Randgruppen im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 [1 ed.]
 9783428479672, 9783428079674

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ANKE BREITENBORN

Randgruppen im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794

Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Herausgegeben im Auftrag der Preußischen Historischen Kommission, Berlin von Prof. Dr. Johannes Konisch

Band 6

Randgruppen im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794

Von

Anke Breitenborn

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Breitenborn, Anke:

Randgruppen im Allgemeinen Landrecht für die Preussischen Staaten von 1794 I von Anke Breitenbom. Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Quellen und Forschungen zur brandenburgischen und preussischen Geschichte ; Bd. 6) Zug!.: Köln, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-07967-1 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0943-8629 ISBN 3-428-07967 -I Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Norm für Bibliotheken

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im November 1993 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde. Erstgutachter war Prof. Dr. phil. Johannes Kunisch, Zweitgutachter Prof. Dr. jur. Klaus Luig. Das Rigorosum fand am 13.11. 1993 statt. Meine Absicht war, in einer integrativen Gesamtschau Elemente der historischen Entwicklung des heutigen Verhältnisses unserer Gesellschaft zu ihren Randgruppen darzustellen, und zwar am Beispiel einer juristischen, also normativen Quelle, in der sowohl der tatsächliche Zustand einer Gesellschaft als auch Zielvorgaben - wenn auch in ihrer Gewichtung nicht bis ins Letzte bestimmbar - gleichermaßen zum Ausdruck kommen. Auf dieser Basis mußte auf die Darstellung von Details in vielen Fällen zugunsten der Konturierung allgemeinerer Entwicklungslinien verzichtet werden. Ich hoffe aber, mit der Untersuchung einen Beitrag zum Verständnis geleistet zu haben, wie einerseits soziale, geistesgeschichtliche, rechtliche und wirtschaftliche Bedingungen einer Gesellschaft ineinandergreifen und wie sehr andererseits unsere heutige Gesellschaft gerade auch in der komplizierten Wechselwirkung ihrer einzelnen Elemente noch insbesondere durch die im 18. Jahrhundert entstandenen Grundlagen geprägt wird. Zu danken habe ich der Studienstiftung des deutschen Volkes, die mir mit einem Promotionsstudium die Abfassung der Arbeit ermöglicht hat, sowie den beiden Gutachtern Professor Dr. Johannes Kunisch und Professor Dr. Klaus Luig, die meine Arbeit mit Ermutigung und vielen guten Ratschlägen begleitet haben. Für vielfältige inhaltliche und sprachliche Hinweise danke ich Ute Grandt, Eberhard Nöster, Ilse Schlingensiepen und Andreas Schwennicke, Eberhard Nöster außerdem für die Anfertigung des Registers sowie Lotbar Breitenbom, Christa Fidezius und Georg Hoppe für ihre Unterstützung bei der Erstellung der Reinschrift und der Druckfassung. Köln, Juli 1994

Anke Breitenborn

Inhaltsverzeichnis A. Randii'Uppeu als soziale lndlkatoreu and Illre Bedeat.mc bn Rllhmeu der Gesddclats-

wlueiiiiiC:haft..................................................................................................................................

11

B. Randii'Uppen- Phlnomen, Belrift'and Fonchanpobjellt..................................................

30

Randgnlppen und Soziologie ................................................................................................

30

II. Randgnlppen in der historischen Forschung.........................................................................

33

m.

I.

Geistesgeschichtliche Voraussetzungen................................................................................

38

IV. Kriterien fllr die Identifikation von Randgnlppen im ALR..................................................

S4

C. Gnmdzll&e des ALR and sebtes Gesellschaftalllides .............................................................

60

I.

Rahmenbedingungen fllr die Entstehung und Bewertung des ALR...................................... 60

II. Die Verfasser des ALR und ihre Bedeutung fllr die Kodifilcation........................................ 63 lll. Rezeptionsgeschichte des ALR .............................................................................................

71

IV. Grundprinzipien und Strukturelemente des ALR .................................................................

76

1.Giicderungund systematische Strukturienmg...................................................................

77

2. Elementare materielle Rechtsinstitute...............................................................................

83

a) Person......................................................................................................................... 83 b) Eigentum....................................................................................................................

88

D. DieJuden.....................................................................................................................................

9S

Die Juden als Randgnlppe.....................................................................................................

9S

I.

11. Oberblick Ober die Rechtsgeschichte der Juden in Preußen ............................... .................. 103 111. Au1kllrung und Judenemanzipation ..................................................................................... 108 IV. Die Rechtsstellung der Juden auf der Grundlage des ALR .................................................. 114

1. Staatsrechtliche Stellung ........................................... .................. .................... ... ............... 116 2. Religion............................................................................................................................. 118 3. Familien- und Erbrecht ..................................................................................................... 120 4. Handels- und Wechselrecht............................................................................................... 12S

s Strafrecht 0

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V. Zusammenfassung

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127 129

8

Inhaltsverzeichnis

E. AnnatunclAnnenftlnol'le ....................................................................................................... 132

I.

Die Armen und Bettler im gcsclüchtlichen und geschiclrtswissouschaichen Ulteil.......... 132

II. Die Regelung der Anncnfllrsorge nach dem ALR................................................................ 140

111. Zusammenf8SSIIIlg................................................................................................................. 149 F. Soziale MllrJinalislenmclm Strafrecht uncl clan:h clas Stndftcht.................................... 1S3

I.

Strafrechtstheoretische Grundlagen des ALR ....................................................................... 1S4

II. Exemplarische Tatbestlnde................................................................................................... 163 1. Kindermord, Abtreibungund ,,fleischliche Verbrechen" ................................................. 163 2. Selbstmord......................................................................................................................... 168

3. Eigentumsdelikte ............................................................................................................... 170

m.

Die Delinquenten- Behandlung verurteilter Straftltor ......................................................... 171

1. Strafgleichheit..................... ..................... .................. ........................... .......................... ... 171 2. Strafarten ........................................................................................................................... 174

IV. Zusammenfassung ................................................................................................................. 181 G. RandiJ'Uppen zwlsehen stutllcher Politik und geseDschatUicher Entwicklung................ 18S H. Quelen- odi.Jteraturverzekludl........................................................................................... 204 I. Ungedruckte Quellen ................................................................................................................ 204 II. Gedruckte Quellen und Literatur ............................................................................................ 204

L

Personenlndex ............................................................................................................................. 23S

Abkürzungsverzeichnis AB

Acta Borussica

AGB

Allgemeines Gesetzbuch fllr die Preupischen Staaten (1792)

AGO

Allgemeine Gerichtsordntmg tbr die Preußischen Staaten (1793)

AKG

Archiv fllr Kulturgeschichte

ALR

Allgemeines Landrecht tbr die Preußischen Staaten (1794)

Annalen

Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den preußischen Staaten, hrsg. V. Ernst Ferdinand Klein

BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen

CCM

Corpus Constitutionum Marchicarum

Dig.

Digesten

GG

Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner, Wemer Conze und Reinhart Kaselleck

GStA

Geheimes Staatsarchiv

GuG

Geschichte und Gesellschaft

HRG

Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hrsg. v. Adalbert Erler u. Ekkehart Kaufinann

HZ

Historische Zeitschrift

IC

Ius Communc, Veröffentlichungen des Max-Pianck-Instituts tbr Europlisehe Rechtsgeschichte, Frankfurt/Main

Inst.

Institutionen

JbbPG JbbPM

Jahrbncher tbr die preußische Gesetzgebung. Rechtswissenschaft und Rechtsverwal·

tung, hrsg. v. Kar! Albert v. Kampiz

Jahrbllcher der preußischen Monarchie unter der Regierung Fricdrich Wilhclms des

Dritten

JGMOD

Jahrbuch tbr die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands

JuS

Juristische Schulung

KZfSS

Kölner Zeitschrift fllr Soziologie und Sozialpsychologie

LBIYB

Leo Baeck Institute Ycar Book

MathisZ

Allgemeine juristische Monatsschrift, hrsg. v. Heinrich Fricdrich Mathis

NCC

Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium

NF

NeueFolge

AbkOmmgsverzeicbnis

10

NFBPO

Neue Fonchungen zur brandenburg-preußischen Geschichte

ROW

Recht in Ost und West

RuW

Recht und Wirtschaft

SBPK/2

Staatsbibliothek preußischer Kulturbesitz, Haus 2

Ulp.

Ulpian

VSWG

Vierteljahrschrift fllr Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

ZdtR

Zeitschrift fllr deutsdies Recht und cleutsclle Rccbtswissenscha

ZfO

Zeitschrift fllr Geschichtswissenschaft

ZGJD

Zeitschrift fllr die Geschichte der Juden in Deutschland

ZHF

Zeitschrift fllr Historische Forschung

ZNR

Zeitschrift fllr Neuere Rechtsgeschichte

ZPol

Zeitschrift fllr Politik

ZRG

Zeitschrift der Savigny-Gesellschaft fllr Redttsgeschichte (GA)

(Germanistische Abteilung)

(RA)

(Romanistische Abteilung)

A. Randgruppen als soziale Indikatoren und ihre Bedeutung im Rahmen der Geschichtswissenschaft Im Jahr 1786 erschien in Berlin anonym die Schrift "Versuch über das Volk".1 Der Verfasser definiert zunächst das Volk als die Klasse von Menschen, welche sich mit Handarbeiten emlhrt; nemlich den Landmann, den Künstler und Handwerker, den Soldaten, und die Dienstboten.2

und fährt dann fort: Man hat allgemein anerkannt, daß diese Menschen den wichtigsten Theil des Staatskörpers ausmachen; daß von ihrem Zustand die Stlrke und Dauer der politischen Maschine abhingt; und daß eben die Kette von Ursachen und Wirkungen, wodurch sie verdorben und elend gemacht werden, zugleich den Verfall des Staats hervorbringen muß. Es wird also der Aufinerksamkeit guter FOrsten und Minister werth seyn, den Zustand des Volks, dessen Wohl i1men anvertrauet ist, sorgflltig zu untersuchen; den Ursachen der Fehler und UnvoUk:ommcnheiten nachzuspOhren, und so die Mittel zur Verbesserung zu finden. 3

Im weiteren Verlauf seiner Untersuchung setzt sich der Autor in einem ersten Teil mit den Phänomenen auseinander, die seiner Ansicht nach Auslöser des Volkselends sind, und entwickelt im zweiten Teil Lösungsvorschläge. Neben allgemeinen Ursachen der konstatierten Mißstände wie "Unglaube und Schwärmerey" und "Hang zu sinnlichen Vergnügungen" beschäftigen ihn dabei besonders Randzonen und Randgruppen der Gesellschaft, an denen soziale Probleme und ihre Bedingungen besonders deutlich zutage treten und an denen Maßnahmen zur Besserung der Lage des Volkes seiner Meinung nach bevorzugt anzusetzen haben. wie Armut und Bettelei, Prostitution, Kriminalität, Stellung der Juden. Verfasser der Schrift war der damalige Kammergerichtsrat Christoph Goßler (1752-1816),4 Mitglied der preußischen Gesetzkommission und Mitarbeiter 1

{Chri:rtoph Goßler]: Versuch Ober das Volk: Zum Besten der Armen. Berlin 1786.

Zitate nach Chri:rtoph Goß/er: Versuch Ober die Sitten des Volkes. Berlin 1814, 1. Diese Ausgabe cnthllt neben der unverinderten Wiedergabe des Texts von 1786 ein Vorwort von Goßler sowie eine umfangreiche Nachbetrachtung mit einem ResOmee der seit 1786 eingetretenen Entwicklungen. 2

3

Ebd. 1-2.

Zu Goßler Eckhart Hellmuth: Naturrechtsphilosophie und borokratischer Werthorizont: Studien zur preußischen Geistes- und Sozialgeschichte des 18. Jalubunderts. Göttingen 198,, 116; Peter Krause: Christoph Goßler (1752-1816): Kurzbiographie. ln: Vernunftrecht und Rechtsreform. Hrsg. v. Pcter Krause. Harnburg 1988 (Au1ldllnmg 3/2), 119-121. Hinweise zu den legislativen Aufgaben Goßlers, der auch maßgeblich an der Erarbeitung der Criminal-Ordnung von 1805 beteiligt war, bei AdolfSt61zel: Carl Gottlieb Svarez: Ein Zeitbild aus der zweiten Hllfte des achtzehnten Jahrhunderts. Berlin 4

12

A Randgnappen als soziale Indikatoren

am Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 (ALR), mit dessen Erarbeitung 1780 auf Veranlassung Friedrichs II. begonnen worden war und das in über 19 000 Paragraphen nahezu alle materiellen Rechtsbereiche unter Einbeziehung von Teilen des Staatsrechts regelte. 5 Seine oben zitierten Ausfiihrungen sind in mehreren Hinsichten aufschlußreich und exemplarisch für Beharrung und Wandel in der Staats- und Gesellschaftsauffassung der preußischen Spätaufklärung und ihrer friderizianisch gesinnten administrativen Funktionsträger: 6 - Auch wenn Goßler hier vom "Staatskörper" spricht und den Begriff "Gesellschaft" nicht verwendet, werden doch Gesellschaft und Staat als voneinander unterscheidbare Systeme erkennbar, deren Trennung im Zuge von Absolutismus und Aufklärung häufig als Kennzeichen der modernen Staatsund Gesellschaftsentwicklung konstatiert worden ist.7 Beide sind aber in verschiedener Weise voneinander abhängig bzw. beeinflussen sich gegenseitig: Das "Volk" als Hauptträger bildet zusammen mit weiteren, hier nicht genannten sozialen Gruppen das Substrat, die Funktionsbasis des Staates - der

1885, 279; Dera.: Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rcchtsverfassung. dargestelh im Wirken seiner Landesfilrsten und obersten Justizbeamten. Bd. I. Berlin 1888,313,322,429-430. 5 Allgemeines Landrecht filr die preußischen Staaten von 1794: Textausgabe. Mit einer Einleitung von Hans Hattenhauer und einer Bibliographie von GQnther Bernert. Frankfurt/Main!Berlin 1970; Register. Frankfurt/Main 1973; 2., erw. Aufl. (in einem Band) Neuwied/Berlin 1994. 6

Hierzu umfassend Hellmuth: Naturrechtsphilosophie und bürokratischer Werthorizont (wie

Anm. 4).

7 Erich Angennann: Das ,,Auseinandertrden von Staat und Gesellschaft" im Denken des 18. Jahrhunderts. ZPol NF X (1963), 89-101; Otto Brunner: Das Problem einer europliseben Sozialgeschichte. In: Ders.: Neue Wege der Verfassun~ und Sozialgeschichte. 2., venn. Auß. Göttingen 1968, 80-102 (97); Ernat-Wolfgang B6ckenßrde: Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit Opladen 1973, 7-8; Reinhart Koaelkck: Preußen zwischen Refonn und Revolution: Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. 3. Aufl. Stuttgart 1981, 52-53; Dieter Grimm: Grundrechte und Privatrecht in der bürgerlichen Sozialordnung. In: Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte: Beitrlge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mitteiahen bis zur Revolution von 1848. Hrsg. v. GOnter Birtsch. Göttingen 1981, 359-375 (360); Dera.: Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus. In: Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages. Hrsg. v. Dieter Sirnon Frankfurt/Main 1987, 45-76 (57-60); Michael Stolleis: Reichspublizistik-Politik-Naturrecht im 17. und 18. Jahrhundert. In: Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Hrsg. v. Michael Stolleis. 2. Aufl. Frankfurt/Main 1987, 9-28 (11). Kritik an der These vom ,,Auseinandertre" bei Winfried Schulze: Die stlndische Gesellschaft des 16./17. Jahrhunderts als Problem von Statik und Dynamik. In: Stlndisme Gesellschaft und soziale MobiliW. Hrsg. v. Win&ied Schulze unter Mitarbeit von Helmut Gabel. MQnchen 1988, 1-17 (2 Anm. 3) undHorstDreitzel: Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat: Die ,,Politica" des Henning Amisaeus ( ca. 15751636). Wiesbaden 1970, 336-339 (Dreitzel bezieht den Begriff "Volk" in die Analyse mit ein).- Nach neuerer verfassungsrechtlicher Auffassung soll diese Trennung heute eher als Ausdruck einer ,,funktionellen Differenzierung" aufzufassen sein, so Konrad Hesse: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland 18., erg. Aufl. Heidelberg 1991, Rdnr. 11.

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"politischen Maschine"8 -, dessen Zweck seinerseits die gemeinwohlfördernde Einwirkung auf dieses Substrat ist.' - Wie auf der einen Seite das Staatswohl fiir Goßler untrennbar mit dem Zustand der Gesellschaft verknüpft ist - wo sie verflUlt, ist auch unmittelbar der Bestand des Staates bedroht -, so ist er auf der anderen Seite der Überzeugung, Staat und Herrscher könnten und müßten bessernd eingreifen, sowohl aufgrund der Pflicht, das Wohl der ihnen Anvertrauten zu fördern, als auch im Interesse der Selbsterhaltung. Deutlich liegt hier seinem Staatsverständnis die zeitgenössische Vorstellung vom Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag zugrunde, mit dem zwar dem Herrscher die Macht übertragen wird, zugleich aber auch Pflichten zugewiesen werden und seine Abhängigkeit von der Gesellschaft deutlich gemacht wird - sprichwörtlichen Ausdruck hat diese Auffassung in der Äußerung Friedrichs II. gefunden, der Monarch sei "der erste Diener des Staates", 10 eben des preußischen Königs, der das Zustandekommen des ALR initiiert hat und dessen Herrschaftsauffassung absoluter Maßstab fiir die Landrechtsautoren war. - Voraussetzung fiir die postulierte Einwirkung des Staates auf die Gesellschaft ist die ebenfalls in Goßlers Ausfiihrungen deutlich werdende aufklärerische Überzeugung von der Perfektibilität des Menschen und der Gesellschaft, zusammen mit der ebenfalls zeitspezifischen optimistischen Ansicht, daß die

8 Zur Geschichte der Maschinerunetapher Barbora Stollberg-Rilinger: Der Staat als Maschine: Zur politischen Metaphorik des absoluten FOrstenstaates. Berlin 1986. 9

Die in Goßlers Ausftlhrungen nicht klar vollzogene, wohl aber angedeutete Unterscheidung von

Staat und Gesellschaft fmdet sich in Ihnlieber Weise im ALR wieder: ,,Das Landrecht kennt keine vom Staat getrennte bOrgerliehe Gesellschaft, aber es tri1ft auch keine prlzisen Bestimmungen dieser Begrif-

fe, weil sie nicht mehr identisch waren, ohne schon unterscheidbar zu sein." Kose/leck: Preußen zwischen Reform und Revolution, S2.

10 "Der Herrscher ist der erste Diener des Staates. Er wird gut bezahlt, damit er die WOrde seiner Stellung aufrechterhalte; aber man fordert von ilun, daß er wirksam filr das Wohl des Staates arbeite und daß er wenigstens die Hauptgeschlfte mit Aufinedcssmkeit leite." Politisches Testament von 17.52, zitiert oach: Die politischen Testamente der Hohenzollem. Bearb. v. Richard Dietrich. Köln/Wien 1986, 329. Deutlicher noch in der Abhandlung ,,Regierungsformen und Herrscherpflichten" (1777): " ... die Aufrechterbaltung der Gesetze war der einzige Grund, der die Menschen bewog. sich Obere zu geben; denn das bedeutet den wahren Ursprung der Herrschergewalt. Ihr Inhaber war der erste Diener des Staates." Zitiert nach: Die Werke Friedrichs des Großen. In deutscher Übersetzung. Hrsg. v. Gustav Berthold Volz. Bd. VII. Berlin 1912, 22.5-237 (226). Insgesamt verwendet Friedrich U. die Formel in seinen Werken sicbenmal, zuerst im ,,Antimachiavell" (1740). In: Die Werke Friedrichs des Großen. Bd. VII, 1-114 (6). Zur Geschichte des Topos und seiner verschiedenen Erscheinungsformen bei Friedrich Il. Ern.rt Walder: Aufgekillter Absolutismus und Staat::Zum Staatsbegriffder aufgekllrten Despoten. In: Der Aufgekillte Absolutismus. Hrsg. v. Karl Otrnar Frhr. v. Aretin. Köln 1974, 123-136 (128); siehe ferner Wemer Ogri.r: Friedrich der Große und das Recht. In: Friedrich der Große in seiner Zeit Hrsg. v. Oswald Hauser, Köln/Wien 1987, 47-92 (62) und Eberhard Schmidt: Staat und Recht in Theorie und Praxis Friedrichs des Großen. In: Ders.: BeitrAge zur Geschichte des preußischen Rechtsstaates. Berlin 1980, 1.50-211 (16.5-166).

14

A Randgruppen als soziale Indikatoren

Menschen von Natur aus nicht schlecht seien: Eine ,,Kette von Ursachen und Wirkungen" habe sie "verdorben und elend gemacht". 11 - Berufen zur Verbesserung von Mensch und Gemeinwesen ist der Staat, der fiir Goßler, auch hierin Repräsentant der Funktionselite des preußischen Spätabsolutismus, idealerweise monarchisch organisiert ist. Das Volk ist als zwar wesentlicher, aber unmündiger Gesellschaftsbestandteil bloßes Objekt der pädagogischen Funktion, Potenz und Pflicht des paternalistischen Staates, dessen Herrscher als »Familienoberhaupt« fungiert. Als Mitarbeiter am ALR, das - neben den Osterreichischen (1787-1811)12 und den napoleonischen Gesetzbüchern (1804-1810)13 - zu den großen Naturrechtskodifikationen der Aufklärungszeit zählt, 14 war Goßler nicht nur theoretischer Betrachter seiner Zeit, sondern hatte auch die Möglichkeit, in dem ihm gesetzten Rahmen sozialgestalterisch tätig zu werden und seinen Überlegungen praktische Taten folgen zu lassen.15 Im Gegensatz zu früheren Gesetzessammlungen, die ausschließlich Kompilationen des bestehenden Rechts waren und insofern nicht als Zeugnis politischen Willens gelten können, 16 war das Ziel der naturrechtlich beeinflußten Gesetzbücher eine "umfassende Gesellschaftsplanung".17 Mit dem ALR, dem "Gesetzbuch Friedrichs des Großen", 18 ver-

11

12

Goßler: Versuch Ober die Sitten des Volkes, 1.

Allgemeine Gerichtsordnung 1781, Allgemeines Gesetz Ober Verbrechen und derselben Bestrafung 1787, losephinisches Gesetzbuch 1787, Westgalizisches Btlrgerliches Gesetzbuch 1798, beide ersetzt durch das Allgemeine BQrgerliche Gesetzbuch filr die gesamten Deutschen ErbliDder der österreichischen Monarchie (ABGB) 1811.

13 Code civil (Code Napol6on) 1804, Code de ~ civile 1806, Code de corrunerce 1807, Code d'instruction criminelle 1808, Code p6nall810.

14 Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. 2., neubearb. Auß. Göttingen 1967, 322347; Hermann Conrad: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. ß : Neuzeit bis 1806. Karlsruhe 1966, 382398. FQr Preußen sind im Bereich des Verfahrensrechts noch die Allgemeine Gerichtsordnung fi1r die preußischen Staaten von 179S und die Kriminalordnung von 180S zu erwlhnen. IS Goßler wurde ab 1783 auf Veranlassung des Großkanzlers und Leiters des Kodifikationsprojekts Carmer zu den Arbeiten am Gesetzbuch hinzugezogen und war hauptsleblieh mit der Bearbeitung des Strafrechts befaßt; wie er in der Einleitung von 1814 schn:ibt, war der "Versuch Ober das Volk" Frucht seiner diesbezOgliehen Grundlagenforschung, die sein Interesse fi1r die sozialen Rahmenbedingungen der Strafbarkeit weckte: ,,Damals war mir die Abfassung des Entwurfs zu den Strafgesetzen Obertragen, und deshalb mußte ich mit dem Sittenzustande der Nazion mich genau bekannt machen, um die darin liegenden AnlAsse zu Verbrechen und die Mittel zu ihrer Verblltung aufzufmden." Goßler. Versuch Ober die Sitten des Volkes, I.

16 Die vom Vizekanzler Kreittmayr erarbeiteten bayerischen Kodifikationen (Codex juris Bavarici criminalis 17S 1, Codex juris Bavarici judiciarü 17S3, Codex Maximilianeus Bavaricus civilis 17S6) martcieren den Übergang: Sie sind inhaltlich nicht erbeblich von der Au1kllrung beeinflußt, aufgrund des in gesetzgebungstechnischer Hinsicht zum Ausdruck korrunenden Rationalisierunpwillens wohl aber formal mit den angefilhrten GesetzbOchem vergleichbar; Conrad: Deutsche Rechtsgeschichte II, 386. 17

Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 323.

A Randgruppen als soziale Indik.at.oren

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suchte der absolutistische preußische Staat, das drohende Überspringen revolutionärer Impulse aus Frankreich durch maßvolle Reformen, durch eine ,,Revolution von oben" 19 aufzufangen, die zwar die feudale Ständeordnung ausdrücklich unangetastet ließ, durch die prinzipielle Anerkennung der Gleichheit aller vor dem Gesetz (wenn auch nicht im Gesetz) und im VerhaltDis zum Staat aber die demokratisch verfaßte Gesellschaft mit voibereitete. Die in diesem Grundzug im allgemeinen deutlich werdende und sich in zahllosen Details des Gesetzbuches wiederholende Ambivalenz des Gesellschaftsbildes des ALR, sein "Januskopf', gilt vielen Betrachtern des Gesetzbuches als eines seiner wesentlichen Charakteristika.20 Sie findet ihre Fortsetzung in der die wissenschaftliche, juristische und politische Beschäftigung mit dem ALR dominierenden Frage, ob in der Kodifikation progressive oder konservative Tendenzen überwiegen. Daß aber das Recht hier als sozialgestalterisches Instrument des 18 Hermann Conrad; Das Allgemeine Landrecht von 1794 als Grundgesetz des friderizianischen Staates. In: Modeme preußische Geschichte 1648-1947. Bd. 2. Berlin/New York 1981,598-621 (599). 19 Diese besonders hlufig in bezug auf Preußen verwendete Formulierung geht offenbar auf eine Äußerung des preußischen Ministers Struensee gegenOber dem französischen Geschlftstrlger aus dem Jahre 1799 zurQclc, so Otto Hintze: Die Hohenzollern und ihr Werk. Berlin 1915, 427; Walder: Aufgekllrter Absolutismus und Revolution, 104m. Amn. 3; außerdem Barbara Vogel: ,,Revolution von oben" - Der "deutsche Wey;• in die bOrgerliehe Gesellschaft? Sozialwissenschaftliche Informationen ft1r Untetricht und Studium 8 (1979), 67-74; Hans-Ulrich Wehler. Deu1sche Gesellschaftsgeschichte. 1. Bd.: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der ReformAra 17001815. MOnehen 1987, 57-58, 353 u. 0. AhnlichKarl Otmar Frhr. v. Aretin: Einleitung. In: Der Auf. geldArte Absolutismus. Hrsg. v. Karl Otmar Frhr. v. Aretin, KOln 1974, (43): ,,Der AufgeldArte Absolutismus begrQndete in den Lindern, in denen er sich durchsetzte, die Tradition der Revolution von oben." - Zur wesentlichen Rolle der ,,Revolution von oben" im Rahmen der deutschen Nationaistaatsbildung Wolfgang Sauer: Das Problem des deutschen Nationalstaates. In: Moderne deutsche Sozialgeschichte. Hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler. 4. Auß. Köln 1973,407-436 (415-428).- Zur Bedeutung von Begri,ff und Phinomen als Durchsetzungsinstrument der kapitalistischen GeselbclW\ im Rahmen marxistischen Geschichtsverstlndnisses und zu seiner Verwendung bei Karl Marx und Friedrich Engels Ernst Engelberg: Über die Revolution von oben: Wirklichkeit und Begriff. zro 22 (1974), 11831212; Der&.: Die Revolution von oben. In: Fonnationstheorie und Geschichte. studienzur historischen Untersuchung von Gesellschaftsformationen im Werk von Marx, Engels und Lenin. Hrsg. v. Ernst Engelbergund Wolfgang Ktlttler. Vaduz!Liechtenstein 1978,330-340 mit zahlreichen Verweisen auf Äußerungen insbesondere von Engels zum Thema. -Die primlre Wertfteiheit des Begriffi und seine damit verbundene Multifunktionalitlt in der politisch-publizistischen Auseinandersetzung belegt seine fast zeitgleiche, jedoch mit gegCMitzlicher politischer Zielrichtung vorgenonunene Verwendung durch Heinrich von Treit&chke, der die ,,Revolution von oben" als Großtat Bismacckscher Politik pries: Heinrich von Treitschkes Briefe. Hrsg. von v. Max Comicelius. 3. Bd. Leipzig 1920, 34, 103m. Anm. Allerdings verwendet Treitschke die Formel auch in negativem Sinne: Der&.: Politik. Vorlesungen gehalten an der Universitlt zu Berlin. 1. Bd. Leipzig 1897, 33. 20 So Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. 1. Teil: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig 1928, 74; Koselleclc: Preußen zwischen Reform und Revolution, 24; Alexis de Tocqueville: L'Ancien Regime et Ia Revolution, ed. p. J.-P. Mayer, Paris 1967, 347 ("Sur cette tete moderne nous allons maintenant voir apparaitre un corps tout gothique".), Hermann Schulze: Das Preussische Staatsrecht auf Grundlage des Deutschen Staatsrechts dacgestellt. 1. Bd. 2. Auß. Leipzig 1888, 75 ("So zeigt das preußische Landrecht allerdings einen wunderban:n Januskopf; der mit dem einen Gesicht zurOck in die feudalen Ordnungen des Mittelalters, mit dem anderen vorwlrts in die modernen Zeitgedanken blickt.").

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spätabsolutistischen Staates in Dienst genommen wurde, steht außer Frage,21 ebenso die Tatsache, daß das Landrecht durch die strenge Stilisierung und Festschreibung des dreigliedrigen Ständestaats, der in den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen keine reale Grundlage mehr hatte, sozialkonservierende Wirkung entfaltete.22 Goßlers in seiner Definition des Volks und seiner staatstragenden Rolle angedeutetes Gesellschaftsverständnis hebt sichjedoch in signifikanter Weise von der im ALR gesetzlich bestätigten ständischen Ordnung der Gesellschaft ab, innerhalb derer gerade unter Friedrich II. dem Adel immer noch eine hervorragende Rolle zukam. 23 Es orientiert sich an einem ökonomischen Kriterium, dem des Produktionsfaktors Handarbeit, und nimmt insofern künftige Determinanten sozialer Schichtung vorweg: Umfaßt sind dabei der gesamte Bauernstand, Teile des Bürgerstandes und der - neben den Beamten - sich im 18. Jahrhundert bildende Funktionsstand Militär. Ausgespart bleiben Adel, gehobenes Bürgertum und Beamtenstand, die einerseits im Gegensatz zum Volk, dem "wichtigsten Teil des Staatskörpers", indirekt als sekundäre gesellschaftliche Kräfte identifiziert werden, andererseits aber eindeutig als Elite erscheinen, da die dem gemeinen Wohl schädlichen Phänomene, mit denen der Verfasser sich auseinandersetzt, auf dieser sozialen Ebene seiner Ansicht nach offenbar nicht auftreten. Innerhalb dieses ökonomisch determinierten dualistischen Gesellschaftsbilds kommt für Goßler offenbar gesellschaftlichen Randbereichen und Brennpunkten besondere Bedeutung zu. Für ihn hat eine Remedur der Gesellschaft dort anzusetzen, wo ihre Schäden am deutlichsten sichtbar sind: dort nämlich, wo die Sitten des Volkes so "verdorben" sind oder wo es sich in einem so gravierenden Zustand der Verelendung befindet, daß das Gemeinwesen in Gefahr ge21 Das preußische Landrecht, ohnehin unter vielfachen Aspekten Ausdruck einer Umbnlchszeit, markiert hier in rechtsdogmatischer Hinsicht das Ende einer Epoche: Gerade in Auseinandersetzung mit dem Ansinnen der Außdirungsk.odifikalionen, Recht gestalten zu wollen, und der damit verbundenen Einflußnahme aufbzw. Hinwegsetzung Ober gewachsenes Recht entwickehe wenig sp1ter Savigny die Grundgedanken der Historischen Recbtsscbule. Trotz z. T. drastischer Kritik bewteihe er das ALR jedoch nicht ausschließlich negativ; so gestand er ihm in seiner Programmschrift im Kodifikatioosstreit mit Thibaut zu, daß es immerbin auf der Grundlage des Römischen Rechts und unter Beteiligung der geleluten Öffentlichkeit entstanden sei: Friedrich Carl von Savigny: Vom Berufllll5erer Zeit ßlr Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814). In: Thibaut und Savigny: Ihre programmatischen Schriften, mit einer Einfllhrung von HUIS Hattenhauer. MOnehen 1973, 95-192 (bes. 146-152). Auch in Vorlesungen Ober die Institutionen des Römischen Rechts wies Savigny dacaufhin, daß das ALR nicht reine Neusetzung. sondern durchaus Ausdruck des gewachsenen Volksgeistes sei, vgl. Naclischrift Carl Gustav Homeyers zur Vorlesung Savignys Ober ,,AntiquiWen, Geschichte und Institutionen des Römischen Rechts" vom Sommersemester 1814, SBPK/2 Ms. genn. 4° 1172, fol. 9-10. 22 Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution, 143-144.

§ I II 9 ALR: ,,Dem Adel, als erstem Stand im Staate, liegt, nach seiner Bestimmung. die Vertheidigung des Staats, so wie die Unterstiltzung der lußern WOrde und innern Verfassung desselben, hauptsichlieb ob." Dezidiert zugunsten des Adels lußerte sich auch Friedrich II. u. a. in seinem Politischen Testament von 1768. In: Die politischen Testamente der Hohenzollem, 462-697 ( 498-SO 1). 23

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raten könnte. Zwischen Goßlers Gesellschaftsauffassung, wie sie hier deutlich wird, und der rigiden Fixierung der dreistufigen Ständeordnung im ALR, dem eine geschlossene soziale Zielvorstellung zugrundeliegt und das mit dem Anspruch umfassender und abschließender Regelung konzipiert ist, zeigt sich eine eigentümliche Diskrepanz. Es fragt sich, welcher soziale Platz diesen auch in Preußen zweifellos vorhandenen Randgruppen zugewiesen wird, wie ihre Rechtsstellung im Spannungsfeld der ja größtenteils nur subsidiär geltenden Kodifikation und gegebenenfalls gleichzeitig geltender Spezialgesetze gestaltet ist und inwieweit darin sozial- und gesellschaftspolitische Überzeugungen der Landrechtsverfasser zum Ausdruck kommen. Diese Fragen gehören in den Kontext der allgemeineren Problemkreise des generellen Verhältnisses von Staat und Gesellschaft im Spätabsolutismus, der Entwicklung und Verwendung des Rechts als dem Staat zu Gebote stehendes gesellschaftsgestaltendes Instrument sowie der Umformung der ständischen in die bürgerliche Gesellschaft als solcher, zu der auch eine Änderung der sozialen und moralischen Wertvorstellungen gehört. Die Problematik der sozialen Positionsbestimmung von Randgruppen in Geschichte und Gegenwart ist ihrerseits keine bloß akademische Frage und auch in ihrer Reichweite nicht auf die Geschichtswissenschaft zu beschränken. Ebensowenig ist das Phänomen gesellschaftlicher Randexistenz eine zeitgenössische oder spezifisch neuzeitliche Erscheinung. Zu allen Zeiten24 hat es Menschen gegeben, die aus individuell bedingten Gründen oder infolge der Zugehörigkeit zu bestimmten Personengruppen oder Berufen sozial abseits der Mehrheit standen bzw. von dieser ausgegrenzt wurden, wobei diese soziale Sonderstellung nicht notwendigerweise Resultat einer negativen Stigmatisierung sein muß, sondern im Einzelfall auch Ergebnis eines positiven sozialen Werturteils sein kann. Die Faktoren, die die vielfältig differenzierte und zwischen Assimilationszwang und Postulierung multikultureller Existenzmodelle changierende Interaktion zwischen der Kerngesellschaft und ihren Rändern, den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialfürsorglichen Umgang prägen, lassen sich dabei zwei verschiedenen, aber miteinander in Verbindung stehenden Strukturmustern zuordnen: auf der einen Seite anthropologischen, möglicherweise z. T. biologisch bedingten Grundkonstanten menschlichen Zusammenlebens, wie z. B. der Angst vor dem Fremden oder dem Verlust vertrauter Ordnungsmuster, auf der anderen Seite gesellschaftlichen Wertvorstellungen im engeren Sinne, also vor allem solchen religiöser, moralischer und rechtlicher Art, die im Vergleich zu den Faktoren der ersten Gruppe stärker 24 Schon die Bibel verzeichnet in 3. Mose 16, 22 den Silndenbock, dem symbolisch die Schuld des ganzen Volkes aufgeladen und der mit dieser Last in die Wtlste gejagt wurde. Das Motiv findet sich auch im frOhen rOmischen Recht: Als Element der Zwölftafelgesetzgebung ist die Regel Oberliefert, daß bei fahrllssigen Tötungsdelikten die Privatrache der Sippe des Getöteten anstelle des Titers einen Schafbock treffen sollte (tab. 8.24; Abdruck bei Carl Georg Bruns/Ono Gradenwitz: Fontes iuris Romani antiqui. 7. Aufl. TObingen 1909, 34). 2 Breitenborn

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zeitlichem Wandel unterworfen und damit einer geschichtlichen Untersuchung eher zugänglich sind. Auch wenn also individuelle und kollektive Randexistenz kein spezifisches Phänomen der modernen Gesellschaft ist, wird doch die neuzeitliche Entwicklung des Problemfeldes im demokratischen Staat wesentlich durch Faktoren bestimmt, die im 18. Jahrhundert, vor allem in dessen zweiter Hälfte, in entscheidender Weise Gestalt annehmen, und zwar sowohl was die realen historischen Vorgänge als auch was die Entwicklung sozialer und politischer Theorienangeht So läßt sich ganz konkret im ausgehenden 18. Jahrhundert eine Verschärfung sozialer Probleme feststellen. 25 Bedingt u. a. durch die zunehmende Auflösung feudaler Wirtschaftsformen und starkes Bevölkerungswachstum gab es eine ständig wachsende Zahl von Randexistenzen, die in der vom absolutistischen Staat beharrlich konservierten Ständeordnung keinen sozialen Ort mehr fanden. Hier liegen die Wurzeln des neuzeitlichen Pauperismus, der insbesondere in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts weite Bevölkerungskreise einer Massenarmut anheimfallen ließ und zu ihrer zumindest partiellen Ausgrenzung aus der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft führte. 26 Randgruppen sind zunächst ein gesellschaftliches Problem, erst in zweiter Linie ein staatliches. Dazu werden sie erst in dem Moment, wo der Staat als von der Gesellschaft losgelöste Instanz in Erscheinung tritt, ein Phänomen, das als essentiell für die moderne Staatsentwicklung gilt. Das bereits im Zusammenhang mit den eingangs zitierten Ausführungen Goßlers erwähnte "Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft" im 17. und 18. Jahrhundert, durch das der Staat zum durch seine "Organe"27 selbsthandelnden Rechtssubjekt wurde, das eine von der Gesellschaft weitgehend abgehobene Eigenexistenz entwickelte, war Voraussetzung dafür, daß der Staat organisierend und formend auf die Gesellschaft einwirken konnte. Erst dies ermöglichte demzufolge auch die Übernahme von Fürsorge- und Erziehungspflichten gegenüber sozial schwachen Gruppen der Gesellschaft. Gleichzeitig trug die so geschaffene Zugriffsmöglichkeit des Staates auf die Gesellschaft durch die allmahliche rechtliche Nivellierung der Stände und Individuen im Verhältnis zum Staat auch zur Veränderung der Gesellschaft selbst bei. Die so im 18. Jahrhundert entscheidende Impulse erfahrende Umformung der ständischen Sozialordnung in die im modernen Sinn bürgerliche Gesellschaft wirkte sich auch auf die Ent25 HorstMtJller: FOrstenstaat oder BOrgemation: Deutschland 1763 -181S. Berlin 1989, 108-111.

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Ebd.: 109.

Der noch heute gehrluchliehe Begriff ,.Staatsorgane" weist auf die Vorstellung vom Staat als eines organischen KOrpers - eine Parallele zur Maschinenmetapher - hin. Siehe die GegenOberstellung von Mechanismus- und Organismustheorien bei Stollberg-Rilinger: Der Staat als Maschine, 36-62 und 202-246. 27

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stehung und Entwicklung von Randgruppen aus. Bildlich gesprochen ermöglichte erst die Umformung einer hierarchisch strukturierten bzw. vertikal geschichteten, »pyramidenähnlichen« Gesellschaftsstruktur in eine kreisfbrrnig gedachte, prinzipiell genossenschaftlich strukturierte soziale Gemeinschaft das Entstehen einer gesellschaftlichen »Mitte«, im Verhältnis zu der sich von »Randgruppen« sprechen läßt. 28 Die soziale Abstufung und damit die soziale Identität ist nicht mehr von Geburt an nahezu unveränderlich vorgegeben, sondern bildet sich durch individuelle soziale Standortbestimmung, vornehmlich eben in Absetzung vom » Anderssein« und durch identifikatorische Orientierung an der Kerngesellschaft. Eine für die neuere Geschichte typische Erscheinung - ermöglicht erst durch die Unterscheidbarkeil von Staat und Gesellschaft - ist gezielter Einsatz und Indienstnahme von Randgruppen durch den Staat, zugunsten oder zuungunsten der jeweils betroffenen Gruppierung, wobei diese Instrumentalisierung auch Anlaß für Konflikte zwischen staatlichen Zielen und gesellschaftlichen Einstellungen sein kann. Ökonomische und fiskalische Motive veranlaßten etwa die preußischen Herrscher im 17. und 18. Jahrhundert zur Förderung der Ansiedlung und zur staatlichen Protektion konfessioneller Minoritäten. 29 Die Extremform der ideologischen Instrumentalisierung von Randgruppen zur Massenbeeinflussung markiert die Stigmatisierung, Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden und anderer als »unwert« erklärter Bevölkerungsgruppen in der Zeit des Nationalsozialismus, die das brisante Verhältnis von Masse und Außenseitern bzw. Randgruppen in der Neuzeit und sein eminent großes Konfliktpotential zum Ausdruck gebracht hat. Im Zuge der Entwicklung eines neuzeitlichen Verständnisses von Staat und Gesellschaft und ihres Verhältnisses zueinander erhielt auch das Recht eine neue Bedeutung. Während es zuvor primär Mittel des innergesellschaftlichen Konfliktausgleichs und insofern sekundärer Ausdruck realer sozialer Verhältnisse gewesen war, entwickelte es sich nun zum bevorzugten Instrument bzw. Objekt gegenseitiger Einwirkungsversuche. Der obrigkeitlich strukturierte ab28 Juatua MIJaer: Der Staat mit einer Pyramide verglichen: Eine erbauliche Betrachtung. In: Den.: Patriotische Phantasien. Zweiter Theil. Dritte verb. u. verm. Aufl. Berlin 1804, 253-257. Möser trennt hier nicht zwischen Staat und Gesellschaft. -Zur Pyramide als Metapher der Außdlrungszeit, die neben Altere, organische Vorstellungen trat, Paul Manch: Grundwerte der fiillmeuzeitlichen StAndegesellschaft? AufiiB einer vernachllssigten Thematik. In: StAndische Gesellschaft und soziale Mobilitlt Hrsg. v. Winfiied Schulze unter Mitarbeit von Helmut Gabel. MOnehen 1988, 53-72 (69). -Zur Geschichte der bis ins Altertum zurliekreichenden Vorstellungen einer vertikalen Stratifikation der Gesellschaft und ihrer egalitlren Gegenmodelle Stanialaw Oaaowaki: Die Klassenstruktur im sozialen Bewußtsein. 2. Aufl. Neuwied/Berlin 1972, 33-149. - Die interessante Vorstellung einer "wirbeltbrmigen Gesellschaftsordnung" infolge doppeher R.an>Deutschen« und »Juden«, 17 die in die rassische Begründung der Judenfeindschaft des "modernen" Antisemitismus seit etwa 1870

z. B. von dem Göttinger Orientalisten Michaelis, Verfasser eines Standardwertes zum mosaischen Recht und einer der Hauptkritilcer Doluns in seiner Rezension zu Dohrns Arbeit: Johann David Michaelis: Ober die bOrgerliehe Verbesserung der Juden von Christian Wilhelm Dolun. In: Ders.: Orientalische und Exegetische Bibliothek. 19. Theil. Frankfurt 1782, Nr. 281, 1-40 (13-14). DemgegenOber war aber die Mehrzahl der - jOdischen und nichtjOdischen - aufgekillten Befllrworter der Emanzipation der Auffassung, die ROckkehrerwartung stehe der bOrgerliehen Eingliederung in das Gastland nicht entgegen. Mendelssohn etwa forderte seine Glaubensgenossen aut; sich den Gegebenheiten ihres Gastlandes anzupassen, ohne die traditionellen jOdischen Glaubensinhalte zu verneinen: "Schicket Euch in die Sitten und in die Verfassung des Landes, in welches Ihr versetzt seid; aber haltet auch standhaft bei der Religion Eurer Vater. Traget beider Lasten, so gut ihr k6Met!" Moaea Mendelssohn: Jerusalem oder Ober religiöse Macht und Judentum In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. Iß. Leipzig 1843, 3SS. Ahnlieh lußerte sich Mendelssohn auch in seiner Antwort auf die Kritik von Michaelis an Dobm: Dera.: Anmerkungen zu des Ritters Michaelis Beurteilung des ersten Theils von Dohm, Ober die bOrgerliehe Verbesserung der Juden. In: Christian Konrad Wilhelm v. Dohm: Ober die bOrgerliehe Verbesserung der Juden. 2 Teile in einem Band. Hildesheim/New Yorlc 1973. Teil 2, 72-77. Jacob Allerhand: Das Judentum der Auftcllrung. S1uttgartiBad Cannstatt 1980, 99-100. 16 Bereits Mendelssohn und Dohm, der 1781-83 das SchiOsselwerk der Judenemanzipation verfaßte, bezeichnen die Juden als Nation, Christion Konrad Wilhelm v. Dohm: Über die bOrgerliehe Verbesserung der Juden. Hildesheim/New York 1973, Teil1, IS, 39; daneben verwendet letzterer "Volk" und "Classe".

17 Die nationale Differenzierung zwischen Deutschen und Juden, die die Juden als AuslAllder und Fremde qualifiZiert, findet sich auch schon im Ralnnen der llllficllrerischen Diskussion um die ,,Judenfrage". Sie wurde u. a. von Michaelis vertreten und bildete in der Folge einen zentralen Punkt der Auseinandersetzung. Dagegen wandten sich unter Hinweis auf die jahrhundertelange Anwesenheit der Juden in Deutschland, die ihre Ausgrenzung als Fremde und die Differenzierung zwischen Deutschen und Juden statt zwischen Christen und Juden nicht erlaube, Mendelssohn in seiner ,,Anmerkung" Ober die Beurteilung von Doluns Schrift durch Michaelis, in: Dohm: Über die bOrgerliehe Verbesserung der Juden. Teil 1, 72-77 (75-76), und David Fried14nder: Akten-Stocke die Reform der JOdischen Kolonieen in den preußischen Staaten betreffend. Berlin 1793, 30-31, ebenfalls mit Bezug auf Michaelis.

D. DieJuden

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mündete, die "erste große Gegenbewegung gegen die industrielle Gesellschaft und gegen die Ideen von 1789."18 Religiöse Minderheiten spielten im 17. und 18. Jahrhundert speziell in Preußen eine besondere Rolle, zum einen aufgrund der staatspolitischen Bedeutung der bewußt ins Land gezogenen Religionsßüchtlinge, zum anderen, weil Religionsfreiheit und Toleranz das Kernstück des Selbstverständnisses des aufgeklärten Absolutismus bildeten. An Behandlung und Aufnahme der einzelnen Kategorien von Zuwanderern und Angesiedelten läßt sich das ganze Spektrum staatlicher und gesellschaftlicher Wertschätzung ablesen, das Randgruppen entgegengebracht werden kann. Auf der einen Seite gab es die nach dem Potsdamer Edikt von 168519 seit etwa Mitte des 17. Jahrhunderts eingewanderten Hugenotten, niederländischen und salzburgischen Protestanten und anderen religiösen Minderheiten,20 deren Niederlassung in Brandenburg-Preußen durch Kurfürst Friedrich Wilhelm und seine Beamtenschaft durch großzügige finanzielle und administrative Hilfen, auch unter Verzicht auf kurzfristigen finanziellen Staatsnutzen, gefördert wurde. 21 Auch diese Ansiedlungspolitik mußte zum Teil gegen massive Widerstände besonders der Zünfte durchgesetzt werden, da man in den Fremden unliebsame Konkurrenten sah. 22 Aufgrund der relativen Ähnlichkeit der Bekenntnisse und Lebensweisen gab es über die Verteidigung wirtschaftlicher Interessen hinaus aber zumindest längerfristig keine oder kaum feindselige Gefühle der einheimischen Bevölkerung gegenüber den Neuankömmlingen. Auf der anderen Seite standen die Juden, die schon seit 18 Reinhard Rilrup: Judenemanzipation und bOrgerliehe Gesellschaft in Deutschland. In: Gedenkschrift Martin Göhring: Studien zur europliseben Geschichte. Hrsg. v. Ernst Schulin. Wiesbaden 1968, 174-199 (176, Ihnlieh auch 193). Dazu auchDer1.: Kontinuitlt und Diskontinuitlt der 'Judenfrage' im 19. Jahrhundert: Zur Entstehung des modernen Antisemitismus. In: Sozialgeschichte heute: Festschrift fllr Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag. Hrsg. v. Hans-Uirich Wehler. Göttingen 1974, 38841S; Siegmund Feilt: Zur Geschichte des »IUssenantisemitus