese Beobachtung ruft die These von Dolores Augustin in Erinnerung, die sie in ihrer Studie über das soziale Leben jüdischer Wirtschaftsleute im wilhelminischen Berlin aufstellt, indem sie diese Gruppe durch »soziale Exklusivität« charakterisiert. Laut Augustin bildete sich damals das sogenannte »jüdische Patriziat« aus, zu dem jüdische Familien gehörten, die seit mehreren Generationen Großbesitzer waren. Sie versuchten, sich im gesellschaftlichen Verkehr von den sogenannten »neuen reichen Juden« abzugrenzen, die erst vor Kurzem zu Reichtum gekommen waren.40 Max’ herablassende Beschreibung jüdischer Familien, die in den Neubauten in der Kantstraße wohnen, steht in einem starken Gegensatz zu seiner eigenen, wahrhaft luxuriösen Altbauwohnung und macht deutlich, dass in seinen Distinktionspraxen neben dem »sozialen« auch das »ökonomische Kapital« eine zentrale Rolle spielt. Während Kleidungsstile eine mögliche Grundlage für Abgrenzungen russischsprachiger Juden gegenüber den Spätaussiedlern bilden, wird der Kleidungsgeschmack gleichzeitig als Reflexionsfolie für die Hervorhebung von Individualität innerhalb der eigenen kulturellen Gruppe verwendet. Wie das Jüdische, so wird auch das Russische als Zugehörigkeitsoption situativ verwendet und dient mal der Herstellung der Komplizenschaft, mal der Abgrenzung von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft, die nur in den Archiven der Einwanderungsbe­hörden als eine mehr oder weniger homogene Gruppe existiert. Indem das Russische mit der Kleidung in Verbindung gebracht, mehr 38 Tsypylma Darieva, Russkij Berlin. Migranten und Medien in Berlin und London, Münster 2002. 39 Mental Mapping-Sitzung 29.8.2010. 40 Dolores L. Augustine, Die jüdische Wirtschaftselite im wilhelminischen Berlin: Ein jüdisches Patriziat?, in: Reinhard Rürup (Hg.), Jüdische Geschichte in Berlin. Essays und Studien, Berlin 1995, S. 105–106.

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noch, in abwertend gemeinten Sätzen wie »sie kleidet sich wie eine echte Russin, mit Stöckelschuhen und Minirock«41 festgemacht wird, wird eine sonst in Bezug auf ihre Hautfarbe und Gesichtszüge »unsichtbare« Gruppe als »sichtbar« markiert.42 Eine solche Abgrenzungsstrategie von der eigenen Gruppe ist ein typisches Phänomen, das man unter den Zugezogenen beobachten kann, weil sie sich mithilfe dieser Strategie eine bessere und schnellere gesellschaftliche Integration erhoffen. Nimmt man seine eigene Herkunftsgruppe als »sichtbar« wahr, wird die Wahrscheinlichkeit, mit dieser Gruppe der »Fremden« in Zusammenhang gebracht zu werden, oft als größtes Hindernis auf dem Weg zur Anerkennung in der Ankunftsgesellschaft angesehen, sodass es auf jegliche Auffälligkeiten zu verzichten gilt. An dem Ausdruck »echte Russin«, wird deutlich, dass das zugrundeliegende Bild der »Russen« und somit auch das entsprechende Selbstbild einer »Nicht-Russin« durch die Vor­ stellung beeinflusst wird, es gebe einen »deutschen« Kleidungsstil, der sich von dem »russischen« radikal unterscheidet. Dieses Beispiel zeigt, dass der Aushandlungsprozess der Eigenbilder nicht nur die Frage »Wer bin ich?«, sondern vor allem die Frage »Wer bin ich im Unterschied zu den anderen?« beinhaltet. Die Zuordnungsoption »russisch« funktioniert dabei wie ein Bumerang: Durch die Berührung mit dem »Deutschen« ändert sie ihre Richtung, indem ihre identitäre Wirkung von vergemeinschaftend in abgrenzend transformiert wird.

Wir sind zwar alle Juden, aber … – die Amerikaner, die Deutschen und die Konvertierten Die jüdische Gemeinschaft im heutigen Berlin ist international, multikulturell und in einer gewissen Weise auch interkonfessionell. Die russischsprachigen Juden bilden zwar die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in Berlin; sie sind jedoch an den Orten der Religionspraxis wie Synagogen und bei Klubveranstaltungen mit religiösem Hintergrund aufgrund des überwiegend nicht-observanten Charakters der russisch-jüdischen Migration häufig in der Minderheit. Umgeben von alteingesessenen und amerikanischen Juden, die seit Kindesalter eine jüdische Sozialisation durchlaufen haben, und den zum Judentum konvertierten deutschen Christen, die sich eine jüdisch-religiöse Bildung angeeignet haben, fühlen sich die ex-sowjetischen Einwanderer in ihrem jüdischen symbolischen Kapital diesen anderen Gruppen oft unterlegen. Da ein großer Teil  als Kinder in interkonfessionellen Familien aufgewach41 Interview mit Marina 15.2.2010, Übersetzung aus dem Russischen. 42 Siehe Fußnote 25. 

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sen ist, hat bei manchen von ihnen die christliche Tradition eine viel stärkere Prägung hinterlassen als die jüdische. Wie sich vor dem Hintergrund dieser spezifischen Konstellationen und symbolischen Machtverhältnisse stereotypisierende Fremdbilder herausbilden, verdeutlichen meine Beobachtungen am Sederabend des Pessach-Festes im März 2010 in den Berliner Räumlichkeiten des Vereins »Jung und Jüdisch«. Als ich den Mifgasch-Raum (hebräisch für »Treffen«) betrete, begrüßen mich Julia und Ben. Die beiden amerikanischen Studenten sind als Freiwillige nach Berlin gekommen, um bei Masorti, dem Verein zur Förderung der jüdischen Bildung und des jüdischen Lebens, ein Jahr lang mitzuarbeiten. Auf meine Bitte, mir einige russischsprachige Juden vorzustellen, deutet Julia auf zwei junge Männer in der Ecke des Zimmers: »Die beiden kommen aus der ehemaligen Sowjetunion. Vlad aus Litauen, Anton aus Russland. Mit ihnen kannst du dich sicherlich unterhalten.«43 Weil es an dem Tisch, an dem Vlad und Anton sitzen, keinen freien Platz mehr gibt, setze ich mich an den Tisch gegenüber, um die Situation zunächst aus der Ferne zu beobachten. Im Raum herrscht ein angenehmes babylonisches Sprachgemisch: Englisch, Hebräisch, Deutsch und Russisch werden durcheinander geredet. Es fällt mir auf, dass im Unterschied zu vielen anderen jüdischen Treffpunkten in Berlin hier nicht Russisch, sondern Englisch und Deutsch den Raum dominieren. Nachdem der offizielle Teil des Abends, das Vorlesen und die Gebete, vorbei ist, geselle ich mich zur Tischgesellschaft gegenüber, die zur Hälfte aus russischsprachigen, zur Hälfte aus deutschsprachigen Gästen besteht, und wo das Gespräch deshalb auf Deutsch verläuft. Ebenso auf Deutsch stelle ich mich Vlad und Anton vor und frage, ob ich mit ihnen für meine Studie ein Interview führen könnte. Als Erster reagiert Vlad sehr skeptisch auf meine Anfrage: »Ach so. Neulich war schon eine Frau hier, die ihre Doktorarbeit über die russischen Juden schreibt. Sie hatte mich um ein Interview gebeten, aber ich wollte nicht. Ich habe keine Lust, persönliche Dinge über mich zu erzählen. Ich habe nicht einmal der Deutschen Welle ein Interview gegeben, als sie mich neulich fragten.«

Lächelnd entgegne ich, dass ich in diesem Fall vermutlich keine Chance hätte, ihn für ein Interview zu gewinnen. Wie denn die Frau hieß, die schon vor mir hier war, möchte ich gerne wissen. Vlad: »An den Namen erinnere ich mich nicht mehr, aber das war eine Amerikanerin, glaube ich.« Inzwischen ist Vlad kurz davor, nach Hause zu gehen, packt seine Sachen und beginnt, sich von den anderen Gästen zu verabschieden. Ich überlege verzweifelt, wie ich ihn aufhalten und doch noch zu einem Interview bewegen kann. Als er sich zu Anton umdreht und ihm auf Russisch auf Wiedersehen sagt, lasse ich auch ein paar russische Worte fallen. Vlad schaut mich erstaunt an: »Dein Russisch 43 Diese und die folgenden Absätze basieren auf den Feldnotizen der Autorin am 29.3.2010.

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ist aber sehr gut. Wo hast du es gelernt?« Als ich mich als »Russin« offenbare, schaut jetzt auch Anton verwundert zu: »Ach so, wir dachten, du wärst Amerikanerin. Du hast dich ja auch als eine Freundin von Julia vorgestellt und dein Name klang auch so, Alin. Die andere Frau, die damals hier war und mit uns reden wollte, war auch Amerikanerin.« Ab jetzt fließt das Gespräch weiter auf Russisch, wobei Vlad seinen schwarzen breitrandigen Hut wieder ablegt und mir bereitwillig seine Telefonnummer und E-Mail-Adresse diktiert. Auch Anton ist dabei und verspricht, dass er gerne helfen würde. Die russische Sprache wirkt verbindend und – gleichzeitig wird auch die Kehrseite dieser vergemeinschaftenden Wirkung deutlich  – ausschließend. Denn je länger ich an dem »russischen« Tisch verweile, desto stärker werden die latenten Ressentiments spürbar, die die russischsprachigen Juden den amerikanischen Teilnehmern entgegenbringen. So bemerkt ein anderer Endzwanziger neben mir, man höre heute viel zu viel Englisch im Raum. Sein Englisch sei zwar perfekt, aber das Ganze sei ihm trotzdem »nicht ganz koscher«. Später erfahre ich von meinen Nachbarn auch den Namen der »Amerikanerin«, die hier schon vor mir nach Interviewpartnern gesucht hatte. Mit Verwunderung muss ich feststellen, dass es sich um eine Kollegin von mir handelt, die allerdings keine Amerikanerin sondern eine deutsche Jüdin mit israelischen Wurzeln ist. Somit wird die ablehnende Haltung gegenüber einer Frau, für deren Studie man ein Forschungsobjekt darstellen sollte, mit der Abneigung gegenüber den im Raum anwesenden Amerikanern in Verbindung gebracht und auf die Frau übertragen. Denn auch von den amerikanischen Masorti-Freiwilligen fühlt man sich als Zielobjekt behandelt, dem diese etwas beibringen sollten: Zum Auftrag der amerikanischen Freiwilligen gehört unter anderem die Aufgabe, die russischsprachigen Juden in Deutschland an das Judentum heranzuführen. Im Raum gelten sie daher als »Experten« für das jüdische Leben – junge Männer und Frauen, die locker jüdische liturgische Lieder vor sich hin summen, die ihnen schon seit dem Kleinkindalter vertraut sind. Ihr jüdisches »symbolisches Kapital« wird hier höher eingestuft als das meiner russischsprachigen Tischnachbarn, die nur in seltenen Fällen bereits seit ihrer Kindheit mit den Elementen der jüdischen Religionspraxis vertraut sind; in der Regel haben sie diese erst im Erwachsenenalter in Deutschland erlernt. Das anfänglich von mir als friedlich wahrgenommene Miteinander zwischen den russischsprachigen, deutschen, amerikanischen und israelischen Juden erweist sich im Nachhinein als trügerisch. Während der vermeintlich harmonischen Pessach-Feier in den Räumlichkeiten von Jung und Jüdisch lässt sich mit Pierre Bourdieu die Konstruktion eines »sozialen Raums« beobachten, dessen Struktur sich nach dem »kulturellen« und »symbolischen Kapital« der verschiedenen anwesenden Akteure und Akteursgruppen richtet und zu einer klaren hierarchischen Verteilung von Machtpositionen führt.

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Die Abgrenzung, die das Handlungsfeld im Mifgasch strukturiert, wird seitens der russischspra­chigen Juden nicht nur gegenüber den Amerikanern deutlich. Eine unterschwellig ablehnende Haltung herrscht auch gegenüber einer anderen Gruppe, den deutschen oder »alteingesessenen« Juden, deren Familien seit mehreren Generationen in Deutschland leben. Später wird in meiner Gegenwart immer wieder betont, dass einige von ihnen  – auch die Vor­standsmitglieder von Jung und Jüdisch – nicht von Geburt an Juden sind, sondern zum Judentum konvertierten. Dina, die ich auch an diesem Abend kennenlerne, antwortet mir bei einem unserer späteren Treffen als ich den Namen eines Mitglieds von Jung und Jüdisch beiläufig erwähne: »Ach, der, den mag ich nicht so. Er wirkt so unnatürlich. Er ist ja ein konvertierter Jude, wusstest du das? Nicht, dass es für mich einen Unterschied macht, aber ich finde es irgendwie komisch, wenn Deutsche zum Judentum konvertieren. In der Gemeinde von Gesa44 sind sehr viele konvertiert, Gesa selbst ja auch. Und das merkst du sehr stark. Da steht eine deutsche Frau und hält eine Predigt und es ist wie in der Kirche. Es sind alles Protestanten. Das merkt man sofort an der Atmosphäre. Sie sind so höflich und vorsichtig miteinander: ›Guten Tag. Wie geht es Ihnen?‹ Juden sind nicht vorsichtig. Deswegen gehe ich zum Gottesdienst in der Oranienburger Straße nicht gerne hin. Ich war neulich mit einer Freundin in der Joachimsthaler Straße und da ist es ganz anders. Du hast einen Rabbiner und wenn er spricht, dann ist er wie mein Großvater. Ein jiddischer Akzent, jüdische Witze, die ganze Trauer des jüdischen Volkes spricht aus ihm heraus. So wird Gesa niemals reden können. Aber in der Joachimsthaler Straße gefällt es mir nicht, dass Frauen ganz hinten hinter diesem Gitter sitzen müssen. Ich habe mit Eva vom Vorstand von Jung und Jüdisch mal darüber gesprochen, sie hat sehr viele Philosemiten getroffen und sie sagte, dass sehr viele Deutsche sich zur Konversion entscheiden, um von der Seite der Täter auf die Seite der Opfer zu wechseln. Und sie sind dann mehr Juden, das heißt religiös, als wir es sind. Aber es fehlt ihnen diese gemeinsame Geschichte, die Erfahrung der Generationen der Juden, die vertrieben und verfolgt wurden. Sie werden sie niemals haben und das merkt man. Mich persönlich stört es nicht, wenn Menschen konvertieren, aber neulich war ich mit einer älteren, 70-jährigen Bekannten in der Synagoge zusammen und sie findet das furchtbar, dass jemand, der vielleicht ihre Familie ermordet hat, sich jetzt auch Jude nennt. Und ich kann sehr gut nachvollziehen aus ihrer Position, wenn sie so denkt.«45

Wenn Dina die zum Judentum konvertierten christlichen Deutschen als »Protestanten« bezeichnet, die in ihren Augen die Synagoge zu einer Kirche machen, wertet sie deren Habitus somit als nichtjüdisch ab. Dabei geht sie auf die Charakteristiken ein, die Bourdieu als »feine Unterschiede« beschreibt: 44 Gesa Ederberg ist Rabbinerin und leitet den egalitären Gottesdienst in der Oranien­ burger Straße. 45 Feldnotizen 13.5.2010.

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Gestik, Intonation, ein jiddischer Akzent sind auf den ersten Blick Kleinig­ keiten, die in ihrer Gemeinsamkeit allerdings eine »jüdische Atmosphäre« kreieren und als Voraussetzung für einen »genuin jüdischen Habitus« fungieren. In Dinas Augen kann keine auch noch so intensive Auseinandersetzung mit religiösen Inhalten des Judentums, die für die Konversion unabdingbar ist, das Geburtsrecht in eine Gemeinschaft ersetzen, zu deren kollektiven Gedächtnis viele Jahrhunderte der Verfolgung, Vertreibung und des Leidens gehören. Wenn Dina die gemeinsame Abstammung im Vergleich zum religiösen Eifer der konvertierten Juden aufwertet, erscheint diese Praxis besonders vor dem Hintergrund der eigenen niedrigen symbolischen Machtposition im Hinblick auf die Jüdischkeit als notwendig. Denn nicht nur im Vergleich zu den amerikanischen Juden bei Jung und Jüdisch, sondern auch generell werden russischsprachige Juden in Deutschland hauptsächlich durch ihre Entfremdung von der jüdischen Religionspraxis wahrgenommen. Mit den Worten des Zentralrats der Juden in Deutschland haben die jüdischen Gemeinden hierzulande die Aufgabe, die Neueinwanderer an ihre jüdischen Wurzeln heranzuführen.46 Bei Dina kommt hinzu, dass sie, wie die Hälfte aller russischsprachigen jüdischen Einwanderer in Deutschland, aus einer inter­konfessionellen Ehe stammt: Während ihre Mutter jüdisch ist, ist ihr Vater russisch-orthodox. Ihr Jüdischsein musste sie schon früh in ihrer eigenen Familie durchsetzen: »Und dann hatte ich auch eine Oma, die immer zu mir sagte: ›Du bist ja keine richtige Jüdin, weil dein Vater russisch-orthodox ist. Warum tust du dann so, als ob du eine Oberjüdin wärst?‹ Ich habe mich aber schon immer jüdisch gefühlt, was konnte ich denn tun? Ich bin überhaupt nicht gläubig. Kein Gott kann mir vorschreiben, was zu tun und zu denken ist. Aber die gemeinsame Geschichte, die Kultur, die Bildung – das verbindet mich mit dem Judentum.«47

Indem Dina die konvertierten Juden auf der Leiter der sozialen und kulturellen Machthierarchie symbolisch herabstuft, schafft sie es, ihre eigene »Entmachtung« hinsichtlich des jüdischen »symbolischen Kapitals« auf diese Art und Weise zu kompensieren. Wie Ronald Hitzler in seiner Beschreibung der »posttraditionalen Gemeinschaftsbildung« festhält, wird hier die Gemeinschaft durch ein »distinktives Wir-Bewusstsein« stabilisiert, das wesentlich aus der Konstruktion einer »gemeinsamen Außenseite« besteht.48 Während innerhalb des Treffs kulturelle Codes wie Sprache oder Intonation sowie das 46 Vgl. die Webseite des Zentralrats der Juden in Deutschland: www.zentralratdjuden.de 47 Mental Mapping-Sitzung 6.6.2010. 48 Ronald Hitzler, Posttraditionale Vergemeinschaftung. Über neue Formen der Sozial­ bindung, in: Berliner Debatte INITIAL , 9,1 (1998), S. 82.

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»kulturelle Gedächtnis« vergemeinschaftend und zugleich abgrenzend zwischen russisch-, englisch- und deutschsprachigen Juden wirken, wird ein alle Teilnehmer umfassendes »Wir-Gefühl« durch die Möglichkeit, Spaß zu haben und etwas gemeinsam zu erleben, geschaffen, wobei die Grenzen nach innen ebenso wie nach außen als fließend, variabel, instabil und der jeweiligen Situation angepasst betrachtet werden müssen.49

Schlussfolgerungen Die Vergemeinschaftungsprozesse junger russischsprachiger Juden in Berlin gestalten sich als Praxis der Distinktionen. Die Zugehörigkeit zur »eigenen Gruppe« wird in Abgrenzung zu a)  den arabisch- und türkischstämmigen Berlinern, b) den deutschstämmigen, russischsprachigen Spätaussiedlern und c) den alteingesessenen, israelischen und amerikanischen Juden sowie denjenigen, die zum Judentum konvertiert sind, hergestellt. Dabei kreieren Kategorien wie Bildung, Kleidung und Sprache eine Hierarchie sozialer Positionen, indem sie Akteure mit symbolischer Macht ausstatten und ihnen einen bestimmten Rang in den gesellschaftlichen Zusammenhängen verleihen. Die ethnischen, religiösen und kulturellen Grenzen, entlang derer die sozialen Positionierungen junger russischsprachiger Juden ausgehandelt werden, lassen sich auch innerhalb der »eigenen« Gruppe identifizieren. Die Abgrenzung von den »Russen« und den »Sowjetmenschen« aber auch von den »Juden« stellt eine klassische Strategie der Eingewanderten dar, die ihren Anspruch auf ein größeres ökonomisches und kulturelles Kapital erhöht und ihnen bessere soziale Integrationschancen vermittelt. Durch die Abgrenzung von den »eigenen Leuten« oder den »Unseren« wird außerdem offenbart, dass Kultur kein holistisches Phänomen ist. Vielmehr ist die Erfahrung von Differenz innerhalb einer »Kultur« nicht minder groß als außerhalb dieser »Kultur« oder, mit Bernhard Waldenfels gesprochen, die »interkulturelle Fremdheit« beginnt »stets mit einer intrakulturellen Fremdheit«.50

49 Laut Ronald Hitzler werden die posttraditionalen Gemeinschaftsgebilde im Unterschied zu den herkömmlichen Gemeinschaften u. a. durch den gemeinsamen Erlebnis- und Aktionswert charakterisiert. Vgl. Hitzler 1998; Ronald Hitzler u. a., Zur Einleitung: »Ärgerliche« Gesellungsgebilde?, in: dies. (Hg.), Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen, Wiesbaden 2008, S. 9–31. 50 Bernhard Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main, 2006, S. 120.

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Alina Gromova studierte Jüdische Studien und Anglistik in Berlin, Potsdam und Melbourne und promovierte 2013 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2008 ist sie als Referentin für Führungen im Jüdischen Museum Berlin tätig. 2013–2014 war sie als freie Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt des Jüdischen Mu­ seums Berlin »Lebenswirklicheiten. Jüdische Gegenwart in Deutschland« tätig. Für ihr Buch »Generation ›koscher light‹. Junge russischsprachige Juden in Berlin« erhielt sie 2013 den Humboldt-Preis im Bereich Judentum/Antisemitismus. [email protected]

Victoria Hegner

»I am what I am …« Identitätskonzepte junger russischsprachiger Juden in Chicago

Vorab … Mein Forschungsaufenthalt in Chicago, der nun schon gute zwölf Jahre zurückliegt, begann mit einem glücklichen Zufall. Seit zwei, drei Tagen weilte ich in der Stadt am Michigansee, in die mich mein Dissertationsprojekt geführt hatte. Es ging um die große russischsprachige jüdische Migration seit den 1990er Jahren, in deren Verlauf circa 1,6 Millionen Juden ihrer ehemaligen Heimat, der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten, den Rücken gekehrt hatten.1 Neben Israel waren und sind die Haupteinwanderungsziele die USA und Deutschland. Diese beiden Länder sollten im Mittelpunkt meiner Arbeit stehen. Angelegt als eine ethnografische Studie  – also auf Grundlage teilnehmender Beobachtung, narrativer Interviews und historischer Forschung – interessierte mich, welche Identitätskonzepte vom Staat und vor allem von den jüdischen Gemeinschaften vor Ort an die Migrant_innen herangetragen wurden; und wie diese die formulierten Erwartungen und Hoffnungen reflektierten und sich aneigneten.2 Durch den Vergleich zwischen Deutschland und den USA hoffte ich deutlich zu machen, wie wirkmächtig – bei aller Globalisierung – der nationale 1 Mit dem Begriff »russischsprachige jüdische Migration« bzw. »russischsprachige jüdische Migrant_innen«, »russischsprachige Juden/Jüdinnen« folge ich dem Sprachgebrauch, wie er sich seit Kurzem, seit circa drei bis vier Jahren, gerade in der sozialwissenschaftlichen Forschung eingebürgert hat. Damit wurde die Rede von »russischen Juden/Jüdinnen«, »russisch-jüdische Migration/Migrant_innen« abgelöst mit dem Verweis, dass die Migrant_innen nicht ausschließlich aus Russland kommen. Im Mediendiskurs sowie seitens der Migrant_innen wird weiterhin mehrheitlich von »russischen Juden/Jüdinnen«, »russisch-jüdischer Migration« gesprochen, unabhängig vom Herkunftsort. In US -amerikanischen Kontexten spricht man bevorzugt von »sowjetischen Juden/Jüdinnen«. ­Hierin spiegelt sich die ideologische Verortung dieser Migration. Sie ist maßgeblich ein Resultat der Ära des Kalten Krieges. 2 Ich bin um eine geschlechtersensible Sprache bemüht. Gerade wenn es um Juden/Jüdin­ nen geht, ist dies jedoch schwierig, weshalb ich hier überwiegend auf die männliche Schreibweise zurückgreife.

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Kontext und seine Spezifik immer noch sind, und dass sie sich in das sich herausbildende Gruppen- und Selbstverständnis nachhaltig einschreiben. Und ich hoffte noch auf mehr! Ich stellte den Fokus schärfer auf die einzelne Stadt, in die russischsprachige Juden kamen und sich niederließen. Es ging darum zu zeigen, wie sehr die Stadt – ihre Kultur, Geschichte und das dortige Lebensgefühl  – ihr Selbstverständnis prägte. Als exemplarische Orte wählte ich Berlin und Chicago: Für Berlin entschied ich mich, weil es die Stadt ist, in der bundesweit die meisten russischsprachigen jüdischen Migrant_innen leben. Dass Chicago der »Vergleichskandidat« wurde, hatte nicht allein mit meiner Forschungsfrage, sondern auch etwas mit meiner Faszination für die Stadtforschung zu tun. So gilt Chicago als eine ihrer wichtigsten Geburtsstätten. In den 1920er und 1930er Jahren entwickelten die Männer der legendären Chicago School of Sociology – Frauen waren leider kaum darunter – ein Programm für die Untersuchung urbanen Lebens, das bis heute kaum eingelöst ist.3 Die Studien, die sie durchführten, gelten als Klassiker, nicht nur weil sie ein einzigartiges soziologisches Porträt vom damaligen Chicago bieten, sondern auch weil sie in ihrer Detailgenauigkeit und ihrem empathischen Schreibstil die Lust auf die Stadt und ihre Menschen offenbaren, eine Lust, der sich beim Lesen (fast) niemand entziehen kann. Chicago war für mich noch vor meiner Forschung – ganz wie es Frank Sinatra so lässig besungen hatte – »my kind of town and my kind of people too«. Doch wie war das nun mit dem eingangs erwähnten glücklichen Zufall, der für meine Forschung so entscheidend wurde? Er ereignete sich im Museum of Contemporary Art auf der Michigan Avenue. Bevor ich mich in die »Feldarbeit« stürzte, wollte ich noch einige touristische Attraktionen der Stadt besuchen, und das Museum gehört gewiss dazu. Als ich dort durch die Ausstellungshallen schlenderte, hörte ich einige Leute miteinander auf Russisch reden. Da passierte es. Als ich kurz zu ihnen hinschaute, konnte ich es nicht fassen: Ich kannte eine der Personen … aus Berlin. Es war Katja G ­ lasova. Wir waren uns einige Jahre zuvor bei einem Abendessen einer Berliner Freundin begegnet. Sie studierte damals Germanistik an der Freien Universität und wir hatten uns angeregt über unsere damals anstehenden Magisterarbeiten unterhalten. Katja sah mich, erkannte mich ebenfalls und war nicht weniger perplex als ich. Wir tauschten uns darüber aus, was uns nach Chicago gebracht hatte, und so erfuhr ich, dass Katja nun dort lebte und an der University of Chicago ihre Doktorarbeit schrieb. Sie hatte nicht viel Zeit und meinte beim Abschied kurz, dass ich ihr meine Telefonnummer geben solle und dass sie mich anrufen würde. Und das tat sie tatsächlich noch am selben Abend. 3 Einen guten Überblick über das Wirken der Chicago School bietet: Rolf Lindner, Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage, Cambridge 1990.

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Im Telefonat erzählte sie mir, dass sie sich seit einiger Zeit in der Schriftstellerei versuche, und fragte mich, ob ich nicht zu ihrer russischen Lesung kommen wolle, die bei einem Freund zu Hause stattfinden würde. »Komm doch«, fügte sie an. Als ich nicht gleich reagierte, meinte sie in Bezug auf meine Arbeit ironisch: »Hey, ich bin zwar nur Russin, aber es gibt auch ein paar Juden dort. Du kommst also?!« Ich sagte kurz entschlossen zu.4 Auf diese Weise gelangte ich an die Eintrittskarte zur Gruppe junger russischsprachig-jüdischer Migrant_innen im Alter von 20 bis 35 Jahren. Die Mehrheit der Besucher_innen an dem Abend war, wie sich zeigte, vor mehreren Jahren in die USA gekommen, meist mit den Eltern und mit dem Status eines jüdischen Flüchtlings. Mark Kretschewski, der Gastgeber, wurde einer der Protagonist_innen meiner Studie.5 Forschung, so musste ich abermals feststellen, ist eben nicht allein eine Frage guter Vorbereitung und eines ausgefeilten theoretischen Grundgerüsts. Sie braucht das ungeplante Moment, die günstige Gelegenheit, die man am Schopfe packt und versucht, das Beste daraus zu machen.6

Hochkomplex, offen und flexibel Und das versuchte ich auch. Im Folgenden werde ich die Daten, die ich dabei gesammelt habe, nutzen und mich auf die jungen russischsprachigen jüdischen Migrant_innen in ­Chicago 4 Feldnotizen, 10.3.2002. 5 Ich habe die Protagonist_innen der Studie anonymisiert. Ausgenommen davon sind Personen, die »offizielle Ämter« bekleiden, wie Rabbiner_innen, Leiter_innen jüdischer Organisationen, da sie mit den Anschauungen, die sie mir gegenüber äußerten, eine für ihre Gemeinschaft repräsentative Meinung öffentlich vertreten wollten, was auch ihre Aufgabe darstellt. (Sie alle willigten ein, mit dem Klarnamen aufzutreten.) Die Studie kann mithin auch als ein zeithistorisches Dokument gelesen werden. 6 Über die Rolle des glücklichen Zufalls in der Forschung sowie die etwas »verstärkte« Form davon, die Serendipität, siehe: Robert K. Merton/Elinor G. Barber, The Travels and Adventures of Serendipidy. A Study in Sociological Semantics and the Sociology of Science, Princeton 2004. In Berlin hat sich trotz mehrerer Versuche kein Zugang zu jungen russischsprachigen Juden ergeben. Ein glücklicher Zufall, wie in Chicago, ergab sich nie, wofür es Gründe gibt. Eine kurze Reflektion hierüber findet sich in: Victoria Hegner, Gelebte Selbstbilder. Gemeinden russisch-jüdischer Migranten in Chicago und Berlin, Frankfurt am Main 2008, S. 27–29. Eine ausgezeichnete Ethnografie zum Selbstverständnis von jungen russischsprachigen Juden in Berlin ist: Alina Gromova, Generation »koscher light«. Urbane Räume und Praxen junger russischsprachiger Juden in Berlin, Bielefeld 2013. Ein Artikel, der bereits einen Einblick in die Forschung und Ergebnisse von Alina Gromovas Studie bietet ist: Alina Gromova, A City of Mind. Berlin in the Perception of Young RussianSpeaking Jewish Migrants, in: Claudia Simone Dorchain/Felice Naomi Wonnen­berg (Hg.), Contemporary Jewish Reality in Germany and Its Reflection in Film, Berlin 2012, S. 71–84.

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konzentrieren. Mithilfe der dichten Beschreibung gehe ich ihren hochkomplexen Identitätskonstruktionen im Kontext des Aufnahmelandes nach. Was die Altersgruppe so interessant macht, ist der Umstand, dass diejenigen, die ihr angehören, noch in der Sowjetunion geboren wurden und zur Schule gingen. Einen beträchtlichen Teil ihrer Sozialisation erhielten sie also noch im ehemaligen Heimatland. Doch ähnlich entscheidend und prägend waren und sind bereits die USA, wo sie jetzt leben und deren Staatsbürger_innen sie größtenteils sind. Hier haben sie weiterführende Bildungseinrichtungen besucht, sind in den Beruf gestartet und haben womöglich angefangen, über die Gründung einer Familie nachzudenken (oder haben dies bewusst nicht getan). Bei der Frage, »Wer bin ich eigentlich?«, sind die Bezüge auf den Herkunfts- und Aufnahmekontext gleichermaßen wichtig, ist die Vermittlung intensiv und dabei von großer soziokultureller Offenheit und Flexibilität geprägt, die für dieses Alter spezifisch sind. Prozesse der Formulierung von Identitäten treten besonders anschaulich hervor. Wenn ich diesen Prozessen hier nachgehe, so fokussiere ich zwei Thematiken, die in Gesprächen, bei privaten Zusammentreffen und offiziellen Veranstaltungen immer wieder direkt oder indirekt zur Sprache kamen. Zum einen geht es um die Vorstellungen vom eigenen Jüdischsein. Sie sind durch die Aushandlung der Kategorien »Religion« und »Nationalität« bestimmt. Zum anderen werde ich den Verortungen in und Bezügen auf eine »russische/sowjetische Kultur« nachgehen. Die Diskussion hierüber ist vor allem durch die Formulierung eines fast schmerzlich empfundenen Zwiespalts geprägt. Denn so sehr man die USA als »Land der Freiheit« preist und »stolz« auf dieses Land ist, so sehr ist man davon überzeugt, dass es »einfach uncool ist, Amerikaner zu sein«. Wie erklärt sich diese Ambivalenz? Das möchte ich herausarbeiten. In meiner Darstellung kommt eine Vielzahl von Einzelpersonen zu Wort. Damit wird deutlich, dass zwar Zugehörigkeit zu einer Gruppe formuliert wird, diese aber längst an Eindeutigkeit verloren hat. Unterschiedlichste und sich auf den ersten Blick widersprechende Zuordnungen und historisch-kulturelle Bezugnahmen können stattdessen konfliktlos neben­einanderstehen oder spezifisch und situativ verknüpft werden  – eine Form der Identitäts­ bildung, die für die Spät- oder Postmoderne als charakteristisch gilt.7

7 Peter Wagner, Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität, in: Aleida Assmann/Heidrun Friese (Hg.), Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3, Frankfurt am Main 1998, S. 44–72.

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Jüdischsein zwischen Religion und Nationalität Es war Mittwoch. Samuel Derman, ein orthodoxer amerikanischer Rabbiner in West Rogers Park, hatte, wie so oft, zu einem religiösen Vortrag in privater Runde unter russischsprachigen Juden geladen. Treffpunkt war das Haus eines jungen russischsprachigen jüdischen Ehepaars in der Birchwood Street, in West Rogers Park, das in Chicago als das jüdische Viertel gilt.8 Mann und Frau sind nach der Immigration streng fromm geworden. Tatjana Leltschuk, eine russischsprachige Jüdin, die aufgrund ihrer Arbeit seit 1997 in den USA lebt, hatte zu mir gesagt, dass ich »diese Gruppe unbedingt sehen« müsse, und sie wollte mich mitnehmen. Ich würde einen »völlig neuen Blick« auf russischsprachige Juden in den USA bekommen, weil das dortige Publikum, anders als man es gewöhnlicherweise kennt, »rechtsgerichtet« sei. »Ich meine nicht konservativ, ich meine rechtsgerichtet«, beschwor sie mich, wobei sich Tatjana von dieser Zuschreibung offensichtlich ausnahm und sich wohl als eine Art »interessierte Außenseiterin« betrachtete.9 Zu meiner Überraschung traf ich auf einige Gesichter, die mir durch Katjas Lesung bekannt waren.10 Mark Kretschewski hatte sich eingefunden und Lilia Kotlianova war gekommen, die ebenfalls auf Katjas Abend gewesen war. Für mich war das insofern merkwürdig, als ich Katjas literarisches Schaffen eher in das linke Spektrum einordnete. Es war politisch alternativ, mitunter geradezu subversiv. Wenn man solche Literatur interessant fand, wie konnte man sich dann zugleich einem Kreis zuwenden, der jüdisch orthodox orientiert war? Lilia hatte mir in einem längeren Gespräch auf Katjas Lesung erläutert, dass jegliche Form von Religion eine kulturelle Konstruktion sei, Mark wiederum war nicht müde geworden, mir gegenüber zu betonen, dass er mit »Religion« nichts anfangen könne, weil sie ihm »geistig zu eng« sei. Vor dem Hintergrund solcher Äußerungen wunderte ich mich, dass sie gerade den Austausch mit einem orthodoxen 8 Eine reich bebilderte Geschichte des Viertels findet sich in: Irving Cutler, The Jews of Chicago. From Shtetl to Suburb, Chicago 1996, S. 249–254. Eine Ethnografie des Viertels, in der mehrere religiöse Communities vorgestellt werden, die alle West Rogers Park als »ihre Enklave« beanspruchen, ist: Lowell W. Livezey, Communities and Enclaves. Where Jews, Christians, Hindus, and Muslims Share the Neighborhoods, in: ders. (Hg.), Public Religion and Urban Transformation. Faith in the City, New York 2000, S. 133–161. Eine weitere Ethnografie des Viertels und seiner sozialen und kulturellen Bedeutsamkeit für russischsprachige Juden findet sich in meiner Dissertation: Hegner 2008, vor allem in den Abschnitten: »West Rogers Park: ›the last bastion of neighborhood Judaism‹«, S. 51–57; »West Rogers Park: das Little Russia Chicagos«, S. 62–65; »West Rogers Park als kulturelle und soziale ›Überganszone‹«, S. 66–76. 9 Feldnotizen, 31.3.2002. 10 Feldnotizen, 24.4.2002; die folgenden Ausführungen beruhen, wenn nicht anders vermerkt, auf diesen Notizen.

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Rabbiner suchten, der eine geschlossene Weltsicht und eine strikte Form von Religiosität vertrat. Waren Lilia und Mark auf dem Gedichte-Abend alternativ und liberal aufgetreten, so konnten sie sich heute auf konservative oder orthodoxe Vorstellungen einlassen. Ein Schritt, der auch körperlich-habituell dokumentiert wurde.11 So folgten Mark und Lilia gewissenhaft der orthodoxen Kleiderordnung und hatten sich »äußerlich« in streng gläubige Juden verwandelt. Mark war in langer dunkler Hose und im Sakko erschienen, mit einer Kippa auf dem Kopf. Lilia trug einen knöchellangen Rock, darunter die vorgeschriebenen stockings mit festem Schuhwerk. Die langen Haare waren zusammengebunden. Sie winkten mich zu sich und Lilia und ich saßen während des Vortrags zusammen. Tatjana schien mit ihrer Beschreibung, dass man hier nicht nur »konservativ« sondern »rechtsgerichtet« dachte, in gewisser Weise recht zu behalten. Die Ausführungen des Rabbiners zur religiösen Bedeutung Israels und seine diesbezüglichen Überlegungen zum Nahostkonflikt konnte man zumindest als eine »ultraorthodoxe« Anwendung der Tora auf die Gegenwart deuten: Politische Liberalität wurde mit Verweis auf die heiligen Bücher und der Unverrückbarkeit ihrer Aussagen abgelehnt  – histo­risch veränderte Lösungen gab es nicht. Mark war von Rabbiner Derman begeistert. »Ein weiser Mann«, befand er nach dem Vortrag. Für ihn sei es eine »intellektuelle Bereicherung« gewesen und er freue sich schon auf das nächste Mal. Lilia hingegen meinte später: »Ich fand es furchtbar. Er [Rabbiner Derman] hat nicht für mich gesprochen. Er ist gar nicht davon ausgegangen, dass auch andere Leute im Publikum sitzen, vielleicht auch Linkseingestellte, auch Nicht-Juden.«12 An anderer Stelle fügte sie an: »Eigentlich ging ich in der Hoffnung hin, etwas Weises zu hören und auch Fragen zu stellen. Was können wir außer Gewaltanwendung [israelische Gewalt gegenüber Palästinenser_innen] noch tun? Aber als ich da war und ihm zuhörte, gab er mir das Gefühl, keine Fragen stellen zu wollen, weil ich wusste, was die Antworten sein würden.«13 Diese kritische Haltung hielt Lilia aber nicht davon ab, ebenso wie Mark beim nächsten Referat von ­Rabbiner Derman wieder dabei zu sein.

11 Mit dem Begriff »körperlich-habituell«, folge ich Ansätzen der Performanztheorien. In diesen wird der Gedanke stark gemacht, dass sich Ideen vom Selbst nicht allein sprachlich artikulieren, sondern sich direkt in den physischen Körper einschreiben, ihn mit Habitus ausstatten. Der Habitusbegriff geht auf Bourdieu zurück. Ein Artikel, der die verschiedenen Perfomanztheorien diskutiert, ist: Christoph Wulf/Jörg Zirfas, Die performative Bildung von Gemeinschaften. Zur Hervorbringung des Sozialen in Ritualen und Ritualisierungen, in: Erika Fischer-Lichte/Christoph Wulf (Hg.), Theorien des Performativen, Berlin 2001, S. 93–116. 12 Feldnotizen, 26.5.2002. 13 Interview, 19.6.2002.

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Offensichtlich erwächst also die gleiche Praxis aus völlig verschiedenen Erwartungen an die jüdische Religion und verweist auf ganz unterschiedliche Formen jüdischer Selbstverortung. Wie sich diese Selbstverortungen und das Verhältnis zum religiösen Judentum spezifisch konstituieren und wie sie die Praxis, bei Rabbiner Dermans Vorträgen vorbeizuschauen, jeweils kulturell-logisch werden lassen, das versuche ich jetzt zu klären. Säkular und orthodox zugleich – die »typischen Repräsentanten«

Den Kommentar, dass die Beschäftigung mit jüdischer Religion eine Art »intellektuelle Bereicherung« sei, etwas, das »interessant« ist, höre ich von jüngeren russischsprachigen Juden immer wieder. Dabei wird stets betont, dass man selbst nicht religiös sei. Juri Fraint, ein enger Freund von Mark, geht beispielsweise gern zu Veranstaltungen der Synagoge Heritage. Diese ­Chicagoer Institution ist von Eliezer Dimarsky, einem russischsprachigen Rabbiner Ende Dreißig, im Jahr 2000 gegründet worden. Dort folgt man der orthodoxen Interpretation der Tora, gibt sich bei den Veranstaltungen jedoch betont offen und verlangt vorerst nur geringe Zugeständnisse an streng-­gläubige Vorschriften, sodass selbst der orthodoxe Dresscode mit all seinen Abstufungen mitunter außer Kraft gesetzt ist. Als ich Juri erzähle, dass ich ihn auf einem Foto in der Synagoge gesehen hätte, das ihn beim Purimspiel zeigt, meint er: »I was eager to participate in the Purimspiel. I am very interested in religion, yes! I am not a religious man, but I am very interested in that.« Und er ergänzt: »You should at least try to understand what Jewish religion is all about and what the difference is«.14 Dabei deutet sich an, was diese religiösen Ideen in einem mehrheitlich säkularisierten Alltag und Weltbild darstellen. Sie sind Distinktionsmittel, nicht in Form eines favorisierten Lebensstils oder eines Glaubensbekenntnisses, sondern als eine Art abrufbarer Kenntnisvorrat und gelegentlicher sozialer Verortung, die man anderen  – Nichtjuden – voraus hat und durch die man in erster Linie zum Juden wird. »We are not Christians, we are not Muslims«, erklärt Juri, und indem er das jüdische Diasporaverständnis aufgreift, sagt er weiter: »But, the question is not that we are different from the people, it’s how we are different when we’ve lived for a long time in some other country. Until the middle of the 19th century it was always one major issue: It was religion which kept people apart.«15 Als Jude in der ehemaligen Sowjetunion wurde man jedoch atheistisch erzogen und so der religiösen Komponente jüdischen Selbstverständnisses beraubt. Diese holt 14 Interview, 26.6.2002. 15 Ebd.

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man sich nun auf intellektuellem Wege »zurück«, ohne dabei seine »sowjetisch-sozialistische« Sozialisation, seinen gewohnten Atheismus in allen Teilen verneinen zu müssen. In gewisser Weise ist es ja gerade der amerikanische Kontext, der zur Beschäftigung mit der jüdischen Religion als Identitätsstifterin herausfordert. Als ich beispielsweise Mark einmal danach frage, ob und wie sich seine Ideen vom eigenen Judentum nach der Immigration verändert hätten, kommt er ohne Umschweife auf Religion zu sprechen. Dabei verweist er darauf, wie unterschiedlich die Situation für Juden in Russland und den USA gewesen sei. In Russland wurde man allein durch Diskriminierung zum Juden und war sich seiner eigenen Herkunft versichert. In einem so freiheitlichen Land wie den USA aber sei es egal, wer man sei und welche Ansichten man vertrete. Niemanden interessiere das. Doch wenn es egal ist, wird es auch schwierig, ein spezifisches Verständnis vom eigenen Jüdischsein zu entwickeln, »seine Identität zu bewahren«. Für Mark ist es nun die Religion, die hier eine wichtige Funktion übernimmt. In Teilen klingen seine Ausführungen dabei wie eine Rechtfertigung dafür, nicht fromm zu sein. »I wouldn’t say that there were changes«, beginnt er als Antwort auf meine Frage. »I mean, I went to […] Lubavitch,« und weiter: »I never was observant to the point of wearing a kippa, not driving on Shabbes. I go to that Wednesdays lectures. You know, it’s interesting. I mean I go to this as a sort of intellectual aspect of Judaism […] in Torah, wisdom is very interesting I definitely would have studied more, if I had more time. But, I mean, […] there are problems. Just, what happens here … here a sort of it doesn’t really matter. You don’t really have to prove your identity. […] You kind of have more freedom here. It’s not structured as it is in Russia. Here nobody cares whether you’re Jewish or whatever you are. There are no problems in schools, and there is no label in the passport here. So, all this crap that was in Russia kind of goes away. […] So there is no issue here … there is a different issue of identity here. In America it is a kind of difficult to maintain your identity […] I mean, I’ve done what I can do. I haven’t … like there are people like […] Boris and Sophia [Freund_innen von ihm] who are observant Jews. They live a Jewish lifestyle. […] But my lifestyle isn’t, doesn’t, wouldn’t allow me to do that.«16

Wenn Mark seinen Lebensstil ins Feld führt, der es ihm nicht erlaubt, den religiösen Vorschriften entsprechend zu leben, so hat er dabei unter anderem seinen gewohnten Wochenrhythmus im Blick: seinen »Nine-to-Five-Job«, für den er mitunter auch samstags arbeitet. Zudem sind es die Freitagabende, die gerade für Singles die klassischen Ausgeh-Abende sind. Mark könnte darauf nicht verzichten. Er trifft sich dann mit Freund_innen in Lincoln Park oder Bucktown und gemeinsam geht es durch Cafés und Clubs, die allesamt nicht koscher sind und auch gar nicht sein sollen. Schließlich gehört es zu Marks 16 Interview, 2.5.2002.

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Lebensstil umherzureisen. Die Einschränkungen, die sich aus frommen Vorstellungen ergeben, zeugen für Mark von »Naivität« und »Engstirnigkeit«, die einem wichtige Erfahrungen vorenthalten. Wie er im Interview vorsichtig formuliert: »… a religious Jew would not really go into a church because of belief, you know, because of religious reasons. I think it’s a kind of naïve and narrow-minded because if you are in Rome and you want to see Michelangelo and Raffaello and Leonardo da Vinci, a lot of it is inside the Vatican, a lot of it is in churches. You are missing all on culture […] it’s a kind of a bit narrow-minded for me.«17

Augenfällig ist, dass in Marks Äußerungen ausschließlich religiös-orthodoxe Ansichten eine Rolle spielen. Es sind orthodoxe Juden, die keine Kirchen betreten, Reformorientierte beispielsweise tun dies durchaus. Auch das Beispiel seiner Freunde, an denen er seinen eigenen Lebenswandel misst, steht für die streng fromme Interpretation der Tora. Boris und Sophia haben sich schon vor Jahren vom weltlichen Leben verabschiedet und leben in der orthodoxen Community von West Rogers Park. Die Orthodoxie wird in gewisser Weise als die alleingültige Form jüdischer Religiosität angesehen, egal wie engstirnig man sie empfindet und ob man sie als alltägliche Praxis für sich selbst ablehnt. »Reform«, wie Mark an einem Sommerabend auf dem Balkon seiner Wohnung drastisch meint, sei doch »Bullshit«. »Das ist doch nicht the real stuff. Sie fahren mit dem Auto am Schabbat. Sie singen in der Synagoge. Das ist doch Bullshit.«18 Mit seiner Idee, dass das reformierte Judentum nicht »the real stuff« darstelle und im Umkehrschluss die Orthodoxie dies sehr wohl sei, steht Mark keineswegs allein. Jüngere russischsprachige Juden, die ich kennengelernt habe und die sich mit jüdisch-religiösen Ideen beschäftigten, während sie gleichzeitig ihren Atheismus betonten, der aus Sowjetzeiten herrührte, wandten sich allesamt orthodoxen Organisationen zu. Rabbiner Dermans Vorträge Mittwochsabend in einer privaten Wohnung sowie Dimarskys storefront-synagogue waren in diesem Zusammenhang die zentralen Institutionen. Für ihre Popularität unter sonst säkular eingestellten russischsprachigen Juden gab es verschiedene Erklärungen. Sie resultiere nicht nur aus der Überzeugung, dass die Orthodoxie letztlich das »echte« religiöse Judentum repräsentiere. Einen wichtigen Grund stellen auch die Geschichte der jüdischen Minderheit in der Sowjetunion dar und der spezifische Bezug darauf. So war die jüdische Orthodoxie einstmals die dominante und nahezu ausschließliche Form religiösen Judentums in osteuropäischen Ländern. Indem man diese kennenlernt, greift man  – so die Vorstellung  – ein Stück weit die Tradition der Großeltern wieder auf, »erinnert« sich daran und 17 Ebd. 18 Feldnotizen, 27.7.2002.

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»bewahrt« sie so. Sie wird Teil des eigenen Selbstverständnisses. Wenn russischsprachige Juden in diesem Zusammenhang auch immer wieder auf das Reformjudentum zu sprechen kommen und sich von diesem abgrenzen, klingt zumindest ansatzweise der allgemeine Diskurs »Ostjudentum versus Westjudentum« an, bei dem letzteres häufig mit »Reform« und »Liberal« in eins gesetzt wurde und wird. »Little things and big things« – die Außenseiterin

Diese verschiedenen Erklärungen treffen wohl auf einen Großteil junger russischsprachiger Juden mit religiösem Interesse zu oder mögen als passende Erklärungen formuliert werden, doch sie geben nicht die Logik von Lilias Selbstverständnis in Bezug auf die jüdische Religion wieder. Anders ausgedrückt: So wie Mark und auch Juri »typische Repräsentanten« einer Gruppe junger russischsprachiger Juden in Chicago sind, so sehr stellt sich Lilia als »Außenseiterin« dar. Als solche gehört sie wiederum dazu, denn gerade durch sie, durch die Auseinandersetzung mit ihr, vergewissert sich die »Gruppe« in ihrem gemeinschaftlichen Selbstverständnis. Und mit Lilia hat es schon einige Auseinandersetzungen gegeben! Sie gilt unter denjenigen, die zu Derman aber auch Dimarsky gehen, beziehungsweise Freund_innen von Mark und Juri sind, als »eigensinnig«, mitunter »unberechenbar«. Ihre Ideen vom eigenen Jüdischsein, insbesondere die Einbindung von religiösen Vorstellungen, sollen hier kurz vorgestellt werden. Das geschieht nicht zuletzt deshalb, weil Lilia in ihrem »Außenseitertum« zugleich ein Paradebeispiel für eine Praxis der Identitätsbildung ist, die insbesondere der Spätmoderne zugeschrieben wird. Stärker noch als Mark und Juri greift sie unterschiedlichste, auf den ersten Blick unvereinbare Auffassungen und Handlungsweisen auf und versucht damit, Ideen vom eigenen Selbst zu formulieren. Die Mehrheit junger russischsprachiger Juden, die sich mit jüdischer Religion beschäftigen, stellen, wie versucht wurde zu zeigen, ihrem »weltlichen« Lebenswandel – ihrem gepflegten Atheismus – jüdisch-orthodoxe Ansichten separat zur Seite. Religion ist so etwas wie ein Requisit, durch das man sich von »anderen« unterscheidet und sich Zugehörigkeit verschafft. Als Instrument zur Entscheidung darüber, wie man seinen Alltag strukturiert und nach welchen Normen und Werten man letztlich lebt, spielen fromme Erklärungen und Regeln eine vollkommen untergeordnete Rolle. Lilia jedoch sucht in der Religion genau das: unmittelbare Antworten darauf, nach welchen Vorstellungen beziehungsweise Richtlinien man die eigene Existenz gestalten könnte. Sind Rabbiner Dermans Vorträge für Mark eine »intellektuelle Bereicherung«, so hofft Lilia auf Handlungsvorschläge (»Was können wir tun?«), die sich aus der Religion herleiten lassen. Bei ihrem Wunsch, die unterschied-

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lichen Probleme zu lösen, die sie bewegen, bleibt sie nicht bei orthodoxen Vorstellungen stehen. Ihr jüdisch-religiöses Spektrum ist viel weiter definiert, und so trifft sie sich auch mit Reformrabbiner_innen. In der Zeit meiner Feldforschung war es vor allem der israelisch-palästinensische Konflikt, der für Lilia zentral war und zur persönlichen Frage jüdischer Selbstverortung wurde. Sie wandte sich dabei zwar verstärkt religiösen Instanzen zu, aber auch sie stellte immer wieder heraus, dass sie nicht religiös sei. In Anspielung auf die atheistische Erziehung in der Sowjetunion und Erfahrungen an der jüdisch-­orthodoxen Highschool in West Rogers Park nach ihrer Immigration führt sie aus: »I believe you can’t become religious […] I don’t know if it just happens. It … you can’t try hard. You can’t … I don’t know, I am not sure. I didn’t want to be one [a religious person].«19 Etwas später meint sie, wobei sie ihre grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber Formen der Religiosität wieder einschränkt: »I cannot say that I believe in this monotheistic idea of god and creation as it is meant, whether it pertains to Christianity or Judaism or any other religion. I don’t have a need, to be part of this or that group.« Und indem sie nicht das Bedürfnis hat, »dieser oder jener Gruppe« anzugehören, kann sie sehr unterschiedliche, nicht nur jüdisch-orthodoxe, religiöse Vorstellungen akzeptieren. Wichtig ist für sie ganz allgemein, »Glück« zu finden – eine transzendente und zugleich individuelle Wahrheit: »I think there is – for me at least, the way I understand my life, my world – happiness, magic, you know, in a way. Little things and big things, and I think […] people choose a path towards happiness.«20 Und wenn jüdische Religion, egal welcher Ausrichtung – reform oder orthodox – dabei hilft, diesen »Pfad« zu beschreiten, warum sollte man dann darauf verzichten?! Mehr noch: Sind für das Glück auch »andere« (religiöse) Ideen jenseits des jüdischen Glaubens zuträglich, dann kann, ja dann muss man sich auch dieser bemächtigen. So findet Lilia christliche Ideen ebenfalls sehr interessant, und an der Vorstellung einer Mutter Maria sei schon etwas dran.21 Überhaupt sind Grenzen, die durch den jüdischen Glauben beziehungsweise allgemein jüdische Herkunft suggeriert werden, dazu da, eingerissen zu werden. Wie Lilia meint, ist sie doch »nicht nur Jüdin«, sondern auch und »vor allem erst einmal Mensch«, und erst dann – vielleicht – eine Jüdin.22 So sucht sie forciert die kulturelle wie soziale Nähe zu Menschen unterschiedlicher Glaubensausrichtung und Herkunft. Dass sie insbesondere die Nähe zu Menschen arabischer Herkunft sucht, verweist darauf, dass sie sich bei aller Fluidität ihrer Kategorien doch sehr klar verortet. Sie sucht den Kontakt ja gerade deshalb, weil sie Jüdin ist und sie als 19 Interview, 19.6.2002. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd.

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solche der arabisch-jüdische Konflikt in besonderer Weise beschäftigt. In ihrem Wunsch, die Schwierigkeit des arabisch-jüdischen Verhältnisses zu überwinden, legt sie einen gewissen »missionarischen Eifer« an den Tag, womit sie nicht zuletzt gegen eine Haltung vorgeht, die sie für den nordamerikanischen Kontext und die russischsprachige jüdische Immigration in den USA als typisch empfindet, nämlich die vorbehaltlose Unterstützung der Politik des israelischen Staates. »Ich finde es immer wieder komisch«, sagte sie einmal zu mir. »Es ist, als ob die Leute [russischsprachige Juden] hierher kommen und einen Schalter betätigen. Plötzlich sind sie so völlig pro Israel. Sie lassen einfach keine andere Meinung zu.« Verärgert über diese einseitige Positionierung fügt sie hinzu: »Man kann in der amerikanisch-jüdischen Community mit keinem darüber reden [den israelisch-palästinensischen Konflikt], ohne als Antisemit hingestellt zu werden.«23 Da man »mit keinem darüber reden kann«, greift Lilia bei ihren Versuchen, beispielsweise Mark und seine Freunde davon zu überzeugen, »Araber« nicht von vornherein abzulehnen, auf nonverbale Strategien zurück. Dabei spielt der Stadtkontext Chicago mit den für ihn typischen ethnischen Enklaven eine entscheidende Rolle. Lilia lud beispielsweise spontan zu einer »Exkursion« in das pakistanische Viertel ein und ging mit einigen russischsprachigen jüdischen Freunden dort essen, um ihnen die arabische Küche vorzuführen. Die allerdings verstanden überhaupt nicht, was sie in dieser Gegend, in diesem »einfachen Imbiss« sollten, und was daran »besonders« sei.24 Sie fanden lediglich: »Typisch Lilia. Verrückt.« Dass Lilia hier einen jüdisch-arabischen Vermittlungsversuch startete, war ihren Freund_innen nicht gegenwärtig. Die Beziehung zwischen Juden/Jüdinnen und Arabern/Araberinnen mögen sie als problematisch empfinden, aber die politischen wie religiösen Schwierigkeiten dieser Gruppen besitzen für ihre alltägliche Praxis kaum Relevanz. Wie konsequent Lilia konventionelle Grenzen jüdischen Selbstverständ­ nisses überschreitet und gegen stereotype Zuschreibungen lebt, zeigt sich darin, dass sie trotz des Widerstands ihrer Eltern und ungeachtet aller Ratschläge von Bekannten letztlich ihre »große Liebe« geheiratet hat: einen Ägypter, der praktizierender Christ ist.25 Doch eines gab sie dabei nicht auf. Umut, ihr Mann, bat sie zu konvertieren. Doch, wie Lilia zu mir meinte: »I am what I am« – eine Jüdin.26

23 24 25 26

Feldnotizen, 26.5.2002. Feldnotizen, 29.6.2002. Feldnotizen, 15.7.2002; Unterhaltung mit der Tante von Lilia. Interview, 19.6.2002.

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Geschichte, Herkunft, Seele, Blut – Jüdischsein als Nationalität Mark, dagegen, könnte das nicht, eine Christin heiraten. Die Abneigung gegen­über dem Christentum ist für ihn, aber auch für andere junge russischsprachige Juden, ein Merkmal des Judentums per se. »I wouldn’t want to marry for example a Russian woman, who wears a cross«, bemerkte Mark im Interview, als ich fragte, wie wichtig ihm sein jüdischer Hintergrund sei. »The bigger the cross, the more disgusted I get. I laugh at it because it turns me off.«27 Sascha Goodman, der zu Marks weiterem Bekanntenkreis zählt, sieht dies ähnlich. Auf einem Tanzabend, den er organisiert hatte und zu dem mich Mark mitnahm, spricht mich Sascha direkt an. Er habe mich das nie gefragt, aber was mache ich eigentlich in Chicago.28 Ich erzähle von meiner Arbeit, davon, dass mich interessiert, was es heißt, jüdisch zu sein. Um das Gespräch am Laufen zu halten, frage ich ein wenig hilflos: »Beispielsweise du, bist du eigentlich religiös?« »Nein, auf keinen Fall, aber ich weiß, dass ich Jude bin«, gibt er zurück. »Aber woher weißt du das?« frage ich weiter. Er beginnt über den spezifisch »jüdischen Humor« zu sprechen und gibt einige Witze zum Besten, die von Juden handeln und die letztlich nur Juden wirklich verstehen können, wie er meint. Schließlich, um mir ein Beispiel zu geben, das für mich vielleicht ein wenig eingängiger ist, da ich ja »keine Jüdin« bin, bemerkt er: »Gut, ich bin nicht religiös. Aber beispielsweise habe ich in der Bar eine Frau getroffen. Es war sehr nett, sich mit ihr zu unterhalten. Dann habe ich ihr Kreuz an der Kette gesehen. Und da kann passieren, was will, ich werde mit dieser Frau nicht ausgehen, das hat sich für mich erledigt.« In der Betonung, nicht religiös zu sein, sich aber als Jude von »ganz offensichtlichen« Christ_innen abgrenzen zu müssen, deutet sich ein Konzept jüdischen Selbstverständnisses an, das einerseits die Spezifik sowjetischer Vorstellungen vom Judentum wiederspiegelt, andererseits aber auch Prinzipien der jüdischen Religionslehre an sich repräsentiert. Man wird als Jude geboren, so der allgemeine Konsens. Laut der Halacha, dem jüdischen Recht, sind all diejenigen jüdisch, deren Mutter eine Jüdin ist, unabhängig davon, ob man der jüdischen Religion folgt, ob man anderen religiösen Vorstellungen anhängt oder ob man Atheist_in ist. Zwar fehle einem Juden, der beispielsweise Buddhist wird, wie Marks streng religiöse Freunde Boris und Sophia meinen, sein »natürliches Element«, die Tora, aber er bleibe nun einmal Jude.29 Einige Rabbiner, mit denen ich mich unterhielt, sprechen 27 Interview, 2.5.2002. 28 Feldnotizen, 29.3.2002; die folgenden Ausführungen beruhen, wenn nicht anders vermerkt, darauf. 29 Gespräch mit Boris und Sophia, 9.7.2002.

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in diesem Zusammenhang von »Nationalität«, andere von »race«.30 Manche wiederum wollen für diese Spezifik jüdischen Selbstverständnisses, die auch in religionswissenschaftlichen Studien hervorgehoben wird, keine Kategorie vergeben, es als nicht-kategorisierbar belassen, teilweise aus philo­sophischen Gründen, aber wohl auch, weil man sich hier auf ein politisch stark umkämpftes Feld begibt.31 Russischsprachige Juden, die sich selbst als säkularisiert betrachten, sprechen wiederum »ganz selbstverständlich« von jüdischer Nationalität, wobei man vor allem den Richtlinien sowjetischer Nationalitätenpolitik folgt. Hiernach war man Jude, wenn ein Elternteil, egal ob Mutter oder Vater, jüdischer Herkunft war. Wie jede Nationalität wurde auch die jüdische im Ausweis vermerkt und verwies nicht einfach nur (bedeutungslos) auf die elterliche Abstammung, sondern repräsentierte ein spezifisches Konstrukt von Geschichte, (nationaler) Kultur, persönlichen »Charaktereigenschaften« und »biologischer Bedingtheit«. In dieser Wechselbeziehung zwischen Fremd- und Selbstzuschreibung ergab sich ein charakteristisches, nationales Selbstverständnis als Jude. Das hat auch im amerikanischen Kontext seine Relevanz und wird spezifisch modelliert. Wenn Sascha darauf verweist, dass er nicht religiös sei, aber bekennende Christ_innen ablehne, so spricht er indirekt das nationale Verständnis als Jude an. Für ihn beschreibt dieses einen »bestimmten Zustand der Seele«, wie er mir an dem Tanzabend erzählt. »Es gibt so etwas wie eine jüdische Seele«, fährt er enthusiastisch fort. Als ich nicht ganz zu verstehen scheine, führt er aus: »Kennst du ›The Fiddler on the Roof‹? Das ist jüdisch! Scholem Alejchem, das ist jüdisch!« »The Fiddler on the Roof«  – deutsch: »Anatevka«  – ist ein Musical, das auf dem von Scholem Alejchem verfassten Roman »Tewje, der Milchmann« basiert. Scholem Alejchem, der als Jude aus einem kleinen Städtchen in der Ukraine stammte, erzählt in dem Roman vom galizischen Dorf Anatevka um 1900. Die materielle Not unter den Juden ist groß und die Anfeindungen durch Christ_innen existenziell. Zu all den Schwierigkeiten kommt noch hinzu, dass die »Jungen« gegen die Traditionen der »Alten« rebellieren. Irgendwann schließlich erreichen die antisemitischen Pogrome das Dorf und die Juden werden vertrieben, die Zukunft ist ungewiss. Es sind die Selbst­ ironie und der melancholische Witz, mit denen Scholem Alejchem die Geschichte erzählt und die auch das Musical tragen, die für Sascha spezifisch jüdisch sind und den »Zustand der Seele« – seine »Nationalität« – ausmachen. 30 Interview mit Rabbiner Eliezer Dimarsky, 1.7.2002; Interview mit Rabbiner Binyomin Scheiman von der Chicagoer Dependance Friends of Refugees of Eastern Europe, 4.7.2002, insbesondere Scheiman sprach von »race«. 31 Interview mit Rabbiner Naftolie Hershkowitz, 9.7.2002; Interview mit Joshua Spinner, nordamerikanischer Rabbiner, der in Berlin die Yeshurun in der Rykestraße gegründet hat, 20.9.2002 (in Berlin).

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»Juden können gut über sich selbst lachen«, meint er mit Blick auf das Stück. »Es gibt so etwas wie Selbstironie und da sind Juden besonders gut.« Doch neben dieser Art von kollektiver »charakterlicher Eigenschaft« die in Scholem Alejchems Geschichte porträtiert wird, ist es auch die historische Erfahrung von Diskriminierung durch Nichtjuden, insbesondere Christ_innen, die im »Fiddler« erzählt wird, und die Sascha für die Idee von jüdischer Nationalität wesentlich findet. Und so kann er als Jude überzeugte Christ_innen letztlich nur ablehnen. Dass Sascha immer wieder auf die Musical-Adaption »The Fiddler on the Roof« verweist und hieran seine Nationalität als Jude (aus Osteuropa) illustriert sowie der Umstand, dass er dabei kaum die zugrunde liegende Fassung »Tewje, der Milchmann« erwähnt, kann man bereits als eine spezifisch amerikanische Fortschreibung der Idee von Nationalität russischsprachiger Juden lesen. Gerade in Amerika hat nämlich Scholem Alejchems Roman als Broadway-Musical »The Fiddler on the Roof« seit Mitte der 1960er Jahre Furore gemacht und eine erstaunliche Öffentlichkeit und Präsenz in den USA erreicht. Das Stück liegt als diskursiv bereitete Ressource für heutige russischsprachige Juden/Jüdinnen bereit, aufgegriffen zu werden. Es schafft Identifikation und ist zugleich ein »wirksames« Mittel, eigene Vorstellungen dem »anderen« verständlich zu machen, da man die Kenntnis der Erzählung bis zu einem gewissen Grad voraussetzen kann. Während meiner Forschung sollte es noch häufiger passieren, dass sich russischsprachige Juden auf Scholem Alejchem und insbesondere auf den »The Fiddler on the Roof« bezogen, wenn es um ihr Verständnis vom Jüdischsein ging. Das Stück wurde allgemein als kulturelles Erbe konzipiert, was wiederum als »Hauptbestandteil« von Nationalität galt. Wie zentral das Stück in diesem Zusammenhang ist, zeigt sich wohl am deutlichsten daran, dass die Gruppe um Mark und Juri das Musical (auf Russisch!) auf die Bühne brachte. Die Aufführung in Waukegan, einer kleineren Stadt in der Nähe Chicagos, war ausverkauft und die russischsprachige jüdische Community Chicagos hatte sich zahlreich eingestellt.32 Der verstärkte Bezug auf das Stück begründet sich jedoch nicht allein durch seine Rezeptionsgeschichte im amerikanischen Kontext, sondern wohl auch durch die Biografie des Autors. So ist Scholem Alejchem nicht »einfach nur« ein jüdischer Schriftsteller aus Osteuropa und als solcher Teil des »kulturellen Erbes«. Er teilt mit russischsprachigen Juden in den USA die Er­ fahrung der Immigration. Er selbst ließ sich 1914 in den Vereinigten Staaten nieder, die er einige Jahre zuvor schon bereist hatte. Dort starb er nur wenig später, im Jahre 1916.

32 Feldnotizen, 20.7.2002.

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Nationale Verortungen als Jude werden also entscheidend durch historischkulturelles »Wissen«, das in einer erfolgreich amerikanisierten Erzählung vermittelt wird, geprägt. Man könnte dieses Wissen als ein neu erworbenes kollektives Gedächtnis bezeichnen. Während meiner Zeit in Chicago höre ich immer wieder, dass die Tat­ sache, dass man sich innerhalb der eigenen »Nationalität« wie selbstverständlich verstehe und »man nicht so viel zu erklären« bräuchte, nicht zuletzt daher rühre, dass man das gleiche »Blut« hätte. Modern gewendet spricht man hier auch von »Genen«. Der Verweis auf eine biologische Komponente des Jüdischseins ist insofern von besonderer Relevanz, als dadurch eine scheinbar unhinterfragbare Zuordnung erfolgt – in einem Zeitalter, in dem klare Verortungen kaum noch möglich und wenn überhaupt, dann situativ sind. Mitunter wird, um die eigene Verunsicherung über soziale und kulturelle Grenzziehungen auszudrücken, auf den klassischen Topos »zwischen den Stühlen« zu sitzen, zurückgegriffen. Hier fließen sozialwissenschaftliche Kenntnisse neuerer wie überkommener Modelle zur Identitätsbildung in der Moderne und Spätmoderne ein. Als ich mich beispielsweise mit Mischa Balter das erste Mal treffe, der mit seinen Eltern als sogenannter »Refusenik« bereits 1987 in die USA kam, und wir in einem kleinen Café zusammensitzen, will er genau wissen, worüber ich forsche.33 Ich beginne zu erzählen und benutze das Wort »Identität«. Mischa bemerkt sogleich: »Ha, was für eine Identität habe ich denn? Was für eine Nationalität? In der einen Situation bin ich Russe, in einer anderen bin ich ein Jude, und dann wieder ein Amerikaner. Beispielsweise in Europa bin ich ein Amerikaner. Das erleichtert mir sehr viel. Als wir in Israel waren, habe ich immer wieder gesagt, dass ich Amerikaner bin. Und ich hatte keine Probleme. Es würde auch zu lange dauern zu erklären, wer ich 33 Als »Refuseniks« galten jene Juden in der Sowjetunion, die (ab Ende der 1960er Jahre) einen Antrag auf Ausreise stellten, denen diese aber verweigert wurde. Amerikanisch-­ jüdische Organisationen solidarisierten sich mit ihnen und erstellten Namenslisten, die sie amerikanischen Politiker_innen bei Verhandlungen mit sowjetischen Autoritäten mitgaben und damit die Forderung verbanden, den aufgeführten Personen die Ausreise sofort zu gewähren. Die erste einer solchen Liste gelangte bereits 1970 durch den dama­ligen U. S.-Staatssekretär Rogers zum sowjetischen Außenminister Gromiko. Für eine Geschichte über die Bemühungen der amerikanisch-jüdischen Community (»­Soviet Jewry Movement«) um Juden aus der Sowjetunion und die Möglichkeit ihrer (massenhaften) Ausreise aus der UdSSR siehe: William W. Orbach, The American Movement to Aid Soviet Jews, Amherst 1979. Eine weitere Veröffentlichung, die eine Vielzahl von Erfahrungsberichten von Refuseniks enthält ist: Murray Friedman/Albert D. Chernin (Hg.), The Second Exodus. The American Movement to Free Soviet Jews, Hanover, NH 1999. Einen Überblick darüber, aus welchen sozialen Schichten und aus welchen Regionen der Sowjetunion die Refuseniks kamen und wie viele es waren, bietet: Mordechai Altshuler, »Who are the ›Refuseniks‹«? A Statistical and Demographic Analysis, in:­ Soviet Jewish Affairs 18,1 (1988), S. 3–15.

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bin: In Russland geboren, Jude, jetzt in Amerika. Gesund ist das ja nicht und auch nicht sehr ehrlich, was man ist, von der Situation abhängig zu machen. Manchmal vergesse ich mich und weiß schon gar nicht mehr, wer ich wirklich bin. Mein Vater sagt öfters zu mir: ›Junge, pass auf, dass du dich nicht selbst betrügst‹.«34

Aber trotz dieser Schwierigkeiten, wisse er doch schon »ganz gut«, was er »tief in seinem Herzen« sei: ein Jude eben. »Und was macht dich zum Juden?«, frage ich ein wenig vorschnell. »Meine Gene«, gibt Mischa zurück. »Ich bin von Geburt her Jude.« »Aber kann man das an Genen festmachen?«, erwidere ich ungläubig. »Meine Eltern sind doch Juden und so bin ich natürlich auch ein Jude«, beharrt Mischa und setzt fort: »Ich weiß, dass ich einmal eine jüdische Frau heiraten möchte und meine Kinder jüdisch erziehen werde. Und ich liebe Israel.« Mischas Ausführungen, in denen »Gene« und »kulturelle Selbstverständlichkeiten« als Erklärungsmomente zusammentreten, offenbaren eine von russischsprachigen Juden immer wieder vertretene Auffassung vom Judentum und machen zugleich klar, inwiefern im Judentum – hier in erster Linie konservativer bis orthodoxer Ausrichtung – »Biologie« und »Kultur« beziehungsweise »Religion« in einer Wechselbeziehung stehen. So wird einerseits eine Unterscheidung zwischen »Biologie« und »Kultur« vorgenommen. Andererseits hebt man bei der Frage, »Wer bin ich, wodurch bin ich jüdisch?«, diese vollzogene Unterscheidung bewusst auf und beides fällt (wieder) in eins. Das eine ergibt ohne das andere keinen Sinn. Nur von einer jüdischen Mutter oder einem jüdischen Elternteil abzustammen (Grundkonsens über Herkunft) macht eine(n) zwar biologisch zum Juden, aber ohne soziale, kulturelle oder religiöse Verortung bleibt dies letztlich bedeutungslos, wird nichtig. Umgekehrt: Fehlt die Abstammung qua Geburt, dann ergibt die Identifikation mit dem Judentum wenig Sinn. Auch Juri meint in einem Gespräch, dass es das »Blut« sei, was ihn zum Juden mache. Er nimmt hier in erster Linie auf die sowjetische Nationalitäten­ politik Bezug und beginnt, sie mir gewissenhaft auseinanderzusetzen. Er erklärt mir den Unterschied zwischen einem »Juden« und »Halbjuden« – russisch wörtlich: Halbblut (polukrova, englisch übersetzt als: half Jew)  – und dass man mit 16 Jahren wählen konnte, welcher Nationalität man angehören wollte, wenn man aus einer »Mischehe« stammte.35 Seine Ausführungen und Wortwahl klingen für mich, die durch den Diskurs um die deutschjüdische Geschichte geprägt ist, merkwürdig nahe an rassentheoretischen Über­legungen und dem Jargon, wie sie nicht zuletzt im nationalsozialis­ 34 Feldnotizen, 2.4.2002; die folgenden Ausführungen beruhen, wenn nicht anders vermerkt, darauf. 35 Feldnotizen, 8.5.2002.

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tischen Deutschland dominant waren. Für Juri hingegen ist »Blut« vielleicht »Biologie« oder genauer noch eine Allegorie für Kultur, für Erziehung. Es meint nurture in Abgrenzung zu nature. So erzählt er mir bei einem weiteren Zusammentreffen von den Umwälzungen in der Sowjetunion nach der Perestroika, und dass gerade Juden zu erfolgreichen Geschäftsmännern in dieser Zeit aufstiegen, auch »Halbjuden«. »They are not like pure Jews«, erläutert er: »they get like half of the Jewish blood in them.« Ich will genauer wissen, was ein »Halbjude« ist, und Juri wehrt ab, nicht zuletzt, weil er merkt, dass ich annehme, dass es ausschließlich auf eine Art »Biologie« hinausläuft. »No, it’s just expression. Uh … if one of your parents, I don’t know, is a Jew, in the Soviet mind you are not like a complete Jew and you are not like Russian. You know, you are in the middle.« Später setzt er bekräftigend hinzu: »It’s not a genetical difference, which makes us different. Everything that is national, you acquired during your life, in your childhood, during adolescence. But the main issue, I mean, to be somebody, … it’s your parents. Parents teach you during your early years to be somebody.«36 Wieder einmal treten »Genetik« und »Kultur«/»Erziehung« unentwirrbar zusammen, wird das eine zum Sinnbild für das andere.

Russisch, sowjetisch, europäisch, amerikanisch – alles eine Frage der Kultur Juri war es während des Interviews sehr wichtig, dass ich erkannte, welche großen Unterschiede es zwischen den einzelnen russischsprachigen beziehungsweise osteuropäischen jüdischen Einwanderungswellen in die USA seit dem frühen 20.  Jahrhundert gab. Die Assimilationsrate sei stets sehr hoch gewesen, betonte er, und so sind diejenigen, die bis in die 1970er Jahre kamen, inzwischen »100 percent American«. »They almost completely assimilated into American culture. They are Americans,« fügte er an. Mit Blick auf die gegenwärtige Immigration fuhr er fort: »For Russian Jews who came from the Soviet Union, they are still Russians. We are still Russians! That’s completely different. We are not even Jews … by, by, by culture.«37 Seine letzten Ausführungen verwundern ein wenig. Juri, der viel Wert gerade auf seine jüdische Herkunft legt und mir auseinandersetzte, wie sehr diese Herkunft mithin »Nationalität« letztlich eine Frage auch kultureller, dabei familiärer Prägung ist, sagte nun, dass russischsprachige Juden – also auch er – »von der 36 Interview, 26.6.2002. 37 Interview, 26.6.2002; die folgenden Ausführungen und Zitate sind, wenn nicht anders vermerkt, hieraus entnommen.

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­ ultur her« gar keine Juden seien. Juri scheint hier eine feine Trennlinie zu K ziehen zwischen (historisch-)kulturellem, in der Familie tradiertem Wissen und einer Art gelebter hauptsächlicher »Alltagskultur«. So meinte er dann auch, dass es ihm schon sehr wichtig war, eine jüdische Frau zu heiraten. Aber noch viel entscheidender war für ihn, eine Frau aus der ehemaligen Sowjetunion zu finden. »Because I can speak Russian, I can share the same stuff. I can easily make her laugh; make the same associations, the same references. We are raised almost in the same culture. Soviet Russian culture is  a huge thing, in Russian called plast [Schicht, im Sinne einer riesigen Fläche], which covers everybody, you could not escape it unless you’re deaf and blind.« Was für ihn letztendlich diese sowjetisch-russische Kultur ausmacht, ist eine Form allgemeiner Intellektualität, eine »geistige Tiefgründigkeit«, die unabhängig von der Profession existiert und mit der man auf die Welt blickt. Wenn Juri Intellektualität und auch den Kulturreichtum (»huge culture«) als charakteristisch für das Land, aus dem er kommt – für seine Herkunft –, herausstellt, so bilden sich hier nicht allein Erfahrungen und Deutungen eines Lebens in der Sowjetunion ab. Es reflektiert auch die Sichtweise auf die Aufnahmegesellschaft USA . So ist man »tiefgründig«, »intellektuell streitbar« und »kulturvoll«, gerade auch in der Abgrenzung zum »kulturlosen« und »ignoranten« Amerika, wo das »materielle Interesse« dominiert und »Freiheit« vor allem »fehlende Erziehung« bedeutet. Um die Intellektualität in der russisch-sowjetischen Kultur durch ein weiteres Beispiel zu illustrieren, erzählte mir Juri an einer späteren Stelle von der Theaterszene in der Sowjetunion, die es oft verstand, die staatliche Zensur durch subtile Texte und Inszenierungen zu umgehen. Die kritischen Botschaften wurden vom Publikum trotzdem verstanden, nicht zuletzt, weil man erstaunlich »gut gebildet« war. Kontrastiv blickte er nach Amerika und meinte für das Aufnahmeland verallgemeinernd: »Here it’s interesting [Theaterszene und dann allgemein ›Kultur‹], but it’s here [in den USA]. There is no … , … there are no rules which you should obey when you are raised as a child. You are not forced to read. You can do it on your own. You shouldn’t be … smart, because first of all, you should make money. Many other things … you should not be familiar with … world history, because who cares. That stuff, you know, it’s the American way, which everybody talks about.« Doch Juri hat Hoffnung, dass dieser Zustand der »Ignoranz« verändert werden kann, nicht durch abrupte gesellschaftliche Neuerungen, sondern dadurch, wie der Einzelne lebt. Indirekt formuliert er hier eine Vorreiterrolle russischsprachiger Juden, die eben nicht »ignorant« seien, sondern gut »erzogen« wurden und geistige Auseinandersetzungen suchten: »… I would say, you can change it [den beschriebenen American way]. Not by revolution, or by any enforcement. But by the way you live, the way you read. With the way you create something. America is a very ­wealthy country. It should allow itself to be a cultured country. To be more intellectu-

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ally oriented.« Dass man am American way und damit an der fehlenden Intellektualität mithin »Kulturlosigkeit« des Aufnahmelandes etwas ändern könnte und sollte, mit dieser Überzeugung steht Juri unter seinen (jüdischen) Freund_innen aus der ehemaligen Sowjetunion ziemlich allein. Ich höre unter russischsprachigen Juden zwar immer wieder, wie sehr der American way oder American lifestyle durch Ignoranz und Oberflächlichkeit gekennzeichnet sei und Kultur einfach fehle, aber andererseits genießt man ihn auch. Gregory Davidovitch, einer von Juris engen Freunden, bringt die Annehmlichkeiten, die geboten werden, kurz und knapp so auf den Punkt: »to drive a car, to say what I want to say, to go and buy what I want to buy«.38 »Kultur«, und hier russische aber auch allgemein als europäisch bezeichnete »Kultur«, holt man sich in seinem russischsprachigen Freundeskreis und versucht so auch der Amerikanisierung zu entgehen. Denn, wie Katja einmal zu mir sagte: »Es ist einfach nicht cool, ein Amerikaner zu sein!«39 So trifft man sich zu russischen Gedichtlesungen, singt auf Partys russische Volkslieder und hört später französische Chansons.40 Was haben wir uns noch zu sagen?

Mischa Balter kommt auch zu solchen Treffen wie dem französischen Chanson-Abend, aber oft erst sehr spät, wenn eigentlich alles vorbei ist. Oder er geht früher. Auf jeden Fall bleibt er nie lange. Er meint, dass ihm »diese Leute« leidtäten, die immer noch diesen »russischen Dingen« hinterherlaufen.41 Statt zu erzählen, was er daran bemitleidenswert findet, beginnt er mir in diesem Zusammenhang von seinem kulturellen Dilemma zu berichten. Indirekt versucht er dabei zu erklären, warum er – bei allem Mitleid – letztlich doch immer wieder zu den Verabredungen in der russischsprachigen Community erscheint: »Weißt du, ich komme nach Russland, ich nehme ein Taxi und obwohl ich wirklich gut Russisch spreche, werde ich als Ausländer wahrgenommen. Ich werde gefragt: ›So Junge, erzähl, was hältst du von unserem Land?‹ Ich bin für diese Leute ein Amerikaner. Sie sehen nur das Geld. Sie denken, du bist aus Amerika, du hast Geld. Obwohl Russisch meine Muttersprache ist! Englisch ist nicht meine Muttersprache. Gut, ich spreche Englisch fließend. Aber wenn ich beispielsweise zum Date mit einer amerikanischen Frau verabredet bin, fühle ich mich behindert … ich bin so befangen, dass ich nicht weiß, was ich sagen soll. Mein Englisch wird schlecht. Ich bin nicht frei. Mit 38 39 40 41

Feldnotizen, 22.3.2002. Feldnotizen, 10.3.2002. Feldnotizen, 15.3.2002; 14.4.2002; 17.5.2002; 26.5.2002; 28.5.2002; 29.6.2002. Feldnotizen, 22.7.2002.

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Russisch ist das anders … Es ist hauptsächlich der Humor. Ja, der Humor ist anders. Im Russischen kann ich ständig Witze machen. Aber im Englischen geht das nicht. Ich kann über diese amerikanischen Witze auch einfach nicht lachen. In der rus­ sischen Sprache ist alles lockerer für mich.«42

Wie Gregory mir gegenüber anmerkte, ist es bei den russischen Treffen für einige gar nicht so wichtig, was auf dem Programm steht, sondern »es geht einfach darum, ein wenig Russisch zu sprechen, ein wenig an Russland zu denken, das ist alles«. Und das ist es wohl auch für Mischa – die Möglichkeit, sich in seiner Muttersprache zu unterhalten, sich an seine Herkunft zu erinnern, und sich dabei »frei« und »locker« zu fühlen –, was ihn zu diesen Veranstaltungen führt. Doch über was genau kann man sich eigentlich noch in dieser Weise unterhalten? Außer der Sprache und dem Geburtsland scheinen kaum Gemeinsamkeiten zu existieren, obwohl man diese ja gerade mit dem Programm produzieren will. Der gelebte Alltag findet in der amerikanischen Gesellschaft statt. Nicht allein hat man amerikanische Bildungseinrichtungen durchlaufen und arbeitet für eine amerikanische Firma. Ein Großteil der Freizeitgestaltung ist in gewisser Weise »amerikanisiert«, ja »chicagoisiert«. Mischa beispielsweise ist in den USA zum Jazzliebhaber geworden und spielt mittlerweile in einer aus Amerikanern bestehenden Jazzband.43 Darüber hinaus interessiert ihn Japan, und Haruki Murakami ist derzeit einer seiner Lieblingsschriftsteller.44 Lilia wiederum genießt das inszenierte »Multikulti« dieser Stadt und geht zum afrikanischen Tanz auf der Michigan Avenue.45 Dann wieder findet sie sich zu einem indischen Konzert in Lincoln Park ein.46 All das ist weit von russischen Volksliedern und französischen Chansons entfernt. Anders ausgedrückt, haben die russischen Treffs offensichtlich wenig mit den sonstigen individuellen Erfahrungen im Alltag und den daraus hervorgehenden Interessen zu tun. So kommt es, dass einige russischsprachige Juden die Zusammenkünfte in der Community oder Verabredungen zu zweit als »bedrückend« und auch »langweilig« empfinden, weil man sich so wenig zu sagen habe. Man ist einfach »zu unterschiedlich«. »Ich gehe mit Mark aus«, meint beispielsweise jemand zu mir, »und weiß einfach nicht, worüber wir reden können. Ich gehe mit Valeri aus und ich weiß nur, dass ich mich mit ihm über Musik unterhalten kann.«47 Gregory Davidovitch bemerkt weitaus drastischer: »Ich finde diese Leute [russischsprachige, überwiegend jüdische Community] alle furchtbar. Wir wissen nicht, worüber wir reden 42 Ebd. 43 Feldnotizen, 2.4.2002. 44 Feldnotizen, 31.7.2002. 45 Feldnotizen, 18.7.2002. 46 Feldnotizen, 28.6.2002. 47 Feldnotizen, 17.5.2002.

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sollen. Wir arbeiten, wir schlafen, wir arbeiten. Ein langweiliges Leben, und wir fühlen uns unwohl miteinander, und doch gehen wir immer wieder zu diesen Treffen.«48 Es scheint schwierig, einerseits an der russischen Muttersprache und dem als russisch und europäisch empfundenen Selbstverständnis festhalten zu wollen und dieses mit Bedeutung zu versehen, andererseits in der amerikanischen Gesellschaft zu leben und deren Vorzüge zu genießen. Und genau diese Schwierigkeit und das damit verbundene bedrückende Schweigen sind es wohl auch, denen Mischa durch seine kurzgehaltenen Begegnungen mit anderen russischsprachigen Juden entgehen will.

Schluss Identitäten ergeben niemals ein in sich geschlossenes »Gebilde«. Wie Stuart Hall bereits in den 1990er Jahren anmerkte, sind die Vorstellungen davon, wer wir sind und sein möchten, in der Spätmoderne zunehmend fragmentiert und nie singular. Sie werden stets vielfältig, über verschiedene und sich über­ kreuzende, teils gegenläufige Diskurse und Praktiken konstruiert. Junge russischsprachige Juden in den USA sind hierfür, wie die Beschreibungen und Analysen offenbaren, beispielhaft.49 Und doch lassen sich in der Mannigfaltigkeit und dem situationsgebundenen Charakter von Bezugnahmen, Verweisen und Ansichten, die das Gruppen- und Selbstverständnis der 20- bis 35-Jährigen prägen, einige wiederkehrende Motive erkennen. So zeigte sich, dass die Idee vom eigenen Jüdischsein insbesondere durch Distinktion formuliert wurde: Die Beschäftigung mit der jüdischen Religion wird, ohne dass man sich selbst als religiös begreift, als eine Art intellektueller Bereicherung verstanden, durch die man sich von anderen, eben von Nichtjuden, unterscheidet und sich in einem freiheitlichen Staat wie den USA der eigenen Identität vergewissert. Religion fungiert in diesem Zusammenhang zugleich als eine Form von gesellschaftlicher Inklusion, da religiöse Identifikationen, zumindest jedoch kognitive Annäherungen daran, in einer Gesellschaft, die sich in religiöser Hinsicht als plural definiert (wovon der Islam ausgenommen wird) ein zentraler Bestandteil der propagierten Wertedoktrin sind. Die Hinwendung zu einem streng frommen jüdischen Leben oder auch die Praxis einer religiösen Bricolage, in der unterschiedliche religiöse Vorstellun­ gen in- und außerhalb des Judentums frei miteinander kombiniert werden, 48 Feldnotizen, 20.7.2002. 49 Hall 1996, S. 4; vgl. auch: Kellner 1995, S.233–247.

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nimmt unter russischsprachigen Juden in Chicago eine marginale Positionierung ein. Die Beschäftigung mit der Religion und religiösen Ansichten dient nicht so sehr und zuvörderst der »intellektuellen Bereicherung« und der gesellschaftlichen Inklusion, sondern avanciert zu einer wichtigen Entscheidungshilfe im eigenen Leben und wird zum zentralen Merkmal des persönlichen Lebensstils.50 Diese Praxen sind in ihrem Außenseiterstatus bedeutsam, denn in der Auseinandersetzung damit versichert sich die »Gruppe« russischsprachiger Juden ihres gemeinschaftlichen Selbstverständnisses. Die Beschreibung und Praxis eines jüdischen Selbstverständnisses stützt sich neben der Aushandlung der Kategorie »Religion« auch auf spezifische Vorstellungen von »Nationalität«. Hier war der Gedanke grundlegend, dass man als Jude geboren wird, dass Jude sein eine Frage des Blutes sei. »Blut« wurde dabei diskursiv zu einer Allegorie für Kultur, für Erziehung also, für nuture in Abgrenzung zu nature. Zum Vorbild entwickelte sich hier, und darin zeigt sich der Einfluss der amerikanischen Populärkultur, das BroadwayMusical »The Fiddler on the Roof« – eine Adaption von Scholem Alejchems »Tewje, der Milchmann«. Dies ist ein Stück, auf das sich russischsprachige Juden in den USA immer wieder beziehen, nicht zuletzt um auf ein »eigenes« kulturelles Erbe zu verweisen, das sich im Aufnahmeland bereits historisch sedimentiert hat. Insgesamt wird deutlich, dass sich die russischsprachigen jüdischen Einwander_innen vor allem über Bildungsstreben und Kulturreichtum definieren. Diese Definition findet stets in Abgrenzung zur Aufnahmegesellschaft USA statt, die als »oberflächlich«, »kulturlos« und »ignorant« charakterisiert wird. Die dabei ausgerufene und praktizierte »Zweigleisigkeit«  – nämlich einerseits an einem als russisch und europäisch empfundenen Selbstverständnis festzuhalten und dieses fortzuschreiben, andererseits aber den American way of life zu genießen – ist kompliziert. Das zeigte sich vor allem am »Unwohlsein«, das man auf gemeinschaftlichen Veranstaltungen empfand, und das einen »sprachlos« machte. Die Bereitwilligkeit, mit der man mir immer wieder davon berichtete, schien ein Weg aus dieser Sprachlosigkeit heraus zu sein. Das Dilemma bot ein gemeinsames und dabei ergiebiges Gesprächs50 Die »religiöse Bricolage« wird in der wissenschaftlichen Literatur häufig als Ausdruck einer alternativen/neuen Religiosität/Spiritualität gesehen – wie sie in der Postmoderne immer bedeutsamer wird. Einige sprechen auch von »Bastelreligion« oder »PatchworkReligion«. Einen aktuellen Überblick über diese Diskussion bietet: Pascal Siegers, Alternative Spiritualitäten. Neue Formen des Glaubens in Europa. Eine empirische Analyse, Frankfurt am Main 2012. Eine Studie, die beispielhalft Formen »alternativer/neuer Spiri­ tualität« untersucht und mittlerweile als (nicht unumstrittener) Klassiker gilt, ist: Paul Heelas/Linda Woodhead, The Spiritual Revolution. Why Religion is Giving Way to Spiri­ tuality, Malden, MA 2005.

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thema, bei dem man sich mit sich selbst auseinandersetzen und ein Narrativ entwickeln und/oder endlich darbieten konnte. So war es also gewiss ein glücklicher Zufall für meine Forschung, dass ich damals auf der Michigan Avenue Katja begegnete. Doch dieser Glücksfall konnte sich erst richtig entfalten, weil man mir und meinen Fragen mit solch großer Aufgeschlossenheit entgegentrat – worin sich das empfundene »kulturelle Dilemma« spiegelte. Dabei sahen einige der jungen russischsprachigen Juden in mir das »vermisste Europa«. Und indem sie mit mir – einer nichtjüdischen Deutschen – redeten, schienen sie ihrer »Herkunft« wieder näher zu kommen.

Literatur Altshuler, Mordechai, »Who are the ›Refuseniks‹«? A Statistical and Demographic Analysis, in: Soviet Jewish Affairs 18,1 (1988), S. 3–15. Cutler, Irving, The Jews of Chicago. From Shtetl to Suburb, Chicago 1996. Friedman, Murray/Chernin, Albert D. (Hg.), The Second Exodus. The American Movement to Free Soviet Jews, Hanover, NH 1999. Gromova, Alina, A City of Mind. Berlin in the Perception of Young Russian-Speaking Jewish Migrants, in: Dorchain, Claudia Simone/Wonnenberg, Felice Naomi (Hg.), Contemporary Jewish Reality in Germany and Its Reflection in Film, Berlin 2012, S. 71–84. Dies., Generation »koscher light«. Urbane Räume und Praxen junger russischsprachiger Juden in Berlin, Bielefeld 2013. Hall, Stuart, Introduction. Who Needs Identity?, in: ders./Gay, Paul du (Hg.), Questions of Cultural Identity, London 1996, S. 1–17. Heelas, Paul/Woodhead, Linda, The Spiritual Revolution. Why Religion is Giving Way to Spirituality, Malden 2005. Hegner, Victoria, Gelebte Selbstbilder. Gemeinden russisch-jüdischer Migranten in Chicago und Berlin, Frankfurt am Main 2008. Kellner, Douglas, Media Culture. Cultural Studies, Identity and Politics Between the Modern and the Postmodern, London 1995. Lindner, Rolf, Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage, Cambridge 1990. Livezey, Lowell W., Communities and Enclaves. Where Jews, Christians, Hindus, and Muslims Share the Neighborhoods, in: ders. (Hg.), Public Religion and Urban Transformation. Faith in the City, New York 2000, S. 133–161. Merton, Robert K./Barber, Elinor G., The Travels and Adventures of Serendipidy. A Study in Sociological Semantics and the Sociology of Science, Princeton 2004. Orbach, William W., The American Movement to Aid Soviet Jews, Amherst 1979. Siegers, Pascal, Alternative Spiritualitäten. Neue Formen des Glaubens in Europa. Eine empirische Analyse, Frankfurt am Main 2012. Wagner, Peter, Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität, in: Assmann, Aleida/Friese, Heidrun (Hg.), Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3, Frankfurt am Main 1998, S. 44–72. Weinstein, Lewis H., Soviet Jewry And The American Jewish Community 1963–1987, in: American Jewish History 77,4 (1988), S.602–615.

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Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg, Die performative Bildung von Gemeinschaften. Zur Hervorbringung des Sozialen in Ritualen und Ritualisierungen, in: Fischer-Lichte, Erika/Wulf, Christoph (Hg.), Theorien des Performativen, Berlin 2001, S. 93–116. Feldnotizen vom 1. Februar bis zum 31. Juli 2002 Interviews: mit Sascha Goodman vom 11.4.2002 mit Mark Kretschewski vom 2.5.2002 mit Lilia Kotlianova vom 19.6.2002 mit Juri Fraint vom 26.6.2002 mit Rabbiner Eliezer Dimarsky vom 1.7.2002 mit Rabbiner Binyomin Scheiman vom 4.7.2002 mit Rabbiner Naftolie Hershkowitz vom 9.7.2002 mit Rabbiner Joshua Spinner vom 20.9.2002

Victoria Hegner ist promovierte Kulturanthropologin. Auf der Basis ethnografischer Feldforschung und angelegt als ein Städtevergleich beschäftigte sie sich in ihrer Dissertation mit dem sich wandelnden Selbstverständnis russischsprachiger, jüdischer Migrant_innen in Chicago und Berlin. Gegenwärtig arbeitet sie an der GeorgAugust-Universität Göttingen in dem von der DFG geförderten Projekt: »Die neuheidnische Hexenreligion im urbanen Kontext«. Schwerpunkt ihrer Forschung bildet das Wechselverhältnis von (neu)religiöser Praxis und Urbanität in der Postmoderne. [email protected]

Darja Klingenberg

Komische Leute Selbstverständnisse und Erfahrungen von Rassismus und Antisemitismus russisch-jüdischer Migrant_innen im scherzhaften Gespräch

»Es brauchen nur drei Russen oder drei Juden oder einfach Bürger irgendeiner Nationalität, obgleich einer sowjetischen, aus einer russischen Schule oder einer tschechischen, polnischen  – kurzum aus sozialistischer Schule  – zusammenzukommen und wir beginnen uns gegenseitig mit Witzen zu infizieren: Völlig egal von welcher Art sie sind. Es ist schön zu fragen: ›Können Sie sich noch an den Witz erinnern: Wie Wassili Iwanowitsch Tschapajew1…?‹ Und als Antwort zu hören: ›Aber wie denn! Natürlich erinnere ich mich. Und ich kann Ihnen erzählen …‹ Es ist schön jemanden zu kennen, jemanden zu sehen, der von Witzen eingenommen ist. Somit einer von den unseren ist, wir verstehen uns mit einem Wort, einer Anspielung. Wir haben zusammengefunden.«2

Deutsche Scherzkulturen Wann es wieder guten deutschen Humor geben würde, wurde Harry Rowohlt einmal gefragt. »Wenn die ganzen russischen Juden, die in Berlin sitzen, Deutsch gelernt haben«, war die prompte Antwort.3 Fast 25 Jahre nach Beginn der Migration sogenannter Kontingentflüchtlinge haben die russischen Jüdinnen und Juden und ihre nichtjüdischen Angehörigen mehrheitlich Deutsch gelernt. Einige von ihnen, Unterhaltungskünstler_innen oder Autor_innen wie Wladimir Kaminer, Lena Gorelik, Olga Grjasnowa oder Palina Rojinski, tragen mit ihren Arbeiten – wir wissen nicht, ob im Sinne Rowohlts  – zur Erweiterung zeitgenössischer, ernster wie humoristischer, Kultur in Deutschland bei. Auch weniger prominente Migrant_innen haben 1 Wassili Iwanowitsch Tschapajew war ein sowjetischer Bürgerkriegsheld, der in einem gleichnamigen Film von 1934 in der sowjetischen Populärkultur verewigt wurde. Ausge­ hend von der populären Filmfigur entstanden in der Folge unzählige Witze um Tschapajew. 2 Abram Terz (Pseudonym von Andrej Sinjavskij), Anekdot v anecdote, Syntaxis 1,1, Paris 1978, S. 77; Übersetzung aus dem Russischen von Darja Klingenberg. 3 Harry Rowohlt im Interview, Die Zeit 13 (2005).

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sich inzwischen ein Leben in oder zum Teil  in Deutschland eingerichtet. Während die älteren häufig an Arbeitslosigkeit, beruflicher Abwertung und sozialer Isolation leiden, sind die als Kinder oder als junge Erwachsene über die Kontingentflüchtlingsregelung migrierten Menschen sozial und beruflich vergleichsweise gut etabliert.4 Zugleich sind Bindungen an Sprache und Kultur der Länder, aus denen migriert wurde, weiter von zentraler Bedeutung für Selbstverständnisse und Verortung in der Migration.5 So wäre Rowohlt vielleicht enttäuscht, denn an Küchen- und Esstischen werden Witze und Anekdoten weiter auf Russisch erzählt. Die oben zitierte, von Andrej Sinjavskij unter dem Pseudonym Abram Terz beschriebene sowjetische, sozialistische oder russischsprachige »Schule« der Scherzkultur bleibt prägend. Noch immer spielen Witze, aber vor allem Bajkas, eine russische Form der Anekdote, sowie scherzhafte Bemerkungen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, zusammenzufinden und sich mit wenigen Worten oder Anspielungen zu verstehen. Und auch wenn dies, beispielsweise zwischen den Generationen, nicht immer gelingt, da sich sprachlich-kulturelle Präferenzen und Ausdrucksformen verändern, ist das scherzhafte Sprechen selbst eine wichtige Ressource im Verhandeln neuer und alter Differenzen.6 Dies ermöglicht in Transformationsprozessen, wie sie durch Migration entstehen, eine unkomplizierte, intersubjektive Verständigung. So kursiert in migrantischen Freundeskreisen und Communities eine Vielzahl komischer Selbstreflexionen, Typisierungen, Witzen und Anekdoten. Mit diesen werden eigene Positionen, aber auch das Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft bestimmt, Alltagswissen und 4 Zur Bildungssituation und Position auf dem Arbeitsmarkt: vgl. Sonja Haug/Michael Wolf, Soziodemographische Merkmale, Berufsstruktur und Verwandtschaftsnetzwerke jüdischer Zuwanderer, Working Paper Nr. 8, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg 2007; Sabine Gruber, Osteuropäische Ingenieure und Naturwissenschaftler im Spannungsfeld beruflicher Integration. Eine vergleichende Analyse des Hochschuldidaktischen Zentrums Dortmund, in: Julius H. Schoeps u. a. (Hg.), Ein neues Judentum in Deutschland? Fremd- und Eigenbilder der russisch-jüdischen Einwanderer, Potsdam 1999, S.  265–312; Irena Kogan, Potenziale nutzen! Determinanten und Konsequenzen der Anerkennung von Bildungsabschlüssen bei Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjet­ union in Deutschland, in: KZfSS -Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycholo­ gie 64 (2012), S. 67–89; Elisabeth Liebau, Arbeitsmarktintegration von hochqualifizierten Zuwanderern. Erklärung des spezifischen Integrationsmusters in den deutschen Arbeitsmarkt von Aussiedlern und jüdischen Kontingentflüchtlingen aus der ehemaligen Sowjetunion, Mannheim 2010, S. 170 f. 5 Tanja Anstatt, Russisch in der zweiten Generation. Zur Sprachsituation von Jugendlichen aus russischsprachigen Familien in Deutschland, in: Ludwig M. Eichinger/Albrecht Plewnia/Melanie Steinle (Hg.), Sprache und Integration. Über Mehrsprachigkeit und Migration. Studien zur deutschen Sprache 57, Tübingen 2011, S. 101–128. 6 Vgl. Darja Klingenberg, Konversationelle Grenzüberschreitungen. Humoristische Narrative in der Migration, in: dies. u. a., Komik (in) der Migrations­gesellschaft, Konstanz 2013, S. 254–258.

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Deutungsmuster gestaltet und tradiert. Das Komische, so die im Folgenden ausgeführte These, bietet einen wichtigen Rahmen zur Verhandlung von Unstimmigkeiten, Ambivalenzen, Grenz- und Übergangserfahrungen. Es hilft besonders bei Prozessen der Selbstverständigung in Migrations- und Minderheitenpositionen, in denen zu- wie ineinander widersprüchliche Diskurse vermittelt werden. Im Folgenden steht diese Art der Unterhaltung, die gewöhnlich dem vertrauten Gespräch unter Freundinnen und Freunden oder Verwandten vorbehalten ist, im Fokus. Ausgehend von den in wissenschaftlichen Betrachtungen zumeist unbeachteten scherzhaften Alltagsgesprächen geht es darum zu ergründen, wie darin die jeweiligen Selbstentwürfe sowie Deutungen der eigenen Migration und der deutschen Migrationsgesellschaft verhandelt werden. Die Fähigkeit, die eigene Position reflexiv oder witzig zu artikulieren, wird gerade marginalisierten Sprecher_innen häufig aberkannt.7 Lebensweltliche Praktiken der pointierten Beschreibung von Ironien der Migrations­ gesellschaft, von Missrepräsentationen und Ausschlüssen bleiben oft unbeachtet. Im Folgenden soll Rowohlts Blick auf den Humor russisch-jüdischer Migrant_innen daher umgekehrt werden: Es geht weniger darum, nach dem »Beitrag« der Migrant_innen für die Unterhaltung der Mehrheitsgesellschaft zu fragen, als vielmehr um die Rekonstruktion der Bedeutung scherzhafter Alltagsgespräche unter russischen Jüdinnen und Juden. Der Aufsatz geht dabei in drei Schritten vor. In einem ersten Teil werde ich den theoretischen Hintergrund der Analyse des Komischen in marginalisierten Lebenswelten ausschnittsweise skizzieren. Ein zweiter Teil wird die Migration russischer Jüdinnen und Juden im Kontext deutscher Migrationspolitik der letzten 20 Jahre nachzeichnen und dabei besonders die Frage der sozioökonomischen Positionierung dieser Gruppe berücksichtigen. Ein dritter Teil diskutiert anhand empirischen Materials Fragen der Zugehörigkeit und des Umgangs mit Rassismus und Antisemitismus. Grundlage ist ein in teilnehmender Beobachtung entstandener Korpus an Alltagsgesprächen eines Freundeskreises russischsprachiger Migrant_innen, russischer Jüdinnen und Juden sowie nichtjüdischer Ehepartner_innen und Freunde. Die Gespräche wurden an drei Abenden und einem Nachmittag am Küchentisch und im Garten von Sofija und ihrem Mann Arkadi aufgezeichnet.8 Für diesen 7 vgl. Donna M. Goldstein, Laughter Out of Place. Race, Class, Violence, and Sexuality in a Rio Shantytown, Berkeley/Los Angeles 2003; Langston Hughes, Jokes N’s tell on them­ selves, in: Alan Dundes (Hg.), Mother Wit from the Laughing Barrel, Readings in the Interpretation of Afro-American Folklore, Jackson 1973, S. 637–641. 8 Insgesamt wurden im Sommer 2008 20 Stunden Gesprächsmitschnitte erhoben, sowie Feldprotokolle erstellt. Die Aufnahmen wurden in großen Teilen transkribiert, aus dem Russischen übersetzt und ausgewertet. Die Auswertung erfolgte auf Grundlage von konversations- sowie narrationsanalytischen Paradigmen, vgl. Helga Kotthoff, Spaß Ver-

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Beitrag sollen zwei Passagen und die sich darin entwickelnden Themen beleuchtet werden: In einem ersten Teil betrachte ich die Perspektive säkularer russischer Jüdinnen und Juden auf ihr Jüdischsein und ihre Position in der Migration. Anschließend gehe ich der Verhandlung von Ausgrenzungserfahrungen und der Konfrontation mit Rassismus und Antisemitismus nach.

Das Komische und seine Beziehung zur sozialen Wirklichkeit Im Scherz werden eigensinnige Selbstverständnisse und Widersprüche zu Perspektiven deutscher Mehrheitsgesellschaft oder jüdischer Gemeinden scheinbar arglos ausgetragen. So beispielsweise in der fast schon klassischen Anekdote russisch-jüdischer Migration in die Bundesrepublik: »Die Deutschen«, erklärte die russisch-jüdische Putzfrau, »haben uns hierher eingeladen, damit wir hier die Schwarzarbeit machen und das allgemeine kulturelle Niveau erhöhen.«

Diese scherzhafte Positionsbestimmung wurde mir während der Feld­ forschung als Beispiel des Humors »typischer« russischer Migrant_innen erzählt.9 Die Anekdote arbeitet mit der Spannung zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung in Migrationskontexten. Ohne den – gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen streng(er) verbundenen  – Regeln des ernsthaften Sprechens verpflichtet zu sein, werden im Scherz alternative und widersprüchliche Deutungen der Migration artikuliert, andere Selbstbilder formuliert: Die Selbstwahrnehmung der ersten Generation als hochqualifiziert und gebildet wird der realen, prekären Platzierung auf dem deutschen Arbeitsmarkt gegenübergestellt. Auf diesem konnten die in den 1990er Jahren migrierten Menschen ihre mitgebrachten Bildungsabschlüsse und Berufserfahrungen meist nicht umsetzten. Die als migrationspolitische Ausnahme konzipierte Kontingentflüchtlingsregelung zur Aufnahme russischer stehen. Zur Pragmatik von konversationellem Humor, Tübingen 1998; Fritz Schütze, Das narrative Interview in Interaktionsfeldstudien. Erzähltheoretische Grundlagen. Teil I: Merkmale von Alltagserzählungen und was wir mit ihrer Hilfe erkennen können. Studien­brief der Fernuniversität Hagen, Hagen 1987; Gerhard Riemann, Ein Forschungsansatz zur Analyse narrativer Interviews, in: Karin Bock/Ingrid Miethe (Hg.), Handbuch Qualitative Methoden in der Sozialen Arbeit, Opladen 2010, S. 223–231. Der Fokus lag­ dabei auf den mit Migrationsprozessen verbundenen Erfahrungen, die im Gespräch als komisch markierten, d. h. von den Anwesenden mit Lachen goutierten Passagen. 9 Im Gegensatz zu den später diskutierten Anekdoten gebe ich diese aus meinen Feld­ protokollen wieder. Die Anekdote wird auch in einem Essay des russisch-israelischen Autors Igor Guberman erwähnt. Igor Guberman, Kniga stranstvij, Sankt Peterburg 2003, S. 44.

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J­üdinnen und Juden wird in der Anekdote als »Einladung« interpretiert. Letzteres ist besonders unter älteren Migrant_innen eine verbreitete Lesart deutscher Migrationspolitik. Der in der mehrheitsgesellschaftlichen oder deutsch-jüdischen Diskussion der Migration betonte Kontext deutscher Verantwortung für die Vernichtung jüdischen Lebens und die Hoffnung auf eine Neubelebung jüdischer Gemeinden bleibt unbeachtet. Stattdessen wird ein beinahe aufreizendes kulturelles Selbstbewusstsein zur Schau gestellt. Erzählt bei einem abendlichen Gespräch unter Freund_innen, dient die Anekdote primär der Unterhaltung. Ohne eindeutig oder etwa subversiv Kritik zu artikulieren, rahmt sie die eigene Migrationsgeschichte neu und beansprucht damit eine eigene Interpretation russisch-jüdischer Migration. Diese Selbstpositionierung nutzt die Polysemie – die Mehrstimmigkeit, Mehrdeutigkeit – komischer Sprechakte, um den schwierigen Sachverhalt beiläu­f ig zu verhandeln, verschiedene Deutungen zu artikulieren und sich gerade nicht eindeutig in ihnen zu verorten.10 Der komische Diskurs, der sich in Abgrenzung zum Ernsthaften etabliert, schafft einen konversationellen und intellektuellen Zwischenraum, dessen Status unklar bleibt. In diesem Rahmen lassen sich Brüche und Widersprüche mehrheitsgesellschaftlicher Diskurse wie individueller, familiärer oder milieuspezifischer Selbstverständnisse verhandeln, bestimmte Erfahrungen werden damit auch erst verhandelbar gemacht.11 Die unter russisch-jüdischen Migrant_innen während meiner Feldforschung erzählten Anekdoten und Pointen stehen in der Tradition des osteuropäischen jüdischen Erzählens. Darin wurden komische wie tragikomische Parabeln zur argumentativen Veranschaulichung genutzt. Gekonntes Erzählen einer komischen Geschichte, Dertseyln a mayse, war ein wichtiger Bestandteil der religiösen Unterrichtung wie des alltagskulturellen Repertoires: im Alltag noch ergänzt durch die Fähigkeit des Witzeerzählens, Zogn a vits. Beim Erzählen ging es weniger um Originalität und Neuheit als um die Fähigkeit, Geschichten passgenau in einen Disput einzufügen und gut darzustellen.12 10 Michail Bachtin arbeitet in seiner Analyse der mittelalterlichen Lachkultur und ihrer epistemologischen Qualitäten die Mehrstimmigkeit und Polysemie des Komischen heraus, vgl. Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt am Main 1990 und Heinz Otto Luthe, Komik als Passage, München 1992, S. 22 f. 11 Michael Mulkay, On Humour. Its Nature and Its Place in Modern Society, Cambridge 1988, S. 1 f. Zum Begriff des Komischen und empirischen Untersuchungen scherzhafter Gespräche: Klingenberg 2013; Kotthoff 1998; Harvey Sacks, An Analysis of the Course of  a Joke’s Telling in Conversation, in: R. Bauman/J. Sherzer (Hg.), Explorations in Ethno­graphy of Speaking, Cambridge/New York 1974, S. 337–353. 12 Barbara Kirshenblatt-Gimblett untersucht in einer konversationsanalytisch fundierten Ethnografie die Erzähltraditionen des osteuropäischen Judentums. Barbara Kirshen­ blatt-Gimblett, The Concept and Varieties of Narrative Performance in East European Jewish Culture, in: R. Bauman/J. N. J. Sherzer (Hg.), Explorations in the Ethnography of Speaking, Cambridge/New York 1974, S. 283 f.

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Die hier diskutierten Anekdoten (im Russischen Bajkas) und Witze (Anekdoty) führen auch die sowjetische Scherzkultur fort, die ihrerseits beeinflusst ist von jüdischen Scherztraditionen und sowjetisch-jüdischen Künstler_innen. Auch hier kam es weniger auf Originalität an als auf Kunstfertigkeit und die beim Scherzen geschaffene Intimität, ein gegenseitiges Verstehen in Andeutungen und Zitaten.13 Für den Spätsozialismus kann die elaborierte sozialis­ tische Scherzkultur  – Wladimir Woinowitsch beschrieb diese treffend als den »ganz normalen sowjetischen anti-sowjetischen Witz« – als Profanisierung der Widersprüche sozialistischer Lebenswelten verstanden werden. Der sowjetische Witz funktionierte vor allem über die spielerische, ironische Enthüllung der Widersprüche und Absurditäten der semantischen und logischen Strukturen offizieller Rhetorik. Witze und Anekdoten operieren – wie das Beispiel des sozialistischen Witzes verdeutlicht  – oft im Bereich widersprüchlicher sozialer Zusammenhänge. Sie entstehen im Windschatten ideologisierter Kontroversen, entlang gesamtgesellschaftlicher Machtverhältnisse um Fragen von Geschlecht, Sexualität, Rassismus, Nationalismus und Klasse. Das Komische, also ein konversationell, textuell oder bildlich als komisch konstruierter Sachverhalt, bedient sich der gesellschaftlich spürbaren Ambivalenzen und Widersprüche und ist zugleich an deren Reproduktion beteiligt.14 Für die hier verfolgte Analyse lebensweltlicher, in Alltagsgesprächen entfalteter Komik werden Ansätze fruchtbar gemacht, die das Komische in seiner konversationellen Beschaffenheit greifbar machen. Im Rahmen sozialkonstruktivistischer und konversationsanalytischer Ansätze wird das Komische zunächst über die Abgrenzung zum Ernsthaften als eines von mehreren Registern bestimmt, mit denen soziale Wirklichkeit konstruiert und verhandelt wird.15 Ein scherzhafter Modus muss im Gespräch von den Erzähler_innen angekündigt und von den Zu13 Der Historiker Robert Thurston deutet in seiner Analyse des Stalinismus das Vorhandensein regimekritischer Witze als Indikator für die Kontinuität sozialer Bindungen. Ohne das Fortbestehen eines gewissen Vertrauens hätte es diese Witze nicht gegeben. Die Kulturwissenschaftlerin Svetlana Boym beschreibt die Bedeutung von Anspielungen und Witzen für die intellektuelle Kultur der 1960er und 1970er Jahre, die die Dinge gerade nicht explizit, sondern in Andeutungen und zwischen den Zeilen anspricht, vgl.­ Robert W. Thurston,Social Dimensions of Stalinist Rule. Humor and Terror in the USSR , 1935–1941, in: Journal of Social History 25 (1991), S. 541–562. Svetlana Boym, Common Places. Mythologies of Everyday Iife in Russia, Cambridge 1994, S. 1 f. 14 Für einen Überblick der Kulturgeschichte des Komischen vgl. Peter L. Berger, Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung, Berlin 1998, S.  19 –47; John M ­ orreall/Robert Mankoff, Comic Relief. A Comprehensive Philosophy of Humor, Chichester 2009. Zur Soziologie des Komischen vgl. Giselinde Kuipers, Good humor, Bad Taste. A Sociology of the Joke, New York/Berlin 2006; Klingenberg 2013. 15 Vgl. Berger 1998, S.  14; zu sozialkonstruktivistischen Humortheorien: Luthe 1992;­ Mulkay 1988, konversationsanalytische Perspektiven Kotthoff 1998; Sacks 1974.

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hörer_innen bestätigt werden, um peinliche Missverständnisse zu vermeiden. Ist ein komischer Rahmen etabliert, werden Übertreibungen, Inkohärenz und Widersprüchlichkeit, die in ernsthaften Gesprächen ein Problem darstellen, zu wichtigen Ausdrucksformen. Diese erlauben es, »Dinge und Zeichen neu zu betasten, zu begreifen und zu bewerten«,16 und ermöglichen die Artikulation von noch nicht ganz durchdachten, gewagten, radikalen oder tabuisierten Perspektiven.17 Der Entstehungsgrund komischer Sinntransformation entlang gesellschaftlicher Spannungen und Antagonismen macht das Komische, trotz und wegen seiner Banalität, zu einem wichtigen soziologischen Untersuchungsgegenstand, der ein Verständnis komplexer sozialer Lebenswelten ermöglicht. Dieses bisher theoretisch dargestellte Potenzial wird im Folgenden anhand meines empirischen Materials ausgeführt. Doch zuvor soll mit einigen Worten der Kontext russisch-jüdischer Migration in Deutschland umrissen werden.

Russisch-jüdische Migration im Kontext deutscher Migrationspolitik Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wurde Deutschland wieder zu einem Einwanderungsland für osteuropäische Migrant_innen. Zeitgleich mit der Migration russischer Jüdinnen und Juden verstärkte sich die Migration sogenannter Spätaussiedler_innen, die bis heute flankiert ist von der dauerhaften und temporären, regulären wie irregulären Arbeits- und Bildungsmigration aus ehemaligen sozialistischen und sowje­ tischen Ländern.18 16 Luthe 1992, S. 22 f. 17 Wobei diese Sprechakte keineswegs im Scherzhaften verbleiben müssen. Vielmehr haben sie, wie rassistischer oder antisemitischer Humor zeigt, durchaus reale Konsequenzen, vgl. Simon Weaver, The Rhetoric of Racist Humour. US , UK and Global Race ­Joking, Farnham 2011; Sharon Lockyer/Michael Pickering, The Ethics and Aesthetics of­ Humour and Comedy, in: dies. (Hg.), Beyond a Joke. The Limits of Humour, Basingstoke 2005, S. 1–24. 18 Zwischen 1993 und 2011 sind 2.507.950 Spätaussiedler_innen sowie 213.715 russische Jüdinnen und Juden mit ihren jeweiligen Familien nach Deutschland eingereist vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, S. 101. Zu Bildungs- und Arbeitsmigration vgl. Sabine Hess, Globalisierte Hausarbeit. Au-pair als Migrationsstrategie von Frauen aus Osteuropa, Wiesbaden 2009; Juliane Karakayali, Transnational haushalten. Biographische Interviews mit care workers aus Osteuropa, Wiesbaden 2010; Helma Lutz, Gender mobil? Geschlecht und Migration in transnationalen Räumen, Münster 2009; Anna Amelina, Hierarchies and Categorical Power in Cross-Border Science.­

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Die Migration zwischen 1990 und 2005 steht in der Tradition von Migrationsbewegungen von Ost- nach Westeuropa, Israel, Kanada und in die USA . Aus der Perspektive Russlands und anderer post-sowjetischer Staaten handelt es sich um die vierte westwärts laufende Migrationswelle des 20.  Jahrhunderts. Eine Migration, die aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den sich neu öffnenden Reisemöglichkeiten entstand; die bestimmt war von den politischen, ökonomischen und sozialen Unsicherheiten der 1990er Jahre, einer deutlich spürbaren Prekarisierung alltäglichen Lebens und Hoffnungen auf ein besseres Leben durch Migration. Für die Bundesrepublik ist die Migration russischsprachiger oder postsowjetischer Jüdinnen und Juden paradigmatisch für das Entstehen neuer Migrationsmuster nach Deutschland und Europa seit den späten 1990er Jahren. Die heute in Deutschland lebenden russischsprachigen Migrant_innen sind Teil vielfältiger migrantischer und post-migrantischer Milieus, die sich mit und trotz neuer wie alter deutscher und europäischer Migrationsregime etablierten. Diese Milieus sind von zugänglicheren und günstigeren Kommunikations- und Transportmöglichkeiten geprägt, die transnationale Vernetzungen, Praktiken und Lebensformen begünstigen. Letzteres ist besonders für die Migrant_innen aus den ehemaligen sowjetischen Ländern, für die Migration lange nur als totaler Bruch aller sozialer Bindungen zum Herkunftsland denkbar war, ein Unterschied ums Ganze. Ein weiteres Merkmal gegenwärtiger migrantischer Lebenswelten ist ihre sozialstrukturelle und sozioökonomische Diversität. Migrant_innen, denen in Deutschland bis in die späten 1990er Jahre fast ausschließlich Positionen in den schlecht(er) bezahlten Sphären als gelernte und ungelernte Arbeiter_ innen zugewiesen wurden, sind mittlerweile in fast allen sozialen Milieus vertreten und auch gesamtgesellschaftlich sichtbarer. Der Schwerpunkt migrantischer Arbeitsverhältnisse liegt strukturell bedingt noch immer überproportional in prekären und schlechter bezahlten Beschäftigungsverhältnissen. Durch den Bildungsaufstieg der Nachkommen von Arbeitsmigrant_innen und geflüchteten Menschen, sowie Bildungs- und Arbeitsmigrationen im Rahmen der EU-Freizügigkeit sind Migrant_innen heute jedoch auch in den mittleren und besser gestellten gesellschaftlichen Segmenten sicht- und hörbar. Hier steht die russisch-jüdische Migration, die sich vor allem aus gut ausgebildeten und aufstiegsorientierten Mittelschichten rekrutierte, paradigmatisch für neue, sich auch transnational etablierende migrantische Mittelschichten. Analyzing S­ cientists’ Transnational Mobility between Ukraine and Germany, in: Julie Vullnetary/Russell King (Hg.), South East and European and Black Sea Studies, special issue  13, 2 (2013), Migration, Transnationalism and Development in the Balkans and CEE , S. 141–155.

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Qualifizierte osteuropäische Migrant_innen, russische Jüdinnen und Juden, Spätausiedler_innen und die schulisch und akademisch in Deutschland geprägte zweite Generation werden oft in die Rolle der Vorzeigemigrant_ innen gesetzt. Diesen Status teilen sie mit als bildungs- und erfolgsorientiert wahrgenommenen Nachkommen indischer, vietnamesischer und koreanischer Flüchtlinge und Arbeitsmigrant_innen. Ihnen werden diskursiv die Nachfolge-Generationen der Gastarbeiter_innen mit und ohne deutschen Pass, geflüchtete Menschen aus Staaten wie Nigeria, Eritrea, Irak oder Syrien sowie Roma, die als »Armutsflüchtlinge« delegitimiert werden, gegenübergestellt.19 Hier wirkt ein seit der Jahrtausendwende vollzogener Wandel eines völkischen Zugehörigkeitsverständnisses zu einem vordergründig liberaleren Selbstbild: Deutschland ein Einwanderungsland. Dieses operiert primär nach neoliberalen Kriterien: Wurden bis dahin alle Migrant_innen pauschal als Ausländer_innen abgewertet, wird nun zwischen guten und schlechten Migrant_innen und ihren Kulturen differenziert. Die einen werden wert­ schätzend, doch zugleich ihre Position kulturalisierend festschreibend eingebunden, die anderen werden als nicht integrierbar ausgeschlossen.20 In dieser Ordnung sind russische Jüdinnen und Juden in mehrfacher Weise platziert. Aufgrund der als Wiedergutmachung verstandenen und damit »moralisch begründeten Aufnahmeregelung«21 genossen sie in den 1990er Jahren vergleichsweise privilegierte Aufnahmebedingungen. Als Kontingentflüchtlinge erhielten sie einen sofortigen Aufenthaltsstatus, Sprachunterricht und eine Arbeitserlaubnis. In der öffentlichen Wahrnehmung werden sie als Weiße,22 als (Ost)Europäer_innen und als Jüdinnen und Juden, zumeist 19 Sebastian Friedrich, Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der »Sarrazindebatte«, Münster 2011.; Kien Nghi Ha, Ethnizität und Migration, Münster 1999; Alana Lentin, Europe and the Silence about Race, in: European Journal of Social Theory 11, (2008), S. 487–503. 20 Diese Differenzierung beruft sich vordergründig nicht mehr auf biologistische, rassische Abstammungsmerkmale. Stattdessen werden Fragen individueller Leistung, ethnischer oder religiöser Kultur und lebensweltlicher Selbstpositionierung bedeutsam. Der Verweis auf Kultur und kulturelle Differenzen geschieht auch in wertschätzenden Diskursen zumeist in essenzialisierenden, festschreibenden Formen. Das Fortwirken von Rassismus, die von Migrant_innen und Minderheiten erfahrene Diskriminierung auf struktureller wie alltäglicher Ebene, wird in diesen Diskursen unsichtbar gemacht. 21 Vgl. Karen Körber, Juden, Russen, Emigranten. Identitätskonflikte jüdischer Einwanderer in einer ostdeutschen Stadt, Frankfurt am Main 2005, S. 53–64; Franziska Becker, Ankommen in Deutschland. Einwanderungspolitik als biographische Erfahrung im Migrationsprozeß russischer Juden, Berlin 2001, S. 46 ff. 22 Ich benutzte den Begriff »Weiß« hier im Sinne der Rassismus- und der kritischen Weißseins-Forschung als Ausdruck eines sozialen Zuschreibungsprozesses, der privilegierte Positionen schafft. Inwiefern eine Gruppe dabei als Teil einer weißen Mehrheit verstanden wird, ist historisch und politisch veränderbar. Gerade jüdische Minderheiten wurden in Westeuropa und Nordamerika erst ab den 1960er Jahren als Teil  europäischer,

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als Teil  eines »europäischen Kulturkreises«23 wahrgenommen. Es kursieren positiv stereotypisierende Bilder von Osteuropäer_innen oder Jüd_innen als künstlerisch oder mathematisch begabt, besonders gefühlvoll, witzig oder tiefsinnig. Zugleich sind die an diesen Stellen entstandenen diskursiven und sozialräumlichen Positionen eng gestrickt. Außerhalb der im mehrheitsgesellschaftlichen Diskurs vorgesehenen Platzierungen tauchen schnell Bilder vom »russisch-jüdischen Wirtschaftsflüchtling« auf, wie sie sowohl Karen Körber, als auch Franziska Becker für die 1990er Jahre analysieren.24 Gegenwärtig werden Zuschreibungen wie die des unverbesserlich autoritär strukturierten Homo Sovieticus entworfen.25 Zudem sind die Migrant_innen im Alltag als Jüdinnen und Juden antisemitischen Äußerungen ausgesetzt und als Osteuropäer_innen wiederum mit russophoben Alltagsrassismen kon­ frontiert. Viele haben eine Abwertung ihrer Bildungsabschlüsse, Berufserfahrungen und sozialer Positionen erfahren, die biografisch und finanziell verarbeitet werden müssen. Ironischerweise waren und sind es dabei gerade auch der Bildungsstatus und der Habitus als Angehörige einer Mittelschicht, die in Interaktionen im Alltag mit Behörden, Arbeitgeber_innen oder Schulen und Gemeinden für Konflikte und Irritationen sorgen.26 Hier stoßen russischsprachige Migrant_innen auf ein offen oder latent fortwirkendes Unbehagen der deutschen Mehrheitsgesellschaft gegenüber status- oder selbstbewussten Migrant_innen. So finden sich russische Jüdinnen und Juden wie andere gut ausgebildet Migrant_innen, Deutsche mit Migrationshintergrund, Schwarze und andere Deutsche, die sich in der Mittelschicht verorten (wollen), in der ambivalenten Position, nicht ausgeschlossen zu sein, jedoch auch nicht ganz dazuzugehören: Sie erfahren in den von ihnen besetzen sozialen Räumen immer wieder symbolische wie strukturelle Ausschlüsse. Den unter diesen Migrant_innen gelebten (Mehrfach-)Zugehörigkeiten, deren Vermittlung im Gemeindeleben wie in alltäglichen Lebenswelten wenden sich eine ganze Reihe von in ihren Perspektiven und methodischen Zugängen innovative Arbeiten zu, beispielhaft die Beiträge der Kolleginnen in weißer Bevölkerungen angesehen, vgl. Eric L. Goldstein, The Price of Whiteness. Jews, Race, and American Identity, Princeton 2006; David R. Roediger, The Wages of Whiteness. Race and the Making of the American Working Class, London 2007. 23 Paradigmatisch dafür ist die Formierung der Vorstellung eines christlich-jüdischen Abendlandes, die besonders in anti-muslimischen Diskursen mobilisiert wird. 24 Becker 2001, S. 49–66; Körber 2005, S. 65 ff. 25 Judith Kessler, Homo Sovieticus in Disneyland. The Jewish Communities in Germany Today, in: Y. Michal Bodemann (Hg.), The New German Jewry and the European Context. The Return of the European Jewish Diaspora, Houndmills 2008, S. 137 f. 26 Ein Beispiel für diese Begegnungen beschreiben u. a. Julia Bernstein, Text zur Collage: »Noch mehr Schokolade«, in: Dmitrij Belkin/Raphael Gross (Hg.), Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik, Berlin 2010, S. 69; Becker 2001, S. 198–204.

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diesem Band.27 In meinem Beitrag richte ich den Blick auf die von den Gemeinden aus gesehenen »Ränder« russisch-jüdischer Migration. Diese statistisch gesprochene andere Hälfte, der nicht in den Gemeinden organisierten, säkularen oder säkularisierten russisch-jüdischen Migrant_innen und ihren nichtjüdischen Angehörigen, ist bisher noch wenig erforscht. Im Folgenden liegt der Fokus auf den Aushandlungsprozessen und Selbstverständnissen, wie sie jenseits der Gemeinden entwickelt werden: Welche Perspektive haben säku­larisierte russische Jüdinnen und Juden auf ihr Jüdischsein und ihre Position in der Migration? Wie werden Fragen der Zugehörigkeit in jüdisch- und nichtjüdisch gemischten Freundeskreisen und Familien verhandelt? »Von Vierteln und Hälften«: Verkleinerungen von Identitätskonflikten

Teil dieser »anderen Hälfte« sind die Schwestern Katja und Sofija Polonskaja, letztere verheiratete mit Arkadi Baschkirov, in deren Küche und Garten ich mein empirisches Material aufzeichne. Katja, Sofija und Arkadi werden an den Abenden von Lisa Litvinova, Alisa Kukolnikova und Mitja Worobew besucht.28 Katja und Sofija waren über die Kontingentflüchtlingsregelung als junge Erwachsene mit abgeschlossener kunsthandwerklicher Berufsaus­ bildung und mehrjähriger Arbeitserfahrung an einer prestigeträchtigen Moskauer Institution nach Deutschland gekommen. Sie leben zum Zeitpunkt der Forschung zwölf Jahre in Deutschland und arbeiten teils selbstständig, teils in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Arkadi, auch er mit einer künstle­ rischen Ausbildung an einer bekannten russischen Hochschule, folgte seiner Frau einige Jahre später durch Heirat in die Migration. In Deutschland verfolgt er verschiedene künstlerische Projekte und finanziert sich und die Familie über ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis weit unter seinem Ausbildungsniveau. Sofija und Arkadi haben eine gemeinsame Tochter Jana, die zum Zeitpunkt des Interviews zehn Jahre alt ist. Die Ingenieurin Lisa migrierte noch in den 1980er Jahren, sie ist geschieden und hat zwei erwachsene Kinder. Sie arbeitet seit 15 Jahren in einem mittelständischen Unternehmen. Alisa und Mitja, die während meines Feldaufenthalts zu Besuch kommen, migrierten mit ihren Eltern als Kinder beziehungsweise als Jugendliche. Alisa studiert, während Mitja zum Zeitpunkt des Interviews keiner geregelten Beschäftigung nachgeht. 27 sowie Julia Bernstein, Food for Thought. Transnational Contested Identities and Food Practices of Russian-Speaking Jewish Migrants in Israel and Germany, Frankfurt am Main 2010; Victoria Hegner, Gelebte Selbstbilder. Gemeinden russisch-jüdischer Migranten in Chicago und Berlin, Frankfurt am Main/New York 2008. 28 Alle Namen wurden anonymisiert.

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Ich hatte über Lisa den Kontakt zu diesem Freundeskreis bekommen. Meine Bitte, an ein oder zwei freundschaftlichen Treffen teilnehmen und diese auf Tonband mitschneiden zu dürfen, wurde mir nach kurzem Zögern und unter Scherzen von Katja erfüllt. Als Russisch sprechende Wissenschaftlerin und als Tochter aus dem erweiterten Bekanntenkreis wurde ich offen, familiär aufgenommen. Amüsiert über das irritierende, aber eben auch harmlose und komische Vorhaben, wurden einige Geschichten explizit erzählt, um meine »wissenschaftliche Neugier« zu befriedigen. Aufgrund meines Alters und meiner Sozialisation in Deutschland nahm mich die Gruppe als Teil der »zweiten Generation« wahr. Die Gespräche und der kommunikative Stil des Freundeskreises spiegeln den urbanen, intellektuellen Hintergrund: Dieser ist geprägt von einem spielerischen Umgang mit Sprache, selbstverständlichem und schnellem Wechsel zwischen sprachlichen Milieus, hochkultureller Ausdrucksweise sowie der Verwendung von Slang oder Mat-Begriffen.29 An meinem zweiten Abend mit der Gruppe dreht sich die Unterhaltung eine ganze Weile um Fragen religiöser Tradition im Allgemeinen und jüdischer Tradition im Besonderen. Die Freunde unterhalten sich über die als traditionell beschriebene jüdische Hochzeit einer Bekannten, die noch zu sow­ jetischen Zeiten im Untergrund gefeiert wurde. Es werden verschiedene religiöse Praktiken diskutiert. Für die nichtreligiöse Gruppe ist dies eine Form, das eigene Jüdischsein zu verhandeln.30 Larissa Remennick beschreibt diese intellektuelle Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte, Religion und Praxis als eine unter säkularen russischen Juden verbreitete Form, sich des eigenen Judentums zu versichern.31 Die zunächst ernste Erörterung kippte nach einer Weile in Scherze und Bajkas. Diese kreisen um das Verhältnis von religiösen und weltlichen Vorstellungen des Jüdischseins und das Selbst­ 29 Mat ist ein im russischen Sprachraum tabuisierter und zugleich weit verbreiteter Soziolekt basierend auf Schimpfwörtern. In der Analyse der Unterhaltungen kristallisierten sich einige Figuren und Genres als typisch heraus: So dienen witzige Bemerkungen und übertriebene Un/Höflichkeit dem Aushandeln von Beziehungen und internen Konflikte innerhalb der Gruppe; konversationelle Parodien werden zur Beschreibung und Bestimmung des Verhältnisses zu anderen Migrant_innen, zur Ankunfts- und zur Herkunftsgesellschaft genutzt; die Überzeichnung von Erfahrungen ins Groteske dient der Profanierung schmerzhafter und kränkender Erfahrungen. Darja Klingenberg, Gewitzte Positionierung. Zur Bedeutung des Komischen in der Reflexion von Migrationserfahrungen, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 9,1/2 (2012), S. 163. 30 Für einen Überblick über verschiedene Verständnisse des Jüdischen in russisch-jüdischer Migration; Karen Körber, Puschkin oder Thora? Der Wandel der jüdischen Gemeinden in Deutschland, in: José Brunner/Shai Lavi (Hg.), Juden und Muslime in Deutschland. Recht, Religion, Identität, Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 37, Göttingen 2009, S. 243–250; Bernstein 2010, S. 273–321; Hegner 2008. 31 Larissa I. Remennick, Russian Jews on Three Continents. Identity, Integration, and Conflict, New Brunswick 2007, S. 23.

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verständnis als teilweise oder auch jüdisch. Das jüdische Selbstverständnis in der Sowjetunion artikulierte sich insbesondere für die urbane Mittelschicht als situative, pragmatische Zugehörigkeit, die eng mit der sowjetischen und russischen Kultur amalgamiert war. Remennick beschreibt sie im Anschluss an Zvi Gitelmann als »thin culture«, die von dem in den 1920er und 1930er Jahren zerstörten, dichten jüdischen Leben übrigblieb.32 Die Zerstörung ging zudem mit einer Abschwächung religiöser und ethnischer Bindungen einher, die mit dem sozialen Aufstieg der sowjetischen Jüdinnen und Juden zusammenhing. Denn nicht nur in sozialistischen und explizit anti-religiösen Kontexten verändern sich religiöse Bindungen mit Aufstiegsaspirationen. Soziale Aufwärtsmobilität von Minderheiten ist in der Moderne oft verbunden mit der Formulierung eines universalistischen Selbstbildes, das partikulare, religiös oder ethnisch fundierte Bindungen zu transformieren sucht. Religiöse Traditionen verwandeln sich dann oft in ästhetische und weltanschauliche Haltungen.33 Lisa, die ein »schwaches«, säkulares und vor allem familiäres Verständnis ihres Jüdischseins artikuliert, erzählt von einem Jahre zurückliegenden Besuch einer Synagoge mit ihrer Tochter Antonja, kurz Tonjatschka. Lisa34:

[…] Wir sitzen da oben [auf der Empore] und schauen uns diesen komischen Gottesdienst an: und das war irgendwie so ein alberner Gottesdienst, die öffneten und schlossen diesen Schrank für die Tora, liefen dort [auf und ab]

32 Dieses dünne jüdische Selbstverständnis artikulierte sich als ein spezifisches kultur-, bildungs- und aufstiegsorientiertes Milieu, starke Familien- und Freundschaftsbindungen, Remennick 2007, S. 23–30. 33 Krishnendu Ray, The Migrant’s Table. Meals and Memories in Bengali-American House­ holds, Philadelphia 2004, S.  68–70 beschreibt diesen Prozess für Mittelschichts-Bengali in den USA; Alina Gromova beschreibt die Transformation religiöser Praktik zu Lebensstil für junge russische Juden in Berlin: Alina Gromova, Generation »koscher light«. Urbane Räume und Praxen junger russischsprachiger Juden in Berlin, Bielefeld 2013. Grundlegend: Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Erftstadt 2005. 34 Die Transkriptionsregeln lehnen sich an die Konventionen der Konversationsanalyse an. Jedoch sind diese nicht direkt umsetzbar, denn es handelt sich um eine Übersetzung, zudem ist die Darstellung an Lesbarkeit interessiert. So folgt die Transkription weitgehend der Orthographie. Satzzeichen werden benutzt als Intonationszeichen. Spitze Klammern 〈 〉 markieren im Gespräch wiedergegebene wörtliche Rede. Gleichzeitiges Sprechen und Überlappungen werden durch eckige Klammern [] markiert. ↑ bezeichnet eine erhöhte Intonation. Besondere Betonung oder markante Dehnungen werden im Schriftbild wiedergegeben. In doppelten Klammern gesetzt sind Beschreibungen der performa­tiven Dimension des Sprechens. Begriffe, die mit Sternchen* markiert sind, waren im russischen Original deutsch oder sind Neologismen. Verschiedene Formen des Lachens sind gekennzeichnet: »h« seht für in den Redefluss einfließende Lachpartikel, »hoho« für tiefes, leises Lachen, »hahaha« für lautes Lachen.

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Katja: [DAS IST Weil du nichts verstehst], weil du keinen VERstand hast. Mehrere: hahaha Lisa: jaaaa ↑ NAtürlich verstehe ich nichts, ((schneller)) kurz gesagt wir sitzen da ’ oben…

Lisa beschreibt das Geschehen in der Synagoge bewusst ironisch profanierend und seiner Bedeutung entkleidet. Einige lachen, doch wird Lisas ironisierende Haltung von Katja kritisiert. »[D]as ist weil du nichts verstehst, weil du keinen Verstand hast.« Dabei nutzt sie die humoristische Form der Übertreibung, der bewussten Brechung von Höflichkeitsnormen, daher ist Lisa auch nicht beleidigt oder verletzt.35 Schon in diesem beiläufigen Schlagabtausch werden zwei unterschiedliche Haltungen zu religiösen Traditionen deutlich, die ohne weitere Vermittlung nebeneinander stehenbleiben: Lisa artikuliert eine ironisierende Distanz zu religiösen, rituellen Aspekten des Judentums;36 an anderer Stelle zeigt sie sich an historischen und kulturellen Aspekten des jüdischen Lebens durchaus ernsthaft interessiert. Im Kontrast formuliert Katja ein auf Kenntnis und exakter Bezeichnung beruhendes Verhältnis zu religiösem Judentum. Sie macht zugleich deutlich, dass sie Witze, die auf Unkenntnis oder Veralberung der Religion beruhen, nicht goutiert. Auch Katja versteht sich explizit als nicht religiös, zugleich beweist sie in einer Passage kurz vor dieser Unterhaltung ihre Beziehung zum Judentum durch Aufzählung und Benennung der zu einer Hochzeit gehörenden Riten. Die Auseinandersetzung mit dem religiösen Judentum, so kann man angesichts dieser Passagen vermuten, findet bei Katja zu weiten Teilen kognitiv, über die Artikulation von Wissen statt, während Lisa durch en passant eingeführte Ironisierung ihre Distanz zu religiösem Judentum artikuliert. Die unterschiedlichen Haltungen zu religiösen Aspekten des Judentums sind aber nicht die einzigen Fragen, die hier verhandelt werden. Für Lisa geht es in der Erzählung primär um anderes: Lisa:

[…] aber KURZ gesagt, ich erzähle die BAIJKA von Tonjatschka, also wir sitzen da oben, sie fragt mich was das ist? Ich beginne ihr zu erklären 〈((schneller))also hier ↑ Judaismus und so.〉

Arkadi:

〈((affektiert, lehrerhaft)) [hier siehst du diese Leute dort, das sind ((betont))Juden]〉 ((schneller))[ich erkläre so, 〈Judaismus etc. das ist eine Religion und so weiter] und im Übrigen, in dir ist auch ein VIERTEL jüdischen Blutes〉, und sie hielt so inne (-) dachte nach und sagte dann und 〈↑ Und wenn man

Lisa:

35 Zu Humor als Spiel mit Höflichkeits- und Unhöflichkeitsnormen Kotthoff S. 301 ff. und S. 309. 36 Im Anschluss an diese Passage sagt Lisa deutlich »Nein, ich bin nicht religiös«.

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mir im Kindergarten aus dem Finger Blut abnimmt SEHEN die dann mein Viertel jüdischen Blutes?〉 mehrere: hahahaha Mitja: (h) ganz bestimmt. Lisa: ich (h) fand das [so schön]? Katja: [das springt] natürlich als erstes in den Blick, dieses Viertel. Arkadi: kommt drauf an aus welchem Finger. (h) mehrere: hahahahaha

Diese Passage verdeutlicht zunächst, wie sehr das Komische Produkt einer kollektiven, konversationellen Konstruktion ist: Arkadis Versuch, zu Beginn der Sequenz einen Witz zu platzieren, indem er die Erzählung in ein absurdes Lehrstück zu verwandeln sucht, wird ignoriert. Im Anschluss lachen alle Anwesende über Lisas Pointe, bestätigen sie und führen sie weiter aus. Es zeigt sich auch, dass der komische Diskurs, gerade wenn er Widersprüche und Ambivalenzen herausarbeitet, auf in der Gruppe selbstverständliches Wissen rekurriert. Dieses muss für die Analyse rekonstruiert werden: Lisas Erzählung zeigt, wie schwer sich Konzepte des Judentums als Religion oder kultureller Praxis mit der biografischen Erfahrung und einem  – dem sowje­tischen Nationalitätenbegriff inhärenten  – primordialen Konzept von Zugehörigkeit verbinden lässt. Lisa verknappt ihre Erklärung in der Retrospektive auf die Beschreibung von »Judentum als Religion« und eröffnet ihrer Tochter unvermittelt, dass auch sie mit dem Judentum verbunden sei. Irritierend für die Leserin wie für die Tochter ist die über Blut hergestellte Zugehörigkeit. Statt zu erklären, dass auch die Großeltern in solche Synagogen gingen, oder eigene Erinnerungen einzubeziehen, nutzt Lisa die seltsame Metapher »des Viertels jüdischen Blutes«. Diese entspringt dem alltags­ sprachlichen Vokabular sowjetischer und post-sowjetischer Zugehörigkeits­ konstruktion. Dabei wird die nationale oder ethnische Identität durch Verweise auf Viertel und Hälften bis in die Generation der Großeltern zurückverfolgt. Im multinationalen Staatenbund der Sowjetunion unterschied man in Gesprächen, wer man dem Pass nach war und welche Zugehörigkeiten der Eltern und Großeltern darüber hinaus relevant waren. Auch in den Gesprächen der Gruppe werden Personen und Bekannte mit Hinweis auf ihre Migrationsgeschichte, ihre berufliche Tätigkeit und ihre sowjetischen »Viertel und Hälften« eingeführt. Wobei biografische Anteile alternierend als »Viertel und Hälften«, mitunter sogar als »Achtel« armenischen, russischen oder usbekischen »Blutes« bezeichnet werden. Die Anekdote rekurriert also auf eine bekannte Metapher, zugleich thematisiert sie eine in dieser angelegte Ambivalenz: Lisas Tochter Antonia führt den Widerspruch von einerseits unvermittelt verkündeter, anderseits genau bestimmbarer  – ein Viertel umfassender – jüdischer Identität aus. Sie nimmt die Metapher ernst und legt dabei deren inneren Widersinn für die Erwachsenen offen. Lisa betont

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dabei, wie niedlich Antonias kindliche Logik ist, zugleich lachen die Anwesenden über den dabei zur Sprache kommenden immanenten Widerspruch der primordialen Zugehörigkeitskonstruktion. So wird die Schwierigkeit verhandelt, sich der eigenen Zugehörigkeit zu vergewissern, sie zu verstehen und mit Sinn zu füllen, die oft im Kontrast zu ihrer Bestimmung und Festschreibung durch andere steht. Zum Schluss der Sequenz wird der Problematik in der zynischen Bemerkung Katjas noch eine weitere Bedeutung gegeben: Mit dem kurzen Verweis auf die besondere Sichtbarkeit des Jüdischen wird die Erfahrung des Antisemitismus in der Sowjetunion thematisiert. Jüdische Zugehörigkeit spielte, wie die Bindung zu anderen Nationalitäten im sowjetischen Vielvölkerstaat, in den sozialen Beziehungen der Mittelschicht und Intelligenzija vielfach keine Rolle, sie blieb oft unmarkiert. Zugleich konnte das Jüdischsein in alltäglichem, aber auch strukturellem Antisemitismus plötzlich bedeutsam und durch abwertende und diskriminierende Praktiken hervorgehoben werden. Die Erfahrung des sowjetischen Antisemitismus wird hier nur kurz gestreift und nicht weiter ausgeführt. Das Gespräch wendet sich weiter der Frage widersprüchlicher Zugehörigkeitskonzepte zu und das Thema wird mit einer weiteren Geschichte aufgenommen: Auch Sofijas und Arkadis Tochter Jana habe über ihre »Herkunft«, so Sofija, geforscht. Das Problem der Zugehörigkeit wird von Katja wieder als eines von »Vierteln und Hälften« verhandelt, das, wie Sofija einwirft, sehr »kompliziert« sei. Arkadi führt den kurzen Hinweis seiner Frau und seiner Schwägerin, mit einer Geschichte aus: Arkadi:

((Lauter, unterbricht Sofija)) [Ja JANIK hat gerade.] ÄHM. Janik hat gerade, die hatte so etwas 〈↑ Papa was sind eigentlich Juden?〉 〈nun ja das ist so ein Volk, eine Reli〉 〈↑ Ich WILL keine Jüdin sein!〉 Ich sage ihr, 〈wie warum möchtest du keine Jüdin sein? Juden sind Kinder von Juden, JA schau mal dein einer Opa ist JUDE , nun dann ist man halt Jude〉.〈↑ Nein ich bin ­RUSSIN!〉 mehrere: hahahaha

Auch in Arkadis Erzählung wird das Jüdischsein der Tochter nicht aus religiöser Praxis oder innerfamiliär Tradition begründet, sondern in einem Dreischritt: Juden sind eine Nation oder Religion,37 genau kann sich Arkadi nicht festlegen, Janas Großvater ist jüdisch, und da gilt »Juden sind Kinder von Juden«, ist auch Jana jüdisch.38 Die Verbindung zum Judentum wird, wie in der 37 Arkadi unterbricht sich in seinem eloquenten Dreischritt aber auch und spricht das Wort Religion nicht zu Ende, was darauf verweisen könnte, dass das Verhältnis von Religion, Volk, Abstammung nicht ganz so klar ist. 38 Arkadi folgt einem sowjetischen Verständnis des Jüdischseins, nicht einem religiösen. Der Halacha folgend ist Jana keine Jüdin, da ihr Großvater, nicht die Großmutter jüdisch ist.

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vorherigen Erzählung, über die Großelterngeneration hergestellt, da es vor allem die Großeltern waren, die in ihrer Kindheit religiöse und lebensweltliche jüdische Tradition lebten. Das in der Halacha bestimmende matrilineare Verständnis des Judentums spielt ebenso wenig eine Rolle. Die Komik der Passage liegt in der kindlichen Zurückweisung einer Zugehörigkeit. Der Wunsch, sich aussuchen zu können, wer oder was man ist, wird hier scherzhaft thematisiert und zugleich als absurdes Begehren verhandelt. Deutlich wird auch die in der Familie weitergeführte sowjetische Vorstellung des Judentums als ethnische Zugehörigkeit, als eines von mehreren Vierteln. Verkompliziert wird die elterliche Erziehungs- wie Janas Identitätsarbeit jedoch durch die Migration. Arkadi fährt fort: Akardi:

damit dass sie ein bisschen Jüdin ist, hatte sich dieses Thema bei ihr er­ ledigt. Dann hatte sie es noch damit, dass sie Russin ist. Und nun sage ich ihr(-) ((schneller)) irgendwie zog ich sie ein wenig auf, irgendwas so 〈das sind eure deutschen Angelegenheiten da〉 〈↑ Äh aber ich ↑ bin keine Deutsche, ich BIN RUSSIN.〉 ich sage, 〈du bist in Köln39 geboren, dann bist du auf alle Fälle KÖLNERIN.〉 〈↑ ich BIN keine Kölnerin〉 Ich sage, 〈ja wer bist du dann?〉 (-) 〈↑ ich bin MOSKAUERIN〉 mehrere: hahahaha Akardi: (h) sie sagt das noch mit einer solchen Bestimmtheit 〈((affektiert))) Ich bin (-) MOSKAUERIN〉. 〈Jana du bist keine Moskauerin (h), du lebtest nie in Moskau (-) du warst da überhaupt nur zweimal auf Durchreise, 〉 〈↑ NEIN ich bin Moskauerin(h).〉 nun gut. mehrere: hahahahahaha

Die Pointe  – die Selbstidentifizierung als »Moskauerin«– wird durch eine kurze Pause sowie die dreifache Wiederholung gestaltet und durch Arkadis Lachpartikel zusätzlich orchestriert. Inhaltlich besteht der Witz in der Inkongruenz, dass ein kleines, in Köln geborenes Mädchen sich als Moskauerin bezeichnet. Moskauerin/Moskvitschka zu sein, war in der Sowjetunion ein durch Registrierung reglementiertes Privileg40 qua Geburt, qua Familienzugehörigkeit oder Beruf, das mit besseren Beschäftigungs-, Bildungsund Konsummöglichkeiten einherging. Selbst im heutigen Russland ist es ein Privileg geblieben, eine »verwurzelte« Moskauerin zu sein. Janas Selbstdefinition als Moskauerin scheitert, wie Arkadi belustigt ausführt, nicht nur an der Tatsache, dass sie nach russischem Verständnis keine Moskauerin sei, sondern auch daran, dass sie dort überhaupt erst zweimal auf Durchreise war. Dabei erzählen die Eltern, besonders Arkadi, nicht ohne Stolz von der Findigkeit der Tochter: Statt sich als Jüdin, Russin, Kölnerin oder Deutsche zu iden39 Alle Ortsangaben sind geändert. 40 Bis in die 1990er bestanden Zuzugsreglementierungen nach Moskau wie Sankt Petersburg.

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tifizieren – jeweils Zugehörigkeitskonzepte mit auch für die Eltern spürbaren Schwierigkeiten  –, greift das Mädchen auf eine unkomplizierte Identitäts­ ressource zurück und verortet sich gewitzt als Bewohnerin einer aufregenden Metropole. Sie greift dabei das Verständnis vererbter Zugehörigkeit auf und weitet diese aus: Wenn man qua familiärer Vererbung nationale, ethnische oder religiöse Zugehörigkeiten weitergibt, wieso sollte dies nicht auch für die städtische Verortung gelten? Geschichten komischer Identitätsvorstellungen von Kindern im familiären und freundschaftlichen Umkreis sind in vielen Kontexten verbreitet. Die Kinder artikulieren darin nicht nur »niedliche« Versprecher, tollpatschige Annäherungen an die Welt. Sie repräsentieren auch idealisierte Figuren: Wahrheitsträger_innen, überlegene Schelm_innen oder tragische Don Quichotes. Sie artikulieren Widersprüche, die auch für die Erwachsenen relevant sind. Die Verkleinerung und Verschiebung der Konflikte in den Bereich komischer Kindergeschichten ermöglicht es, latente oder schwer artikulierbare Konflikte zu verhandeln. Fragen danach, was es bedeutet, säkular und zugleich jüdisch zu sein, was es heißt, eine bestimmte Zugehörigkeit zu verkörpern, wie dies der nächsten Generation zu vermitteln ist und vor allem wie die Widersprüche zwischen lebensweltlichen, religiösen und ethnischen Verständnissen des Jüdischen in ihren diversen israelischen, bundesdeutschen und sowjetischen Prägungen zu vermitteln sind, werden thematisiert. Dabei können diese Fragen im Komischen, wie im Ernsten nicht endgültig beantwortet werden. Jedoch können die vielfältigen Perspektiven und Haltungen auf diese Herausforderungen im Scherzhaften recht unkompliziert reflektiert, nebeneinander gestellt und diskutiert werden. Die eigenen Erfahrungen werden dabei dem individuellen Erleiden entzogen, Gemeinsamkeiten erfahren, Unterschiede erarbeitet.

Umgang mit Abwertungen Formen des Komischen werden auch in gruppeninternen Auseinander­ setzungen über Erfahrungen mit rassistischen und antisemitischen Konfrontationen genutzt. Diese sollen im Folgenden näher betrachtet werden. Meine Gesprächspartner_innen operieren in den Beschreibungen mit einem verbreiteten, wenngleich sehr engem Verständnis von Rassismus und Anti­ semitismus. Sie beschränken die so bezeichneten Phänomene auf P ­ ogrome und körperliche Übergriffe.41 Alltägliche Artikulationen von Rassismus und 41 Kurz nach dieser Passage sprechen wir über Rassismus, Antisemitismus in Deutschland und dieser wird als »normales Phänomen« jeder Gesellschaft betrachtet: »das ist doch so

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Antisemitismus, Formen symbolischer Gewalt und strukturelle Wirksamkeit dieser Machtverhältnisse in sozialen Beziehungen, Institutionen, der Wissens- und Kulturproduktion werden nicht darunter gefasst. Zugleich werden während der abendlichen Unterhaltungen mehrfach und eindrücklich verletzende Konfrontationen und Erfahrungen symbolischer Gewalt thema­ tisiert. Die Erzählungen zeugen von geteilten Erfahrungen und einem Wissen über die Formen und Wirkung von Rassismus und Antisemitismus. Dass sie zugleich nicht in den genannten Kategorien verhandelt werden, liegt einmal daran, dass sie oft als selbstverständlicher Teil der Lebenswelt erfahren werden. Arkadi spricht zum Beispiel bezogen auf Rassismus und Antisemitismus von »ganz normale[n] Dinge[n], wo gibt es das denn nicht«. Zudem zeigt sich hier ein für Deutschland wie für Russland geltendes Unvermögen, rassistische oder antisemitische Phänomene als solche zu benennen. Die Schwierigkeiten, Rassismus und Antisemitismus zu kennzeichnen, sind dabei nicht nur ein Problem der Lebenswelt, vielmehr bestimmen sie ebenso öffentliche Debatten und akademische Wissensproduktion. Dieses gesellschaftliche Un­ vermögen wirkt sich auch auf die negativ von Rassismus und Antisemitismus betroffen Menschen aus. Es erschwert die ohnehin komplizierte Thematisierung von Diskriminierungserfahrungen, disqualifiziert ihre Benennung und Kritik.42 Um dieser Nichtthematisierung entgegenzuwirken, arbeite ich im Folgenden mit einem Verständnis von Rassismus und Antisemitismus, das sich in der kritischen Forschung etabliert hat.43 Im Alltag werden Erfahrungen mit rassistischen Zuschreibungen meist beiläufig und spielerisch verhandelt. Im folgenden Beispiel werden Mittel der konversationellen Groteske zur Beschreibung von Konflikten am Arbeitsplatz genutzt. In dem kleinen handwerklich-künstlerischen Unternehmen, in dem Sofija, Katja und Arkadi prekär beschäftigt arbeiten, sind neben mehreren ne Masse, das lasse ich nicht an mich heran« sagt Sofija. Und Arkadi fügt hinzu »ja das sind doch ganz normale Dinge, wo gibt es das denn nicht, das gibt es in jedem beliebigem Land.« 42 Der Frage inwieweit von Rassismus negativ betroffene Menschen die Macht und Herrschaftsverhältnisse so benennen, welche methodischen Probleme dies für die Forschung zu Rassismuserfahrungen birgt, haben Mark Terkessidis, Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive, Bielefeld 2004, S. 115–121 und Philomena Essed, Understanding Everyday Racism. An Interdisciplinary Theory, Newbury Park 1990, in ihren Arbeiten diskutiert. 43 Beide Machtverhältnisse werden als Strukturkategorien verstanden, die in alltäglichen Interaktionen, wie in globalen politischen, ökonomischen, sozialen Zusammen­hängen operieren, und soziale Ungleichheit, Wissensformationen und Subjektivierungsprozesse bestimmen, vgl. Hall 2005, Terkessidis 2004, Essed 1990. Zu aktuellen Formen von Antisemitismus vgl. Samuel Salzborn, Antisemitismus. Geschichte, Theorie, Empirie,­ Baden-Baden 2014. Um nicht den Rahmen dieses Artikels zu sprengen und weil sie für die Argumentation nicht zentral ist, soll die Debatte des Verhältnisses Antisemitismus und Rassismus hier ausgeklammert werden.

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Russisch sprechenden Migrant_innen (»wir haben da so ein russisches Kollektiv«, sagt Arkadi) auch Deutsche beschäftigt. Diese nehmen durch russophobe und antisemitische Bemerkungen dominant und lautstark den Raum für sich ein. Während die drei in ernsthaftem Ton von diesen Konflikten erzählen, wechselt der Modus immer wieder in konversationelle Grotesken. Katja und Sofija beschreiben eine Kollegin, die einer anderen in einer Pause sehr ausführlich erklärt, dass doch alle Frauen aus Osteuropa mit ihren »langen blonden Haaren« nur als »Prostituierte« nach Deutschland kämen. Die Schwestern spielen die Kollegin und ihre Aussagen sich wechselseitig überbietend nach: 〈((mit verstellter Stimme, lauter, mit russischem Akzent, kölschen Dialekt imitierend)) *Nu44 daas klaar laange blonde [Haarre und Oosteurrropa das ist klar*]〉 hahaha Sofija: 〈((auch mit verstellter Stimme, auch Kölsch, dabei lachend)) * [Haare haha und Osteuropa (.) klar] *〉 hahaha Mehrere: [hahaha] Katja: 〈*klaaar warum sie da ist so*〉 und ((wieder ruhiger)) das sagt sie so und zwar so laut dass es in der ganzen Werkstatt zu hören ist Katja:

Voller Emphase machen Katja und Sofija ihre Kollegin nach, werden immer lauter und absurder und überschlagen sich gegenseitig in der Darstellung. Sie selbst scheinen an der Parodie am meisten Freude zu entwickeln, sie lachen in der Sequenz am lautesten – als läge in der Mimesis, in der Nachahmung der Kollegin die Auflösung der Übergriffigkeit. Im weiteren Verlauf der Erzählung kontrastieren sie die Aussagen der deutschen Kollegin mit zwei Freundinnen, die beide *lange blonde Haare* haben und auch aus *Osteuropa* kommen: 〈(alles sehr laut und lachend) alle sind sie SCHLAMPEN und unsere Männer bringen sie dazu, so weit zu gehen, wir müssen (ganz laut) KÄMPFEN, solche muss man!〉 Mehrere: hahaha […] Sofija: ja und diese so 〈 sie können nur dieses eine: sich prostituieren, mehr können sie nicht, und überhaupt 〉 ((wieder ruhiger)) diese sitzen so dabei, und die arme Marinka, die so man sieht wenn sie, wenn Marinka – die Arme – der Wut verfällt, sie sitzen so und werden wütend Katja: und sie sagt so 〈 ((betont, laut, fragend)) ↑ und WIR was machen wir dann hier? ] 〉 Sofija: sie [sagt so 〈 ((betont, fragend)) und ↑ WIR was machen wir dann hier?]〉 Ja haha sie haben sich so geärgert

Katja:

44 Ein Partikel aus dem Russischen, der so etwas in der Art wie »Na« bedeutet.

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[…] Katja: Wobei wir hören das alles natürlich nicht, weil wir lieber oben, lieber dort irgendwo und weil wir mit ihnen nicht verkehren Sofija: Ich höre da nicht zu [Im Russischen: Ich höre mich da nicht hinein]

Katja und Sofija markieren zum Abschluss der Erzählung noch einmal Distanz zu den Erlebnissen: Ihre ins Groteske überlaufende Parodie der Kollegin bearbeitet und transformiert die unangenehmen Erfahrung, nicht zuletzt durch den Spaß an der eigenen Performanz. In einem zweiten Schritt werden die Aussagen der rassistischen Kolleg_innen im Rahmen der Geschichte aufgelöst und mit den langhaarigen, blonden russischen Kolleg_innen konfrontiert. Statt der direkten Auseinandersetzung nutzen sie die Mittel der Parodie und der Groteske und führen die Kollegin auf der Ebene der Narration vor. Zum Abschluss wird dann die Wirkmächtigkeit der Bemerkungen insgesamt infrage gestellt: Sie hören die Aussagen, hören sie zugleich auch nicht. »Ich höre mich da nicht hinein«, beschreibt Sofija das Weghören als aktive Form des Selbstschutzes, der Resilienz.45 Diese Strategie des aktiven Weghörens scheint von zentraler Bedeutung für den Umgang mit alltäglichen Übergriffen zu sein. Zugleich lassen die Intensität, die Lautstärke und der performative Aufwand, mit denen die Kollegin beschrieben wird, nur vermuten, wie verletzend diese sein können. Der Geschichte folgen weitere über den ebenfalls in diesem Unternehmen arbeitenden Fahrer Herrn König. Katja beschreibt, wie er über »Ausländer« schimpft, die ihm das Geschäft kaputt machten und alle in Waggons aus Deutschland ausgefahren werden sollten. Sofija:

Ne aber VORrher begann er zu brüllen, dass man sie irgendwie alle in Waggons setzen müsste und ausfahren müsse aus Deutschland DK : Gleich in Waggons? Arkadi: Ja Katja: [Ja haha] Sofija: [Ja und ich ] sage zu ihm, ich sage 〈 ((ernst, betont)) Herr König hier gab es schon mal eine Nation [die in Waggons gesetzt und ausgefahren wurden]〉 Arkadi: ((lauter, betont)) [ja die Waggons fuhren schon] Katja: ((laut, betont)) in Waggons [ausgefahren wurden] Sofija: [und ich sage 〈das nahm] für Deutschland gar kein gutes Ende〉 45 In ihrem Text »The Oppositional Gaze« beschreibt die Schwarze, feministische Autorin bell hooks die Strategie des Wegschauens, bezüglich der Fernseh- und Kinoerfahrungen Schwarzer Frauen. Um die Rassistische Repräsentation Schwarzer Weiblichkeit nicht zu erfahren, schauten die Zuschauerinnen weg, wendeten den Blick als aktive Handlung ab. In Analogie zu hooks Beschreibungen sehe ich auch in Katja und Sofijas »Weghören« eine Praxis aktiven Selbstschutzes vor rassistischen Zuschreibungen; bell hooks, Der oppositionelle Blick. Schwarze Frauen als Zuschauerinnen, in: dies., Popkultur – Medien – Rassismus, Berlin 1994, S. 145–166.

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Statt Herrn König den mit Rassismus vermischten Antisemitismus seiner Aussage vorzuhalten, warnen sie ihn, er würde »etwas wiederholen«, das alles »nur schlimmer« (Katja)  machen würde. Die drei umgehen in ihrer Erzählung Formen der direkten Kritik; Katja lacht abwehrend, als ich in meiner Nachfrage die Grenzüberschreitung von Herrn Königs Aussage betone. Während der Erzählung selbst herrscht ein ernster, entrüsteter Ton vor, die rassistischen und antisemitischen Aussagen werden nicht als solche benannt, aber in belehrender Haltung berichtigt. Sofija, Katja und Arkadi stellen sich hier rhetorisch in die Tradition der Roten Armee, deren Sieg über die Nazis mit der Bemerkung »das nahm kein gutes Ende für Deutschland« evoziert wird. Diese Intervention steht im Kontext des sowjetischen Diskurses um den Zweiten Weltkrieg, der vor allem den schwer erkämpften Sieg über den Faschismus betont und Antisemitismus, die Schoa und Verstrickungen der deutschen Bevölkerung in die massenhafte Vernichtung der Jüdinnen und Juden unthematisiert lässt.46 So sprechen die drei nicht von Antisemitismus, auch das eigene Jüdischsein wird nicht erwähnt. Vielmehr wird argumentiert, dass Herr König »dumm« sei. Dies wird insbesondere von Arkadi auf dessen Bildungshintergrund und soziale Position zurückgeführt. Es ist dann auch dieser Verweis auf den sozialen Hintergrund, der die Spannung löst und die Erzählung ins Komische kippen lässt: Arkadi:

Wir sitzen dabei und was soll man da sagen, so ein super Analytiker, so einfach ein europäischer Intelligenzler Herr König, der sein ganzes Leben am Steuer saß, worüber soll man mit ihm diskutieren, […] Wenn das irgendein Doktor Goebbels gewesen wäre, da hätte man sich anstrengen können, aber hier irgendwie Herr König, der irgendwie sein ganzes Leben diese eine Bewegung gemacht hat (macht die Bewegung des Autofahrens nach) und er Mehrere: hahahaha […] Sofija: so und dort, irgendwie dieser ganze proletarische Teil beginnt irgendwie immer stärker auf uns einzudrücken

Die geschilderte Auseinandersetzung über rassistische und antisemitische Aussagen von Arbeitskolleg_innen hebt besonders den Bildungs- und Klassenhintergrund der Protagonist_innen hervor: Herr Königs Aussage wird als »dumme« Position konstruiert, die keiner weiteren Auseinandersetzung wert ist. Sie wird in einer aus dem sowjetischen Sprachgebrauch stammenden Terminologie von Klassenkonflikten erklärt. Herr König erscheint dabei nicht als verletzender oder bedrohlicher Antisemit, sondern als tumber Proll  – ein unter den russischen Migrant_innen weit verbreitetes Deutungsmuster. 46 Bernstein 2010, S. 328ff; Körber 2009, S. 247 ff.

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Dieses begegnet der Bedrohung und Kränkung mit der Mobilisierung von kulturellem Kapital und sozialem Status. Eingelassen in das ernste Problemgespräch werden die konversationellen Parodien, wie die letzten Beispiele zeigen, genutzt, um sich innerhalb der Gruppe über kränkende Erfahrungen zu verständigen, diese zu verarbeiten und abzuwehren, ohne sich dabei als Betroffene zu positionieren. Meine Gesprächspartner_innen mobilisieren biografische Ressourcen, die es ihnen ermöglichen, sich gegen die verbalen Übergriffe zu wehren und zugleich zu vermeiden, die verletzlichen Positionen als »prekär arbeitende Ausländer_in« oder »wütende oder kritische Jüdin« einzunehmen. Stattdessen sprechen sie als »künstlerisch Tätige«, eine Position, die sie erhobenen und scherzenden Hauptes verteidigen. In diesem Rahmen ist es ihnen möglich, die verletzenden Erfahrungen untereinander zu besprechen. Es scheint jedoch auch diese Position selbst – das Sprechen aus »der Mittelschicht« oder »der russischen Intelligenzija« heraus – zu sein, die es erschwert, Rassismus und Antisemitismuserfahrungen zu thematisieren: so als wäre im Kontext eines auf Universalität und Normalität ausgerichteten Mittelschichtshabitus das Leiden an partikularen Diskriminierungen unangebracht, peinlich. Der scherzhafte Rahmen öffnet somit in seiner Vagheit, die den Grad an Dringlichkeit des Gesagten offen lässt, einen auch in dieser Hinsicht geschützten Raum. Einen Raum, um sich über Kränkungen und Verletzlichkeiten zu verständigen und diesen einen selbstbestimmten Ausdruck zu verleihen, sich über sie zu erheben. Diese Strategie muss jedoch auch gelesen werden vor dem Hintergrund des Mangels an anderen öffentlichen wie lebenswelt­ lichen Räumen für Auseinandersetzungen über Rassismus und Antisemitismus.

Schlussbetrachtung In diesem Beitrag ging es zunächst darum zu betrachten, was passiert, wenn die in Berlin oder anderswo »sitzenden« russischen Jüdinnen und Juden und andere russischsprachige Migrant_innen einander mit Anekdoten »infizieren« und sich scherzhaft über ihre Migrationserfahrungen und die deutsche Mehrheitsgesellschaft verständigen. »Die Welt aus Sicht der Migrant_innen« zu rekonstruieren ist dabei nicht nur von voyeuristischem Interesse, sondern vielmehr mit dem Versuch verbunden, ein anderes Verständnis von den Wirkweisen deutscher Migrationspolitik und der Wirkweise von Rassismen und Antisemitismus zu erarbeiten. Migrationsprozesse können  – das wird am Beispiel der Kontigentflüchtlingsregelung deutlich  – nicht nur von der Warte der politisch-administrativen Regulation aus verstanden werden, was nicht zuletzt daran liegt, dass diese selten mit den Wegen, Deutungsmustern und Positionen der Akteur_innen übereinstimmen. Hier erlaubt die Analyse

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migrantischer Scherzkulturen Einblicke und ein kritisches Verständnis der Genese alternativer, intimer Narrative der Migration, in denen eigensinnige Deutungsmuster, schwer zu artikulierende Ambivalenzen und Widersprüche zum Ausdruck kommen. Mit dem komischen Diskurs ist zugleich ein Aushandlungsprozess in den Fokus gestellt, der gerade ob seiner Alltäglichkeit und Banalität ein wichtiger Ort der Gestaltung von Selbstbildern und Deutungsmustern ist. Für russisch-jüdische Migrant_innen in Deutschland und die Positionen, die sie im Laufe der Migration durchlaufen, ist der komische Diskurs in doppelter Hinsicht eine Ressource: Zum einen gehört die Selbst- und Fremdwahrnehmung als Minderheit, die über eine reiche Tradition komischer Erzählungen verfügt, zu den unbelasteten Bezugspunkten der russisch-sowjetischen Herkunft, die das eigene Selbstbild stärkt. Zum anderen ist dieser in der besonderen Position russisch-jüdischer Migrant_innen – als in der deutschen Migrationsgesellschaft privilegierte und zugleich von den angestrebten Mittelschichtspositionen exkludierte Minderheit  – besonders nützlich. Jenseits von Nostalgie, Pathos oder Klage können Erfahrungen eigener Verletzlichkeit, ebenso wie die Wirkungsweise gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Begrenzungen pointiert dargestellt und spielerisch überschritten werden. Es dient der Verhandlung von intersektional operierenden Formen sozialer Ungleichheit, scheinbar belanglosen Kränkungen sowie der Formierung von feinen Unterschieden und alternativen Selbstbildern, die im Komischen eruiert und ausprobiert werden. Die gesellschaftlich verwehrten Positionen als Mittelschicht, als Künstler_innen oder Angehörige einer Intelligenzija sowie die Zuschreibungen als defizitär, unterlegen und komisch, können so scherzhaft für belanglos erklärt werden. Zugleich werden über den komischen Diskurs neue Positionen eingenommen und ausgestaltet – auch und gerade dort, wo es diese für Migrant_innen nicht zu geben scheint, wo sie noch nicht vorgesehen sind.

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Darja Klingenberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Schwerpunkt Kultur und Migration des Instituts für Soziologie der Goethe Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschung befasst sich unter anderem mit Migrationsforschung mit dem Schwerpunkt auf russischsprachigen Migrationen im 20. und 21. Jahrhundert sowie der Soziologie des Alltäglichen und Food Studies. In ihrer Dissertation untersucht sie Migration und die Gestaltung des (Wohn)Raums russischsprachiger Migrant_innen in Deutschland. [email protected]

Julia Bernstein

»Dichte und Dichtung der neuen Lebenswelten: Das Bolschoi-Theater in der Aldi-Tüte«

In diesem Beitrag möchte ich einige Beobachtungen über das Leben der ersten Generation russischsprachiger jüdischer Migrant_innen in Deutschland anhand meiner künstlerisch-wissenschaftlichen Arbeit »Migrationscollagen« präsentieren. Die Motive, die die hier präsentierten Grafiken und Collagen inspiriert haben, stammen aus einer zwei Jahre andauernden kulturanthropologischen Feldforschung, die ich im Rahmen meiner Dissertation durchgeführt habe.1 Sie nehmen Bezug auf erlebte Situationen, auf Beschreibungen aus meinen Feldtagebüchern und auf Interviewpassagen, in denen meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner den Versuch unternahmen, sich selbst einen Reim auf die Herausforderungen ihres neuen Lebens in Deutschland zu machen.2 In meiner Erinnerung an die Feldforschung gibt es viele Bilder, die für potenzielle Leser unsichtbar bleiben, weil sie sich nicht im Medium eines wissenschaftlichen Textes präsentieren lassen. Der Versuch, solche Situationen anders als mit Worten zu erfassen, und damit Dimensionen des Erlebten darzustellen, in denen etwa die Atmosphäre eines Gesprächs, die Mimik der Interviewten, ihre nonverbalen, körpersprachlichen Kommunikationen zum Ausdruck gebracht werden, hat mich dazu veranlasst, nach anderen Formen und Medien der Vermittlung zu suchen. Da ich mich seit über zwei Jahrzehnten mit Kunst beschäftige und selbst künstlerisch tätig bin, verspürte ich das Bedürfnis, neben dem schriftlichen Feldtagebuch eine Art bildliches Tagebuch zu führen, in dem ich zusätzlich zu den Interviews auch Zeichnungen, Bilder und schließlich Collagen gemacht habe. Daraus hat sich eine ungewöhnliche, aber fruchtbare wissenschaftlich-künstlerische Kombination ergeben, die mich in meiner Dissertationsarbeit begleitet und mich maßgeblich inspiriert hat. 1 Julia Bernstein, Food for Thought. Transnational Contested Identities and Food Practices of Russian-Speaking Jewish Migrants in Israel and Germany, Frankfurt am Main/New York 2010. 2 Die Namen aller Befragten wurden aus Rücksicht auf das Persönlichkeitsrecht geändert und die handelnden Personen anonymisiert.

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Die textlichen Beschreibungen und Interviews ergaben gemeinsam mit den Bildern eine neue Welt der Ideen über das gesellschaftliche und kulturelle Leben der Eingewanderten – eine Collagenwelt. Die Bilder, die über die erzählten Biografien und Migrationserfahrungen Auskunft geben, zeigen Spuren der Vergangenheit, sie zeigen aber auch, wie sich das Verhältnis zu dieser Vergangenheit verändert. Diese Veränderungen sind sowohl durch den wachsenden zeitlichen Abstand als auch durch Erfahrungen mit und in einer anderen Gegenwart bedingt, die Verschiebungen und Re-Interpretationen des Vergangenen zur Folge haben. In dieser Collagenwelt verbinden sich also verschiedene, oft widersprüchlich erfahrene kulturelle Realitäten und »soziale Welten« der Gegenwart3 mit dem vielfältigen kulturell-sozialen Vermächtnis der Vergangenheit – so entsteht ein neuer Raum, der nach seinen eigenen, gewissermaßen eigenwilligen Regeln weiterlebt.

Eine unorthodoxe Kombination: Die Verbindung von Kunst und Wissenschaft als methodische Annäherung an die Migration Mit dem Versuch, in meiner Arbeit »Migrationscollagen« die jeweils unterschiedlichen Bereiche von Wissenschaft und Kunst miteinander zu verbinden, möchte ich an neue, innovative Ansätze der qualitativen Sozialforschung anschließen, die sich gegen einen »methodologischen Separatismus« wenden, der unsere soziologische Vorstellung verarmen lässt.4 Nach der Writing-Culture-Debatte geht es in diesen Ansätzen und Analysen zunehmend um eine Analyse der sozialen Interaktion: zwischen der Interviewer_in und den Interviewten oder zwischen der Forscher_in und den Teilnehmer_innen, die einen kreativen und performativen Interaktionsraum schaffen, in dem bestimmte »ver-körperte« Erfahrungen5 geteilt werden. Homi Bhabha6 und Magdalena Naum7 sprechen von »third space« oder »third space liminality«, von einem Raum, der gemeinsam ausgehandelt wird. In diesem Zusammenhang gewinnen sowohl die Reflexion asymmetrischer Arbeitsbündnisse 3 Fritz Schütze, Das Konzept der sozialen Welt im symbolischen Interaktionismus und die Wissensorganisation in modernen Komplexgesellschaften, in: Inken Keim/Wilfried Schütte (Hg.), Soziale Welten und kommu­nikative Stile, Tübingen 2002, S. 57–85. 4 Glynis Cousin/Robert Fine, A Common Cause: Reconnecting the Study of Racism and Anti-Semitism, in: European Societies, 14,2 (2012), S.166. 5 Sarah Pink, Doing Sensory Ethnography, Wiltshire 2009. 6 Homi Bhabha, The Location of Culture, New York 1994. 7 Magdalena Naum, Re-Emerging Frontiers: Postcolonial Theory and Historical Archaeology of Borderlands, in: Journal of Archeological Method and Theory, 1 (2010), S. 101–131.

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und Arbeitsverhältnisse als auch die situative Subjektivität der Forscher_innen im interkulturellen Forschungsprozess an Bedeutung. Neue Ansätze wie »intimate ethnography«,8 »ethnographic self as resource«9 oder »autoethnography«10 plädieren für die reflexive Nutzung biografischer Erfahrungen der Forscher_innen als Teil  der Forschung. Einige sprechen sogar von »passioned researcher« (wie Kathy Davis in ihrer Forschung über Tango).11 Forschung wird dabei zu einem politischen und sozialen Akt.12 In diesem Prozess erscheint der Bezug auf die Multidimensionalität unserer Sinneswahrnehmung, die methodisch reflektiert werden muss, als besonders wichtig. »No sensory modality necessarily dominates how domestic environments or practices are experienced, understood, evaluated and maintained through all the senses.«13 Besonders interessant ist hier vor allem der sogenannte »reflexive and embodied turn« der »corporial sociology«14 und »sensory ethnography«,15 die sich kritisch dem »verbocentric approach« (der qualitativen Forschung) widersetzt, also Ansätzen, die ausschließlich mit sprachlich erhobenem Material arbeiten. Im Gegensatz dazu wird auf die Vielfalt von Wahrnehmungssensoren verwiesen,16 werden konventionelle Formate der Narrativpräsentationen infrage gestellt und es wird rekonstruiert, wie in der Wissenschaft Sprachansprüche ausgehandelt werden. Einige Forscher weisen auf eine »methodological fluidity«17 hin. Beispielsweise werden im Rahmen kunstbasierter Forschung die Beteiligten darum gebeten, ihre Mehrsprachigkeit in einer Körpersilhouette beziehungsweise Bilder ihrer Migration zu zeichnen, und diese Zeichnungen werden dann zusammen mit narrativ8 Alisse Waterson/Barbara Rylko-Bauer, Out of Shadows of History and Memory: Personal Family Narratives as Intimate Ethnography, in: Athena McLean/Anette Leibing (Hg.) The Shadow Side of Field Work: Theorizing the Blurred Borders between Ethnography and Life, Oxford 2007. 9 Peter Collins/Anselma Gallinat (Hg.), The Ethnographic Self as Resource, Oxford 2010. 10 Carolyn Ellis, The Ethnographic I: A Methodological Novel about Autoethnography, Walnut Creek, 2004; Holman Jones, Stacy, Autoethnography: Making the personal poli­ tical, in: N. K. Denzin/Y. S. Lincoln (Hg.), The Sage Handbook of Qualitative Research, 3. Aufl., Sage 2005, S. 763–791. 11 Kathy Davis, Dancing Tango: Passionate Encounters in a Globalizing World, New York 2015. 12 Adams, Tony E. & Holman Jones, Stacy, Autoethnography is Queer, In Norman K. Denzin/ Yvonna S. Lincoln/Linda T. Smith (Hg.), Handbook of Critical and Indigenous Methodologies, Thousand Oaks 2008, S. 373–390. 13 Sarah Pink (Hg.), Working Images, London 2004. 14 Davis 2015. 15 Pink 2009. 16 David Howes (Hg.), Varieties of Sensory Experience: A Sourcebook in the Anthropology of the Senses, Toronto 1991, S. 7–8. 17 Stephanie Springgay/Irwin Rogoff, A/r/tography as Living Inquiry through Art and Text, in: Qualitative Inquiry, 11,6 (2005), S. 897–912.

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biografischen Interviews analysiert.18 Samantha Warren, die sensuelle Methodologie in ästhetischer Forschung entwickelt, kombiniert in ihrer Forschung biografische Interviews, Fotos, die Interviewte angefertigt haben, und ethnografische Ästhetik.19 Diese Ansätze bilden einen Bezugsrahmen für meine eigene Form der wissen­schaftlichen und künstlerischen Annäherung an die Erzählungen und Erfahrungen der russisch-jüdischen Migrant_innen. Das Phänomen der Migration wird oft mit Fremdheit assoziiert; es wird als Bedrohung empfunden und löst Ablehnung und Distanzierung aus. Soziale Fremdheit bedeutet sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche, kulturelle und moralische Nicht-Zugehörigkeit, von der sich die Angehörigen der dominanten Gruppe, hier: der Aufnahmegesellschaft, als von etwas Unbekanntem distanzieren. In meiner Arbeit versuche ich, diese Perspektive aufzubrechen. Migrant_innen betrachte ich als mündige, sozial-aktive, ihr Leben kreativ gestaltende und handelnde Individuen, die als transnationale Akteure den Kontakt zur Herkunftsgesellschaft nicht abbrechen, sondern diesen auf vielfältige Weise alltäglich pflegen.20 »Transmigrant_innen« treten in die neue Gesellschaft als aktive Mitglieder ein. Sie bringen ihre eigenen Erfahrungen, Sinnhorizonte und Deutungsmuster mit, die durch die neue Lebenssituation herausgefordert und verändert werden. Dieser Prozess des »Sich-Einrichtens« ist nun kein linearer Vorgang der Adaption, bei dem Altes zurückgelassen und Neues angeeignet wird. Vielmehr ist die schwierige und oftmals langwierige Phase des Übergangs in eine neue gesellschaftliche Ordnung aus der Sicht der Migrant_ innen ein wichtiger Lebensabschnitt, der reflexive und kreative Momente freisetzt.21 Im Gegensatz zu den öffentlichen Bildern der russisch-jüdischen Migrant_innen als unmündigen und passiven Empfängern von Sozialleistungen22 versuche ich durch meine wissenschaftliche wie durch meine künstle­ rische Arbeit die Perspektive herauszuarbeiten, die ihnen eigen ist. So gelingt 18 Marcelyn Oostendorp/Christine Anthonissen, Emotions and HIV/AIDS in South Africa: A Multilingual Perspective 2012; Brigitta Busch, Das sprachliche Repertoire oder Niemand ist einsprachig. Vorlesung zur Verleihung der Berta-Karlik-Professur an der Universität Wien, Klagenfurt/Celovec 2012. 19 Warren 2008, S. 568. 20 Peter Kivisto (1990), The Transplanted Then and Now: the Reorientation of Immigration Studies from the Chicago School to the New Social History, Ethnic and Racial Studies, 13 (4), S. 455–485; John Bodnar, The Transplanted: A History of Immigrants in Urban America, Bloomington and Indianapolis 1985; Linda Basch/Nina Glick Schiller/Cristina Blanc-Szanton, Nations Unbound: Transnational Projects, Post-Colonial Predicaments, and De-Territorialized Nation States, Langhorne 1997. 21 Deborah Golden, Belonging Through Time: Israelis, Immigrants, and the Task of N ­ ationBuilding, London 1996. 22 Deborah Golden, Belonging Through Time. Nurturing National Identity among New­ comers to Israel from the Former Soviet Union, in: Time and Society, 11,1 (2002), S. 5–24.

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Abb. 1: Collage »Dichte und Dichtung der neuen Lebenswelten: Das Bolschoi-Theater in der Aldi-Tüte«, Jüdisches Museum München

es, sie als kritisch denkende(n) Mensch(en) zu präsentieren, die fähig sind, »aus einer kulturellen Zwischenwelt – scheinbar unvereinbaren Realitäten – eine ›gekonnte Collage‹ zu entwickeln.«23 Eine solche Perspektive einzunehmen, macht es möglich, jenseits der stereotypen Zuschreibung von »den Russen« einen Blick auf die heterogenen, oft widersprüchlichen Lebenswelten der russisch-jüdischen Migrant_innen zu werfen. Die Kunsttechnik der Collage scheint mir besonders gut geeignet, diese Lebenswelten darzustellen. Die Art der Verwendung von Lebensmitteln und deren Verpackungen aus dem russischen Laden – die alle mit kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Bedeutungen des früheren Lebens in der Sowjetunion und des gegenwärtigen Leben in den Staaten der GUS aufgeladen sind  – trägt wesentlich zum Reichtum der Collagen bei. Sie stellen gleichsam einen Spiegel der migrantischen Lebenswelt dar: Ihre Situation ist hybride, ähnelt einem Puzzle; ihre Welt ist fragmentiert, aus einem Kontext herausgelöst und in einen anderen hineingestellt. Ein kleines Zimmer im Wohnheim. Es ist sehr eng. Zwei Betten und in der Mitte ein Tisch. Ich besuche eine russischsprachige jüdische Familie, die hier

23 Ina-Maria Griverus, Anthropologisch reisen, Hamburg 2000, S. 4.

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wohnt: eine Frau (59) mit ihrem Sohn (38). Es gibt noch zwei Zimmer neben­ an. In einem wohnen vier Personen aus Albanien (ein Mann, seine Frau und zwei kleine Kinder), in dem anderen eine Familie deutscher Aussiedler aus Kasachstan (eine Frau mit ihrem Sohn). Alle drei Familien teilen eine Toilette, ein Badezimmer und eine kleine Küche. Auf dem Tisch steht eine Tasse mit blauem Muster aus der berühmten Lomonossov-Porzellanmanufaktur, ein Symbol sowjetischen Wohlstands. Diese Tasse wurde zwar auf dem Flohmarkt in Deutschland gekauft, in England hergestellt und ist nicht aus so dünnem Porzellan gemacht, wie es »sich eigentlich gehört«, aber alle russischsprachigen Besucher verstehen die Botschaft. Ich bekomme Kaffee aus dieser Tasse und eine kleine Portion Kaffeesahne aus einem Zehnerpack. Das Wohnheim ist für viele russischsprachige jüdische Migrant_innen der erste Ort nach ihrer Ankunft in Deutschland. Von hier aus werden die ersten Wege in die neue lokale Umgebung unternommen, hier werden die ersten Eindrücke und Dinge gesammelt und verarbeitet und daraus wird ein vorläufiger, eigener Raum gestaltet. Die beengten Räumlichkeiten des Wohnheims stellen insofern sowohl das hybride kontrastierende Mosaik alter und neuer sozialer Wirklichkeiten dar als auch einen Zufluchtsort. Sie fungieren als Bollwerk. Sie sind eine Insel, auf der ein vertrauter Mikrokosmos gelebter und anerkannter Identitäten und Praktiken Gültigkeit beanspruchen kann. Denn gerade in der Anfangsphase der Migration sehen sich die Einwanderer sehr gemischten Gefühlen ausgesetzt. Sie erleben eine große Sprach- und Orientierungslosigkeit, die sich bei einigen der Migrant_innen mit der Angst verbindet, außerhalb des Wohnheims verlorenzugehen. Die Straßen sind ihnen fremd und nicht länger mit persönlichen Geschichten verbunden: »Du gehst vom Haus raus und bist sofort auf der Straße!«, bedeutet in diesem Fall, außerhalb des Wohnheims mit einer verwirrenden und unbekannten Wirklichkeit konfrontiert zu sein, für die es kein eigenes Koordinatensystem gibt, weder was die äußere Umgebung angeht, noch was die Herausforderungen durch die neuen Konsumwelten betrifft. Ihre ersten Besuche im Supermarkt lösen bei vielen Migrant_innen angesichts der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten des Westens ambivalente Gefühle aus. Ausgestattet mit geringen finanziellen Mitteln befinden sie sich mitten im Überfluss, der sie zunächst überfordert. Sie gehen in den Supermarkt und ihnen wird physisch übel  – nicht nur weil es so viel und alles gibt, sondern weil man nicht weiß, nach welchen Kriterien man auswählen soll. »Wenn das aufgedruckte Bild nicht dem Inhalt entspricht. Einmal haben wir eine Fischdose gekauft, und dann war es ein Dreck, und wir mussten es wegwerfen – das war schade. Du hast die ganze Zeit Angst, etwas falsch zu machen und unnötig Geld auszugeben, weil man nicht weiß, wie es alles weitergeht.«

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Abb. 2: Ausschnitt aus der Collage »Dichte und Dichtung der neuen Lebenswelten: Das Bolschoi-Theater in der Aldi-Tüte«, Jüdisches Museum München

»Wir haben ja den Staat verlassen, als es da nichts gab; und hier nicht weniger als hundert Dosen von Joghurten für einen Menschen, der nur eine Sorte kennt, nämlich Joghurt [russisch: Kefir] oder Sauersahne oder Wurst. Ich war von dieser Vielfalt der Käse und verschiedenen Verpackungsmaterialien abgestumpft und verwirrt.«

Die Ohnmachtserfahrung angesichts des Überflusses verbindet sich mit einem massiven Verlust an Anerkennung, der mit dem Grenzübertritt einhergeht. All das, was die eigene und auch kollektive Selbstwahrnehmung in der Herkunftsgesellschaft maßgeblich bestimmt hat, eine hochqualifizierte, urbane Lebensführung, sowie die Ansprüche, die daraus erwachsen, werden im Prozess der Migration entwertet. »Du bist hochqualifiziert, kommst aus einer Großstadt und begreifst Dich als kulturelle russische Elite. Du hast alles, ›was sich gehört‹ gelesen und zahllose Theateraufführungen besucht und bist natürlich auf deinen kulturellen Habitus sehr stolz. Du hast Hoffnung auf berufliche Selbstverwirklichung und hohe Bildungsansprüche für Deine Kinder. Wie es der berühmte Sergej Dovlatov ausgedrückt hat: ›Theoretisch waren wir alle bereit, jegliche Arbeit (selbst Straßenkehren) zu übernehmen, praktisch haben wir jedoch unsere akademischen Abschlussurkunden übersetzen und beglaubigen lassen in der Hoffnung auf berufliche Anerkennung, entsprechende Wertschätzung und gesellschaftlichen Status‹.«

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Der Wunsch, nicht auf stigmatisierte Kategorien wie »arme Ausländer«, »Kommunisten«, »Opfer«, »Russen« oder »Homo Sovieticus« reduziert zu werden, sondern als Menschen mit einer eigenen wertvollen Biografie und Erfahrung, mit einer widersprüchlicher eigenen Identität wahrgenommen zu werden, begleitet die eingewanderten russischsprachigen Juden oft noch Jahre nach ihrer Einwanderung. Meine Interviewpartnerin im Wohnheim bewältigt die vielen widerstreitenden Erfahrungen in ihrem neuen Leben, indem sie die neuen Möglichkeiten des Konsums nutzt, um Dinge zu erwerben, deren – auch emotionaler – Wert sich aus der Herkunftsgesellschaft bestimmt und die ihr ein Stück Selbstbewusstsein zurückgeben. Sie geht in das russische Lebensmittelgeschäft und kauft eine in der damaligen Sowjetunion sehr teure Schokolade der Marke »Inspiration« aus der Konditorei »Roter Oktober«, auf deren Verpackung das Bolschoi-Theater abgebildet ist. Oder sie erwirbt auf dem Flohmarkt ein Gabel- und Messerset aus Neusilber, »genau wie zu Hause«, für 30 Mark. »Ich habe es nur einmal zum Neujahrsfest benutzt, aber ich musste es einfach haben!«

Notizen auf dem Kühlschrank Alles im grünen Bereich, das ist nämlich so’ne Sache, Kosten sparen, Kostenaufwand, Kostenberechnung, Ausländerbehörde, Arbeitsamt, Sozialamt, Krankenkasse, Wohnungsamt, Was kostet?, Identität, (aus-, ver-, er-, be-, ab-, über-, auf-, durch-)arbeiten, müde, konfliktträchtig, Ich wünsch Dir was, Wie geht’s?, Ja, so weit …, Mir geht es gut, Recycling, Ach so!, Na, auch hier?, Schwein gehabt, Selbstverständlich, Wer rastet, der rostet, besetzt, spazieren, für Fleißige. Die deutsche Sprache als eine fremde Sprache, der mühsame Akt des Spracherwerbs, Assoziationen, die sich mit dieser Sprache verbinden – all das stellt die russischsprachigen Juden der ersten Generation, die häufig älter als 40 Jahre sind, vor eine große Herausforderung. Umso mehr, da die eigene russische Sprache für viele ein Quell der Identifikation und des eigenen Selbstbewusstseins ist; schließlich gibt ein literarisch angereichertes, gewähltes Russisch Auskunft über einen hohen Bildungsgrad. Gerade diese Fallhöhe ist es, die das Erlernen der deutschen Sprache erschwert und zur Verunsicherung im Lernprozess beiträgt. Zudem begegnen sich mit den beiden Sprachen auch unterschiedliche Erinnerungen, die in die Geschichte(n) des 20. Jahrhunderts eingeschrieben sind und wechselseitig ambivalente Gefühle wachrufen. Ein Umstand, der das Ankommen in der neuen Sprache zusätzlich belastet. »Die Deutschlehrerin sagte uns, ihre Mutter sei ganz irritiert gewesen, als sie hörte, dass ihre Tochter ›Russen‹ unterrichtet: ›Das sind ja die, die Vergewalti-

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Abb. 3: Collage »Noch mehr Schokolade …«, Jüdisches Museum Berlin

ger!‹ Und dann war es still. Daraufhin habe ich gesagt: ›Wissen Sie, wenn ich in der Nacht schweißgebadet in Panik aufwache, weil auf der Straße jemand Deutsch redet und mein Fenster offen ist, brauche ich eine Weile, um zu begreifen, wohin ich hier geraten bin und was das da draußen für Leute sind. Und dass alles in Ordnung ist.‹« Im weiteren Verlauf des Interviews erklärt meine Gesprächspartnerin mir, dass sie die fremden deutschen Sprachfetzen mit dem Schrecken der Nazityrannei im Dritten Reich assoziiert. »Dann hat die Lehrerin gar nichts mehr gesagt und dieses Thema nie mehr berührt. Und im Unterricht möchte man wichtige Themen als erstes lernen, damit man zurechtkommt, und dann kommen so Themen wie: Wie unterhält man sich über einen Musikkonzert? Wie kommt man zurecht im Hotel? Was sind die Sehenswürdigkeiten? Was ist Recycling? Und dabei bist Du richtig in einer Krise«. »Ich habe einen Frosch im Hals.« Mit jeder Redensart ist eine Geschichte verbunden. So erzählt eine Interviewpartnerin, die als Apothekerin eingestellt wurde, dass einmal eine Frau zu ihr in die Apotheke kam und sagte, »Ich habe einen Frosch im Hals«. Die Interviewpartnerin hatte den Ausdruck noch nie gehört und wurde stumm. Sie ließ sich aber nichts anmerken, denn sie wollte die Dame, die »einen Frosch im Hals hatte«, nicht weiter erschrecken. So sagte sie bescheiden: »Einen Moment bitte!«, und rannte zu ihrer Chefin im Hinterzimmer mit den Worten: »Du glaubst nicht, was da passiert ist. Da steht eine Frau mit einem Frosch im Hals!«

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Der Ausdruck »Ach so!« ist auch mit einer Geschichte einer Interview­ partnerin verbunden. Kurz nach ihrer Einreise nach Deutschland stand sie an einer Bushaltestelle. Sie besuchte damals ihren ersten Sprachkurs und hatte verstanden, dass der Ausdruck »Ach so!« im Deutschen benutzt wird, um anzuzeigen, dass eine begonnene Konversation aufrechterhalten beziehungsweise weitergeführt werden soll. Als eine Dame an der Bushaltestelle ihr etwas gesagt hatte und sie es nicht wirklich verstanden hatte, wollte die Interviewpartnerin weiter mit ihr sprechen. Sie lächelte breit und reagierte mit »Ach so!« in der Hoffnung, dass ihr Gegenüber weitersprechen würde, worauf die Dame zu einem anderen Herren sagte: »Die Dame ist taub!«

Gescheiterte Begegnungen: Erfahrungen sozialer Kränkung auf dem Sozialamt Hier handelt es sich um eine Frau Mitte 50, die, ganz typisch für die meisten Ausgewanderten dieser Gruppe, das Sozialamt besucht, um Sozialhilfe zu beantragen. Sie hat genau überlegt, was sie anziehen soll, hat sich mit der goldenen Kette und dem von der Großmutter geerbten Ring geschmückt, hat dazu passende Bernsteinohrringe ausgesucht. Ihre rot gefärbten gelockten Haare sind sorgfältig in eine Frisur gelegt. Sie hat sich geschminkt, wie es ihrer Ansicht nach dazu gehört. Ihr Aussehen entspricht dem Vorbild exsowjetischer Weiblichkeit im Alter von 55 Jahren und soll ihren Status als hochqualifizierte, gebildete, großstädtische Person widerspiegeln. Als sozial kompetenter Mensch hat sie eine klare Vorstellung davon, wie eine Frau in der Öffentlichkeit auftreten soll. Durch die Migration gewinnt diese Vorstellung noch an Bedeutung. Da sie ihren ursprünglichen Status und ihre gesellschaftliche Position durch den Grenzübertritt verloren hat, legt sie besonderen Wert darauf, in ihrer Kleidung und im Auftreten die Erinnerung daran aufrechtzuerhalten, um in der neuen Umgebung ihre Würde zu bewahren. Ihre Erscheinung soll also nicht nur eine Idealvorstellung von ihr selbst repräsentieren, vielmehr kämpft sie damit symbolisch auch gegen den Status der Migrantin, der mit negativen Stereotypen verbunden ist und ihr in der Hie­ rarchie der Aufnahmegesellschaft einen Platz weit unten zuweist. Die Frau kommt herein und sieht die Mitarbeiterin des Sozialamts am Tisch sitzen mit dem vermeintlich »alles kontrollierenden und allmächtigen Computer«. »Sie hat mich nicht angeschaut und nicht begrüßt, nur gesagt: ›Nehmen Sie bitte Platz‹ und dann: ›Sprechen Sie Deutsch?‹ Und es war mir zum Weinen zumute …« Das Gefühl der Verunsicherung und die emotionale Aufgeregtheit der neu angekommenen Migrantin prallen auf die routinierten Abläufe der Mitarbei-

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terin, der es möglicherweise tatsächlich an Freundlichkeit mangelt, und für die der Vorgang zum Behördenalltag gehört. Die Reaktionen der Klientin erscheinen ihr unangemessen und irritierend. Zudem ist sie nicht in der Lage, die spezifischen Codes der Frau aus dem gebildeten, großstädtischen, ex-sow­ jetischen Milieu zu dechiffrieren. Diese fühlt sich missverstanden und ungerecht behandelt. Sie empört sich über die Deutsche, die ihr gefühlskalt und mitleidlos erscheint. Aus dieser konkreten Situation leitet sie ab, dass »die Deutschen« keine Gefühle in der Öffentlichkeit zeigen würden. Die Mitarbeiterin der Behörde wurde als Frau wiederum anders sozialisiert. Sie hat andere Vorstellungen von einer angemessenen weiblichen Erscheinung und kann daher die Absicht der Antragstellerin nicht erkennen. Stattdessen (miss)interpretiert sie deren äußeres Auftreten: Für eine sozialhilfebedürftige Person ist die Besucherin zu reich geschmückt und zu »gut« gekleidet (auch wenn das Outfit für ihren persönlichen Geschmack überladen, kitschig und unemanzipiert sein mag). Es scheint ihr, dass die Frau in ausreichenden ökonomischen Verhältnissen lebt, sodass der Antrag auf Sozialhilfe ihrer Meinung nach nur einen Versuch darstellt, das deutsche Sozialsystem auszunutzen.

»Am Anfang lernst du ein paar Phrasen. Es ist alles so künstlich für dich, wie ein Spiel, es kommt dir vor wie Blablabla. Du brichst deine Zunge und willst lachen und auf ein Mal siehst du, es funktioniert – sie verstehen dich! Es dauert sehr lange, bis die Sachen sich nicht wie Schwachsinn anhören …«

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»Alle unsere Verwandten und Freunde, die da geblieben sind, denken, dass wir unheimlich reich sind. Wenn du im Westen lebst, bist du reich. In dem Moment, als wir die Grenze überquert haben, sind wir für sie Kapitalisten, Inostranzi, geworden [›Ausländer‹ auf Russisch wurde oft als Synonym für Kapitalisten benutzt], und niemand möchte etwas über deine Probleme hören. Du bist nur verpflichtet, jedem Freund dort Geschenke zu schicken …«

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»Wann geschieht die Integration? Das ist nur ein Begriff, weil es keinen Tag gibt, an dem ich aufwache und mir denke: ›Na, heute bin ich integriert …‹.«

»Wir sind hier alle aliens ohne Geschichte. In einer Arbeitslosigkeitsstatistik habe ich das Folgende gesehen: Männer, Frauen, Ausländer… Verstehst du, es gibt Männer, Frauen und es gibt uns aliens ohne Geschlecht – die Ausländer … «

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»Vorher habe ich normal wie auch alle anderen Schweinefleisch gegessen. Jetzt mache ich es auch, habe aber dabei Gewissensbisse, weil wenn unsere deutschen Bekannten wissen, dass ich jüdisch bin, und sie dann fragen: ›Und Sie essen auch Schweinefleisch?‹«

»Als ob es das Russland wäre, von dem wir immer geträumt haben! Ein Russisch sprechendes Deutschland ist ein Russland, in dem es gut ist; wenn es möglich wäre, so in Russland zu leben, würde niemand es verlassen …«

Mischa, Jahrgang 1950, ein aus der Ukraine eingewanderter Bauingenieur, fasst noch einmal zusammen, was viele der russischsprachigen Juden der ersten Generation empfunden haben, die zu Beginn der 1990er Jahre nach Deutschland eingewandert sind: »Für mich war Deutschland mein erstes Ausland. Es war der Schock eines Menschen, der vorher in seinem Leben nichts Ähnliches gesehen hat. Unsere Ankunft war wie die Ankunft auf einem neuen Planeten. Ich denke, ich bin ein sozusagen durchschnittlicher Mensch von denen, die angekommen sind [aus der Sowjetunion]. Was wussten wir vorher? Null.«

Wie die aufgeführten Zitate aus Interviews aus meiner Feldforschung und die dazu gehörigen Bilder und Collagen zeigen, verursacht der Migrationsprozess vielfach Krisen und löst widersprüchliche Erfahrungen im Alltag aus, die oft auch Jahre nach der Ankunft der Eingewanderten nicht aufgelöst werden können. Die russisch-jüdischen Migrant_innen sind nach ihrer Einreise mit einer Reihe neuer und unbekannter Phänomene konfrontiert, zu denen das demokratische politische System und der Kapitalismus in all seinen Da-

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Abb. 4: »Die Ankunft auf einem neuen Planeten«, Jüdisches Museum Berlin

seinsformen gehören, aber auch die neuen Anforderungen, die sich mit der deutsch-jüdischen Geschichte und einem anderen Verständnis vom Jüdischsein verbinden. Die Auseinandersetzung mit der neuen Umgebung führt nicht selten dazu, dass die Migrant_innen identitätsstiftende Formen der Zugehörigkeit und sinnstiftende Deutungsmuster der Herkunftsgesellschaft hinterfragen und re-interpretieren müssen. Gleichzeitig gilt es zu verhindern, dass Dimensionen der eigenen Identität, wie erworbene Bildungstitel, der berufliche Status oder die Zugehörigkeit zu einer Intelligenzja, in der Aufnahmegesellschaft vollständig entwertet werden. Die Notwendigkeit, Widersprüche der eigenen Biografie vor und nach der Auswanderung zu bewältigen und darin Loyalitäten zu mehreren Geschichten aufrechtzuerhalten, führt nicht selten zu »Paradoxien in den gelebten Wir-Bezügen«.24 24 Roswitha Breckner, Ambivalente Wir-Bezüge in ost-west-europäischen Migrationsbiographien. Konstruktionen kollektiver Zugehörigkeit in gesellschaftlichen Polarisierungsprozessen, in: Sozialer Sinn, 1,6 (2005), S. 86.

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Insbesondere die erste Generation der Eingewanderten, unter denen viele zum Zeitpunkt der Migration bereits älter als 40 Jahre waren, erlebt diesen Wechsel als einen konflikthaften Prozess. Viele von ihnen blicken auf einen erfolgreichen beruflichen Werdegang in der Sowjetunion zurück, der mit dem Grenzübertritt an Anerkennung verloren hat und nun zu einer Quelle der Frustration wird, da der berufliche Einstieg oftmals nicht gelingt oder unterhalb der eigenen Qualifikation verbleibt. Die fachliche Dequalifizierung verbindet sich zusätzlich mit der Erfahrung von Vorurteilen, wie sie etwa der Bauingenieur Mischa beobachtet: »Viele denken, dass wir aus einem zurückgebliebenen Land kommen, wo alles verboten war und alle natürlich vom Wodka betrunken waren. Wenn du sagst, du bist ein Ingenieur, denken viele: ein zurückgebliebener Ingenieur.« Auch die Zugehörigkeit zur sowjetischen Intelligenzja weckt in der deutschen Aufnahmegesellschaft wenig Interesse und kann nicht zur Partizipation der Migrant_innen am Leben in Deutschland beitragen. Tatsächlich müssen die russischsprachigen Juden erfahren, dass ihre Identifikation mit der russischen Hochkultur mit dem Grenzübertritt doppelt infrage gestellt wird und an Wert verliert. Der Stolz darauf, ein gebildetes Russisch zu sprechen und über einen entsprechenden Bildungskanon zu verfügen, bleibt selbstbezüglich, wenn dieses kulturelle Wissen außerhalb der eigenen Gruppe keinerlei soziale Bedeutung hat und dementsprechend keinen Statusgewinn in der Aufnahmegesellschaft verspricht. Zudem dominiert in der Mehrheitsbevölkerung das negative Stereotyp der »neuen« und vor allem neureichen Russen, die gerade nicht mit Bildung, sondern mit Geld assoziiert werden, und mit denen die Eingewanderten nichts zu tun haben wollen. Der Wechsel vom Sozialismus in ein kapitalistisches System ruft ebenfalls gemischte Gefühle hervor. Mit dem Zerfall der Sowjetunion ist eine Quelle des kollektiven Stolzes versiegt, nämlich ein Teil  des sowjetischen Großimperiums zu sein. Das Scheitern des sozialistischen Systems hat Folgen für den Blick zurück. Retrospektiv dominiert das desillusionierte Gefühl, betrogen worden zu sein: »Wie wurden wir das ganze Leben belogen, unendliche Lügen!« Gleichzeitig gehörte zu den Verheißungen einer verwirklichten kommunistischen Gesellschaft das Versprechen von materiellem Wohlstand. Dieses Versprechen wird wenigstens teilweise mit dem Ankommen im kapitalistischen Westen erfüllt. Die ambivalenten Reaktionen der Migrant_innen auf den in Deutschland erlebten Überfluss an Konsummöglichkeiten lösen sich positiv an den Orten auf, an denen die neue Wirtschaftsordnung nun Zugang zu Waren ermöglicht, die die »alte Ordnung« symbolisch repräsentieren. Im russischen Lebensmittelgeschäft können sie aus Russland oder der Ukraine eingeführte Schokolade kaufen, etwa Bonbons, die »Puschkin.­ Evgenii Onegin« und »Bolshevik« heißen, oder die Kekse »Jubiläum« und »Karl Marx« sowie Schokolade mit dem Namen »Rot Front«. Eine Interview-

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partnerin kommentiert den Konsum der importierten Süßigkeiten mit den Worten, sie freue sich darüber, »mindestens den Geschmack vom kommunistischen Traum im Kapitalismus zu probieren!« Selbst die jüdische Herkunft, die für die russischsprachigen Juden ja das Recht auf Einreise begründet, gerät im Zuge der Immigration nach Deutschland in Misskredit. Die jahrzehntelangen Erfahrungen von Diskriminierung und Antisemitismus und die Unterdrückung der jüdischen Religion und Tradition haben bei den Betroffenen das oft schmerzhafte Gefühl hervorgerufen, »am falschen Ort in der falschen Haut geboren zu sein«. Mit dem Grenzübertritt werden diese Verletzungen unsichtbar, und es entsteht der Eindruck, dass die Migrant_innen ihre jüdische Herkunft rein instrumentell als »Ausreiseticket« begreifen würden. Die jüdische Geschichte einer erzwungenen Entfremdung im sowjetischen System wendet sich erneut gegen die Immigrierten, die in den jüdischen Gemeinden Deutschlands nun zu »echten Juden« gemacht werden sollen und deren eigene Formen von Jüdischsein nicht anerkannt werden. Zu ihrem Selbstverständnis gehört beispielsweise das Narrativ des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland, das für die russisch-jüdischen Migrant_innen der ersten Generation eine Ressource kollektiver Stärke darstellt. Dieses Narrativ wird nun mit der Einwanderung nach Deutschland stark relativiert. Der jüdische Beitrag zum sowjetischen Sieg wird von den alteingesessenen Juden mit Skepsis betrachtet, da sich die Aufmerksamkeit vor allem darauf richtet, dass die sowjetische Politik die Erinnerung an den Holocaust verschwiegen und verboten hat. In den Interaktionen mit den alteingesessenen Juden werden die russischsprachigen Juden dementsprechend damit konfrontiert, dass das Siegernarrativ eher als »Narrativ der anderen« und nicht als Narrativ des jüdischen Kollektivs gesehen wird. Was in den Augen der Alteingesessenen dementsprechend einen Widerspruch bedeutet, fügt sich in der Selbstwahrnehmung der Eingewanderten selbstverständlich zusammen: Sie gedenken der Ermordung von jüdischen Familienangehörigen in Babi Jar und begehen am 9. Mai den Tag des Sieges.

Bild und Wort Als Adam Medaber (Hebräisch: sprechender Mensch), der sich von allen anderen Wesen durch die Fähigkeit zu sprechen unterscheidet, tragen wir eine besondere Verantwortung dafür, welche Kategorien wir in die Welt bringen. Die sprachlich erlernten und reproduzierten Assoziationsketten sind stark kulturell geprägt. Demgegenüber scheinen bildliche Darstellungen in vielerlei Hinsicht kulturübergreifend zu sein. Bei der Betrachtung von Linien,

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Farben und Flecken, so möchte ich behaupten, wird ein gemeinsamer Raum zwischen dem Bild und den Zuschauer_innen erzeugt: So werden bei den Zuschauern subjektive Assoziationen, Erinnerungen und Bilder der eigenen Lebenserfahrung angesprochen, sie können auf eigene Weise die Verbindung zum Bild finden und sich im Dargestellten wiedererkennen. Bildliche und verbale Sprachen konstruieren unsere gesellschaftliche Welt auf je besondere Art und Weise. Mein Vorschlag, Wort und Bild zu kombinieren, soll helfen, die kulturelle Fremdheit zu überwinden, Hierarchien zu brechen und einen persönlichen Bezug zu der scheinbar unüberbrückbaren Distanz zu dem anderen herzustellen. Somit entsteht die Möglichkeit, in anderen uns selbst als einzigartige Individuen zu erkennen, statt dass wir sie stereotyp als »kulturell andere« konstruieren und ausschließen. Die Kombination aus Bild und Text versteht sich insofern als Versuch einer adäquaten, alternativen, sinnlichen Form der zwischenmenschlichen Kommunikation. Eine solche schafft neben einem rationalen, argumentativen Zugang auch und gerade Raum für emotionale und assoziative Ausdrucksmöglichkeiten. Es ist eine Suche nach einem gemeinsamen Raum, in dem grundlegende Ähnlichkeiten die Menschen miteinander verbinden und alle Interaktionspartner zusammen eine neue lebendige Erfahrung machen können.

Literatur Adams, Tony E./Holman Jones, Stacy, Autoethnography is Queer, in: Norman K. Denzin/Lincoln, Yvonna S./Smith, Linda T. (Hg.), Handbook of Critical and Indigenous Methodo­ logies, Thousand Oaks 2008, S. 373–390. Basch, Linda/Glick Schiller, Nina/Blanc-Szanton, Cristina, Nations Unbound: Transnational Projects, Postcolonial Predicaments, and Deterritorialized Nation-States, Langhorne 1997. Bernstein, Julia, Food for Thought. Transnational Contested Identities and Food Practices of Russian-speaking Jewish Migrants in Israel and Germany, Frankfurt am Main/New York, 2010. Bhabha, Homi, The Location of Culture, New York 1994. Bodnar, John, The Transplanted: A History of Immigrants in Urban America, Bloomington/ Indianapolis 1985. Breckner, Roswitha, Ambivalente Wir-Bezüge in ost-west-europäischen Migrationsbiographien. Konstruktionen kollektiver Zugehörigkeit in gesellschaftlichen Polarisierungsprozessen, in: Sozialer Sinn, 1,6 (2005), S. 71–92. Cousin, Glynis/Fine, Robert, A Common Cause: Reconnecting the Study of Racism and AntiSemitism, in: European Societies, 14,2 (2012), S. 166–185. Davis, Kathy, Dancing Tango: Passionate Encounters in a Globalizing World, New York 2015. Ellis, Carolyn. The Ethnographic I: A Methodological Novel about Autoethnography, Walnut Creek, 2004. Golden, Deborah, Belonging Through Time: Israelis, Immigrants, and the Task of NationBuilding, London 1996. Golden, Deborah, Belonging Through Time: Nurturing National Identity among Newcomers to Israel from the Former Soviet Union, in: Time and Society, 11,1 (2002), S. 5–24.

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Julia Bernstein

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Julia Bernstein ist Kulturanthropologin, Soziologin und Künstlerin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migrationsprozesse durch Transnationalisierungsperspektiven, Identitätsfragen im gesellschaftlichen Wandel, materielle Kultur, Identitätsfragen sowie Stereotypisierungs- und Ethnisierungsprozesse. Sie ist Professorin im Fachbereich Soziale Arbeit an der University of Applied Sciences in Frankfurt am Main, mit Schwerpunkt Erforschung der Ungleichheiten und Diskriminierungserfahrungen. Bernstein hat Soziologie und Kulturanthropologie an der Universität Haifa in­ Israel studiert und am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Frankfurt am Main promoviert. [email protected]

Dmitrij Belkin

Wir könnten Avantgarde sein Die Zukunft des Patchwork-Judentums*

Jahrzehntelang befanden sich die Jüdinnen und Juden hier inmitten eines großen Minenfelds. Eigentlich war das bis gestern noch so: »Keine Normalität im Land des Holocaust«, »unmögliche Heimat« oder »fragile Normalität« sind schnell zusammengesuchte Slogans und Buchtitel der vergangenen fünfzig Jahre. Sie zeigen, nichts ist im deutsch-jüdischen Nebeneinander nach dem Holocaust normal. Wenn man dazu noch einige Stereotype der Deutschen stellt, wird die Paradoxie noch eindeutiger: »Judenknacks«, »die Unfähigkeit zu trauern« oder »Holocaustkeule«. Einem Gast aus der Fremde würde all das als klares Indiz für die Notwendigkeit einer Gruppentherapie vorkommen, eine riesige gesamtdeutsche Familienaufstellung. In Sommer 2014 kam es während des Gaza-Kriegs zu einer akuten Verschlechterung des Gesundheitszustands. Eine gewöhnliche Therapie scheint nach den jüngsten antisemitischen Ausschreitungen und einer mächtigen Verunsicherung der jüdischen Gemeinschaft kaum noch auszureichen. Müssen jetzt beide, Juden und Deutsche, doch wieder getrennt statt gemeinsam auf die Couch? Also alles wie gehabt? Hoffentlich nicht! Eine jüdische Gemeinschaft hätte es hier nach dem Holocaust nicht geben dürfen. Rund 300.000 deutsche Juden wurden deportiert und getötet; über fünf Millionen Juden vor allem im östlichen Europa umgebracht. Dennoch: Deutschland hat am Ende des 20. Jahrhunderts die in Europa am stärksten wachsende jüdische Gemeinschaft. Zu den hier lebenden 25.000 bis 28.000 sind von 1990 bis 2005 noch einmal circa 250.000 Jüdinnen und Juden und ihre (oft nichtjüdischen) Familien aus dem untergegangenen Sowjetreich dazugekommen. Sie machen heute zwischen 85 und 100 Prozent der Gemeinden aus und werden vom Zentralrat der Juden in Deutschland repräsentiert. Ein Zentralrat, der 1950 gegründet wurde und in dessen führenden Gremien Juden aus der ehemaligen UdSSR noch immer kaum vertreten sind.

* Dieser Beitrag ist eine leicht modifizierte Fassung der Titelgeschichte des Freitag vom 13.9.2014..

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How could they? »How could they?«, diese Frage hat der US -amerikanische Historiker Zvi Gitel­man im Rahmen einer Ausstellung in Frankfurt über diese »russisch«jüdische Einwanderung nach Deutschland gestellt.1 Und diese Frage steht weiterhin im Zentrum: Wie konnten wir Sowjetbürger, auch ich bin einer von ihnen, nach allem, was geschehen ist, ins Land der Täter kommen? Warum nicht Israel oder die USA? Im Gegenteil: 2002 zogen zum ersten Mal rund tausend Juden mehr nach Deutschland als nach Israel. Und etwa 20.000 Israelis leben heute in Berlin. Das geschah freilich nicht ohne die Dramatik einer Zäsur: »Mit der Zuwanderung der Juden aus der vormaligen Sowjetunion ist die Geschichte der bundesrepublikanischen Juden an ihr Ende gelangt«, sagte der Historiker Dan Diner einmal.2 Das war im europäischen Zusammenhang wichtig. Die weltweite Abgrenzung der Juden »zu allem, was mit Deutschland zu tun hatte« erfuhr durch diese Einwanderung eine Entwicklung, deren Ergebnis noch nicht abzusehen ist. Die aber – so viel ist klar – die bisherige jüdische Weltwahrnehmung nach der Schoa massiv infrage stellte. Man nannte uns allgemein und sicher auch ein wenig abschätzig »die Russen«  – im Nachhinein ist das auch angesichts des aktuellen Konflikts zwischen Russland und der Ukraine unvorstellbar. Als wir in den 1990er Jahren mit dem jüdischen Ticket als sogenannte Kontingentflüchtlinge – einem Status, der zunächst für die vietnamesischen Boat People gedacht war – hier landeten, wusste der deutsche Staat nicht richtig, wohin mit uns. Die Deutschen wussten direkt nach der Wiedervereinigung vor allem nicht richtig, wohin mit sich selbst. Aber auch umgekehrt galt: Ein Nachdenken über die Möglichoder Unmöglichkeit eines Lebens als Juden in Deutschland war für uns nicht von allergrößter Relevanz. Die Eingewanderten hatten zu Hause die End­ station des Zumutbaren bereits gesehen und nahmen die Schwierigkeiten des Lebens hier eher als harmlos wahr. Dort, wo wir herkamen, gab es buchstäblich nicht viel zu essen (deswegen ist es nicht klug, wegen der wenig liebevollen Bezeichnung dieser Einwanderung als »Wurst-Emigration« beleidigt zu sein). Die Gefahren waren nicht psychologischer, nicht mentaler, sondern ganz konkreter, nämlich krimineller oder bürgerkriegsartiger Natur. Wachsender Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit, neue Nationalismen in den ex-sowjetischen Republiken, die 1 Zvi Y. Gitelman, Wie konnten sie nur? Jüdische Immigranten aus der Sowjetunion in Deutschland, in: Dmitrij Belkin/Raphael Gross (Hg.), Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik, Berlin 2010, S. 21–24  2 Dan Diner, Deutsch-jüdisch-russische Paradoxien oder Versuch eines Kommentars aus Sicht des Historikers, ebenda, S. 18.

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die komplette vorherige Geschichte umzudefinieren versuchten. Wie auch immer, es schien nicht mehr weiterzugehen. Auch wenn das mit der heutigen Situation in der Ostukraine natürlich nicht zu vergleichen ist. »Wisst ihr, wie unmöglich und  STRANGE dieses Post-Nazi-Deutschland ist«, sagten uns die alteingesessenen Juden zur Begrüßung. Sie meinten die psychologische Unmöglichkeit, die Straßen, Restaurants und Büros mit den Nachfolgern der Täter zu teilen oder sie als Nachbarn zu haben. Wir aber lachten nur. »Seid ihr überhaupt Juden?«, fragten sie uns und meinten die nahezu vollständige Abwesenheit eines traditionellen religiösen Backgrounds in den Lebensläufen und Köpfen. »Lasst uns mit euren Komplexen und eurem religiösen Zeug in euren verschlossenen Gemeinden in Ruhe«, schienen wir zu antworten, ohne das freilich zu sagen. Die Werte, die Erwartungen und die Ängste der alten und uns neuen deutschen Juden waren und sind noch immer sehr unterschiedlicher Natur. Keine der beiden Seiten hat damals Harmonie angestrebt. Aber die Öffentlichkeit sah: Dass die Juden wieder bereit sind, in das Land der Täter einzureisen, könnte ein Zeichen des Vertrauens in ein neues Deutschland sein. Im Jahr 2002 wurde ein neuer Staatsvertrag zwischen dem Zentralrat und der Bundesregierung abgeschlossen, der ein bedeutendes Bekenntnis zu einem neuen Judentum und seiner finanziellen Unterstützung markierte. In den vergangenen zwanzig Jahren wurden viele symbolisch wichtige Räume, Kulturzentren, Sakralbauten, Museen, Begegnungsstätten rekonstruiert oder wurden Mahnmale wie das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin neu gebaut. Der Holocausttourismus wurde in Deutschland zu einem Markenzeichen der Globalisierung. Einer dieser Bauten ist die 2010 eröffnete Neue Synagoge in Mainz, die anstelle der 1938 zerstörten errichtet worden ist. Es gibt in dieser Synagoge keine klassischen Räume, alles wackelt und bewegt sich leicht: Unter dem Einfluss des US -amerikanischen Stararchitekten Daniel Libeskind, der auch das Jüdische Museum in Berlin entwarf, wollte der deutsche Architekt Manuel Herz die Fragilität der jüdischen Existenz zum Ausdruck bringen. »Ich kann mich hier kaum bewegen«, beschwerte sich prompt ein postsowjetisch-jüdischer Kriegsveteran. Die Projektionen, die Schuldgefühle der Deutschen kollidierten also auf beinahe ironische Weise mit dem Leben.

Verschiedene Erinnerungen Heute, 25 Jahre nach dem Beginn der jüdischen Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland, muss man feststellen: Das jüdische Leben geht weiter – aber in neuer Gestalt. Die ungefähr 108 Gemeinden haben

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heute rund 110.000 Mitglieder. Weit mehr als die Hälfte der Einwanderer sind jedoch gar keine Gemeindemitglieder, weil sie entweder Juden väterlicherseits und nach dem religiösen Gesetz damit keine Juden sind; oder weil sie schlicht nicht willens sind, in eine Gemeinde einzutreten. Auch wahren die Einwanderer andere Erinnerungen. Unser Gedenktag ist der 9. Mai, der Tag des Siegs im Zweiten Weltkrieg, dem »Großen Vaterländischen Krieg«. Jener Tag, an dem wir als Schüler in den ukrainischen, weißrussischen und russischen Städten bereits morgens mit roten Nelken vor den Türen der Veteranen standen und gratulierten. Das Weiterleben wurde dort zelebriert, indem man der 25 Millionen nichtjüdischen und jüdischen sowjetischen Gefallenen gedachte. Der 9. November aber, Gedenktag an die Reichspogromnacht 1938, stellt für die meisten Einwanderer gerade nicht den Kern ihrer Erinnerung dar. Das hat viele Gründe. Es mag mit den verschiedenen Erinnerungskulturen zu tun haben. Die staatliche sowjetische schloss die Reue und Schuld der eigenen Gesellschaft praktisch aus. Es mag aber auch mit den ziemlich erstarrten staatlichen Gedenkritualen hierzulande zusammenhängen, bei denen den Juden die Rolle der geschätzten symbolischen Statisten, die Rolle der Opfer, zufiel. Diese Rituale haben nicht alle Neuankömmlinge begeistert. So kamen, wie der Sozialwissenschaftler Mischa Gabowitsch gezählt hat, am 9.  Mai 2004 mehr als 13.000 Besucher und Besucherinnen zum Sowjetischen Ehrenmahl im Berliner Treptower Park.3 Wie viele von ihnen waren Jüdinnen und Juden? Vielleicht die Hälfte, vielleicht mehr? Viele Soldatengeschichten, die man dort neben rührenden alten Fotos und Tausenden von Blumen lesen konnte, waren russischen, ukrainischen, weißrussischjüdischen Ursprungs. Diese Erinnerung gibt es in den Geschichten der deutschen Holocaustopfer, die jährlich in den Synagogen von den Enkelkindern am Holocaustgedenktag Jom ha-Shoa erzählt werden, nicht. Man erzählt von der Zerstörung des Lebens in Deutschland oder Polen, von den Verfolgungen, Deportationen oder vom Überleben mit einem unheilbaren Trauma. Diese Geschichten, die in Frankfurt am Main, Düsseldorf oder München von den Kindern weitererzählt werden, haben mit den sowjetischen nicht viel zu tun. Aber was ist mit den fast komplett ausgerotteten Familien in den weißrussischen und ukrainischen Dörfern? Den Zehntausenden Erschossenen in den Parks und Wäldern der ukrainischen Städte? Den Gettos in den okkupierten sowjetischen Städten? Den Evakuierungen jener Glücklicheren, die überlebt, aber alles verloren haben? Diese Geschichten werden zwar in den postsowjetischen Staaten zunehmend erzählt, aber sie fanden bisher nur wenig Zu3 Am 9.5.2015, dem 70. Jahrestag des Kriegsendes, zählten Gabowitsch und sein Team mehr als 40.000 Besucher_innen im Treptower Park.

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gang zu den hiesigen Gemeinden. Hier wird das Denken über »Sieger« und »Opfer« noch immer parallelisiert und kaum vermischt. Eine gemeinsame Sprache der Erinnerung existiert in der jüdischen Gemeinschaft nicht. Noch nicht. Andererseits wurde Deutschland genau deshalb nach dem Mauerfall zu einem europaweit einmaligen Sammelsurium jüdischer Erzählungen, Tragödien und Realitäten. Völlig egal, ob Gemeindemitglied oder nicht. Es ist also ein Patchwork-Judentum mit vielen Unterschieden und Widersprüchen entstanden, das man nicht mehr ignorieren kann und für das es neue politische, religiöse und kulturelle Ausdrucksmittel geben muss. Aber welche sind das oder könnten das sein? Es mag viele überraschen, aber ja, eine größere Öffnung gegenüber Nichtjüdinnen und Nichtjuden müsste her. Mentale, identitäre, familiäre, religiöse Mischformen, intermarriages und gleichgeschlechtliche Ehen, Konversionen, all das gehört im heutigen deutschen Judentum de facto bereits zur Normalität und wird dennoch nur ungern zugegeben. Stattdessen herrscht noch immer jene alte Angst vor einem »Untergang des Judentums«. Diese Angst zu überwinden, könnte ein erster Schritt zu dieser Öffnung sein. Er würde sich nach innen vollziehen müssen und könnte dann nach außen strahlen.

Drei jüdische Biografien Ich möchte Ihnen drei Frauen vorstellen: Johanna Korneli, Yulia Polyntseva und eine junge Israelin, die anonym bleiben will. Sie stehen für dieses neue Patchwork-Judentum. Wie so oft in der jüdischen Tradition wird die Rolle der Frauen zwar anerkannt und hoch geschätzt, die Frauen selbst spielen in der Realität aber immer noch eine untergeordnete Rolle. Die Debatten und Diskurse um die deutsch-jüdische Nachkriegsgeschichte wurden von Männern geführt und geprägt. Das ist alles andere als gerecht. Johanna Korneli ist 31 Jahre alt, stammt aus Ostberlin, ist Sozialwissenschaftlerin, war nichtjüdische Absolventin des jüdischen Moses-Mendelssohn-Gymnasiums in Berlin und langjährige Mitarbeiterin des American­ Jewish Committee. Die Mutter zweier Kinder, darunter ein Sohn mit einem Juden, fühlt sich in vielerlei Hinsicht jüdisch. Aber: Sie möchte nicht zum Judentum konvertieren. »Entweder gehört man dazu oder nicht«, sagt sie. »Dass ich seit meinem zwölften Lebensjahr die jüdische Tradition immer besser beherrsche, viel besser als mancher meiner jüdischen Freunde«, ist »typisch und komisch« zugleich. Johanna hat die Wende im geschützten Raum einer jüdischen Schule relativ problemlos überstanden. Sie fühlte sich dort weniger in den Ruinen der DDR als vielmehr in einem exterritorialen Israel: »Wir haben alle Davidsterne

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getragen, fühlten uns wie coole Israelis, ohne uns in jüdisch/nichtjüdisch zu trennen. Wir haben uns nur gewundert, dass die Russinnen in der Klasse sich stark schminkten, aber das war alles ganz okay.« Viele Deutsche glauben ja, dass eine Beschäftigung mit dem Judentum fast automatisch zu einem philosemitischen Zionismus führe müsse, aber damit kann Johanna wenig anfangen, eher ist eine kritische linke Perspektive auf Israel die ihre: »Allerdings mit einem starken Radar. Solche Gespräche kippen schnell in einen Antisemitismus, vor dem mir graut.« Sie passt auf, »wo Differenzierung und berechtigte Kritik enden und Antisemitismus beginnt«. Johannas Vater ist streng katholisch, die Großmutter und Mutter sind Agnostiker. Sie selbst sei »weder getauft noch sonst was«. Die von ihr verehrte Oma, die zu heute noch »Aktuelle Kamera« sagt, hält Religion für eine Geisteskrankheit. Aber ihr Sohn, wird der eines Tages Teil der jüdischen Gemeinschaft sein? »Ich weiß es nicht«, sagt Johanna. Bei der Brit Mila, der Beschneidung, im jüdischen Krankenhaus, waren neben ihr und dem Kindsvater auch der jüdische Großvater anwesend. Als der Arzt fragte, ob man eine Bracha, ein Kurzgebet, lesen wolle, rief jedenfalls einer der Männer: Ja! Und der andere rief: Nein! Yulia Polyntseva hat viel vor. Die 32-jährige Juristin aus Münster möchte in der Ukraine die Geburtsurkunde ihrer Oma mütterlicherseits oder andere Dokumente finden, die sie als Jüdin bestätigen und eine Mitgliedschaft in einer Gemeinde ermöglichen würden. Yulia kam erst 2005 als Au-pair nach Deutschland. Ihre Oma wiederum konnte sich 1941 aus der Ukraine gerade noch vor den Nazis nach Sibirien retten. Aufgewachsen ist Yulia in einem jedem Sowjetkind bekannten Dorf: Schuschenskoje, dort hatte Wladimir Iljitsch Lenin jahrelang in der Verbannung gelebt. Yulias Mutter sagte immer: »In erster Linie soll man ein Mensch sein, und erst dann ein Russe, Jude, Deutscher oder so.« Yulia findet das auch und reagiert skeptisch, wenn Juden mit Menschen, die Juden kritisieren, nichts zu tun haben wollen. Sie glaubt nicht an eine Zukunft der jüdischen Gemeinde in Deutschland. Die Jungen wollen zwar unbedingt ihr Jüdischsein leben, nach Israel reisen, mit anderen Juden zusammen sein – doch das alles nicht zwingend in der Gemeinde. Aber sollte sie die Dokumente der Oma finden, würde sie trotzdem in eine Gemeinde eintreten wollen. Und hoffen, dass auch andere dort ihren Platz finden. »The idea of being Jewish is charged with different, sometimes contradicting meanings«, erzählt S.: Die Idee, jüdisch zu sein, ist aufgeladen mit verschiedenen, manchmal widersprüchlichen Bedeutungen. Die Sozialwissenschaftlerin ist 29, stammt aus Israel und lebt seit vier Jahren in Berlin. S. praktiziert keine Religion. »Aber ich bin als Nachkomme einer aus Rumänien stammenden Familie von Überlebenden eng mit dem Jüdischsein ver-

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bunden. Und Israelin.« Dabei ist es für sie hier einfacher und angenehmer. In Deutschland wird sie in erster Linie als Person, in Israel aber als Frau gesehen, die Soldaten zur Welt bringen soll. S. lehnt das von Benjamin Netanjahu oft propagierte Prinzip »Wir-reagieren-auf-eure-Gewalt-mit-noch-mehr-Gewalt« ab, das viele Israelis unterstützen, und spricht bewusst vom Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung. Das Deutschlandbild, mit dem sie aufwuchs, war das eines Landes, »aus dem das absolut Böse entstand«. Der Holocaust. Dieses Bild hat sich nun stark verändert. S. liebt Berlin, ihr Leben mit nichtjüdischen und jüdischen Freunden, auch wenn sie durchaus mit dem Gedanken einer Rückkehr nach Israel spielt.

Über Ignatz Bubis Diese drei Biografien zeugen von einer empathischen Offenheit gegenüber Deutschland. Sie entziehen sich dem, was viele über Juden zu wissen glauben; sie widersetzen sich aber auch den Erwartungen der jüdischen Community. Diese Projektionen und falschen Wahrnehmungen sind im Sommer 2014 noch einmal erfolgreich in Erscheinung getreten. Wieder wurden »die Juden« für den Nahostkonflikt verantwortlich gemacht, wieder wurden »die Juden« zu einer Einheit geformt. Die Frauen hingegen denken offen, kritisch, auch selbstkritisch und unvoreingenommen über das nach, was mir bei einer Diskussion über das Judentum in Deutschland wichtig erscheint: individuelle Wahrnehmung und ein Verzicht auf Pauschalisierungen. Ignatz Bubis lebte von 1927 bis 1999, er war Präsident des Zentralrats und die wichtigste politische Figur des deutschen Judentums nach dem Holocaust. Bubis wollte nicht in Deutschland begraben werden. Er hatte Angst, dass sein Grab hier, wo der Antisemitismus nicht nachließ, beschädigt würde. Als eine tragische Ironie der Geschichte hat dann ein psychisch gestörter Mann sein Grab tatsächlich beschädigt, aber nicht in Frankfurt am Main, wo er gelebt hatte, sondern in Tel Aviv. Bubis verwirklichte während seiner letzten Lebensjahre ein etwas surreal anmutendes Projekt. Er gab seine Immobiliengeschäfte nahezu komplett auf, nannte sich ganz im Stil des späten 19. Jahrhunderts einen »deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens« und reiste quer durchs Land, besuchte selbst die winzigsten Städte und erzählte, erzählte, erzählte. Die Leute hörten dem charismatischen und witzigen Mann gern zu, applaudierten lebhaft und lachten. Was nicht viele damals bemerkt haben: Bubis übernahm auf diese Weise Verantwortung. Er brach die langjährige Verschlossenheit der Juden, die »im Land der Mörder« lebten, auf, ohne die jüdische Gemeinschaft zu verlassen, und ging auf die Deutschen zu. Einmal erzählte er, dass man ihn oft gefragt

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habe, was sein Präsident dazu sagen würde. Freilich meinte man damit den israelischen Präsidenten. Bubis aber antwortete gelassen: »Mein Präsident ist der Bundespräsident.«

Eine andere Agenda Diese Anekdote schien mir damals etwas banal, heute nicht mehr. Wir sind 15 Jahre nach seinem Tod nicht weiter, auch wenn sich Bubis in seinen schlimmsten Albträumen nicht hätte vorstellen können, dass hier »Hamas, Hamas! Juden ins Gas!« gerufen würde. Natürlich ist weiterhin besondere Vorsicht im Umgang mit Deutschland und den politischen, medialen und erinnerungspolitischen Vorgängen geboten, der Antisemitismus ist immer noch da. Auch sind die Traumata der Großeltern und Eltern noch immer da; sie werden weitergetragen werden müssen, einfach weil sie zu unserer Geschichte und der Geschichte Europas dazugehören. Doch diese Leidensgeschichten dürfen nicht instrumentalisiert werden. Sie könnten uns Jüdinnen und Juden vielmehr helfen, eine Art Avantgarde zu sein, um gesellschaftliche Vorurteile abzubauen und Aufklärungsprozesse voranzutreiben. Sie sollten uns anspornen, auch vor wahrscheinlichen Rückschlägen nicht zurückzuschrecken. Das wäre doch eine Agenda: Wir übernehmen eine wachsame Verantwortung für gesellschaftliche und politische Vorgänge, vor allem bei der Bekämpfung von Antisemitismus, Intoleranz und anderen Ungerechtigkeiten. Wir haben die Chuzpe und hören damit auf, selbstreferenziell und narzisstisch im Saft der eigenen Ängste und Unsicherheiten zu schmoren. Das betrifft auch die Frage nach der Rolle der Gemeinden. Sie werden in den Augen junger Leute erst dann wieder eine vernünftige Chance haben und attraktiv sein, wenn das Judentum von ihnen nicht mehr abgekapselt und ex negativo konstruiert wird, sondern wenn sich die Gemeinden den kulturellen, religiösen und politischen Herausforderungen von heute stellen. Und gleichzeitig eine demythologisierte jüdische Tradition aufbewahren, wobei aufbewahren in diesem Fall eine deutlich größere Vertrautheit mit der eigenen (Religions-)Geschichte und Praxis bedeutet. Nach wie vor ist in Deutschland nichts normal, was das Jüdische angeht. Über zwanzig Prozent der Deutschen sollen latent antisemitisch sein. Viele wissen bis heute nicht, ob man Jude laut sagen darf, ohne sich zweimal umzudrehen, und man schafft es leider nicht, jedem persönlich zu sagen: Man darf das, Jude ist kein schlimmes Wort! Gleich ob man die jüdischen Zentren oder Synagogen aufsucht oder diese eher meidet – ihre halbwegs sichere Existenz ist heute mehr denn je lediglich mit polizeilicher Präsenz und meist mit einem internen Sicherheitsdienst zu gewährleisten. Das ist beschämend und

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traurig. Auch gibt es noch heute für viele Jüdinnen und Juden, in denen das Trauma des Verlusts nicht heilen will, einen legitimen Grund, unter sich bleiben zu wollen oder sich auf die Couch eines Psychoanaly­tikers zu begeben. Getrennt von jenen Deutschen, die neulich mit der Serie »Unsere Mütter, unsere Väter« ihre etwas seltsamen, kollektiven Therapiestunden bekamen. Man wird sich auch damit abfinden müssen, dass das jahrzehntelang staatskirchenrechtlich ausprobierte erfolgreiche Modell der Einheitsgemeinde keine Exklusivität behalten wird; dass sich weitere Gemeinden und Gruppen bilden werden, die über einst gemeinsame Narrative wie das jener »gepackten Koffer im Land der Täter« nicht mehr funktionieren. Doch zu wünschen ist, dass in einem offenen Deutschland das Humane, Humanitäre und Gerechte an Bedeutung gewinnt. Und dass Jüdinnen und Juden bewusste Citoyens und wichtige Akteure in diesem Prozess bleiben. Wir müssen unseren Opferstatus ablegen. Denn wer sich als Opfer definiert, hat Schwierigkeiten, Frieden zu schließen. Das ist nicht als eine weitere therapeutische Maßnahme gedacht, sondern sollte als eine politische und menschliche Notwendigkeit verstanden werden. Betätigungsoptionen gibt es viele. Wir, Juden und Nichtjuden, sollen weiterhin bewusst eine differenzierte Stimme gegen den Antisemitismus erheben. Doch vergessen wir nicht: Auch die Ohlauer Straße in Berlin-Kreuzberg mit ihrer »Flüchtlingsschule« liegt inmitten eines europäischen Deutschlands.

Literatur Diner, Dan, Deutsch-jüdisch-russische Paradoxien oder Versuch eines Kommentars aus Sicht des Historikers, in: Belkin, Dmitrij/Gross, Raphael (Hg.), Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik, Berlin 2010. Gitelman, Zvi Y., Wie konnten sie nur? Jüdische Immigranten aus der Sowjetunion in Deutschland, in: Belkin, Dmitrij/Gross, Raphael (Hg.), Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-rus­ sische Einwanderung in die Bundesrepublik, Berlin 2010, S. 21–24.

Dmitrij Belkin, Historiker, Ausstellungsmacher, Publizist. Studierte Geschichte und Philosophie in Dnepropetrowsk und Tübingen, wo er auch promovierte. Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in Tübingen und Frankfurt, deutsch-russischjüdische Ideengeschichte als akademischer Schwerpunkt. Forschungsaufenthalt in den USA, Stipendien an der NYU und Harvard University. Kurator im Jüdischen Museum Frankfurt, Ausstellungen »Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik«, »Bild dir dein Volk! Axel Springer und die Juden«. Seit 2014 ist er Referent beim Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk – Jüdische Begabtenförderung in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen in der gesamtdeutschen Tagespresse. [email protected]